Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas: Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa [1 ed.] 9783428510689, 9783428110681

Mit dem Friedensrahmenabkommen von Dayton/Paris im Jahr 1995 wurde Bosnien-Herzegowina auf ein neues Fundament gestellt.

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Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas: Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa [1 ed.]
 9783428510689, 9783428110681

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Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Band 69

Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa

Herausgegeben von

Wolfgang Graf Vitzthum Ingo Winkelmann

Duncker & Humblot · Berlin

Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas

Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum in Gemeinschaft mit Martin Heckel, Karl-Hermann Kästner Ferdinand Kirchhof, Hans von Mangoldt Martin Nettesheim, Thomas Oppermann Günter Püttner, Michael Ronellenfitsch sämtlich in Tübingen

Band 69

Bosnien-Herzegowina im Horizont Europas Demokratische und föderale Elemente der Staatswerdung in Südosteuropa

Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum Ingo Winkelmann

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6061 ISBN 3-428-11068-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Geleitwort

Das Leben der Menschen in Bosnien und Herzegowina ist politisch geprägt von den Auswirkungen einer föderalen Staatsstruktur, auf die sich im Dezember 1995 Bosniaken, Kroaten und Serben auf Druck der internationalen Staatengemeinschaft im Friedensabkommen von Dayton geeinigt haben. Nun besteht Hoffnung, dass sich die drei bosnischen Bevölkerungsteile neu orientieren und mit mehr Nachdruck die Ziele des Friedensabkommens umsetzen werden. Zur Erinnerung: Der komplizierte staatliche Aufbau, der wohl seinesgleichen sucht, hat klare historische Ursachen. Die Verfassung der Republika Srpska, mit ihren quasi nationalstaatlichen Strukturen und einer verfassungsmäßigen Bevorzugung der Serben bei gleichzeitigem Ausschluss der Bosniaken und Kroaten, war bereits im ersten Kriegsjahr 1992 entstanden. Die Verfassung der Föderation von Bosnien und Herzegowina, der größeren der beiden Entitäten, war das Produkt des Washingtoner Abkommens von 1994. Dieser Kompromiss sieht eine föderale Struktur vor, mit zehn Kantonen, die im wesentlichen die regionalen Interessen von zwei Bevölkerungsgruppen, den Bosniaken und Kroaten, reflektiert. Im Dezember 1995 wurden in Dayton die Republika Srpska und die Föderation von Bosnien und Herzegowina als sog. Entitäten zu einem Staat zusammengekoppelt, ohne jedoch ihre jeweiligen Verfassungen unmittelbar der neuen Gesamtstaatsverfassung, dem Annex 4 des Friedensabkommens, anzugleichen. Der Verfassungsgerichtshof Bosniens und Herzegowinas entschied schließlich im Jahr 2000, dass durch diese Konstruktion Bosniaken und Kroaten in der Republika Srpska sowie Serben in der Föderation in ihren Rechten als konstituierende Völker diskriminiert sind. Nach fast zwei Jahren ist es in dem sogenannten „Mrakovica-Sarajewo Abkommen" vom 27. März 2002 gelungen, die führenden politischen Kräfte der drei Ethnien Bosniens und Herzegowinas zu einer Einigung über die Reform der jeweiligen Entitätsverfassung zu bewegen, um diese endlich in Einklang mit der Gesamtstaatsverfassung zu bringen. Ich verstand meine Rolle als Hoher Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft in Bosnien und Herzegowina und die meiner Experten in der resoluten Unterstützung des Verhandlungsprozesses. Einerseits bestand ich darauf, dass moderne europäische Verfassungsstandards eingehalten werden. Zum anderen brachten wir soz. frischen Wind in die Verhandlungen, wenn Stillstand drohte. In den frühen Morgenstunden des 27. März 2002 waren dann schließlich die maßgebli-

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Geleitwort

chen Verhandlungsparteien bereit, das Abkommen als Basis für Verfassungsänderungen zu beschließen. Diese Änderungen wurden am 19. April 2002 in der Form eines partnerschaftlichen Gemeinschaftsaktes durch die Entitätsparlamente und mittels Entscheidungen, die ich in meiner Funktion getroffen habe, in die beiden Entitätsverfassungen inkorporiert. Ich meine, dass damit die politische Kultur in Bosnien und Herzegowina eine neue Qualität erreicht hat. Während Dayton primär von der internationalen Gemeinschaft erzwungen worden war, wurde das „Mrakovica-Sarajewo Abkommen" von den führenden Vertretern der drei Volksgruppen wesentlich mitgestaltet. Was wurde erreicht? Von nun an haben Bosniaken, Kroaten und Serben, als konstituierende Volker Bosnien und Herzegowinas, und Mitglieder der Gruppe der sogenannten „Anderen" (etwa Juden, Roma, Ungarn, Jugoslawen sowie Personen, die sich nicht einem der Völker zuordnen wollen) gleiche Rechte in den beiden Entitäten des Staates. Gleichzeitig wurden Standards eingeführt, um diese Rechte effizient zu schützen, wie etwa eine minimale Vertretung in öffentlichen Amtern oder die effektive Mitwirkung am Gesetzgebungsprozess. So stellt diese Reform - die größte seit Dayton - keinen Endpunkt dar, sondern markiert im Gegenteil einen neuen und folgenreichen Anfang. Mit dieser entscheidenden Weiterentwicklung von Dayton wird Flüchtlingen und Vertriebenen in größerem Ausmaß als bisher die Möglichkeit eröffnet, in ihre angestammten Orte zurückkehren zu können. Weitere Reformen müssen rasch folgen, um Bosnien und Herzegowina nach dem jüngst erfolgten Beitritt zum Europarat noch näher an die Standards europäischer Staaten heranzuführen. Ich hoffe, dass die Aufsätze und Analysen in diesem Buch zum Verständnis und auch zur Weiterentwicklung der rechtlichen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes beitragen werden. Wolf gang Petritsch

Vorwort

Sich auf das von Deutschland nur zwei Flugstunden weit entfernte, mit dem Friedensrahmenabkommen von Dayton/Paris im Jahre 1995 neu fundierte Bosnien-Herzegowina einzulassen, ist für Staatsrechtslehrer wie für Diplomaten, Richter und internationale Beamte lohnend - schon um Europas willen. Von diesem komplexen Land am Rande Europas handeln die Beiträge des nachfolgenden Bandes, direkt oder indirekt. Sie sind ein Ertrag des Kolloquiums „Föderale Strukturen in Europa und in Bosnien-Herzegowina", das im Spätsommer 2000 in Banja Luka, Sarajewo und Mostar abgehalten wurde. Organisation und Durchführung der mehrtätigen Veranstaltung lagen in den Händen der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland und des Büros des Europarates in Sarajewo. Dort wurden auch erste Ergebnisse des Kolloquiums veröffentlicht, auf serbokroatisch: Thomas Markert/Ingo Winkelmann (Urednici), Federalne strukture u Evropi i Bosni i Herzegovini, Sarajevo 2001. Das „und" im offiziellen Namen des Landes wurde im vorliegenden Band aus redaktionellen Gründen durch einen Bindestrich ersetzt (Bosnien-Herzegowina). Das Kolloquium machte die südosteuropäischen Teilnehmer mit Wesen und Ausgestaltung föderaler Strukturen in ausgewählten westeuropäischen Staaten vertraut und führte Vergleiche zur Lage im Gastland durch. Dem dienten primär die in Teil II des nachfolgenden Sammelbandes wiedergegebenen Länderreferate, deren knappe Vortragsform beibehalten wurde. Sie werden hier ergänzt durch einen schon auf dem Kolloquium angemahnten Beitrag zu finanziellen Solidaraspekten des Föderalismus. Die in Teil I aufgenommenen Ausführungen stammen überwiegend von Angehörigen des Gastlandes oder sonstigen Insidern: von Richtern des jungen bosnisch-herzegowinischen Verfassungsgerichts, von je einem einheimischen und deutschen Berater dieser für das Konsolidieren des fragilen Staates zentralen Institution, sowie von einem Mitarbeiter des Europarates und zwei Angehörigen des Auswärtigen Amtes. Die Beiträge spiegeln die persönlichen Auffassungen der Autoren wider. Südosteuropa im Allgemeinen und der soeben in den Europarat aufgenommene multiethnische Bundesstaat Bosnien-Herzegowina im Besonderen befinden sich in rascher Bewegung. Manche Beiträge dieses Bandes, zumal einzelne Stimmen aus dem Land selbst, mögen deshalb Gefahr laufen, bereits von aktuelleren und äußerlich womöglich weniger dissonanten Stimmen verdrängt zu werden. Gleichwohl erscheint es notwendig, in einer Art Zwischenbilanz nach sieben Jahren „Dayton"-Bosnien-Herzegowina gerade auch jene Äußerungen in all ihrer

Vorwort

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Dynamik gegen- und miteinander zu Worte kommen zu lassen, zumal im Gespräch mit den Stimmen aus Westeuropa. Nur so entsteht ein relativ authentischer, weitestgehend repräsentativer Eindruck von diesem Land, seiner komplizierten Verfassung und brüchigen Verfassungswirklichkeit - von Staatswerdung und Staatsstabilisierung im Horizont Europas. Tübingen / Berlin, im Juli 2002

Wolf gang Graf Vitzthum/Ingo

Winkelmann

Inhalt I. Bosnien-Herzegowina als werdender demokratischer Bundesstaat Die Staatsorganisation von Bosnien-Herzegowina Von Snezana Savie

17

Föderalismuserfahrung und Bosnien-Herzegowina Von Zvonko Miljko

31

Die Rolle des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas Von Kasim Begic

43

Bosnien-Herzegowina und seine Sprache(n) Von Hans Jochen Peters

51

Der Bundesstaat Bosnien-Herzegowina Von Ingo Winkelmann

59

Der Beitrag der Venedig-Kommission Von Thomas Markert

87

Kompetenzstreitigkeiten im Gefüge von Dayton Von Christian Steiner und Nedim Ademovic

109

II. Europäische Modelle, Erfahrungen und Reformen in der Bewährung Remarques sur le fédéralisme suisse Par Giorgio Malinverni

151

Der österreichische Föderalismus Von Franz Matscher

157

10

Inhalt

Les communautés et régions belges Par Firass Abu Dalu

167

Der Bundesstaat des Grundgesetzes - in Europa Von Wolf gang Graf Vitzthum

177

Föderalismus als Solidarprinzip Von Jörn Axel Kämmerer

195

Nachwort

227

Die Autoren

233

Abkürzungen abgedr.

abgedruckt

ABl.

Amtsblatt

Abs. (al.)

Absatz (alinea)

AFDI

Annuaire français de droit international

AFRA

Allgemeines Friedensabkommen von Dayton / Paris, 1995 (= DaytonAbkommen, GFAP oder DPA)

AJIL

The American Journal of International Law

al.

alinea (Absatz)

Anm.

Anmerkung

Ann. (Anh.)

Annex (Anhang)

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

Art. (art.)

Artikel (article)

Aufl.

Auflage (n)

AVR

Archiv des Völkerrechts

Bd./Bde.

Band/Bände

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BIH (BiH)

Bosnien-Herzegowina (Bosnien und Herzegowina)

BIHV (BiHV)

Verfassung Bosnien-Herzegowinas

BIHVG (BiHVG)

Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas

BHO

Β undeshaushaltsordnung

BR

Bundesrepublik

BR-Drs.

Β undesratsdrucksache

BT-Prot. (Drs.)

Bundestagsprotokoll (-Drucksache)

BVerfG(E)

Bundesverfassungsgericht (Entscheidungen)

B-VG

Bundesverfassungsgesetz (Österreich, 1920)

bzw.

beziehungsweise

bzgl.

bezüglich

C.arb.

Cour d'arbitragel (Belgien)

ICRC

Internationales Kommitee des Roten Kreuzes

CRPC

Commission for Real Property Claims (BIH)

Cst.

Constitution (nachgeführte Verfassung der Schweiz, 1999)

Const.

Constitution (Verfassung Belgiens, 1831)

CVP

Christelijk Volkspartij (Belgien)

Dayton (DPA)

Dayton Peace Agreement (= AFRA)

d. h.

das heißt

DÖV

Die Öffentliche Verwaltung

12

Abkürzungen

dt.

deutsch

DVB1

Deutsche Verwaltungsblätter

E

Entscheidung (en)

ebd.

ebenda

ed.

edition

EG

Europäische Gemeinschaft

EIB

Europäische Investitionsbank (EG)

EJIL

European Journal of International Law

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

ER

Europarat

EU (V)

Europäische Union

EuGH (E)

Europäische Gerichtshof (Entscheidungen)

EuGHMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EZFF

Europäisches Zentrum für Föderalismusforschung (Universität Tübingen)

FAG

Finanzausgleichsgesetz (Deutschland), 1993

FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung

FBIH

Föderation Bosnien-Herzegowina (= Landesteil von BIH)

FBIHV

Verfassung der FBIH

ff. (ss)

fortfolgende (sequitur)

FIAF

Finanzinstitut für die Ausrichtung der Fischerei (EG)

Fn.

Fußnote

FS

Festschrift

gem.

gemäß

GeschO(GO)

Geschäftsordnung

GFAP

General Framework Agreement on Peace (= AFRA)

GG

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

HdbStR

Handbuch des Staatsrechts (Deutschland)

HDZ

Hrvatska Demokratska Zajednica (Kroatisch-demokratische Union)

HGrG

Haushaltsgrundsätzegesetz (Deutschland)

HR

High Representative (Hoher Repräsentant, in BIH)

HRLJ

Human Rights Law Journal

Hrsg. (dir.)

Herausgeber (directeur)

ICTY

International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia

i. d. S.

in diesem Sinne

i. d. F. (R)

in der Fassung (Regel)

i. e.

im einzelnen

IfG

Investitionsförderungsgesetz (Deutschland)

IG

Internationale Gemeinschaft

IGH

Internationaler Gerichtshof

i. K.

in Kraft

ILM

International Legal Materials

Abkürzungen IPTF

International Police Training Force

i. S. v.

im Sinne von

i. ü.

im übrigen

i. V. m.

in Verbindung mit

JuS

Juristische Schulung

JZ

Juristenzeitung

Kap.

Kapitel

KJ

Kritische Justiz

KM

Konvertible Mark (= DM, in BIH)

MaßstG

Maßstäbegesetz (Deutschland)

m. w. N.

mit weiteren Nachweisen

NATO

North Atlantic Treaty Organization.

NGO

Non-Governmental Organization (Nichtregierungsorganisation)

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

NordÖR

Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

OHG

Oberster Gerichtshof der FBIH

o. J. (O)

ohne Jahres-(Orts-)Angabe

OHR

Office of the High Representative

op. cit.

ebd.

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (hervorgegangen aus KSZE)

para. / paras.

paragraph / paragraphs

PEC

Vorläufige Wahlkommission (BIH)

PIC

Peace Implementation Council (BIH)

PME

Petites et moyennes entreprises

Prof.

Professor

PS

Partij socialiste (Belgien)

RA

Rechtsanwalt

RFDC

Revue Française de Droit Constitutionnel

Rn

Randnummer

RS

Republika Srpska (= Serbische Republik, Landesteil von BIH)

RSV

Verfassung der RS

S. (p.)

Seite (page)

SächsVBl

Sächsische Verwaltungsblätter

s. (voy.)

siehe (voyez)

s. a. (u.)

siehe aber (unten)

SCR

Supreme Court Review

SDA

Partei der demokratischen Aktion (= Sammlungspartei für den Demokratischen Fortschritt, in BIH)

SFOR

Stabilization Forces (BIH)

SFRJ

Sozialistische Föderale Republik Jugoslawien

Slg.

Sammlung

14

Abkürzungen

sog.

sogenannt

SRS

Serbische Radikale Partei der RS

StuW

Staat und Wirtschaft

SZ

Süddeutsche Zeitung

ThürVBl

Thüringer Verwaltungsblätter

übers.

übersetzt

U

Urteil (des BIHVG)

u. a.

unter anderem

UN-Charta

Charta of the United Nations (VN-Charta)

UNDP

United Nations Development Programme

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refugees

UNMIBH

United Nations Mission to Bosnia and Herzegowina

UNO (ONU)

United Nations Organization (Organisation des Nations Unies)

v. a.

vor allem

VG (VfGH)

Verfassungsgericht(-shof)

vgl. (compa.)

vergleiche

vol.

volume (Band)

voy.

voyez (s.)

VVDStRL

Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer

VwGO

Verwaltungsgerichtsordnung (der BR Deutschland)

WEU

Westeuropäische Union

WVRK

Wiener Vertragsrechtskonvention

YUG

Jugoslawien

ZaöRV

Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

z.B.

zum Beispiel

ZEuS

Zeitschrift für Europarechtliche Studien

ZG

Zeitschrift für Gesetzgebung

Ziff.

Ziffer

zit.

zitiert

ZP

Zusatzprotokoll (zur EMRK)

ZRP

Zeitschrift für Rechtspolitik

z.T.

zum Teil

I. Bosnien-Herzegowina als werdender demokratischer Bundesstaat

Die Staatsorganisation von Bosnien-Herzegowina* Von Snezana Savie

I. Einleitung Die Organisation einer staatlichen Gemeinschaft hängt davon ab, ob in ihr eine oder mehrere staatliche Gebilde bestehen, bzw. ob dieser Staat in mehrere innere Teile, die jeweils den Charakter eines Staates besitzen, aufgeteilt ist oder nicht. Abhängig davon lässt sich auf der einen Seite von einfachen oder Einheitsstaaten und auf der anderen von föderalen Staaten (Bundesstaaten) oder konföderalen bzw. konföderativen Staaten und Unionen (Staatenbünden) sprechen. Nach der Form der Staatsorganisation ist Bosnien-Herzegowina (BIH) eine spezifische staatliche Gemeinschaft. Dies kann man vor allem an der Art seines Entstehens erkennen. Durch Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton, der in Annex 4 auch die Verfassung Bosnien-Herzegowinas (BIHV) enthält, besitzt Bosnien-Herzegowina nun eine andere innere Struktur bzw. Staatsorganisation als der frühere, international anerkannte Staat Bosnien und Herzegowina. Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina konstituiert Bosnien-Herzegowina als eine komplexe staatliche Gemeinschaft aus zwei Enti täten: aus der Republika Srpska (RS) und der Föderation Bosnien-Herzegowina (FBIH). Aus einer Analyse der Verfassungen der Entitäten lässt sich schließen, dass es sich zum einen um eine einfache (unitäre) Entität, die Republika Srpska, handelt und zum anderen um eine komplexe Entität mit einer föderalen Staatsorganisation, die Föderation BosnienHerzegowina. Bereits diese Tatsache führt zu der Feststellung, dass es sich bei Bosnien-Herzegowina um ein hochkomplexes Staatsgebilde handelt. Ein vollständiges Bild der Staatsorganisation von Bosnien-Herzegowina kann man jedoch nur durch Analyse der Verfassung selbst erhalten. Dies werden wir nachfolgend versuchen. Wegen des begrenzten zur Verfügung stehenden Umfangs kann diese Untersuchung nicht vollständig sein. Wir werden uns deshalb auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Institutionen Bosnien-Herzegowinas und seinen Entitäten sowie auf die Art und Weise der Entscheidung in den Einrichtun-

* Übersetzt von RA St. Pürner, Kanzlei Dr. Pürner Thüncher Panzer, Nürnberg; redaktionell und terminologisch vereinheitlicht von Mithrsg. W. Graf Vitzthum. 2 Graf Vitzthum/Winkelmann

Snezana Savie

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gen beschränken, da diese Regelungen letztlich die Organisation und damit das Wesen des Gemeinwesens bestimmen.

II. Die Zuständigkeiten der Institutionen Bosnien-Herzegowinas Die wichtigste Norm für die Bestimmung der Staatsorganisation ist Art. III BIHV. Er legt die Zuständigkeiten der Institutionen Bosnien-Herzegowinas fest 1. Dies sind - die Außenpolitik, - die Außenhandelspolitik, - die Zollpolitik, - die monetäre Politik, wie durch Art. V I I BIHV geregelt, - die Finanzierung der Einrichtungen und der Wahrnehmung der internationalen Verpflichtungen Bosnien-Herzegowinas, - die Politik und die Vorschriften für Zuwanderung, Flüchtlinge und Asyl, - die Ausführung der Strafgesetze auf internationalem Gebiet und zwischen den Entitäten, einschließlich der Beziehungen zu Interpol, - die Errichtung und der Betrieb der Einrichtungen für die internationale Kommunikation und für die Kommunikation zwischen den Entitäten, - die Regelung des Verkehrs zwischen den Entitäten sowie - die Kontrolle des Luftverkehrs. Art. III. 2 BIHV bestimmt bzgl. der Zuständigkeiten der Entitäten, dass - diese das Recht haben, in Ubereinstimmung mit der Souveränität und der territorialen Integrität Bosnien-Herzegowinas gesonderte parallele Beziehungen zu den Nachbarstaaten zu unterhalten;

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M. Popovic hebt in „Rechtsnatur der Republika Srpska. Aufbau und Funktion des Rechtssystems der Republika Srpska", Banja Luka 1997, S. 55, hervor, dass „die Dayton-Verfassung den Begriff von Zentralorganen der Union Bosnien und Herzegowinas vermeidet. Statt dieses Begriffs benutzt sie den Terminus ,Institutionen Bosnien und Herzegowinas'. Das ist natürlich kein Zufall: Die Institutionen Bosnien-Herzegowinas, wie sie durch die DaytonVerfassung geschaffen wurden, sind den gemeinsamen Organen, wie sie für Staatenbünde charakteristisch sind, viel näher als den zentralen Organen eines Bundesstaats. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Art ihrer Bildung wie auch bzgl. ihrer Rechte und Verpflichtungen im Hinblick auf Arbeitsweise und Entscheidungsfindung." Diesbzgl. betont S. Jovanovic, Über die staatlichen Grundlagen einer Rechtstheorie, Belgrad 1922, S. 155, 162, dass es bei beiden Typen der Staatsorganisation, d. h. sowohl beim Staatenbund wie beim Bundesstaat, ein gemeinsames zentrales Bundesorgan gibt, dass aber die rechtliche Bedeutung dieses Organes bei beiden Typen nicht dieselbe ist.

Die Staatsorganisation von Bosnien-Herzegowina

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- jede Entität der „Regierung" 2 Bosnien-Herzegowinas die erforderliche Unterstützung leistet, damit es dieser ermöglicht wird, die internationalen Verpflichtungen Bosnien-Herzegowinas zu erfüllen. Hierbei sind die finanziellen Verpflichtungen, die eine Entität ohne Zustimmung der anderen in der Parlamentarischen Versammlung und im Präsidium Bosnien-Herzegowinas eingeht, von dieser Entität selbst zu tragen, es sei denn, die Verpflichtung ist für die Verlängerung der Mitgliedschaft Bosnien-Herzegowinas in einer Internationalen Organisation erforderlich; - die Entitäten weiterhin im Rahmen ihrer Zuständigkeit durch den Unterhalt von Bürger- und Menschenrechtseinrichtungen, die in Übereinstimmung mit den international anerkannten Standards und unter Beachtung der in Art. II BIHV genannten international anerkannten Menschenrechten und Grundfreiheiten tätig werden, allen Personen unter ihrer Jurisdiktion sichere und geschützte Lebensbedingungen gewährleisten und andere entsprechende Maßnahmen unternehmen; - jede Entität mit Zustimmung der Parlamentarischen Versammlung Verträge mit Staaten unterzeichnen und die Mitgliedschaft in Internationalen Organisationen erwerben kann. Die Parlamentarische Versammlung kann durch Gesetz beschließen, dass für bestimmte Arten von Verträgen eine derartige Zustimmung nicht erforderlich ist. Art. III. 3 BIHV bezieht sich auf die Gesetze und Zuständigkeiten der Entitäten und ihrer Institutionen und bestimmt, dass - alle staatlichen Funktionen und Befugnisse, die durch diese (BIH-)Verfassung nicht ausdrücklich den Institutionen Bosnien-Herzegowinas zugewiesen sind, den Entitäten zustehen; - die Entitäten und alle ihnen eingegliederten Gemeinschaften (Gebietskörperschaften) diese (BIH-)Verfassung, die entgegenstehenden Gesetzesbestimmungen Bosnien-Herzegowinas sowie den Verfassungen und Gesetzen der Entitäten und den Entscheidungen der Einrichtungen Bosnien-Herzegowinas vorgeht, zu beachten haben. Die allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts sind integraler Bestandteil des Rechtes Bosnien-Herzegowinas und der Entitäten. Art. III. 5 BIHV listet weitere Zuständigkeiten der Institutionen Bosnien-Herzegowinas auf und schreibt vor, dass - Bosnien-Herzegowina die Zuständigkeit für alle anderen Angelegenheiten übernimmt, über die sich die Entitäten einigen, sowie für die Angelegenheiten, die die Annexe 5 bis 8 des Allgemeinen (Friedens-)Rahmenabkommens von Dayton 2 Anm. des Übers.: Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina (BIHV), die sog. DaytonVerfassung, wurde bislang noch nicht in einer amtlichen Version in den Landessprachen im BIH-Gesetzblatt veröffentlicht. Es liegt nur eine nicht-amtliche Übersetzung vor, erschienen im Verlag des Gesetzblattes. In dieser Übersetzung erscheint das Wort Regierung (vlada) an der oben zitierten Stelle ohne Anführungszeichen. 2*

Snezana Savie

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vorsehen, und für die Angelegenheiten, die für die Wahrung der Souveränität, der territorialen Integrität, der politischen Unabhängigkeit und des internationalen Status' Bosnien-Herzegowinas erforderlich sind. Zur Durchführung dieser Aufgaben können nach Bedarf zusätzliche Einrichtungen errichtet werden; - die Entitäten innerhalb einer Frist von 6 Monaten ab Inkrafttreten dieser (BIH-) Verfassung Verhandlungen mit dem Ziel beginnen, auch andere Angelegenheiten den Zuständigkeiten der Institutionen Bosnien-Herzegowinas, einschließlich der Nutzung der Energieressourcen und der Zusammenarbeit bei Wirtschaftsprojekten, zuzuordnen. Den angeführten Artikeln der Verfassung Bosnien-Herzegowinas lässt sich entnehmen, dass die Zuständigkeit der Institutionen Bosnien-Herzegowinas in einer Weise geregelt ist, wie sie für konföderale Staatsorganisationen typisch ist, bzw. dass die Entitäten ihre eigenen Zuständigkeiten (z.T.) auf die Institutionen Bosnien-Herzegowinas übertragen haben. Hervorzuheben ist, dass sich dies aus der in Art. III. 3 BIHV enthaltenen Zuständigkeitsvermutung zu Gunsten der Entitäten besonders klar ersehen lässt3. Dies wird auf gewisse Weise durch Art. III. 5 (a) BIHV abgemildert: durch die Regelung der für die Wahrung der Souveränität, der territorialen Integrität, der politischen Unabhängigkeit und des internationalen Status' von Bosnien-Herzegowina notwendigen Aufgaben 4.

I I I . Die Institutionen Bosnien-Herzegowinas Organisation, Zuständigkeit und Arbeitsweise der Institutionen Bosnien-Herzegowinas werden durch Art. IV, V, V I und VII BIHV geregelt. In diesen Bestimmungen geht es um die Parlamentarische Versammlung, das Präsidium als kollektives Oberhaupt Bosnien-Herzegowinas, den Ministerrat, das Verfassungsgericht und die Zentralbank.

3 Weiterführend R.D. Lukic, Einführung in das Recht, Belgrad 1991. Jovanovic (Fn. 1), ebd., unterstreicht, dass „deshalb, weil Staatenbünde durch Vertrag gesonderter Staaten gegründet werden, deren Macht nicht größer als diejenige gesonderter Staaten sein kann. Ein Staatenbund hat nur soviel Macht, wie die gesonderten Staaten von ihrer eigenen Macht auf ihn übertragen. Die Macht des Staatenbundes ist keine neue Macht; sie ist wiederum, allerdings vereint, die Macht der besonderen Staaten." 4

Jovanovic (Fn. 1), ebd., hebt hervor, „dass an der Organisation der föderalen Behörden nichts ohne die Zustimmung aller gesonderten Staaten geändert werden kann, da solche Änderungen eine Änderung des Grundvertrages über die Schaffung des Staatenbundes bedeuten würden ... Daraus folgt, dass die Bundesgewalt immer durch Willensakte der gesonderten Staaten beschränkt ist, und dass sich diese der Bundesgewalt niemals wie einer höheren Gewalt unterwerfen."

Die Staatsorganisation von Bosnien-Herzegowina

1. Die Parlamentarische

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Versammlung Bosnien-Herzegowinas

Art. IV BIHV bestimmt, dass die Parlamentarische Versammlung aus zwei Kammern besteht: aus dem Haus der Volker und dem Repräsentantenhaus. Außerdem wird vorgeschrieben, dass das erstgenannte Haus aus 15 Delegierten besteht, zwei Drittel davon aus der Föderation Bosnien-Herzegowina (5 Kroaten und 5 Bosniaken), ein Drittel aus der Republika Srpska (5 Serben), und dass die kroatischen und bosniakischen Delegierten von den kroatischen bzw. bosniakischen Delegierten im Haus der Völker der Föderation Bosnien-Herzegowina und die Delegierten aus der Republika Srpska von deren Volksversammlung gewählt werden. Neun Mitglieder des Hauses der Völker bilden das Quorum; dabei müssen mindestens je 3 bosniakische, kroatische und serbische Delegierte anwesend sein. Das Repräsentantenhaus auf der anderen Seite besteht aus 42 Mitgliedern. Zwei Drittel von ihnen werden auf dem Territorium der Föderation Bosnien-Herzegowina, ein Drittel auf dem der Republika Srpska gewählt. Die Mitglieder des Repräsentantenhauses werden in ihrer Entität unmittelbar gewählt, gemäß den von der Parlamentarischen Versammlung zu erlassenden Wahlgesetzen. Aus Vorstehendem lässt sich schließen, dass die Konstituierung dieser Institutionen Bosnien-Herzegowinas auf dem Prinzip der Parität gründet, also auf der gleichberechtigten Vertretung der Mitgliedstaaten, unabhängig von deren Größe, der Zahl ihrer Bürger, dem Umfang ihrer wirtschaftlichen und militärischen Macht usw.5. In diesem Fall ist es von besonderer Bedeutung, dass sowohl eine Parität der Entitäten als auch eine solche der Völker gegeben ist. Deutlich und dezidiert wird hierbei festgelegt, dass im Haus der Völker die Delegierten aus der Föderation Bosnien-Herzegowina Kroaten und Bosniaken und die aus der Republika Srpska Serben sind. Dies alles ist zweifellos charakteristisch für eine konföderative Staatsorganisation6. Unter den Bestimmungen, die die Arbeit der Parlamentarischen Versammlung regeln, sind die von Art. IV. 3 BIHV besonders wichtig. Sie schreiben vor, dass jeder gesetzgeberische Akt der Zustimmung beider Häuser bedarf; die Delegierten und Abgesandten haben sich demnach zu bemühen, dass die Mehrheit mindestens von einem Drittel der Stimmen der Delegierten bzw. Abgesandten aus dem Territorium einer jeden Entität gebildet wird. Falls dies nicht gelingt, müssen die Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden zu einer Kommission zusammentreten, um zu versuchen, die Zustimmung innerhalb einer Frist von drei Tagen nach dem Tag der Abstimmung zu erreichen. Art. IV. 3 (e) BIHV bestimmt, dass mit einer Mehrheit der gem. Art. IV. 1 (a) BIHV gewählten bosniakischen, kroatischen oder 5

Popovic (Fn. 1), S. 55 f., und Jovanovic (Fn. 1), ebd., heben hervor, dass bei einem Staatenbund die Bundesgewalt von den „Delegaten" (delegierten Vertretern), die von den Regierungen der gesonderten Staaten ernannt werden und nach bindenden Weisungen abstimmen, gebildet wird. 6 Vgl. weiterführend hierzu H. Kelsen, Allgemeine Rechts- und Staatstheorie, Belgrad 1998, S. 383 f.

22

Snezana Savie

serbischen Delegierten Beschlussvorlagen der Parlamentarischen Versammlung als schädlich für die vitalen Interessen ihres jeweiligen Volkes erklärt werden können. Ein solcher Entscheidungsvorschlag benötigt für die Annahme im Haus der Völker die Mehrheit der Stimmen der anwesenden und an der Abstimmung teilnehmenden bosniakischen, kroatischen und serbischen Delegierten. Art. IV. 3 (f) BIHV schreibt vor, dass dann, wenn sich die Mehrheit der bosniakischen, kroatischen oder serbischen Delegierten einer Berufung auf Art. IV. 3 (e) BIHV widersetzen, der Vorsitzende des Hauses der Völker die aus drei Delegierten, von denen je einer von den bosniakischen, den kroatischen und den serbischen Delegierten ernannt wird, bestehende Gemeinsame Kommission sofort einzuberufen hat, damit sie über die Frage entscheidet. Soweit dies nicht innerhalb einer Frist von 5 Tagen erfolgt, wird die Frage dem Verfassungsgericht zur verfahrensmäßigen Uberprüfung im Eilverfahren vorgelegt. Aus diesen Bestimmungen kann man schließen, dass es sich in diesen Fällen um Funktions-, d. h. Entscheidungsweisen handelt, die für Institutionen konföderativer Staatsorganisationen typisch sind. Unter Berücksichtigung der genannten Regelungen sowie der Bestimmung von Art. IV. 3 (g) BIHV, die sich auf die Auflösung des Hauses der Völker bezieht, und insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass das Verfassungsgericht nur für die Überprüfung von Verfahrensfragen, nicht aber auch für die des Inhalts der konkreten Entscheidung zuständig ist, kann man mit Sicherheit sagen, dass die Parlamentarische Versammlung Bosnien-Herzegowinas nach dem Modell konföderativer Institutionen gebildet ist. Außer dem Genannten gibt es freilich noch ein weiteres wichtiges Moment. Es besteht darin, dass - obwohl jede der Entitäten den Erlass einer Entscheidung, die die vitalen Interessen eines Volkes verletzen würde, blockieren kann - die Verfassung Bosnien-Herzegowinas nicht die ansonsten für eine konföderative Staatsorganisation charakteristische Möglichkeit vorsieht, dass eine der Entitäten austritt 7. Die Zuständigkeit der Parlamentarischen Versammlung Bosnien-Herzegowinas wird durch Art. IV. 4 BIHV festgelegt, wonach sie zuständig ist für - den Erlass von Gesetzen, die gemäß dieser (BIH-)Verfassung für die Durchführung von Beschlüssen des Präsidiums erforderlich sind; - die Entscheidung über die Quellen und die Beträge der Einkünfte für die Arbeit der Einrichtungen Bosnien-Herzegowinas und die Wahrnehmung seiner internationalen Verpflichtungen;

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Jovanovic (Fn. 1), S. 162 f., führt an, dass „dann, wenn die gesonderten Staaten in der Frage der Organisation der Bundesgewalt nicht mehr übereinstimmen, jeder von ihnen, der einer neuen Organisation nicht zustimmt, das Recht hätte, aus dem Bündnis auszutreten; niemand könnte einen solchen Staat dazu bewegen, eine unfreiwillige Änderung des Grundvertrages zu akzeptieren". Auch nach Kelsen (Fn. 6), S. 386, können die Mitgliedstaaten einer Konföderation die Gemeinschaft i.d.R. durch Austritt aus dem Bund verlassen, während für die Gliedstaaten eines Bundesstaates diese Möglichkeit rechtlich nicht besteht.

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- die Annahme des Haushalts für die Institutionen Bosnien-Herzegowinas; - die Entscheidung über die Zustimmung zur Ratifizierung von Verträgen; sowie - sonstige, für die Erfüllung ihrer Aufgaben notwendige oder ihr durch gegenseitiges Ubereinkommen der Entitäten übertragene Angelegenheiten. Aus Vorstehendem lässt sich deutlich ersehen, dass die Zuständigkeit der Parlamentarischen Versammlung Bosnien-Herzegowinas sehr bescheiden ist, und dass sie Zuständigkeiten, die für das Leben eines Staates unumgänglich sind, nicht umfasst. Dies ist im Hinblick auf die den Entitäten überlassenen Zuständigkeiten auch logisch. Deshalb lässt sich bzgl. der Parlamentarischen Versammlung nicht von einem Bundesorgan sprechen, sondern nur von der gemeinsamen Institution einer konföderativen Staatsorganisation, die im übrigen auch die Verfassung BosnienHerzegowinas selbst etabliert hat.

2. Das Präsidium Bosnien-Herzegowinas Das Präsidium Bosnien-Herzegowinas bildet das kollektive Oberhaupt dieser komplexen staatlichen Gemeinschaft. Gem. Art. V BIHV besteht es aus drei Mitgliedern: einem Bosniaken und einem Kroaten, die auf dem Gebiet der Föderation Bosnien-Herzegowina unmittelbar gewählt werden, und einem Serben, der auf dem Territorium der Republika Srpska unmittelbar gewählt wird. Art. V. 1 BIHV bestimmt, dass jede Entität die Mitglieder des Präsidiums gemäß dem von der Parlamentarischen Versammlung Bosnien-Herzegowinas zu beschließenden Wahlgesetz unmittelbar wählt (hierbei stimmt jeder für einen Platz im Präsidium). Die Mitglieder des Präsidiums ernennen gem. Art. V. 2 (b) BIHV bzw. durch Rotation oder auf andere, von der Parlamentarischen Versammlung BosnienHerzegowinas auf Grundlage von Art. II. 3 BIHV festgelegte Art einen Vorsitzenden aus ihren Reihen. Diese Art der Wahl des Staatsoberhauptes ist, insbesondere wenn man die neben der Parität der Entitäten bestehende Parität der Völker berücksichtigt, gerade für eine konföderative Staatsorganisation charakteristisch. Dafür sind auch die Vorschriften über die Beschlussfassung im Präsidium von Bedeutung. Art. V. 2 (c) BIHV legt fest, dass das Präsidium sich bemüht, sämtliche Beschlüsse im Konsens zu fassen. Jedoch können dann, wenn alle entsprechenden Anstrengungen erfolglos bleiben, Beschlüsse unter Beachtung von Art. V. 2 (d) BIHV auch von nur zwei Mitgliedern des Präsidiums gefasst werden. Art. V. 2 (d) BIHV bestimmt, dass die Mitglieder des Präsidiums, die einen Beschluss ablehnen, diesen innerhalb von drei Tagen nach seinem Erlass als für die vitalen Interessen der Entität, auf deren Territorium sie gewählt wurden, „destruktiv" erklären können. Soweit die entsprechende Erklärung von einem Mitglied aus der Republika Srpska stammt, wird sie sofort der Volksversammlung dieser Entität vorgelegt; wird die Erklärung von dem bosniakischen Mitglied abgegeben, wird die Entscheidung den bosniakischen Delegierten im Haus der Völker der Föderation und, wenn

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das kroatische Präsidiumsmitglied die Erklärung abgegeben hat, den kroatischen Delegierten dieses Hauses unterbreitet. Wird die Erklärung innerhalb von 10 Tagen nach Vorlage von einer Zwei-Drittel-Mehrheit dieser Personen bestätigt, tritt der umstrittene Präsidiumsbeschluß nicht in Kraft. Auch diese BIHV-Bestimmung unterstreicht, dass es um eine konföderative Staatsorganisation geht. Die Klausel von den vitalen Interessen der Völker, d. h. das Recht auf Nichtigerklärung einer entgegenstehenden Entscheidung, ist gerade für diesen Typ der Staatsorganisation charakteristisch. Art. V. 3 BIHV regelt die Zuständigkeiten des Präsidiums von Bosnien-Herzegowina. Sie betreffen: - die Außenpolitik Bosnien-Herzegowinas; - die Ernennung der Botschafter und sonstigen internationalen Vertreter BosnienHerzegowinas; von ihnen dürfen nicht mehr als zwei Drittel aus der Föderation Bosnien-Herzegowina stammen; - die Vertretung Bosnien-Herzegowinas in Internationalen und Europäischen Organisationen und Einrichtungen und die Beantragung der Mitgliedschaft in denjenigen internationalen Wirkungseinheiten, in denen Bosnien-Herzegowina nicht Mitglied ist; - die Aushandlung und Kündigung der durch Bosnien-Herzegowina ratifizierten Verträge unter Zustimmung der Parlamentarischen Versammlung; - die Ausführung der Beschlüsse der Parlamentarischen Versammlung; - der Vorschlag des Jahreshaushalts an die Parlamentarische Versammlung mit Empfehlungen des Ministerrats; - die Unterrichtung der Parlamentarischen Versammlung über den Haushalt des Präsidiums, auf Antrag, mindestens jedoch einmal jährlich; - nach Bedarf die Koordination mit den Internationalen Regierungs- und NichtRegierungsorganisationen im Lande; sowie - die Ausübung sonstiger, für seine Funktion erforderlichen Zuständigkeiten, die ihm die Parlamentarische Versammlung zuteilt, oder die ihm aus Vereinbarungen der Entitäten erwachsen. Aus Art. V BIHV lässt sich ersehen, dass dies die üblichen Zuständigkeiten einer staatlichen Gemeinschaft dieses Typs sind, und dass sie sich mehr oder weniger auf die übliche Funktion eines Staatsoberhaupts beziehen, wobei der Umstand, dass vorliegend ein kollektives Staatsoberhaupt in Rede steht, andeutet, dass Bosnien-Herzegowina eine in der Tat komplexe staatliche Struktur besitzt.

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3. Das Verfassungsgericht

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Die Errichtung des Verfassungsgerichtes Bosnien-Herzegowinas (BIHVG) ist ebenso wie seine Zuständigkeit Gegenstand von Art. V I BIHV. Diese Norm schreibt vor, dass das Verfassungsgericht aus neun Mitgliedern besteht: vier Richter wählt das Repräsentantenhaus der Föderation Bosnien-Herzegowina, zwei die Nationalversammlung der Republika Srpska. Die übrigen drei Richter bestimmt der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nach Konsultation mit dem Präsidium Bosnien-Herzegowinas. Gemäß Art. VI. 3 BIHV ist das Verfassungsgericht zuständig für den Schutz der Verfassung. Das Verfassungsgericht ist für die Entscheidung jedes Streits zuständig, der aus der BIHV zwischen den Entitäten, zwischen Bosnien-Herzegowina und einer Entität oder zwischen den Entitäten und den Institutionen BosnienHerzegowinas entsteht. Dabei ist das Gericht auch zuständig für die Frage, ob die Entscheidung einer Entität, besondere parallele Beziehungen mit einem Nachbarstaat einzugehen, mit dieser (BIH-)Verfassung vereinbar ist, einschließlich der Bestimmungen, die die Wahrung der Souveränität und der territorialen Integrität Bosnien-Herzegowinas betreffen, sowie darüber, ob eine Bestimmung einer Entitätsverfassung oder eines -Gesetzes mit dieser (BIH-)Verfassung in Einklang steht. Antragsberechtigt sind nur die Mitglieder des Präsidiums, der Vorsitzende des Ministerrats, der Präsident oder stellvertretende Präsident eines der Häuser der Parlamentarischen Versammlung8 oder ein Viertel des Gesetzgebenden Hauses einer Entität. Darüber hinaus besitzt das Verfassungsgericht - Appellationsjurisdiktion über Fragen aufgrund dieser (BIH-)Verfassung, die sich aus der Auffassung eines Gerichtes in Bosnien-Herzegowina ergibt; sowie - Jurisdiktion über Fragen, die dem (BIH-)Verfassungsgericht von einem Gericht in Bosnien-Herzegowina bezüglich der Frage vorgelegt wird, ob ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung dieses Gerichtes ankommt, mit dieser (BIH-)Verfassung, mit der EMRK und ihren Zusatzprotokollen oder mit den Gesetzen Bosnien-Herzegowinas vereinbar ist, oder hinsichtlich des Bestehens oder der Auslegung einer entscheidungsrelevanten allgemeinen Regel des Völkerrechts. Das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas entscheidet mit Stimmenmehrheit. Seine Entscheidungen sind endgültig und verbindlich. Aufgrund des eben Gesagten kann man feststellen, dass das Verfassungsgericht mit seinen weitgehenden Vollmachten die einzige Institution Bosnien-Herzegowinas ist, die von den Institutionen eines Staatenbundes abweicht und an die Organe 8 Anm. des Übers.: Die ihm vorliegende Textversion (vgl. Fn. 2) spricht hier von „Gesetzgebenden Häusern" (doma zakonodavstva), nicht von „Parlamentarischer Versammlung" (parlamentarna skupstina).

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eines Bundesstaates erinnert 9. Darüber hinaus unterscheidet sich die Art und Weise der Entscheidungsfindung des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas auf gewisse Weise von der Entscheidungsfindung der sonstigen Institutionen des Landes. Daraus lässt sich schließen, dass der Status des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas, seine Zuständigkeit und sein Entscheidungsverfahren Bosnien-Herzegowina als Bundesstaat charakterisieren. Dies bedeutet, dass das Verfassungsgericht die Institution darstellt, in der die einheitliche staatliche Subjektivität Bosnien-Herzegowinas am besten zum Ausdruck kommt.

4. Die Zentralbank Bosnien-Herzegowinas Art. VII BIHV bestimmt Rechtsstellung und Zuständigkeit der Zentralbank Bosnien-Herzegowinas. Demgemäß ist die Institution als einzige berechtigt, Geld in Umlauf zu geben und in ganz Bosnien-Herzegowina monetäre Politik zu betreiben. Gem. BIHV wird ihre Zuständigkeit im einzelnen von der Parlamentarischen Versammlung Bosnien-Herzegowinas festgelegt. Das Spezifische an der Zentralbank ist die Zusammensetzung ihres Verwaltungsrates sowie die Art und Weise der entsprechenden Entscheidung. Diesbezüglich schreibt Art. VII. 2 BIHV vor, dass der erste Verwaltungsrat der Zentralbank (nach ihrer Gründung) aus einem Gouverneur, der vom IWF nach Konsultation mit dem Präsidium bestimmt wird, sowie aus drei Mitgliedern, die das Präsidium ernennt - davon zwei aus der Föderation (ein Bosniak und ein Kroate, die gemeinsam eine Stimme führen!) und einer aus der Republika Srpska, der ein 6-jähriges Mandat besitzt - besteht. Der Gouverneur, der kein Staatsangehöriger BosnienHerzegowinas oder eines seiner Nachbarstaaten sein darf, besitzt im Verwaltungsrat bei Patt die entscheidende Stimme. Art. VII. 3 BIHV bestimmt, dass der Verwaltungsrat aus fünf Mitgliedern, die das Präsidium auf sechs Jahre ernennt, besteht. Er wählt den Gouverneur aus den Reihen seiner Mitglieder für eine Amtsdauer von vier Jahren. Vorstehendem lässt sich entnehmen, dass auch in der Art und Weise, wie die Zentralbank Bosnien-Herzegowinas konstruiert ist, das Prinzip der gleichberechtigten Vertretung der drei konstitutiven Völker bzw. der zwei Mitgliedstaaten beachtet wird. Hervorzuheben ist dabei, dass es neben dem bereits angesprochenen internationalen Faktor (dem Gouverneur) noch eine weitere Besonderheit gibt. Diese besteht darin, dass jede Entität eine Stimme besitzt, bzw. darin, dass nach Entitäten, nicht nach Völkern abgestimmt wird. Die Bosniaken und Kroaten aus der Föderation Bosnien-Herzegowina teilen sich ja eine Stimme, während der Republika Srpska eine weitere Stimme zusteht.

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Näher hierzu R.M. Hayden, Blueprints for a House Divided. The Constitutional Logic of the Yugoslav Conflict, Ann Arbor 1999, S. 13 ff.

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Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass auch bei der Währung BosnienHerzegowinas Besonderheiten vorliegen. Diese bestehen darin, dass das ausgegebene Geld unterschiedlich aussieht10. Sind eine gemeinsame Geldpolitik und gemeinsames Geld vor allem für einen Bundesstaat charakteristisch, so muss man feststellen, dass durch das unterschiedliche Aussehen des Geldes auch in diesem Falle der komplexe Charakter Bosnien-Herzegowinas zum Ausdruck kommt.

IV. Spezielle parallele Beziehungen, Verfassungsänderung In diesem Zusammenhang ist auch die durch die Verfassung Bosnien-Herzegowinas 11 vorgesehene Möglichkeit der Entitäten zu erwähnen, gesonderte parallele Beziehungen mit den Nachbarstaaten zu unterhalten. Dieses Schema ist nach mehrheitlicher Auffassung in der Literatur ebenfalls Charakteristikum eines Staatenbundes, nicht eines Bundesstaates12. Für die Qualifizierung der Staatsorganisation Bosnien-Herzegowinas sind außerdem die Verfassungsbestimmungen wichtig, die sich auf die Änderung der Verfassung beziehen. Art. X. 1 BIHV schreibt vor, dass diese (BIH-) Verfassung durch Beschluss der Parlamentarischen Versammlung mit Zwei-Drittel-Mehrheit der im Repräsentantenhaus anwesenden Abgeordneten geändert werden kann. Auf den ersten Blick scheint sich das entsprechende Verfahren von der sonstigen Beschlussfassung in der Parlamentarischen Versammlung zu unterscheiden. Indes ist es hinsichtlich der genannten Verfassungsbestimmung erforderlich, auch Art. IV. 3 (c), Art. III. (d) und Art. III. (e) zu berücksichtigen. Dies führt zum Ergebnis, dass auch Verfassungsänderungsbeschlüsse in analoger Anwendung von Art. IV. 2 BIHV gefasst werden können. Dies bedeutet, dass „die Zuständigkeit besonderer Staaten nicht gegen deren Willen durch Verfassungsänderungen geändert oder eingeschränkt werden kann" 13 .

V. Schlussbetrachtung Obwohl die Form der Staatsorganisation von Bosnien-Herzegowina komplex und in vielerlei Hinsicht spezifisch ist, und obwohl darüber in der Rechtswissenschaft, aber auch in den politischen Ansätzen und Programmen der verschiedenen 10 Anm. des Übers.: Die in BIH ausgegebenen Geldscheine besitzen zwar ein einheitliches Design, sie unterscheiden sich jedoch, je nachdem ob sie in der FBIH oder in der RS ausgegeben werden, durch die abgebildeten Motive und die Reihenfolge der lateinischen bzw. kyrillischen Schrift. Unabhängig davon sind die Geldscheine jedoch in beiden Entitäten gültig. 11 Diese Möglichkeit ist in Art. III. 2 (a) BIHV enthalten; vgl. hierzu näher S. Savie, Die Republika Srpska nach Dayton, Banja Luka 1999. 12 Vgl. näher hierzu Popovic (Fn. 1). 13 Jovanovic (Fn. 1), ebd.

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Akteure in der Region unterschiedliche Auffassungen bestehen, kann aufgrund des hier Dargestellten und in Anwendung der allgemeinen Kriterien, die für die Beurteilung der Form der Staatsorganisation eines Staates angewandt werden, mit Sicherheit geschlossen werden, dass Bosnien-Herzegowina eine ebenso spezifische wie komplexe staatliche Gemeinschaft mit überwiegend konföderativen Elementen, aber auch mit bestimmten Elementen einer föderativen Staatsorganisation ist 1 4 Richtigerweise muss man anerkennen, dass die Verfassung Bosnien-Herzegowinas, anders als dies in allen anderen Konföderationen der Fall ist, nicht die Möglichkeit zulässt, dass eine der beiden Entitäten aus Bosnien-Herzegowina austreten kann. Es ist vielmehr - im Gegenteil - ausdrücklich vorgeschrieben, dass durch Abkommen über gesonderte parallele Beziehungen, die die Entitäten mit Nachbarstaaten abschließen dürfen, die territoriale Integrität und die Souveränität BosnienHerzegowinas nicht gefährdet werden darf. Unter Berücksichtigung aller Besonderheiten der Staatsorganisation BosnienHerzegowinas, aber auch unter Berücksichtigung der Rolle der Internationalen Gemeinschaft bei der Entstehung des Staates sind wir der Auffassung, dass es für seine Zukunft und für die seiner Entitäten notwendig ist, dass das Friedensabkommen von Dayton insgesamt, besonders aber die Verfassung Bosnien-Herzegowinas, regelgerecht ausgelegt und folgerichtig angewandt wird. Dies verlangt Verantwortungsbewusstsein auf Seiten aller Institutionen Bosnien-Herzegowinas sowie der Entitäten in Bosnien-Herzegowina. Letzteres ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil das Dayton-Abkommen durch mühsam erzielte Kompromisse aller in dieser Region, aber auch unter nicht zu bezweifelnden Anstrengungen der Internationalen Gemeinschaft - die auch heute, fast fünf Jahre nach seiner Unterzeichnung, dessen Umsetzung in hohem Maße gewährleistet - zustande kam. Dieses Abkommen ist weder perfekt noch wurde es geschlossen, um auf Dauer unverändert zu bleiben. Im Laufe der Zeit werden vielmehr bestimmte Änderungen wahrscheinlich unumgänglich sein. Indessen sind auch in diesem Falle die Bestimmungen der Verfassung Bosnien-Herzegowinas, die das Verfahren dafür regeln und den Schutz der vitalen Interessen aller Völker garantieren, zu beachten. Dies bedeutet, dass bestimmte Lösungen dieser Art durch Kompromisse aller drei Völker gefunden werden müssen. Wir sind der Auffassung, dass dem Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas hierbei eine besondere Rolle zukommt. Dieses Gericht ist vor allem dafür zuständig, die Verfassung Bosnien-Herzegowinas zu schützen. Es darf nicht in eine Institution umgewandelt werden, die wegen momentaner oder auch langfristiger politischer Ziele und Programme zum Verfassungsgeber wird, statt Hüter der Verfassung zu sein 15 . Nach unserer Meinung ist es gerade deshalb erforderlich, in absehbarer 14

Es wird auch die Auffassung vertreten, in der Staatsorganisation von BIH seien auch einige charakteristische Elemente einer Union anzutreffen; vgl. hierzu R. Kuzmanovic, Verfassungsrecht II, Banja Luka 1997.

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Zeit ein Gesetz über das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas zu erlassen, durch das bestimmte, für die Arbeit des Gerichts bedeutsame Fragen (die bislang durch die Geschäftsordnung des Gerichts mitgeregelt werden, aber i.d.R. durch Gesetz zu ordnen sind) adäquat geregelt werden. Erst nach Herstellung dieser Bedingungen wird eine so komplexe staatliche Gemeinschaft, wie Bosnien-Herzegowina sie darstellt, eine Zukunft haben. Obwohl in der Rechtswissenschaft bestimmte Vorbehalte gegenüber einer Staatsorganisation dieser Art bestehen, neigen wir zu der Feststellung, dass - unter Berücksichtigung aller Umstände - diese Staatsorganisation wahrscheinlich nicht anders beschaffen sein kann. Dafür spricht auch die Tatsache, dass das Friedensabkommen von Dayton in der Vergangenheit, wenn auch mit mehr oder weniger großen Schwierigkeiten, umgesetzt wurde, obwohl es sich dabei um einen komplizierten rechtlichen und politischen Vorgang handelt. Dies spricht zweifelsohne dafür, dass ein Bosnien-Herzegowina dieser Art eine Zukunft haben kann.

15 Diesbezüglich denke ich an die Entscheidung des BIHVG in der Sache U 5/98 (Teilurteil I, II, III und IV), die sich auf die Konstitutivität der Völker in BIH bezieht, und durch die die Staatsorganisation von BIH indirekt geändert wurde. Näheres hierzu lässt sich der genannten Entscheidung, aber auch meinem abweichenden Votum sowie dem der anderen Verfassungsrichter, die gegen diese Entscheidung gestimmt haben, entnehmen.

Föderalismuserfahrung und Bosnien-Herzegowina Von Zvonko Miljko*

Wie Demokratie und Republik ist Föderalismus ein klassischer Begriff, der viele Bedeutungen besitzt, und der bei den Wissenschaftlern, die ihn ganz unterschiedlich definieren, zahlreiche Kontroversen hervorruft. Einige Autoren heben hervor, dass „das Konzept des Föderalismus und das der Herrschaft der Verfassung zu den fundamentalsten Konzepten der politischen Theorie gehören, obwohl es uns bei ihnen, ebenso wie bei der Evolutionstheorie, noch nicht ganz gelungen ist, ihre vollen Implikationen zu erfassen" 1. Was ist so mystisch am Phänomen des Föderalismus? Was führt dazu, dass das Konzept bis heute eines der komplexesten Themen der Verfassungsrechts- und Politikwissenschaft geblieben ist? Die ambivalente Natur des Föderalismus bedingt auch ein ambivalentes Verhältnis gegenüber dem Föderalismus selbst. Von der ersten zeitgenössischen Verwirklichung des Föderalismus in der Gestalt der USA bis zum heutigen Tag spürt man ständig einen Konflikt zwischen „Föderalisten" und „Antiföderalisten". Diese Gegensätze haben heute eine ganz andere Bedeutung als die seinerzeit mit der Entstehung der US-amerikanischen Föderation verbundenen Probleme. In der kleinen Zahl etablierter föderativer Staaten der Gegenwart2 zeigen sich sowohl die Werte als auch die Mängel des Föderalismus als solchem. Auf die Fragen nach einem Wert, der dem Föderalismus als solchem inhärent ist, und nach Zielen, die ausschließlich durch den Föderalismus erreicht werden können3, erhält man die unterschiedlichsten Antworten. Diese Antworten können wir unter Vorbehalt in zwei große Gruppen einteilen. Die einen verstehen den Föderalismus als Wert an sich; sie bringen ihn in direkte Verbindung mit den Konzepten von Freiheit und Demokratie. Die anderen vertreten demgegenüber einen gänz-

* Übers, von RA St. Pürner, Kanzlei Dr. Pürner Thüncher Panzer, Nürnberg; redaktionell und terminologisch vereinheitlicht von Mithrsg. W. Graf Vitzthum. 1 V. Ostrom, Politicka teorija slozene republike (Politische Theorie komplexer Staaten), Zagreb 1989, S. 64. 2 Von den fast zweihundert in der Welt bestehenden Staaten besitzen nur etwa 10% eine föderative Staatsorganisation. 3 F. Neumann, Demokratska i autoritarna drzava (Der demokatische und der autoritäre Staat), Zagreb 1992, S. 180.

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lieh negativen Ansatz; sie sprechen dem Föderalismus jeglichen Wert ab und führen seine zahlreichen Mängel an. Hinsichtlich der gewaltigen Menge an Literatur zu unserem Thema kann man mit Recht die bekannte Maxime von Publius Terentius zitieren: „Nihil est dictum, quod non sit dictum prius". Dennoch möchte ich nachfolgend einige theoretische Standpunkte, die auf spezielle Weise die heutigen Besonderheiten des Föderalismus in Bosnien-Herzegowina widerspiegeln, skizzieren. Dabei gehe ich von der einfachen Grundaussage aus, dass Föderalismus in der Wirklichkeit ohne eine Theorie des Föderalismus nicht möglich wäre. Einige dieser Standpunkte sind unstrittig und haben fast die Kraft eines Axioms, während hinsichtlich anderer eine Reihe von Streitpunkten besteht.

I. In der Entwicklung des Föderalismus ist ein Charakteristikum feststellbar: die allgegenwärtige Tendenz einer Stärkung der Zentripetalkräfte bzw. einer Stärkung der Zentralisierung bei gleichzeitiger Schwächung der Rolle der föderativen Einheiten in der Föderation. In der Theorie entwickelte sich der Begriff des „unitären (unitarischen) Bundesstaates" als wahre contradictio in adiecto. Indessen kann niemand bestreiten, dass es die föderalen Einheiten sind und die mit ihnen verbundenen, mit der zweistufigen Verfassungsstruktur einhergehenden Probleme der Zuständigkeitsabgrenzung und Machtbeteiligung, die eine Föderation von einem Einheitsstaat unterscheiden. Konstitutiver Bestandteil einer Föderation sind deshalb die Bürger (Einheitlichkeit) und die föderalen Einheiten (Gesondertheit). Im Unterschied dazu sind bei einem Einheitsstaat nur die Bürger konstitutives Element. Wie betont, per definitionem gibt es keine Föderation ohne föderale Einheiten. Diese bilden deshalb die territoriale Komponente, die volens nolens auf besondere Weise in einem föderativ organisierten Staat auftritt. Die Gründe für die Bildung einer Föderation, und damit in bestimmten Fällen auch für die Bildung föderaler Einheiten (Devolution), können verschieden sein (ethnische, historische, geografische, wirtschaftliche, verkehrsbedingte und sonstige Gründe). In diesem Zusammenhang wird betont, Föderalismus verlange nicht Multinationalität, dass aber, andererseits, Multinationalismus in einem Staat die Föderation als Organisationsform des Staates erfordere. Es fragt sich indes, ob in den multinationalen Föderationen, in denen das ethnische Moment dominiert, diese Struktur gerade durch Bildung gesonderter föderativer Einheiten ihren territorialen Niederschlag finden muss. Die Meinungen hierzu gehen völlig auseinander. Einerseits wird vertreten, die historische Erfahrung der Föderalismusentwicklung in der Welt beweise nicht nur, dass er allein in national homogenen Staaten erfolgreich sei, sondern auch, dass dies nur dort der Fall sei, wo die ethnischen und

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sonstigen Trennungslinien so ausgelegt seien, dass sie sich nicht mit den Grenzen der föderalen Einheiten deckten4. Andererseits wird die Auffassung vertreten, die föderative Ordnung (die sich im Falle der gemischt-nationalen Zusammensetzung eines Staates, in dem jede andere Lösung nicht dieser Zusammensetzung entspricht, fast von selbst aufdrängt) entspreche nicht einem gemischt-nationalen System und sei eine Quelle für ständige Unzufriedenheit und Konflikte 5 . Am Ende dieser Auswahl von Theorieaspekten zum Föderalismus steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Föderalismus und Demokratie. Auch hier zeigt sich, wie in den meisten Fällen, ein typischer föderativer Meinungsgegensatz. Einige Autoren setzen zwischen die Begriffe Föderalismus und Demokratie ein Gleichheitszeichen. Sie sind der Auffassung, dass der demokratische und der föderative Staat nicht nur Hand in Hand gehen, sondern dass ein föderativer Staat sogar für die Demokratie notwendig ist. Andere sprechen dagegen von einem offensichtlichen Zusammenhang zwischen Föderalismus und Anti-Demokratie 6. Hierzu nur folgende kritische Anmerkung, nämlich die These, dass Föderalismus das wesentliche Postulat der Demokratie, das im Grundsatz „ein Mensch, eine Stimme" zum Ausdruck kommt, negiert und stattdessen bestimmte Gruppen bzw. Kollektive einander gleichstellt. Einige Autoren sehen den stärksten negativen Aspekt des Föderalismus gerade darin, dass er es Minderheiten ermöglicht, Mehrheiten ihren Willen aufzuzwingen und damit allen, außer einer privilegierten Minderheit, höhere Kosten aufzuerlegen7. Wenn dies in einer „ein-nationalen" Föderation begründet wäre, hätte es in einer multinationalen eine noch ganz andere Bedeutung. Der einschlägige Vorwurf ginge dahin, dass der liberale Anspruch des heute überall beachteten Prinzips der Gleichheit aller Bürger dann versteckte Fallen enthält, wenn er in einer Gesellschaft umgesetzt wird, in der es Gruppenunterschiede, und damit auch potentiell privilegierte und potentiell benachteiligte Gruppen, gibt. Das liberale Gleichheitsprinzip verbirgt die Gefahr, dass Gleichheit als Das-Gleiche-Sein verstanden, und in der pluralistischen Gesellschaft die Homogenität der Bürger forciert wird, was unter den gegebenen Umständen das Aufzwingen der Werte, der Kultur, des Stils und der Lebensweise der herrschenden (Mehrheits-)Gruppe gegenüber den anderen bedeutet. Dies alles geschähe im Namen des Gemeinwohls8. Diese (Egalisierungs-)Gefahr droht besonders in gemischt-nationalen Staaten, in denen gerade 4 Vgl. S. Sokol/B. Smerdel, Ustavno pravo (Verfassungsrecht), Zagreb 1998, S. 286. 5

Vgl. M. Jovicic, Savremeni federalizam (Zeitgenössischer Föderalismus), Belgrad 1973, S. 48. 6 In Deutschland war dies K. Frantz, vgl. dessen Werk: „Der Föderalismus als das leitende Princip für die sociale, staatliche und internationale Organisation ...", Mainz 1879. 7 Vgl. W. H. Riker, Federalism: Origin, Operation, Significance, Boston 1964. 8 Vgl. /. M. Young, Politicka zajednica i razlike medu grupama: kritika ideala univerzalnog gradanstva" (Politische Gemeinschaft und Unterschiede zwischen Gruppen - Kritik des Ideals des universellen Bürgertums), Politièka misao, Vol. XXVIII. No.l, Zagreb 1991, S. 206. 3 Graf Vitzthum/Winkelmann

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durch Verfassungslösungen und föderative Strukturen versucht wird, die vollständige Einheit und nationale Gleichberechtigung der bestehenden nationalen Gruppen sicherzustellen.

II. Wie tief auch immer diese Föderalisierungsanalyse angelegt würde - im Kern ginge es stets um den Staat. Immer dann, wenn hier von Föderalismus gesprochen wird, ist demnach vom Staat die Rede. Föderalismus ist vor allem eine Form der Staatsorganisation und deshalb wesentlich mit dem Staat verbunden. Im weiteren, mehr soziologisch-politischen Sinn versteht man unter Föderalismus die unterschiedlichen Stufen der föderalen Organisation bestimmter politischer Subjekte, von der Personal- über die Realunion bis hin zur Konföderation und zur Föderation. Darüber hinaus werden auch viele nicht-staatliche bzw. nicht-politische Assoziationen mit dem Begriff Föderalismus in Verbindung gebracht9. In unserem Zusammenhang interessiert vorrangig der Föderalismusbegriff, der sich in der traditionellen politisch-juristischen Theorie auf ein bestimmtes Modell der Staatsorganisation bzw. auf die Organisation eines komplexen Staates bezieht. Nach diesem Verständnis wird Föderalismus mit dem föderalen bzw. föderativen Staat gleichgesetzt 10 Die Komplexität eines derartigen Staates besteht vor allem darin, dass seine konstitutiven Elemente nicht nur, wie dies bei einem unitären Staat der Fall ist, die Bürger sind, sondern neben ihnen auch die föderalen bzw. wesentlichen Einheiten der Föderation. Diesen steht selbst die Bezeichnung als Staat zu, da sie in der Regel verfassungsgebend sind, also selbst Verfassungen besitzen. Wo es eine Verfassung gibt, gibt es i. d. R. auch einen Staat. Auf die Frage, worin das Wesen einer solchen Staatlichkeit11 besteht, möchte ich nicht eingehen; alleine der Gedanke an 9 Viele Nicht-Regierungs-Wirkungseinheiten (Gewerkschaften, politische Parteien) werden mit föderalen Namensbestandteilen bezeichnet; aber auch Assoziationen von Staaten selbst, wie die Vereinten Nationen und der Europarat, sind föderale Systeme. Vgl. M. Frenkel, Federal theory, Canberra 1986, S. 56. Auch viele andere Assoziationen ζ. B. sportlicher, religiöser und ähnlicher Art, von der FIFA oder der UEFA, die in ihren Namen das Wort Föderation enthalten, bis hin zur Internationalen Föderation der Zeitungen, der katholischen biblischen Föderation, der Föderation amerikanischer Wissenschaftler oder der Föderation amerikanischer Kroaten, tragen diese Bezeichnung. 10 Da die Termini „föderativ" und „föderal" in diesem Sinne oft mit derselben Bedeutung benutzt werden, ist die Auffassung, dass zwischen ihnen wesentliche Unterschiede bestehen, interessant. Die Rede ist von zwei Bildungen: die eine, auf „t" endende (federacija, federativni, fédération, fédérateur, fédératif) betont den zentripetalen Aspekt; die Bildung auf „1" (Föderalismus, fédéralisme, fédéraliste, fédéraliser) hebt dagegen die zentrifugalen Tendenzen hervor. Vgl. B. Voyenne, Histoire de l'idée fédéraliste, Paris 1976, S. 63. 11 Die parallele Verwendung der Termini „Staat" für den Bundesstaat und für die föderalen Einheiten hat einen hauptsächlich historischen und ideologischen Ursprung und eine entsprechende Bedeutung. Aber diese Parallelität in der Verwendung des Begriffs „Staat" besitzt

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das Bestehen eines „Staates im Staate" weist auf die grundlegende Anomalität dieser Form und ihren initialen und potentiellen a-staatlichen Charakter hin. Die ersten beiden zeitgenössischen Föderationen in der Welt, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Schweiz, sind das Resultat eines Kompromisses. Die Föderation war der Hybrid eines unitären Staates und einer Konföderation 12. Insofern ist es kein Zufall, dass viele mit diesem Versuch der Kreuzung der genannten Elemente, durchgeführt am Beispiel der ersten modernen Föderation in der Welt, den Begriff „amerikanisches Experiment" verbinden. Hier ist daran zu erinnern, dass die Frage des Föderalismus und die Schaffung einer Nation bzw. eines Staats zwar im US-amerikanischen und im Schweizer Fall identisch sind, dass dies aber nicht der Fall ist hinsichtlich der Föderalisierungsbeispiele auf europäischem Boden, insbesondere dort nicht, wo es um gemischt-nationale Föderationen ging. Der Kern des Problems steckt in der alles umfassenden Idee, dass auf demselben Territorium mehr als nur eine Gewalt besteht, und dass von dieser Mehrzahl von Gewalten eine jede eine eigene Verfassungsmäßigkeit besitzt und eine eigene Rechtsordnung darstellt. Diskussionen über den Wert des Bundesstaates wurden häufig auf rein philosophischem und doktrinärem Feld geführt. Die Anhänger eines „monistischen" Weltund Gesellschaftsverständnisses hoben hervor, Einheit und Monismus des politischen Systems und der Macht stellten die politische Grundlage eines jeden Staates dar. Diesen Standpunkt hat Hobbes vertreten: Der Staat ist ein System der absoluten Ausübung der einzigen und höchsten Gewalt. Von daher ist der Staat von Natur aus unitär und muss es in seiner Ordnung sein. Zum gleichen Verständnis kommen auch die philosophischen Konzepte, die den Staat mehr als ideale (Hegel), moralische {Fichte) oder organische Einheit (Spencer) auffassen. Auf der Grundlage dieser Theorien wäre eine Föderation nach Ansicht einiger Autoren ein „niedriger (niederer) Staatstyp" oder eine „nicht-normale Staatsform" (Heller) oder eine bloße Variante des unitaristischen Staates13. Die kurze, gerade einmal zwei Jahrhunderte alte Geschichte des zeitgenössischen Föderalismus führt nicht nur zur Frage nach den Gründen seiner Entstehung und nach seinem Wert, sondern endlich auch zu der Frage, ob seine Zeit nicht bereits um ist. Wie zur Zeit der Entstehung des Föderalismus führte man das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch eine teils verdeckte, teils offene Auseinandersetzung zwischen den neuen „Föderalisten" und den „Antiföderalisten". Der emphatiauch eine Reihe von Folgen, die dazu führen, dass sich der Föderalismus ändert und dem Konföderalismus annähert. Deshalb ist hervorzuheben, dass die Föderation ein Staat im vollen Sinne ist, während die Republiken (die föderalen Einheiten) Para- oder Protostaaten sind. Vgl. J. Bordevic, Deset ogleda ο otvorenim pitanjima politickog i pravnog sistema (Zehn Betrachtungen über offene Fragen des politischen und rechtlichen Systems), Belgrad 1986, S. 86. 12 Frenkel (Fn. 9), S. 154. 13

Vgl. J. Ooräevic, Osnovna pitanja federalne drzave (Grundlegende Fragen des föderalen Staates), Belgrad 1940, S. 170. 31

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sehe Aufruf von Proudhon, dass dieses Jahrhundert eine Ära des Föderalismus eröffnen oder aber die Menschheit in ein 1000-jähriges Fegefeuer stoßen würde, erfährt am Ende des Jahrhunderts dasselbe Schicksal wie die philosophischen Auffassungen dieser „angeblichen Föderalisten" 14. Freilich neigen auch viele wahre Föderalisten zu der Feststellung, dass Föderalismus - zweifelsohne bereits für sich genommen ein schönes Wort und ein Begriff, der in sich den weiten Geist der Toleranz, der Freiheit und des Pluralismus, als Gegensätze zu Unfreiheit, Autorität und Zentralismus, enthält - mit Demokratie und Freiheit identisch ist 15 . Andere wiederum sprechen ihm jeden Wert ab. Sie finden viele Mängel. Am häufigsten werden dabei seine unmittelbare Gefährlichkeit für die grundlegenden Postulate der Demokratie sowie seine erhebliche Komplexität, Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit genannt, Mängel, die mit einem im Gefüge seiner Institutionen quasi eingebauten Interessenkonflikt einhergehen. Auf die Frage, ob es einen dem Föderalismus inhärenten Wert (oder Mangel) als solchen gibt, antwortet Franz Neumann, jede abstrakte Diskussion über die Werte des Föderalismus sei sinnlos: „Es gibt keine Werte, die von selbst mit dem Föderalismus als solchen einhergehen. Deshalb kann man die Föderation nicht erfolgreich mit dem Argument verteidigen, dass ein jeder unitäre Staat eine Tendenz zur Verstärkung der politischen Repression besitzen würde" 16 . Die Antwort auf die Doppelfrage „Warum dann trotzdem Föderation?" und: „Gibt es zwischen ihr und dem Einheitsstaat irgendwelche Unterschiede" (außer dass in der Föderation die „Juristen, besonders die Verfassungsjuristen, etwas mehr Arbeit haben als im unitären Staat" 17 ) ist abhängig von der Antwort auf die Frage, ob einige Ziele nur mit Hilfe des Föderalismus erzielt werden können, bzw. ob der Föderalismus diesbezüglich notwendig und die einzige passende Antwort ist. Die Kritik am Föderalismus als „extravagante und uneffektive Herrschaftsform, die nur dort berechtigt ist, wo festere Organisationsformen praktisch unanwendbar sind und die keiner wollen würde, wenn er sie umgehen könnte" 18 , impliziert die 14

Neumann (Fn. 3), S. 182, schreibt, dass „seine Theorie des Föderalismus nichts mit dem föderalen Staat gemeinsam hat; sie ist vielmehr die reine Negation eines solchen Staats". 15 Bekannt ist die Auffassung des Schweizer Philosophen D. de Rougemont, der den Föderalismus dem Totalitarisme direkt gegenüber stellt: „Totalitarismus ist hart und einfach, wie der Krieg, wie der Tod. Föderalismus ist komplex und subtil, wie der Frieden, wie das Leben". Zit. nach B. Smerdel, „Suprotstavljanja oko federalizma u suvremenoj americkoj politickoj teoriji" (Gegensätzliche Auffassungen über den Föderalismus in der zeitgenössischen amerikanischen politischen Theorie), Zbornik Pravnog fakulteta u Zagrebu, Vol. 37, Nr. 2, 1987, S. 234. Diese Arbeit enthält einen Überblick über die theoretischen Kontroversen und Konflikte bzgl. des Föderalismus. 16 Neumann (Fn. 3), S. 194. 17 Die Rede ist von einem zeitgenössischen „Antiföderalisten" William Riker, zit. nach Smerdel (Fn. 15), S. 231. 18 /. Jennings, Some Characteristics of the Indian Constitution, zit. nach: Jovicic (Fn. 5), S. 37.

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Frage, ob der Föderalismus in bestimmten Situationen eine „Notwendigkeit" darstellt. In seiner Kritik an Whears ' „juristischem Ansatz" hat William Livingston festgestellt, das Wesen des Föderalismus liege nicht in der institutionellen oder verfassungsmäßigen Struktur, sondern in der Gesellschaft selbst. Die föderative Organisation stelle das Mittel dar, durch das der föderative Charakter einer Gesellschaft gebildet und geschützt werde 19. Von allen denkbaren Argumenten, die für die Einrichtung föderativer Staaten sprechen - historisch-politische, landschaftliche, wirtschaftliche und ethnische - , besitzt dieses letztgenannte eine besondere Bedeutung. Der Standpunkt, dass der Föderalismus keine Multinationalität erfordert, aber andererseits Multinationalität irgendeine Form eines föderativen Staates verlangt, hat fast die Kraft eines Axioms. So wurde behauptet, die Lösung der nationalen Frage sei ohne eine föderative Form der Staatsform schlichtweg unmöglich 20 . Eine unitäre Staatsorganisation würde hierfür, unabhängig vom Grad der in ihr herrschenden Dezentralisierung, keine Lösung für einen gemischt-nationalen Staat darstellen, so dass sich der Föderalismus in diesem Falle quasi von selbst aufdrängen würde. Zu dieser Hoffnung geben die Erfahrungen der bisherigen multinationalen Föderationen freilich keinen Anlass, insbesondere weil ein Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Föderalismus in der Welt zeigt, dass er nur in national homogenen Staaten erfolgreich ist 21 . J. S. Mill hat zu seiner Zeit die Kategorie der Freiheit in multinationalen Gemeinschaften überhaupt in Frage gestellt, aber zugleich hinzugefügt, dass in diesen Gemeinschaften nur die Möglichkeit bleibt, „Notwendigkeiten in Tugenden umzuwandeln"22. Schließlich muss die gesamte theoretische und praktische Föderalismuserfahrung in der Welt adäquate Verfassungslösungen für die komplexe bosnisch-herzegowinische Situation finden. Vor dieser steht ein großes Fragezeichen, das W. Wilson, auf die Schweiz bezogen, mit den Worten formulierte, die Deutschen, Italiener und Franzosen hätten unter Beachtung ihrer jeweiligen Freiheit durch gegenseitige Unterstützung und Achtung eine Gemeinschaft geschaffen, die zugleich frei und fest sei. Die Widersprüchlichkeiten, die mit einem Föderalismus mit gemischt-nationaler Komponente verbunden sind, kommen noch deutlicher zum Tragen, wenn man die Feststellung berücksichtigt, dass „für föderale Gemeinschaften in den letzten hundert Jahren das gilt, was früher vielleicht nicht der Fall war: die föderale Staats19 W. S. Livingston , A Note on the Nature of Federalism, in: J. P. Meekinson (Hrsg.), Canadian Federalism: Myth or Reality, Methuen 1968, S. 22. 20 Vgl. /. Kristan, Federalizam i nacionalno pitanje (Föderalismus und nationale Frage) in: Zborniku: Federacija i federalizam, Nis 1987, S. 142. 21 Vgl. S. Sokol/B. Smerdel, Ustavno pravo (Verfassungsrecht), Zagreb 1998, S. 286. 22 J. S. Mill , Izabrani politicki spisi, II. svezak (Ausgewählte politische Schriften, Bd. 2), Zagreb 1989, S. 163.

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form ist immer ein unitärer Staat, der zerfällt oder erst entsteht"23. Das diesbezüglich häufig hervorgehobene „delikate Gleichgewicht" des Föderalismus erwies sich meist als Illusion. J.J. Rousseau schrieb: „Wenn sich eine Waage im perfekten Gleichgewicht befindet, ist eine kleiner Hauch ausreichend, damit sie sich bewegt." Die Föderalismuserfahrung jedenfalls bestätigt, dass der Föderalismus einen immer größeren Grad an Zentralisierung aufweist oder aber zum Selbstzerfall führt. Der Föderalismus verlangt einen spezifischen Geist des Kompromisses, wechselseitiges Vertrauen und die Achtung objektiver Interessen; historisch gesehen aber unterhöhlen ihn hegemonistische Bestrebungen innerhalb der Gemeinschaft oder von außen. All dies macht das bosnisch-herzegowinische Projekt noch komplexer und anspruchvoller. III. In national gemischten Föderationen erhalten alle jene Aspekte des komplexen Phänomens Föderalismus eine besondere Bedeutung24. Die These von der Notwendigkeit des Bestehens eines grundlegenden Konsenses über das Erfordernis einer Gemeinsamkeit und über die grundlegenden Interessen, die in der föderativen Gemeinschaft realisiert werden - in der Bevölkerung wie insbesondere auch zwischen den führenden gesellschaftlichen Kräften - , wird als selbstverständlich angesehen. Wenn dieses Bewusstsein in einer „konkreten Gesellschaft nicht besteht oder wenn es innerhalb der herrschenden Kräfte erodiert, erfüllen die föderativen Institutionen ihren grundlegenden Zweck nicht, und der Kampf der einen um die Dominierung der anderen führt zu einer Situation der vollständigen politischen Blockade, in der er es oft unmöglich ist, mit den Mitteln der Verfassung eine Lösung herbeizuführen" 25. Der Konflikt, die Kooperation und die Konkurrenz, sowohl unter den einzelnen föderalen Einheiten wie auch gegenüber der Föderation insgesamt, werden als hauptsächliche Charakteristika oder auch als hauptsächliche Mängel der Föderation bezeichnet. Wenn die Kooperation aufhört, verwandelt sich der Föderalismus in sein Gegenteil und potenziert Konflikte statt sie zu lösen. Deshalb überrascht es nicht, dass Alain Gagman, als er über den kanadischen Föderalismus sprach, die Frage aufwarf: „Beseitigt die Errichtung eines föderalen Systems den politischen Antagonismus, oder konserviert er ihn, oder verstärkt er ihn sogar?" 26. 23 F. H. Hinsley, Suverenitet (Souveränität), Zagreb 1992, S. 206. 24

Arsen Bacie spricht bzgl. der ethnischen Dimension von einer Einteilung der föderalen Verfassungssysteme in drei Haupttypen: polyethnischer oder multiethnischer Typ, gemischte Föderation und monoethischer Typ. Vgl. ders., Ustavno pravo (Verfassungsrecht), S. 81 -83. 2 5 Sokol/Smerdel (Fn. 21), S. 22. 26 A. Gagnom, Kanadski federalizam: Operativna ravnoteza (Der kanadische Föderalismus - Das operative Gleichgewicht), Sveska Institut za proucavanje nacionalnih odnosa Sarajevo,

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Unser Interesse für die komplexen Probleme des Föderalismus ist, entsprechend dem Titel dieses Beitrags, mit dem multinationalen Charakter Bosnien-Herzegowinas und somit auch mit dem Problem seiner Form der Staatsorganisation verbunden. Offensichtlich ist, dass eine Föderation auf unterschiedliche Weise entstehen kann, und dass für ihre Errichtung verschiedene Motive und Ziele bestehen können. Ein Aspekt der Staatlichkeit, der auch das zentrale Problem der Konflikte in Bosnien-Herzegowina darstellte, darf, unabhängig davon, ob eine Föderation durch Verschmelzung bzw. Zusammenschluss von bis dahin gesonderten staatsrechtlichen Entitäten (was mehr dem Wesen des Föderalismus entspricht) oder durch Umwandlung einer bis dato unitären Staatsorganisation in eine föderative 27 entsteht, keinesfalls übersehen werden. Dies ist, da die moderne Staaten inhärent territorial sind, die inheränte territoriale Komponente. Sie kann man deshalb weder in den theoretischen noch in den tatsächlichen Bildern des Föderalismus ausklammern. F. A. Hayek sah das Wesen des Föderalismus darin, dass er die Macht desintegriert. Die aus dem Föderalismus hervorgehende Verteilung der Verantwortung zwischen verschiedenen territorialen Autoritäten ist ihm zufolge die bessere Methode um einer Konzentration der Macht vorzubeugen 28. Die faktischen Kriegsereignisse in Bosnien-Herzegowina enthielten Elemente beider erwähnten Entstehungsweisen des Föderalismus; ihnen fehlte jedoch das, was mit den Gründen, Zielen und Motiven für die Entstehung eines so komplexen Staates verbunden ist 29 . Die Entstehung primär unter Einfluss äußerer Kräfte brachte es mit sich, dass zum Zeitpunkt seines Entstehens die Elemente, die der Föderalismus voraussetzt, fehlten. Zu diesen Elementen gehört insbesondere das auf Vereinbarungen und Kompromissen begründete gemeinsame Interesse und die sich in solchen Fällen von selbst verstehende Freiwilligkeit. Oft wurde hervorgehoben, dass ohne den zum Wesen einer Föderation gehörenden Willen zur Kooperation keine wahre Föderation bestehen kann. Für das Entstehen gesonderter Staaten, die als Föderation organisiert werden, ist der vorherige, wahrhaftige Konsens ihrer wesentlichen Bestandteile erforderlich. Voraussetzung für das Bestehen multinationaler Föderationen sind die gegenseitige Sympathie der verschiedenen Gruppen sowie ein bestimmtes geistiges Klima und ganz allgemein ein bestimmter „föderaler Geist". Der Föderalismus erfordert einen Geist des Kompromisses, gegenseitiges Vertrauen sowie Achtung der objektiven Interessen und der anerkannten SpielNr. 28-29, 1990, S. 75. Ahnliche Meinungen vertreten auch andere Autoren, vgl. H. Bakvis, Federalism and the Organization of Political Life: Canada in Comparative Perspective, Ontario 1987. 27 R. L. Watts benutzte für diese beiden Entstehungsweisen föderativer Staaten die Begriffe Aggregation und Devolution. Vgl. ders., New Federations: Experiments in the Commonwealth, Oxford 1966, S. 115. 28 F. A. Hayek, Politicki ideal vladavine prava (Das politische Ideal der Herrschaft des Rechts), Vorwort zu A. Bacie, Nekoliko napomena ο zivotu i djelu Friedricha A. Hayeka (Einige Anmerkungen zu Leben und Werk Friedrich A. Hayeks), Zagreb 1994, S. 11. 29 Hayek (Fn. 28), ebd.

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regeln; er verlangt auch bestimmte Opfer, manchmal auch Nachgeben. Ohne diesen Geist des Föderalismus und ohne diese Solidarität eigener Art, unter die sich auch Elemente aus Verstand, aber auch aus Gefühl mischen, sind Gemeinschaften oft zum Untergang verurteilt. Eine wahrhafte Föderation wird größere Erfolgsaussichten haben, wenn sie zwischen den Entitäten tatsächlich Zusammenarbeit, Koordination, Verständnis und Gleichgewicht anstrebt und sicherstellt. Ebenso hat sich gezeigt, dass die Föderationen, in denen kein großes Machtgefälle zwischen den Potentialen der föderativen Einheiten besteht, sowie diejenigen, die mehrere föderative Einheiten besitzen, im Vorteil sind. Am fragilsten sind die Föderationen, die zwei oder sogar drei föderative Einheiten besitzen. Weiter verdeckt und vernichtet der Föderalismus am Ende die rechtliche Hegemonie der einen über die anderen und die Verfassungsprivilegien für die einen auf Kosten der anderen. Ohne volle Gleichberechtigung sowohl der föderativen Einheiten wie auch all ihrer Bürger gibt es keine Föderation. Jede diesbezügliche „Asymmetrie" führt letztlich zum Untergang einer Föderation. Ebenso zeigt die geschichtliche Erfahrung, dass die Föderationen, die von außen aufgezwungen wurden, in der Regel zerfallen und nur solange bestehen wie die externen Kräfte, die sie erhalten haben. Leider spricht keine dieser Vorgaben zu Gunsten von Bosnien-Herzegowina. Die Akte, durch die die bestehende ultrakomplizierte staatliche Struktur geschaffen wurde, sind nach Meinung einiger Autoren primär Dokumente eines Ubergangszustandes, der aufgrund des Friedensvertrags bis zur Einrichtung der grundlegenden Beziehungen bis zur Normalisierung entstanden ist und dann endet, wenn die Vertreter des Volkes von Bosnien-Herzegowina eine Volksverfassung im eigentlichen Sinne erlassen 30. Diese Volksvertreter stehen bei zukünftigen Versuchen, die Verfassungsordnung auf friedliche Weise und durch demokratisches Vorgehen auszubauen, vor der Herausforderung, „Notwendigkeiten in Tugenden zu verwandeln". Wir könnten der Auffassung zustimmen, dass es „wahrscheinlich ist, dass eine solche Ordnung eher am Ende eines Prozesses kommt, der sich Schritt für Schritt pragmatisch entwickelt, denn als Produkt eines Vergleiches oder Vertrages der Hauptakteure im Sinne eines neuen Rahmens für die Lösung von Streitigkeiten" 31.

IV. Was kann man zum Schluss über die föderalen Strukturen im heutigen Bosnien-Herzegowina sagen? Die unter den äußerst ungünstigen Bedingungen des Zerfalls des ehemaligen Jugoslawiens und des Krieges in Bosnien-Herzegowina 30 Sokol/Smerdel (Fn. 21), S. 299. 31 R. Jay, Nationalism, Federalism and Ireland, in: M. Forsyth (Hrsg.), Federalism and Nationalism, London 1989, S. 249.

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selbst unter Beteiligung der Internationalen Gemeinschaft erfolgte devolutive Transformation von einem unitären in einen föderalen Staat führte zum Entstehen einer äußerst komplizierten Staatsorganisation und eines besonderen, die Asymmetrie betonenden „Mischsystems" („crossbred system"). Durchmischte territoriale und a-territoriale (nationale) Elemente haben nach den Akten von Washington und Dayton auf der Ebene des Staates zu einer Ungleichheit bei der Vertretung der nationalen Gemeinschaften, der föderalen Einheiten und der Bürger selbst geführt. Das Ergebnis ist das post-Dayton Bosnien-Herzegowina mit zwei Entitäten: der Föderation Bosnien-Herzegowina - sie wurde aus zehn Kantonen gebildet, die nach der Verfassung keine nationalen Vorzeichen besitzen, obwohl dieselbe Verfassung Kantone mit bosniakischer und kroatischer Bevölkerung sowie Kantone mit besonderem Regime anerkennt - und der Republika Srpska als der anderen Entität. Dies alles findet seinen Niederschlag in einer dreistufigen verfassungsmäßigen Ordnung Bosnien-Herzegowinas und seinen dreizehn Verfassungen 32. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass Bosnien-Herzegowina weit von einem Verfassungsstaat entfernt ist, in dem heute, ebenso wie gestern, das zentrale Problem darin besteht, ein Gleichgewicht zu erreichen zwischen der Koordination und der Kontrolle der Beziehungen zwischen den Machtorganen - eine Koordination und Kontrolle, die nicht nur die Freiheit des Einzelnen schützt, sondern auch sicherstellt, dass die Staatsgewalt den Bürgern all die wesentlichen Serviceleistungen bieten kann, ohne die keine moderne Gesellschaft zu bestehen vermag. Die Ubergangsperiode bzw. das durch die erwähnten Gegensätze und Unstimmigkeiten der bestehenden verfassungsrechtlichen Lösungen potentierte Provisorium eigener Art wird auch in Zukunft neue Verfassungsänderungen und eventuell den Erlass einer wirklichen Volksverfassung für Bosnien-Herzegowina erfordern. Es gibt die Auffassung, dass dies das Volk und die Bürger Bosnien-Herzegowinas selbst leisten müssen, um auf diese Weise einen eigenen modus vivendi zu finden in dem Bestreben, einen Staat zu schaffen, der zwar kein idealer Staat, wohl aber ein realer Staat sein wird, ein Staat, der der komplexen, widersprüchlichen Wirklichkeit unserer Heimat entspricht. Jedenfalls ist, wie ein Autor feststellte, „die Suche nach dem Träger der positiven Souveränität in Bosnien-Herzegowina offen. Die Welt wartet auf das Ergebnis dieser Suche"33.

32 Ich verweise auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas über die Konstitutivität der Völker, die sich nach meiner Meinung in ihren größten Teilen gerade auf diese komplizierte Struktur der Staatsorganisation Bosnien-Herzegowinas bezieht. Vgl. Sluzbeni glasnik Bosne i Hercegovine (Gesetzblatt des Gesamtstaats Bosnien-Herzegowina), Nr. 23/2000. 33 A. Bacic, Ο nekim pretpostavkama institucionalizacije prava i sloboda u Ustavu Bosne i Hercegovine (Über einige Vorussetzungen für die Institutionalisierung von Rechten und Freiheiten in der Verfassung Bosnien-Herzegowinas), Zbornik Pravnog fakulteta Sveucilista u Mostaru, No. 11, Mostar 1998, S. 124.

Die Rolle des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas Von Kasim Begic* Der Titel dieses Beitrags sowie das weite Thema unseres Kolloquiums legen einen methodischen Ansatz nahe, der, um dem Hauptgegenstand dieser Veranstaltung zu korrespondieren, auf der einen Seite den großen Bereich der Analyse der heutigen Rolle des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas (BIHVG) umfasst, und der auf der anderen Seite seine künftige Rolle ins Auge fasst. Um die spezielle Frage nach der Rolle des Gerichts bei der Förderung und Festigung der Elemente des Föderalismus in Bosnien-Herzegowina beantworten zu können, sind vorab vier Anmerkungen zu machen. Die Verfassung Bosnien-Herzegowinas (BIHV) räumt dem Verfassungsgericht erstens - eine besondere Stellung ein. Dies gilt sowohl bzgl. seiner Unabhängigkeit gegenüber den anderen Gewalten wie hinsichtlich des Prinzips der Dekonstitutionalisierung. Dieses Prinzip erlaubt, die Zuständigkeit und Zusammensetzung des Gerichts gesetzlich (und somit auch durch Verfassungsgesetze) zu normieren. Außerdem hat jenes Prinzip zur Folge, dass nur Verfassungsbestimmungen, die außerhalb des Gerichtes erlassen werden, eine Grenze ziehen für die Bestimmung seines Status', seiner Zuständigkeit, des Charakters seiner Entscheidungen und eine Reihe anderer Fragen. Neben seiner Unabhängigkeit stellt das Verfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit - zweitens - auch eine eigentümliche Zwischenmacht dar, mit bestimmten Kompetenzen aus den Bereichen von Legislative und Exekutive. Dies gilt besonders hinsichtlich der Zuständigkeiten, die sich auf Streitigkeiten zwischen den Entitäten, zwischen Bosnien-Herzegowina und einer Entität oder beiden Entitäten, oder zwischen den Institutionen Bosnien-Herzegowinas selbst beziehen. Gleiches gilt für die besondere Zuständigkeit des Gerichts im Falle einer Selbstblockade der Parlamentarischen Versammlung Bosnien-Herzegowinas bei Fragen von vitalem nationalem Interesse. Drittens muss man hinsichtlich der Rolle des Gerichts auch das Wesen von Verfassungsbestimmungen berücksichtigen. Dieses besteht in weiten und offenen Lösungen, die in mehrere Richtungen deuten. Darüber hinaus gibt es auch Bestimmungen, die mehr Vereinbarungs- als normativen Charakter besitzen, so dass in die Arbeit mit ihnen zwangsläufig auch Elemente einer kreativen Auslegung und * Ubers, von RA St. Pürner, Kanzlei Dr. Pürner Thüncher Panzer, Nürnberg; redaktionell und terminologisch vereinheitlicht von Mithrsg. W. Graf Vitzthum.

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einer sog. kreativen Anwendung einfiießen. Außerdem ist - viertens - die Tatsache von Bedeutung, dass das Verfassungsgericht (immer noch) die einzige Gerichtsinstanz auf der Ebene Bosnien-Herzegowinas ist. Dadurch wird die Verantwortung für den gerichtlichen Schutz der durch die Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten allein dem Verfassungsgericht übertragen.

I. Ein Verfassungsgericht, und somit auch das von Bosnien-Herzegowina, hat zwei grundlegende Aufgaben. Auch zur Umsetzung des Prinzips der Verfassungsmäßigkeit besteht die erste Aufgabe darin, „Hüter der Verfassung" zu sein; dies ist eine Voraussetzung des Rechtsstaates. Die zweite Aufgabe geht dahin, institutioneller Garant der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu sein, die durch die Verfassung und die internationalen Konventionen gewährleistet sind. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe ist eine elementare Voraussetzung der demokratischen Ordnung eines Gemeinwesens. Bei der näheren Normierung dieser beiden grundlegenden Aufgaben durch seine Geschäftsordnung ging das Gericht differenziert vor. Hinsichtlich des Schutzes der Verfassungsmäßigkeit bediente es sich eines anderen Ansatzes als bzgl. des Schutzes der erwähnten Rechte und Freiheiten. Im Bereich des Schutzes bzw. der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit wandte das Gericht das Prinzip der sog. Selbstbeschränkung an. Dies erkennt man in erster Linie an der Selbstbeschränkung des Gerichtes auf die Rolle, passiver „Hüter der Verfassung" zu sein. Das Gericht ist bei der abstrakten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit an Anträge eines entsprechend ermächtigten Kreises von Trägern höchster Funktionen (die Mitglieder des Präsidiums, der Ministerrat sowie eine Gruppe von Abgeordneten in der Parlamentarischen Versammlung oder in den Entitätsparlamenten) gebunden. Freilich würden die einzelnen Bestimmungen der Verfassung kein Hindernis für ein „ex officio"-Tätigwerden des Gerichts in diesem Bereich darstellen - deshalb der ausdrückliche Hinweis auf die Selbstbeschränkung des Gerichts hinsichtlich der Rolle eines passiven Verfassungshüters. Es bestehen auch keine Verfassungshindernisse für ein sog. präventives Tätigwerden des Gerichtes mittels entsprechender Stellungnahme zu Anfragen relevanter Institutionen (Parlament, Regierung), deren Akte Gegenstand eines Streits werden können. Für die Selbstbeschränkung in der Geschäftsordnung spricht, dass dem Gericht eine „Beschäftigung mit der Politik" sowie eine unmittelbare Normgebung schaden würde. Auf der anderen Seite führt diese Selbstbeschränkung auf die Rolle eines passiven Hüters der Verfassung jedoch auch in einige Dilemmata. Betrachtet man die in der Verfassung Bosnien-Herzegowinas äußerst weit definierten Zuständigkeiten, fragt man sich in erster Linie, welche Absichten die Verfassungsgeber

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wirklich verfolgten. So stellt sich die Frage, ob mit dieser Zuständigkeitszuweisung bezweckt wird, dass das Verfassungsgericht bei der gegenwärtigen Schaffung des komplexen Bundesstaates Bosnien-Herzegowina und bei der Transformation der Gesellschaft eine größere Last trägt als dies in stabilen Staaten für vergleichbare Institutionen (wie ζ. B. bei dem Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik Deutschland vor 50 Jahren) üblich ist. Dieses Dilemma wird meiner Meinung nach durch die Zusammensetzung des Gerichtes, in dem neben inländischen auch internationale Richter sitzen, noch verstärkt. Hinsichtlich des Schutzes der Menschenrechte und Grundfreiheiten verfuhr das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas ganz anders als bezüglich jenes Schutzes der Verfassungsmäßigkeit. Von den beiden Prinzipien „Unabhängigkeit der Gerichte" (und der eigentümlichen Beschränktheit der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Rahmen der Entitäten) und „effektiver Schutz des Katalogs der Rechte und Freiheiten" wurde dem Erfordernis der Vorzug gegeben, dass das Verfassungsgericht der besondere, institutionalisierte Garant dieser Rechte ist. In diesem Bereich sieht die Geschäftsordnung keinerlei Beschränkungen vor. Das Gericht kann als Gericht mit voller Jurisdiktion handeln bzw. auch in der Sache entscheiden, und es kann als ein neben den ordentlichen Gerichten und den Verfassungsgerichten der Entitäten bestehendes Appelationsgericht tätig werden. Damit sowie insbesondere auch mit der Internationalisierung des inländischen Rechts ist das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas in institutioneller Hinsicht in der Lage, das verfassungsrechtliche und das gerichtliche System vom Gipfel der Pyramide her festzulegen. Dies schließt die Vereinheitlichung der Standards und der Praxis im Bereich des Schutzes der Rechte und Freiheiten mit ein.

II. Bei unserem Kolloquium „Föderalismus in Europa und in Bosnien-Herzegowina" geht es auch um die Uberprüfung der Frage, inwieweit das bosnisch-herzegowinische Rechts- und Verfassungssystem in institutioneller und funktioneller Hinsicht europäische Standards erfüllt. Bei der Behandlung dieses Themas kommt man an der Rolle des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas nicht vorbei. Diese Rolle ergibt sich nicht nur aus seinen grundlegenden Aufgaben hinsichtlich des Schutzes der Verfassungsmäßigkeit der Gesamtordnung, sondern auch aus der Notwendigkeit, sich als Gericht aktiv an der aktuellen Formung der gesamten staatlich-gesellschaftlichen Strukturen zu beteiligen. Dabei ist seine Rolle als „Hüter der Verfassung" ebenso in den Blick zu nehmen wie die hinsichtlich des Schutzes der Rechte und Freiheiten. Für diese Untersuchung der Rolle des Gerichts sind drei generelle Bestimmungsfaktoren des Verfassungssystems Bosnien-Herzegowinas zu berücksichtigen. Der erste besteht darin, dass die Verfassung grundsätzlich eine föderale Struktur normiert, wenn auch zuzugestehen ist, dass diese einen etwas lockereren Cha-

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rakter aufweist als dies bei Föderationen üblicherweise der Fall ist. Für jene Qualifizierung sprechen vier Argumente allgemeiner Natur: die Zuständigkeitsverteilung mit ausschließlichen Zuständigkeiten der Institutionen Bosnien-Herzegowinas, das Gefüge seiner Institutionen bzw. Organe, die volle Freiheit im Personenverkehr und im Verkehr mit Waren und Dienstleistungen (also der gemeinsame, einheitliche Wirtschaftsraum), die Überordnung der Verfassung Bosnien-Herzegowinas als höchster Rechtsakt, einschließlich der Kompetenzen des Verfassungsgerichtes Bosnien-Herzegowinas. Die Entitäten verfügen - zweiter Bestimmungsfaktor - über ein hohes Maß an Autonomie mit Elementen der Staatlichkeit, und sie verfügen auch über das Recht auf besondere parallele Beziehungen mit den Nachbarstaaten. Im Zusammenhang damit ist jedoch zu berücksichtigen, dass die sog. Selbstorganisation der Entitäten durch die Verfassung Bosnien-Herzegowinas begrenzt ist, und zwar sowohl durch allgemeine Verfassungsprinzipien (Überordnung der Verfassung Bosnien-Herzegowinas über die sonstigen Rechtsakte; Verpflichtung der Entitäten und ihrer Behörden, diese Verfassung vollständig einzuhalten; freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapital verkehr usw.) als auch durch bestimmte Verfassungsbestimmungen (in erster Linie solche, die sich auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen Bosnien-Herzegowina einerseits und den Entitäten andererseits beziehen). Zu betonen ist weiter, dass die Verfassung bezüglich der Elemente der sog. Staatlichkeit der Entitäten (bewaffnete Streitkräfte der Entitäten, besondere parallele Beziehungen mit den Nachbarstaaten) stets unterstreicht, dass die diesbezüglichen Entitäten-Zuständigkeiten und -Institutionen „in Übereinstimmung mit der Souveränität und der territorialen Integrität Bosnien-Herzegowinas" stehen müssen. Der dritte Bestimmungsfaktor besteht in der Asymmetrie zwischen der inneren Organisation der beiden Entitäten bzw. darin, dass eine der Entitäten ihrerseits ein föderales Gefüge besitzt, die andere dagegen eine unitäre, einheitsstaatliche Struktur. Diese Asymmetrie muss im Zusammenhang gesehen werden mit der ursprünglichen Projektierung der Entitäten als Staaten im vollen Umfang; sie stammt aus der Zeit vor dem Friedensabkommen von Dayton bzw. der Verfassung von Bosnien-Herzegowina. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die sog. zweischichtige föderale Struktur (auf Entitäts- und auf Staatsniveau) durch die weitgehende Harmonisierung der Entitätsverfassungen mit der Verfassung Bosnien-Herzegowinas stark relativiert wird. Die angesprochenen drei Bestimmungsfaktoren für die staatliche Ordnung Bosnien-Herzegowinas illustrieren nicht nur eine außerordentlich komplexe staatliche Struktur; sie verlangen vielmehr auch, die Beziehungen zwischen den einzelnen Verfassungsbestimmungen genau zu betrachten bzw. bei ihrer Auslegung die einschlägigen Interpretationsregeln, von der grammatikalischen bis zur teleologischen, anzuwenden. Um dies zu unterstreichen, sei nur ein Beispiel gegeben. Nach der Verfassung Bosnien-Herzegowinas besteht eine Kompetenzvermutung zu Gunsten der Entitäten; diese wird jedoch in derselben Bestimmung (Art. III BIHV)

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durch zusätzliche Zuständigkeiten und Institutionen Bosnien-Herzegowinas sowie durch andere Bestimmungen der Verfassung stark relativiert. Dasselbe ist hinsichtlich des verfassungsmäßigen Rahmens des fiskalen Föderalismus (Art. IV. 4. (b) und Art. VIII BIHV) der Fall. Die bereits erwähnten offenen Lösungen der Verfassung und ihre Bestimmungen mit mehrdeutiger Zweckrichtung erfordern eine kreative Auslegung, sowohl seitens der staatlichen Parlamente und der der Entitäten, als auch im Rahmen der abstrakten Verfassungskontrolle seitens der Verfassungsgerichte auf der Ebene der Entitäten oder des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas. Diesbezüglich stehen die Parlamente und sonstigen Träger politischer Macht in der Verantwortung. Das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas hat hier einerseits eine eigenständige konkrete Rolle; andererseits assistiert es im Falle einer Blockade des Parlaments sowie dann, wenn die Lösung eines schweren Problems vom politischen auf das rechtliche Feld übertragen wird. Der (im übrigen primär in der Art der sog. US-amerikanischen Juristenschule verfasste) Verfassungstext trägt auch der Tatsache Rechnung, dass der Föderalismus - besonders in diesen ersten Jahren, in denen die Elemente der föderalen Struktur erst herausgebildet werden - ein dynamischer Prozess ist. Diesbezüglich bewegt sich das Verfassungsgericht im Rahmen des bereits angesprochenen Prinzips der Selbstbeschränkung. Das bedeutet, dass das Gericht nur auf Antrag des dazu ermächtigten Kreises von Trägern öffentlicher Funktionen tätig wird. Einen weiteren einschränkenden Faktor stellt die Tatsache dar, dass das Verfassungsgericht weder Verfassungs- noch Gesetzgeber ist, und dass sich seine Entscheidungen in diesem Bereich auf die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen der Entitätsverfassungen, der Gesetze Bosnien-Herzegowinas und der Entitätsgesetze beschränkten. Durch Entscheidungen dieser Art wird die Verfassung Bosnien-Herzegowinas geschützt und das verfassungsrechtliche System bestätigt; im Bereich der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Entitätsgesetze wird darüber hinaus die Entitätsgesetzgebung indirekt harmonisiert.

III. Trotz jener einschränkenden Faktoren hat das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas während der kurzen Zeit seiner Tätigkeit einige Entscheidungen erlassen, die eine Reihe von Widersprüchen hinsichtlich der inneren Ordnung BosnienHerzegowinas aufgelöst und die festgestellte Dissonanz zwischen der Verfassung Bosnien-Herzegowinas und den Entitätsverfassungen überwunden haben. Die einschlägigen Fortschritte beziehen sich in erster Linie auf die ersten beiden Teilentscheidungen bzgl. der Beurteilung der Übereinstimmung der Entitätsverfassungen mit der Verfassung Bosnien-Herzegowinas. Die Judikate betreffen u. a. die sog. Selbstorganisation der Entitäten. Diesbezüglich hat das Gericht nicht nur zweifelsfrei festgestellt, dass die Entitäten nicht den Charakter von Staaten haben, sondern

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Kasim Begic

auch, dass die Bereiche der Selbstorganisation durch die Verfassung Bosnien-Herzegowinas festgelegt sind. Weiterhin bestätigte das Gericht die Kontinuität Bosnien-Herzegowinas als Staat mit einer modifizierten inneren Struktur, die zwei Entitäten aufweist, die der Souveränität Bosnien-Herzegowinas untergeordnet sind. Die Verfassung Bosnien-Herzegowinas unterscheidet - eine weitere Aussage jener beiden Teilentscheidungen des Gerichts - zweifelsfrei Volker und nationale Minderheiten. Der durch die Verfassung Bosnien-Herzegowinas hinsichtlich eines „konstitutiven Volkes" festgelegte Status darf nicht durch die Verfassungen der Entitäten in die Rechtsstellung einer nationalen Minderheit umgewandelt werden. Die Institutionen Bosnien-Herzegowinas sowie der entsprechende Wahlmechanismus gestatten auch aufgrund des bindenden Diskriminierungsverbots in diesem Bereich keine territoriale Trennung der konstitutiven Völker nach Entitäten. Die beiden Teilentscheidungen befassen sich u. a. auch mit dem Ausbalancieren der bestehenden Asymmetrie zwischen den Entitäten und der durch die Verfassung Bosnien-Herzegowinas festgelegten Zuständigkeitsverteilung. Außer den erwähnten ersten zwei Teilentscheidungen hinsichtlich der Ubereinstimmung der Entitätsverfassungen mit der Verfassung Bosnien-Herzegowinas ist im Jahr 2000 für die Feststellung der föderalen Strukturen auch die Tätigkeit des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas von Bedeutung, die dieses auf der Grundlage seiner Appellationsjurisdiktion sowohl bzgl. der ordentlichen Gerichte wie bzgl. der Entitätsverfassungsgerichte ausgeübt hat. Natürlich handelt es sich hierbei nur um erste Schritte dieser Art. Ihr Ziel ist das Erreichen europäischer Standards auch bzgl. des Schutzes von Rechten und Freiheiten und hinsichtlich der gesamten Staatsstruktur. Obwohl es kein allgemein anerkanntes Modell des Föderalismus gibt, bestehen diesbezüglich doch gemeinsame Merkmale. Ein Wert unseres Kolloquiums liegt gerade darin, dass diese Merkmale aus der Sicht BosnienHerzegowinas erkannt werden, und dass dadurch im Hinblick auf seine Verfassung und durch die Erfahrung anderer das Auffinden und Erreichen der optimalen föderalen Struktur vorangetrieben wird.

IV. Abschließend sei noch auf drei Einzelfragen näher eingegangen, zunächst erneut auf das Thema der Asymmetrie der Entitäten. Bekanntlich bestehen hinsichtlich der territorialen Organisation bedeutende Unterschieden zwischen den beiden Entitäten. So besitzt die Föderation Bosnien-Herzegowina als Entität Kantone, während die Republika Srpska in ihrer territorialen Organisation zwischen der Entitätsebene und den Gemeinden über keine besonderen Organisationseinheiten verfügt. Diese Asymmetrie ist, wie gesagt, historisch zu erklären. Beide Entitäten waren ursprünglich, d. h. vor dem Allgemeinen Rahmenabkommen und der Verfassung Bosnien-Herzegowinas, als vollständige Staaten projektiert. Bei vorstehender Erör-

Die Rolle des Verfassungsgerichts

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terung des Beitrages des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas zur Herausbildung der föderalen Strukturen dachte ich hinsichtlich der Überwindung jener Asymmetrie an die Tatsache, dass das Gericht in den erwähnten ersten beiden Teilentscheidungen eine Balance zwischen den verfassungsgemäßen Kompetenzen der beiden Entitäten hergestellt hat. Allgemein gesprochen besaß die Republika Srpska im Verhältnis zum Staat Bosnien-Herzegowina mehr Kompetenzen als die Föderation Bosnien-Herzegowina. Beide Entitäten reservierten sich in ihren Verfassungen eine Reihe von Zuständigkeiten, die nicht in Übereinstimmung mit der Verfassung Bosnien-Herzegowinas standen und in Wirklichkeit Bosnien-Herzegowina zustehen. Das klarstellend hat das Gericht die Asymmetrie hinsichtlich Entitäts-Status und -Kompetenzen erheblich vermindert. Im übrigen aber steht das innere Gefüge einer Entität in der Verantwortung ihrer Organe. Über diese Struktur trifft die Verfassung Bosnien-Herzegowinas unmittelbar keine Aussage. Solange die innere territoriale Organisation der Entitäten nicht im Widerspruch zur Verfassung BosnienHerzegowinas steht, ist das Verfassungsgericht nicht verpflichtet, diesbezügliche Fragen zu überprüfen. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist des weiteren darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich des Status' des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas ein rechtliches Regelungsvakuum nicht besteht. Die Verfassung sagt vielmehr ausdrücklich, dass das Gericht sich eine Geschäftsordnung gibt, durch die im Rahmen der Verfassung Fragen der Organisation und Zuständigkeit des Gerichtes näher geregelt werden. Das Gesetz wird in Art. V I BIHV nur hinsichtlich der Art der Wahl der drei (internationalen) Richter nach Ablauf des Mandats der ersten Besetzung des Gerichtes angesprochen. Dies geschieht deshalb, weil es fast sicher ist, dass die Ernennung dieser drei Richter nach Aufnahme Bosnien-Herzegowinas in den Europarat nicht mehr durch den Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfolgen kann. Ein Wort noch zu Änderungen und Ergänzungen der Verfassung Bosnien-Herzegowinas. Die rechtmäßige Vorgehensweise legt eine Vorschrift der Verfassung fest, derzufolge solche Änderungen und Ergänzungen durch die Parlamentarische Versammlung mit Zwei-Drittel-Mehrheit des Repräsentantenhauses erfolgen. Das einschlägige Verfahren setzt deshalb keine „Vereinbarung der drei (»konstitutiven4) Völker" voraus. Ob die Zwei-Drittel-Mehrheit des Repräsentantenhauses auch dem „politischen Willen" der drei Völker und ebenso dem der Kategorie der „sonstigen" Bürger Bosnien-Herzegowinas entspricht, ist eine ganz andere Frage.

V. Da ein Richter verpflichtet ist, immer zu antworten, dass die bestehende Verfassung die beste ist, kann man abschließend auf die Frage, ob die Verfassung Bosnien-Herzegowinas schlecht ist, als Verfassungsrichter eigentlich nicht antworten. Deshalb muss ich zur Beantwortung dieser Frage meine gegenwärtige Position ver4 Graf Vitzthum/Winkelmann

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Kasim Begic

gessen. In meinem Referat sprach ich davon, dass der Text der Verfassung eine dynamische Komponente, also ein Element der Entwicklung enthält. Darüber hinaus erwähnte ich, dass die Verfassungsbestimmungen größtenteils eine kreative Auslegung erfordern. Deshalb stellt diese Verfassung, obwohl sie weit davon entfernt ist, vollkommen zu sein, kein Hindernis für den Ausbau der typischen Elemente einer föderalen Struktur dar. Das Problem liegt in Wirklichkeit in der Auslegung der in den Verfassungsbestimmungen enthaltenen weiten Lösungen. Diese Interpretation ist jedoch in erster Linie Sache der Parlamente auf staatlicher Ebene und auf Entitätsebene. Zudem enthält die Verfassung, wie gesagt, auch eine Bestimmung bezüglich ihrer Änderung und Ergänzung. Das entsprechende Verfahren verlangt eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Repräsentantenhauses. Wie soll man indes in einer Situation, in der die Parlamentarische Versammlung bereits nicht in der Lage ist, einige elementare Gesetze zu erlassen, erwarten, dass das höchste gesetzgebende Organ im Staat hinsichtlich der Interpretation und bzgl. eventueller Änderungen und Ergänzungen der Verfassung Schritte zur Festigung und zum Ausbau der föderalen Strukturen unternimmt? Zum Abschluss gilt es erneut festzuhalten: Die Verfassung Bosnien-Herzegowinas stellt keinerlei Hindernis für den Schutz der Menschenrechte und Freiheiten und für typische föderale Strukturen nach europäischen Standards dar. Die Probleme liegen nicht in der Verfassung. Sie liegen in der bestehenden politischen Struktur im Staat.

Bosnien-Herzegowina und seine Sprache(n) Von Hans Jochen Peters*

Gast

(nach einem kurzen, prüfenden Blick durch die Gaststube): Einen Kava (kroatisch: Kaffee) bitte!"

Gastwirt:

„ Haben wir nicht! "

Gast

(leicht verunsichert): bisch: Kaffee)/"

Gastwirt

(sichtlich ungeduldig): „ Haben wir nicht! "

Gast

(spürbar erleichtert): nisch: Kaffee)!"

Gastwirt

(am Ende seiner Geduld): „Es ist mir egal, wie Sie ihn nennen, wir haben einfach kein Wasser!"

„Dann hätte ich gern einen Kafa (ser-

„Dann also bitte einen Kahva (bos-

I. Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina, als Annex integraler Bestandteil des Daytoner Friedensvertrags und mit dessen Unterzeichnung in Paris am 14. 12. 1995 in Kraft getreten, enthält keine Aussage über die Amtssprache(n) des neuen Staates, obwohl eine solche Bestimmung in der Verfassung eines Staates mit drei ethnischen Gruppen, von denen - zumindest! - zwei eine eigene Sprachen zu haben behaupten, zu Recht hätte erwartet werden können. Auch haben die drei Vertragsparteien, die Republik Bosnien und Herzegowina, die Republik Kroatien und die Bundesrepublik Jugoslawien, ihr bei Unterzeichnung des Vertrags gegebenes Versprechen, der französischen Regierung verbindliche Übersetzungen des Vertragswerks (einschließlich der Verfassung von BIH) ins Bosnische, Kroatische und Serbische zuzuleiten, bisher nicht erfüllt, so dass auch fünf Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung ein verbindlicher Text der Verfassung von BIH nur auf Englisch, also in einer Drittsprache vorliegt - wohl ein Unikum in der neueren Verfassungsgeschichte. Dagegen enthalten die Verfassungen der beiden Entitäten von BIH, der Föderation Bosnien-Herzegowina (FBIH) und der Republik Srpska (RS), Aussagen über * Manuskript abgeschlossen im Mai 2001. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verf. wider. 4*

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Hans Jochen Peters

die jeweils geltenden offiziellen Sprachen und Schriftformen 1 . Die Regelungen, die in den beiden Entitätsverfassungen getroffen werden, entsprechen dabei der ethnisch-sprachlichen Zusammensetzung der Bevölkerung in beiden Landesteilen, wie sie sich infolge der Vertreibungen während des Krieges von 1991 - 1 9 9 5 ergeben hat 2 . A u f Antrag des damaligen Vorsitzenden der Präsidentschaft von B I H , A. Izetbegovic, vom 12. Februar 1998 auf Uberprüfung der Vereinbarkeit der beiden Entitätsverfassungen mit der BIH-Verfassung hat das BIH-Verfassungsgericht mit Entscheidung vom 19. August 2000 eine ganze Reihe von Bestimmungen beider Entitätsverfassungen, darunter auch die Sprachen-Regelungen, für nicht i m Einklang mit der Gesamtstaats Verfassung stehend befunden 3 . Die vom Hohen Reprä1

Vgl. Verfassung der FBIH, Art. 6 Abs. 1: „The official language of the Federation shall be the Bosniac language and the Croatian language. The official skript will be the Latin alphabet." Die Verfassung der RS bestimmt in Art. 7: „The Serbian language of iekavian and ekavian dialect and the Cyrillic alphabet shall be in official use in the Republic, while the Latin alphabet shall be used as specified by the law." 2 Ethnische Zusammensetzung auf dem Gebiet der FBIH 1997 (UNHCR-Schätzungen) im Vergleich zum Zensus 1991:

1991

1997

Bosniaken

52,09%

72,61%

Kroaten

22,13%

22,27%

Serben

17,62%

2,32%

Andere

8,16%

2,38%

Ethnische Zusammensetzung auf dem Gebiet der RS 1997 (UNCHR-Schätzungen) im Vergleich zum Zensus 1991: 1991

1997

Serben

54,30%

96,79%

Bosniaken

28,77%

2,19%

Kroaten

9,39%

1,02%

Andere

7,53%

0,00%

Neue Schätzungen liegen nicht vor. Als Folge der sog. „Minderheitenrückkehr" nach Abschluss des Friedensabkommens dürfte der Anteil der Serben (und Kroaten) in der FBIH und der der Bosniaken (und Kroaten) in der RS angestiegen sein, ohne dass das Gesamtbild in beiden Entitäten sich aber entscheidend verändert haben dürfte. - Der Ausdruck „Bosniak" bezeichnet in vorstehenden Matrices wie auch im Folgenden, dem zunehmend im Lande akzeptierten Sprachgebrauch entsprechend, den muslimischen Bevölkerungsteil von BosnienHerzegowina. Ursprünglich eine ethnisch und religiös neutrale Bezeichnung für alle Einwohner von Bosnien-Herzegowina, reklamierten die Bosnier muslimischen Glaubens den Begriff 1998 für sich, um sich von den ihr Serben- bzw. Kroatentum hervorhebenden beiden anderen ethnisch-religiösen Bevölkerungsgruppen abzusetzen. Vor allem in der RS wird diese Bedeutungsverengung des Begriffs Bosniak allerdings von vielen noch nicht akzeptiert und stattdessen der - durchaus pejorativ gemeinte - Begriff des „musliman" verwendet. 3 Case No. U 5 /98-IV.

Bosnien-Herzegowina und seine Sprache(n)

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sentanten zur Erleichterung der Umsetzung dieser Entscheidung durch die parlamentarischen Körperschaften der beiden Entitäten eingesetzte „International Task Force", der auch Vertreter der OSZE und des Europarats (Venedig-Kommission) angehören, hat am 28. Februar 2001 den beiden ebenfalls vom Hohen Repräsentanten eingesetzten Entity Constitutional Commissions Vorschläge zur Neuformulierung der nicht im Einklang mit der BIH-Verfassung stehenden Bestimmungen der Entitätsverfassungen vorgelegt 4. Die Erfahrungen der letzten Jahre lassen leider befürchten, dass die praktische Implementierung der anstehenden durchaus nicht populären Änderungen der Entitätsverfassungen auf Probleme stoßen wird 5 . BIH als Gesamtstaat wird jedenfalls so lange ohne in der Verfassung festgeschriebene Amtssprache(n) und Schriftform(en) sein, bis eine Revision des Vertragswerks von Dayton einschließlich seines Annex 4 ansteht.

II. Die Frage, wieviele und welche Sprachen in Bosnien-Herzegowina gesprochen werden, hat in Vergangenheit und Gegenwart sehr unterschiedliche Antworten gefunden, sofern sie denn als - politisch wenn schon nicht unkorrekte, so doch zumindest potentiell brisante - Frage überhaupt gestellt wurde. Auf dem Hintergrund der Bedeutung, die die Herder 'sehen Anschauungen über den Zusammenhang zwischen Sprache und Volk gerade in Südosteuropa bei der Ausbildung des Bewußtseins einer geschichtlich-kulturellen Eigenständigkeit der Völker gehabt haben, ist die politische Brisanz der Frage evident: Im Vielvölkerstaat des Tito-Jugoslawien 4

Für Art. I. 6 der Verfassung der FBIH wird folgende Neufassung vorgeschlagen: „(1) In the Federation of Bosnia and Hercegovina the official languages shall be Bosnian, Croatian and Serbian, and the official alphabets Latin and Cyrillic. (2) Other languages may be used as a means of communication and instruction. (3) Additional languages may be designated as official by law." Für Art. 7 der RS-Verfassung ist der Vorschlag: „(1) In the Republika Srpska the official languages shall be Serbian (Ijekavski and Ekavski dialect), Bosnian and Croatian, and the official alphabets Cyrillic and Latin." (2) und (3) gleichlautend wie oben. 5 So dürfte das Aufstellen von Ortsschildern u.ä. in lateinischen Buchstaben in der RS und das von Ortsschildern in der Cyrillica in der Föderation bei Regierung und Bevölkerung beider Entitäten auf hinhaltenden Widerstand stoßen. - Ein beeindruckendes Beispiel für den Widerstreit zwischen dem Wunsch nach Beharren auf dem Sprachlich-Ethnischen einerseits und dem rechtlich Gebotenen andererseits selbst in den Köpfen bosnischer Richter lieferte die Auseinandersetzung zwischen dem Gericht und der deutschen Botschaft um eine Gedenkplakette am Gebäude des Kantonalgerichts in Mostar. Auf die Bezeichnung des Gerichts als „Kantonalgericht" mußte verzichtet werden, da das Gericht auf der (kroatischen) Bezeichnung „zupanijski sud" statt des - nach Gesetzeslage allein korrekten - „kantonalni sud" bestand. Dass die Botschaft auch auf einer serbischen Version der Inschrift in der Cyrillica bestand, stieß bei den Richtern des Gerichts weitgehend auf offenes Unverständnis. Datum des Vorgangs: 18. 11. 2000, also drei Monate nach der - den Richtern zweifellos bekannten Entscheidung des BIHVG vom 19. 8. 2000!

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konnte der Regierung die Behauptung nicht willkommen sein, dass es, von den sprachlich nur allzu eindeutigen Sonderfällen des Slowenischen und Mazedonischen ohnehin abgesehen, neben dem Serbischen und Kroatischen - im Begriff „Serbokroatisch" einerseits zwar in den Rang einer Staatssprache erhoben, andererseits aber gerade dadurch zugleich in ihrer vollen Eigenständigkeit in Frage gestellt - auch noch Bosnisch (und vielleicht sogar noch Montenegrinisch) als eigenständige Sprachen gäbe. Aber das Problem der glottonymischen Zugehörigkeit der muslimischen Bosnier ist älter: Während etwa Meyers Konversationslexikon 1895 behauptete, „die Sprache (sei) in ganz Bosnien das Serbische", und damit der vor allem von serbischer Seite seit über 100 Jahren - so sprach der bekannte Sprachreformer V Karadzic im 19. Jahrhundert von „orthodoxen, katholischen und mohammedanischen Serben" betriebenen Zuordnung aller Einwohner von Bosnien-Herzegowina zum Serbentum folgte, schlug die österreichisch-ungarische Monarchie in den vierzig Jahren österreichisch-ungarischer Verwaltung den sprachlichen Knoten elegant mit dem Verzicht darauf durch, die Sprache der Bosnier im Schulwesen überhaupt zu benennen6. Das 1907 ausgesprochene Verbot (!) 7 , von einer „bosnischen Sprache" zu sprechen, hinderte allerdings nicht, dass eine 1890 in Sarajewo verlegte „Grammatik der bosnischen Sprache" (Gramatika bosanskoga jezika za srednje skole) bis 1918 an den höheren Schulen in Bosnien im Gebrauch war 8. Sprachlich war das „Bosnische" dabei eher durch seine Unterschiede zum Serbischen bzw. Kroatischen als durch ausgeprägte eigensprachliche Merkmale bestimmt: „Unter der österreichisch-ungarischen Verwaltung nach 1878 war es nicht schwer, das Standard-Neustokavische auch in Bosnien anzuwenden, wobei sich die Serben eher nach der serbischen, die Kroaten nach der kroatischen Standardisierung richteten, die Muslime aber zu beiden einen gewissen Abstand hielten"9. Die Gründung des jugoslawischen Staates 1918 brachte die muslimischen Bosnier einer Anerkennung als Ethnie mit eigener Sprache nicht näher: Im „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen" konnten wegen des offiziellen staatlichen Postulats ethnischer und sprachlicher Einheit der Bevölkerung Minderheiten-

6 O. Kronsteiner, Plädoyer für die Sprachbezeichnung Bosnisch, in: Die Slawischen Sprachen, Bd. 33, 1993, S. I-VII, hier S. V. Vgl. hierzu auch die Äußerung von Radovan Karadzic, dem Führer der nationalistischen „Serbischen Demokratischen Partei" in einem SpiegelInterview vom August 1991: „Die Muslime Bosniens sind islamisierte Serben, und ein Teil (sie!) der sogenannten Kroaten sind katholische Serben." Zit. nach N. Malcolm, Geschichte Bosniens, Frankfurt/Main 1999, S. 261. 7 A. Isakovic, Rjecnik karakteristiene leksike u Bosanskome jeziku. Dictionary of characteristic words of the Bosnian language, Sarajevo 1992. Reprint Wuppertal ο. J., S. 27. 8 Gramatika bosanskoga jezika za srednje skole. Dio I i II. Nauka ο glasovima i oblicima. Sarajevo 1890, Reprint Bosanska Rijec - Das bosnische Wort, Wuppertal 1994. 9 R. Ratisic, Jugoslawien im Lichte seiner Sprachen, in: D. Melcic (Hrsg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, o. O. 1999, S. 249261 (258).

Bosnien-Herzegowina und seine Sprache(n)

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sprachen auf kein Verständnis oder offizielle Anerkennung, geschweige denn Förderung rechnen 10. Die Situation änderte sich, was die Anerkennung der bosnischen Muslime als eigenständige Volksgruppe betrifft, erst Anfang der 60er Jahre: Bei der Volkszählung von 1961 gab es erstmals die Rubrik „Muslime im ethnischen Sinne", bei der Volkszählung zehn Jahre später - gegen den erbitterten Widerstand serbischer Nationalisten - sogar eine Rubrik „Muslime im Sinne einer Nation" 11 . Die Bedeutung dieser Änderung wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass die Muslime bis dahin nur die Wahl hatten, sich unter der Rubrik „national unbestimmt" oder, wenn sie Parteimitglieder waren, als »Jugoslawen" einzutragen - sofern sie es nicht vorzogen, sich ungeachtet ihrer sprachlichen und religiösen Eigenarten den beiden Staatsvölkern der Serben und Kroaten zuzuordnen. Zumindest politisch hätte damit der Behauptung, das Bosnische sei eine eigenständige Sprache neben dem Serbischen und Kroatischen, nichts mehr im Wege stehen dürfen. Desto bemerkenswerter ist, dass ein solcher Anspruch bis zum Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien auch von Seiten der muslimischen Bosnier selbst nicht erhoben wurde; so mancher (muslimische) Sprachwissenschaftler mag es für den besseren Teil der Klugheit gehalten haben, den mit der Volkszählungsrubrik eröffneten linguistischen Spielraum besser nicht auf die Probe zu stellen. Kennzeichnend hierfür ist etwa der (bosnisch-muslimische) Sprachwissenschaftler S. Halilovic, der in der ersten, 1991 erschienenen Auflage seines Buchs „Bosanski jezik" feststellte: „Die These von besonderen Sprachen der Serben, der Kroaten, der Muslime und der Montenegriner hat keine faktische, linguistisch begründete Grundlage. Die Muslime erstreben keine sprachliche Isolierung", und diese Feststellung auch in der zweiten, 1998 erschienenen Auflage seines Buches zu korrigieren keinen Anlaß sah12. Den Stand der sprachlichen Dinge bis zum Ende des 77to-Staates resümiert Werner Lehfeldt wie folgt: „Bis zum Ende des zweiten Jugoslawiens war offiziell die gemeinsame Standardsprache der Angehörigen aller drei Nationen Bosniens und der Herzegowina das Serbokroatische / Kroatoserbische, d. h. die standardisierte Form der neustokavischen Volkssprache. Und zwar existierte diese Standardsprache in Bosnien gemäß der offiziellen Sprachpolitik in einem speziellen bosnisch-herzegowinischen »Ausdruck* (,izraz'), der [ . . . ] der ausgeprägteste Träger der Variantenneutralisierung war, womit gemeint ist, daß man in Bezug auf die beiden Varianten Kroatisch und Serbisch offiziell eine gewisse Sprachtoleranz pflegte und das lateinische und das kyrillische Alphabet fast gleichberechtigt benutzte"13. io Ratisic, ebd., S 259. h Malcolm (Fn. 6), S. 231. ι 2 Zit. nach W. Lehfeldt, Zur gegenwärtigen Situation des Bosnischen, in: Wiener Slawistisches Jahrbuch, Bd. 45, Wien 1999, S. 83-90 (83). 13 Lehfeldt, ebd., S. 83.

Hans Jochen Peters

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Dabei darf die Zustimmung der bosnischen Muslime zu einer den Serben, den Kroaten, den Muslimen und den Montenegrinern gemeinsamen Sprache aber nicht mit einer uneingeschränkten Zustimmung zur Einheitssprache „Serbokroatisch" verwechselt werden; Grund zur Unzufriedenheit gab es aus Sicht der bosnischen Muslime vor allem aus zwei Gründen: Erstens war man mit dem Glottonym „Serbokroatisch" nicht einverstanden, weil der Name der eigenen Volksgruppe hier nicht aufschien und lediglich den Serben und Kroaten sprachlich-kulturell identitätsstiftende Merkmale zugewiesen wurden; zum Zweiten bemängelten die bosnischen Muslime, dass bei der Standardisierung des Serbokroatischen orthoepische, orthographische und lexikalische Besonderheiten der Sprache der bosnischen Muslime nicht hinreichend berücksichtigt worden seien14. Dennoch waren diese Gravamina bis in die jüngste Zeit hinein für die Mehrzahl der bosnisch-muslimischen Linguisten und Politiker nicht ausreichend, die Auffassung von einer allen drei in Bosnien lebenden Volksgruppen gemeinsamen Einheitssprache grundsätzlich in Frage zu stellen.

III. Die bereits Ende der 80-er/Anfang der 90-er Jahre einsetzende, von den Zentren Belgrad und Zagreb politisch gewollte und geförderte sprachliche Orientierung der in Bosnien-Herzegowina lebenden Serben auf das Serbische bzw. der Kroaten auf das Kroatische hin und die sich als Folge daraus ergebende allmähliche kulturelle und sprachliche Scheidung der drei Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina hat einen Prozeß der Aufspaltung des Serbokroatischen in miteinander konkurrierende Einzelsprachen in Gang gesetzt, der auch heute noch keineswegs abgeschlossen ist. Ähnlich wie die Bezeichnung „Bosniake", ursprünglich ethnisch und religiös neutral, zunächst rein geographisch alle Bewohner von Bosnien-Herzegowina bezeichnete und sich erst während des Kriegs 1991 - 9 5 zu „muslimischen Bewohner Bosniens" verengte, verengte sich auch die Bezeichnung „bosnische Sprache" („bosanski jezik") zunehmend auf die Sprache der muslimischen Bosnier, nachdem die Mehrzahl der Serben und Kroaten in Bosnien-Herzegowina von einer gemeinsamen „bosnischen Sprache" erklärtermaßen nichts mehr wissen wollten 15 . Die 14 Lehfeldt, ebd., S. 84-86. 15 Vgl. Lehfeldt, ebd., S. 85 f.; M. Okuka, Serbisch vs. Serbisch. Über den Bedeutungsverlust einer Sprache, Frankfurter Rundschau vom 3. 9. 2000. Die forcierten Bemühungen um eine „Serbisierung" bzw. „Kroatisierung" der Sprache führen dabei zu Erscheinungen, die einer gewissen Komik nicht immer entbehren; so endete der Versuch des Informationsministeriums der RS im Juli 1996, auf dem Erlasswege die (in Belgrad übliche) ekavische Aussprache statt der bei den serbischen Bosniern übliche ijekavische Aussprache zu erzwingen, in einer Katastrophe für Sprecher und Hörer. Auf kroatischer Seite wäre als Beispiel die künstliche Revitalisierung des längst außer Gebrauch gekommenen Wortes zupanje = Gespanschaft zu nennen, mit dem die kroatischen Bosnier das serbisch/bosniakische Wort kanton (also mit kleinem k) ersetzen wollen.

Bosnien-Herzegowina und seine Sprache(n)

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Bosniaken sehen sich damit heute in der Situation, dass sie mit der „bosnischen Sprache" als der in Bosnien-Herzegowina gesprochenen Form des Serbokroatischen von den beiden anderen ethnischen Gruppen zunehmend alleingelassen werden, das Serbokroatische also gerade von der Volksgruppe bewahrt wird, deren Name in der Bezeichnung dieser Sprache gar nicht zum Ausdruck kommt. Fundierte Untersuchungen über die Entwicklung der bosnischen Sprache in den letzten Jahren liegen nur fünf Jahre nach dem Friedensschluß von Dayton/Paris verständlicherweise noch nicht vor; erste Untersuchungen über die Sprache in wichtigen (bosniakischen) Printmedien deuten zwar auf einen gewissen Anstieg von Turzismen und das offenbar bewußte Vermeiden von Serbismen oder Kroatismen hin, was aber eher Ausdruck persönlichen Sprachgebrauchs - vielleicht Reaktionen auf persönliche Erfahrungen des Autors während des Krieges? Sprachlicher Ausdruck der seit Kriegsende besonders bei den Muslims erkennbaren neuen Religiosität? - als, zumindest bisher, Folge einer bewußt gesteuerten Sprachpolitik der bosniakischen Führung ist 16 .

IV. Bosnien-Herzegowina ist kein Staat, mit dem Verträge zu schließen „vertragsausfertigungstechnisch" unkompliziert wäre. Ein Beispiel für das Problem ist der deutsch-bosnisch-herzegowinische Staatsvertrag über die wechselseitige Errichtung von Kulturinstituten von 1999, der - strikten bosnisch-herzegowinischen Forderungen entsprechend - in 5 (!) Sprachfassungen, nämlich Deutsch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch sowie Englisch als verbindlicher Mittelsprache unterzeichnet werden mußte, ohne dass sich allerdings in dieser lästigen Frage bereits eine einheitliche und konsequente Praxis herausgebildet hätte. Man wird für das Bestehen der - strikt nach ethnischem Proporz gebildeten Regierungen von Bosnien-Herzegowina auf dem umständlichen 5-Sprachen-Regime wohl für einige Zeit noch Verständnis haben müssen: Für die Anwendung des von anderen Ländern mit mehreren Amtssprachen praktizierten Verfahrens, Verträge nur in einer der offiziellen Landessprachen abzuschließen und den Vertrag dann im Gesetzblatt auch in den anderen Landessprachen zu veröffentlichen, ist die Zeit offenbar noch nicht gekommen; dazu fehlt es in Bosnien-Herzegowina nicht nur an einer klaren Festlegung der Amtssprachen in der BIH-Verfassung, sondern - wichtiger noch - auch an dem Vertrauen der drei ethnischen Gruppen zueinander und in den gemeinsamen Staat. Es fehlt aber auch und nicht zuletzt wohl daran, dass der Prozeß der sprachlichen Auseinanderentwicklung nicht weit genug vorangeschritten ist; noch kostet es die Angehörigen der drei ethnischen Gruppen mehr Mühe, einander nicht zu verstehen, als dies zu tun. Nicht obwohl, sondern gerade weil und solange die sprachliche Scheidung nicht zu drei distinkten 16 Vgl. hierzu Lehfeldt, ebd., S. 88 ff.

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Sprachen geführt hat, dürfte keine der drei ethnischen Gruppen zu wesentlichen Zugeständnissen bereit sein. Schließlich: Es wird noch dauern, bis die Sprachen in Bosnien-Herzegowina, in den letzten Jahren ein wichtiges Instrument der politischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Nationalismen, ihren Charakter als politisch nicht von vornherein belastetes Verständigungsmittel wiedergewonnen haben werden.

V. Der eingangs erwähnte Gast mit dem Wunsch nach einer Tasse Kaffee würde, wenn er heute das noch aus K.u.K-Zeiten stammende Café Imperial im Herzen Sarajewos besuchte, sich einem anderen und erfreulicheren Problem gegenübersehen: Er hätte die Qual der Wahl zwischen kava, normalem Kaffee, kafa, Kaffee mit Schlagsahne und kahva, türkischem oder „bosnischem" (sie!) Kaffee - sprachliche Vielfalt als Ausdruck multikulturellen (einschließlich - warum auch nicht? - gastronomischen) Reichtums.

Der Bundesstaat Bosnien-Herzegowina Von Ingo Winkelmann* Der Staat BIH existiert in seiner heutigen Form seit 19951. Es ist ein noch junges Staatswesen, das vor dem Hintergrund seiner nach wie vor unbewältigten Vergangenheit unverändert großen Herausforderungen ausgesetzt ist 2 . Mehr noch gilt dies für das erst seit 1997 amtierende Verfassungsgericht von BIH (BIHVG), das Mitte 2000 eine Grundsatzentscheidung von erheblicher Tragweite zu treffen hatte. Den Bundesstaat Bosnien-Herzegowina hat dieses Urteil höchstrichterlich fundiert. Die nachfolgende Skizze seiner Grundlage und seiner Ausgestaltung konzentriert sich insofern auf Inhalt und Tragweite dieses Judikats. In der sog. /ze/fogov/c-Entscheidung - Fall 5/98 vom 30. Juni /1. Juli 20003 hatte das Gericht darüber zu befinden, ob und inwieweit die Verfassungen der beiden Landesteile von BIH, der Föderation BIH (FBIH) und der Serbischen Republik (RS), Vorrechte für die in ihnen jeweils dominant vertretenen Volksgruppen, d. h. Bosniaken und bosnische Kroaten in der FBIH bzw. bosnische Serben in der RS, vorsehen, welche mit den Vorgaben der Gesamtstaatsverfassung (BIHV) nicht in Einklang stehen. Die BIHV ist in Anhang 4 zu dem auf Englisch verfassten Allgemeinen Friedensrahmenabkommens von Dayton (AFRA) enthalten und war als Teil dieser völkerrechtlichen Übereinkunft 4 mit dessen Unterzeichnung im Dezember 1995 in Kraft getreten. Zu den rechtlichen Maßstäben der BIHV, anhand derer das Gericht die Landesverfassungen überprüft hat, gehört auch eine als „Konstitutivitätsprinzip" bezeichnete Präambelerwägung. Diese zählt zu den umstrittensten Bestimmungen der BIHV und spielt im derzeitigen ethnisch geprägten öffentlichen Diskurs von BIH eine zentrale Rolle. Die Erwägung lautet: * Dieser Beitrag gibt ebenso wie das Vor- und das Nachwort ausschließlich die persönliche Auffassung des Verf. wider. 1 Gründungszeitpunkt: Allgemeines Friedensrahmenabkommen (AFRA) von Dayton /Paris, 21. 11./14. 12. 1995; abgedr. in: I L M 35 (1996), S. 75 ff. BIH ist Rechtsnachfolger der 1992 begründeten Republik Bosnien und Herzegowina. 2 Jüngst etwa D. Skolovic/F. Bieber (Hrsg.), Bosnia-Hercegovina and Southeastern Europe. Coexistence, co-operation and reconstruction of a multiethnic society, London 2000. 3 Zum Urteil: C. Stahn, Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gleichstellung der drei ethnischen Volksgruppen in den bosnischen Teilrepubliken - neue Hoffnung für das Friedensmodell von Dayton?, ZaöRV 62 (2001), S. 663 ff.; die Entscheidung ist in vier Teilen im Offiziellen Gesetzblatt von BIH Nr. 11/2000 vom 17. 4., 17/2000 vom 30. 6., 23/2000 vom 14. 9. und 36/2000 vom 31. 12. 2000 abgedruckt. 4 Zu dieser Einordnung s. Stahn (Fn. 3), S. 686.

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Ingo Winkelmann „Bosniacs, Croats, and Serbs, as constituent peoples (along with others), and citizens of Bosnia and Hercegovina hereby determine that the Constitution of Bosnia and Hercegovina is as follows: .. ." 5 .

Das Gericht hatte diese Bestimmung auszulegen. Sah man in der Bestimmung das Recht jeder Volksgruppe verankert, ungeachtet ihrer konkreten zahlenmäßigen Stärke an sämtlichen Entscheidungsprozessen nicht nur im Gesamtstaat, sondern auch in beiden Landesteilen maßgeblich beteiligt zu werden, so stärkte dies die Kollektivrechte kleiner bzw. benachteiligter Volksgruppen und legte Privilegierungen der dominanten Volksgruppe(n) einen Riegel vor. Legte man der Bestimmung hingegen keinen konkreten Inhalt zu, so bestand zumindest die Gefahr, ethnische Privilegierungen in den jeweiligen Landesteilen für zulässig erachten zu müssen, es sei denn, man konnte ihnen anderweitig begegnen. Das Gericht hat sich für einen Mittelweg entschieden. Es hat sich zugleich Empfehlungen zur institutionellen Umsetzung seiner Entscheidung enthalten. Bei der Umsetzung der Entscheidung, die bis heute6 nicht erfolgt ist, wird man angesichts ihres brisanten Gegenstands höchst behutsam vorgehen müssen. Die nachfolgenden Ausführungen zeichnen die Entscheidung in den wesentlichen Gründen nach, beginnend mit einer Skizze der Grundlagen des Staates BIH (I.) und der Rolle des BIHVG (II.). Danach werden Verfahrensgeschichte und Klagegegenstände geschildert (III.). Nach einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse der Entscheidung (IV.) folgen deren Bewertung (V.) und ein Ausblick (VI.).

I. Die Grundlagen des Staates BIH BIH setzt sich aus zwei Bundesländern, Landesteile bzw. „Entitäten" genannt, zusammen. Der Sitz der Regierung des Gesamtstaates und der des Bundeslandes FBIH ist Sarajewo7, der des Bundeslandes RS Banja Luka. Beide Bundesländer verfügen über eigene Verfassungen 8. Während die gesamtstaatliche Bundesverfassung den Gesamtstaat BIH in Art. I. 1 und 2 als (demokratischen) „Staat" bezeichnet, werden die Bundesländer als „Entitäten" benannt (Art. 1.3). Art. III BIHV weist dem Gesamtstaat eine Reihe ausdrücklicher Zuständigkeiten zu; alle übrigen Regierungsfunktionen und Kompetenzen sind den Entitäten zugewiesen (Art. I. 3

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„ . . . erklären Bosniaken, Kroaten und Serben als konstitutive Volksgruppen (zusammen mit Anderen), und die Bürger von BIH, dass die Verfassung von BIH wie folgt lauten soll:...". 6 Stand: Juli 2001 (s. a. u. VII; Stand des Nachtrags: Juli 2002). 7

Art. I. 5 BIHV (Art. ohne Bezeichnung sind im folgenden solche der BIHV; FBIH- und RS-Verfassung sind als FBIHV bzw. RSV abgekürzt). 8 FBIHV vom 24. 6. 1994 i. d. F. v. 8. 5. 1997 (s. Gesetzblatt der FBIH 1/94 und 13/97) und RSV vom 9. 1. 1992 i. d. F. v. 1996 (s. Gesetzblatt der RS 21/92, 28/94, 8/96, 13/96, 15/96, 16/96, 21/96.), abgedr. in: OHR (Hrsg.), Bosnia and Hercegovina. Essential texts, 3. Aufl., Sarajewo 2000, S. 64 ff., 93 ff.

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(b)). Der Gesamtstaat kann unter bestimmten Voraussetzungen zusätzliche Zuständigkeiten begründen9. Das Gesamtstaatsparlament besteht gem. BIHV aus einer Volksgruppenkammer (Art. IV. 1) und einem Abgeordnetenhaus (Art. IV. 2). Die Volksgruppenkammer besteht aus je fünf Kroaten und Bosniaken aus der FBIH und fünf Serben aus der RS; die 42 Mitglieder des Abgeordnetenhauses kommen zu zwei Dritteln aus der FBIH, zu einem Drittel aus der RS. Die Exekutive besteht aus Präsidentschaft (Art. V. 1) und Ministerrat (Art. V. 4). Die Präsidentschaft setzt sich aus einem Bosniaken und einem Kroaten (aus der FBIH) sowie einem Serben (aus der RS) zusammen, die in ihren jeweiligen Landesteilen direkt gewählt werden (Art. V. 1 (a)). Die Präsidentschaft entscheidet regelmäßig im Konsens, nur in Ausnahmefällen mit Mehrheit (Art. V. 2 (c)). Gegen Mehrheitsentscheide steht dem dissentierenden Präsidentschaftsmitglied bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen („vitale Interessen") ein Vetorecht zu (Art. V. 2 (d)). Die Präsidentschaft ernennt den Vorsitzenden des Ministerrats zum Regierungschef; dieser ernennt mit Zustimmung des Abgeordnetenhauses einen Außen-, einen Außenhandels- sowie weitere Minister, soweit angezeigt (Art. V. 4). Nicht mehr als zwei Drittel der Minister dürfen aus der FBIH stammen. Der Regierungschef soll Ministervertreter ernennen, deren Volksgruppenzugehörigkeit sich nicht mit der der jeweiligen Minister deckt (Art. V. 4 (b)). Die Bestimmungen der BIHV gehen einfachem Bundesrecht, Landesverfassungsrecht und einfachem Landesrecht sowie allen Maßnahmen der Institutionen des Gesamtstaats vor. Die allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts gelten als integraler Teil der Rechtsordnung des Gesamtstaats und der Landesteile (Art. III. 3 BIHV). Gemeinhin wird am staatlichen Aufbau von BIH das Fehlen einer ausreichenden starken zentralen Autorität bemängelt. Es handele sich um einen „schwachen" Staat mit beschränkten Zuständigkeiten; er verfüge nicht über einen ausreichenden Verwaltungsunterbau oder Kontrolle über ein eigenes Budget 10 . Ein Großteil der Verantwortung für die staatliche Konsolidierung von BIH liegt weiter bei der Behörde des Hohen Repräsentanten (OHR), einer internationalen Behörde, welche die Umsetzung des AFRA überwachen soll und die ihre Rechtsgrundlage 9

Art. III. 5 (a) BIHV: Soweit mit den Entitäten vereinbart, in den Anhängen 5 - 8 des AFRA vorgesehen oder wenn erforderlich, um Souveränität, territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder die internationale Anerkennung des Staates zu bewahren. Darüber hinaus können Zuständigkeiten begründet werden, wenn anders die vorstehenden Zuständigkeiten nicht ausgefüllt werden können („to carry out such responsibilities"). Diese Positionierung erinnert stark an die „effet utile"-Doktrin des EuGH; Stahn (Fn. 3), S. 667, spricht von einer in Art. XX BIHV enthaltenen „Kompetenz-Kompetenz". 10 Europaratsdokument AS/Bur/BIH (1999) 1 Rev. ν. 7. 1. 1999, Bericht über die Übereinstimmung der Rechtsordnung von BIH mit Europarat-Standards, S. 46. An diesen Befund knüpfen die Berichterstatter F. Matscher und M. Vila Amigo ihre Skepsis, ob der Gesamtstaat BIH sicherstellen kann, dass die Landesteile die Standards des Europarats erfüllen (ibid., S. 47). Zu Einzelheiten der Gesamtstaatsordnung s. den grundlegenden Beitrag von W. Graf Vitzthum/M. Mack, Multiethnischer Föderalismus in Bosnien-Herzegowina, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, Berlin 2000, S. 81 ff.

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in dessen Anhang 10 findet 11. Der Leiter des OHR wird vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ernannt. Er verfügt über außerordentlich weitreichende Befugnisse, kann Parlamentsgesetze erlassen, für nichtig erklären oder etwa gewählten Amtsträgern, die sich der Verwirklichung des AFRA entgegenstellen, das Mandat entziehen12.

II. Die Rolle des Verfassungsgerichts von BIH Das Verfassungsgericht besteht gem. BIHV aus sechs in- und drei ausländischen13 Mitgliedern (Art. VI. 1). Vier werden vom Landtag der FBIH, zwei vom Landtag der RS bestimmt, drei (ausländische) vom Präsidenten des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte für die Dauer von zunächst fünf Jahren ausgewählt (Art. VI. 1 (a), (c)). Das Gericht ist zuständig für Verfassungsstreitigkeiten zwischen den Landesteilen, zwischen dem Gesamtstaat und einem oder beiden Landesteilen oder unter den Institutionen des Gesamtstaats. Beispielhaft wird die Frage genannt, ob Verfassung oder einfaches Recht eines Landesteils mit der Verfassung des Gesamtstaats in Einklang stehen (Art. VI. 3 (a)). Ausschließlich klagebefugt vor dem BIHVG sind ein Mitglied der Präsidentschaft, der Regierungschef, der Vorsitzende oder stellvertretende Vorsitzende einer der beiden Parlamentskammern, ein Viertel der Mitglieder einer der beiden Parlamentskammern sowie ein Viertel der Mitglieder einer Parlamentskammer in den beiden Landesteilen (Art. VI. 3 (a) a. E.). Schließlich ist das Gericht Instanzenrechtszug für Verfassungsstreitigkeiten, die sich aus den Urteilen anderer Gerichte in BIH ergeben. Es ist auch zuständig für Vorlagebeschlüsse der einfachen Gerichtsbarkeit (Art. VI. 3 (b) und (c)). Für Fragen der Menschenrechtsschutzes ist das Gericht derzeit subsidiär zuständig14; dieses Feld wird bislang durch die Menschenrechtskammer von BIH abgedeckt, deren rechtliche Grundlage sich in AFRA Anhang 6 findet 15. Das Gericht hat seine Tätigkeit kurz nach Ernennung der Gerichtsmitglieder im Mai 1997 aufgenommen. Seine erste Entscheidung datiert vom 16. Oktober 1997 h Zum Mandat: O. Dörr, Die Vereinbarungen von Dayton/Ohio, AVR 35 (1997), S. 129 ff. (136). 12 Vgl. AFRA Anhang 10, Art. I I ff. Übersicht der bisherigen Maßnahmen in: OHR (Fn. 8), S. 9-18. Bisherige HR waren Carl Bildt (1995-1997), Carlos Westendorp (19971999), Wolf gang Petritsch (seit 1999); s. a. N. Maziau, Cinq ans après, Le traité de DaytonParis à la croisée des chemins: succès incertains et constats d'échec, AFDI 44 (1999), S. 181 ff. 13 Darunter der französische Richter Louis Favoreu, von dem sich eine Beschreibung des Gerichts findet in: Mélanges en l'honneur de P. Gélard, Montchrestien 2000, S. 273 ff. (La Cour Constitutionelle de Bosnie-Hercégovine). h BIHVG-Urteil U 11/98 v. 26. 2. 1999 (Annex), abgedr. in: BIHVG (Hrsg.), Entscheidungen 1997-1999, Sarajewo 1999, S. 320.

i 5 S. P. Neussl, Bosnia and Hercegovina still far from the rule of law. Basic facts and landmark decisions of the human rights chamber, HRLJ 20 (1999), Nr. 7-11, S. 290 ff. (290).

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und ist, zusammen mit nachfolgenden Entscheidungen, in den Gesetzblättern des Gesamtstaats und der Landesteile sowie in der offiziellen Entscheidungssammlung des Gerichts veröffentlicht 16. Seine Entscheidungen sind endgültig und verbindlich. Die Rechtstradition von BIH kennt die Einrichtung eines Verfassungsgerichts. Ein solches bestand bereits unter der alten gesamtjugoslawischen Verfassung von 1963 wie auch in der damaligen Teilrepublik Bosnien und Herzegowina 17, wenn auch sicherlich unter den Vorzeichen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Berichterstatter im vorliegenden Fall 5/98 war Joseph Marko (Graz).

I I I . Verfahrensgeschichte und Klagegegenstände Am 12. Februar 1998 reichte das damalige Mitglied der BIH-Präsidentschaft und der auch danach noch amtierende Vorsitzende der muslimischen Sammlungspartei für den Demokratischen Forschritt (SDA), Alija Izetbegovic, Klage beim BIHVG ein. Der Kläger, als Mitglied der Präsidentschaft klagebefugt 18, klagte gegen 21 Bestimmungen der RS- und 6 Bestimmungen der FBIH-Landesverfassung, die alle seiner Auffassung nach mit den Vorgaben der Bundesverfassung nicht in Einklang standen. Zu den Bestimmungen in der RSV gehörten die Präambel, Art. 1 (Staat der Serben), Art. 2 Abs. 2 (Grenze), Art. 4 und Art. 68 Ziff. 16 (Zusammenarbeit mit Jugoslawien), Art. 6 Abs. 2 (Auslieferung), Art. 7 (Sprache und Alphabet), Art. 28 Abs. 4 (Orthodoxe Kirche), Art. 44 Abs. 2 (Asyl), Ergänzung LVII (Menschenrechtsschutz), Art. 58 Abs. 1, Art. 59, 60 und 68 (Eigentumsrechte), Art. 80, Art. 106 Abs. 2 (Verteidigungspolitik), Art. 80 (Diplomatische Vertretungen), Art. 98, Art. 76 Abs. 2 (Nationalbank), Art. 138 (Rechtsschutz gegenüber BIH). Auf Seite der FBIHV ging es um die Präambel, Art. I Abs. 1 (Staat der Bosniaken und Kroaten), Art. I Abs. 6 (Amtssprache), Art. II. A. 5 (c) (doppelte Staatsbürgerschaft), Art. III. 1(a) (Verteidigungspolitik), Art. IV. B. 7(a) und IV. B. 8 (Botschafter- und Offiziersernennungen). Am 14. Oktober 1998 begann das Gericht mit öffentlichen Anhörungen und Verhandlungen, die sich angesichts der Komplexität der Fragen und deren politischer Tragweite bis in den Spätsommer 2000 hinzogen19. Beide Kammern des FBIHLandtags und der RS-Landtag waren neben dem Kläger am Verfahren beteiligt. 16 Fall U 1/96, Bulletin BIHVG, Jahr 1997, Sarajewo 1999, S. 121; autorisierte dt. Fassung in der gleichlautenden Bulletinausgabe 1999-Teil 1 aus dem Jahr 2001, S. 33 ff. 17

Vgl. BIHVG (Hrsg.), Constitutional Court of Bosnia and Hercegovina, Sarajewo 1999, S. 21. Dort auch (S. 26 ff.) die Biographien der ersten neun Verfassungsrichter Kasim Begic, Marko Arsovic (April 2000 zurückgetreten; ersetzt durch Snezana Savie ), Hans Danelius (Stockholm), Louis Favoreu (Aix-en-Provence), Joseph Marko (Graz), Zvonko Miljko, Azra Omeragic, Vitomir Popovic, Mirko Zovko. ι» S. o. II. 19 Zur Prozessgeschichte s. N. Maziau, Le contrôle de constituionnalité des entités de Bosnie-Hercegovine, Commentaire de décisions de la Cour Constitutionnelle, Affaire No. 5/98 Alija Izetbgeovic, RFDC 2001, Anm. 11.

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Beide Landtage gaben schriftliche Stellungnahmen ab. Die Entscheidung erging in vier Teilen. Die letzte Teilentscheidung wurde am 18./19. August 2000 getroffen. Teilentscheidung 1 (28./29. Januar 2000) 20 betraf die Frage der Außenvertretung der Landesteile, Teilentscheidung 2 (18./19. Februar 2000) 21 Kompetenzfragen im Wirtschaftsbereich, Teilentscheidung 3 (30. Juni /1. Juli 2000 22 ) die Rechtsstellung der Volksgruppen und Teilentscheidung 4 (18./19. August 2000 23 ) Kompetenzfragen im Verteidigungsbereich sowie Fragen der Amtssprachen und der Rechtsstellung der Kirche(n). Mehrfach stand das mehr als zwei Jahre dauernde Verfahren auf der Kippe, zuletzt im Frühjahr 2000, als ein (bosnisch-serbisches) Gerichtsmitglied unter Hinweis auf zu hohen politischen Druck freiwillig ausschied und damit den Fortgang des Verfahrens ernsthaft in Frage stellte24. Die Tatsache, dass das Gericht am Ende eine Entscheidung fällen konnte, ist bereits ein Erfolg an sich. In einem Staat, dessen Institutionen eher schwach und oft politisch blockiert sind, hob sich das BIHVG bereits durch die schlichte Tatsache positiv von den übrigen Gemeinsamen Institutionen des Gesamtstaats ab, dass es in dieser Belastungsprobe seine Funktionsfähigkeit bewahrte 25.

IV. Die wesentlichen Ergebnisse der Entscheidung Im Mittelpunkt der Entscheidung stand die Frage nach den Rechten, welche die bestehenden großen Volksgruppen für sich selbst und im Verhältnis untereinander nach Bundes- und Landesverfassung beanspruchen können. Hierfür war die Auslegung der Präambel der BIHV zentral. Die Präambeln und jeweils ersten „Staatsartikel" in den beiden Landesverfassungen wurden vor allem an diesem Maßstab gemessen. Die Entscheidung, die herzu erging (Teilentscheidung 3 mit insgesamt 142 Ziffern), wurde knapp mit 5:4 Richterstimmen gefasst. Zusätzlich wurden ein dem Gesamtergebnis zustimmendes und vier, z.T. umfangreiche, ablehnende Sondervoten abgegeben26.

20 BIH Gesetzblatt Nr. 11/2000. 21 BIH Gesetzblatt Nr. 17/2000. 22 BIH Gesetzblatt 23 / 2000. 23 BIH Gesetzblatt 36/2000. 24 Richter Marko Arsovic; angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse und der ethnischen Zerrissenheit des Senats kam dem Verhalten jeden einzelnen Richters überproportional hohe Bedeutung zu. 25 Ein wesentliches Anliegen der Zukunft dürfte es daher sein, auch seitens der Internationalen Gemeinschaft darauf zu achten, dass die so erworbene Autorität des Gerichts erhalten bleibt und ihm keine wie auch immer gearteten Expertengremien oder Entscheidungsträger institutionell bei- oder gar übergeordnet werden. 26 Richter Danelius, Miljko, Popovic, Savie, Zovko (s. u. IV. 5. und 6.).

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1. „Volksgruppenkonstitutivität"

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als Verfassungsprinzip?

Das Gericht hat mit der rechtlichen Einordnung der Erwägung in der BIHV-Präambel, derzufolge „Bosniaken, Kroaten, Serben, als konstitutive Volksgruppen 27 (zusammen mit Anderen), und die Bürger von Bosnien und Herzegowina die nachfolgende Verfassung beschließen", erhebliche Schwierigkeiten gehabt, auch wenn es die Erwägung in den Gründen als ein „alles überwölbendes Verfassungsprinzip" bezeichnet28. Zunächst weist das BIHVG daraufhin, dass es keine Definition des Begriffs „konstitutive Volksgruppen" gibt 29 . Das Gericht stellt fest, dass der eher unbestimmte Wortlaut immerhin erkennen lässt, dass die Präambel allen genannten Gruppen denselben Status (von „Volksgruppen") zuerkennt. In Zusammenhang mit dem in der Verfassung verankerten allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art. II) folge daraus, dass rechtlich keine dieser Gruppen im Vergleich zu den anderen als Minderheit oder als Mehrheit angesehen werden dürfe, selbst wenn sie in einem Landesteil de facto eine solche Stellung einnehme30. Keine Volksgruppe dürfe im jeweiligen Landesrecht bevorzugt werden 31. Vielmehr unterscheide die Verfassung ausdrücklich zwischen Minderheiten stricto sensu auf der einen und konstitutiven Volksgruppen auf der anderen Seite. Unter letzteren bestehe Gruppengleichheit. Die Entstehungsgeschichte der Verfassung belege, dass der Begriff „konstitutive Volksgruppen" erst spät, d. h. nach der Einfügung der Bestimmungen zu Minderheiten und damit in Abgrenzung zu diesen in die Verfassung hineingenommen worden sei 32 . Aus der kollektiven Gleichheit der Volksgruppen folge die Verpflichtung der Landesteile, Volksgruppen, die sich in faktischer Minderheitenposition befänden, auf dem jeweiligen Landesgebiet nicht zu diskriminieren 33. Ziel dieser Unterscheidung sei der von niemandem bestrittene Fortbestand von BIH als ein demokratischer, multinationaler Staat34. An diesen Befund knüpft das Gericht die Frage an, ob das AFRA mit seiner territorialen Ausgestaltung von BIH (Unterteilung in zwei Landesteile) möglicherweise eine gebietsmäßige Abtrennung der jeweiligen Volksgruppen anerkannt ha27 Der in der englischen Originalfassung der BIHV verwandte Ausdruck „people(s)" wird im folgenden einheitlich mit „Volksgruppe" übersetzt, um eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen dem (BIH-) Staatsvolk der Bosnier und den dieses zusammensetzenden Volksgruppen der Bosniaken, Kroaten, Serben (und Anderen) zu bewahren. Sprachlich korrekt wäre es, eher von „Bosnier-Herzegowinern" als von „Bosniern" zu sprechen. 28 23/2000, Ziff. 63. 29 Ziff. 50; s. a. Maziau (Fn. 19). 30 Ziff. 52, 59.

31 Ziff. 59. 32 Ziff. 63. 33 Hier nimmt das Gericht allgemeinen Bezug auf die Rechtsprechung des Schweizer Verfassungsgerichts zur Sprachenfrage in den Schweizer Kantonen. 34 Ziff. 53. 5 Graf Vitzthum/Winkelmann

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be. Das Gericht verneint diese Frage ausdrücklich mit der Begründung, die gleichberechtigte Benennung der drei Volksgruppen stelle ein verfassungsmäßiges Prinzip kollektiver Gleichheit dar, das besondere Privilegien für eine oder zwei dieser Volksgruppen, eine wie auch immer geartete Dominanz im Regierungsapparat oder eine ethnische Homogenisierung, die auf räumlicher Abtrennung beruhe, verbiete 35 . Dieses Ergebnis stützt das Gericht auf folgende Überlegungen. a) Das Demokratieprinzip der Verfassung (Art. I. 2) stehe unter der Vorgabe der Präambel, wonach „demokratische Regierungsinstitutionen und faire Verfahren am besten in einer pluralistischen Gesellschaft zu friedlichen Beziehungen untereinander führen" (3. Erwägung). Diese Verpflichtung könne nicht von anderen Verfassungselementen isoliert werden, zu denen besonders die ethnischen Strukturen gehörten. Pluralismus, faire Verfahren und friedliche Beziehungen stellten mithin eine Orientierungsleitlinie dar bei der Frage nach der Konstruktion von BIH als multinationaler Staat36 (Ziff. 54). b) Nach höchstrichterlicher kanadischer Rechtsprechung37 müsse sich jede Rechtsprechung u. a. an der Würde der menschlichen Person, der Einbeziehung einer Vielheit von Glaubensüberzeugungen, dem Respekt für kulturelle und gruppengeprägte Identitäten und dem Vertrauen in die sozialen und politischen Institutionen orientieren, welche die Teilhabe von Individuen und Gruppen an der Gesellschaft erhöhten. Ferner müsse die Regierung das gesamte Volk, das zu seinem Staatsgebiet gehöre, vertreten, ohne (einzelne Gruppen) zu diskriminieren oder deren effektive Teilhabe am Entscheidungsprozeß mehr oder weniger umfassend zu blockieren. Dies folge aus einem allgemein anerkannten Prinzip, das den im Anhang zur BIHV enthaltenen internationalen Verträgen entnommen werden könne, insbesondere Art. 15 des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995. Die effektive Teilhabe ethnischer Gruppen sei ein wichtiges Element in einem multinationalen Staat; sie würde dann in ethnische Dominanz übergehen, wenn einer oder mehreren ethnischen Gruppen ein absolutes und/oder unbegrenztes Vetorecht zugestanden würde, mit Hilfe dessen eine numerische Minderheit der Mehrheit ihren Willen aufzwingen könne 38 . Aus alledem folge, dass die demokratische Staatsdoktrin neben effektiver Teilhabe und Nichtdiskriminierung vor allem Kompromissbereitschaft verlange. Unter den Bedingungen eines multinationalen Staates stünden Repräsentation und Teilhabe ethnischer Gruppen als solcher und in Form kollektiver Rechte mit demokratischen Grundprinzipien in Einklang 39 .

35 Ziff. 60. 36 Ziff. 54. 37 Hinweis auf Supreme Court of Canada, re Secession of Quebec (20. 8. 1998), 2 SCR 1998, Vol. 2, S. 217 ff. (para. 64); Nachw. dazu bei Stahn (Fn. 3), S. 680 (Anm. 65). 38 Ziff. 55. 39 Ziff. 56.

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c) Hinzu komme, dass einer Abtrennung ethnischer Gruppen Wortlaut und Geist der folgenden Abkommen entgegenstehe: Internationales Abkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966, Europäische Charta der Regional- oder Minderheitssprachen von 1992, Rahmenübereinkommen des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten von 1995. Eine ethnische Abtrennung sei kein legitimes Ziel einer demokratischen Gesellschaft und auch nicht mit Art. I. 2 i. V. m. Erwägung 3 der Präambel der BIHV vereinbar. Territoriale Ausgestaltungen dürften nicht zu ethnischer Abtrennung führen, sondern müssten ganz im Gegenteil ethnischer Rücksichtnahme und der Beibehaltung eines sprachlichen Pluralismus dienen40. Die Tatsache, dass die beiden Landesteile FBIH und RS als „Entitäten" anerkannt seien, gebe ihnen keine carte blanche, ethnische Dominanz, nationale Homogenisierung oder die Folgen ethnischer Säuberung zu perpetuieren. Die Entitäten seien rechtlich verpflichtet, ihre Verfassungen an die vorstehenden Grundsätze anzupassen41. Bewertung: Erkennbares Anliegen des Gerichts ist die Bewahrung bzw. Herstellung multinationaler Strukturen in beiden Landesteilen von BIH. Die Präambelaussage zu den konstitutiven Volksgruppen von BIH wird als allgemeine Gleichstellungsregel aller Bevölkerungsgruppen aufgefasst, die einer (künstlichen) Dominanz oder Herstellung monoethnischer Strukturen in bestimmen Gebieten mittels räumlicher Auftrennung entgegensteht. Bei der Begründung dieser Aussage zieht das Gericht systematische, rechtsvergleichende und völkerrechtliche Argumente heran. Die Richtermehrheit hat hierbei insbesondere die Bevölkerungsstruktur im Landesteil RS vor Augen gehabt, in der aufgrund von Bucht und Vertreibung nicht-serbischer Bevölkerungsteile der serbische Bevölkerungsanteil von rd. 54% im Jahr 1991 auf rd. 96% im Jahr 1997 angewachsen ist 42 . Folgerungen, wie eine Gleichstellung der Volksgruppen konkret und institutionell erzielt werden könnte, hat das Gericht nicht gezogen; selbst Andeutungen in diese Richtung fehlen.

2. Verfassungswidrigkeit

der Präambel der RS-Verfassung

a) Die Argumente der Verfahrensbeteiligten Nach Auffassung des Klägers verstießen Teile der RSV gegen die Präambel der BIHV sowie gegen Art. II. 4 (allgemeiner Nichtdiskriminierungsgrundsatz), II. 6 (Menschenrechtstandards) und III. 3 (b) (Vorrang der Gesamtstaatsverfassung) BIHV. Die inkriminierten Teile der RS-Präambel lauteten: - „Ausgehend von dem natürlichen, unverletzlichen und unübertragbaren Recht des serbischen Volkes auf Selbstbestimmung, auf dessen Grundlage dieses Volk, so wie jedes an40 Ziff. 57. 41 Art. III. 3 (b) BIHV sowie Grundprinzipien (basic agreed principles) von Genf vom 8. 9. 1995, abgdr. in: Internationale Politik 12/1995, S. 104. 42 Quelle: IMG und UNHCR, zit. in Teilentscheidung 3 (23/2000), Ziff. 86. *

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Ingo Winkelmann dere freie und souveräne Volk, in Unabhängigkeit seinen politischen und staatlichen Status bestimmt und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung sicherstellt; - in Respekt vor dem Jahrhunderte langen Kampf des serbischen Volkes für Freiheit und staatliche Unabhängigkeit; - fest entschieden, für das serbische Volks seinen demokratischen Staat zu begründen, auf den Grundlagen sozialer Gerechtigkeit, rechtstaatlicher Prinzipien, der Achtung der menschlichen Würde, Freiheit und Gleichheit; - unter Einbeziehung des natürlichen und demokratischen Rechts, des Willens und der Entschlossenheit des serbischen Volkes der RS, seinen Staat vollständig und eng mit den anderen Staaten des serbischen Volkes zu verbinden; - in Anerkennung der Bereitschaft des serbischen Volkes, für Frieden und freundschaftliche Beziehungen zwischen Völkern und Staaten einzutreten;...".

Das RS-Abgeordnetenhaus stellte in seiner Stellungnahme einen Verstoß gegen Bundesverfassungsrecht in Abrede. Der Präambel als Nichtbestandteil der Verfassung komme kein normativer Gehalt zu. Ihr eigne lediglich die Funktion eines hilfsweisen Auslegungsinstruments. Hierfür sprächen auch die zur Präambel der US-Verfassung vertretenen Rechtsauffassungen und die Ausführungen im Schiedsspruch zum Distrikt von Brcko 43 . Mit dem Ausdruck „Staat" sei nicht Unabhängigkeit gemeint, vielmehr könne dies auch die Benennung einer politisch-territorialen Einheit 44 sein. Der Vertreter des Abgeordnetenhauses der FBIH wies demgegenüber daraufhin, es gebe nur einen Staat in BIH. Nirgendwo benenne die Verfassung die Landesteile anders als - eben nur - Landesteile (Entitäten)45.

b) Die Erwägungen des Gerichts Das BIHVG beginnt seinen Überlegungsgang mit Art. 31 Wiener Vertragsrechtskonvention (W^VRK), wonach jede Vertragsauslegung auch Präambel und Anhänge miteinbeziehen müsse. Die Bestimmungen der WVRK fänden Anwendung, da die BIHV als Anhang des AFRA Teil eines völkerrechtlichen Abkommens sei 46 . Gleiches gelte auch für die RSV, deren Präambelteil auch im RS-Landesgesetzblatt als „integraler Bestandteil der RSV" bezeichnet worden seien. Im übrigen bestehe zwischen ausdrücklichen Verfassungsbestimmungen und grundlegenden Verfassungsprinzipien, wie sie sich in Präambeln fänden, kein normativer Unterschied. So habe die höchstrichterliche kanadische Rechtssprechung 43 Schiedsspruch vom 5. 3. 1999 zur Ortschaft Brcko im Nordosten von BIH, abgedr. in: OHR-North, Legal Department (Hrsg.), Essential legal texts, Brcko Juli 1999, S. 2 ff.; Teilentscheidung 3 Ziff. 11. 44 Ziff. 12. 4 5 Ziff. 14. 4 6 Ziff. 19.

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befunden, dass Verfassungsstrukturen ohne die Verfassungsprinzipien, auf denen sie beruhten, nicht bestehen könnten; diese Prinzipien seien oft nur in vager Form in Präambeln enthalten, als solche dann aber nicht lediglich deskriptiver Art, sondern von starker normativer Kraft 47 . Außerdem sei die Existenz von allgemeinen Verfassungsgrundsätzen auch im Verfassungsrecht von BIH anerkannt. Das in Art. VI. 3 BIHV enthaltene Prinzip der „Effektivität" verpflichte das Gericht ferner, die gesamte Verfassung anzuwenden; dem könne nicht Rechnung getragen werden, wenn die Präambel nur als hilfsweises Auslegungsinstrument herangezogen werde 48 . Die Landesverfassungen seien daher auch am Maßstab der Präambel der BIHV zu messen49, ohne dass es im vorliegenden Fall indes darauf ankomme50: Der Wortlaut der Präambel der RS-Verfassung enthalte klare politische Aussagen, die mit anderen Bestimmungen der Bundesverfassung kollidierten. Souveränität, unabhängige Entscheidungsfindung, Staatlichkeit, staatliche Unabhängigkeit, Verbindung mit anderen serbischen Staaten ließen sich nicht mit Art. I. 1 und 3 (Staatlichkeit von BIH) sowie Art. III. 2 (a) und 5 (Souveränität und territoriale Integrität von BIH) BIHV vereinbaren. Die RS-Präambel sei daher insoweit verfassungswidrig.

3. Verfassungswidrigkeit des ersten Staatsartikels der Landesverfassung RSV Art. 1 RSV lautet: „Die Serbische Republik ist der Staat des serbischen Volkes und aller seiner Bürger".

a) Die Argumente der Verfahrensbeteiligten Nach Auffassung des Antragstellers verstieß Art. 1 RSV gegen die Präambel, Art. II. 4 sowie II. 6 BIHV. Innerhalb der Grenzen von BIH gebe es keinen zusätzlichen mononationalen Staat. Ein solcher würde die Verwirklichung von Menschenrechten (Flüchtlingsrückkehr) unmöglich machen51. Die Geschichte von BIH beweise, dass seine Staatlichkeit immer darauf beruht habe, dass die in ihm lebenden Volksgruppen gleichberechtigt seien. Die Formulierung von Art. 1 RSV führe dagegen zu einem „automatischen Ausschluss" aller Nicht-Serben. Damit korreliere eine Privilegierung aller serbischen Volksgruppenzugehörigen, die weiteren ver47 Unter Hinweis auf den Fall Secession of Quebec (1998), 2 SCR 1988, Vol. 2, paras. 49 - 54, sowie Remuneration of Judges of the Provincial Court of Prince Edward Island , 3 SCR 1997, para 95. 48 Ziff. 24. 49 Ziff. 25. so Ziff. 32 und 33. 5i Ziff. 34.

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fassungsrechtlichen Diskriminierungen (Kirche, Sprache, pan-serbische Zusammenarbeit, Abweisung nicht-serbischer Flüchtlinge) den Weg ebne. Der Vertreter der Volkergruppenkammer des FBIH-Parlaments trug vor, das Gleichstellungsprinzip der BIHV sei im Landesteil FBIH bereits im Rahmen des Abkommens von Washington52 konkretisiert worden. Man habe es so umgesetzt, dass lediglich zwei Volksgruppen als „konstitutiv" anerkannt worden seien. Dass nichts anderes gelten könne, ergebe sich schon daraus, dass der (andere) Landesteil RS ausdrücklich den Namen Serbische Republik und damit den der dritten Volksgruppe trage. Für das RS-Parlament wurde vorgetragen, der „konstitutive" Status ergebe sich nicht aus dem normativen Teil der Bundesverfassung. Selbst wenn man die Präambel heranzöge, hätte diese den Zusatz enthalten müssen „ . . . (als konstitutive Volksgruppen) ... auf dem ganzen Staatsgebiet". Konstitutivität ergebe sich erst aus den Bestimmungen jeder Landesverfassung. Es seien die Landesteile, die BIH konstituierten und nicht umgekehrt. Die Gleichheit von Volksgruppen sei auch kein Bestandteil internationaler Menschenrechtsdokumente53. Die Begründung des Landesteils FBIH im Jahr 1994 und die Teilnahme des Landesteils RS an den Verhandlungen 1995 in New York und Genf zeige, dass die Landesteile als besondere Einheiten mit unterschiedlichen konstitutiven Volksgruppen geschaffen worden seien. Eine Gleichberechtigung aller Volksgruppen ergebe sich nur bei den dem Gesamtstaat übertragenen Kompetenzen, aber nicht hinsichtlich der bei den Landesteilen verbliebenen Zuständigkeiten; dort bleibe es bei der Konstitutivität von Bosniaken und Kroaten im Landesteil FBIH und der der Serben im Landesteil RS 54 . Darüber hinaus schließe der reine Wortlaut von Art. 1 RSV andere Volksgruppen als die der Serben nicht aus der RS aus. Auch genössen alle Nicht-Serben den Schutz individueller Menschenrechte; niemand werde aus ethnischen Gründen an der Bekleidung eines öffentlichen Amts gehindert. Was die Flüchtlingsrückkehr angehe, so handele es sich um ein komplexes Problem, das man mit Diskriminierungserwägungen allein nicht lösen könne 55 .

b) Die Erwägungen des Gerichts Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass die Wendung „Staat des serbischen Volkes" gegen BIH-Verfassungsrecht verstößt, da es die verfassungsmäßigen Rechte von Bosniaken und Kroaten verletze 56. Es argumentiert wie folgt:

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Zum Washingtoner Abkommen von März/ April 1994: L. Silber /A. Little, The death of Yugoslavia, überarbeitete Aufl., London 1996, S. 319 ff. 53 Ziff. 36 ff. (39). 54 Ziff. 40. 55 Ziff. 48/49. 56 Ziff. 74/94.

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Die Entstehungsgeschichte des AFRA und der Wortlaut der vereinbarten Grundprinzipien von Genf 57 zeigten, dass sich die Landesteile verpflichtet hätten, ihre Landesverfassungen der Bundesverfassung anzupassen. Die späte Einfügung der Namen der konstitutiven Volksgruppen in die Bundesverfassungspräambel wäre nicht erfolgt, hätte man hinnehmen wollen, dass einzelne von ihnen als Minderheiten und nicht gleichberechtigte Volksgruppen in den jeweiligen Landesteilen verblieben. Diese Gleichstellung sei ein alles überragendes Prinzip. Auch die bestehenden, ethnisch geprägten 58 Wahlverfahren zu zahlreichen Institutionen des Bundes und deren Zusammensetzung belegten nicht eine territoriale Verortung der Volksgruppen. So werde etwa das Mitglied der dreiköpfigen Bundespräsidentschaft im Landesteil RS auch von Nicht-Serben gewählt, ebenso wie die RS-Vertreter in der Volksgruppenkammer des Bundesparlaments nicht auf Vertreter der serbischen Volksgruppe beschränkt seien. Auch die Abgeordneten im Bundesparlament würden nicht nach Volksgruppenzugehörigkeit gewählt. Dort, wo besondere kollektive Volksgruppenrechte eingeräumt seien, seien sie nicht verallgemeinerungsfähig und hätten nur aufgrund ihres verfassungsmäßigen Rangs gegenüber dem Nichtdiskriminierungsgebot Bestand. Letzteres zwinge zumindest zu einer restriktiven Auslegung solcher Bestimmungen59. Ein „spezifisches System ethnischer Repräsentation" bestehe nicht 60 . Auch wenn richtig sei, dass der Wortlaut von Art. 1 RSV einen Kompromiss insoweit anstrebe, als darin weder das serbische Volk „konstitutiv" genannt noch der Landesteil als exklusiver serbischer Nationalstaat bezeichnet werde, führe die gewählte Formulierung im Zusammenhang mit anderen RSV-Bestimmungen zu einer Identifizierung mit einem serbischen „Staat", der die serbische Volksgruppe in nicht legitimierbarer Weise privilegiere und mit dem Konstitutivitätsprinzip der BIHV nicht in Einklang zu bringen sei 61 . Funktional stehe der Sinn und der Zweck des AFRA, für eine Rückkehr der Flüchtlinge und die Wiederherstellung einer multiethnischen Gesellschaft Sorge zu tragen, so wie sie vor dem Krieg ohne eine territoriale Aufspaltung unter ethnischen Vorzeichen bestanden habe, auch allen Argumenten entgegen, die den gegenwärtigen landesverfassungsrechtlichen status quo um „des lieben Friedens" willen fortbestehen lassen wollten 62 . Obwohl das Gericht ausführt, dass es aufgrund der obigen Befunde nicht mehr darauf ankomme, ob Art. 1 RSV auch aufgrund der durch ihn ermöglichten Miss-

57 Agreed Basic principles, Genf, 8. 9. 1995, abgedr. in: OHR (Fn. 8), S. 15. 58 Dazu W. Graf Vitzthum, Multiethnische Demokratie - das Beispiel Bosnien-Herzegowina, in: Liber Amicorum Thomas Oppermann, Berlin 2001, S. 84 ff. (98). 59 Ziff. 68. 60 Ziff. 69. 61 Ziff. 70/71. 62 Ziff. 72/73.

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achtung von Menschenrechten verfassungswidrig sei, geht es diesem Vorwurf in Hinblick auf die allgemeine Flüchtlingssituation in der RS nach 63 . Der allgemeine Nicht-Diskriminierungsgrundsatz gelte nicht nur als Abwehrrecht gegenüber Behördenwillkür. Aus ihm folge vielmehr die positive Verpflichtung aller Behörden, „ . . . vor diskriminierenden individuellen Handlungen zu schützen und, in Hinblick auf Flüchtlinge und Vertriebene, die erforderlichen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen für deren harmonische Wiedereingliederung zu schaffen" 64 . Das Gericht geht im Anschluss daran ausführlich auf Erhebungen (u. a. von UNHCR) ein, welche die ethnische Vertreibung der nicht-serbischen Bevölkerung auf dem RS-Gebiet und die monoethnische Zusammensetzung der dortigen Behörden belegen. Es folgert daraus, dass nach Inkrafttreten des AFRA im Jahr 1995 eine systematische, anhaltende und vorsätzliche behördliche Diskriminierung von sog. Minderheitenrückkehrern stattgefunden hat, sei es durch Beteiligung an Gewalttaten gegen Rückkehrer, sei es durch Duldung solcher Taten. Die so zustande gekommene ethnische Spaltung von BIH verstoße gegen die EMRK wie auch gegen die BIHV 6 5 .

4. Verfassungswidrigkeit

des ersten Staatsartikels

der FBIHV

Der erste Verfassungsartikel 66 des Landesteils FBIH lautet: „Bosniaken und Kroaten als konstitutive Volksgruppen, zusammen mit Anderen, sowie die Bürger von BIH aus dem Gebiet der FBIH, in der Ausübung ihrer souveränen Rechte, gestalten die inneren Strukturen des Gebiets der FBIH, so wie definiert in AFRA Anhang 2, in der Weise, dass die FBIH aus föderalen Einheiten mit gleichen Rechten und Pflichten besteht."

a) Die Argumente der Verfahrensbeteiligten Nach Auffassung des Antragstellers verletzt der Wortlaut die Gleichstellung der drei konstitutiven Volksgruppen auf dem gesamten Gebiet von BIH, wie sie aus der Präambel und den Artikel II. 4 und II. 6 BIHV folge. Jene Norm der FBIHV verhindere, dass Flüchtlinge und Vertriebene eine menschenrechtlich abgesicherte Rückkehr in ihre Heimatgebiete durchführen könnten. Der Antragsteller anerkannte, dass der konstitutiven Volksgruppe der „Anderen" immerhin eine angemessene Vertretung in allen FBIH-Institutionen gewährleistet werde, wodurch das Problem teilweise abgemildert sei 67 . Vertreter des FBIH-Landtags trugen vor, 63

Ziff. 75, ohne Begründung (lediglich Hinweis auf individuelle Diskriminierungstatbestände). 64 Ziff. 80. 65 Ziff. 95/96. 66 I. d. F. der dritten Verfassungsnovelle (amendment). 67 Ziff. 101.

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Art. 1 erwähne immerhin auch „Andere" als konstitutive Völker. Da diese „Anderen" in der Praxis fast ausschließlich der dritten (Anmerkung: gemeint Serben) und nicht einer weiteren Volksgruppe angehörten, würde der Verfassungsabsicht im Grunde ausreichend Rechnung getragen.

b) Die Erwägungen des Gerichts Das Gericht hat die inkriminierten Formulierungen für verfassungswidrig befunden, da sie Bosniaken und Kroaten illegitimerweise privilegierten 68. Es hat hierbei konsequenterweise ähnlich wie bereits zu Art. 1 RSV argumentiert 69: Der Einbezug „Anderer" unter die konstitutiven Völker sei lediglich ein halbherziger Ersatz für volle Konstitutivität. Auch wenn die FBIHV die proportionale Vertretung der Volksgruppen in einer Reihe von Institutionen vorsehe, bleibe eine Verletzung individueller politischer Rechte i. S. v. Art. 3 des Ersten ZP zur EMRK und Art. 5 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung bestehen, da Bosniaken und Kroaten bevorzugt würden (Landtag, Volksgruppenkammer, Menschenrechtskammer). Diese Einschränkungen seien nicht legitimierbar, da „ein System totalen Ausschlusses von Personen aufgrund völkischer oder ethnischer Herkunft von der Vertretung und Teilhabe in/ an Regierung und Justiz" gegen die in diesen Abkommen gewährleisteten fundamentalen Menschenrechte verstoße. Unter Bezug auf den Fall Methieu-Mohin und Clairfayt gegen Belgien führt das Gericht aus, es sei wohl nicht zu beanstanden, dass Wähler gezwungen würden, sich für nach sprachlichen Gründen getrennte Kandidaten zu entscheiden, jedenfalls solange diese eine freie Sprachwahl treffen könnten70. Der Unterschied zur Rechtslage in Belgien sei, dass in der FBIH die Aufstellung von Kandidaten nach ethnischen Kriterien erfolge und so die Wählbarkeit als solche bereits a priori beschränkt sei 71 . Soweit dem Gericht darüber hinaus ein Ermessenspielraum zustehe, entfalle dieser vorliegend, da Meinungs- und Wahlfreiheit in ihrem Kern eingeschränkt würden. Verschiedene Verfassungsbestimmungen der FBIHV bevorzugten die Volksgruppen von Kroaten und Bosniaken, etwa bei der Beschickung der Volksgruppenkammer, der Einlegung eines Vetos oder der Wahl des Landtagsvorsitzenden. In Verbindung mit diesen Mechanismen führe das Zweikammersystem dazu, dass faktische Minderheiten Mehrheitsstatus erhielten und der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen vermöchten. Volle Gleichheit aller Volksgruppen sei nicht gewährleistet, da ihnen nicht die gleiche Teilhabe am parlamentarischen Entscheidungsprozess zugestanden werde. 68 Ziff. 127, 140. 69 S. o. IV. 3. 70 Hinweis auf EuGHMR 9/1985/95/143. 71 Ziff. 120.

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Obwohl es wie im Fall von Art. 1 RSV zur Entscheidung nicht mehr erforderlich ist, geht das Gericht auch hier auf mögliche Menschenrechtsverletzungen aufgrund der offensichtlich diskriminierenden Behandlung von Flüchtlingen/Rückkehrern in der FBIH ein. Das Zahlenmaterial belege, dass zwischen 1991 und 1997 allein der serbische Bevölkerungsanteil in der FBIH von 17% auf 2% zurückgegangen sei. Unter den Rückkehrern befänden sich lediglich 4% Serben. Diese erhebliche Diskrepanz beweise eindeutig die Ungleichbehandlung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit 72 . Der Anteil von Serben in Justiz und Polizei sei auf fünf bzw. ein Prozent im Jahr 1997 gesunken. Hieraus und aus Beobachtungen des OHR und der FBIH-Ombudsperson folge eine systematische, andauernde, vorsätzlich diskriminierende FBIH-Behördenpraxis zur Verhinderung der sog. Minderheitenrückkehr. Die Gesamtumstände belegten einen Verstoß gegen das Recht auf Bewegungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit und Eigentum nach der BIHV sowie gem. Art. 5 des Rahmenübereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung 73 .

5. Die Sondervoten Danelius, Miljko, Popovic, Savie, Zovko Der schwedische Richter Danelius hat ein zustimmendes Sondervotum, die vier (nicht-bosniakischen) unter den sechs einheimischen Verfassungsrichtern (Miljko, Popovic, Savie, Zovko) haben ablehnende Sondervoten abgegeben74. Richter Danelius betont in seinem Votum die Bedeutung, die genauer Terminologie in einem komplexen Staatsgefüge wie dem von BIH zukomme. Die Bundesverfassung spreche bewusst nur in Hinblick auf den Gesamtstaat BIH von einem „Staat". Die Landesteile würden dagegen als Entitäten bezeichnet. Hieran hätten sich die Landesverfassungen zu halten. Auch die Grenzziehung zwischen den Landesteilen müsse sich an die Vorgabe des AFRA halten, das genau zwischen Staats(iborder) und Landesgrenze (boundary) unterscheide. Jede andere Terminologie führe zwangsläufig zu einem Verfassungsverstoß. Das in der Präambel der BIHV enthaltene Konstitutivitätsprinzip stelle lediglich eine Einführungserwägung dar, welche die Verfassungsgeber identifiziere. Dem wenig präzisen und wenig klaren Prinzip ließen sich, ungeachtet seiner symbolischen Bedeutung und emotionalen Auffüllung, weder normative Vorschriften noch konkrete verfassungsrechtliche Verpflichtungen entnehmen. Um zu verhindern, dass einzelne Volksgruppen und ihre Mitglieder in den Landesverfassungen privilegiert bzw. diskriminiert würden, reiche es aus, die allgemeine Nichtdiskriminierungsvorschriften in Art. II. 4 und Art. II. 6 BIHV heranzuziehen75. 72 Ziff. 130 bis 135. 73 Ziff. 139. 74 Gem. Art. 36 GO BIHVG v. 5. 11. 1999, in dt. Sprache (Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes von Bosnien und Herzegowina) erschienen in Sarajewo 2000. 75 Sondervotum Danelius, abgedr. in: BIH Gesetzblatt 23 / 2000, S. 486 ff.

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Nach Auffassung des (bosnisch-kroatischen) Richters Miljko können individualrechtliche Erwägungen nicht als Kriterien dafür herangezogen werden, ob die Landesverfassungen mit der Gesamtstaatsverfassung in Einklang stehen. Es gehe bei der Streitfrage vorrangig um eine solche der Staatsorganisation, nicht aber der Menschenrechte. So sei etwa der Aufbau des Landesteils FBIH seit dem Washingtoner Abkommen auf der Dualität von Bosniaken und Kroaten gegründet. Dabei gehe es nicht um Sonderrechte oder Privilegierungen, sondern um Schutzrechte für die jeweiligen Volksgruppen. Auch er sehe in dem Konstitutivitätsprinzip der Präambel keinen normativen Gehalt. Das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung oder die Europäische Charta der Regional· oder Minderheitensprachen seien nicht auf die Situation in BIH anwendbar 76 In einem ausführlichen, emotional und politisch unterlegten Sondervotum führt (der zweite bosnisch-kroatische) Richter Zovko aus, die Entscheidung des Gerichts stelle eine tiefgreifende Revision des AFRA dar, da sie zur Abschaffung der Landesteile führe. Nicht die (BIH-)Verfassung bestimme die konstitutiven Völker, sondern - im Gegenteil - letztere hätten die alleinige Macht, eine Verfassung zu erlassen und einen Staat zu bilden. Alle Vorgängerdokumente zum AFRA seien von der Fortexistenz der Entitäten in ihrer bestehenden Form ausgegangen, so etwa die sog. Grundprinzipien von Genf und New York (September 1995). In Dayton sei niemals die Rede davon gewesen, die Entitätsstrukturen zu ändern und einen unitarischen Staat zu schaffen. Zahlreiche sonstige Dokumente77 und Verfassungsbestimmungen legten Zeugnis davon ab, dass das Verfassungsleben in BIH den Willen der jeweils eingesetzten Volksgruppen respektieren müsse. Noch am 5. Juni 1996 habe ein Vorschlag der Verfassungsgebungskommission zur Anpassung der Entitätsverfassungen ohne Gegenstimmen das BIH-Parlament passiert; auch die Venedig-Kommission des Europarats habe damals die Definition der FBIH als einer bosniakisch-kroatischen Entität und der RS als eines serbischen Nationalstaats für nicht kritisierenswert gehalten. Versuche der weitergehenden Harmonisierung der Entitätsverfassungen mit der Gesamtstaatsverfassung stellten eine „verfassungsrechtliche Atombombe" 78 dar. Zahlreiche Verfassungsvorschriften belegten nicht nur eine nationale Dreiteilung, sondern auch eine territoriale Aufteilung nach Volksgruppen. Eine Änderung dessen könne wohl das Parlament, nicht aber die Judikative vornehmen. Die nunmehr vorliegende Entscheidung führe entweder zu einer Reduzierung des Einflusses der RS auf ein Drittel, zur Schaffung von zwei Staaten in BIH oder zu einer Auslöschung der Entitäten. Richter Zovko beklagt sich überdies über zahlreiche Einschüchterungsversuche seitens der Medien und 76 Sondervotum Miljko, abgedr. in: BIH Gesetzblatt 23/2000, S. 488 ff. 77 Etwa: Vereinbarung über die Schaffung der Föderation BIH, Prinzipien über das Interimsstatut für die Stadt Mostar, s. Zovko in: BIH Gesetzblatt 23/2000, S. 504 ff. (512). 78 Diesen Ausdruck soll Zovko zufolge der damalige Stellv. HR, Michael Steiner, im Abschlussdokument eines Runden Tisches am 14. 7. 1997 in Vogosca/Sarajewo, gebraucht haben, ibid., S. 510.

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internationaler Nichtregierungsorganisationen. Zovko zufolge waren Gerichtspräsident Begic (als Teilnehmer an den Dayton-Friedensverhandlungen) und Berichterstatter Marko (als Mitglied der mit Gutachten zu BIH beauftragten Venedig-Kommission 79 ) befangen 80. Das (bosnisch-serbische) Gerichtsmitglied Popovic schließt sich in seinem abweichenden Sondervotum den Ausführungen des Richters Danelius zum fehlenden normativen Gehalt des Konstitutivitätsprinzips an. Auch könne die WVRK nicht zur Auslegung herangezogen werden, da BIH ihr nicht beigetreten sei. Das Konstitutivitätsprinzip beinhalte lediglich die Aussage, dass es in BIH zwei Entitäten gebe und Gleichheit zwischen den Volksgruppen und Entitäten herrsche. BIH weise ein hochkomplexes Regierungssystem auf, gekennzeichnet durch Hybridität, Asymmetrie und einer dreischichtigen Verfassungsgebung 81. BIH sei kein Bundesstaat, sondern ein Staat sui generis . An den Beratungen von Genf hätten RS und FBIH als Staaten teilgenommen; sie hätten sich dort das Recht ausbedungen, mit ihren damaligen Verfassungen fortzubestehen, was die letzte Erwägung der BIHVPräambel nochmals unterstreiche. Der Name RS mache nur Sinn, wenn man den Landesteil als Staat der Serben verstehe. Menschenrechtliche Erwägungen, wie sie etwa in Art. II. 4 und 5, III. 3 (b) BIHV enthalten seien, könnten hieran nichts ändern. Dies übersehe die Entscheidung. Hinzu kämen mehrere Verfahrensmängel der Entscheidung (Beweiserhebungen, Bestimmung der Rechtsfolgen, Befangenheit des Berichterstatters Marko). Zusammenfassend stehe die Entscheidung weder in Einklang mit der Verfassung noch mit dem AFRA. Das Gericht habe als Gesetzgeber, nicht als Hüter der Verfassung gehandelt82. In einem umfangreichen, eher rechtstheoretisch ausgelegten Sondervotum wirft schließlich die (bosnisch-serbische) Richterin Savie dem Gericht vor, es habe sich zum Verfassungsgeber aufgeschwungen, ohne hierzu berufen zu sein. Dieser Präzendenzfall sei gefährlich, da die im übrigen die Verfassung charakterisierenden Hürden (vitale-Interessen-Klausel, Konsens-Entscheidungen) unterlaufen würden. Dies und verschiedene Verfahrensverstöße des Gerichts machten die Entscheidung insgesamt verfassungswidrig. Savie streitet der BIHV-Präambel Regelungsgehalt ab. Sie lasse sich nicht als Rechtsmaßstab heranziehen. BIH und seine Verfassung seien nicht von einzelnen Volksgruppen, sondern von den (bereits bestehenden) Entitäten geschaffen worden; außerhalb der Entitäten gebe es keinen Staat BIH. Volksgruppen, die in der jeweiligen Entität nicht konstitutiv seien, seien dort (lediglich) Bürger mit allen Rechten und Pflichten. Auf der Ebene von BIH seien alle Volksgruppen konstitutiv, nicht aber in den Entitäten; anderenfalls entfalle die raison d'être der Entitäten. Während der Richtermehrheit zuzustimmen sei, dass eine 79

Venice Commission, Opinions on the constitutional regime of BIH, Straßburg 1998 (Dok. CDL-INF (98) 15), S. 53 ff. so Sondervotum Zovko, abgedr. in: BIH Gesetzblatt 23/2000, S. 504 ff. 81

Unter Bezug auf Sondervotum Miljko. 82 Sondervotum Popovic, abgedr. in: BIH Gesetzblatt 23/2000, S. 500 ff.

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Bezeichnung des Landesteils RS als „Staat" unzulässig sei, sei die alleinige Erwähnung der serbischen Volksgruppe in der RSV-Präambel unschädlich, da dieser kein normativer Gehalt zukomme83.

6. Der Inhalt der weiteren Teilentscheidungen

7, 2 und 4

Die zahlreichen weiteren, in den Teilentscheidungen 1, 2 und 4 behandelten Klagegegenstände runden die Aussagen des Gerichts zum Konstitutivitätsprinzip ab und verdienen daher, kurz erwähnt zu werden. In Teilentscheidung 1 vom 29. / 30. Januar 2000 hat das Gericht die Bezeichnung der Landesteilgrenzen als „Staatsgrenzen" 84 (Art. 2 Abs. 2 RSV) als nicht mit der BIHV vereinbar bezeichnet, da sie nicht den in BIHV und AFRA 8 5 verwendeten Begriffen entspreche und allein für Staats-, nicht aber Landesteilgrenzen gebraucht werden dürfe. Bestimmungen in der RSV, welche die Auslieferung von RS-Bürgern regelten (Art. 6 Abs. 2), seien verfassungswidrig, da diese Fragen gemäß Art. III. 1 (g) BIHV in die Zuständigkeit des Gesamtstaats fielen. Gleiches gelte für die Gewähr von Asyl (Art. 44 Abs. 2 RSV gegenüber Art. III. 1 (f) BIHV). Zusatz LVII Teil 1 RSV, wonach im Falle auseinanderklaffender Menschenrechtsgewährleistungen in RS- und Bundesverfassung diejenigen Bestimmungen gelten sollen, die günstiger für den Betroffenen sind, sei verfassungsgemäß. Dies ergebe sich aus der relativen Verfassungsautonomie von Gliedstaaten sowie aus der Tatsache, dass auch die EMRK lediglich von einer „Minimalgewährleistung" spreche, welche Staaten nicht von weitergehenden Gewährleistungen abhalte (Art. 53 EMRK) 8 6 . Als verfassungskonform hat das Gericht auch Bestimmungen der RSV bezeichnet, wonach der RS-Präsident Leiter von RS-Vertretungen in ausländischen Staaten ernennen und abberufen sowie Botschafter und internationale Vertreter von BIH aus der RS vorschlagen kann (Art. 80 RSV). Gleiches gelte für die Befugnis der RS-Regierung, Vertretungen im Ausland zu errichten (Art. 90 RSV). Beide Bestimmungen ließen sich in Hinblick auf Teilzuständigkeiten der Landesteile im Bereich der Außenpolitik und der Außenhandelspolitik87 jedenfalls solange rechtfertigen, als sie nicht in Widerspruch zum alleinigen Außenvertretungsanspruch des Gesamtstaats BIH gerieten und - im Falle der Botschaftervorschläge - lediglich als solche und nicht als bindende Vorgaben für die Präsidentschaft des Gesamtstaats aufgefasst würden 88 . Die institutionelle Garantie einer Nationalbank der RS 83 Sondervotum Savie , abgedr. in: BIH Gesetzblatt 23/2000, S. 491 ff. 84 granica. 85 Dort wird als englischer Begriff bewusst der Ausdruck boundaries und nicht borders verwandt. 86 BIH Gesetzblatt 11/2000, Ziff. 32-34. 87 Vgl. Art. III. 2 (a) und (d) BIHV. 88 Ziff. 41 ff. (44).

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(Art. 98) und die Festlegung von deren Befugnissen (Art. 76 Abs. 2) seien verfassungswidrig, da Geldpolitik und Außenhandelspolitik in die ausschließliche Zuständigkeit des Gesamtstaats und der Nationalbank (von BIH) fielen 89 . Das den RS-Behörden eingeräumte Recht, zeitweilige Gegenmaßnahmen zu ergreifen für den Fall, dass Akte des Gesamtstaats oder des anderen Landesteils FBIH Gleichheit, Rechte oder Interessen der RS verletzten oder anderweitig gefährdeten (Art. 138 RSV), hat das Gericht mit der Begründung für verfassungswidrig erklärt, dass die ausschließliche Rechtsverwerfungsbefugnis und die Befugnis, bei derartigen Streitigkeiten erforderliche einstweilige Anordnungen zu erlassen, gem. Art. VI. 3 (a) BIHV bei ihm selbst, dem BIHVG, liege 90 . Weiterhin hatte das Gericht zwei inkriminierte Verfassungsbestimmungen des Landesteils FBIH zu prüfen. Dabei ist es zu dem Ergebnis gekommen, dass Art. II. A. 5 FBIHV i. V. m. Zusatz VII, in dem die Möglichkeit des Erwerbs einer zweiten Staatsangehörigkeit neben der von BIH eingeräumt wird, den gleichlautenden Vorgaben der BIHV entspreche und somit als rein deklaratorische Bestimmung mit dieser vereinbar sei. Art. IV. B. 8, wonach FBIH-Präsident und -Vizepräsident Leiter diplomatischer Vertretungen ernennen können, sei verfassungswidrig, da deren Ernennung allein durch die Präsidentschaft des Gesamtstaats BIH erfolge (Art. V. 3 (b) BIHV) 9 1 . Das abweichende Sondervotum von Gerichtspräsident Begic zu Zusatz LVII S. 1 RSV, den das Gericht als mit der Gesamtstaatsverfassung vereinbar bezeichnet hatte, weist darauf hin, dass die EMRK in der FBIHV lediglich am Rande und nicht zentral (wie in der BIHV) verankert sei, dass ferner der EMRK nicht per se Geltungsvorrang gegenüber einfachem RS-Gesetz zuerkannt werde und dass schließlich die RSV - anders als die BIHV - die bestehenden internationalen Menschenrechtsabkommen, insbesondere den Schutz von Flüchtlingen und Vertriebenen, nicht ausdrücklich als geltendes Recht aufführe. All dies ergebe eine grundlegende Schieflage im Vergleich beider Verfassungen und damit einen unzulässigen menschenrechtlichen Minderstandard nach RS-Verfassungsrecht 92. Teilentscheidung 2 vom 18./19. Februar 2000 befasste sich ausschließlich mit Fragen der Ausgestaltung von Eigentumsrechten nach der RSV (Art. 58 ff.). Dabei entwickelt das Gericht Vorstellungen einer institutionellen Eigentumsgarantie und bemüht sich um die Definierung des „Kernbereichs" von Eigentum. Von weitreichender Bedeutung sind die allgemeinen Ausführungen des Gerichts zur Zulässigkeit ungeschriebener Gesetzgebungskompetenzen des Gesamtstaats am Beispiel der Ausgestaltung von Eigentumsrechten. Art. 58 Abs. 1 RSV sieht vor, dass sog. „soziales Eigentum" per Gesetz in andere Eigentumsformen überführt werden kann; der Prüfung dieser Bestimmung93 schaltet das Gericht die Skizzie89 Ziff. 50, 52. 90 Ziff. 56. 91 Ziff. 65. 92 Sondervotum abgedr. in: BIH Gesetzblatt 17/2000, S. 374 f.

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rung der Eigentumsstandards nach der BIHV vor. Es bezeichnet die Kategorie des sozialen Eigentums als Teil des früheren kommunistischen Selbstverwaltungssystems, das nicht mit dem Eigentumsverständnis der Gesamtstaatsverfassung vereinbar sei. Nach Erwägung 4 der BIHV-Präambel seien Privateigentum und Marktwirtschaft zu fördern. Art. I. 4 BIHV gewährleiste den freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr in ganz BIH. Art. II. 3 (k) BIHV garantiere das Recht auf Eigentum. Aus dem Zusammenspiel dieser Gewährleistungen ergebe sich eine „institutionelle Eigentumsgarantie", aus der eine staatliche Pflicht zur Schaffung der erforderlichen Rahmengesetzgebung folge 94 . Diese dürfe nach der Rechtsprechung des EuGHMR die tatsächliche Existenz von Privateigentum als solchem nicht unmöglich machen. Nach der Rechtsprechung zentraleuropäischer Verfassungsgerichte stelle der so definierte Kernbereich des Grundrechts eine absolute Eingriffsgrenze dar 95 . Art. 58 Abs. 1 RSV könne daher nur insoweit (verfassungskonform) Bestand haben, als aus ihm die Pflicht folge, soziales Eigentum in andere Eigentumsformen, insbesondere Privateigentum, zu überführen 96. Art. 59 Abs. 1 - 3 RSV, wonach natürliche Rohstoffe, städtische Bauten, Grund und Boden sowie Gegenstände von besonderer wirtschaftlicher, kultureller und historischer Bedeutung oder von allgemeinem Interesse staatliches Eigentum darstellten, sei verfassungswidrig, da die Bestimmungen in den Kernbereich der institutionellen Eigentumsgarantie eingriffen. Verstaatlichungen im nicht ausdefinierten „allgemeinen staatlichen Interesse" seien ein wichtiges Element der (abgelösten) kommunistischen Verfassungsdoktrin gewesen97. Die Absätze 4 bis 5 der inkriminierten Vorschrift seien indes verfassungsmäßig, da die dort vorgesehene gesetzliche Regelung beim Umgang mit Gegenständen von kultureller, wissenschaftlicher, künstlerischer oder historischer Bedeutung oder von allgemeinem Interesse lediglich eine Begrenzung von Eigentumsrechten sei, die von Entschädigungsregeln begleitet werde und keine Enteignung der Eigentümer darstelle. Auch die in Art. 60 RSV enthaltene Gewährleistung der Eigentumsverhältnisse an bäuerlichem Land und Wald im Rahmen der Gesetze greife nicht in den Kernbereich der Eigentumsgarantie ein. Gleiches gelte für Art. 68 Abs. 1 Fall 6 RSV 98 .

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Unter sozialem Eigentum sind hauptsächlich Wohnungen zu verstehen, die offiziell in der Hand von Staatsbetrieben lagen, von diesen auf Dauer an ihre Beschäftigten vergeben und von letzteren als (soziales) Eigentum verstanden wurden. 94 BIH Gesetzblatt 17/2000, Ziff. 14. In Ziff. 28 verweist das Gericht dementsprechend auf das im August 1998 erlassene Privatisierungsgesetz für Unternehmen und Banken in BIH (BIH Gesetzblatt 14/1998 vom 4. 8. 1998). 95 Ziff. 15. 96 Ziff. 19. 97 Ziff. 21. 98 Gesetzgebungszuständigkeit für Eigentumsregelungen aller Art, insbesondere von Unternehmen und Organisationen, Vereinen, Kammern sowie deren Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland.

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In seinem Sondervotum zu Teilentscheidung 2 hat Richter Danelius alle geprüften Bestimmungen der RSV für verfassungsgemäß befunden. Unter Hinweis auf Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK und dessen Auslegung durch den EuGHMR" hat er darauf hingewiesen, dass das Eigentumsrecht als individuelles Recht ausgestaltet sei. Es schütze das Eigentum, das ein Einzelner besitze, nicht aber das Recht, weiteres Eigentum in Zukunft zu erwerben. Es beinhalte keine Verpflichtung hinsichtlich der Ausgestaltung des sozialen oder wirtschaftlichen Systems eines Landes. Erwähnenswert sind die allgemeinen Ausführungen des Gerichts zur Kompetenzverteilung zwischen Gesamtstaat und Landesteilen. Danach „begründet die BIHV nicht nur Zuständigkeiten mittels der in Art. III enthaltenen allgemeinen Kompetenzzuweisungen. Durch die Begründung von Institutionen des Gesamtstaats BIH hat die Verfassung diesen auch mehr oder weniger spezifische Kompetenzen gegeben, wie aus Art. IV. 4 (Parlament) und Art. V. 3 (BIH-Präsidentschaft) ersichtlich, die beide nicht ausdrücklich in der allgemeinen Vorschrift des Art. III. 1 enthalten sind. Der Präsidentschaft etwa obliegt die zivile Befehlsgewalt über die Militärstreitkräfte (Art. V. 5), auch wenn Art. III. 1 sich nicht ausdrücklich auf militärische Angelegenheiten als solche der Gesamtstaatsinstitutionen bezieht. Hieraus kann gefolgert werden, dass Angelegenheiten, die nicht ausdrücklich in Art. III. 1 aufgeführt sind, nicht notwendigerweise in die ausschließliche Zuständigkeit der Landesteile fallen, ebenso wie letztere ungeschriebene Zuständigkeiten auf Gebieten haben mögen, welche in der Verantwortung der Gesamtstaatsinstitutionen stehen" 100 .

In Teilentscheidung 4 vom 18./19. August 2000 hat das Gericht Bestimmungen in beiden Landesverfassungen, welche das Serbische (Art. 7 RSV) bzw. das Kroatische und Bosniakische (Art. I. 6 Abs. 1 FBIHV) zur jeweils offiziellen der drei bestehenden Sprachen erklären, wegen offensichtlicher Diskriminierung für verfassungswidrig erklärt 101 . Weitreichende Regelungen zu Fragen der Befehls- und Organisationsgewalt in beiden Landesverfassungen (Art. 80 Abs. 1 i. V. m. Zusatz X L Fall 1, Art. 106 Abs. 2 RSV, Art. III. 1 (a) i. V. m. Zusatz VIII, Art. IV. B. 7 (a) FBIHV) hat das Gericht unter der Vorgabe der Berücksichtigung der überwölbenden Befugnisse der Präsidentschaft und des Ständigen Ausschusses für Militärfragen des Gesamtstaats verfassungskonform ausgelegt102. Unter Diskriminierungsgesichtspunkten hat das Gericht die Bestimmung in Art. 68 Fall 16 RSV aufgehoben, wonach die RS ihre Zusammenarbeit „mit dem serbischen Volk" außerhalb der RS regeln kann 103 . Auch die privilegierte staatliche Unterstützung für die serbisch-orthodoxe Kirche (Art. 28 Abs. 4 RSV) hat das Gericht für verfassungs99 Fall Marchc gegen Belgien, Urteil vom 13. 6. 1979, Slg. Nr. 31. 100 Ziff. 12. ιοί Zur Sprachenfrage s. den Beitrag von Hans Jochen Peters in diesem Band. 102 Bundesgesetzblatt 36/2000, Ziff. 50 ff., 67 ff. ι 0 3 Ausdrücklich für zulässig erachtet wurde dagegen die Bestimmung in Art. 4 RSV, wonach die RS Abkommen über Sonderbeziehungen mit der Volksrepublik Jugoslawien und deren Mitgliedsrepubliken schließen darf, Ziff. 16.

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widrig erklärt, vor allem vor dem Hintergrund anhaltender Diskriminierung anderer Religionen in der RS 1 0 4 . Die (bosnisch-serbischen) Richter Popovic und Savie haben abweichende Sondervoten abgegeben, die im Grundtenor besagen, dass die Hervorhebung serbischer Elemente keine Diskriminierung nicht-serbischer Elemente darstelle (grenzüberschreitende Zusammenarbeit, Kirche, Sprache) 105.

V. Bewertung der Entscheidung Die Klage des bosniakischen Präsidiumsmitglieds Izetbegovic hat das Gericht einem verfassungsrechtlich und politisch hochbrisanten Bewährungtest ausgesetzt, den es - beinahe wider Erwarten - bestanden hat. Der Streitgegenstand war angesichts des anhaltenden Flüchtlingselends und der de facto fortbestehenden Vertreibung großer Teile der Bevölkerung aus ihrer früheren Heimat emotional aufgeladen. Viele Erwägungen in der Begründung machen deutlich, dass es der Gerichtsmehrheit darum ging, etwas an der gewillkürten Flüchtlingsmisere vor allem in dem serbisch dominierten Landesteil RS zu ändern. Zugleich wurden zahlreiche seit Dayton offen gebliebene Fragen der staatsrechtlichen Konstruktion von BIH neu aufgerollt. Für das Gericht war es das erste inhaltlich bedeutsame Verfahren seiner jungen Geschichte. Es fand in einer politischen Umgebung statt, die unabhängige verfassungsgerichtliche Letztentscheidungen nicht kennt und nicht mit der Selbstverständlichkeit akzeptiert, wie dies in modernen europäischen Staaten der Fall ist. Schließlich teilt auch das BIHVG die landestypischen Schwierigkeiten der Selbstbehauptung, mit denen die - wenigen - Institutionen des Gesamtstaats BIH (Präsidentschaft, Parlament, Ministerrat, Zentralbank) konfrontiert sind. Vor dem Hintergrund dieser widrigen Umstände ist bereits die Tatsache ein Erfolg, dass das Gericht zu einer Entscheidung gefunden hat. Nach dem unerwarteten Ausscheiden eines (bosnisch-serbischen) Gerichtsmitglieds im Frühjahr 2000 war eine Zeit lang unklar gewesen, ob am Ende noch eine Beschlussfähigkeit garantiert sein würde. Es mag der Entschlusskraft des Gerichtsvorsitzenden Begic, der Konstruktivität der drei internationalen Richter und der Unterstützung zu verdanken sein, die das Gericht als Ganzes seitens der Internationalen Gemeinschaft erfuhr 106 , dass die vier Teilentscheidungen - einschließlich der herausragenden dritten - am Ende zustande kamen. Dies ist in der Verfassungswirklichkeit von BIH nicht selbstverständlich.

104 Vgl. Ziff. 47/48. 105 Gemeinsames Sondervotum Popovic / Savie, abgedr. in: BIH Gesetzblatt 36/2000, S. 961 f. 106 Die Bundesrepublik Deutschland hat das Gericht von Beginn an und bis heute mit Ausstattungshilfe und personeller Beratung unterstützt. Im Frühjahr 2000 hatte u. a. ein Besuch aller Richter beim BVerfG in Karlsruhe stattgefunden. In diesem Band findet sich auch ein Beitrag des deutschen Beraters am Gericht (Christian Steiner). 6 Graf Vitzthum/Winkelmann

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Die Aussagen des Gerichts zu der Vielzahl von Einzelaspekten werden das politische Leben in BIH in den nächsten Jahren prägen. Das Gericht hatte im Kern darüber zu befinden, wie eigenständig-souverän sich die beiden Landesteile von BIH organisieren dürfen. In beiden Landesteilen eignet(e) den Verfassungen die Tendenz, einzelne Volksgruppen zu privilegieren (Kroaten und Bosniaken in der FBIH, Serben in der RS) und Elemente eigener Staatlichkeit überzubetonen (letzteres vor allem in der RS). Hier hat das Gericht einen klaren Riegel vorgeschoben und dies v. a. durch eine Betonung der menschenrechtlichen Gewährleistungen und Rückgriffe auf ausländische Verfassungs- und internationale Menschenrechtsrechtsprechungen erreicht. Nicht immer hat es dabei einen stringenten und klaren Argumentationsstrang verfolgt. Dies ist nicht weiter verwunderlich angesichts einer nicht vorhandenen eigenen Verfassungsrechtsprechung und angesichts solch politisch befrachteter und rechtlich unklarer Vehikel wie dem des „Konstitutivitätsprinzips". Zum Konstitutivitätsprinzip lassen sich zwei Aussagen des Gerichts festhalten: a) das Prinzip verbietet die ungerechtfertigte Privilegierung einzelner Volksgruppen, b) es steht einem Regierungsmonopol oder einer ethnischen Homogenisierung der Bevölkerung entgegen, wenn diese durch bewusste räumliche Trennung herbeigeführt werden. Mit diesen Aussagen hält das Gericht die Möglichkeit der Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen in ihre frühere Heimat offen. Es betont, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe per se niemanden von der Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben ausschließen darf. Mit seinen Aussagen stärkt das Gericht auch die Einheitlichkeit des Gesamtstaats BIH, da es klarstellt, dass keiner der beiden Landesteile ausschließlich einer oder zwei Volksgruppen „zugeordnet" werden darf. Zwangsläufig setzt sich das Gericht in Gegensatz zu Bestrebungen betont „völkisch" denkender Kroaten und Serben, die ihre Vormachtstellung in dem jeweiligen Landesteil behaupten bzw. ausbauen wollen und den Gesamtstaat lediglich als einen aus den Landesteilen abgeleiteten Staatenbund ansehen107. Hieraus erklärt sich die ζ. T. krasse Ablehnung der Entscheidung durch die je zwei kroatischen bzw. serbischen Gerichtsmitglieder. Dabei darf indes nicht übersehen werden, dass alle der dissentierenden Richter erheblichem Druck auch von Seiten der nationalistischen Parteien ihrer jeweiligen Volksgruppe ausgesetzt gewesen waren. Auch haben sie letzlich - trotz ihrer umfänglichen Sondervoten - bis zum Schluss an der Entscheidung formal und - wenn auch nicht immer ganz uneingeschränkt - loyal mitgewirkt. Die Sondervoten überzeugen dort, wo sie vor einer Überschätzung des Konstitutivitätsprinzips der Präambel warnen. In der Tat kann dem schwedischen Richter Danelius darin beigepflichtet werden, dass die das Konstitutivitätsprinzip beinhaltende Erwägung der Präambel lediglich auf die Verfassungsgeber, darunter auch und gerade die Volksgruppen, hinweist, deren Benennung als „konstitutiv" aber schwerlich mit konkreten Inhalten verbunden werden kann 108 . 107 Dazu Stahn (Fn. 3), S. 680 f. i° 8 Ebenso Maziau (Fn. 19), Passage vor A.

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Wer dies tut, läuft Gefahr, ethnische Komponenten überzubetonen anstatt sie abzubauen. Erkennbar ist, dass es den Sondervotanten mit ihrer Argumentation zugleich darum ging, der kroatischen Volksgruppe in der FBIH und der serbischen in der RS ihre Dominanz zu erhalten. Die Gerichtsmehrheit hat diese Gefahr klar gesehen und gegengesteuert. Die beiden Landesteile können sich nicht darüber beklagen, dass das Gericht ihnen keinen Freiraum belassen hätte. Mit Hilfe des Instruments verfassungskonformer Auslegung sind erhebliche Manövrierräume der Landesteile im Bereich des Äußeren (Zulässigkeit der Eröffnung eigener Büros im Ausland, Zulässigkeit von Sonderbeziehungen zu den Nachbarstaaten) und im Bereich des Militärischen (weitgehend eigene Organisationshoheit) bestätigt worden. Lediglich in Fragen der staatsrechtlichen Souveränität, der Zentralbankbefugnisse, des Privateigentums, der Sprache und der Kirchenbeziehungen hat das Gericht die Alleinzuständigkeit des Gesamtstaats bzw. das Verbot der Diskriminierung einzelner Volksgruppen deutlich herausgestrichen. In staatsorganisationsrechtlicher Hinsicht stärkt die Entscheidung die bundesstaatlichen Elemente von B I H 1 0 9 . Zum einen erfolgt dies durch die Entscheidung selbst, mit der das BIHVG seine bundesstaatliche Autorität unter Beweis stellt. Vorwürfe in den Sondervoten in Hinblick auf Verfahrensverstöße und fehlendes judicial restraint zielen erfolglos darauf ab, die Legalität des Urteils in Frage zu stellen. Die geäußerten Befangenheitsvorwürfe gegen den berichterstattenden Richter verlieren spätestens dann an Stichhaltigkeit, wenn man sich vor Augen hält, dass kaum einer der sechs einheimischen Richter mit seinen Rechtsauffassungen während des laufenden Verfahrens hinter dem Berg gehalten hat. Das bosnisch-serbische Gerichtsmitglied Savie hat etwa im Jahr 1999 in einer öffentlichen Monographie die Abweisung der anhängigen Klage gefordert, ohne dass dies indes von irgendeinem der übrigen Richter oder Beteiligten je als Befangenheit gerügt worden wäre 110 . Eine weitere Stärkung bundesstaatlicher Elemente liegt in der Feststellung der ausschließlichen Staatlichkeit des Gesamtstaats sowie in der Entwicklung von ungeschriebenen konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten des Gesamtstaats am Beispiel der Eigentumsgewährleistung. Die in den Sondervoten zum Ausdruck kommende Auffassung, Eigenständigkeit und Staatlichkeit der Landesteile ergebe sich aus den zahlreichen Abkommen im Vorfeld der Dayton-Verhandlungen und sei durch den Präambelhinweis auf die in Genf ausgehandelten Prinzipien abgesichert, überzeugt nur auf den ersten Blick. Sie übersieht, dass mit dem AFRA und der neuen Verfassung ein neues Staatswesen begründet und 109 Ähnlich auch Stahn (Fn. 3), 683; zur Einordnung als Bundesstaat s. bereits Graf Vitzthum (Fn. 58), S. 99 f.; nicht eindeutig N. Pobric, Das Recht der Volker auf Selbstbestimmung und die Verfassung von Bosnien und Herzegowina, in: Zentrum für wissenschaftliche Forschung, 1988, S. 211 ff. (215 ff.: „dualer Föderalismus", „ethnische Kooperation eigener Art"). 110

S. 62. 6*

S. Savie, The Republic of Srpska after Dayton Peace Agreement, Banja Luka 1999,

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den Landesteilen übergeordnet worden ist. Frühere Vereinbarungen sind derogiert, soweit ihr Fortbestand nicht ausdrücklich festgelegt worden ist. Die Verhandlungen seit 1992 sowie die von Dayton belegen ausdrücklich, dass nicht an die Begründung von zwei oder drei (ethnisch homogenen) Staaten gedacht war, da dies gleichbedeutend mit der Akzeptanz der vorangegangenen „ethnischen Säuberungen" gewesen wäre. Ziel der Verhandlungen war vielmehr ein einheitlicher Gesamtstaat, in den sich zwei starke Landesteile einfügen, denen zwar in vielerlei Hinsicht Konzessionen gemacht worden sind, dies aber im wahrsten Sinne nur um des lieben Friedens willen.

VI. Ausblick Nahziel der Internationalen Gemeinschaft im Verlauf des Jahres 2001 war, die vom Gericht für ungültig erklärten Landesverfassungsbestimmungen zu ersetzen. Hierzu wurden erste Vorschläge internationaler Expertengremien vorgelegt, die von den Landtagen in FBIH und RS beraten / verabschiedet werden sollten. Manchen dieser Vorschläge wohnte die Tendenz inne, aus dem Urteil herauszulesen, das BIHVG fordere eine institutionelle Stärkung der kollektiven Gruppenrechte einzelner Volksgruppen in beiden Landesteilen. So wurde vorgeschlagen, dass jede Volksgruppe künftig das Recht erhalten sollte, innerhalb von Verfassungskommissionen „vitale Interessen" geltend zu machen, mit Hilfe derer Gesetzentwürfe zu Fall gebracht werden können 111 . Statt ethnisch definierte Machtpositionen abzubauen (Prototyp: die bestehende Volksgruppenkammer in der FBIH als zweite Parlamentskammer, die sich aus ethnisch definierten Abgeordneten zusammensetzt), wurden vergleichbare Mechanismen unter Gesichtspunkten kurzfristiger Politikpragmatik befürwortet. Es dürfte nicht ausgemacht sein, ob Vorschläge dieser Art letztlich zu mehr Befriedung und Stabilisierung des Gesamtstaats führen. Nicht auszuschließen ist die Gefahr, dass die Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen künftig weiter erschwert und ethnische Konsensentscheidungen zementiert werden. Als Alternative hierzu wäre eher in Betracht gekommen, weiterhin kontinuierlich und geduldig ethnische Konzeptionen abzubauen112 und an ihre Stelle neutra-

111 S. die Vorschläge der sog. task force for constitutional amendments of the constitutions of the entities of BIH, einem achtköpfigen Expertengremium mit Vertretern von VenedigKommission, OHR und OSZE, vom 19./20. 1. 2001, von OHR im Februar 2000 an die zuständigen Organe der Landesteile FBIH und RS versandt; s. hierzu auch Venedig-Kommission in Dok. CDL-INF (2001) 6 vom 12. 3. 2001; bereits zuvor hatte das OHR in seiner Entscheidung 81/01 vom 11. 1. 2001 eine Umgestaltung der Verfassungskommissionen der Landtage vorgenommen und dort die Möglichkeit für die Volksgruppen geschaffen, „vitale Interessen" geltend zu machen. Im Sommer 2001 standen zwei sechzehnköpfige, auf Ernennungen des OHR beruhende Ausschüsse in RS und FBIH kurz davor, Vorschläge zur Anpassung der Landesverfassungen vorzulegen. S. ergänzend u. VII (Nachtrag). 112 Ebenso Stahn (Fn. 3), S. 696; krit. zum bisherigen Vorgehen des OHR O. Ibrahimagic, Supremacy of BIH over its entities, 2. Aufl., Sarajewo 1999.

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le, ausschließlich an Territorial- und Mehrheitskriterien orientierte Mechanismen zu setzen. Es ist zu erwarten, dass die Diskussionen um neue Formen der staatlichen Organisation von BIH anhalten. Von bosniakischer Seite wird mit einer Abschwächung „völkischer" Kriterien oft die Abschaffung der Landesteile und deren Ersetzung durch (vielzählige) Kantone verbunden 113. Ebensolches befürchten bosnisch-serbische Politiker, die den Bestand der RS sicherstellen wollen, die sie - verfassungsrechtlich zu Unrecht - als das „Ihrige" ansehen114. Bosnische Kroaten wiederum dürften mit Vorschlägen nach einer weitergehenden Kantonalisierung von ganz BIH insgeheim ethnisch homogene (kroatische) Kantone im Südwesten des Landesteils FBIH im Auge haben 115 . Noch nicht richtig angedacht worden ist bislang die Möglichkeit, mehrere Landesteile / Entitäten ohne Kantone zu schaffen und dadurch das bündische Zusammenspiel weniger polarisiert zu gestalten. Unabdingbar wäre dabei, dass diese Einheiten weder ethnisch gestaltet noch separatistisch ausgerichtet sind. Einen solchermaßen gegliederter Gesamtstaat könnte man sich beispielsweise in Gestalt der Bestandteile Ost- und West-RS, Sonderbezirk Brcko, eines geeinten Hauptstadtbezirks Sarajewo sowie einer in zwei Teile aufgespaltenen FBIH als zukünftige Vision vorstellen. Möglicherweise würde dies die emotionale 116 Einbindung der Menschen in das föderative Gefüge des Gesamtstaats erleichtern. Entscheidend ist zunächst ein umfassender und befriedigender Abschluss des Prozesses der Flüchtlingsrückführung. Auf mittlere Sicht wird sich das AFRA konsumieren. Der Fall wird eintreten, wenn ein Wiederaufflammen von kriegerischen Auseinandersetzungen aus- und der Rückkehrprozess der Flüchtlinge abgeschlossen ist. Nicht erst dann wird sich die Frage stellen, ob eine Verfassung, die 1995 aus der Notwendigkeit eines dauernden Waffenstillstands 117 resultierte, in dem dafür vorgesehenen Verfassungsverfahren verbessert werden kann 118 . Mit den derzeit an der Tagesordnung befindlichen Konsensentscheidungen, ethnischen Dreifachbesetzungen und Kurzzeitrotationen von staatlichen Spitzenämtern wird und kann Bosnien-Herzegowina den ersehnten Anschluss an europäische Strukturen nicht schaffen. Je schneller der Prozess der Flüchtlingsrückkehr befriedigend abgeschlossen werden kann, desto schneller kann die Neuausrichtung der bestehenden Verfassungsstrukturen erfol113 Etwa O. Ibrahimagic, Constitutional development of Bosnia and Herzegowina, Sarajewo 1998, S. 122 ff. 114 S. nur die Ausführungen im Sondervotum Popovic , ο. IV. 5. 115 Vgl. Presidency of BIH - Office of the Croat member (Hrsg.), Response from the Croat leadership on the process of deconstituization of the Croats in BIH, Sarajewo 2000, S. 55. 116 Vgl. W. Graf Vitzthum, Der Föderalismus in der europäischen und internationalen Einbindung der Staaten, AöR 115 (1990), S. 281 ff. (302 f.). 117 Dies wird auch in BIH so gesehen, s. etwa: Ζ Pajic, Organisation and functions of state power in B-H - assessment and suggestions, in: Helsinki Citizens Assembly (Hrsg.), The Dayton Peace Agreement - four years of experience, Sarajewo 2000, S. 28. 118 Democratic Alternative BIH, in: Helsinki Citizens Assembly, ebd., S. 73, position 2.

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gen. Falls es zu einer vernünftigen Umsetzung des Urteils kommt, mag sich die Entscheidung des BIHVG eines Tages als Meilenstein auf dem langen Weg von Bosnien-Herzegowina nach Europa erweisen.

VII. Nachtrag Die Bemühungen um die innerstaatlichen Konsequenzen aus dem Urteil sind nach Abfassung dieses Beitrags weitergegangen. Nachdem die Arbeiten der Verfassungsausschüsse der beiden Landesparlamente 119 insbesondere im Landesteil FBIH ins Stocken gerieten, verordnete HR Petritsch als eine seiner letzten Amtshandlungen am 12. April 2002 entsprechende Anpassungen beider Landesverfassungen und des Wahlgesetzes120. Er stützte sich dabei auf das sog. Abkommen von Mrakovica-Sarajewo vom 27. März 2002, in dem nach mühseligen Verhandlungen unter allen Beteiligten, insbesondere den Regierungsparteien 121 des Landes, ein Kompromiss über die Grundzüge der erforderlichen Anpassungen erreicht worden war. Die Anpassungen bezogen sich u. a. auf das (Drei-)Sprachenregime und die Zugrundelegung eines ethnischen Proporzes bei der personellen Besetzung von Institutionen in beiden Landesteilen. Ebenso wurde nunmehr auch im Landesteil RS ein Volksgruppenrat eingerichtet, in dem Gesetze, die vitale nationale Interessen der Volksgruppen betreffen, noch einmal überprüft werden können. Es bleibt zu hoffen, dass die positiven Seiten dieser Regelung - Reflektion der Multiethnizität von Bosnien-Herzegowina, Beförderung der Flüchtlingsrückkehr, Symmetrie der Landesteile - auf lange Sicht die negativen (Prädominanz ethnischer Bindungen, ethnische Interessenvertretung, Schwächung bündischer Prinzipien) überwiegen. Dann würde auch die Diskussion um ein „Dayton II" endgültig beendet.

119 S.o.Fn. 111. 120 Entscheidung 150/02 des HR vom 19. 4. 2002. - S. ergänzend o. Geleitwort. 121 In der Opposition verharrten die nationalistischen Parteien SD A (Bosniaken) und HDZ (bosnische Kroaten).

Der Beitrag der Venedig-Kommission Von Thomas Markert*

I. Die Ausgangslage 7. Die Venedig-Kommission

und ihre Rolle

Die Venedig-Kommission heißt eigentlich Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, wird aber nach ihrem Tagungsort allgemein Venedig-Kommission genannt. Sie wurde durch ein Teilabkommen des Europarats im Jahre 1990 gegründet1. Teilabkommen bedeutet, dass Mitgliedstaaten des Europarats nicht automatisch auch an den Aktivitäten der Kommission beteiligt sind, sondern eigens beitreten müssen. Dies haben allerdings mit Ausnahme von Russland mittlerweile alle 41 Mitgliedstaaten des Europarats getan. Nichtmitgliedstaaten des Europarats wie BIH nehmen an den Aktivitäten als assoziierte Mitglieder teil. Gemäß dem Statut der Kommission benennen die teilnehmenden Staaten jeweils einen international bekannten Experten im Bereich des Staatsrechts und der politischen Wissenschaften als Mitglied der Kommission. Die Mitglieder der Kommission sind von den Regierungen unabhängig. Es handelt sich meist um Professoren des Staatsrechts, hohe (überwiegend Verfassungs-)Richter oder Parlamentarier mit juristischem Hintergrund. Deutsches Mitglied ist seit Beginn Helmut Steinberger (Heidelberg). Ursprüngliche Hauptaufgabe der Kommission war die Beratung der Staaten Mittel- und Osteuropas bei der Abfassung ihrer neuen, demokratischen Verfassungen und anderer Gesetze im Bereich des Staatsrechts. Neuerdings gewinnt die Stellungnahme zu Verfassungsreformen in diesen Staaten oder zu wichtigen verfassungsrechtlichen Einzelproblemen immer mehr an Gewicht. Während die Beratung bei der Abfassung von Verfassungen in der Regel auf einer Anfrage der jeweiligen Regierung beruht, erfolgt die Analyse von Einzelproblemen oft auf Anfrage der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die Rechtsgutachten im Rahmen ihrer Kontrolle der Einhaltung der Verpflichtungen durch die Mitgliedstaaten des Europarats benötigt. Zunehmend wird der Rat der Kommission auch für rechtliche Regelungen in Spannungsgebieten wie Kosovo, Transnistrien oder Abchasien gesucht2. * Manuskript abgeschlossen im Mai 2001. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verf. wider. 1 Resolution (90)6 des Ministerkomitees vom 10. 5. 1990.

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In Bosnien ist Hauptauftraggeber der Kommission der HR beziehungsweise dessen Büro (OHR). Der HR hat aufgrund des Daytoner Abkommens und der zusätzlichen sog. Bonner Befugnisse 3 sehr viel Macht und ist daran interessiert, seine Entscheidungen auf unabhängige internationale Gremien stützen zu können. Aufgrund seiner Anfragen hat sich die Kommission oft mit Fragen der Verfassung von BIH auseinandergesetzt, die noch vom bosnischen Verfassungsgericht zu entscheiden sein werden. Dies war notwendig, da das Gericht politische und organisatorische Anfangsschwierigkeiten hatte und naturgemäß auch nur Fragen entscheiden kann, zu denen es angerufen wird. Demgegenüber konnte mit dem Aufbau neuer Strukturen nicht bis zu einer abschließenden Klärung der Rechtsfragen durch das Gericht gewartet werden. Die neueren Entscheidungen des Gerichts, insbesondere diejenige zu den „constituent peoples", zeigen jedoch, dass die Bedeutung des Gerichts zunimmt.

2. Die Besonderheiten der föderalen Struktur Bosnien-Herzegowinas Zum besseren Verständnis der Rolle der Venedig-Kommission in BIH ist es unerlässlich, sich einige Grundgegebenheiten des Föderalismus in diesem Land vor Augen zu führen. In BIH besteht die (wohl einzigartige) Situation einer extrem dezentralisierten Föderation innerhalb einer Föderation. Von den beiden sogenannten Entitäten hat sich zwar die eine, die Republika Srpska, als Zentralstaat etabliert. Dagegen ist die Föderation von BIH ein aus 10 Kantonen bestehender Bundesstaat, in dem zumindest nach dem Verfassungstext fast alle Kompetenzen bei den Kantonen liegen. Dementsprechend stellen sich Probleme der Kompetenzabgrenzung oft parallel zwischen dem Gesamtstaat und den Entitäten einerseits und zwischen Föderation und Kantonen andererseits. Diese Situation ist Folge der historischen Entwicklung. Die Föderation ist durch die Washington Agreements von 1994 gegründet worden und die Verfassung der Föderation ist Bestandteil dieser Agreements. Ziel der von den Amerikanern vermittelten Agreements war, den Konflikt zwischen Bosniaken und Kroaten zu beenden und einen Interessenausgleich zwischen beiden Volksgruppen herbeizuführen. Gleichzeitig sollte die Föderation auch für den Beitritt der Serben offen sein, und der ursprüngliche Text der Verfassung verwies darauf, dass der Status der Gebiete der Republik BIH mit überwiegend serbischer Bevölkerung noch nicht geklärt 2 Zur Venedigkommission allg. s. G. Buquicchio/P. Garrone, Vers un espace constitutionnel commun? Le rôle de la Commission de Venise, in: Law in Greater Europe, Studies in honour of Heinrich Klebes, Den Haag 2000, S. 3 ff.; G. Malinverni, L'expérience de la Commission de Venise pour la démocratie par le droit, Revue universelle des droits de l'homme 1995, S. 386 ff. Nähere Informationen im Internet unter http://www.venice.coe.int. Dort sind auch die unten angeführten Dokumente zugänglich. 3

Conclusions of the Bonn Peace Implementation Conference vom 10. 12. 1997.

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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sei4. Die historische Entwicklung verlief jedoch anders: Anstelle des Beitritts der serbischen Gebiete zur Föderation erfolgte in Dayton die Fortsetzung der Republik Bosnien und Herzegowina als Staat BIH, in dem die Föderation nur eine von zwei Entitäten ist 5 . Dies führte jedoch nicht zu einer Zentralisierung innerhalb der Föderation, da Kroaten und Bosniaken eher durch äußeren Druck zusammengezwungen als durch eigene Uberzeugung verbunden waren. Auf kroatischer Seite bestand keinerlei Bereitschaft, Befugnisse von den Kantonen auf die Ebene der Föderation zu übertragen. Vielmehr hatte die Föderation selbst größte Schwierigkeiten, überhaupt gemäß ihrer verfassungsrechtlichen Struktur zu funktionieren, und die kroatischen Gebiete wurden weitgehend im Rahmen der illegalen Herceg-Bosna Strukturen verwaltet 6. Der Gesamtstaat und die Föderation weisen in vielen Bereichen parallele Strukturen auf. Dies betrifft nicht nur die extrem dürftigen Kompetenzen des jeweiligen Bundesstaats, sondern auch das hohe Gewicht der Menschenrechte innerhalb der Verfassung und die Inkorporierung der internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte in die Verfassung, ein ausgeklügeltes System zur Verteilung aller wichtigen Posten auf Vertreter der jeweiligen staatstragenden Volksgruppen sowie Entscheidungsprozesse, die einen Konsens der Volksgruppen erfordern. Es ist nicht zu verkennen, dass beide Texte weitgehend von denselben amerikanischen Autoren stammen. Ein entscheidender konzeptioneller Unterschied besteht allerdings zwischen dem Föderalismus des Gesamtsstaats und dem der Föderation. Während im Gesamtstaat die beiden Entitäten der Aufteilung auf die Volksgruppen Bosniaken und Kroaten einerseits, Serben andererseits entsprechen, umfasst die Föderation nicht zwei Entitäten für die zwei Volksgruppen, sondern zehn Kantone. Diese Kantone sind allerdings aufgeteilt in bosniakische, kroatische und gemischte Kantone, und Art. V. 3 der Föderationsverfassung sieht vor, dass Kantone mit überwiegend bosniakischer und Kantone mit überwiegend kroatischer Bevölkerung ihre Tätigkeiten untereinander koordinieren können. Nichtsdestoweniger bietet dieses Kantonalprinzip im Prinzip die Chance, Konflikte nicht stets auf der Ebene der Volksgruppen untereinander auszutragen. Diese Chance ist allerdings bisher in BIH nicht genutzt worden.

4 Die urspüngliche Fassung des Art. 1 Abs. 2 der Verfassung lautete: „Decisions on the constitutional status of the territories of the Republic of Bosnia and Herzegovina with a majority of Serb population shall be made in the course of negotiations toward a peaceful settlement and at the ICFY." 5

Für eine ausführliche Darstellung der geschichtlichen Entwicklung vom Zerfall Jugoslawiens bis zum Daytoner Abkommen siehe J. Marko, The Ethno-national Effects of Territorial Delimitation in Bosnia and Herzegovina, in: Local Self-Government, Territorial Integrity and Protection of Minorities, Veröffentlichung Nr. 29 des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung, Zürich 1996, S. 121 ff. 6 Siehe den Bericht der European Stability Initiative vom Oktober 1999, Reshaping International Priorities in Bosnia and Herzegovina, Part I.V.A: HVO-controlled areas of the Federation, unter http://www.esiweb.org.

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Es ist nicht zu übersehen, dass der bosnische Föderalismus zweideutig ist und die Verfassungstexte keine eindeutige Entscheidung zwischen einem territorialen Föderalismus, in dem die Einheiten die Staatsbürger des jeweiligen Gebietes vertreten, und einem Ethno-Föderalismus, in dem die Einheiten als Vehikel für die Repräsentation bestimmter Volksgruppen verstanden werden, treffen 7. Das bosnische Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu den „constituent peoples"8 einen wichtigen Schritt getan, der Ansatzpunkte für einen territorialen Föderalismus bieten könnte. Das Verfassungsgericht hat die jeweils in Art. 1 der Entitätsverfassungen erfolgte Hervorhebung bestimmter Volksgruppen (Serben in der RS, Kroaten und Bosniaken in der FBIH) für verfassungswidrig erklärt. Innerhalb der Gesamtstaatsverfassung bleiben die drei „constituent peoples" und deren Privilegien allerdings erhalten und das Verfassungsgericht hat kaum die Möglichkeit, Teile der Gesamtstaatsverfassung für verfassungswidrig zu erklären.

II. Die erste Phase - Klärung von Grundsatzfragen bei der Errichtung der neuen Institutionen In den Jahren 1994 und 1996 wurde die Venedig-Kommission erstmals mit Fragen des bosnischen Föderalismus befasst. Die in dieser Periode angesprochenen Fragen sind überwiegend von grundsätzlicher Bedeutung und zu einem großen Teil auch heute noch unvermindert aktuell.

1. Stellungnahme zur Verfassung der Föderation von Bosnien-Herzegowina Im Mai 1994 bat das Ministerkomitee des Europarats die Venedig-Kommission um eine Stellungnahme zu den verfassungsrechtlichen Aspekten einer Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung, die die Vereinbarung der Föderationsverfassung begrüßte. Die Stellungnahme der Venedig-Kommission9 war an sich nicht zur unmittelbaren Beeinflussung der Lage in BIH gedacht und könnte deswegen als weniger bedeutsam erscheinen. Sie ist jedoch aus zwei Gründen interessant: zum einen tauchen hier zum ersten Mal Probleme auf, die die Kommission noch mehrfach beschäftigen sollten. Zum anderen sollte die Initiative sozialdemokratischer

7 Ausführlich zu dieser Problematik J. Marko , Bosnia and Herzegovina - Multi-Ethnic or Multinational?, in: Societies in conflict: the contribution of law and democracy to conflict resolution, Science and Technique of Democracy No. 29, Council of Europe Publishing, Strasbourg 2000, S. 92 ff. 8 Third Partial decision in Case 5/98 vom 1. 7. 2000: http://www.ustavnisud.ba. 9 Opinion on certain aspects of the constitutional situation in Bosnia and Herzegovina, abgedr. in: Dokument CDL-Inf (98)15, Opinions on the constitutional regime of Bosnia and Herzegovina, S. 26 ff.

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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Abgeordneter im Föderationsparlament zur Reform der Föderationsverfassung im Jahr 2000 die Kritik der Kommission aufgreifen 10. In Bezug auf die Menschenrechte begrüßte die Kommission in ihrer Stellungnahme die Inkorporierung internationaler Schutznormen in die Verfassung, befürchtete aber zugleich mögliche Widersprüche durch die Geltung zu zahlreicher Normen. Auch die wichtige Rolle des Ombudsman bedürfe noch weiterer Klarstellung. Die Aufteilung der Kompetenzen zwischen Föderation und Kantonen erschien der Kommission fragwürdig. Die residuelle Kompetenz liegt ausdrücklich bei den Kantonen. Daraus wäre zu folgern, dass alle nicht ausdrücklich in der Verfassung genannten Kompetenzen bei den Kantonen liegen. Dies gälte für Bereiche wie Strafrecht, Zivilrecht, Arbeitsrecht, Sozialversicherungsrecht oder Umweltrecht. Es erschien der Kommission fraglich, ob dieser Zustand befriedigend sei. Diese Zweifel erscheinen umso berechtigter, als die Kantone oft Einwohnerzahlen von um die 200.000 haben, wirtschaftlich darniederliegen und in einer postkommunistischen Gesellschaft der legislative Handlungsbedarf ein ganz anderer ist als in Schweizer Kantonen. Weiter monierte die Kommission die unklaren Regeln im Bereich der gemeinsamen Kompetenzen. Sie schlug statt dessen vor, hier eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz einzuführen, bei der die Kantone nur gesetzgeberisch tätig werden können, wenn die Föderation noch nicht von ihrer Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat. Auch die Einführung einer Rahmengesetzgebungskompetenz der Föderation solle erwogen werden. Umgekehrt solle die Möglichkeit der Kantone, Kompetenzen an die Föderation zu delegieren 11, nicht gänzlich unbeschränkt bleiben. Die Kommission begrüßte im Prinzip die Möglichkeit der Schaffung gemeinsamer Ausschüsse für mehrere Kantone, monierte aber, dass dies nur zwischen ethnisch gleich strukturierten Kantonen vorgesehen ist.

2. Stellungnahme zur Vereinbarkeit der Verfassungen der beiden Entitäten mit der im Dayton-Abkommen niedergelegten BIHV Mit dem Inkrafttreten der als Anhang IV des Dayton-Abkommens niedergelegten Verfassung von Bosnien-Herzegowina (BIHV) änderte sich nicht nur die verfassungsrechtliche Lage in BIH radikal, sondern auch die Rolle der VenedigKommission. Carl Bildt, der HR der Internationalen Staatengemeinschaft in BIH, bat in einem Schreiben vom 11. April 1996 an den Generalsekretär des Europarats, Daniel Tarschys, um die Unterstützung der Kommission im Hinblick auf die Verpflichtung der Entitäten, ihre Verfassungen an die BIHV anzupassen. Diese Verfassung sieht in der Tat in Art. XII. 2 vor, dass innerhalb von drei Monaten ab Inkrafttreten der Verfassung beide Entitäten verpflichtet sind, ihre Verfassungen mit der

10 Siehe infra, unter IV. 11 Art. V. 2 Abs. 1 FBIHV: „Each Canton is authorized to delegate or confer its responsibilities to Municipalities in its territory or to the Federation Government."

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Gesamtstaatsverfassung in Einklang zu bringen. Dies war von höchster praktischer Bedeutung, da beide Entitätsverfassungen für unabhängige Staaten konzipiert und mit der Staatlichkeit von BIH nicht vereinbar waren. Beide Entitäten hatten die verfassungsrechtlich gesetzte Frist von drei Monaten verstreichen lassen. Die Föderation hatte dann allerdings am 5. Juni 1996 einen etwas halbherzigen, aber ernsthaften Versuch unternommen, ihre Verfassung anzupassen12. Die RS dagegen beschloss am 2. April 1996 völlig unzureichende Verfassungsänderungen13 und war offenbar nicht bereit, ohne internationalen Druck ihre Verfassung anzupassen. Die Stellungnahme der Venedig-Kommission sollte klarstellen, welche Änderungen wirklich geboten waren. Dies hatte höchste praktische Bedeutung und dementsprechend hitzig waren die Diskussionen der Kommissionsdelegation mit den Vertretern der RS, die die Rolle des Gesamtstaates auf ein absolutes Minimum beschränken wollten. Die Stellungnahme der Kommission 14 beginnt mit allgemeinen Ausführungen zur Rechtslage in BIH. Die Kommission charakterisierte BIH als Bundesstaat, da beide Entitäten in der Verfassung als Bestandteile des Staates BIH bezeichnet werden, Rechte und Pflichten zwischen BIH und den Entitäten aufgeteilt werden, eine Staatsbürgerschaft des Gesamtstaates besteht, die BIHV Vorrang vor Recht und Verfassung der Entitäten hat und das Verfassungsgericht von BIH die Vereinbarkeit der Verfassungen der Entitäten mit der Gesamtstaatsverfassung überprüfen kann. Der Charakter von BIH als Bundesstaat wurde von den Vertretern der RS ausdrücklich bestritten. Die Kommission erkannte allerdings mit Bedauern an, dass es sich um einen ungewöhnlich schwachen Bundesstaat handelt. Dies ergibt sich nicht nur aus der Kompetenzverteilung, sondern auch aus der finanziellen Abhängigkeit des Gesamtstaates von den Entitäten15. Der Bundesstaat als finanzieller Kostgänger der Gliedstaaten kann seine Aufgaben wohl kaum erfüllen. Die Kommission wies allerdings darauf hin, dass Art. I. 4 BIHV, der den vier Freiheiten des EG-Vertrags entspricht, ein wichtiges Instrument zur Einigung des Landes werden könne. Zu der ihr gestellten Aufgabe stellte die Kommission fest, dass Art. III. 3 (b) BIHV den Vorrang dieser Verfassung gegenüber den Entitätsverfassungen festschreibt. Damit sind mit der Gesamtsstaatsverfassung unvereinbare Bestimmungen der Entitätsverfassungen automatisch außer Kraft getreten. Dies entbindet die Entitäten jedoch nicht von ihrer Verpflichtung, den Verfassungstext jeweils anzupassen. Diese Verpflichtung ist in Art. XII. 2 BIHV ausdrücklich niedergelegt.

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Amendments II-XXIV zur Verfassung der FBIH. Amendments XLIV-LI zur Verfassung der RS. 14 Opinion on the compatibility of the Constitutions of the Federation of Bosnia and Herzegovina and the Republika Srpska with the Constitution of Bosnia and Herzegovina, abgedr. in: CDL-Inf (98)15, S. 53 ff. 13

15 Art. VIII. 3 der Verfassung bestimmt: „The Federation shall provide two-thirds, and the Republika Srpska one-third, of the revenues required by the budget, except insofar as revenues are raised as specified by the Parliamentary Assembly."

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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a) Zur Verfassung der Föderation Die Kommission begrüßte die Verfassungsänderung der FBIH, die in der Präambel klarstellt, dass die Föderation konstitutiver Bestandteil des Staates BIH ist. Noch wichtiger war der neue Art. II. 1 BIHV, der die Rechtslage ebenfalls in diesem Sinne korrekt wiedergibt 16. Vor dem Hintergrund der Verfassungsgerichtsentscheidung vom 1. Juli 2000 ist die Kommissionsstellungnahme zur Frage, ob es zulässig ist, dass in der Föderation nur Bosniaken und Kroaten „constituent peoples" sind, während es im Gesamtstaat drei „constituent peoples" gibt, von besonderem Interesse. Die Kommission sah in dieser Bestimmung der Föderationsverfassung das logische Gegenstück zur entsprechenden Bestimmung der Verfassung der RS, die nur Serben zum Staatsvolk erklärt. Sie verwies allerdings darauf, dass die Aufteilung der wichtigsten Posten in der Föderation auf die beiden „constituent peoples" die Gefahr der Diskriminierung anderer Bürger von BIH mit sich bringt. Insoweit ist die Stellungnahme der Kommission mit dem alternativen Begründungsstrang der Verfassungsgerichtsentscheidung und der concurring opinion des Richters Danelius vereinbar. Man sollte auch nicht verkennen, dass es im Jahr 1996 politisch völlig unrealistisch gewesen wäre, das Prinzip der „constituent peoples" in Frage zu stellen. Die bereits erfolgte Verfassungsänderung der Föderation hatte die offenkundigen Widersprüche im Kompetenzkatalog mit der Gesamtstaatsverfassung beseitigt. Hauptproblem blieb, ob die Gesamtstaatskompetenz für Zollpolitik Raum für eine Entitätskompetenz „Zoll innerhalb der Föderation" lässt. Dies wurde von der Kommission unter Hinweis darauf, dass der Gesamtstaat ja noch keine Zollpolitik definiert habe, verneint, obwohl Föderationsvertreter vortrugen, dass mit dieser Bestimmung nur die Durchführung der gesamtstaatlich definierten Zollpolitik gemeint sei. Auch nach den Amendments sah die Verfassung noch die Ernennung von Botschaftern durch den Präsidenten der Föderation vor. Allerdings waren schon weitere Amendments vorgeschlagen worden, um dies zu ändern. Die Kommission stellte fest, dass die Befugnis zur Ernennung von Botschaftern ausschließlich bei der Präsidentschaft von BIH liegt. Zu anderen Punkten empfahl die Kommission noch klarstellende Querverweise auf die Gesamtstaatsverfassung und die Einfügung von Kooperationselementen mit den Institutionen von BIH. Echte Widersprüche im Kompetenzkatalog waren jedoch nicht gegeben. Insgesamt sind die Ausführungen der Kommission von dem Bestreben gezeichnet, die Kompetenzen von BIH eher extensiv auszulegen, um die Funktionsfähigkeit des Gesamtstaats angesichts eines äußerst bescheidenen Kompetenzkatalogs zu sichern.

16 „The Federation is one of two entities composing the state of Bosnia and Herzegovina, and has all power, competence and responsibilities which are not in, according to the Constitution of Bosnia and Herzegovina, the exclusive competence of the Bosnia and Herzegovina institutions."

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b) Zur Verfassung der Republika Srpska Die RSV wies weit schwerer wiegende Probleme auf als die Föderationsverfassung, und das recht ausführliche Eingehen auf eher marginale Probleme der Föderationsverfassung ist sicher auch durch das Bestreben motiviert, ein optisches Gleichgewicht mit den Bemerkungen zur RSV herzustellen. Hier begannen die Probleme schon mit der Präambel, die auf den Wunsch Bezug nahm, sich mit anderen serbischen Völkern zu vereinigen. Der offensichtliche Widerspruch mit der Souveränität und territorialen Integrität von BIH wurde von den Vertretern der RS gar nicht ernstlich bestritten. Sie beriefen sich darauf, dass die Präambel keinen normativen Charakter habe und deshalb keine Pflicht zu ihrer Änderung bestehe. Dies konnte die Aufrechterhaltung eines offensichtlich verfassungswidrigen Texts jedoch selbstverständlich nicht rechtfertigen. Generell bestand die Stellungnahme der Kommission darauf, dass die Worte „souverän", „Souveränität" und „Unabhängigkeit" nicht auf die RS angewandt werden dürften. Letzteres wurde von den RSVertretern eingeräumt, während sie das Wort „souverän" als in der jugoslawischen Terminologie „Kompetenz" entsprechend verteidigten. Die Kommission empfahl weiterhin, in der Verfassung ausdrücklich niederzulegen, dass die RS Bestandteil des Staates BIH sei. Das Gegenargument der RS-Vertreter, dies sei als selbstverständlich überflüssig, konnte umso weniger überzeugen, als die Präambel ja dazu immer noch in Widerspruch stand. Die RSV sieht einen umfangreichen Grundrechtskatalog vor. Das Risiko von Widersprüchen mit der BIHV, nach der eine große Anzahl von internationalen Menschenrechtsbestimmungen in BIH direkte Geltung haben, erschien umso größer, als die RSV von der alten jugoslawischen Verfassung und nicht von internationalen Standards inspiriert war. Ein genaues Durchforsten des Textes auf etwaige Widersprüche mit den nicht weniger als 15 Menschenrechtsschutzverträgen, die Bestandteil der BIHV sind, erschien in kurzer Zeit nicht machbar. Die Kommission schlug deshalb eine Meistbegünstigungsklausel vor, nach der bei Widersprüchen der jeweils für das Individuum vorteilhafteste Text anwendbar wäre. Dieser Lösungsvorschlag wurde von der RS akzeptiert und eine entsprechende Regelung in die RSV aufgenommen. Allerdings hat später A. Izetbegovic diese Bestimmung der RSV vor dem Verfassungsgericht von BIH angegriffen. Izetbegovic vertrat die Auffassung, dass diese Meistbegünstigungsklausel gegen den Vorrang der BIHV verstoße. Das Verfassungsgericht ist dieser Auffassung allerdings nicht gefolgt und hat die entsprechende Verfassungsbestimmung gebilligt 17 . Daneben mussten jedoch noch einige offensichtlich unhaltbare Bestimmungen der RSV korrigiert werden. Ein direkter Widerspruch zur BIHV lag insbesondere darin, dass viele, nicht nur politische, Rechte nur Bürgern der Republik vorbehalten waren. Außerdem waren die Schrankenbestimmungen vage und oft bedenklich 17

Partial Decision No. 1 in case 5/98 vom 18./19. 2. 2000, siehe auch infra sowie den Beitrag von Ingo Winkelmann in diesem Band.

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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formuliert. Ζ. B. hieß es in Art. 48: „Abuse of freedoms and rights is unconstitutional and punishable." Zentraler Punkt für die Frage der Vereinbarkeit von Entitätsund Gesamtstaatsverfassung war Art. 68 RSV, der die Kompetenzen der Republik definierte. Dieser Artikel war durch das Amendment XLIX zur RSV um einen Abs. 2 ergänzt worden, der die RSV an die BIHV anpassen sollte. Die umständliche und zweideutige Formulierung dieses Absatzes zeigte jedoch, dass die RS nicht gewillt war, einen eindeutigen Vorrang der Gesamtstaatsverfassung anzuerkennen. Er lautete: „The functions of the Republika Srpska are carried out in accordance with its constitution and within the framework and, to the extent they have been determined as being the competence of the institutions of Bosnia and Herzegovina as well, shall also be carried out in accordance with the Constitution of Bosnia and Herzegovina." Die Kommission schlug vor, diese Klausel durch Bestimmungen zu ersetzen, die eindeutig den Vorrang der Verfassung des Gesamtstaats anerkennen und klarstellen, dass die RS nur kompetent ist in Bereichen, die die BIHV nicht dem Gesamtstaat vorbehält. Im übrigen las sich der Kompetenzkatalog des Abs. 1 wie der eines unabhängigen Staates. Unakzeptabel war schon Ziff. 1, wonach „The republic regulates and ensures: 1. sovereignty, independence and territorial integrity of the Republic,...". Weiter verlangte die Kommission die Streichung der Zuständigkeiten für „economic relations with foreign countries", „monetary,... foreign exchange and customs system" und eine Einschränkung der Zuständigkeit für „international co-operation", um diese mit der nur sehr eingeschränkt bestehenden Fähigkeit der RS, internationale Verpflichtungen einzugehen, in Einklang zu bringen. Schwieriger war die Frage der Zuständigkeit im Bereich der äußeren Sicherheit und Verteidigung. Dieser Bereich gehört nicht zu den BIH gem. Art. III. 1 BIHV vorbehaltenen Bereichen. Diese aus der Situation beim Abschluss des Vertrags von Dayton verständliche Kompetenzlücke stellt sicherlich eine besonders schwere Hypothek für den Zusammenhalt des Gesamtstaats dar. Die BIHV versucht, dies etwas zu korrigieren, indem sie den Mitgliedern der Präsidentschaft von BIH die zivile Kommmandogewalt über die Streitkräfte der Entitäten anvertraut und ein Standing Committee on Military Matters mit der Aufgabe, die Tätigkeit der Streitkräfte der Entitäten zu koordinieren, einrichtet. Dementsprechend forderte die Kommission in ihrer Stellungnahme, die generelle Zuständigkeit der RS für Verteidigungsfragen gemäß Art. 68 Abs. 1 Ziff. 2 der RSV durch einen Verweis auf die zivile Kommandogewalt der BIH-Präsidentschaft und auf die Befugnisse jenes Standing Committee einzuschränken. Die RS-Vertreter lehnten dies vehement ab. Nach ihrer Auffassung war Art V. 5 (a) BIHV so zu verstehen, dass das serbische Mitglied der BIH-Präsidentschaft die Kommandogewalt über die RS-Streitkräfte ausübe. Implizit wurde dabei davon ausgegangen, dass die serbische ethnische Zugehörigkeit es überflüssig machte, auf die institutionelle Kompetenzverteilung Rücksicht zu nehmen. Art. 106 RSV, der die Kommandogewalt ausdrücklich dem Präsidenten der RS übertrug, ging ohnehin über das auch nach dieser Auffassung Zulässige hinaus.

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Ähnliche Probleme wie im Kompetenzkatalog tauchten dann bei den Befugnissen der verschiedenen Institutionen (Nationalversammlung, Präsident) auf. Die Kommission bestand darauf, dass die Nationalversammlung nicht über eine Konföderation mit anderen Ländern entscheiden kann und nur beschränkte außenpolitische Befugnisse besitzt. Die Formulierung, dass die Nationalversammlung über Krieg und Frieden entscheidet, erschien schon nach allgemeinem Völkerrecht bedenklich. Die für den RS-Präsidenten vorgesehene Befugnis, Botschafter der RS zu ernennen, war offensichtlich nicht zulässig, genauso wenig wie er Botschafter von BIH ernennen (oder auch nur vorschlagen) kann. Das Verfahren der Botschafterernennung ist ausschließlich durch das Recht von BIH zu regeln. Der durch Amendment L I neu eingeführte Art. 138 18 gab der RS das Recht, Gegenmaßnahmen gegen Akte von BIH oder der Föderation zu ergreifen, die Interessen der Republik verletzten. Die Kommission stellte nachdrücklich fest, dass diese Bestimmung völlig unakzeptabel ist und der Schutz der Interessen der Republik gegen eine Verletzung ihrer Interessen durch verfassungswidrige Handlungen der Organe von BIH einzig und allein dem Verfassungsgericht von BIH vorbehalten ist.

c) Gesamtbewertung Die Kommission kam zu dem Schluss, dass beide Entitäten zwar versucht haben, ihre Verfassungen in Einklang mit der Gesamtstaatsverfassung zu bringen, dass für beide Entitäten aber noch einiges zu tun bleibt. Die Aufgabe der Föderation war dadurch erschwert, dass sie selbst eine Föderation und die daraus resultierende rechtliche Situation ungemein kompliziert ist. Nichtsdestoweniger hatte die Föderation die offensichtlichen Widersprüche zur BIHV beseitigt und die Zugehörigkeit zu BIH ausdrücklich in der Verfassung verankert. Dagegen verblieben in der RS noch einige schwerwiegende Probleme und die zugrunde liegende Konzeption der Souveränität der Republik erschien mit der Zugehörigkeit zu BIH nicht vereinbar. Änderungen waren hier unerlässlich. Im übrigen wies die Kommission darauf hin, dass es nicht damit getan war, nur offensichtliche Widersprüche zwischen Gesamtstaats- und Entitätsverfassungen zu beseitigen. Um ein funktionierendes Staatswesen zu begründen, müssen kooperative Elemente in den bosnischen Föderalismus integriert werden, die im Text der BIHV, der auf ausschließliche Kompetenzen abgestellt ist, bisher nahezu fehlen. Ansätze dazu bieten immerhin die Abs. 4 und 5 von Art. III BIHV, in denen kooperative Mechanismen angelegt sind. Diese müssen nicht nur auf gesamtstaatlicher Ebene genutzt, sondern auch

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Der Text lautete (in recht mangelhafter Übersetzung): „When by the acts of institutions of Bosnia and Herzegovina or by the acts of the Federation of Bosnia and Herzegovina, contrary to the Republika Srpska Constitution and the Constitution of Bosnia and Herzegovina, the equality of Republika Srpska is violated or its rights and legal interests in any way threatened, and thereby their protection is not ensured, the Republic bodies pass acts and undertake measures for the protection of rights and interests of the Republic."

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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auf Entitätsebene in die jeweilige Verfassungsstruktur integriert werden. Diese Forderung der Kommission von 1996 bleibt unvermindert aktuell.

d) Umsetzung der Stellungnahme und weitere Entwicklungen Um eine Umsetzung der Stellungnahme durch die Entitäten (und die Kontrolle dieser Umsetzung durch die internationale Gemeinschaft, insbesondere das OHR) zu erleichtern, fügte die Kommission ihrer Stellungnahme konkrete Formulierungsvorschläge für Verfassungsänderungen bei. Die Stellungnahme wurde noch als Entwurf vor der formellen Verabschiedung durch das Plenum der Kommission bei ihrer 28. Sitzung am 13. und 14. September 1996 den Entitäten über das OHR zugeleitet. Am 13. September 1996 verabschiedete die Nationalversammlung der RS die Amendments LIV bis LXV zur Verfassung, die zu einem beträchtlichen Teil, aber nicht vollständig, die Vorschläge der Kommission aufgriffen. So wurde die Präambel der RSV teilweise, aber nicht ganz geändert. Insbesondere hielt die Nationalversammlung an der Bezeichnung der RS als Staat fest. Die Art. 2 und 3 wurden geändert und die Worte Souveränität und Unabhängigkeit entfernt. Dagegen wurde die Zugehörigkeit der Republik zu BIH nicht ausdrücklich verankert. Allerdings erkannte der neu gefasste Art. 3 Abs. I 1 9 die Zugehörigkeit zu BIH implizit an. Im Grundrechtsteil wurden die Empfehlungen der Kommission umgesetzt. In Art. 68 RSV wurden die Worte „Souveränität" und „Unabhängigkeit" durch „Integrität" und „Verfassungsordnung" ersetzt. Art. 68 Abs. 2 RSV wurde gestrichen, ebenso die Zuständigkeiten der Republik für „monetary", „foreign exchange" und „customs systems". Die Zuständigkeiten für wirtschaftliche und sonstige Außenbeziehungen wurden durch Verweise auf die Zuständigkeiten von BIH eingeschränkt. Die Bestimmungen über diplomatische und konsularische Vertretungen der Republik wurden gestrichen. Keine Verfassungsänderungen erfolgten dagegen im militärischen Bereich. Art. 138 RSV wurde nicht aufgehoben, aber immerhin auf Maßnahmen, die bis zum Ergehen eines Verfassungsgerichtsurteils zur Abwehr nicht rückgängig zu machender Schäden getroffen werden, beschränkt. Insgesamt war es sicherlich ein großer Erfolg für die Kommission, dass die RS soweit auf ihre Forderungen einging. In der Föderation erfolgten zunächst keine Verfassungsänderungen. Die Empfehlungen der Kommission wurden jedoch im Jahr 2000 im Rahmen von Verfassungsänderungen aufgegriffen, die die Sozialdemokratische Partei vorschlug 20. Etliche unerledigte Punkte kamen im Rahmen des bereits angesprochenen Verfassungsgerichtsverfahrens 5/98 auf Antrag des damaligen Vorsitzenden der BIH19 „All state functions and powers shall belong to the Republic, with exception of those which were by the Constitution of Bosnia and Herzegovina explicitly transferred to its institutions." 20 Infra, unter IV.

7 Graf Vitzthum/Winkelmann

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Präsidentschaft, Izetbegovic, zur Sprache. In seiner ersten Teilentscheidung21 erklärte das Verfassungsgericht die Bestimmungen der Föderationsverfassung zur Botschafterernennung für verfassungswidrig. Im Hinblick auf die RS wurde u. a. der neugefasste Art. 138 RSV für verfassungswidrig erklärt. Die dritte Teilentscheidung22 greift neben der Frage der „constituent peoples" auch die in der Präambel verbleibenden Probleme auf und erklärt die Bezeichnung der Republika Srpska als Staat für verfassungswidrig.

I I I . Die zweite Phase - Klärung von Einzelfragen 1. Stellungnahme der Kommission zu den Kompetenzen der FBIH im Bereich des Strafrechts In einem Brief vom 25. September 1997 bat der Justizminister der FBIH, Tadic, die Kommission um eine Stellungnahme zu den Kompetenzen der Föderation im Bereich des Strafrechts. Die Kommission verabschiedete ihre Stellungnahme23 bei ihrer 34. Plenarsitzung am 6. und 7. März 1998 aufgrund eines Vorschlags ihres belgischen Mitglieds, Prof. Scholsem. Diese Stellungnahme ist über den Bereich des Strafrechts hinaus interessant, da die Problemlage typisch für den bosnischen Föderalismus erscheint. Ausgangspunkt für die Stellungnahme war, dass die résiduelle Kompetenz im Rahmen von BIH bei den Entitäten, im Rahmen der Föderation bei den Kantonen liegt. Als ausdrückliche Kompetenz für BIH verbleibt lediglich „international and inter-Entity criminal law enforcement, including relations with Interpol", für die Föderation „stamping out terrorism, inter-cantonal crime, unauthorised drug dealing and organised crime." Daraus ergab sich, dass im Verhältnis zu BIH die Föderation sowohl für das materielle Strafrecht als auch für das Strafprozessrecht zuständig ist. Für das Strafprozessrecht wird dies noch dadurch bestätigt, dass die BIHV außer dem Verfassungsgericht kein anderes Gericht auf Gesamtstaatsebene vorsieht. Im Bereich des materiellen Strafrechts konnte dies nach Auffassung der Kommission allerdings nicht uneingeschränkt gelten. BIH verfügt über eine Reihe von Kompetenzen, insbesondere die Zollpolitik, aber auch Geld- und Währungspolitik, Einwanderung und internationaler Transport und Kommunikation, die notwendigerweise auch die Befugnis, einschlägige strafrechtliche Bestimmungen zu erlassen, umfassen. Außerdem hat BIH nach Auffassung der Kommission auch die Befugnis, strafrechtliche Bestimmungen zum Schutz seiner territorialen Integrität, seiner Staatsgrenzen, der Staatssymbole und seines Verfassungssystems zu erlassen. Darüber hinaus sah die Kommission aber keine Rechtsgrundlage für eine Zuständigkeit von BIH etwa zum Erlass allgemeiner Re21 Supra, Fn. 17. 22 Supra, Fn. 8. 23 Opinion on the competences of the Federation of Bosnia and Herzegovina in criminal matters, abgedr. in: Dokument CDL (98)15, S. 85 ff.

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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geln im Bereich des Straf- und Stafprozessrechts. Die Zuständigkeit der Entitäten ist also insoweit gegeben. Wesentlich komplexer erschien die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Föderation und den Kantonen. Die Föderation hat hier deutlich weitere ausdrückliche eigene Zuständigkeiten als BIH. Angesichts des geringen Umfangs der Kantone werden viele Delikte Auswirkungen über einen Kanton hinaus haben und viele Vergehen werden deshalb als interkantonal angesehen werden können. Die Verfassungsformulierung ist hier ja auch deutlich weiter; während BIH auf „interEntity criminal law enforcement" beschränkt ist, hat die Föderation die direkte Befugnis „to stamp out inter-cantonal crime". Dazu kommt noch (wie bei BIH) die Befugnis, strafrechtliche Bestimmungen im Zusammenhang anderer Rechtsmaterien zu erlassen. Insofern hält die Kommission eine weite Auslegung der Befugnisse der Föderation für möglich. Ein weiteres Problem war die Frage des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs. Es erscheint sinnvoll und entspricht auch der jugoslawischen Tradition, Fragen des Allgemeinen Teils auf zentraler Ebene zu entscheiden. Im Rahmen der Föderation besteht ja ein Oberster Gerichtshof, der kaum zehn verschiedene Allgemeine Teile anwenden kann. Die Kommission kam deshalb zum Schluss, dass der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuchs bei der Verfassungsgebung schlicht vergessen wurde und eine Kompetenz der Föderation hierfür angenommen werden kann, auch wenn eine Klarstellung des Verfassungsgesetzgebers insoweit wünschenswert erscheint.

2. Rechtliche Zusammenarbeit zwischen den Entitäten Während der 34. Plenarsitzung der Kommission am 6. März 1998 bat der HR, Carlos Westendorp, um eine Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit des Entwurfs eines Abkommens über rechtliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Entitäten. Diese Verfassungsmäßigkeit wurde vom Ministerium für zivile Angelegenheiten und Kommunikation von BIH unter Hinweis auf die ausschließliche Zuständigkeit von BIH für „inter-Entity criminal law enforcement" bezweifelt. Die Kommission teilte diese Zweifel nicht 24 . An der praktischen Notwendigkeit einer solchen Zusammenarbeit konnte kein Zweifel bestehen. BIH, damals ein Staat ohne ordentliche Gerichtsbarkeit auf Gesamtstaatsebene, war gar nicht in der Lage, hier ein Zuständigkeitsmonopol auszuüben. Abkommen zwischen den Gliedstaaten eines Bundesstaates entsprechen der Praxis des modernen Föderalismus, und es erschien der Kommission nur wünschenswert und notwendig, kooperative Elemente in den bosnischen Föderalismus zu integrieren. Die prinzipielle Möglichkeit für die Entitäten unter der Gesamtstaatsverfassung, internationale Abkommen zu schließen, ließ die Möglichkeit von Abkommen zwischen den Entitäten umso naheliegender erscheinen. Im Hinblick auf die Zusammenarbeit im Bereich des Zivil24 Opinion on Inter-Entity Judicial Co-operation, abgedr. in: CDL-Inf (98)15, S. 118 ff. i*

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rechts gab es ohnehin keinerlei Grundlage für eine Kompetenz des Gesamtstaats. Hinzu kam noch eine Reihe von Argumenten aus dem Verfassungstext, die von geringem allgemeinen Interesse sind. Von Bedeutung erscheint dieses Rechtsgutachten als Symptom dafür, wie fremd kooperative Elemente den Parteien des bosnischen Föderalismus erscheinen.

3. Internationale Abkommen der Entitäten Zu den im internationalen Vergleich besonders bemerkenswerten Bestimmungen der BIHV gehört die Zulassung des Abschlusses internationaler Abkommen durch die Entitäten. Die Verfassung unterscheidet zwischen Abkommen mit Staaten und internationalen Organisationen im allgemeinen, die der Zustimmung der Parlamentarischen Versammlung von BIH bedürfen, und „special parallel relationships with neighbouring States", die zulässig sind, soweit sie die Souveränität und territoriale Integrität von BIH beachten. Das OHR bat die Kommission am 4. August 1998 um eine Stellungnahme25 zur Verfassungsmäßigkeit von mehr als zwanzig von den Entitäten abgeschlossenen Abkommen. Vertragspartner waren dabei stets Kroatien im Falle der Föderation und Jugoslawien und seine Teilrepubliken im Falle der RS. Bei vielen dieser Abkommen war ein Hauptaspekt die Frage der Zuständigkeiten vor der Etablierung der gesamtstaatlichen Institutionen im Übereinstimmung mit dem Abkommen von Dayton. Bei diesen Abkommen lag der Verdacht nahe, dass Bosniaken und Kroaten ausnutzen wollten, dass die Serben zu dieser Zeit noch nicht an den gemeinsamen Institutionen beteiligt waren. Auch schien damals in der Praxis die Abgrenzung zwischen den Institutionen von BIH und der Föderation durchaus fließend. Diese Fragen des Übergangsrechts sollen hier ausgeklammert bleiben, ebenso wie eher technische Aspekte zu einzelnen Abkommen.

a) Abkommen zwischen BIH, der FBIH und Kroatien über die gegenseitige Ausführung von Gerichtsentscheidungen in Strafsachen Interessant war dieses Abkommen vor allem deshalb, weil auf bosnischer Seite sowohl BIH als auch die Föderation als Vertragspartner auftraten. Obwohl dies in der Verfassung nicht ausdrücklich vorgesehen war, hatte die Kommission hiergegen keine grundsätzlichen Bedenken. Vielmehr erschien ihr dieses Verfahren ganz im Sinne eines wünschenswerten kooperativen Föderalismus. Da intern die Zuständigkeit für die meisten Angelegenheiten bei den Entitäten liegt, oft aber auch außenpolitische Belange berührt sein werden, für die BIH zuständig ist, ist ein solches Verfahren häufig sachlich angemessen. Im vorliegenden Fall war der gemeinsame Vertragsabschluss durch die generelle Kompetenz der Föderation für Straf25 Dokument CDL-Inf (98)20: Opinion on the constitutionality of international agreements concluded by Bosnia and Herzegovina and / or the Entities.

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Prozessrecht und die Kompetenz von BIH für „international criminal law enforcement" gerechtfertigt. Allerdings war das Abkommen aus verfahrensrechtlichen Gründen verfassungswidrig.

b) Abkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kroatien Bei diesem ebenfalls noch aus der Zeit vor der Etablierung der verfassungsmäßigen Institutionen gemäß dem Daytoner Abkommen stammenden Abkommen war schon unklar, ob auf bosnischer Seite nur BIH oder auch die Föderation Vertragspartner sein sollte. Jedenfalls erschien es der Kommission verfassungswidrig, ein Abkommen mit wichtigen Regelungen im Bereich des Außenhandels und der Zollpolitik mit Wirkung nur für das Territorium einer Entität abzuschließen.

c) Handelsabkommen zwischen der Republika Srpska und Jugoslawien Mehrere solche Handelsabkommen waren nach Auffassung der Kommission verfassungswidrig, da sie die ausschließliche Kompetenz von BIH für Fragen der Zollpolitik und des Außenhandels missachteten. Außerdem war die erforderliche Zustimmung der Parlamentarischen Versammlung von BIH nicht eingeholt worden. d) Entwurf eines Abkommens zwischen der Republika Srpska und Jugoslawien Mehrere Bestimmungen dieses Abkommens (Harmonisierung der Außenpolitik, Grenzübertritt, Ein- und Auswanderung, Asyl) betrafen Fragen in der Kompetenz von BIH und konnten deshalb nicht Bestandteil eines von einer Entität abgeschlossenen Vertrages sein. Auch konnte in einem solchen Vertrag nicht vorgesehen werden, dass das serbische Mitglied der BIH-Präsidentschaft BIH-Funktionen in einem Rat der Zusammenarbeit ausübt. Entitäten können keine Regeln über die Rechte und Pflichten der Mitglieder der BIH-Präsidentschaft treffen.

e) Abkommen mit Montenegro Dieses Abkommen war ebenfalls nicht der Parlamentarischen Versammlung von BIH zur Genehmigung vorgelegt worden. Es konnte deshalb nur verfassungsmäßig sein, wenn es als Abkommen über eine „special parallel relationship" anzusehen war. Der sehr allgemeine und umfassende Inhalt des Abkommens legte dies nahe. Allerdings sah die BIHV derartige Abkommen nur mit Nachbarstaaten und nicht

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mit Gliedstaaten von Nachbarstaaten ausdrücklich vor. Die Kommission sah allerdings keinen Anlass, solche Abkommen mit Gliedstaaten anders zu behandeln als Abkommen mit souveränen Staaten. Die Gefahren für die Souveränität und territoriale Integrität von BIH erschienen ihr bei Abkommen mit Gliedstaaten eher geringer. Allerdings bestanden hier Bedenken, weil etliche Bestimmungen so weit gefasst waren, dass Übergriffe in die Zuständigkeit des Gesamtstaats nicht ausgeschlossen werden konnten.

f) Zuständigkeiten für den Abschluss und die Durchführung internationaler Abkommen 26 Über die konkrete Frage der Verfassungsmäßigkeit einzelner Abkommen hinaus bat das OHR die Venedig-Kommission, eine generelle Stellungnahme zum Abschluss und der Durchführung internationaler Abkommen durch BIH und die beiden Entitäten abzugeben. Rechtliche Schwierigkeiten entstehen in diesem Bereich dadurch, dass innerstaatlich fast alle Materien in der Zuständigkeit der Entitäten liegen, während BIH zuständig für die Außenbeziehungen ist. Zweifelsfrei erschien der Kommission, dass BIH im Bereich seiner innerstaatlichen Zuständigkeit ausschließlich für den Abschluss internationaler Abkommen zuständig und eine Konsultation der Entitäten insoweit nicht erforderlich ist. Auch erschien es der Kommission evident, dass die Befugnis der Entitäten zum Abschluss internationaler Abkommen mit Zustimmung der Parlamentarischen Versammlung von BIH nur in Bereichen bestehen kann, für die die Entitäten innerstaatlich zuständig sind. Fraglich erschien jedoch, ob BIH aufgrund seiner Befugnis für Außenpolitik ohne Zustimmung der Entitäten Abkommen in Sachmaterien abschließen kann, für die die Entitäten innerstaatlich zuständig sind. Die Kommission stellte fest, dass schwerwiegende Argumente für beide Ansichten (oder auch eine Differenzierung nach dem Überwiegen sachlicher oder außenpolitischer Aspekte) sprechen und wollte zu dieser Frage nicht eindeutig Stellung beziehen, sondern ihre Klärung dem bosnischen Verfassungsgericht überlassen. Rein praktisch schien eine gegenseitige Abstimmung unerlässlich, und es gab hierfür auch schon Anzeichen in der bosnischen Praxis. Die Durchführung internationaler, vom Gesamtstaat abgeschlossener Abkommen wird in BIH innerstaatlich sehr oft den Entitäten obliegen. Die Kommission stellte fest, dass Art. III. 2 (b) B I H V 2 7 die Entitäten ausdrücklich zur Unterstützung des Gesamtstaats bei der Einhaltung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen verpflichtet. Dies schließt die eigene Durchführung solcher Verpflichtungen ein. Zu klären blieb allerdings, welche Sanktionsmöglichkeiten der 26 Dokument CDL-Inf (99)9: Opinion on responsibilities for the conclusion and implementation of international agreements under the Constitution of Bosnia and Herzegovina. 27 „Each entity shall provide all necessary assistance to the government of Bosnia and Herzegovina in order to enable it to honor the international obligations of Bosnia and Herzegovina ...".

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Gesamtstaat hat, wenn Entitäten dieser Verpflichtung nicht nachkommen. Anders als etwa die österreichische Verfassung legt die BIHV nicht fest, dass dann der Gesamtstaat innerstaatlich die notwendigen Maßnahmen anstelle der Gliedstaaten vornehmen kann. Es erschien der Kommission zweifelhaft, ein solches Substitutionsrecht ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage anzunehmen. Die Organe des Gesamtstaates werden deshalb in solchen Fällen das Verfassungsgericht anrufen müssen. Nur wenn auch eine Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht ausgeführt wird, erscheint eine Ersatzvornahme durch den Gesamtstaat möglich.

4. Kompetenzen von BIH im Bereich des Wahlrechts Diese im Oktober 1998 beschlossene Stellungnahme der Kommission 28 sollte der Vorbereitung des Wahlgesetzes von BIH dienen. Da die BIHV keine ausdrücklichen Bestimmungen über Zuständigkeiten im Bereich des Wahlrechts enthielt, lag die Annahme nahe, dass BIH die Gesetzgebungszuständigkeit nur für Wahlen auf der Ebene des Gesamtstaats hat, während die Entitäten ihre eigenen Wahlen regeln. Dem stand allerdings entgegen, dass Annex 3 des Daytoner Abkommens (die BIHV ist Annex 4 des Abkommens) eine einheitliche Wahlkommission mit weiten Befugnissen für alle Wahlen in BIH vorsieht. Daraus ergibt sich notwendigerweise auch eine Gesetzgebungsbefugnis des Gesamtstaates. Hinzu kommt noch, dass es wünschenswert und notwendig erscheint, gewisse für den Aufbau einer rechtsstaatlichen Demokratie notwendige Prinzipien einheitlich zu regeln. Dies betrifft insbesondere die Frage, wo Vertriebene und Flüchtlinge ihr Wahlrecht ausüben können. Die Kommission kam deshalb zum Schluss, dass allgemeine Grundsätze des Wahlrechts für alle Wahlen in BIH vom Gesetzgeber des Gesamtstaates niedergelegt werden können.

5. Errichtung

eines Gerichtshofs auf der Ebene des Gesamtstaats

Eine auffällige Besonderheit des bosnischen Föderalismus ist, dass das Verfassungsgericht das einzige auf der Ebene des Gesamtstaates von der Verfassung vorgesehene Gericht ist 2 9 . Der HR, Carlos Westendorp, forderte die Kommission im März 1998 auf, zur Notwendigkeit eines Gerichts auf der Ebene des Gesamtstaates Stellung zu nehmen. Die Stellungnahme der Kommission wurde während ihrer 36. Plenarsitzung im Oktober 1998 verabschiedet30. Zunächst kam die Kommission zu 28

Dokument CDL-Inf (98)16: Opinion on the competence of Bosnia and Herzegovina in electoral matters. 29 Abgesehen vom Sonderfall der Menschenrechtskammer gem. Annex 6 des Daytoner Abkommens. 30 Dokument CDL-Inf (98)17: Opinion on the need for a judicial institution at the level of the State of Bosnia and Herzegovina.

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dem Schluss, dass die Abwesenheit eines ordentlichen Gerichtshofs auf Gesamtstaatsebene nicht auf ein Redaktionsversehen zurückzuführen ist. Der Gesamtstaat ist schwach und verfügt nur über begrenzte Kompetenzen. Die meisten Rechtsnormen sind von den Entitäten zu setzen und eine Vereinheitlichung des Rechts beider Entitäten ist von der Verfassung nicht gefordert. In Anbetracht dessen hat der Verfassungsgeber offenbar angenommen, dass das Verfassungsgericht ausreiche, um das notwendige Minimum an rechtlicher Einheit zu sichern. Dazu wurde dem BIHVG die nach europäischer Tradition ungewöhnliche Befugnis gegeben, in bestimmten Fällen als Berufungsgericht zu handeln31. Insoweit erschien der Kommission die Abwesenheit eines ordentlichen Gerichts auf der Ebene des Gesamtstaates nicht unvereinbar mit der BIH-Verfassungsstruktur. Daraus konnte aber nicht geschlossen werden, dass die Errichtung eines derartigen Gerichts rechtlich verboten wäre. Die BIHV sieht vor, dass BIH bestimmte Befugnisse ausübt. Folglich muss BIH auch die Möglichkeit haben, die für die Effektivität der Ausübung dieser Befugnisse notwendigen Institutionen, einschließlich gegebenenfalls eines Gerichts, zu errichten. Dabei kann es allerdings nicht ausreichen, dass die Errichtung einer solchen Institution als nützlich oder wünschenswert erscheint. Vielmehr muss sie einem konkreten, in der BIHV verankerten Bedürfnis entsprechen. Die Voraussetzungen für die Errichtung eines Gerichts des Gesamtstaates sah die Kommission zunächst im Bereich des Wahlrechts gegeben. Die Notwendigkeit der Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle von Wahlrechtsentscheidungen war angesichts der Bestimmungen des Daytoner Abkommens über freie und faire Wahlen nicht zu bezweifeln. Diese Kontrolle konnte für Wahlen auf der Ebene von BIH auch nicht von den Entitätsgerichten vorgenommen werden. Somit verblieben zwei Möglichkeiten, die beide nicht ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen waren: entweder konnte die Befugnis zur Entscheidung in Wahlrechtsstreitigkeiten dem Verfassungsgericht übertragen werden oder einem neu zu errichtenden Gericht. Der zweite Bereich betraf Entscheidungen der Verwaltung des Gesamtstaates. Gemäß Art. I. 2 BIHV ist BIH ein Rechtsstaat32. Art. I I BIHV macht die Europäische Menschenrechtskonvention, also auch deren Abs. 6, direkt anwendbar. Aufgrund ihrer Befugnisse insbesondere in den Bereichen der Zollpolitik, der Einwanderung, des internationalen Transports und der Kommunikation werden die Behörden von BIH gezwungen sein, Entscheidungen mit direkter Auswirkung auf Rechte von Individuen zu treffen. Die Notwendigkeit gerichtlicher Kontrolle solcher Entscheidungen ergibt sich aus den genannten rechtsstaatlichen Grundsätzen, die Bestandteil der Verfassung sind, und wird damit von der Verfassung direkt gefor-

31

Art. VI. 3 (b): „The Constitutional Court shall also have appellate jurisdiction over issues under this Constitution arising out of a judgment of any other court in Bosnia and Herzegovina." 32

„Bosnia and Herzegovina shall be a democratic state, which shall operate under the rule of law and with free and democratic elections."

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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dert. Diese Rechtskontrolle kann aber nicht durch die Gerichte der Entitäten erfolgen, die keine Befugnis haben, die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen von BIH zu überprüfen. Damit ergibt sich die Notwendigkeit eines Verwaltungsgerichts auf Gesamtstaatsebene aus der BIHV. Im Bereich des Strafrechts sah die Kommission die Notwendigkeit eines gesamtstaatlichen Gerichts jedenfalls für Delikte wie Hochverrat von Amtsträgern. Zur Umsetzung der Kommissionsentscheidung wurde vom OHR eine Arbeitsgruppe zur Erarbeitung eines Gesetzentwurfs über ein Gericht von BIH eingesetzt. Diese Arbeitsgruppe mit maßgeblicher Beteiligung der Kommission erarbeitete einen Gesetzentwurf, der vom OHR in das BIH-Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde. Da eine Einigung in diesem Verfahren nicht möglich erschien, wurde der Gesetzentwurf mit Änderungen durch Octroi des HR vom 12. November 2000 Gesetz.

6. Befugnisse von BIH im Bereich von Einwanderung und Asyl Auf Anfrage des OHR prüfte die Kommission die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzentwurfs von BIH über Einwanderung und Asyl im Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen Gesamtstaat und Entitäten und verabschiedete hierzu eine Stellungnahme bei ihrer 38. Plenarsitzung am 22. und 23. März 199933. Einwanderung und Asyl gehören zu den wenigen Bereichen, in denen ausdrückliche Befugnisse des Gesamtstaates bestehen und daher ist dieser Bereich für das praktische Funktionieren des bosnischen Föderalismus von besonderem Interesse. Gemäß Art. III. 1 (f) BIHV ist BIH zuständig für „Immigration, refugee and asylum policy and regulation". Daraus ergibt sich zunächst die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis von BIH in diesem Bereich. Die Kommission sah diese Befugnis allerdings nicht als auf die Gesetzgebung beschränkt an. Die BIHV unterscheidet bei der Kompetenzverteilung nicht allgemein zwischen gesetzgebender und ausführender Gewalt. Dies deutet darauf hin, dass grundsätzlich ein Gleichlauf zwischen beiden Befugnissen anzunehmen ist. Diese Annahme wird durch Art. V. 4 BIHV bestätigt, der allgemein dem BIH-Ministerrat die Verantwortlichkeit für die Ausführung der in Art. III. 1 und anderswo niedergelegten „policies and decisions" von BIH zuweist. Es war daher für die Kommission nicht zu beanstanden, dass die auf Verwaltungsebene letztinstanzliche Entscheidung vom Ministerium für zivile Angelegenheiten und Kommunikation von BIH zu treffen ist. Die Kommission sah aber auch keinen Grund zu beanstanden, dass der Gesetzentwurf Entitätsbehörden als untere Verwaltungsbehörden vorsieht. Der Gesetzentwurf sah vor, dass das Ministerium nicht nur eine Rechtskontrolle, sondern auch eine Ermessenskontrolle 33 Dokument CDL-Inf (99)6: Opinion on the scope of the responsibilities of Bosnia and Herzegovina in the field of immigration and asylum with particular regard to possible involvement of the Entities.

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der Entscheidungen der Entitätsbehörden vornimmt. Die einheitliche Durchführung des Gesetzes erschien also gesichert. Der Gesamtstaat, der nicht über einen eigenen Verwaltungsunterbau verfügt, erscheint schon aus praktischen Gründen gezwungen, diesen Weg zu wählen, der durchaus einer in Europa verbreiteten Praxis eines vor allem exekutiven Föderalismus entspricht. Die Verfassung verlangt lediglich, dass die Entscheidung, welche Behörden das Gesetz ausführen, auf der Ebene des Gesamtstaats getroffen wird, nicht, dass dies in jedem Fall Behörden des Gesamtstaates sind. Die Kommission billigte daher den Ansatz des Gesetzentwurfs, forderte aber, den gerichtlichen Rechtsschutz klar zu verankern. Sie verwies auf die Notwendigkeit eines Verwaltungsgerichts des Gesamtstaates gerade für diesen Bereich.

IV. Eine dritte Phase - Zurück zu den Grundsätzen? Es ist nicht zu verkennen, dass das Unbehagen innerhalb der internationalen Gemeinschaft 34 aber auch innerhalb von BIH selbst an den Zuständen im Lande wächst. Zunehmend werden die Strukturen des bosnischen Föderalismus in Frage gestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Entscheidung des BIHVG zum Problem der „constituent peoples". Diese Rückkehr zu Grundsatzfragen spiegelt sich auch in der Arbeit der Venedig-Kommission wieder. Zwei gegenwärtige Aktivitäten der Venedig-Kommission betreffen Grundsatzfragen des BIH-Föderalismus. Zum einen hat das Abgeordnetenhaus der Föderation die Kommission gebeten, bei einer Reform der Verfassung der FBIH mitzuwirken. Ausgangspunkt war dabei, die Verfassung der Föderation besser mit der Verfassung des Gesamtstaates abzustimmen. Die oben geschilderten Stellungnahmen der Kommission zur Verfassung der FBIH und zur Vereinbarkeit der Entitätsverfassungen mit der Gesamtstaatsverfassung standen offensichtlich bei einem großen Teil der Vorschläge Pate. Von Seiten der Föderationsvertreter bestand jedoch bei den bisherigen Sitzungen auch eine große Offenheit für Vorschläge zur Verbesserung des Funktionierens der Föderation, insbesondere zu einer Einschränkung und klareren Definition der Kompetenzen der Kantone. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zu den „constituent peoples" hat dieses Unternehmen noch bedeutsamer, aber auch sicher nicht einfacher gemacht, und es wird abzuwarten sein, ob eine durchgreifende Verfassungsreform in der Föderation gelingen wird. Zum andern hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats im Rahmen ihrer Behandlung des BIH-Antrags auf Mitgliedschaft im Europarat die Kommission um eine Stellungnahme zu den Implikationen der Verfassungsgerichtsentscheidung zu den „constituent peoples" gebeten. Es ist nicht zu verkennen, dass in BIH die Neigung besteht, diese Entscheidung dadurch umzusetzen, dass das System der 34 Vgl. etwa den Bericht der International Crisis Group vom 18. Dezember 2000 („Bosnia's November Elections: Dayton Stumbles") unter http://www.intl.-crisis-group.org.

Der Beitrag der Venedig-Kommission

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Konkordanzdemokratie nun generell mit gleicher Beteiligung der drei Volksgruppen in den Institutionen der Entitäten verwirklicht wird. Demgegenüber lässt die Entscheidung aber auch eine Umsetzung aufgrund einer Konzeption staatsbürgerlicher Gleichheit aller Bosnier zu. Ob sich eine solche Konzeption in BIH verwirklichen lassen wird, bleibt abzuwarten.

Kompetenzstreitigkeiten im Gefüge von Dayton Von Christian Steiner und Nedim Ademovic* I. Rechtslage und politische Realitäten sechs Jahre nach Dayton Glaubt man Presse- und sonstigen, von verschiedenen internationalen1 und Nichtregierungsorganisationen 2 angefertigten Berichten, so sieht die Realität in Bosnien-Herzegowina auch noch Jahre nach dem Abschluss des Friedensabkommens von Dayton/Paris (Dayton Peace Agreement - DPA) vom 21. November bzw. 14. Dezember 1995 düster aus. Das Land bleibt gespalten, die Wirtschaft stagniert, nur ein geringer Teil der Flüchtlinge und Vertriebenen ist in ihre früheren Heimatorte zurückgekehrt. Die Wähler vertrauen nach wie vor eher den Vertretern ihrer Volksgruppe. Kriegsverbrecher und Mafiosi laufen nicht nur frei herum, sondern nehmen öffentliche Ämter oder Schlüsselpositionen in den wenigen funktionierenden (Staats-) Unternehmen ein. Die Justiz, geplagt von Vetternwirtschaft, Korruption, politischer Einflussnahme, Unwille, Inkompetenz und mangelnder Ausstattung, funktioniert nur unzureichend. Demgegenüber steht das Friedensabkommen3, mit dem es gelang, dem Krieg in Bosnien-Herzegowina ein Ende zu setzen. Es hat zum Ziel, in diesem Land wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft unter dem Zeichen von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechtsschutz4 aufzubauen: Angesichts der durch den Krieg her* Manuskript abgeschlossen im November 2001. 1 Vgl. etwa Berichte und Statistiken des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR): www.unhcr.ba. 2 S. ζ. Β. die Berichte der International Crisis Group (www.icg.org) und des United States Institute of Peace (www.usip.org) zu Bosnien-Herzegowina. 3 Das Abkommen von Dayton sowie weitere in diesem Zusammenhang bedeutsame Dokumente sind gesammelt in: Office of the High Representative (Hrsg.), Bosnia and Herzegovina Essential Texts, 3rd ed., Sarajewo 2000 (im folgenden: „Essential Texts"); diese Texte sind auch auf der Internetseite des OHR verfügbar (www.ohr.int). Einen Überblick über das Vertragswerk von Dayton/Paris gibt O. Dörr, Die Vereinbarungen von Dayton/Ohio, AVR 1997, S. 129-180. Aus völkervertragsrechtlicher Sicht: P. Gaeta, The Dayton Agreements and International Law, 7 EJIL (1996), S. 147-163. 4 Vgl. hierzu M. Nowak, Menschenrechtsschutz als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden in Bosnien und Herzegowina (BiH), 13 Thesen, in: K. Ginther/W. Benedek/H. Isak/R. Kicker (Hrsg.), Völkerrecht und Europarecht. 25. Österreichischer Völkerrechtstag, Wien 2001, S. 89-96.

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Christian Steiner und Nedim Ademovic

vorgerufenen tiefen Spaltung der Gesellschaft, Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen und dem vollkommenen Zusammenbruch grundlegender gesellschaftlicher Strukturen ein immenses Projekt. Zur zivilen Umsetzung des Abkommens hat die internationale Gemeinschaft, verkörpert durch institutionelle Akteure (OHR 5 , OSZE6, UNMIBH 7 , UNHCR u. a.), gemischte Organe (etwa das Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas [BIHVG] und die Menschenrechtskammer) sowie zahllose Nichtregierungsorganisationen, einen erheblichen Aufwand betrieben, der sich nicht nur in Geld messen lässt. Gleichwohl: Die sich zum Teil stark überlappenden, aber leider oft nur unzureichend aufeinander abgestimmten Tätigkeitsfelder der internationalen Akteure und das damit verbundene Ringen um die Rechtfertigung der eigenen Präsenz haben den Umsetzungsprozess sicherlich nicht erleichtert. Weit verbreitet unter den Einheimischen wie den „Internationais" ist die Kritik, die entsandten Experten würden oftmals nur unzureichend oder gar nicht auf die besonderen soziologischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten des Landes Rücksicht nehmen. Aus diesen Fehlern scheint man gelernt zu haben: Den nationalen Entscheidungsträgern wird unter dem Motto des „ownership" am Prozess der Friedensimplementierung zunehmend die Verantwortung für die eigene Sache zurückübertragen8. Mittlerweile wurde ein „Partnership Forum" zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen dem Ministerrat, der Zivilgesellschaft und dem HR eingerichtet 9. Durch ein „streamlining" soll dem „institutionellen Overkill" 10 internationaler Helferorganisationen entgegengewirkt und der ausländische Beistand effizienter und sparsamer gestaltet werden 11. Ein großes Hindernis für die rasche Gesundung von BIH sind freilich die Vertragsparteien selbst. Auch wenn nachvollziehbar ist, das die Feinde von gestern einander nicht sogleich gut Freund sind, gibt das Fortbestehen mafioser Strukturen, das Verharren in nationalistischen Positionen12 und der anhaltende Unwille zu 5

Das „Office of the High Representative" ist die dem HR unterstellte Behörde. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist nach Annex 3 DPA mit der Durchführung von Wahlen betraut. 6

7

United Nations Mission to Bosnia and Herzegovina. Zu diesem Strategiewandel sowie einem Überblick über die Aktivitäten des HR: G. La Ferrara , Experimenting Internationally Managed Conflict Resolution in a Divided Society, in: European Commission for Democracy through Law (ed.), Societies in conflict: the contribution of law and democracy in conflict resolution, Council of Europe, Science and technique of democracy No. 29, 2000, S. 184-196 (191 ff.). Vgl. auch die Rede des HR vor dem Steering Board Ministerial Meeting vom 22. 9. 1999: www.ohr.int/ohr-dept/presso/presssp/archive.asp (OHR Online-Presse-Archiv). 9 Vgl. die Presseerklärung des HR vom 19. 7. 2001 (OHR Online-Archiv, Fn. 8). 8

10 So im Bezug auf nationale und internationale Institutionen zum Schutze der Menschenrechte: J. Marko, Friedenssicherung im 21. Jahrhundert: Bosnien-Herzegowina als europäische Herausforderung, in: Ginther/Benedek/Isak/Kicker (Fn. 4), S. 55-87 (77). 11 Vgl. zum Strategiewandel etwa die Pressekonferenz des HR ,From Dayton to Europe* vom 16. 8. 2001, OHR Online-Presse-Archiv (Fn. 8).

Kompetenzstreitigkeiten im Gefüge von Dayton

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Kompromissen - zuweilen blanker Obstruktionismus - doch sehr zu denken. Eine kritische Vergangenheitsbewältigung scheint nur schwer möglich nach einem Friedensabkommen, das keinen Verlierer oder Verantwortlichen kennt, und wenn kaum Einsicht in begangenes Unrecht erkennbar ist 13 . So versuchen die dem Gesamtstaat abgeneigten Gruppen diesen durch ständige Verzögerungen der Entscheidungsprozesse in seiner Handlungsunfähigkeit bloßzustellen. Bestärkt werden sie dabei durch unüberlegte Äußerungen aus Diplomatenkreisen über eine „Neuziehung der Grenzen auf dem Balkan". Wo die staatlichen Verantwortungsbereiche nicht schon von Verfassung wegen getrennt sind - wie zwischen den beiden Entitäten - , wird versucht, außerhalb des Verfassungsrahmens parallele Institutionen für eine unabhängige Vertretung der eigenen Volksgruppe zu errichten 14. Sämtliche Nationalitäten-übergreifenden Strukturen auf Staats-, Entitäts-, und Kantonsebene werden somit in Frage gestellt. Auf diese Weise verstoßen die nationalen Entscheidungsträger nicht nur gegen nationales Recht (einschließlich der Verfassung), sondern auch gegen ausdrückliche Verpflichtungen aus dem Friedensabkommen und vor allem gegen seine Grundidee des friedlichen Zusammenlebens der verschiedenen Volksgruppen in einem Staat. Dieses Fehlverhalten ist zwar teilweise einer Regelung oder Sanktion durch die nationalen Organe zugänglich. Wo diese jedoch (noch) versagen oder über das nötige Instrumentarium (noch) nicht verfügen, oder wo es einfach um die richtige politische Weichenstellung geht, greifen die internationalen Akteure in das Geschehen ein. Wie wir noch sehen werden, handeln sie dabei in vielfältigen Formen: Sie beraten, fördern, sanktionieren, regeln. All dies geschieht auf mehr oder weniger fester Rechtsgrundlage, und fast immer intervenieren sie dabei in der einen oder anderen Weise in klassische Verfassungsrechtsverhältnisse wie Gesetzgebung, Justiz, Exekutive, Wahlen, Grundrechte. 12 Vgl. die Presseerklärungen des HR vom 5. und 7. 5. 2001 zu den Ausschreitungen bei den Grundsteinlegungen für im Krieg zerstörte Moscheen in Trebinje und Banja Luka sowie die „Information of the RS Government on the Current Political-Security Situation Regarding Events in Trebinje and Banja Luka with Proposed Measures", alle: OHR Online-Presse-Archiv (Fn. 8). 13 Praktisch die einzige Form von Vergangenheitsbewältigung wird derzeit durch den Internationalen Strafgerichtshof für das Ehemalige Jugoslawien (ICTY: www.un.org/icty) betrieben, mit dem neuerdings auch die RS-Regierung zusammen zu arbeiten gedenkt. Im Gespräch ist auch die Errichtung einer Wahrheitskommission nach dem südafrikanischen Modell, freilich mit der bedeutenden Einschränkung, dass die Zuständigkeit des ICTY nicht berührt werden soll, demnach auch keine Amnestie gewährt werden könnte. Zur Legitimität internationaler Strafverfolgung vgl. K. Ambos/Chr. Steiner, Vom Sinn des Strafens auf innerstaatlicher und supranationaler Ebene, JuS 2001, S. 9-13. 14 Vgl. hierzu die Entscheidung des HR vom 7. 3. 2001 über die Amtsenthebung des damaligen kroatischen Mitgliedes der Präsidentschaft von BiH, Ante Jelavic, wegen seiner maßgeblichen Beteiligung an der Schaffung des „Kroatischen Nationalrats" (Hravatski narodni sabor) als Gesetzgebungsorgan der „dritten Entität" (Hrvatska samoupravna zajednica). Siehe auch die Entscheidung des HR vom 5. 4. 2001 zur Einsetzung einer Interimsverwaltung für die Hercegovacka banka wegen vermuteter illegaler Geldtransfers zur Unterstützung des Kroatischen Verteidigungsrates (Hrvatsko vijece obrane - HVO). Die Entscheidungen sind im OHR Online-Archiv zugänglich: http://www.ohr.int/decisions/archive.asp.

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Als letztinstanzlicher Hüter der Verfassung tritt damit das B I H V G auf den Plan, das schon früh mit der Frage konfrontiert wurde, wie denn die Verfassung als Annex 4 zum DPA zu dessen übrigen Annexen stehe. In diesen werden OHR, OSZE, Menschenrechtskammer usw. besondere Befugnisse verliehen, ohne freilich - abgesehen von einigen Ausnahmen - das Verhältnis zum Verfassungsrahmen zu bestimmen. I m folgenden soll der Standpunkt untersucht werden, den das B I H V G in dem oben umrissenen tatsächlichen und rechtlichen Rahmen bezogen hat.

I I . Die Kompetenzen des Verfassungsgerichts von Bosnien-Herzegowina Ausgangspunkt für die Positionierung des B H I V G in diesem institutionellen Geflecht sind die Kompetenzvorschriften in Art. V I . 3 B I H V 1 5 : „Jurisdiction. The Constitutional Court shall uphold this Constitution. a) The Constitutional Court shall have exclusive jurisdiction to decide any dispute that arises under this Constitution between the Entities or between Bosnia and Herzegovina and an Entity or Entities, or between institutions of Bosnia and Herzegovina, including but not limited to: - Whether an Entity's decision to establish a special parallel relationship with a neighboring state is consistent with this Constitution, including provisions concerning the sovereignty and territorial integrity of Bosnia and Herzegovina. - Whether any provision of an Entity's constitution or law is consistent with this Constitution. Disputes may be referred only by a member of the Presidency, by the Chair of the Council of Ministers, by the Chair or a Deputy Chair of either chamber of the Parliamentary Assembly, by one-fourth of the members of either chamber of the Parliamentary Assembly, or by one-fourth of either chamber of a legislature of an Entity. b) The Constitutional Court shall also have appellate jurisdiction over issues under this Constitution arising out of a judgment of any other court in Bosnia and Herzegovina. c) The Constitutional Court shall have jurisdiction over issues referred by any court in Bosnia and Herzegovina concerning whether a law, on whose validity its decision depends, is compatible with this Constitution, with the European Convention for Human Rights and Fundamental Freedoms and its Protocols, or with the laws of Bosnia and Herzegovina; or concerning the existence of or the scope of a general rule of public international law pertinent to the court's decision." Nach Art. V I . 4 B I H V sind die Entscheidungen des B I H V G endgültig und bindend („final and binding"). Dem B I H V G sind damit wichtige klassische verfas15 Grundlage der Diskussion soll die bislang noch immer (!) einzig authentische englische Fassung sein, da eine Übersetzung der weit gefassten Regelungen nur schwerlich ohne Auslegung möglich ist. Die im Umlauf befindlichen Übersetzungen sind zum Teil, sogar in zentralen Passagen, falsch. - Art. IV. 3 (f) BIHV regelt die Zuständigkeit des BHIVG im Fall einer legislativen Pattsituation, die vorliegend nicht von Bedeutung ist.

Kompetenzstreitigkeiten im Gefüge von Dayton

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sungsgerichtliche Aufgaben wie die Normenkontrolle, föderale 16 und Organstreitigkeiten sowie Verfassungsbeschwerden (am Maßstab der BIHV und der EMRK) anvertraut. Zur Klärung des hier zu behandelnden Verhältnisses des BIHVG zu Organen und Institutionen anderer Annexe zum Friedensabkommen enthalten die zitierten Regelungen freilich kaum Hinweise. Auf den ersten Blick erscheint jedwede auf andere Annexe übergreifende Prüfungszuständigkeit des BIHVG sogar ausgeschlossen, da sie nicht ausdrücklich erwähnt ist. Im einzelnen sind die Regelungen offen und teils recht vage ausgestaltet und geben daher einen beträchtlichen Interpretationsspielraum. Ungewöhnlich ist zunächst die Auffangklausel in Art. VI. 3 (a): „einschließlich, aber nicht beschränkt auf 4 , die dem BIHVG letztlich sämtliche Arten von Streitigkeiten von Verfassungsrang zur Entscheidung stellt. Beispielhaft werden eine spezielle Staats-Entitäts-Streitigkeit über die Rechtmäßigkeit besonderer paralleler Beziehungen zu Nachbarstaaten und die Überprüfung der Vereinbarkeit von Regelungen einer Entitätsverfassung, eines Entitätsgesetzes oder eines Gesetzes des Staates mit der BIHV genannt. Dass auch Staatsgesetze der Normenkontrolle unterfallen, ist dem Wortlaut nicht eindeutig zu entnehmen, ist aber ständige Rechtsprechung des BIHVG. Diese schon systematisch naheliegende Auslegung wird von der in Art. III. 3 (b) B H I V 1 7 festgeschriebenen Normenhierarchie gestützt. Art. VI. 3 (a) BIHV scheint die abstrakte Normenkontrolle einerseits und föderale bzw. Organstreitigkeiten andererseits in einer Weise zu verknüpfen, die den Anwendungsbereich dieser Zuständigkeitsnorm stark beschränken würde. Dem Wortlaut zufolge bedarf es offenbar einer verfassungsrechtlichen Streitigkeit zwischen den genannten Körperschaften und Institutionen selbst im Fall einer abstrakten Normenkontrolle. Oder die Norm impliziert, eine föderale bzw. Organstreitigkeit stelle immer zugleich eine abstrakte Normenkontrolle dar. Und umgekehrt: Eine abstrakte Normenkontrolle sei nur im Zusammenhang mit einer solchen Streitigkeit möglich. Die notwendige Verknüpfung von föderaler Streitigkeit bzw. Organstreitigkeit und abstrakter Normenkontrolle ergibt aber konzeptionell keinen Sinn. In ersteren wird über Rechte und Pflichten des Staates gegenüber den Entitäten und umgekehrt oder der Entitäten untereinander gestritten. Eine abstrakte Normenkontrolle kann hiermit zusammenfallen, muss dies aber nicht. Soll etwa die Überprüfung eines die Grundrechte beschränkenden Gesetzes unbedingt davon abhängen, dass sich zwei der genannten Körperschaften oder staatlichen Institutionen 16

Mit der Wahl dieses Begriffs soll keine Entscheidung über die Struktur des Staates BIH impliziert werden. Den eigentlichen Sachfragen ist es freilich wenig dienlich, der Staatsstruktur von BIH das eine oder andere Kleid auf Kosten einer angemessenen Lösung im Einzelfall aufzwingen zu wollen. Einig ist man sich wohl zumindest darüber, dass die Struktur „komplex" ist und sowohl föderale als auch konföderative Elemente aufweist. So dürfte ein funktionaler, am konkreten Fall ausgerichteter Ansatz wohl am konstruktivsten sein. 17 „The Entities and any subdivisions thereof shall comply fully with this Constitution, which supersedes inconsistent provisions of the law of Bosnia and Herzegovina and of the constitutions and law of the Entities, and with the decisions of the institutions of Bosnia and Herzegovina." 8 Graf Vitzthum/Winkelmann

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hierüber streiten? Ausreichend sollte doch sein, dass ein Antragsberechtigter (Art. VI. 3 (a) 2. Unterabs. BIHV) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit hat. Die Aufzählung von Organen und Institutionen in Art. VI. 3 (a) 1. Unterabs. BIHV ist auch nicht etwa als Beschränkung der Antragsberechtigten einer abstrakten Normenkontrolle zu verstehen, denn diese werden in Art. VI. 3 (a) 2. Unterabs. BIHV abschließend aufgezählt. Vielmehr begründet Art. VI. 3 (a) 1. Unterabs. BIHV daher die Zuständigkeit des BIHVG zur Lösung föderaler bzw. Organstreitigkeiten zwischen den genannten Beteiligten, unabhängig von der Zuständigkeit für die abstrakte Normenkontrolle. Bedeutsam für die vorliegende Diskussion ist dies im Hinblick auf die Beteiligung internationaler Organe: Bedarf es also für eine abstrakte Normenkontrolle nicht gleichzeitig einer Streitigkeit zwischen den genannten Körperschaften und Institutionen „von Bosnien-Herzegowina" (zu denen OHR, OSZE etc. sicherlich nicht gehören), so lässt sich ein Normenkontrollantrag jedenfalls nicht mit dem lapidaren Hinweis darauf verwerfen, dass es bei Beteiligung eines internationalen Akteurs eben keine Streitigkeit zwischen Institutionen von BIH sei. Anderes gilt jedoch für das Organstreitverfahren: Hier lässt der Wortlaut von Art. VI. 3 (a) 1. Unterabs. BIHV dem BIHVG keine Möglichkeit, über Umfang der Rechte und Pflichten anderer Institutionen als der der Entitäten oder BIHs zu befinden. Anlass für einige Missverständnisse gibt auch die Zuständigkeit für Verfassungsbeschwerden nach Art. VI. 3 (b) BIHV. Zum einen entsteht der Eindruck, das BIHVG könne nur existierende Entscheidungen eines Gerichts in BIH überprüfen, mithin gerade nicht den häufigen Fall, dass eine solche gänzlich unterbleibt. In ständiger Rechtsprechung nimmt das BIHVG aber im Lichte von Art. 6 EMRK auch Beschwerden gegen das Schweigen der Gerichte an 18 . Zum anderen erscheint die Beschwerde gegen sonstige Akte der öffentlichen Gewalt gänzlich ausgeschlossen. Insoweit hat das BIHVG bislang nur entschieden, Beschwerden gegen Verwaltungsakte nicht zur Entscheidung anzunehmen19. Liest man die Wendung „Urteil eines anderen Gerichts in Bosnien-Herzegowina" freilich im Zusammenhang mit der Regel der Rechtswegserschöpfung (Art. 11 III Geschäftsordnung des BIHVG 2 0 ), so dürfte das entscheidende Kriterium für die Zulässigkeit nicht die Rechtsnatur des angefochtenen Aktes sein, sondern die Frage, ob der Beschwerdeführer effektive Rechtsmittel zur Verfügung und ggf. von ihnen Gebrauch gemacht hat. Das BIHVG müsste dann nur noch die Grundsatzfrage klären, ob es formalistisch erst den wahrscheinlich aussichtslosen Gang zu einem Gericht verlangt (um ein „Gerichtsurteil" zu haben), oder ob es hierauf verzichtet, wenn ein Rechtsweg offensichtlich nicht vorhanden ist. Die Beschränkung auf „judgments of any other court in Bosnia and Herzegovina" erlangt - wie wir noch sehen werden - auch im Zusammenhang mit der Uberprüfung von Akten internationaler Organe Bedeu18 U 23/ 00 -Appeal of Mira Vrhovac. 19 U 36 / 00 - Appeal of Nezir Kurtovic. 20

Zugänglich auf der Internetseite des BIHVG: www.ccbh.ba.

Kompetenzstreitigkeiten im Gefüge von Dayton

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tung, deren Befugnisse in anderen Annexen des Friedensabkommens angesiedelt sind. Das BIHVG hat sich nämlich gefragt, inwieweit man die in anderen Annexen fungierenden Organe als „Gerichte", zumal „in Bosnien-Herzegowina" ansehen kann und ihre Akte als „Urteile".

I I I . Rechtsprechungsüberblick 1. Keine Uberprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Allgemeinen Rahmenabkommens für den Frieden in BIH, U 7/97 Der Versuch, aus dem Verfassungsrahmen (Annex 4) heraus, noch dazu durch das darin geschaffene Verfassungsgericht, die Vereinbarkeit des Allgemeinen Rahmenabkommens mit der Verfassung der Republik Bosnien-Herzegowina überprüfen zu lassen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. So wies denn auch das BIHVG den darauf gerichteten Normenkontrollantrag der Kroatischen Partei des Rechts 1861 und der Bosnisch-Herzegowinischen Partei des Rechts in seiner Entscheidung U 7/97 (BIHVG Bulletin 1997, 255-257) ohne große Umschweife ab: Die BIHV sei als Annex 4 zum Allgemeinen Rahmenabkommen für den Frieden in BIH erlassen worden, weshalb „dieses Abkommen unmöglich im Widerspruch zur Verfassung von Bosnien-Herzegowina" stehen könne. Dem BIHVG fehle aber auch die Zuständigkeit zur Uberprüfung des Rahmenabkommens am Maßstab der Verfassung der Republik 21 Bosnien und Herzegowina, „da dieser Gerichtshof auf der Grundlage der Verfassung von Bosnien-Herzegowina errichtet worden ist, mit der ausschließlichen Aufgabe, diese Verfassung zu hüten." Im Ergebnis ist dieser Entscheidung sicherlich zuzustimmen. Es leuchtet auch ein, dass das unter der BIHV errichtete BIHVG als Maßstab nicht jene RepubliksVerfassung heranziehen kann. Andernfalls müsste diese Institution ihre eigene Rechtsgrundlage in Frage stellen, ja letztlich über die Verfassungsmäßigkeit der in gewisser Weise revolutionären - Änderung bzw. Ersetzung der Republiks- durch die BIHV entscheiden und zwar am Maßstab der einschlägigen Vorschriften der Republiks-Verfassung 22. Als Verfassungsgericht der nunmehr geltenden BIHV (vgl. Art. X I I BIHV) ist das BIHVG aber nur dieser unterworfen. Auch der Ver21 In der englischen Übersetzung der Entscheidung ist freilich nur von „constitutionality" die Rede; aber am Maßstab welcher Verfassung? Der der früheren Republik oder der neuen? - Sinnvoller ist die Fassung in der Landessprache, die insoweit vorliegend auch zugrunde gelegt wird. 22 Zu den theoretischen Zweifeln an der Legitimität der Substitution der Republiks- durch die Dayton-Verfassung (in der Praxis kein Thema) vgl. S. Yee, The New Constitution of Bosnia and Herzegovina, 7 EJIL (1996), S. 176-192 (177-181); kritisch (insb. zur Etablierung der ethnischen Paritäten in den staatlichen Institutionen) auch E. Sarcevic, Die Schlußphase der Verfassungsgebung in Bosnien-Herzegowina (Leipziger Juristische Vorträge, Heft 28), Leipzig 1996, S. 47 f. Zu Recht betont aber Marko (Fn. 10), S. 62, die Kompromissqualität des Friedensabkommens. 8*

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weis auf strukturelle Gründe verdient Beifall. Der daraus gezogene Schluss freilich, das Rahmenabkommen könne „unmöglich" der Verfassung in Annex 4 widersprechen, ist überhaupt nur verständlich, wenn man das Rahmenabkommen und seine Annexe als einheitliches Vertrags werk auffasst 23. Dann nämlich könnte man vermeintliche Widersprüchlichkeiten nach dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung (hier des Vertrages) unter Anwendung der üblichen Konkurrenzregeln auflösen. Insoweit gäbe es dann keinen Widerspruch. Die Begrifflichkeit „Rahmenabkommen - Annexe" legt die These von ihrer Einheitlichkeit zwar nahe. Mit guten Argumenten wird jedoch auch vertreten, „das" Abkommen von Dayton sei in Wirklichkeit ein Bündel selbständiger, wenn auch durch das Rahmenabkommen geklammerter völkerrechtlicher Verträge 24. Dann wäre aber ein Widerspruch zumindest denkbar, gerade wenn die Zusammensetzung der jeweiligen Parteien, wie hier, sich nicht deckt. Richtig ist jedenfalls aus völkerrechtlicher Sicht (Konsensualprinzip), dass ein Organ, das durch den einen Vertrag geschaffen wird, keine (etwa rechtsprechende) Gewalt im Anwendungsbereich eines anderen Vertrages hat, außer es wird vereinbart. Dies muss wohl selbst dann gelten, wenn man Rahmenabkommen und Annexe als einheitliches Vertragswerk betrachtet, dann mit der Begründung, dass letztere in keinem hierarchischen Verhältnis, sondern parallel zueinander stehen25. Geht man von der völkerrechtlichen Selbständigkeit der Annexe aus, hätte ein Widerspruch darüber hinaus nur zwischen der BIHV (gleich, ob Teil oder nicht Teil des Rahmenabkommens) und der Republiks-Verfassung bestehen können, denn die Geltungsanordnung für erstere unter Abänderung und Aufhebung letzterer steht nicht im Rahmenabkommen, sondern in Art. X I I BIHV.

2. Teilweise

Überprüfung

von Rechtsakten des HR (Annex 10 DPA)

a) Annex 10 DPA als Ermächtigungsgrundlage für den HR Als die Vertragsparteien zu Annex 10 (Republik Bosnien und Herzegowina, Republik Kroatien, Bundesrepublik Jugoslawien, Föderation Bosnien-Herzegowina 23

Dass das BIHVG diese Ansicht vertritt, wird aus späteren Entscheidungen (vgl. die Entscheidungen zu Annex 6, U 7 - 1 1 / 98, und zu Annex 3, U 40/00) deutlich, in denen es seine Zuständigkeit zur Überprüfung anderer Annexe auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung auch unter Hinweis auf U 7/97 verneint; in U 7/97 werden die Annexe aber nicht gesondert erwähnt. 24 So Dörr (Fn. 3), S. 130, unter Hinweis auf die jeweils unterschiedliche Zusammensetzung der Vertragschließenden sowie das im Falle eines einheitlichen Vertrages kaum verständliche „welcome and endorse" der Annexe in Art. II-VIII des Rahmenabkommens. S. auch Gaeta (Fn. 3), S. 147; sie weist auch auf die politischen Hintergründe der eine solche Sichtweise voraussetzenden Anerkennung von Volkerrechtspersönlichkeit der RS und der FBIH hin (158 ff.). 25 Auf das Argument der Parallelität, das das BIHVG in anderen Entscheidungen heranzieht (vgl. U 40/00 vom 2. 2. 2001, §§ 10 f.), wird weiter unten noch einzugehen sein.

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und Republika Srpska) diesen unterzeichneten, hatten sie das verborgene Potential von Annex 10 zum Rahmenabkommen vermutlich nicht vollends erfasst. Wie viele andere Klauseln des Rahmenabkommens und seiner Annexe weist auch die „Vereinbarung über die zivile Durchführung des Friedensabkommens" einige auslegungsbedürftige und vor allem -fähige Wendungen auf. So beauftragt Annex 10 den HR damit, die eigenen Anstrengungen der Vertragsparteien zu „fördern" 26 („facilitate") und die Aktivitäten der an den zivilen Aspekten des Friedensabkommens beteiligten (internationalen) Organisationen und Einrichtungen zu mobilisieren und gegebenenfalls zu koordinieren (Art. I. 2). Dies soll er, „as entrusted by a U.N. Security Council resolution" 27 , u. a. dadurch erreichen, dass er die Durchführung des Friedensabkommens beobachtet (Art. II. 1 (a)), mit den Vertragsparteien „engen Kontakt hält", um die vollständige Einhaltung sämtlicher Aspekte des Friedensabkommens durch sie und ein hohes Maß an Zusammenarbeit zwischen ihnen und den hieran beteiligten Organisationen und Einrichtungen „voranzutreiben" (Art. II. 1 (b)), und indem er „ die Beseitigung etwaiger Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der zivilen Durchführung fördert, so wie der HR es für erforderlich erachtet" (Art. II. 1 (d)) 28 . In Art. IV verpflichten sich die Vertragsparteien ferner zur „vollen Zusammenarbeit" mit dem HR und seinen Mitarbeitern wie auch mit den anderen internationalen Organisationen und Einrichtungen. Für die weitreichenden Befugnisse, auf die sich der HR in der Aktualität beruft, bieten die zitierten Regelungen allerdings nur eine karge Grundlage 29. Ihr wahres Potential erschließt sich erst aus Art. V. Unter dem Titel: Höchste Auslegungsinstanz („Final Authority to Interpret") übertragen die Vertragsparteien dem HR im Anwendungsbereich des Abkommens das Recht zur verbindlichen Auslegung „dieser Vereinbarung über die zivile Durchführung des Friedensabkommens"30. 26 Etwaige Übersetzungen im Text sind solche der Verfasser, außer es wird gesondert auf eine vorhandene amtliche Übersetzung hingewiesen. 27 Die Bedeutung dieses Verweises auf eine Sicherheitsratsresolution ist nicht ganz klar. Vgl. Dörr (Fn. 3) S. 137, der aufgrund des Wortlauts der hierauf ergangenen Resolution S/ RES/1031 v. 15. 12. 1995 (Essential Texts [Fn. 3], S. 531, auch: www.un.org/Docs/scres/ 1995/9540526e.htm) im HR eher eine vertraglich eingesetzte Behörde denn ein Unterorgan des UN-Sicherheitsrates sieht, dessen Besetzung und Aufnahme der Tätigkeit allerdings von einem zustimmenden Votum des UN-Sicherheitsrats abhängig gemacht wurde. Die maßgebliche Rechtsgrundlage der Befugnisse des HR ist aber wohl das Übereinkommen der Annex 10-Parteien. 28 Hervorhebung der Verfasser. Im Original: „Facilitate, as the High Representative judges necessary, the resolution of any difficulties arising in connection with civilian implementation." 2 9 Deshalb auch die pessimistische Bewertung etwa von Ν. Malcolm, Bosnia. A Short History, Basingstoke/Oxford 1996, S. 269 f.: Neben der Menschenrechtskammer und der International Police Task Force habe auch der HR „no real powers of enforcement, beyond the powers to advise, monitor and coordinate." 30 Art. V Annex 10 DPA: „The High Representative is the final authority in theater regarding interpretation of this Agreement on the civilian implementation of the peace settlement." Dies wird in § 27 der Resolution 1031 (1995) des UN-Sicherheitsrats (Fn. 27, S. 531) noch-

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Zwar beschränkt sich dieses Recht auf „diese Vereinbarung über die zivile Durchführung des Friedensabkommens", also Annex 10. Da dieser Annex den HR aber mit der Beobachtung, Koordinierung und Förderung der zivilen Durchführung des Friedensabkommens insgesamt beauftragt, wirkt die aus dem Recht auf verbindliche Auslegung des Annex 10 fließende Macht letztlich auch auf sämtliche nichtmilitärisch gearteten Vereinbarungen in anderen Annexen ein! Eine solche Übertragung der verbindlichen Auslegung an einen Dritten ist an sich nichts Ungewöhnliches, und gerade im vorliegenden Fall lag es nahe, dies den zu einer authentischen (konsensualen) Auslegung augenscheinlich unfähigen Parteien abzunehmen. Die Besonderheit ergibt sich freilich aus dem Zusammentreffen von verbindlicher Auslegungskompetenz und Exekutiv- wie Legislativfunktion im Amt des HR: Dieser legt damit seine Ermächtigungsnormen selbst aus 31 . Das De facto 32 - oder Quasi-Protektorat 33 der Internationalen Gemeinschaft in BosnienHerzegowina war also, wenn auch nicht in aller Deutlichkeit, bereits im Wortlaut von Annex 10 angelegt. Für seine Interventionen beruft sich der HR üblicherweise ausdrücklich auf die genannten Artikel V (final authority) und II. 1 (d) Annex 10 („fördern") 34 . Zugleich erinnert er aber an die (streng genommen lediglich politische) Rückendeckung durch den sog. Rat zur Durchführung des Friedens (Peace Implementation Council - PIC). Dieser unterstützt die extensive Auslegung des Auftrages i. d. S., dass der HR die Beseitigung von Schwierigkeiten bei der zivilen Durchführung des Friedensabkommens auch dadurch „fördern" kann, dass er bindende Entscheidungen fällt, wenn er es für erforderlich hält. Diese können nach Auffassung des PIC u. a. Maßnahmen zur Sicherung der Durchführung des Friedensabkommens zum Gegenstand haben, worunter auch das Vorgehen gegen Amtsinhaber oder Beamte fällt, die nach Auffassung des HR gegen die Verpflichtungen aus dem Friedensabkommen oder dessen Durchführungsbestimmungen verstoßen 35. Bei entsprechender Auslegung des Begriffs des „Förderns" könnte dies letztlich sogar so weit gehen, dass der HR die Regelungen anderer ziviler Annexe (einschließlich der Ver-

mals bestätigt. Das entsprechende Recht zur verbindlichen Auslegung der Vereinbarung über die militärischen Aspekte des Friedensabkommens (Annex 1A DPA) haben die Vertragsparteien in Art. X I I dieser Vereinbarung dem IFOR-Kommandanten verliehen. 31 Ähnlich: Gaeta (Fn. 3), S. 157: „[ ... ] yet another manifestation of the very broad authority they are given [ . . . ]". So könnte man mit La Ferrara (Fn. 8), S. 189, fast schon von einer „Kompetenzkompetenz" sprechen. 32 Von einem „subsidiären de-facto-Protektorat" sprechen W. Graf Vitzthum/M. Mack , Multiethnischer Föderalismus in Bosnien-Herzegowina, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, Berlin 2000, S. 81 -136 (116). 33 Begriffe bei Marko (Fn. 10), S. 55-87 (80) bzw. bei Nowak (Fn. 4), S. 100. 34

Vgl. die Entscheidungen des OHR unter www.ohr.int/decisions/archive.asp. S. Bonn Peace Implementation Conference 1997 (Dec. 10, 1997), Punkt XI. 2, in: Essential Texts (Fn. 3), S. 199. Zu Zusammensetzung und politischer Bedeutung des PIC vgl. Dörr (Fn. 3), S. 137, und La Ferrara (Fn. 8), S. 188 ff. 35

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fassung in Annex 4) letztverbindlich auslegen dürfte. Freilich sind die Eingriffe des HR in die Rechtsordnungen der anderen Annexe, allen voran der Verfassung in Annex 4, in der Praxis eher konkrete Rechtsakte, die Rechte und Pflichten der Bürger und Institutionen nach der Verfassung betreffen. Gerade in diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, wo die Grenzen der Interventionsbefugnis liegen, ob es sie überhaupt gibt und wer gegebenenfalls ihre Einhaltung überwachen kann. In der Praxis war der HR anfangs etwas zögerlich, steuernd in die Kompetenzbereiche der nationalen Institutionen einzugreifen. Nachdem er durch den PIC zu Bonn 36 allerdings den nötigen Rückhalt der in diesem Gremium vereinten Internationalen Gemeinschaft erhalten hatte, handelte er entschlossener und oktroyierte zahlreiche Gesetze, welche die nationalen Gesetzgeber aufgrund der Obstruktion durch die Vertreter einzelner Volksgruppen nicht anzunehmen vermochten, hob unterinstanzliche Gerichtsentscheidungen auf und enthob - sogar auf höchster politischer Ebene - Amtsträger 37 und Inhaber anderer gesellschaftlicher Schlüsselpositionen 38 ihres Amtes. Solche Aktionen trugen ihm keineswegs nur Missfallen ein; manche Politiker sind dem HR sogar dankbar dafür, dass er ihnen die unbequemen Entscheidungen abnimmt 39 .

b) Keine Überprüfung der Befugnisse des HR nach Annex 10 DPA Die Frage, ob die Befugnisse des HR als solche nach Annex 10 am Maßstab der Verfassung überprüfbar sind, hat das BIHVG in seiner wegweisenden Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Staatsgrenzschutzgesetzes (Zakon ο dravnoj slubi - State Border Service Law, U 9/00 vom 29. 9. 2000 40 ) en passant verneint: „5. Nachdem die Parlamentarische Versammlung es unterlassen hatte, einen von der Präsidentschaft von Bosnien-Herzegowina am 24. November 1999 vorgeschlagenen Gesetzesentwurf zu verabschieden, wurde das Staatsgrenzschutzgesetz vom HR für Bosnien-Herzegowina am 13. Januar 2000 erlassen. In Anbetracht der gegenwärtigen Situation in Bosnien-Herzegowina ist die rechtliche Stellung des HR als Vertreter der Völkergemeinschaft nicht beispiellos, vielmehr sind ähnliche Funktionen auch aus anderen Ländern mit besonderen politischen Rahmenbedingungen bekannt. Einschlägige Beispiele sind die Mandate 36

Bonn Peace Implementation Conference 1997 (Fn. 35). Vgl. die schon oben Fn. 14 erwähnte Amtsenthebung Jelavics. Die Parallelinstitutionen wurden im Anschluss an die Entscheidung des BIHVG, die Wahlregeln mangels Zuständigkeit nicht zu überprüfen (vgl. noch u. III. 4. a), ausgerufen. 38 Vgl. die „Decision removing Edhem Bicakcic from his position as Director of Elektroprivreda for actions during his term as Prime Minister of the Federation of Bosnia and Herzegovina" vom 23. 2. 2001 (Fn. 14); im Detail s. u. 2. d). 3 9 So Marko (Fn. 10), S. 74. 37

40 Veröffentlicht im Gesetzblatt von Bosnien-Herzegowina (Sluzbeni glasnik Bosne i Hercegovine) Nr. 1/01 vom 19. Januar 2001, auch im Internet (o. Fn. 20). Übersetzung von C. Navarro Susino .

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unter dem Völkerbund-Regime und in mancher Hinsicht auch Deutschland und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Trotz ihrer Anerkennung als souveräne Staaten wurden die betroffenen Länder unter internationale Aufsicht gestellt und ausländische Behörden waren im Namen der Völkergemeinschaft in diesen Staaten tätig und setzten sich an die Stelle der inländischen Behörden. Die Rechtshandlungen solcher internationaler Behörden wurden oft im Namen des beaufsichtigten Staates vorgenommen. Ein solche Situation stellt letztlich eine Art funktionale Dualität dar: ein Organ des einen Rechtssystems interveniert in einem anderen Rechtssystem, was zu einer Dualität seiner Funktionen führt. Das gleiche gilt für den HR: Er wurde von der Völkergemeinschaft mit besonderen Vollmachten ausgestattet und sein Mandat ist internationaler Natur. Im vorliegenden Fall hat der HR - dessen Befugnisse nach Annex 10 des Allgemeinen Rahmenabkommens, den einschlägigen Beschlüssen des Sicherheitsrates und der Erklärung von Bonn weder als solche noch hinsichtlich ihrer Ausübung der Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof unterliegen - in der Rechtsordnung Bosnien-Herzegowinas anstelle der nationalen Organe interveniert." (Hervorhebung der Verfasser).

Dies liegt in der Linie der zuvor erwähnten Entscheidung U 7 / 97, auf welche freilich nicht ausdrücklich Bezug genommen wird. Etwas verwirrend ist es, wenn das BIHVG sich anschließend doch für zuständig erklärt, Gesetze, die der HR ja in Ausübung seiner Befugnisse (!) anstelle des Parlaments erlässt, auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung hin zu prüfen.

c) Uberprüfung von Gesetzen, die der HR per Entscheidung anstelle der nationalen Gesetzgeber erlässt So heißt es in der zitierten Entscheidung zum Staatsgrenzschutzgesetz weiter: „6. Unabhängig von der Natur der Befugnisse des HR nach Annex 10 des Allgemeinen Rahmenabkommens für den Frieden in Bosnien-Herzegowina ändert daher die Tatsache, dass das Staatsgrenzschutzgesetz vom HR und nicht von der Parlamentarischen Versammlung erlassen wurde, nicht die Rechtsnatur dieses Gesetzes, weder in formeller Hinsicht das Gesetz wurde als solches im Gesetzblatt des Staates Bosnien-Herzegowina am 26. Januar 2000 (Nr. 2 / 2000) veröffentlicht - noch in materieller, da es sich unabhängig davon, ob es mit der Verfassung übereinstimmt oder nicht, auf einen Regelungsbereich bezieht, der unter die Gesetzgebungskompetenz der Parlamentarischen Versammlung gemäß Artikel IV. 4 (a) der Verfassung fällt. Die Parlamentarische Versammlung hat die Freiheit, den ganzen Text des Gesetzes oder einen Teil von ihm in Zukunft zu ändern, vorausgesetzt, dass das entsprechende Verfahren eingehalten wird. 7. Die im ersten Absatz von Artikel VI. 3 der Verfassung dem Verfassungsgericht verliehene Zuständigkeit, „die Verfassung zu hüten", weiter ausgeführt in den Unterabsätzen (a), (b) und (c), in Verbindung mit Artikel I. 2 der Verfassung, demzufolge „Bosnien-Herzegowina [ . . . ] ein demokratischer Staat [ist], der rechtsstaatlich und auf der Grundlagé freier und demokratischer Wahlen handeln soll", verleiht dem Verfassungsgerichtshof die Befugnis zur Uberprüfung der Verfassungsgemäßheit aller Akte, unabhängig davon, wer ihr Urheber ist, sofern diese Uberprüfung auf einer der in Artikel VI. 3 der Verfassung aufgezählten Zuständigkeiten beruht. " (Hervorhebung der Verfasser).

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In späteren Entscheidungen über Anträge, die per OHR-Entscheidung oktroyierte Gesetze auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand stellen, beschränkt sich das BIHVG im wesentlichen auf einen Verweis auf seine Rechtsprechung in U 9 / 00. So in der Entscheidung U 16/00 vom 2. 2. 2001 41 , in der das BIHVG eine Regelung für vereinbar mit materiellem Verfassungsrecht (Eigentumsrecht und Diskriminierungsverbot) befunden hat, derzufolge erst nach einem zweijährigen Bewohnen der vollständige Eigentumserwerb an einer Wohnung möglich sein sollte, an der vormals lediglich ein Wohnrecht bestanden hatte 42 . In der Entscheidung U25 / 00 4 3 vom 13. 3. 2001 ließ das BIHVG es darüber hinaus konsequenterweise ungeprüft, ob der HR unter Annex 10 auch ein bereits bestehendes Gesetz abändern dürfe, hier das Gesetz über Reisedokumente (Zakon ο putnim ispravama). Stattdessen beschränkte es sich darauf festzustellen: „29. Ob die Entscheidung des HR erforderlich war, obwohl bereits ein Gesetz über Reisedokumente existierte, ist eine Frage der gesetzgeberischen Tätigkeit der parlamentarischen Institutionen von Bosnien-Herzegowina. Daher hat der HR durch die gesetzesändernde Entscheidung die innerstaatlichen Organe im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten ersetzt. Das BIHVG hat diese Frage bereits oben im Zusammenhang mit der Zulässigkeit entschieden (s. o. § 22)." [In § 22 wird lediglich der wesentliche Inhalt von U 9/00 wiederholt].

Zuletzt entschied das ΒIHGV entsprechend in U 26/01 vom 28. 9. 2001 (noch unveröffentlicht), mit der das Gesetz über den Staatsgerichtshof unter dem Gesichtspunkt der Zuständigkeit des Gesamtstaates zur Errichtung dieses Gerichts für verfassungskonform befunden wurde.

d) Keine Uberprüfung von Einzelakten des HR? Im Verfahren U 37/01 trat zum ersten Mal eine Schwachstelle dieser Rechtsprechung zutage: Der Gedanke der Substitution nationaler Behörden als auslösender Faktor für die Zuständigkeit des BIHGV war solange relativ unproblematisch, wie der HR nur in den Formen handelte, in denen auch irgendein nationales Organ handeln könnte und dürfte. Denn man konnte in seinem Handeln eine Art Ersatzvornahme sehen. Und solange die ersetzende Behörde im Rahmen der Zuständigkeiten und aufgrund der Ermächtigungsgrundlage der ersetzten Behörde handelt, ist das verfassungsrechtlich an sich unproblematisch. In U 37/01 war aber eine Ersetzung nicht so klar erkennbar. Ahnlich wie bei früheren Amtsenthebungen hatte der HR am 23. Februar 2001 entschieden44, 41 Gesetzblatt von Bosnien-Herzegowina Nr. 13/2001 vom 12. 6. 2001; auch im Internet (Fn. 20). 42 Auf diese Weise sollten die Flüchtlinge dazu bewegt werden heimzukehren, statt die Wohnungen sogleich wieder zu verkaufen. Die Zwei-Jahres-Klausel ist mittlerweile wegen ihrer zweifelhaften Wirkung in der Praxis per Entscheidung des HR (!) vom 17. Juli 2001 wieder aufgehoben worden. 43 Gesetzblatt von Bosnien-Herzegowina Nr. 17/2001 vom 10. 7. 2001.

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„To remove Mr. Edhem Bicakcic from his position of General Manager of the company ,Elektroprivreda\ and to bar him from holding any official, elective or appointive public office unless or until such time as I may, by further Decision, expressly authorise him to hold the same. This Decision has immediate effect and will not require any further procedural steps. Mr. Bicakcic must vacate his office immediately."

Bicakcic wurde also nicht nur seines Amtes enthoben; vielmehr wurde ihm auch verboten, jedwedes offizielle, durch Wahl oder Benennung zu besetzende öffentliche Amt auszuüben, außer oder bis es ihm der HR per Entscheidung ausdrücklich gestatten würde. Die HR-Entscheidung wurde im wesentlichen damit begründet, dass Bicakcic während seiner der aktuellen Stellung vorangehenden Amtszeit als Premierminister der FBIH sein Amt missbraucht 45 und hierdurch nicht nur interne politische Zielsetzungen, sondern letztlich auch die Durchführung des Friedensabkommens gefährdet habe. So habe er gesetzwidrig eine Beschäftigungsanstalt der Föderation gegründet und die Umleitung von Beschäftigungsmitteln für unzulässige Zwecke gestattet; gesetzwidrig die Uberweisung von 825.000 K M (=DM) aus dem Haushalt der Föderation auf das Konto eines privaten Vereins gestattet; vorschriftswidrig im Namen der Föderationsregierung ein Konto eingerichtet und dieses dazu benutzt, nach seinem Ermessen und ohne Rechenschaftspflicht oder Transparenz Aktivitäten zu finanzieren; und gesetzwidrig die Zollverwaltung angewiesen, die gegen bestimmte Personen eingeleiteten Bußgeldverfahren wegen Zollhinterziehung einzustellen und entrichteten Zoll und sonstige Gebühren zu erstatten. Diese Handlungen zeigten ein Verhaltensmuster des Missbrauchs ministerieller Befugnisse, der Zweckentfremdung öffentlicher Gelder (letztlich zum Nutzen der SDA 4 6 ), der Untergrabung demokratisch legitimierter Institutionen, der Schädigung demokratischer Prozesse und des privaten Rundfunks und Fernsehens. Auch wenn Bicakcic in seinem neuen Amt noch kein Fehlverhalten zur Last gelegt worden war, hielt der HR die Amtsenthebung für erforderlich, weil andernfalls die nötige „Transparenz und Rechtschaffenheit des öffentlichen Lebens" ebenso wie der Friedensprozess untergraben würden. Mit den hiergegen zeit- und fast wortgleich erhobenen Beschwerden von Bicakcic selbst sowie 37 Abgeordneten des Repräsentantenhauses der Föderation 47 wur44

S. schon o. Fn. 38. Verkündung der Entscheidung im Gesetzblatt der FBIH (Sluzbene novine Federacije Bosne i Hercegovine) Nr. 9/2001 vom 23. 3. 2001. 45 Aufgrund dessen wurde ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauchs und Urkundenfälschung gegen Bicakcic et al. durch den Ermittlungsrichter am Obersten Gericht der Föderation eingeleitet (Ki 28/01 vom 5. 4. 2001). Auch hiergegen wandte sich Bicakcic an das BIHVG (U 34/01) und hatte - was aus Konventionssicht wohl kaum haltbar ist (vgl. das Sondervotum der Richter Hans Danelius und Joseph Marko) - damit Erfolg. 46

Bicakcic ist Mitglied der Stranka demokratske akcije (SDA - Partei der demokratischen Aktion). 47 Eine solche Gruppe von Abgeordneten ist nach Art. VI. 3 (a) 2. Unterabs. BIHV antragsbefugt. Etwas befremdlich ist es aber, dass die Abgeordneten eine Beschwerde nach Art. VI. 3 (b) BIHV erhoben, für welche die Antragsbefugnis nach (a) irrelevant ist.

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de erstmals der Versuch unternommen, eine weitere Ausprägung des Wirkens des HR, nämlich die Amtsenthebung obstruierender Entscheidungsträger, auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand zu stellen. In den Beschwerdeschriften vom 23. Februar 2001 48 beschreibt sich Bicakcic bzw. wird er beschrieben als Musterpolitiker für die Umsetzung des Friedensabkommens (In der Tat hatte sich die Internationale Gemeinschaft offenbar, trotz gelegentlich aufkommender Bedenken, gerne der Kooperationsbereitschaft des damaligen Ministerpräsidenten bedient.). Der HR handele ohne Rechtsgrundlage; diese sei weder in Art. V und II. 1 (d) Annex 10 BIHV noch in Punkt XI. 2 der PIC Erklärung zu Bonn 49 zu sehen. Denn die Befugnis zur letztverbindlichen Auslegung von Annex 10 ermächtige nicht zu legislativen, exekutiven oder judikativen Maßnahmen. Besagte Erklärung beziehe sich nur auf „public officials", was seine Stellung als Generaldirektor von Elektroprivreda nicht einschließe. Die Amtsenthebung stelle eine Sanktion dar, welche nur durch die ordentliche Gerichtsbarkeit verhängt werden dürfe. Des weiteren verletzte ihn das vom HR befolgte Verfahren sowie die Entscheidung selbst in seinen Rechten aus Art. 1, 3 (Verbot erniedrigender Behandlung), 6 (faires Verfahren, Unschuldsvermutung, Recht auf angemessene Verteidigung u. a.), 13 (Recht auf wirksame Beschwerde), 14 (Diskriminierungsverbot) EMRK, Art. 3 ZP 1 EMRK in Verbindung mit den in Annex 3 angefügten Prinzipien von Kopenhagen50 (passives Wahlrecht) und Art. II. 3 (e) (Verfahrensgrundrechte), II. 4 (nichtdiskriminierende Gewährleistung der Grundrechte) in Verbindung mit II. 6 (Anwendungsbefehl) BIHV.

Der - nicht zur Veröffentlichung bestimmte - Beschluss vom 2. November 2001 fiel einmal mehr lakonisch aus. Das BIHVG verwarf sowohl den Antrag der Parlamentarier als auch die Individualbeschwerde mangels Zuständigkeit. Die angefochtene Entscheidung sei kein Urteil i. S. v. Art. VI. 3 (b) BIHV. Darüber hinaus seien die Parlamentarier nicht beschwerdebefugt. Ihr Antrag falle auch nicht in den Anwendungsbereich von Art. VI. 3 (a) BIHV. e) Kommentar In U 9/00 (Staatsgrenzschutzgesetz) hat also das BIHVG erstmals gewagt, die Grenzen zwischen den Befugnissen internationaler und nationaler Akteure bzw. zwischen den verschiedenen Annexen des Daytoner Abkommens zu verwischen. Freilich schränkt es die eigenen Befugnisse noch deutlich ein, wenn es feststellt, es könne die Ermächtigungsgrundlage und ihre Ausübung durch den HR nicht überprüfen, weil dieser auf völkerrechtlicher Grundlage agiere, möge er auch zuweilen anstelle nationaler Institutionen handeln (funktionale Dualität). Der Zusatz, auch die Ausübung der Befugnisse des HR sei nicht nachprüfbar, muss angesichts der dann doch erfolgenden Nachprüfung der Gesetze selbst aber wohl so verstanden werden, dass zwar nicht das „Ob" einer Entscheidung justiziabel sei, wohl aber das „Wie". Mit anderen Worten: Wann der HR eingreifen sollte, unterliegt seinem ge48

Archiv der Verfasser. Vgl. zu diesen Rechtsgrundlagen o. 2. a. 50 Essential Texts (Fn. 3), S. 40. 49

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richtsfreien Beurteilungsspielraum. Nur: Wenn er dann handelt, muss er sich an die Verfassung halten. Selbstredend ist die Einschränkung, dass das BIHVG nur zuständig sei, „sofern diese Überprüfung auf einer der in Artikel VI. 3 der Verfassung aufgezählten Zuständigkeiten beruht". Es gibt keinen Rechtsweg zum BIHVG. Weder die BIHV noch das einfache Recht enthalten eine Generalklausel wie etwa § 40 I VwGO. Hinsichtlich der Frage, ob es sich um einen Rechtsakt i. S. v. Art. VI. 3 BIHV handelt, stellt das BIHVG in U 9/00 darauf ab, dass es sich „nach Inhalt und Form" um ein Gesetz von BIH handle. Der Urheber des Aktes sei ohne Bedeutung für die Zuständigkeit. Damit meinte man, klare Verhältnisse zu schaffen. Entsprechend wird im Fall U 37/01 (Bicakcic) der Antrag der Parlamentarier abgelehnt, weil er nicht im Anwendungsbereich von Art. VI. 3 (a) BIHV liege; und die Individualbeschwerde, weil die Entscheidung kein Urteil eines Gerichts in BIH sei. Doch ist damit die Jurisdiktion gegenüber Akten des HR wirklich klar eingegrenzt und vor allem in U 37/01 konsequent fortgesetzt? Angesichts der Auffangklausel in Art. VI. 3 (a) BIHV („einschließlich, aber nicht beschränkt auf...") ist doch eigentlich keine deutliche Grenze im Hinblick auf den Prüfungsgegenstand zu erkennen. Allerdings muss man zugestehen, dass der Anwendungsbereich von Art. VI. 3 (a) BIHV systematisch, teleologisch und bei rechtsvergleichender Betrachtung auf föderale Streitigkeiten und abstrakte Normenkontrollen begrenzt sein dürfte. Mithin fielen Einzelakte wie die Amtsenthebungen durch den HR nicht unter Art. VI. 3 (a) BIHV. Zu kurz greift hingegen der Hinweis darauf, die Absetzungsentscheidung des HR sei kein BIH-Gerichtsurteil. Dies ist zwar zutreffend. Aber immerhin hatte das BIHVG bereits entschieden, Art. VI. 3 (b) BIHV weit auszulegen und auch Verfassungsbeschwerden gegen das Schweigen der Justiz anzunehmen. Ein konsequenter Schritt weiter wäre dann im Lichte der Rechtsschutzgarantie (Art. 6 bzw. 13 EMRK) die Annahme auch von Beschwerden gegen Verwaltungsakte gewesen, die höchstwahrscheinlich überhaupt nicht, schon gar nicht vor Gericht, anfechtbar sind. Und selbst wenn sich das BIHVG gegen den voreiligen Schluss sträubte, dass kein unteres Gericht in BIH sich mit einer Entscheidung des HR beschäftigen würde, so hätte es die Beschwerde doch wegen Nichterschöpfung des Rechtswegs verwerfen können. Die gebrauchte formal-juristische - zumal nicht zwingende - Argumentation scheut eine Diskussion des eigentlichen Problems. Sie impliziert zu Unrecht eindeutige Beschränkungen der Zuständigkeit des BIHVG und nährt so das weit verbreitete Gefühl in der Bevölkerung, dem Walten des HR schutzlos ausgeliefert zu sein. Immerhin darf man nicht übersehen, dass gerade die HR-Einzelfallentscheidungen zum Teil schwerwiegende Bedenken im Hinblick auf Rechtsstaats- und Demokratieprinzip und die Verfahrensgarantien aufwerfen. Da nützt auch der Hinweis nicht, es handle sich im Grunde genommen nur um rein politische Personalentscheidungen wie die Entlassung eines Ministers oder eines politischen Beamten. Denn zumindest wenn hiervon gewählte Vertreter des Volkes (wie etwa seinerzeit Ante Jelavic [Fn. 14]) betroffen sind, ist das Demokratieprinzip in Frage gestellt.

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Umgekehrt ist der HR selbst nicht, auch nicht mittelbar, denen verantwortlich, die seine Rechtsakte befolgen müssen, mag er auch erheblichem Druck und Kontrolle durch die vor Ort ansässigen Botschafter der PIC-Staaten ausgesetzt sein. Sieht man in Annex 10 die maßgebliche Rechtsgrundlage des Handelns des HR, so ist diese - und das gilt generell für seine Akte - kaum ausreichend bestimmt, gerade wenn man die Auslegung zugrunde legt, die Annex 10 durch den HR selbst erfährt (letztlich: „Der HR darf alles, was er für erforderlich hält."). Dies gilt aber gleichermaßen für die sog. Bonner Befugnisse, deren Rechtsnatur an sich schon fragwürdig ist; denn dem PIC ist in Annex 10 nicht etwa eine Weisungsbefugnis o. ä. zugewiesen. Wenn das BIHVG also mit dem Ausschluss der Annex 10-Befugnisse von seiner Prüfung das Vorliegen und Einhalten einer Ermächtigungsgrundlage ungeprüft lassen will, so ist dies mit dem etwa im deutschen öffentlichen Recht so zentralen Gedanken des Gesetzesvorbehalts für Eingriffe in Grundrechte nicht vereinbar. Der zweifelhafte Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis würde toleriert. Man kann (und sollte) jedoch den Ausschluss der Befugnisse des HR als Prüfungsgegenstand anders verstehen, namentlich indem man zwischen den Eingriffsbefugnissen nach Annex 10 einerseits und den innerstaatlichen Ermächtigungsgrundlagen andererseits differenziert. Es liegt ja in der Natur der Sache, dass in Annex 10 nicht sämtliche Befugnisse aufgezählt sind, die der von den Vertragsparteien eingesetzte Helfer in der Not benötigt, um das Land wieder auf die sichere Bahn zu bringen. Daher wird man der rechtlichen Annex 4/Annex 10-Konstruktion wohl eher gerecht, wenn man, abgesehen von der bloßen Beratertätigkeit, alle Maßnahmen des HR als Weisungen oder Ersatzvornahmen ansieht. Die Befugnis hierzu ergibt sich aus Annex 10. Für die jeweils erforderliche Maßnahme, sei es die vorläufige Verabschiedung eines dringend erforderlichen Gesetzes, sei es eine politische Sanktion o. ä., stützt sich der HR dann aber auf innerstaatliche Befugnisnormen der jeweils (eigentlich) zuständigen Körperschaften und Organe. So gesehen ist verständlich, dass Annex 10 die spezifischen Ermächtigungsgrundlagen nicht selbst enthält. Handelt der HR als Gesetzgeber, so bedient er sich dessen Kompetenzen, muss sich im Ergebnis (Gesetz) dann aber auch an die verfassungsrechtlichen Vorgaben halten. In diesem Sinne ist die bisherige Rechtsprechung zur gesetzgebenden Tätigkeit des HR zu verstehen: Zwar wird vom BIHVG zunächst nicht in Zweifel gezogen, dass eine Weisungs- und Ersetzungsbefugnis besteht, da sie auf Völkerrecht beruht. Mit dem Gesetz selbst darf der HR aber weder Kompetenzvorschriften verletzen (also beispielsweise ein Staatsgesetz erlassen, wenn eigentlich die Entitäten zuständig wären, vgl. U 26/01 - Staatsgerichtshof); noch darf er materielles Verfassungsrecht verletzen (vgl. etwa U 16/00-2-Jahre-Klausel). Diese Figur der Ersetzung nationaler Organe müsste das BIHVG dann aber auch konsequent fortentwickeln. Auf diese Weise könnte es auch bei Einzelakten zu vertretbaren Ergebnissen gelangen. So müsste sich der HR auch etwa bei Amtsenthebungen innerhalb der rechtlichen Grenzen bewegen, die das jeweils zuständige innerstaatliche Organ einhalten müsste. Das setzt freilich voraus, dass ein bestimmter

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Rechtsakt im innerstaatlichen Recht überhaupt vorgesehen ist. Im Bicakcic-Fall wäre eine Rechtsgrundlage für die Absetzung vom Amt des Generaldirektors wohl noch zu finden, die Absetzung allerdings kaum mit Zuwiderhandlungen im Amt des Premierministers (!) zu rechtfertigen gewesen. Die Position des Unternehmensdirektors ist nach dem Elektrowirtschaftsgesetz und dem Statut von Elektroprivreda 51 eine öffentliche; der Unternehmensrat kann den Direktor mit Zustimmung der Regierung des Amtes entheben. So hätte der HR entweder das erstinstanzliche Verwaltungsorgan (Unternehmensrat) oder aber den Obersten Gerichtshof der Föderation (Vrhovni sud Federacije - OGH) als gerichtliche Kontrollinstanz ersetzt. Nähme man ersteres an, hätte Bicakcic streng genommen erst einmal den OGH anrufen müssen, so dass seine Beschwerde als verfrüht hätte abgewiesen werden können. Letzterenfalls wäre - nach der Substitutionsregel - die gegen das ersetzte Urteil des OGH gerichtete Beschwerde eigentlich nach Art. VI. 3 (b) BIHV in die Zuständigkeit des BIHVG gefallen. Eine andere Frage ist freilich, ob die Absetzung überhaupt den Schutzbereich eines Grundrechts eröffnet. So ist etwa zweifelhaft, ob die Absetzung eine strafrechtliche Sanktion im Sinne von Art. 6 EMRK darstellt. Hingegen ist eine rechtliche Grundlage für das dauerhafte Verbot der Ausübung jeglichen öffentlichen Amtes, noch dazu in einem derartigen Verfahren, wohl weder im innerstaatlichen Recht zu finden noch in der Ubereinkunft über Wahlen (Annex 3) und den aufgrund dessen erlassenen Wahlregeln. Art. 604 der Wahlregeln sieht als Sanktion beispielsweise lediglich den Ausschluss von den jeweils anstehenden Wahlen vor. Auch das neue Wahlgesetz für BIH (Izborni zakon Bosne i Hercegovine 52 ) eröffnet neben Bußgeldern und der Streichung von den Listen lediglich die Sanktionsmöglichkeit, die Zulassung zur Wahl zurückzunehmen (de-certification) 53 . Dabei ist das Verbot der Wahrnehmung öffentlicher Ämter und der Entzug des passiven Wahlrechts bis zu 20 Jahren (!) etwa im spanischen Strafgesetzbuch (Art. 39 ff. Código Penal54) als eine mögliche Sanktion für bestimmte Straftaten vorgesehen. Voraussetzung sind hier freilich schwere Straftaten und ein rechtsstaatliches Strafverfahren. Verhängt der HR trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage derartige Sanktionen und noch dazu unter Missachtung jeglicher Verfahrensgarantien, so stellt dies einen schwerwiegenden Eingriff in die Berufsfreiheit, das passive Wahlrecht und die Verfahrensrechte nach Art. 6 EMRK dar. Rechtfertigend ließe sich anführen, der HR verfüge über Notstandsbefugnisse, die ihm besondere Mittel in besonderen Zeiten gestatteten. Mit der Besserung der Verhältnisse im Land wird eine solche Argumentation aber zunehmend zweifelhaf51

„Zakon ο elektroprivredi", Gesetzblatt der Republik Bosnien-Herzegowina Nr. 1/93 und 13/94; „Statut JP Elektroprivreda", ebd. Nr. 5/94 und Gesetzblatt der FBIH Nr. 35/99 und 10/01. 52 Verkündet im Gesetzblatt von Bosnien-Herzegowina Nr. 23/01 vom 19. 9. 2001. 53 Vgl. Art. 6.9, 6.10, 14.6 BIH-Wahlgesetz. 54 Ley Orgànica 10/1995 vom 23. 11. 1995.

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ter. Das andere Extrem ist, den HR vollkommen der Verfassungsordnung zu unterwerfen. Dann könnte man ihn aber auch gleich verabschieden. Eine gangbare Alternative zu einem vollständigen Entzug von Verfahrensrechten und zu einer kompletten Vernachlässigung sonstiger Verfassungsprinzipien, ein Kompromiss also zwischen Notstandsrechten und Schutz der Verfassung, wäre es aber auch, die Akte des HR für sofort vollziehbar zu erklären, etwaigen Rechtsmitteln keine aufschiebende Wirkung zukommen zu lassen, die Akte aber dennoch einer nachträglichen Kontrolle durch die zuständigen Behörden und Gerichte (bis hin zum BIHVG) zu unterwerfen. Dies klingt in den Ohren vieler Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft sicherlich ketzerisch. Denn die Ansicht ist weit verbreitet, die internationalen Akteure walteten in BIH nach wie vor im rechtsfreien Raum. Das mag zwar bequem sein. Es mag aus den bereits genannten Erwägungen heraus grundsätzlich auch zweckmäßig gewesen sein. Allerdings ist fraglich, ob wahre Eigenverantwortlichkeit und ehrlicher Respekt vor den erklärten Zielen von Rechtsstaat und Demokratie sich auf diese Weise besser erreichen lassen. Ein Vorbild, das sich nicht vorbildlich verhält, ist unglaubwürdig. Diese Erkenntnis ist fast schon zu banal.

3. Keine Überprüfung der Urteile der Menschenrechtskammer für Bosnien-Herzegowina (Annex 6 DPA) a) Annex 6 als Rechtsgrundlage der Menschenrechtskammer Um in der Phase des Wiederaufbaus einen möglichst effizienten und von national(istisch)er Einflussnahme weitgehend unabhängigen Schutz der Menschenrechte zu gewährleisten, als Grundvoraussetzung für einen erfolgversprechenden Neuanfang 55, haben sich die Vertragsparteien in Annex 6 nicht nur dazu verpflichtet, das höchste Niveau international anerkannter Menschenrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten (Art. I Annex 6); diese Verpflichtung ergibt sich wortgleich aus Art. II. 1 BIHV. Vielmehr wurde zusätzlich eine Menschenrechtskommission errichtet. Sie besteht aus der Ombudsperson und der Menschenrechtskammer; letztere setzt sich aus acht internationalen und 6 nationalen Richtern zusammen (Art. VII. 1 Annex 6). Die Kammer entscheidet über behauptete oder offensichtliche Verletzungen von Grundrechten nach der EMRK durch die Vertragsparteien. Sie nimmt u. a. Individualbeschwerden sowie Anträge von den Vertragsparteien, von Nichtregierungsorganisationen oder Personengruppen entgegen (Art. VIII. 1 i. V. m. II. 2 Annex 6 DPA). Der Prozess wird entweder mit einer gütlichen Streitbeilegung und einem Bericht oder mit einer begründeten Entscheidung über das Vorliegen oder NichtVorliegen einer Menschenrechtsverletzung

55 Zu den Instrumenten für den Menschenrechtsschutz im Friedensabkommen vgl. P. H. F. Bekker, The Protection of Human Rights Through the Dayton/Paris Peace Agreement on Bosnia, AJIL 90 (1996), S. 305-311; Nowak (Fn. 4).

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abgeschlossen. Die Kammer kann Maßnahmen zur Beseitigung der Verletzung („remedies") und Wiedergutmachung bestimmen (Artikel IX und XI. 1). Nach Artikel XI. 3 und 6 sind ihre Entscheidungen - vorbehaltlich eines internen Revisionsverfahrens (Art. X. 2) endgültig („final and binding") und müssen von den Vertragsparteien vollstreckt werden 56.

Im Vergleich zu dem Verhältnis zwischen anderen Annexen ist das zwischen Annex 4 und Annex 6 geradezu explizit geregelt. In Art. II.l BIHV wird ausdrücklich auf die Menschenrechtskommission in Annex 6 verwiesen. Art. VIII. 2 dieses Annexes schließt Anträge aus dem Zuständigkeitsbereich der Menschenrechtskammer aus, die im wesentlichen einer Sache ähneln, welche die Kammer bereits entschieden hat oder die bereits in einem anderen Verfahren oder einer internationalen Untersuchung oder Streitbeilegung anhängig sind 57 . Damit ist zumindest schon einmal eine Art Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme vorgegeben. Außerdem dürfte man aus der Unterscheidung zwischen „procedure" (ohne „international") und „international investigation" auch schließen können, dass die Kammer jedenfalls zunächst eine Sache nicht zur Entscheidung annimmt, selbst wenn sie „nur" vor einer nationalen Institution anhängig ist. Doch auch darüber hinaus spricht einiges dafür, dass der Rechtszug vom BIHVG zur Menschenrechtskammer nicht nur „in der Praxis" 58 , sondern ebenso theoretisch nicht gangbar ist: Auch das BIHVG ist ja nicht rein national besetzt. Auf seiner Bank sitzen drei internationale Richter, die wie im Falle der Menschenrechtskammer gewährleisten sollen, dass der in Art. II. 1 BIHV und Art. I Annex 6 anvisierte höchste menschenrechtliche Schutzstandard in der Praxis auch zur Geltung kommt. Wenig Aufschluss, weder in die eine noch die andere Richtung, gibt dagegen die Bezeichnung gerichtlicher und sonstiger Entscheidungen als „final and binding". Angesichts der inflationären Verwendung dieses Begriffs im Friedensabkommen59 sowie in den Entitätsverfassungen60 ist der interpretative Spielraum recht groß. Somit dürfte diese Formulierung lediglich die Endgültigkeit der Entscheidung innerhalb des jeweiligen Rechtsrahmens beschreiben, also weitere ordentliche, nicht aber außerordentliche Rechtsmittel abschneiden. Damit ist freilich noch offen, was unter „außerordentlich" zu verstehen ist. 56 Einzelheiten zu den Rechtsgrundlagen und der Arbeit der Menschenrechtskammer finden sich bei Nowak (Fn. 4), Fn. 11 m. w. N.; s. auch Dörr (Fn. 3), S. 169-171. 57 Im Original: „The Chamber shall not address any application which is substantially the same as a matter which has already been examined by the Chamber or has already been submitted to another procedure or international investigation or settlement." 58 Vgl. Nowak (Fn. 4), Fn. 11 m. w. N. 59 So sind neben den Entscheidungen des BIHVG (Art. VI. 4 BIHV) auch die Entscheidungen der Menschenrechtskammer (Art. XI. 3 Annex 6) und im Rahmen von Annex 3 die Entscheidungen der Unterkomission für Wahlbeschwerden (Art. 606 der Wahlregeln) „final and binding", die der CRPC „final" (Art. XII. 7 Annex 7). 60

Auf Föderationsebene sind sowohl die Urteile des Verfassungsgerichts als auch des Obersten Gerichts „final and binding" (Art. 12 I bzw. 16 I 1 FBIHV). Dagegen bezeichnet die RSV die Entscheidungen des Verfassungsgerichts nur als „universally binding" (Art. 119 I RSV).

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Nach Art. XIV Annex 6 geht die Verantwortung für die Fortsetzung der Tätigkeit der Menschenrechtskommission nach Ablauf von fünf Jahren von den Vertragsparteien auf die Institutionen von BIH über, sofern nicht - wie bereits geschehen - die Parteien Abweichendes vereinbaren. Nach wie vor herrscht unter den Antragstellern Verwirrung über die Parallelität von Institutionen zum Schutz der Menschenrechte. Für den Einzelnen erscheint es freilich in manchen Fällen noch immer sicherer, sich an die Kammer zu richten, da ihr Zuständigkeitsbereich zwar auf Individualbeschwerden beschränkt ist, hier aber weiter formuliert ist und das Erfordernis der Erschöpfung des Rechtsweges - zumindest in der Vergangenheit auch großzügiger gehandhabt wurde als vom BIHVG. Die Kammer kann sich mit jeglichem menschenrechtswidrigen Akt der Vertragsparteien (Entitäten und Gesamtstaat) befassen, während das BIHVG dem Wortlaut nach auf „Urteile anderer Gerichte in BosnienHerzegowina" beschränkt ist, mag diese Wendung in der Praxis auch eine weite Auslegung erfahren (s.o. II am Ende). Immerhin haben sich die beiden Gerichte darauf geeinigt, Beschwerden nicht zur Entscheidung anzunehmen, die einen Gegenstand betreffen, der bereits vor dem jeweils anderen Gericht anhängig gemacht worden ist.

Schwierigkeiten bereiten der Menschenrechtskammer Fälle, in denen die Verletzung von Grundrechten auf einer verfassungswidrigen Norm beruht. Eine Vorlage zum BIHVG kommt angesichts dessen Annex 6-Rechtsprechung („Menschenrechtskammer ist kein Gericht in Bosnien-Herzegowina") nunmehr wohl nur noch mit erhöhtem Begründungsaufwand in Betracht 61. Dabei dürfte freilich nur der Fall problematisch sein, dass die Norm gegen Rechte verstößt, die allein durch die Verfassung, nicht auch durch die EMRK geschützt sind. Im letzteren Fall hebt die Menschenrechtskammer das Gesetz zwar nicht auf, doch lässt sie es - der Straßburger Praxis gemäß - unangewendet. Der objektiv-rechtlichen Funktion der Individualbeschwerde würde es freilich eher entsprechen, wenn ein konventions- oder verfassungswidriges Gesetz auch inzident aufgehoben werden könnte. Während dies für die Kammer schon konzeptionell ausgeschlossen ist, könnte das BIHVG durch eine korrekte Auslegung seiner Zuständigkeitsnormen diesen Schritt ohne weiteres gehen.

b) Die Verfassungsbeschwerden gegen Urteile der Menschenrechtskammer 62 Das BIHVG musste sich schon bald der Frage stellen, ob es seinerseits Entscheidungen der Menschenrechtskammer auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung (inklusive EMRK) überprüfen könne. Im Laufe des Jahres 1998 erhielt das BIHVG eine Reihe von Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen der Menschen61

Vgl. hierzu noch unten. 62 U 7/98 bis U 11/98, veröffentlicht im Gesetzblatt von Bosnien-Herzegowina Nr. 9/ 99, sowie - in den drei (!) Landessprachen, englisch, französisch und deutsch - im Bulletin des BIHVG 1999, Teil 1, S. 71 ff. 9 Graf Vitzthum/Winkelmann

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rechtskammer. Bezeichnenderweise handelte es sich bei den Beschwerdeführern durchweg um staatliche Organe 63. So wandte sich etwa im Fall U 7 / 98 die Staatsanwaltschaft 64 der FBIH (Javno pravobranilastvo Federacije Bosne i Hercegovine) gegen die Entscheidung der Menschenrechtskammer im Fall Sretko Damjanovic gegen Föderation von Bosnien-Herzegowina (CH / 96 / 30, 11. März 1998). Darin hatte die Menschenrechtskammer die Föderation zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von DM 16.750 und Prozeßkostenerstattung verpflichtet. Die Beschwerdeführerin war der Auffassung, die Entscheidung der Kammer verstoße gegen innerstaatliche Gesetze und völkerrechtliche Konventionen. Damjanovic habe von keiner staatlichen Stelle Schadensersatz gefordert. Außerdem sei dessen Todesstrafe bereits vor der Unterzeichnung des DPA verhängt worden. - Im Fall U 8/98 focht wiederum die Staatsanwaltschaft der Föderation die Entscheidung der Menschenrechtskammer im Fall Milorad Marceta gegen die Föderation von Bosnien-Herzegowina (CH/97/41, 3. April 1998) an. Auch hier hatte die Menschenrechtskammer die Föderation zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von DM 30.000 wegen der Verletzung verschiedener Grundrechte Marcetas verurteilt. Die Beschwerdeführerin hielt den Zahlungsbefehl für unbegründet, weil die Regelung von Schadensersatzmodalitäten und -höhe nicht Gegenstand der EMRK oder ihrer Protokolle sei, sondern nach innerstaatlichem Recht erfolge.

In den gemeinsam entschiedenen Beschwerden U 7/98 bis U 11/98 fällt die Begründung fast wortgleich aus. Das BIHVG merkt an, dass es zwar nach Art. I I i. V. m. VI. 3 (b) BIHV dazu berufen sei, die in der Verfassung geschützten Menschenrechte gegen diese verletzende Urteile von Gerichten in Bosnien-Herzegowina zu schützen. Allerdings sehe die Verfassung in Art. II. 1 einen ergänzenden Mechanismus zum Schutze dieser Rechte in Annex 6 zum Friedensabkommen vor, der einen „Teil des gesamten Systems zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in Bosnien-Herzegowina" darstelle. Verfassung und Annex 6 seien gleichzeitig beschlossen worden und könnten nicht im Widerspruch zueinander stehen. Das Verhältnis zwischen den beiden zum Menschenrechtsschutz berufenen Institutionen, BIHVG und Menschenrechtskammer, sei aber weder im Friedensabkommen noch einfachgesetzlich geregelt. Im Hinblick auf die Zuständigkeitsnorm des Art. VI. 3 (b) BIHV („judgment of a court in Bosnia and Herzegovina") besitze die Menschenrechtskammer zwar „gerichtliche Funktionen"; nach der Begrifflichkeit des Annex 6 sei sie jedoch weder ein „Gericht" noch eine Institution von Bosnien-Herzegowina. Denn gemäß Artikel XIV Annex 6 gehe, vorbehaltlich abweichender Vereinbarung, nach fünf Jahren die Verantwortung für die Fortsetzung der Arbeit der Menschenrechtskommission auf die „nationalen Institutionen" über. Folglich sei die Kammer keine nationale, keine Institution von BIH. Des weiteren könne der Verfassungsgeber nicht beabsichtigt haben, die Menschenrechtskammer 63 Im den Fällen U 7 / 98, U 8 / 98, U 9 / 98 und U 11 / 98 war Beschwerdeführer die Staatsanwaltschaft der Föderation, während im Fall U 10/98 der Vizepräsident des Ministerrates von BIH die Menschenrechtskammer anrief. 64 Die „Staatsanwaltschaften" der FBIH und der RS haben historisch bedingt wesentlich umfangreichere Befugnisse als dies etwa in der Bundesrepublik Deutschland der Fall ist. Sie vertreten den Staat in allen Rechtsstreitigkeiten außer Strafsachen.

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nach Art. VI. 3 (c) BIHV (konkrete Normenkontrolle), der wie Art. VI. 3 (b) BIHV von „irgendeinem Gericht in Bosnien-Herzegowina" spreche, zur Vorlage an das BIHVG zu verpflichten. Im Umkehrschluss sei daher die Menschenrechtskammer kein Gericht in BIH. Zugegebenermaßen bestehe durch diese institutionelle Parallelität die Gefahr widersprüchlicher Rechtsprechung, und in der Praxis werde der Einzelne vor das Dilemma gestellt, welcher Institution er seine Beschwerde nun vorlegen solle. Dies sei aber im Friedensabkommen so vorgesehen, i. ü. nur vorübergehender Natur und daher hinzunehmen. In seinem Sondervotum erinnert Richter Begic an die durchaus divergierenden Meinungen zu dieser Frage in der „Venedig-Kommission"65. Die Menschenrechtskammer sei ein nach Art. II. 1 BIHV geschaffenes Verfassungsorgan. Der internationale Einschlag der Menschenrechtskammer stehe ihrer Eigenschaft als „ein Gericht in Bosnien-Herzegowina" nicht entgegen. Vor allem gebe aber das BIHVG, indem es ihre Entscheidungen ungeprüft lasse, einen erheblichen Teil seines Mandats auf, die Verfassung zu hüten und die Menschenrechte zu schützen. Schließlich stelle der Verzicht des BIHVG das „grundlegende, demokratische prozessuale Prinzip der Zweistufigkeit bei Entscheidungen über Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der ,institutionellen Zweistufigkeit'" in Frage. Auch die Bezeichnung der Entscheidungen der Menschenrechtskammer als „endgültig und bindend" entbinde das BIHVG nicht von seiner Pflicht, als höchste gerichtliche Instanz die Verfassung zu hüten. Denn die Entscheidungen anderer Organe und Institutionen in Bosnien-Herzegowina hätten gleichfalls diese Eigenschaft (und unterfielen dennoch der Jurisdiktion des BIHVG).

c) Kommentar Der in den Entscheidungen anklingende Gedanke einer Internationalisierung des Menschenrechtsschutzes verdient Beifall, ebenso wie der daraus gezogene Schluss auf eine beschränkte Kontrollbefugnis des BIHVG. Er liegt in der Logik der Internationalisierung. Denn in der Tat wäre es andernfalls kaum nachvollziehbar, weshalb die Menschenrechtskammer aufgrund eines gesonderten Annexes errichtet wurde. - Aufhänger ist freilich die Frage, ob die Kammer ein „Gericht in BosnienHerzegowina" sei. Diese auf das Territorium bezogene Formulierung macht es schwierig, die Menschenrechtskammer nicht als Gericht in BIH anzusehen, zumal dann, wenn der Verfassungsgeber offenbar zwischen dieser Formulierung und der Körperschafts-bezogenen („of Bosnia and Herzegovina", Art. VI. 3 (a) BIHV) zu unterscheiden weiß. Wenig überzeugend ist auch die Feststellung, die Menschenrechtskammer werde in Annex 6 nicht als „Gericht" bezeichnet und sei deshalb auch keines im Sinne von Art. VI. 3 (b) BIHV, obwohl es gerichtliche Funktionen

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European Commission for Democracy through Law - Venice Commission: Venice, eoe. int. - S.o. den Beitrag von Thomas Markert in diesem Band. *

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erfülle. Kann das linguistische Argument, gerade in diesem Zusammenhang, wirklich das überragende funktionale ausschalten? Schließlich ist auch die Begründung nicht zwingend, der Verfassungsgeber könne kaum Vorlagen der Kammer zum BIHVG bezweckt haben, so dass die Kammer kein Gericht in BIH nach Art. VI. 3 (c) BIHV und somit auch nicht nach Art. VI. 3 (b) BIHV sein könne. Denn im Fall der Menschenrechtskammer stand nie zur Debatte, dass sie ein Gesetz inzident wegen Verstoßes gegen die EMRK und insbesondere gegen die Verfassung (die ja kein Prüfungsmaßstab für die Kammer ist!) verwerfen könne. Diese Kompetenz steht allein dem BIHVG zu, so dass eine Vorlage von der Kammer an das BIHVG durchaus Sinn ergeben hätte. Bei einer teleologischen Betrachtung wäre - und ist eigentlich noch immer so - sogar ein differenzierter Ansatz in Bezug auf die Menschenrechtskammer denkbar, ohne sich in Widersprüche zu verstricken. Aufgrund der internationalen Präsenz sowohl in der Menschenrechtskammer wie im BIHVG ist eine Uberprüfung der Entscheidungen der Kammer durch das Gericht nach Art. VI. 3 (b) BIHV - und umgekehrt - weder geboten noch ratsam. Andererseits wäre eine Zusammenarbeit der Kammer mit dem BIHVG durch Vorlagen nach Art. VI. 3 (c) BIHV durchaus sinnvoll, könnte doch dieser der Kammer aus ihrem Dilemma helfen, wenn die Verletzung von Menschenrechten letztlich auf einem verfassungsoder konventionswidrigen Gesetz beruht. Zugegebenermaßen wäre dies vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen. Mit der in naher Zukunft anstehenden Uberführung der Kammerverantwortung in die des BIHVG 6 6 wäre ein solcher Zug fast schon elegant.

4. Keine Überprüfung von Rechtsakten im Rahmen der Vereinbarung zu Wahlen (Annex 3 DPA) a) Annex 3 als Rechtsgrundlage für die Durchführung von Wahlen durch die OSZE Mit der Vereinbarung über Wahlen verpflichten sich die Parteien (Republik BIH, Föderation BIH und Republika Srpska) dazu, ideale Rahmenbedingungen für freie und geheime Wahlen zu schaffen. Im Hauptteil des Annex 3 selbst sind einige Wahlgrundsätze genannt; darüber hinaus werden die Paragraphen 7 und 8 des sog. Kopenhagener Dokuments67 inkorporiert, das detaillierte Verhaltensregeln für die

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Diese auch als „Merger" bezeichnete Überführung der Aufgaben der Kammer in den nationalen institutionellen Rahmen hat in der Vergangenheit Anlass für ernstzunehmende rechtliche und politische Probleme, aber auch für Eifersüchteleien gegeben. Mit dem anstehenden Beitritt von BIH in den Europarat drängt die Lösung des Problems. Vgl. hierzu den Gesetzesentwurf der Venedig-Kommission vom 23. 10. 2001 (CDL-INF (2001) 20): „Proposal for a Law on the Merger of the Human Rights Chamber and the Constitutional Court of Bosnia and Herzegovina", angenommen auf der 48. Plenarsitzung (Venedig, 19./20. 10. 2001): venice.coe.int / does / 2001 / CDL-INF(2001)020-e.html.

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Vorbereitung und Durchführung von Wahlen wie auch für die Umsetzung der Ergebnisse aufstellt. Die OSZE wird damit beauftragt, Wahlen auf allen Ebenen durchzuführen. Zu diesem Zweck soll die OSZE eine Vorläufige Wahlkommission 6 8 (Provisional Election Commission) einrichten, die den gesetzlichen Rahmen für die Wahlen schafft (Rules and Regulations69) und diese auch durchfühlt. Die Parteien verpflichten sich zudem, die Wahlvorschriften ohne Rücksicht auf interne Gesetze (!) und Vorschriften voll und ganz zu befolgen (Art. III. 1): „Rules and Regulations. The Commission shall adopt electoral rules and regulations regarding : the registration of political parties and independent candidates; the eligibility of candidates and voters; the role of domestic and international election observers; the ensuring of an open and fair electoral campaign; and the establishment, publication, and certification of definitive election results. The Parties shall comply fully with the electoral rules and regulations, any internal laws and regulations notwithstanding."

Offenbar will man zwar mit der Bezeichnung als „Electoral Rules and Regulations" statt „Election Law" die Trennung zwischen Annex 3 und Annex 4 (BIHV) unterstreichen („Gesetze erlässt nur der Gesetzgeber"); die Wahlregeln entfalten aber tatsächlich die Wirkung eines Wahlgesetzes. Der Ubergangscharakter des OSZE-Mandats wird an verschiedenen Stellen deutlich. Die Vorläufige Wahlkommission soll für zukünftige Wahlen durch eine Ständige, von den Vertragsparteien zu bildende, ersetzt werden (Art. V). Die BIHV will gemäß Art. IV. 2 (a) zwar die Mitglieder des Repräsentantenhauses auf Staatsebene aufgrund eines von der Parlamentarischen Versammlung zu erlassenden Wahlgesetzes gewählt wissen; allerdings sollen „die ersten Wahlen" gemäß Annex 3 zum Rahmenabkommen durchgeführt werden. Entsprechendes gilt nach Art. V. 1 (a) BIHV für die Präsidententrias. Erst kürzlich ist es den Parlamentariern und den Mitgliedern der Volksgruppenkammer (House of Peoples) - unter erheblichem internationalen Druck - gelungen, das Wahlgesetz für B I H 7 0 zu erlassen, und damit eine der Hauptvoraussetzungen für den Beitritt zum Europarat zu erfüllen. Mit dem Inkrafttreten des Wahlgesetzes 67 Paragraphen 7 und 8 des „Document of the Second Meeting of the Conference on the Human Dimension of the Conference on Security and Cooperation in Europe, Copenhagen, 1990" sind Annex 3 angehängt. 68 Die Vorläufige Wahlkommission setzt sich zusammen aus dem Leiter der OSZE-Mission (der als Kommissionsvorsitzender agiert und im Falle von Meinungsverschiedenheiten das letzte Wort hat), dem HR oder seinem/r Stellvertreter/in, Vertretern der Vertragsparteien sowie anderen Personen, die der Leiter der OSZE-Mission in Absprache mit den Vertragsparteien hierzu beruft, Art. III. 3. 69

Vgl. die „Rules and Regulations for General Elections 2000" (www.oscebih.org/pec/ pdf/rules-egulations-general-elections-2000.pdf) sowie die „Rules and Regulations for Municipal Elections 2000" (www.oscebih.org/downloads/pec/eng/pec-rr-english.pdf ). Im folgenden wird auf erstere Bezug genommen, die in den zitierten Vorschriften jedoch letzteren gleichen. Bekanntmachung in den Landessprachen im Gesetzblatt von BIH Nr. 18/00, 20/ 00,21/00 und 27/00. ™ S. o. Fn. 52.

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sind die Zuständigkeiten i m Bereich der Wahlen von der OSZE auf die nationale Wahlkommission übertragen worden. Zuvor war das OSZE-Mandat mehrfach verlängert worden, wobei die Rechtsgrundlage dieser Verlängerungen schwer auszumachen war. Allein die Erklärungen der verschiedenen Konferenzen des PIC dürften hierfür rechtlich nicht ausgereicht haben71. Dass überhaupt eine Verlängerung erforderlich ist, impliziert Annex 3 in Verbindung mit den genannten Verfassungsvorschriften. Allerdings beschränkt Annex 3 selbst das Mandat nicht ausdrücklich auf die jeweils ersten Wahlen. Speziell die - letztlich zentrale - Geltung der Wahlregeln wurde in der Hoffnung auf den baldigen Erlass eines eigenen Gesetzes auf die ersten Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahlen beschränkt, jedoch laut Verfassung, nicht gemäß Annex 3. Aber selbst wenn man in der ursprünglich getroffenen Vereinbarung eine zeitliche Mandatsbegrenzung sieht, spricht doch vieles dafür, dass die OSZE nicht nur faktisch ihren Auftrag fortgesetzt hat, sondern hierfür auch eine rechtliche Grundlage existiert, und sei diese in einer dahingehenden Auslegung der ursprünglichen Vereinbarung zu sehen. Dies war nicht unerheblich für die Frage der Zuständigkeit des BIHVG zur Uberprüfung von Akten, die in Annex 3 angesiedelte Organe erließen. Zur Erfüllung ihres Auftrages hat die Vorläufige Wahlkommission in Kapitel 600 der Wahlregeln (Fn. 69) eine Unterkommission für Beschwerden (Election Appeals Sub-Commission 7 2 ) ins Leben gerufen. Sie leitet ihre Befugnisse von der Vorläufigen Wahlkommission ab, agiert als »juridical body" und erstattet dem Leiter der OSZE-Mission, der auch ihre vier Mitglieder 7 3 ernennt, Bericht (Art. 601). Die Unterkommission soll für die Einhaltung der Wahlregeln sorgen, Beschwerden i m Wahlverfahren entscheiden und Verstöße gegen die Grundsätze des Rahmenabkommens (insbesondere wohl Annex 3) und die Wahlregeln ahnden, etwa durch Geldbußen, aber auch durch die Streichung einzelner Kandidaten von den Listen und sogar den Ausschluss von Parteien von der Teilnahme an Wahlen (Art. 602, 71 Vgl. die Erklärungen des PIC London (4.-5. 12. 1996, „Constitutional and Legal Matters and Elections", § 12: „The Council welcomes the OSCE's decision to extend the mandate of the OSCE Mission to Bosnia and Herzegovina until 31 December 1997. The Council welcomes also the agreement of the authorities in Bosnia and Herzegovina to OSCE supervision of the preparation and conduct of the municipal elections to be held in 1997, and their agreement to extend the mandate of the Provisional Election Commission until the end of 1997."); PIC Bonn (Fn. 35, „Summary of Conclusions", § 14: „ [ . . . ] invited OSCE to extend the mandate [ . . . ]"; Punkt VI. 3 : „ [ . . . ] expects the authorities in Bosnia to invite the OSCE to supervise elections [ . . . ] . It therefore requests the OSCE to extend the mandate of its Mission in Bosnien-Herzegowina accordingly."; Punkt VI. 4: „ [ . . . ] Until the Law is adopted and in force and the Permanent Election Commission is established and fully functional, elections will be conducted under the supervision and authority of the Provisional Election Commission and its Rules and Regulations."); und PIC Brüssel (23.-24. 5. 2000, Abschnitt III, § 8: „ [ . . . ] The Council notes its dissatisfaction with the failure of the BiH authorities to adopt an Election Law. Owing to this failure, these elections will be conducted and supervised by the OSCE."); alle in Essential Texts (Fn. 3). 72 www.oscebih.org/easc/eng/easc.htm enthält Hintergrundinformationen sowie Entscheidungen der Unterkommission. 73 Der einzige internationale Jurist neben den drei nationalen ist zugleich der Vorsitzende, Art. 601 II.

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604). Wahrend die Unterkommission in der Praxis mehrheitlich Beschwerden beschieden hat, machte sie doch auch einige Male von ihrer Sanktionsgewalt Gebrauch 74. Beim BIHVG waren bislang zwei Verfahren anhängig, in denen es um seine Zuständigkeit gegenüber Organhandeln ging, das seinen Ursprung in Annex 3 hat. Zum einen sollten die Wahlregeln auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung überprüft werden, zum anderen wehrten sich zwei Parteien gegen ihren Ausschluss von der Beteiligung an den Parlamentswahlen im November 2000 durch die Unterkommission.

b) Der Normenkontrollantrag zur Überprüfung der Wahlregeln der Vorläufigen Wahlkommission der OSZE In einem - von manchen Teilen der internationalen Gemeinschaft als verfrüht bezeichneten - Schritt in Richtung auf eine Auflockerung der ethnisch bestimmten Machtverteilung hatte die Vorläufige Wahlkommission ihre Wahlregeln geändert. Ante Jelavic, der seinerzeit noch kroatisches Mitglied der Präsidententrias war, sah durch diese Änderung die Interessen der Kroaten in der Föderation gefährdet. Mit seinem Normenkontrollantrag vom 6. Dezember 2000 wandte er sich zum einen gegen die besagte Regeländerung (Art. 1212 der Wahlregeln), zum anderen gegen eine Verfahrensvorschrift, der zufolge Entscheidungen der Unterkommission endgültig sind (also kein Gericht angerufen werden kann). Jene verstoße gegen das in Art. IV. 1 (a) B I H V 7 5 und Abschnitt I V A , Art. 6 bis 10 FBIHV niedergelegte Prinzip des nationalen Proporzes in den Volksgruppenkammern; diese verletze vor allem die Rechtsschutzgarantie aus Art. 13 und 6 (1) EMRK i. V. m. Art. II. 2 BIHV. In seiner Entscheidung U 40 / 0 0 7 6 erklärte sich das BIHVG für unzuständig zur Überprüfung der Wahlregeln. Im wesentlichen wird dies damit begründet (§§9 ff.), dass die in Annex 3 angesiedelte Vorläufige Wahlkommission nach Ziel und Systematik des Friedensabkommens keine Institution von BIH sei. Zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens seien neben der Verfassung auch separate internationale oder teilweise internationale Institutionen mit einem vorübergehenden oder auch auf längere Sicht ausgelegten Mandat errichtet worden. Diese sollten nicht in 74 Vgl. etwa das Urteil 99-ME-12/99-ME-13 vom 19. 11. 1999 auf die Beschwerden der Serbischen Radikalen Partei der RS (SRS) und der Serbischen Partei der RS (SRS), www. oscebih.org/easc/eng/easc-decisions/1999/99-ME-12,13.pdf; dazu noch unten. 75

Art. IV. 1 BIHV: „The House of Peoples shall comprise 15 Delegates, two-thirds from the Federation (including five Croats and five Bosniacs) and one-third from the Republika Srpska (five Serbs). a. The designated Croat and Bosniac Delegates from the Federation shall be selected, respectively, by the Croat and Bosniac Delegates to the House of Peoples of the Federation. Delegates from the Republika Srpska shall be selected by the National Assembly of the Republika Srpska. [...]"· 76 Gesetzblatt von BIH Nr. 13/2001 vom 12. 6. 2001.

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die normalen nationalen institutionellen Rahmen von Bosnien-Herzegowina eingegliedert werden, sondern gemeinsam mit ihnen fungieren. Auch ihre Zusammensetzung und die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder verdeutliche den Grundgedanken, dass diese Institutionen getrennt vom normalen institutionellen Rahmen von BIH stünden. Diese Abgrenzung zum Zwecke der Friedenssicherung spiegele sich auch in der parallelen Anordnung einerseits der Verfassung in Annex 4 und andererseits den (quasi-)internationalen Institutionen in sonstigen Annexen wider. Das sei auch Indiz dafür, dass man kein hierarchisches Verhältnis zwischen nationalen und internationalen Institutionen, sondern ein sich ergänzendes Nebeneinander beabsichtigt habe. Zur Unterstützung dieses systematisch-teleologischen Arguments beruft sich das Gericht auf seine frühere - oben bereits behandelte - Rechtsprechung zur Systematik des Dayton-Abkommens: U 7/97 (Rahmenabkommen), U 7/98, U 8/98 und U 9/98 (Menschenrechtskammer), U 9/00 (OHR als Gesetzgeber). Zu letzterem bedurfte es freilich einer Abgrenzung, da das BIHVG sich in diesem Fall ja gerade für zuständig erklärt hatte, Gesetze, die der HR anstelle des BIH-Parlaments erlässt, auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen. Den entscheidenden Unterschied zwischen dem HR und der Vorläufigen Wahlkommission sieht das BIHVG in der Art der Rechtsgrundlage im jeweiligen Annex: Anders als der HR habe die Vorläufige Wahlkommission nicht in legislative Vorrechte des nationalen Gesetzgebers eingegriffen, sondern aufgrund einer spezifischen und originären Ermächtigung aus Annex 3 die Wahlregeln erlassen. Wörtlich heißt es (§ 16): „ [ . . . ] there has not been, in the present case, any interference with the legislative prerogatives conferred by the Constitution of Bosnia and Herzegovina to the national legislature, but the PEC Rules and Regulations were enacted according to a specific original authorization given to the PEC in Annex 3 to the GFAP. In Article III of this Annex, it is furthermore explicitly stated that the electoral rules and regulations adopted by the PEC shall be complied with, 'any internal laws and regulations notwithstanding'."

In einem obiter dictum appelliert das BIHVG schließlich noch an den Gesetzgeber, angesichts der besonderen Notwendigkeit verfassungsrechtlichen Schutzes im Bereich demokratischer Wahlen ohne Verzögerung ein nationales Wahlgesetz zu erlassen, dessen Uberprüfung dann freilich in seinen Zuständigkeitsbereich falle. c) Die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil der Unterkommission für die Wahlprüfung In einem weiteren Annex 3-Verfahren (U 41/00) hat die Serbisch Radikale Partei der RS (Srpska Radikalna Partija Republike Srpske) ihren Ausschluss von den Kommunalwahlen vom April 2000 und den Allgemeinen Wahlen vom November 2000 angefochten 77. Darüber hinaus beantragte sie die Allgemeinen Wahlen 77

So jedenfalls legt das BIHVG den Schriftsatz der SRS aus, der zugegebenermaßen bis hin zur Formulierung des Antrages äußerst vage formuliert ist ( „ [ . . . ] declare itself compe-

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wohl aufgrund ihres Ausschlusses78 - für verfassungswidrig und nichtig zu erklären. Grund des Ausschlusses war, dass sich die Beschwerdeführerin geweigert hatte, ihre Führungsspitze, vornehmlich den Parteivorsitzenden, Nikola Poplasen, von ihren Parteifunktionen zu suspendieren. In den Augen der Vorläufigen Wahlkommission verletzte die SRS Art. 7.35 der Wahlregeln, indem sie Poplasen die für eine Teilnahme an den Wahlen erforderliche Absichtserklärung zur Achtung der Prinzipien des Friedensabkommens und der Wahlregeln unterschreiben lasse; denn der Vorsitzende sei im März 1999 durch den HR als Präsident der RS abgesetzt worden 79 , u. a. weil er die Umsetzung der Ergebnisse der Wahlen aus dem Jahre 1998 behindert hatte. Bezüglich der anderen beiden Parteifunktionäre stützte sich die Aufforderung der Vorläufigen Wahlkommission und des HR auf ein Urteil der Unterkommission vom September 1998 80 , durch das diese Personen von der Kandidatenliste der SRS für die Allgemeinen Wahlen von 1998 gestrichen worden waren. Nach dieser Streichung hätten sich Blagojevic und Tadic wiederholt aufrührerisch verhalten, um zu gewaltsamen Handlungen anzustiften und Bosnien-Herzegowina zu destabilisieren.

Gegen die Nichtzulassung zu den Wahlen durch die Vorläufige Wahlkommission wandte sich die SRS an die Unterkommission 81, das diese mit Urteil vom 19. November 199982 abgewiesen hatte. Darin wird der SRS zwar zugegeben, dass die Entscheidung der Vorläufigen Wahlkommission die individuellen Rechte der betroffenen Personen sowie die kollektiven Rechte der Partei beschneide. Die Urteile der Vorläufigen Wahlkommission seien aber aufgrund der untergeordneten Stellung der Unterkommission, die ihre Befugnisse von der Vorläufigen Wahlkommission ableite und dem Leiter der OSZE-Mission in Bosnien-Herzegowina verantwortlich sei, durch diese nur beschränkt nachprüfbar. Die Unterkommission dürfe demgemäß ein Entscheidung der Vorläufigen Wahlkommission nur aufheben, wenn sie gegen das Gesetz verstoße oder einer vernünftigen Grundlage entbehre. Vorliegend habe sich die Vorläufige Wahlkommission aber noch im Rahmen ihres durch Annex 3 und die Wahlregeln gewährten weiten Ermessensspielraums („discretion") bewegt. tent to decide this case and to adopt a decision on it, and - declare the elections of 11 November 2000 unconstitutional, while their results invalid due to a violation of the fundamental human and civil rights guaranteed by the Constitution of Bosnia and Herzegovina."). Gewiss hätte man das Begehren auch allein als Anfechtung der Wahlen ansehen können. 78 Die Antragsschrift ist unklar, da die Antragstellerin sich zwar ausdrücklich gegen die Entscheidungen der Vorläufigen Wahlkommission bzw. Unterkommission (nach Rechtsmittel) wendet, mit denen die Partei von den Kommunalwahlen ausgeschlossen wird. Zugleich werden aber die Allgemeinen Wahlen ins Spiel gebracht, mit denen die Bescheide direkt nichts zu tun haben. 79

S. die „High Representative's Decision removing Mr. Nikola Poplasen from the Office of President of Republika Srpska of 5 March 1999", abrufbar unter der in Fn. 14 angegebenen Internet-Adresse. so 98-GE-184 und 98-GE-120 vom 21. 9. 1998, www.oscebih.org/easc/eng/eascl998. htm. 81

Eine Zusammenfassung der Begründung des Rechtsmittels findet sich auf S. 2 des Urteils der Unterkommission vom 19. 11. 1999 (www.oscebih.org/easc/eng/eascl999.htm). S2 Das Urteil vom 19. 11. 1999 (Fn. 81) behandelt neben dem Rechtsmittel der Serbisch Radikalen Partei der RS (99-ME-13) auch das der Serbischen Partei der RS (99-ME-12).

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Mit der Verfassungsbeschwerde machte die SRS geltend, in ihren Rechten aus Artikel II. 4 (Gleichheitssatz), II. 3 (i) (Vereinigungsfreiheit) BIHV sowie einigen der im Anhang zu Annex 3 (Kopenhagener Dokument 83 ) aufgeführten Rechte verletzt zu sein, namentlich dem Recht auf allgemeine und gleiche Wahlen sowie frei von Diskriminierung für politische und öffentliche Ämter zu kandidieren, politische Parteien zu bilden, gegen andere Parteien anzutreten und unter fairen und freien Bedingungen Wahlkampf zu führen. Die Beschwerde wurde schließlich von der Liste der vom Plenum zu entscheidenden Fälle gestrichen, weil sich herausstellte, dass die Beschwerdeführerin sich mit ihrem Begehren zuvor bereits an die Menschenrechtskammer gewandt hatte. Somit war die Beschwerde nach der Praxis des BIHVG unzulässig. Damit hatte das Gericht am Ende einen eleganten Weg gefunden, den schwierigen materiell-rechtlichen Problemen aus dem Weg zu gehen (s. dazu noch unten).

d) Kommentar Deutlicher als in früheren Entscheidungen bringt das BIHVG in U 40/00 den Schutzgedanken zum Ausdruck, welcher der Aufgabenteilung des Dayton-Abkommens zugrunde liegt und den Kern des Zuständigkeitsproblems trifft. In Dayton seien separate internationale oder teilweise internationale Institutionen mit einem vorübergehenden oder auch auf längere Sicht ausgelegten Mandat zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens geschaffen worden seien. Die Verortung dieses Arguments ist freilich mit dem Merkmal „Institution von Bosnien-Herzegowina" wieder unglücklich gewählt. Das BIHVG meint, eben wegen der Internationalisierung sei die Vorläufige Wahlkommission keine nationale Institution. Wir haben jedoch festgestellt (o. II.), dass es bei einer berichtigenden Auslegung von Art. VI. 3 (a) BIHV für die abstrakte Normenkontrolle gar nicht darauf ankommt, ob eine nationale Institution beteiligt ist oder nicht. Allenfalls könnte man die Ansicht vertreten, unter Berücksichtigung der in Art. VI. 3 (a) BIHV genannten Beispielsfälle seien nur innerstaatliche Rechtsakte vom BIHVG überprüfbar. Aber auch dies würde zu keinem zwingenden Schluss führen; als innerstaatliche Rechtsakte könnte man ja auch diejenigen bezeichnen, die zwar von internationalen Organen erlassen, von den nationalen aber angewendet werden müssen. Etwas gewagt war wohl auch das Argument, eine Überprüfung der Wahlregeln komme nicht in Frage, da die Parteien nach Art. III. 1 Annex 3 dazu verpflichtet seien, die Wahlregeln zu befolgen, „any internal laws and regulations notwithstanding". Denn nimmt man diesen Satz genau, so dürfen sich die Parteien zwar nicht auf entgegenstehendes einfaches innerstaatliches Recht („laws" = Gesetze) berufen, im Umkehrschluss wohl aber auf sonstiges, höherrangiges Recht, also etwa die Verfassung. Vielleicht überstrapaziert man damit aber auch das Wortlautargument, wenn man sich die Umstände vor Augen führt, unter denen das Abkommen verfasst wurde 84 . 83 S. o. Fn. 67.

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Die Entscheidung darüber, ob es zuständig sei, die Urteile der Unterkommission zu überprüfen, blieb dem BIHVG ja erspart, weil die Beschwerdeführerin sich zuerst an die Menschenrechtskammer gewandt hatte. Man hätte sich freilich überlegen können, ob diese Praxis (vgl. o. 3. a) auch im konkreten Fall Bestand haben konnte, da ein Rechtsschutz vor der Kammer von vornherein nicht zu erreichen war. Die Kammer hatte sich nämlich bereits in den Fällen CH/98/230 und CH/ 98/231 für unzuständig erklärt, Entscheidungen der Unterkommission auf ihre Vereinbarkeit mit der Konvention zu überprüfen. Angesichts der bestehenden Rechtsprechung des BIHVG in den Entscheidungen zum HR, der Menschenrechtskammer und insbesondere der Vorläufigen Wahlkommission wäre es sicherlich schwierig gewesen, eine Zuständigkeit im Fall der Unterkommission zu begründen. Jedenfalls hätte man über bloß formal-juristische Erwägungen hinaus argumentieren müssen. Im Verhältnis zur Annex 3-Rechtsprechung hätte es insoweit wohl gereicht, auf den fundamental unterschiedlichen Charakter der Kammer und der Unterkommission hinzuweisen. Während die Kammer ein unabhängiger Gerichtskörper ist, untersteht die Unterkommission der Vorläufigen Wahlkommission und weist kraft ihrer Zusammensetzung auch bei weitem nicht deren Grad an Autorität auf. Anders als im Falle der Kammer wäre Rechtsschutz gegen die Urteile der Unterkommission grundsätzlich schon geboten. Aus materiell-rechtlicher Sicht bieten die Regelungen des Annex 3 samt des Anhangs freilich ein Schutzniveau und eine Regelungsdichte, welche die Verfassung sogar noch übertreffen (s. schon o.). Zudem sollte man die Anforderungen in prozeduraler Hinsicht nicht überziehen; denn die Aufgabenabtretung an Annex 3 hat vorläufigen Charakter und die OSZE gewährt als internationale Organisation an sich schon eine gewisse Garantie für die Unparteilichkeit des Verfahrens. Im Ergebnis hätte die Entscheidung daher auf eine Art „Solange"-Entscheidung hinauslaufen können: Solange nämlich die Unterkommission im wesentlichen die Grundrechte im Zusammenhang mit den Wahlen zu schützen vermag, verzichtet das BIHVG auf die Überprüfung ihrer Entscheidungen.

5. Keine Überprüfung von Entscheidungen der „Commission for Real Property Claims" (Annex 7 DPA) a) Annex 7 als Rechtsgrundlage der „Commission for Real Property Claims" Annex 7 enthält ein tragendes ziviles Element des Friedensabkommens, nämlich den Versuch, die „ethnischen Säuberungen" umzukehren und den status quo ante der Bevölkerungsverteilung in Bosnien-Herzegowina wiederherzustellen. Zumindest soll ein finanzieller Ausgleich für im Zuge des Konfliktes erfolgte Verluste 84 Vgl. R. Holbrooke , Meine Mission: Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, München/Zürich 1998.

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von Eigentum oder ähnlichen Rechten gewährt werden. Bosnien-Herzegowina, die Föderation und die RS verpflichten sich in diesem Annex, das Recht auf Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen und Restitution ihres Eigentums (Art. I. 1 Annex 7 sowie Art. II. 5 BIHV) zu gewährleisten, indem sie die rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen für eine sichere Rückkehr schaffen (Art. I. 2 - 4 , I I Annex 7). Für die Organisation der Rückkehr kommen dem Hohen Kommissar für Flüchtlinge (UNHCR) und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) sowie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (ICRC), mit denen die Vertragsparteien eng zusammenarbeiten müssen, eine maßgebliche Rolle zu (Art. I. 5, III). Rückkehrer, denen eine Straftat vorgeworfen wird, genießen Amnestie außer für Straftaten, die eine schwere Verletzung humanitären Völkerrechts nach dem Statut des Jugoslawientribunals darstellen oder gewöhnliche Straftaten, die nicht mit dem Konflikt im Zusammenhang stehen (Art. VI). Damit die Menschen an ihre Heimatorte zurückkehren, müssen sie nicht nur die schrecklichen Kriegserfahrungen überwinden; ihre Rückkehr hängt maßgeblich davon ab, dass sie ihr Haus oder ihre Wohnung, sei es in Eigentum oder Besitz, zurück erhalten. Dies wird dadurch erschwert, dass es auf allen Seiten Vertreibungen gab, in deren Folge sich Hunderttausende auf den Grundstücken, in den Häusern und Wohnungen anderer Vertriebener und Flüchtlinge niedergelassen haben. Zahllos sind etwa die Fälle, in denen jemand in seine Wohnung zurückkehren will, die von dem Vertriebenen einer anderen Volksgruppe bewohnt ist, dessen eigene Wohnung wiederum von einem Dritten besetzt ist, der seinerseits nicht weichen will. Solange der „Tausch" der Wohnungen nicht von allen Behörden in beiden Entitäten weitestgehend simultan vollzogen wird, bleiben ironischerweise gerade diejenigen Menschen auf der Straße (oder in Auffanglagern) stehen, die sich schneller fügen oder deren Behörden die Räumungsanordnungen strenger vollstrecken. Die Restitution wirft daher vor allem in der den Entitäten überantworteten Vollstreckungspraxis schwierige Probleme auf, die zudem durch ein unübersichtliches Gemenge von nationalen und international auferlegten Rechtsvorschriften verkompliziert wird 8 5 . Während der Prozess der Rückkehr anfangs verständlicherweise nur sehr schleppend voranging, sind die Rückkehrerzahlen zuletzt angestiegen86.

Um die Restitution möglichst unabhängig vom guten Willen der Vertragsparteien zu ermöglichen, wurde von einem aus anderen Annexen bereits bekannten Instrument Gebrauch gemacht. Wie schon mit der Vorläufigen Wahlkommission, dem BIHVG und der Menschenrechtskammer schuf man ein weiteres teilweise international besetztes Organ: Die Kommission für Vertriebene und Flüchtlinge („Commission for Displaced Persons and Refugees", Art. V I I ff.), eine Behörde bestehend aus drei internationalen und sechs nationalen Mitgliedern. Sie hat im Zuge ihrer Einrichtung mit „Commission for Real Property Claims" einen Namen angenommen, der ihren konkreten Aufgabenbereich genauer beschreibt 87. Die 85

Vgl. allein die eigentumsrechtlichen Vorschriften unter www.ohr.int. 6 Zwischen 1. 1. 1996 und 31. 7. 2001 kehrten 379.129 Flüchtlinge und 391.587 (intern) Vertriebene an ihre Heimatstätten zurück; vgl. die Tabellen und Karten auf der Internetseite des UNHCR (Fn.l). 8

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Näheres zur CRPC ist unter www.crpc.org.ba zu finden.

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CRPC entscheidet über Klagen auf Rückerstattung von Eigentum und Wohnrechten 88 an unbeweglichem Eigentum in BIH in Fällen, in denen diese Rechte nicht seit dem 1. April 1992 freiwillig veräußert oder sonst übertragen wurden und der Kläger derzeit nicht im Besitz des Eigentums ist (vgl. Art. XI 8 9 ). Die Kommission stellt lediglich auf der Grundlage bestimmter ihr vorliegender Beweismittel (vor allem Grundbucheinträge und Wohnrechtsverträge) fest, ob ein Eigentumsoder Wohnrecht am Stichtag des 1. April 1992 bestand, allerdings ohne weitere Ermittlungen oder gar ein kontradiktorisches Verfahren durchzuführen 90. Insbesondere geht die CRPC nicht der Frage nach, ob eine vorgelegte Vertragsurkunde etwa nichtig sei oder ob das Eigentum oder Wohnrecht seit dem 1. April 1992 übertragen wurde. Der Prüfungsumfang ist folglich sehr begrenzt; angesichts der enormen Zahl insgesamt anhängiger und entschiedener Verfahren (Juni 2001: 301.347 bzw. 176.24391) wäre eine umfassende materiellrechtliche Prüfung auch gar nicht zu bewerkstelligen. Um solche, von der CRPC selbst ausgeklammerte, Fragen zu klären, muss der Betroffene sich an die nationalen Organe wenden. Kommt die CRPC auf der Grundlage der ihr vorliegenden Beweismittel zu dem Schluss, dass das Recht bestand (und verlangt der Kläger Restitution), so wird ein entsprechender Titel ausgestellt. Die Verwaltung ist dann verpflichtet, eine Art Vollstreckungsgenehmigung („conclusion on permission of enforcement") auszustellen. Für den Fall, dass sich jemand gegen die Vollstreckung wehren will, sieht das Gesetz zur Ausführung von CRPC-Entscheidungen92 zwei Verfahren vor, je nachdem, ob das rechtliche Interesse zum 88 Ein „Wohnrecht" (stanarsko pravo - occupancy right) ist ein dem Eigentum nahekommendes Besitzrecht (beschränkt übertragbar und vererblich) an einer Wohnung, die dem Rechtsinhaber von einem staatlichen Unternehmen als Teil der Vergütung für erbrachte Arbeitsleistung zugewiesen wurde (vgl. i.e. das Gesetz über Wohnrechtsverhältnisse [Zakon ο stanbenim odnosima - Law on Housing Relations]). Inhaber von Wohnrechten haben die Möglichkeit, das Eigentum an „ihren" Wohnungen zu vergünstigten Bedingungen zu erwerben. Um die Menschen zur Rückkehr zu bewegen, war der Erwerb des Eigentums an diesen Wohnungen anfangs an die Bedingung geknüpft, das ein Familienmitglied zwei Jahre in der Wohnung wohnte. Mittlerweile hat die Internationale Gemeinschaft allerdings eingesehen, dass dieser Anreiz (oder Zwang?) nur selten die gewünschte Rückkehr und oft den - dann auch wirtschaftlichen - Verzicht auf das Recht zur Folge hatte. Infolgedessen wurde die Zwei-Jahre-Klausel jüngst aufgegeben, um den Menschen wenigstens einen Ausgleich in Geld zu ermöglichen. 89 Die CRPC hat ihr Mandat - den rechtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der vormaligen Teilrepublik der SFRJ entsprechend - auf das eigentumsähnliche Wohnrecht oder Besitzrecht an einer Wohnung oder einem Haus („occupancy right") erstreckt; vgl. die Beschreibung des Aufgabenbereichs auf der Internetseite der CRPC (www.crpc.org.ba) sowie die auch dort einsehbaren Books of Regulations „.. .on the Conditions and Decision Making Procedure for Claims for Return of Real Property of Displaced Persons and Refugees" (BoR RP) und „.. .on Confirmation of Occupancy Rights of Displaced Persons and Refugees" (BoR OR). 90 Vgl. etwa zum Verfahren im Falle der Bestätigung eines Wohnrechts: Art. 2, 4, 9, 10 BoR OR (Fn. 89) sowie Art. 10 Law on Implementation of the Decisions of the Commission for Real Property Claims of Displaced Persons and Refugees for the Federation of BiH (27 October 1999), www.ohr.int. Die zugelassenen Beweismittel finden sich in Art. 9 - 1 1 BoR OR und Art. 42 ff. BoR RP, beide Fn. 89. 91 S. www.crpc.org.ba / new / en / main.htm. 92 S. Fn. 90.

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Stichtag schon bestand oder erst danach entstanden ist: Im ersten Fall, in dem also die CRPC-Entscheidung selbst fehlerhaft sein könnte, überprüft die CRPC (und nur sie) ihre frühere Entscheidung (,»reconsideration" - erneute Begutachtung) und verwirft sie gegebenenfalls. Für die Dauer der Überprüfung setzt das Verwaltungsorgan die Vollstreckung nur auf offizielle Benachrichtigung durch die CRPC vorübergehend aus (Art. 11 i.V.m. 10 I). Im letzteren Fall, in dem also die Entscheidung der CRPC per definitionem (maßgeblich ist ja das Bestehen des Rechts zum Stichtag) nicht falsch sein kann, erfolgt keine Überprüfung der Entscheidung selbst, sondern die Vollstreckungsgenehmigung wird angefochten. Die CRPC-Entscheidung bleibt unberührt. Zur Klärung der Frage, ob das fragliche Recht zwischenzeitlich (also seit dem 1. April 1992) gesetzmäßig und freiwillig übertragen wurde, verweist die Verwaltungsbehörde den Rechtsmittelführer an das zuständige Gericht. Dabei wird für den Zeitraum der Kriegsjahre eine unfreiwillige / gesetzwidrige Übertragung vermutet. Allein dieses Gericht entscheidet dann über diese Frage und ergreift die nötigen Maßnahmen zur Wiederherstellung der rechtmäßigen Eigentumssituation (Art. 12 i. V. m. Art. 10 II; Art. 13). In der Regel hat das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung, so dass die Vollstreckung fortgesetzt wird. Sie kann aber durch das mit der Sache befasste Gericht ausgesetzt werden, wenn ein beurkundeter Vertrag zur Übertragung des Rechts nach dem 14. Dezember 1995 geschlossen wurde (Art. 12 II, III) 9 3 . Ahnlich wie i m Falle der Menschenrechtskammer geht nach Art. X I V Annex 7 die Verantwortung für Finanzierung und Tätigkeit der CRPC nach Ablauf von fünf Jahren von den Vertragsparteien auf die Institutionen von Bosnien-Herzegowina über, sofern nicht Abweichendes vereinbart wird. Auch das Mandat der CRPC wurde verlängert.

b) Die Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungen der CRPC Anders als in den Annex 7-Verfahren vor der Menschenrechtskammer ging es vorliegend nicht um eine Beschwerde gegen das Unterlassen einer Behörde, eine CRPC-Entscheidung zu vollstrecken (häufiger Fall in der Praxis!). Die Verfahren U 21 / Ol und U 3 2 / 0 1 9 4 hatten vielmehr Beschwerden gegen eine „Neubegutachtungs"-Entscheidung der CRPC zum Gegenstand. Jedes M a l machten die Beschwerdeführer Einwendungen nach dem Gesetz über Wohnrechtsverhältnisse geltend. Obwohl es in den vorliegenden Fällen wohl genügt hätte, die Beschwerden aus den oben genannten verfahrensrechtlichen Überlegungen heraus wegen Nichterschöpfung des Rechtsweges zu verwerfen, hat das Gericht die Beschwerden in erster Linie wegen Unzuständigkeit des B I H V G verworfen. Wichtig für die betroffenen Bürger war allerdings, dass die Entscheidung in einem obiter dictum noch das 93 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Vollstreckung nie durch Vorlage eines Übertragungsvertrages unterbrochen werden kann, der auf die Zeit zwischen dem 1. 4. 1992 und dem 14. 12. 1995 (Inkrafttreten des Friedensvertrages) datiert, weil man vermutet, dass derlei Verträge aufgrund des Krieges nie freiwillig abgeschlossen wurden. 94

Die Entscheidungen sind noch nicht veröffentlicht.

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- oben skizzierte - Ineinandergreifen von nationalem Recht und Annex 7 verdeutlicht und darauf hingewiesen hat, dass es zur Klärung bestimmter, von der CRPC ausgeklammerter Fragen möglich und notwendig ist, die unteren Gerichte anzurufen. Gegen deren Entscheidungen stehe den Bürgern dann der Weg zum BIHVG offen. Im einzelnen verweist das BIHVG - wie schon bei den die anderen Annexe betreffenden Verfahren - darauf, dass die Verfassung von Bosnien-Herzegowina integraler Bestandteil des Friedensabkommens sei. Im Hinblick auf die Struktur des Abkommens könne es keine Widersprüche zwischen den Annexen geben, sie seien äquivalent, so dass sich das Abkommen und die Verfassung nicht widersprächen. Demnach gebe es keine hierarchischen Beziehungen zwischen den nach den Annexen zum Friedensabkommen errichteten Organen; vielmehr ergänzten sie sich gegenseitig und handelten parallel. Das BIHVG habe diese Auffassung schon in den Entscheidungen U 7/97 (Rahmenabkommen, o. 1) und U 7/98 (Menschenrechtskammer, o. 3. b) sowie U 40/00 (Vorläufige Wahlkommission, o. 4. b) vertreten. Sodann verweist das BIHVG im Hinblick auf Art. VI. 3 (b) BIHV nochmals auf seine Rechtsprechung zur Menschenrechtskammer, wonach diese nicht als Gericht in Bosnien-Herzegowina angesehen werden könne und das BIHVG nicht zuständig sei, ihre Entscheidungen zu überprüfen, weil die Kammer ihre Funktion außerhalb der „ordinary judicial structure of Bosnia and Herzegovina" wahrnehme. Angesichts dieser Rechtsprechung sei das BIHVG der Auffassung, das auch die CRPC außerhalb besagter Struktur agiere. Abschließend merkt das BIHVG noch an, dass die Entscheidungen der CRPC nach Art. XII. 7 Annex 7 sowie dem Gesetz zur Umsetzung ihrer Entscheidungen „final and binding" seien.

IV. Übergreifende Betrachtungen und Ausblick Das BIHVG hat sich also im Gefüge von Dayton behutsam positioniert, was in der Anfangsphase seines Bestehens (unter dieser Verfassung) sowie angesichts der instabilen allgemeinen Lage in BIH klug ist 95 . Weder wollte es sich durchweg für unzuständig erklären, noch für generell zuständig. Die hierfür gebotenen formalen insbesondere Wortlautargumente können, wie wir gesehen haben, kaum überzeugen. Dagegen sind die systematische Erwägungen (Parallelität der Annexe) und insbesondere die hierauf fußenden teleologischen Überlegungen (Internationalisierung hat Schutzzweck) begrüßenswert. Allerdings hatte das BIHVG Schwierigkeiten damit, für diese Argumente in Art. VI. 3 BIHV einen brauchbaren „Aufhänger" zu finden. Dabei fällt auf, dass ein zentrales Tatbestandsmerkmal sämtlicher Zuständigkeitsregeln, namentlich der Geltungsbereich der BIHV, allein in der ersten 95 Auch das Β VerfG hat sich in seinen frühen Tagen nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt: In ein paar Sätzen hat es in 1 BvR 95/51 (BVerfGE 1, 10 11) eine Verfassungsbeschwerde gegen die Maßnahme einer Landeszentralbank verworfen, da diese auf Anordnung der Militärregierung ergangen, somit keine Maßnahme einer deutschen öffentlichen Gewalt und folglich nicht durch ein deutsches Gericht überprüfbar sei.

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der einschlägigen Entscheidungen (U 7/97) ausdrücklich thematisiert wurde. Nur in U 7/97 erklärt sich das BIHVG für unzuständig, weil es die BIHV zu hüten habe und nicht die Republiks-Verfassung. Ansonsten wird in keiner der Entscheidungen ausdrücklich problematisiert, ob es sich um eine Verfassungsfrage, also um eine Angelegenheit im Anwendungsbereich BIHV handele, oder ob sie aus dem Verfassungsrahmen herausfalle. Dies überrascht, denn Art. VI. 3 Satz 1 BIHV besagt zunächst ganz allgemein, das BIHVG habe „diese Verfassung" zu hüten. Art. VI. 3 (a) BIHV verlangt einen „dispute that arises under this Constitution", Art. VI. 3 (b) BIHV sieht „appellate jurisdiction over issues under this Constitution" vor und Art. VI. 3 (c) BIHV nennt als Maßstab für Vorlagefragen gleichfalls u. a. die BIHV. Überzeugender wäre es gewesen, die anklingenden systematischen und teleologischen Erwägungen bei der Frage des Anwendungsbereichs der BIHV einzuordnen. Wann geht es nämlich um eine Frage der BIHV? Die Wendung dürfte zunächst einmal einen sehr weiten Rahmen für die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts abstecken. Auf dieser ersten Ebene sollen sinnvollerweise nur diejenigen Themen von der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ausgenommen werden, die keinen verfassungsrechtlichen Bezug aufweisen, umgekehrt aber alle Themen eingeschlossen werden, die diesen Bezug aufweisen. Allgemein gesprochen ist eine Angelegenheit der Verfassung anzunehmen, wenn ihr Regelungsgehalt betroffen ist, also die rechtliche Grundordnung des verfassten Staates96. Diese umfasst u. a. die Staatsorganisation, insbesondere die Errichtung und Zusammensetzung von Institutionen und die Abgrenzung ihrer Zuständigkeitsbereiche, die Festlegung der Grundprinzipien der staatlichen Ordnung, aber auch die Grundlegung von Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat, gegebenenfalls auch einer Weiteordnung für das Verhältnis der Bürger untereinander. Sei es der HR, die Menschenrechtskammer, die Vorläufige Wahlkommission und ihre Unterkommission oder die CRPC - sie alle wirken im Schnittbereich von innerstaatlichem und Völkerrecht. Dies ergibt sich einerseits aus den dargestellten Rechtsgrundlagen ihres Handelns, andererseits aus ihrem Wirkbereich. Die Rechtsakte dieser Institutionen und Organe sollen ihre Wirkung im innerstaatlichen Recht entfalten, und somit, je nach den konkreten Regelungen, in die Verfassungsordnung einwirken. Dies geschieht auf unterschiedlichen Ebenen: So mag der HR per „Entscheidung" anstelle des nationalen Gesetzgebers Gesetze oktroyieren. Er entlässt führende gewählte Politiker und setzt sich dadurch über, sofern überhaupt vorhandene, innerstaatliche Verfahren und Verfahrensgarantien hinweg. Die Menschenrechtskammer ergänzt den BIHVG und die Entitätsverfassungsgerichte im Bereich der Individualbeschwerden, indem sie Menschenrechtsverletzungen feststellt, die freilich von den zuständigen innerstaatlichen Organen beseitigt werden sollen. Die Vorläufige Wahlkommission erlässt Wahlregeln, die als innerstaatliches 96

Vgl. M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Auflage, München 1999, Einführung Rdn. 1 ff. m. w. N.

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Wahlgesetz fungieren, bis der nationale Gesetzgeber dies selbst getan hat. Die ihr unterstellte Unterkommission behandelt Beschwerden im Zusammenhang mit dem Wahlverfahren und fungiert damit anstelle einer künftigen Ständigen Wahlkommission und ersetzt vorläufig einen aufgrund des nationalen Wahlgesetzes einzurichtenden Rechtsweges. Die CRPC trifft Feststellungen über die rechtliche Zuordnung von Immobilien im Zusammenwirken mit nationalen Behörden, welche die CRPC-Entscheidungen uneingeschränkt respektieren müssen. Die internationalen Akteure mögen somit zwar ihre Kompetenzen von außerhalb der Verfassung her, namentlich den Annexen 3, 6, 7 und 10, schöpfen; aber sie handeln deshalb nicht außerhalb der Verfassungsordnung. Diesen Gedanken beschreibt U 9/00 mit „funktionaler Dualität" des Handelns des HR. Da aber grundsätzlich jeder Akt der öffentlichen Gewalt eine Verfassungsfrage (Rechtsstaat, Grundrechte, Gesetzgebungszuständigkeit etc.) aufwerfen kann, wären damit alle Handlungen der internationalen und quasi-internationalen Akteure potenziell der Rechtsprechung des BIHVG unterworfen, sofern die Zuständigkeitsregelungen einen Anhaltspunkt bieten. Eine solche Betrachtungsweise widerspricht aber dem Beweggrund der Vertragsparteien, weshalb sie seinerzeit bestimmte Handlungsbereiche der staatlichen Gewalt vorübergehend aus dem Verfassungsrahmen ausgelagert und in besondere Annexe, parallel zur Verfassung, überführt haben. Wenn man eine rechtliche Integration dieser Handlungsbereiche in die Verfassungsordnung mit allen Konsequenzen, insbesondere der innerstaatlichen Überprüfbarkeit etwaiger Rechtsakte, gewollt hätte, dann hätte eine auch gesetzestechnische Einordnung nahe gelegen. Schon allein die systematische Trennung lässt daher auf eine auch rechtliche Trennung schließen, und zwar i. S. e. zeitlichen Übertragung der Ausübung bestimmter staatlicher Aufgaben. Dieser Gedanke tritt an verschiedenen - oben bereits angesprochenen97 - Stellen in den einschlägigen Annexen zum Vorschein und wird vom BIHVG in der Sache auch als Argumentationshilfe angeführt. Die systematische Trennung ist aber letztlich nur Spiegelbild der von den Vertragsparteien bezweckten, zeitlich begrenzten, Aufgabenverteilung zwischen den innerstaatlichen und den (quasi-) internationalen Institutionen. Sie soll in der Anfangsphase innerer Zerstrittenheit des fragilen Staates sicherstellen, dass die für eine erfolgreiche Implementierung des Friedensabkommens erforderlichen Grundlagen geschaffen werden. Die Zuhilfenahme internationaler Akteure hat eine Schutzfunktion. Um dieser besonderen Zwecksetzung des Dayton-Abkommens gerecht zu werden, ist der Anwendungsbereich der Verfassung nicht nur vor dem Hintergrund der Abgrenzung zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht zu definieren. Vielmehr bedarf es darüber hinaus der ausgeführten systematischen und teleologischen Einschränkung. Im Hinblick auf Sinn und Zweck der Aufgabenteilung im DaytonAbkommen besteht die Möglichkeit, eingetretene Veränderungen in der Realität des Landes, ebenso wie ein unerwartetes Fortdauern der ursächlichen Tatsachen97

Vgl. für Annex 6: oben III. 3. a; für Annex 3: oben III. 4. a; für Annex 7: oben III. 5. a.

10 Graf Vitzthum/Winkelmann

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grundlage, bei der Frage zu berücksichtigen, ob die internationalen Akteure weiterhin Notstandsbefugnisse ausüben dürfen oder nicht. Demzufolge kann eine eigentlich genuine Verfassungsfrage (wie etwa Gesetzgebung, Rechtsprechung) aufgrund teleologischer Betrachtungsweise dem Anwendungsbereich der Verfassung und damit auch der Zuständigkeit des BIHVG entzogen sein. Umgekehrt ließe sich aber auch argumentieren, dass trotz der systematischen Trennung aufgrund von Zeitablauf und spürbaren Veränderungen im Lande eine Fortsetzung des Treuhandverhältnisses98 nicht angebracht sei, oder sogar, dass der Treuhänder sich vertragswidrig verhalte und daher die nationalen Institutionen - etwa das BIHVG - dazu berufen seien, die Verfassungsordnung zu schützen. Die Auflösung dieser Ambivalenz zwischen Notstandsbefugnissen und Respekt vor der Verfassungsordnung liegt vielleicht in der - oben (III. 2. e) bereits angedeuteten - dynamischen Rückführung der vorübergehend internationalisierten Aufgaben in die innerstaatliche Verantwortung, im Gleichlauf mit einer graduellen Unterwerfung des Waltens des HR, aber auch anderer internationaler Akteure, unter die Verfassungsordnung 99. Im Falle des HR wirft dies freilich besondere Schwierigkeiten auf, da in Annex 10, anders als etwa in den Annexen 3, 6 und 7 (s. noch u.), eine zeitliche Begrenzung ausdrücklich nicht vorgesehen ist. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass man ursprünglich eine weniger eingriffsintensive Rolle für den HR vor Augen hatte. Eine progressive Rücküberantwortung birgt Risiken. Im besten Fall führte die Zurückhaltung der internationalen Treuhänder lediglich zu einer vorübergehenden Lähmung des Wiederaufbaus, wenn nationale Entscheidungsträger unwillig oder unfähig sind, zusammen zu arbeiten und sich auf die eigentlichen Probleme des Landes zu konzentrieren. Für das BIHVG ist es freilich riskant, aus eigenem Antrieb diesen Prozess der Rücküberantwortung durch entsprechende Entscheidungen voranzutreiben. Es bedarf eines weitreichenden Verständnisses der Entwicklung des Landes, um den richtigen Moment für den nächsten erforderlichen Schritt zu erkennen. Handelt das Gericht übereilt, bringt es damit nicht nur die internationalen Akteure, allen voran den HR, in Verlegenheit. Es riskiert auch den eigenen Gesichtsverlust, sollte letzterer seine Autorität zu sehr beschnitten sehen und das BIHVG seinerseits in die Schranken weisen. Ein solcher Schritt würde den Prozess der Rückerlangung nationaler Souveränität weit zurückwerfen. Dieses Dilemma offenzulegen, hat sich das BIHVG bislang noch nicht getraut, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Internationalisierung bestimmter Staatsaufgaben und damit die Beschränkung der staatlichen Souveränität unter bestimmten Umständen auch auf der Grundlage von Dayton nicht mehr gerechtfertigt sein 98 Begriff bei Graf Vitzthum /Mack (Fn. 32), S. 116. 99

I. d. S. plädieren auch Graf Vitzthum/ Mack, ebd., dafür, „die treuhänderische Einflussnahme und die begleitende Kontrolle seitens der Staatengemeinschaft [ . . . ] schrittweise [zurückzunehmen], parallel zu Fortschritten in Sachen Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte."

Kompetenzstreitigkeiten im Gefüge von Dayton

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könnten. Stattdessen hat das BIHGV es vorgezogen, so zu tun, als sei die Zuständigkeitsfrage eindeutig in Art. VI. 3 BIHV geregelt, oftmals sogar, als ergebe sich ihre Beantwortung schon aus der bloßen Lektüre der Tatbestandsmerkmale. Vielleicht steckt dahinter die Furcht, die Bevölkerung und die innerstaatlichen Institutionen seien noch nicht bereit für die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Problem. Und deshalb zog man es vor, auf komplexe, auch politische, Erwägungen zu verzichten. Dabei gibt gerade das Aussparen der eigentlichen Problematik, die ohnehin alle erkannt haben, den Kritikern Anlass zu behaupten, das BIHVG sei zu sehr politisiert und erfülle sein Aufgabe nicht, die Verfassung zu hüten. Das BIHVG wird immer wieder Gelegenheit bekommen 100 , sich neu zu positionieren und das Wiedererlangen der Eigenverantwortung der Bürger und Institutionen von BIH zu fördern.

100

So etwa im derzeit anhängigen Verfahren (U 41 / Ol). Darin wird ein vom HR für verbindlich erklärtes (Entscheidung vom 5. 2. 2001; im Internet s. Fn. 14) Schiedsurteil angefochten, das - nach der konstanten Weigerung der beiden nationalen Richter - am Ende das ausländische Mitglied des Schiedsgerichts alleine ausgesprochen hat. Das Schiedsurteil entschied über den Verlauf der Inter-Entitätsgrenze in den Vororten von Sarajewo „Dobrinja I und IV", wo die Grenze nach den in Dayton zugrunde gelegten Karten eigentlich quer durch ein Gebäude verlaufen sollte. 10*

I L Europäische Modelle, Erfahrungen und Reformen in der Bewährung

Remarques sur le fédéralisme suisse Par Giorgio Malinverni* En dépit de son appellation officielle, la Suisse a cessé d'être une Confédération d'Etats en 1848, pour devenir depuis lors un Etat fédéral. Elle a été successivement régie sous cette forme par trois Constitutions, qui datent respectivement de 1848, 1874 et 1999. Cette dernière est entrée en vigueur le 1 er janvier 2000.

L Aux termes mêmes de l'art. 1 de la Constitution du 18 avril 1999 (Cst.), Γ Etat suisse est composé de deux éléments: le peuple et les cantons. Cette disposition prévoit en effet que »le peuple suisse et les cantons [suit la liste des 26 cantons dans l'ordre de leur entrée dans la Confédération] forment la Confédération suisse« . Le fait que le peuple et les cantons, pris ensemble, sont l'organe suprême de Γ Etat fait d'eux l'organe constituant. Cela signifie que les décisions les plus importantes au niveau interne comme au niveau international ne peuvent être prises sans l'accord de la majorité du peuple et de la majorité des cantons. La règle de la double majorité est ainsi requise pour toute révision, totale ou partielle, de la Constitution (art. 140 al. 1, 142 et 195 Cst.), ainsi que pour la ratification des traités internationaux les plus importants, à savoir ceux qui prévoient l'adhésion à des organisations de sécurité collective ou à des communautés supranationales (art. 140 al. 1er let b) Cst.) Ainsi, l'adhésion de la Suisse à l'ONU ou son entrée dans l'Union européenne ne pourrait intervenir sans l'accord de la majorité du peuple suisse et celui de la majorité des cantons. Les deux majorités - celle du peuple et celle des cantons - ont exactement le même poids. L'accord d'un canton est considéré comme acquis lorsque la majorité de la population de ce canton a voté en faveur du projet qui lui a été soumis (art. 142 al. 3 Cst.). Mais comme les cantons sont très inégalement peuplés, il peut arriver que la majorité du peuple suisse n'emporte pas celle des cantons. Ainsi, l'ordre constitutionnel suisse est tout * Texte légèrement remanié d'une conference prononcée lors d'un séminaire organisé à Banya Luka, Sarajevo et Mostar les 25, 26 et 27 juillet 2000. De manière délibérée, l'auteur a renoncé à enrichir cette brève contribution d'un appareil scientifique. Pour un exposé récent du fédéralisme suisse, le lecteur pourra se référer à l'ouvrage de A. Auer /G. Malinverni/M. Hottelier, Droit constitutionnel Suisse (2 vol.), vol. 1, Berne 2000, pp. 293-430, qui contient également une abondante bibliographie sur le sujet.

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entier fondé sur une double légitimité: celle du peuple (principe démocratique) et celle des cantons (principe fédéraliste).

II.

La Confédération suisse compte 26 cantons, dont le territoire et la population varient considérablement de l'un à l'autre. En dépit de ces différences, ils sont régis par le principe d'égalité. Pour des raisons historiques, six cantons, appelés autrefois demi-cantons, ne disposent toutefois que d'une demi-voix lors des scrutins constitutionnels (art. 142 al. 4 Cst.). Ces mêmes cantons ne peuvent envoyer qu'un seul représentant à la deuxième Chambre du Parlement (Conseil des Etats), tandis que les autres en délèguent deux (art. 150 al. 2 Cst.). Les cantons ont évidemment préexisté à la Confédération et ils correspondent à une véritable réalité politique. La Confédération s'est formée par l'agrégation de ces entités politiques autrefois indépendantes. Dans la population, le sentiment d'appartenance à un canton est encore très vif, malgré les mouvements de population, qui ont été plus nombreux ces dernières années que par le passé. De nos jours, certains pensent que les cantons sont devenus des entités trop petites pour s'acquitter des tâches qui incombent à un Etat, même non souverain. Des propositions ont donc été faites, qui visent à opérer la fusion de deux ou plusieurs cantons. La plus avancée concerne le projet de fusion des cantons de Vaud et de Genève. Une consultation populaire sur ce sujet devrait avoir lieu dans un proche avenir. III. Les cantons suisses ont une double fonction: d'une part, ils sont des entités autonomes; de l'autre, il apparaissent comme des organes de Γ Etat fédéral. Les cantons suisses doivent d'abord être considérés comme des organes de l'Etat fédéral dans la mesure où, avec le peuple, ils en sont l'organe constituant (art. 195 Cst.). Ensuite, ils sont également, comme tels, représentés à la deuxième Chambre du Parlement, qui correspond un peu au Sénat américain. Le bicamérisme suisse doit être qualifié de parfait, dès lors que, sous réserve de leurs compétences électorales, les deux Chambres disposent exactement des mêmes pouvoirs (art. 156 al. 2 Cst.). Les cantons disposent également du droit d'initiative constitutionnelle et législative. Ils peuvent ainsi proposer des projets de lois aux Chambres fédérales (art. 160 Cst.). Enfin, les cantons sont systématiquement consultés sur tous les projets de lois, avant que ceux-ci ne soient soumis pour approbation à l'Assemblée fédérale (procédure dite de consultation; art. 147 Cst.). Organes de l'Etat fédéral à plusieurs titres, les cantons sont avant tout des entités politiques autonomes, dotées de compétences propres, en vertu de la Constitution.

Remarques sur le fédéralisme suisse

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Dans un langage un peu dépassé, l'art. 3 Cst. dispose en effet que »les cantons sont souverains tant que leur souveraineté n'est pas limitée par la Constitution fédérale et exercent tous les droits qui ne sont pas délégués à la Confédération«. Chaque canton a donc sa propre constitution. Certaines sont fort anciennes, puisqu'elles datent encore du I 9 e m e siècle; d'autres ont été l'objet de révisons totales ces dernières années et apparaissent comme des constitutions modernes. Les cantons peuvent donc théoriquement se donner le régime politique qu'ils veulent, parlementaire ou présidentiel. Dans les faits, tous ont adopté le régime politique collégial, qui est d'ailleurs aussi celui de l'Etat central. En réalité, l'autonomie organisationnelle des cantons n'est soumise qu'à des limites fort peu nombreuses. Aux termes de l'art. 51 Cst., les constitutions cantonales doivent être »démocratiques« . Cette même disposition pose encore deux exigences supplémentaires. La première, qui obéit au principe démocratique, exige que les constitutions cantonales aient été acceptées par le peuple (référendum constitutionnel obligatoire) et qu'elles puissent être révisées si la majorité du corps électoral le demande (initiative populaire constitutionnelle); la seconde, dictée par un impératif fédéraliste, requiert que les constitutions cantonales ne soient pas contraires au droit fédéral.

IV. Les principaux organes politiques des cantons sont au nombre de quatre: le Parlement, le Gouvernement, les tribunaux et le peuple, ou corps électoral. Sous réserve du respect des principes de l'égalité, de l'interdiction de l'arbitraire et de la proportionnalité, les cantons peuvent définir comme ils l'entendent leur corps électoral. Ils peuvent fixer l'âge de la majorité civique pour les élections et les votations cantonales ou accorder, toujours en matière cantonale, le droit de vote aux étrangers, ce que trois d'entre eux (Jura, Neuchâtel et Appenzell Rhodes-Intérieures) ont fait, selon des modalités différentes. Enfin, deux cantons (Glaris et Appenzell Rhodes-Intérieures) connaissent encore l'institution de la Landsgemeinde , assemblée annuelle du corps électoral qui prend ses décisions à main levée. Les Parlements cantonaux varient aussi considérablement d'un canton à l'autre. Le nombre des députés va par exemple de 55 à 200 selon les cantons et ceux-ci sont élus soit selon la représentation proportionnelle soit au système majoritaire. La durée de la législature varie aussi, puisqu'elle s'étend sur des périodes de 3, 4 ou 5 ans. Enfin les conditions d'éligibilité et les causes d'incompatibilité ne sont pas partout les mêmes. Si tous les cantons ont opté pour le système politique collégial, le nombre des membres du Gouvernement est de 5 ans dans certains cantons et de 7 dans d'autres et ils sont élus selon des systèmes électoraux qui varient d'un canton à l'autre. Mais c'est probablement au niveau de l'organisation judiciaire que la différence entre les cantons est la plus marquée. En Suisse en effet, si le droit civil et le droit

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pénal ont été unifiés depuis un certain temps déjà, la procédure civile et pénale est encore de la compétence des cantons (art. 122 et 123 Cst.). Il en résulte que non seulement le droit procédural, mais également l'organisation judiciaire diffèrent considérablement selon les législations cantonales.

V. Le système de répartition des compétences constitue la clé du fédéralisme. En Suisse, celui-ci est régi par l'art. 3 de la Constitution. En vertu de cette disposition, la Confédération se trouve au bénéfice de compétences d'attribution, tandis que celles des cantons sont dites résiduelles. Les compétences de la Confédération sont donc toutes inscrites expressément dans la Constitution fédérale. Elles y occupent même une place relativement importante (art. 54 à 135 Cst.). Les compétences cantonales sont en revanche anonymes. Les cantons sont compétents dans tous les domaines qui ne sont pas expressément attribués à la Confédération. Les compétences fédérales ne sont pas toutes de même type. Certaines sont exclusives, telles que les affaires étrangères (art. 54 Cst.), la monnaie (art. 99 Cst.) ou la métrologie (art. 125 Cst.). D'autres sont des compétences limitées aux principes; dans ces cas, la Confédération ne peut édicter que ce qu'il est convenu d'appeler des lois-cadres. Il en va ainsi par exemple dans le domaine de la naturalisation ordinaire des étrangers (art. 38 al. 2 Cst.) ou de l'aménagement du territoire (art. 75 Cst.). Une troisième catégorie de compétences est constituée par les domaines où la Confédération peut légiférer parallèlement aux cantons, chacune des deux entités étant compétente dans son domaine. La Confédération est par exemple compétente pour prélever les impôts fédéraux (art. 126 ss Cst.) et les cantons pour percevoir leurs propres impôts. Quant à l'impôt sur le revenu, il est perçu à la fois par les cantons et par la Confédération. De même, les cantons sont compétents pour adopter les règles de procédure et d'organisation judiciaire qui doivent s'appliquer devant les tribunaux cantonaux, tandis que celles qui régissent les procès se déroulant devant le Tribunal fédéral relèvent de la compétence de la Confédération. Depuis que l'Etat fédéral existe, soit depuis un peu plus de 150 ans, les compétences de la Confédération sont allées en s'accroissant, au détriment, bien entendu, de celles des cantons. Cette tendance centripète s'est toutefois effectuée avec l'accord de la majorité des cantons. Toute nouvelle attribution de compétence à la Confédération requérant une révision partielle de la Constitution, celle-ci ne peut en effet être acquise sans la double majorité du peuple et des cantons. A l'heure actuelle, les principaux domaines de la compétence des cantons sont les suivants: ordre public, santé, éducation, culture, droit des constructions, etc.

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VI. L'Etat fédéral suisse est composé de quatre groupes linguistiques. Les germanophones (environ 75% de la population) occupent le nord, le centre et l'est du pays ; les francophones (environ 20%) sont concentrés à l'ouest, tandis que les italophones (environ 5%) et les romanches (moins de 1%) se trouvent respectivement au sud des Alpes et dans quelques vallées des Alpes orientales. A l'étranger, la Suisse est souvent regardée comme un modèle où coexistent, pacifiquement, ces quatre communautés et l'on attribue cette réussite aux vertus du fédéralisme. Si cela est vrai, l'on a cependant tendance à oublier que les frontières linguistiques ne coïncident pas, en Suisse, avec les frontières politiques des cantons et que le problème de la cohabitation de groupes culturels hétérogènes se pose à l'intérieur même de certaines entités fédérées qui composent la Confédération. Trois cantons sont bilingues et le canton des Grisons, trilingue, représente un véritable microcosme de la Suisse. Les minorités linguistiques ne forment aucunement un groupe compact. Ainsi les francophones sont répartis entre sept cantons, dont trois sont d'ailleurs bilingues. Or, que ce soit par l'étendue de son territoire ou par le nombre de ses habitants, aucun de ces cantons ne se trouve, par rapport aux autres, dans une position dominante. Bien au contraire, l'on peut affirmer que la répartition de la population francophone entre ces sept cantons permet de réaliser un équilibre entre eux. Ensuite, s'il est vrai que la partie francophone de la Suisse - prise globalement s'appelle la Romandie, cette notion demeure, pour la plupart des individus qui la composent, un concept relativement abstrait. Ceux-ci se sentent en effet beaucoup plus et avant tout Genevois, Vaudois ou Neuchâtelois, c'est-à-dire ressortissants d'un canton, que Romands, à savoir appartenant à la communauté francophone. Il n'y a donc pas, en Suisse, identification d'une langue avec un canton. Ceci s'explique probablement par le fait que le fédéralisme suisse est un fédéralisme d'agrégation, que les cantons ont préexisté à la Confédération et qu'ils sont des réalités historiques qui ne peuvent pas être définies sur la seule base du critère linguistique. L'une des grandes caractéristiques de la Suisse est donc que les subdivisions politiques du pays ne correspondent pas au découpage linguistique et culturel. Si la Suisse n'était pas partagée en vingt-six cantons, comme elle l'est, mais en trois, voire quatre régions, correspondant aux régions linguistiques, des problèmes politiques ne manqueraient probablement pas de surgir très rapidement. Dans la situation actuelle, l'absence de coïncidence entre les frontières cantonales et les subdivisions culturelles a un effet bénéfique: les différences ne s'exacerbent pas par leur cumul. L'imbrication des frontières politiques d'une part, et linguistiques d'autre part, rend en effet très difficile la prédominance d'un groupe. L'image que reflète la Suisse est bien plutôt celle de plusieurs groupes, de plusieurs minorités, qui s'équilibrent et se contrebalancent. Il n'est pas rare qu'un citoyen suisse appartienne

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au groupe majoritaire au niveau fédéral, mais minoritaire à celui du canton. Ainsi, même si les germanophones constituent le groupe dominant au plan fédéral, presque chaque Suisse appartient, à un titre ou à un autre, à une minorité.

Der österreichische Föderalismus Von Franz Matscher

Nicht ohne Rührung und Betroffenheit kann ich in einem Land das Wort ergreifen, das 50 Jahre lang mit Osterreich verbunden war und dem wir uns weiterhin verbunden fühlen, auch wenn dieses halbe Jahrhundert gemeinsamer Geschichte infolge des Attentats von Sarajevo vom 28. Juni 1914, dem das Thronfolgerehepaar - Erzherzog Franz Ferdinand und Erzherzogin Sophie - zum Opfer gefallen waren, ein tragisches Ende gefunden hat. Es ist bekannt, dass dieses Attentat und seine Folgen vordergründig den Ersten Weltkrieg ausgelöst haben. Falsch wäre es aber anzunehmen, dass es die alleinige Ursache für den Ausbruch des Weltkriegs gewesen war; es war nur der Funke, der ein bis zum Rand gefülltes Pulverfass zur Explosion gebracht hatte. Solche Pulverfässer standen auch an anderen Orten in Europa bereit und der zündende Funke hätte ebenso gut dort zur Explosion führen und den Weltkrieg auslösen können. Lassen wir es aber bei diesem geschichtsphilosophischen Gedanken bewenden. Ich möchte versuchen, kurz darzustellen, in welchem Ausmaß der österreichische Föderalismus für Bosnien-Herzegowina von Bedeutung oder zumindest von Interesse sein kann. Ich betrachte meine Ausführungen als kleinen österreichischen Beitrag zur Staatswerdung Bosnien-Herzegowinas.

L Laut Art. 2 des B-VG 1920 ist Österreich ein Bundesstaat, der aus neun selbständigen Ländern: Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol, Vorarlberg und Wien besteht. Die Bundesländer sind gebiets- und bevölkerungsmäßig von ganz unterschiedlicher Größe (Wien, Niederösterreich, Oberösterreich über eine Million; Burgenland nur 270.000). Das bundesstaatliche Prinzip ist eines der Baugesetze der Bundesverfassung; eine Aufgabe dieses Prinzips bedürfte - als Aspekt einer Gesamtänderung der Bundesverfassung - einer Volksabstimmung (Art. 44 Abs. 3 B-VG). Neuregelungen der Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Ländern - solange dadurch nicht das Wesen des Bundesstaats ausgehöhlt wird (unten V) - fallen aber nicht darunter. Änderungen der Landesgrenzen innerhalb des Bundesgebiets bedürfen übereinstimmender Verfassungsgesetze des Bundes und der betreffenden Länder (Art. 3 Abs. 2 B-VG).

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Die Republik Österreich ist das Produkt des Staatsvertrags von Saint Germain von 1919, durch den die Österreichisch-Ungarische Monarchie zerschlagen worden war. Sie umfasst im wesentlichen - nicht aber zur Gänze - die deutschsprachigen Gebiete der Monarchie. Nicht einbezogen wurden das Sudentenland, welches der Tschechischen Republik zugesprochen wurde, die südliche Steiermark und Krain, die an das Königreich Jugoslawien kamen, sowie Südtirol, das dem Königreich Italien zugeschlagen wurde. Zynisch hatte Clemenceau in Saint Germain bemerkt: „L'Autriche c'est ce qui reste". Die Bundesländer sind historisch gewachsene Einheiten, die aus früheren selbständigen Herzogtümern, Fürstentümern und Grafschaften hervorgegangen sind und im Laufe von Jahrhunderten (Tirol etwa 1336, Salzburg erst 1805) zu Österreich gekommen waren. In der Monarchie hießen sie Kronländer. Das jüngste Bundesland, nämlich das Burgenland, kam erst 1920 zu Österreich; vorher gehörte es zur ungarischen Reichshälfte der Monarchie. Wien bildet erst seit 1922 ein eigenes Bundesland; bis dahin war es ein Teil des Kronlandes Niederösterreich. Die Trennung wurde vorgenommen, weil Niederösterreich und Wien zusammen einwohnermäßig die Hälfte der Republik dargestellt hätten. Die Monarchie war kein Bundesstaat im staatsrechtlichen Sinn, sondern ein dezentralisierter Einheitsstaat und ein Staatsgebilde von sehr komplexer, aber ausgewogener Struktur, wobei die einzelnen Kronländer über eine gewisse, eingeschränkte Landesautonomie verfügten. Jedes Kronland hatte seine eigene Landesordnung und Landeswahlordnung. Die Landesordnungen waren nach einem einheitlichen Schema aufgebaut; sie waren aber keine Gesetze der Kronländer, sondern vom Zentralstaat für die Kronländer erlassene Gesetze (formal: Beilagen zum Kaiserlichen Patent 1861). Jedes Kronland hatte einen gewählten Landtag mit Gesetzgebungsbefugnis in nicht sehr bedeutsamen Landesangelegenheiten (dazu zählten die Landeskultur, öffentliche Bauten, Jagd und Fischerei, Wohltätigkeitswesen, Schulangelegenheiten). Der Leiter des Landtags war ein vom Kaiser ernannter Landeshauptmann, der auch dem Landesausschuss, d. h. der Landesregierung, vorstand. Die erste Persönlichkeit im Land war der vom Kaiser bestellte Statthalter. Das alles zeigt, dass von einem Föderalismus im heutigen Sinn nicht die Rede sein konnte.

II. Das B-VG 1920 übernahm Elemente aus der alten Reichsverfassung und gestaltete die Republik als einen Bundesstaat. Dafür spricht auch die Wendung, dass der Bundesstaat aus den neun selbständigen Ländern besteht. Alle Länder haben die gleichen Kompetenzen und grundsätzlich eine gleiche Organisation. Jedes Bundesland hat seine eigene Landesverfassung, die vom Landtag zu beschließen ist. Für diese macht die Bundesverfassung gewisse Vorgaben (Art. 95 ff., insbesondere

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Art. 99 B-VG); innerhalb des Rahmens der Bundesverfassung ist der Landesgesetzgeber bei der Ausgestaltung der Landesverfassung frei. Die erste Persönlichkeit im Lande ist nunmehr der vom Landtag gewählte Landeshauptmann. Der Bund hat auf dessen Bestellung keinen Einfluss; der Landeshauptmann wird lediglich vom Bundespräsidenten auf die Bundesverfassung angelobt. Als einziger Repräsentant des Bundes in den Ländern, aber nur im Bereich der öffentlichen Sicherheit, fungiert ein vom Bundesminister für Inneres im Einvernehmen mit dem Landeshauptmann zu ernennender Sicherheitsdirektor (Art. 78b B-VG). Die Einrichtung der Sicherheitsdirektionen durch die Bundesverfassungsnovelle 1929 war Ausdruck des damaligen Spannungsverhältnisses zwischen dem Parlament und der Exekutive; die Einrichtung wurde aber von der Zweiten Republik übernommen (Behördenüberleitungsgesetz 1946). Die Aufteilung der staatlichen Aufgaben zwischen dem Bund und den Ländern bildet das Kernstück jeder bundesstaatlichen Ordnung. Sie bezieht sich auf die Aufgabenverteilung in Gesetzgebung und Vollziehung, wobei die Gerichtsbarkeit, nach der Kelsen'sehen Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, nur eine besondere Art der Vollziehung, nämlich der Vollziehung durch unabhängige Organe, darstellt. Da die Gerichtsbarkeit nach der österreichischen Konzeption eine alleinige Bundesaufgabe ist (Art. 42 B-VG: „Alle Gerichtsbarkeit geht vom Bund aus"), können wir diesen Aspekt bei der Darstellung des österreichischen Föderalismus außer Betracht lassen. Im Gegensatz etwa zum deutschen und zum schweizerischen Föderalismus sind alle Gerichte Organe des Bundes, und es gibt keine Ländergerichte. Ein jüngster Einbruch in dieses System wäre zu vermerken: Eine österreichische Besonderheit ist das stark entwickelte Verwaltungsstrafverfahren, das mit den Art. 5 und 6 EMRK weitgehend nicht vereinbar ist. Österreich hat daher 1958, aus Anlass der Ratifikation der EMRK, einen entsprechenden Vorbehalt angemeldet. Da die Vorbehalte zur EMRK gem. Art. 64 (Art. 57 in der Neufassung nach dem 11. Protokoll von 1994, i. K. seit 1.11. 1998) generell kaum mehr aufrecht erhalten werden können, hat Österreich mit der Bundesverfassungsnovelie 1988 (Art. 129a B-VG) die „Unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern", eine Art von besonderen Verwaltungsgerichten, eingeführt, die allerdings nur ein Provisorium und einen Vorgriff auf eine neu zu schaffende „Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern" darstellen; es ist damit zu rechnen, dass dieses Vorhaben noch in der laufenden Legislaturperiode verwirklicht werden wird. Damit hätten wir echte Verwaltungsgerichte der Länder, die u. a. auch der Entlastung des Verwaltungsgerichtshofs dienen sollen.

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III. Kommen wir zur Kompetenzverteilung zwischen dem Bund und den Ländern. Das österreichische Verfassungsrecht kennt 4 Haupttypen, die hier nur schematisch und beispielhaft angeführt werden können: 1. Gesetzgebung und Vollziehung des Bundes (Art. 10 B-VG); das sind die wichtigsten Kompetenzen: - Bundesverfassung und Wahlen zum Nationalrat und zum Europäischen Parlament - Äußere Angelegenheiten - Bundesfinanzen - Ein- und Ausreise - Ausländerpolizei - Passwesen - Abschiebung und Auslieferung - Zivil-, Handels- und Arbeitsrecht; Strafrecht; Gerichtsorganisation - Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit; Bundespolizei und Bundesgendarmerie - Gewerbe und Industrie; Patent-, Marken- und Musterschutz; Geld-, Kredit-, Börse- und Bankwesen - Verkehrswesen (Bahn, Seeschifffahrt, Luftverkehr) - Bergbau, Forstwesen - Gesundheitswesen - Wissenschaft und Kunst, Hochschulen, Bibliotheken, Archive, Denkmalschutz - Kultusangelegenheiten - Militärische Angelegenheiten 2. Gesetzgebung Bund - Vollziehung Länder (Art. 11 B-VG): - Staatsbürgerschaft - Volkswohnungswesen - Straßenpolizei - Binnenschifffahrt - Umweltverträglichkeitsprüfung

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3. Grundsatzgesetzgebung Bund, Ausführungsgesetzgebung und Vollziehung Länder (Art. 12 B-VG): - Armenwesen, Mutterschaft und Säuglingsschutz, Jugendschutz - Pflanzenschutz - Bodenreform 4. Soweit eine Angelegenheit nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesen ist, verbleibt sie im selbständigen Wirkungsbereich der Länder. Sonderregelungen betreffen das Schulwesen (Art. 14a B-VG). Unterentwickelt oder, besser gesagt, praktisch gar nicht vorhanden, ist der Föderalismus in Steuerund Abgabensachen. Steuern und Abgaben sind Bundesangelegenheiten; die Steuern werden vom Bund bestimmt und von Bundesorganen eingehoben. Länder und Gemeinden haben nur eine sehr beschränkte Steuerhoheit. Zur Bestreitung der Ausgaben der Länder und der Gemeinden weist ihnen der Bund jährlich einen Teil seiner Einkünfte zu, deren Höhe jährlich im sog. Finanzausgleich zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden ausgehandelt wird. Zu erwähnen wären drei weitere Regelungen: - Laut Art. 16 Abs. 4 B-VG sind die Länder verpflichtet, die in ihrem selbständigen Wirkungsbereich zur Durchführung von Staatsverträgen des Bundes erforderlichen Maßnahmen zu treffen; kommt ein Land dieser Verpflichtung nicht rechtzeitig nach, geht die Zuständigkeit dafür provisorisch auf den Bund über. Eine analoge Regelung (Art. 23d Abs. 5 B-VG) gilt für von den Ländern zu treffende Maßnahmen zur Durchführung von Rechtsakten im Rahmen der europäischen Integration. - Alle Organe des Bundes, der Länder und der Gemeinden sind im Rahmen ihres gesetzlichen Wirkungsbereichs zur wechselseitigen Hilfeleistung (Amtshilfe) verpflichtet (Art. 22 B-VG). - Die Bestimmungen über die Amtshaftung (Staatshaftung) gelten auch für die Länder, die Bezirke und Gemeinden (Art. 23 B-VG). Die Diktion der Bundesverfassung ist irreführend: - Art. 2: der Bund wird aus den selbständigen Ländern gebildet; das soll irgendwie den originären Charakter der Länder zum Ausdruck bringen; - Art. 15: die nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesenen Kompetenzen verbleiben im selbständigen Wirkungsbereich der Länder; tatsächlich kommen aber die wichtigsten Kompetenzen dem Bund zu. An der Gesetzgebung des Bundes haben die Länder nur eine bescheidene Einflussmöglichkeit. Sie üben diese über den Bundesrat, eine von den Landtagen beschickte Zweite Kammer, aus. Der Bundesrat verfügt allerdings nur über ein suspensives Vetorecht und die erste Kammer, der Nationalrat, kann sich durch Beharrungsbeschluss darüber hinwegsetzen (Art. 42 B-VG). Lediglich Gesetze, durch 11 Graf Vitzthum/Winkelmann

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welche die Zuständigkeit der Länder eingeschränkt werden würde, bedürfen der mit einer Mehrheit von 2/3 zu beschließenden Zustimmung des Bundesrats (Art. 44 Abs. 2 B-VG). Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder an der Kompetenzausübung durch den Bund: - Bevor der Bund Staatsverträge schließt, welche Durchführungsmaßnahmen i. S. v. Art. 16 B-VG erforderlich machen oder die den selbständigen Wirkungsbereich der Länder in anderer Weise berühren, hat er den Ländern Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (Art. 10 Abs. 3 B-VG); - Staatsverträge des Bundes, welche in den selbständigen Wirkungsbereich der Länder eingreifen, bedürfen der Zustimmung des Bundesrats (Art. 50 Abs. 1 BVG); - Länder können in Angelegenheiten ihres selbständigen Wirkungsbereichs mit Nachbarstaaten oder deren Teilgebieten, mit Zustimmung der Bundesregierung, Staatsverträge schließen (Art. 16 B-VG); das ist eine innerstaatliche Rechtsgrundlage für die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit i. S. d. Europaratsabkommens von Madrid; - Länder können darüber hinaus in Angelegenheiten ihres selbständigen Wirkungsbereichs untereinander oder in Angelegenheiten ihres jeweiligen Wirkungsbereichs mit dem Bund Vereinbarungen schließen; das ist ein Aspekt des sog. „kooperativen Föderalismus" (Art. 15a B-VG); - besondere Bestimmungen (Art. 23d B-VG) regeln die Mitwirkung der Länder und der Gemeinden an Vorhaben der Regierung im Rahmen der EU. Es handelt sich dabei um eine direkte Mitwirkung (abweichend von der deutschen Regelung, bei der diese Mitwirkung durch den Bundesrat wahrgenommen wird). Uber die Ausgestaltung dieser Mitwirkung wurde zwischen dem Bund und den Ländern eine Vereinbarung i. S. d. Art. 15a B-VG geschlossen (BGBl. 1992, 775). Das Zustandekommen der gemeinsamen Willensbildung bildet des weiteren den Gegenstand einer Vereinbarung (von 1992) der Länder untereinander gem. Art. 15a B-VG, in deren Rahmen u. a. eine Integrationskonferenz und ein Ständiger Integrationsausschuss der Länder geschaffen wurden.

IV. Aus den vorangehenden Ausführungen erhellt, dass der österreichische Föderalismus in der Gesetzgebung nur gering entwickelt ist. Um so bedeutsamer ist er in der Vollziehung. Wir sprechen hier von mittelbarer Bundesverwaltung, die vom Landeshauptmann und von den Länderbehörden ausgeübt wird (Art. 102 ff. BVG). Eigene Bundesbehörden gibt es im wesentlichen nur für das Justizwesen, das Finanzwesen, die militärischen Angelegenheiten. In allen anderen Angelegenhei-

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ten agieren der Landeshauptmann bzw. die Landesbehörden, die dabei den zuständigen Bundesbehörden gegenüber weisungsgebunden sind. Typisch für den österreichischen Föderalismus ist die gegenseitige Kontrolle der Gesetzgebung: - die Bundesregierung kann Verordnungen einer Landesbehörde wegen Gesetzwidrigkeit vor dem VfGH anfechten; umgekehrt kann die Landesregierung die Gesetzwidrigkeit von Verordnungen einer Bundesbehörde geltend machen (Art. 139 B-VG) - die Bundesregierung kann Landesgesetze, die Landesregierung kann Bundesgesetze wegen Verfassungswidrigkeit beim VfGH anfechten (Art. 140 B-VG) - Gesetzesbeschlüsse der Landtage sind vor der Kundmachung dem Bundeskanzleramt bekannt zu geben; wenn durch den Gesetzesbeschluss Bundesinteressen gefährdet werden, kann die Bundesregierung dagegen einen begründeten Einspruch erheben; der Landtag kann dagegen einen Beharrungsbeschluss fassen (Art. 98 B-VG). In diesem Fall bleibt dann nur noch die Anfechtung des Landesgesetzes beim VfGH, wenn die Bundesregierung eine Verfassungsverletzung behauptet. Der Kontrolle des Rechnungshofs unterliegt auch die Gebarung der Länder (Art. 127 B-VG) und der Gemeinden von mindestens 20.000 Einwohnern (Art. 127a B-VG). Zur Kontrolle der Verwaltung des Bundes wurde 1988 die Volksanwaltschaft (Ombudsmann-Institution) geschaffen (Art. 148a ff. B-VG). Durch Landesverfassungsgesetz können die Länder die Volksanwaltschaft auch für den Bereich der Verwaltung des betreffenden Landes für zuständig erklären (Art. 148i B-VG). Alle Bundesländer, mit Ausnahme von Tirol und von Vorarlberg, in denen eigene Landes-Volksanwaltschaften eingerichtet wurden, haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.

V. Der österreichische Föderalismus ist kein starrer, sondern ein dynamischer. Der ursprünglich sehr schwach ausgebildete Föderalismus mit seinem Übergewicht des Bundes wurde in den letzten Jahrzehnten sukzessive ausgebaut („Bundesstaatsreform"). Die Länder artikulieren ihre Interessen zur Stärkung der Landeskompetenzen in den sog. Forderungsprogrammen der Länder (1963/64, 1970, 1976, 1985), die der Bundesregierung präsentiert und denen vom Bund durch mehrfache Verfassungsänderungen zum Teil Rechnung getragen wurde. Umgekehrt haben sich die Länder in einzelnen Punkten mit einer Übertragung von Landeskompetenzen an den Bund (so ζ. B. im Bereich des Umweltschutzes) einverstanden erklärt. 11*

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Franz Matscher

Zur Koordination ihrer Interessen gegenüber dem Bund wurden - ohne eigentliche gesetzliche Grundlage - eine Verbindungsstelle der Bundesländer (beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung), eine Landeshauptmännerkonferenz und eine Konferenz der Landesamtsdirektoren eingerichtet. Auch die jährlichen Verhandlungen um den sog. Finanzausgleich (oben III.) werden in diesem Rahmen vorbereitet. Einzelne Bundesländer unterhalten eigene Landesbüros in Wien und bei der EU in Brüssel; gem. Art. 9 der Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern (BGBl. 1992, 775) können die Länder auf ihre Kosten und in Einvernehmen mit dem Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten Vertreter und sonstiges Personal an die österreichischen Mission bei der EU entsenden. Die Übertragung von Kompetenzen an Internationale Organisationen, so insbesondere an die EU, führt nicht nur zur Schwächung von Bundes-, sondern auch von Länderkompetenzen. Dagegen wollen sich die Länder durch eine gewisse Mitwirkungsmöglichkeit bei Vorhaben der EU schützen (Art. 23d B-VG). Sie bauen desgleichen auf den durch die Verträge von Maastricht und Amsterdam geschaffenen Ausschuss der Regionen. Stark ausgeprägt ist die Gemeindeautonomie (Art. 115 ff. B-VG). Die Gemeinden koordinieren ihre Interessen gegenüber dem Bund und den Ländern sowie auch gegenüber der EU im Österreichischen Städtebund und im Österreichischen Gemeindebund.

VI. Lassen sich Parallelen zwischen Österreich und Bosnien-Herzegowina ziehen? Vor 1867 war das Kaisertum Österreich im wesentlichen ein Zentralstaat mit sehr geringen lokalen Autonomien. Mit dem „Ausgleich" mit Ungarn im Jahr 1867 wurde die Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie geschaffen, die von der Verfassungslehre als eine Realunion qualifiziert wird. Sie bestand aus den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern - die österreichische Reichshälfte - und den Ländern der ungarischen Krone - die ungarische Reichshälfte. Es gab gemeinsame, sog. „pragmatische" und „dualistische" Angelegenheiten (vornehmlich die Wirtschaft betreffend), die einvernehmlich durch gleichlautende - „paktierte" - Gesetze geregelt werden sollten. Die übrigen Materien verblieben in der Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenz der beiden Reichshälften. Zu den gemeinsamen Angelegenheiten zählten vor allem die Außenpolitik, das Kriegs- und das Finanzwesen; dafür gab es eigene K.u.K.-Ministerien. Diese so konzipierte Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Staat Bosnien-Herzegowina, und die beiden Einheiten - die FBIH und die RS - könnten mit den beiden Teilen der Doppelmonarchie verglichen werden.

Der österreichische Föderalismus

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Der Zusammenhalt war seinerzeit aber nicht stark genug. Im Ersten Weltkrieg, bei dem auch das einigende Band in der Person Kaiser Franz Josephs, der nach 68-jähriger Herrschaft 1916 gestorben ist, weggefallen war, ist die Monarchie an den ausgebrochenen Nationalitätenkämpfen, vor allem seitens der Ungarn, der Tschechen und der Italiener - weniger seitens der Südslawen - , zerbrochen. Hoffen wir, dass die Völker Bosnien-Herzegowinas zu einem dauerhaften Staat zusammenfinden werden. Die Kantone der FBIH weisen eine noch geringere Ähnlichkeit mit den neuen österreichischen Bundesländern auf, während es in der RS keine entsprechenden Untergliederungen (nur die Gemeinden) gibt. Damit ist die Vergleichbarkeit aber zu Ende. Trotzdem können aus dem Beispiel der Monarchie und der österreichischen Bundesländer für die Staatswerdung Bosnien-Herzegowinas und für die Gestaltung des Föderalismus in den beiden Einheiten brauchbare Lehren gezogen werden. Allerdings, rechtliche Regelungen können nur einen äußeren Rahmen bieten. Wichtiger ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit der Völker Bosnien-Herzegowinas und deren Wollen, zusammen zu leben und zusammen zu wachsen. Das eine und das andere gilt es zu verstärken, wenn der Staat Bosnien-Herzegowina Bestand haben soll.

Les communautés et régions belges Par Firass Abu Dalu

I. Introduction 1. Données historiques Une introduction au fédéralisme ne devrait-elle pas toujours commencer par une introduction aux données historiques, linguistiques et sociologiques qui peuvent expliquer la réalité, et la complexité, de ce système? Qu'il me soit simplement permis de rappeler ici que la Belgique est divisée de part en part par une »frontière linguistique« d'orientation Ouest-Est séparant les dialectes romans au Sud des dialectes germaniques au Nord 1. La ville de Bruxelles, bien qu'actuellement très largement francisée, est géographiquement, historiquement et culturellement, de tradition germanique2. Avant 1789, les territoires qui constituent aujourd'hui la Belgique étaient composés de principautés plus ou moins autonomes qui se regroupaient en deux ensembles: d'une part, les Pays-Bas autrichiens, d'autre part, la Principauté de Liège, rattachée à l'Empire germanique mais jouissant en fait d'une relative indépendance. Ces deux entités chevauchaient chacune des territoires romans et germaniques. L'écho de l'été parisien de 1789 a retenti de deux manières dans ces territoires. Une révolution, dite »Révolution brabançonne«, éclata dans les Pays-Bas autrichiens au nom de l'autonomie locale par opposition aux réformes - pourtant largement inspirées par l'esprit des Lumières - imposées par l'Autriche, ce qui aboutit à la création des éphémères »Etats belgiques unis«. Dans la Principauté de Liège, par contre, la Révolution adopta d'emblée un profil francophile et libéral, voire par certains côtés »montagnard«. L'unité des territoires qui composent actuellement la Belgique a eu lieu que par l'annexion à la République française en 1795. L'appartenance à la République, puis à l'Empire va accélérer la francisation de la bourgeoisie flamande 3. Par ail1 Sur la fixation de la „frontière linguistique", voy. J. Germain/J.-M. Pierret, L'apport germanique, in: D. Blampain e.a. (dir.), Le français en Belgique, Louvain-la-Neuve 1997, 43-57, sp. pp. 45-49. 2 Cl. Javeau, Le français dans la région bruxelloise, in: Le français en Belgique, op. cit., pp. 239-258. 3 D. Willems note cependant que „Beaucoup cultivent (..) l'idée que la francisation avortée de l'administration, de l'aristocratie et de la bourgeoisie en Flandre aurait été la conséquence

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leurs, la France léguera à la future Belgique une organisation largement centralisée. Le Congrès de Vienne de 1815 rattache les territoires belges au Royaume des Pays-Bas. Ce mariage de quinze ans aboutit à la sécession des provinces belges à la suite de la révolution de septembre 1830. Le 7 février 1831, le Congrès national adopte une Constitution qui régit encore actuellement la Belgique. Celle-ci établit une monarchie parlementaire libérale, centralisée et, en fait, francophone. Le mouvement flamand va très tôt affirmer les droits de la population flamande à l'usage de sa langue dans les rapports avec l'administration, la justice et l'armée. La trop lente montée du suffrage universel 4 va donner à ce mouvement un poids considérable5. Par réaction, se crée un faible mouvement wallon, dont l'objectif peut se résumer alors à sauvegarder les droits des populations et des fonctionnaires d'expression française face à la néerlandisation des fonctions de l'État. Ce n'est qu'après les grèves quasi-insurrectionnelles de l'hiver 1960-1961 que va se créer un réel mouvement populaire en Wallonie en vue de l'obtention de l'autonomie en matière socio-économique6. En 1970, le processus de fédéralisation commence. Il se poursuit par les réformes de 1980, 1988 et 1993. Un élément essentiel du fédéralisme belge est donc son caractère centrifuge. Ce n'est qu'en 1993 que le texte constitutionnel reconnaît officiellement le caractère »fédéral« de l'Etat.

2. Données géographiques , démographiques et politiques La Belgique est un petit Etat à forte densité de population: environs 10.000.000 d'habitants se partagent environs 30.500 km 2 . La région unilingue flamande représente environs 60% de la population nationale et la région bilingue de BruxellesCapitale compte un peu moins d'un million d'habitants (10%), dont »officiellement« 20% de Flamands7. Par contre, bien qu'occupant plus de la moitié du terri-

de l'occupation française (entre 1794 et 1814). En réalité l'histoire linguistique de la Flandre est bien plus celle d'un bi- (ou même pluri-) linguisme quasi-constant, aux liens étroits et aux influences réciproques et vivant - jusqu'au XIXe siècle - une cohabitation largement pacifique. La notion de 'conflit linguistique' s'avère un concept relativement moderne. ", Le français en Flandre, in: Le français en Belgique, op. cit., p. 260. 4

Jusqu'en 1893, la Belgique connaissait le suffrage censitaire. En 1893 est adopté le suffrage „universel" masculin, tempéré par le vote plural (certains électeurs ayant droit à plus d'un vote pour des raisons censitaires et capacitaires). En 1919, le suffrage „universel" masculin est adopté. Ce n'est cependant qu'en 1947 qu'est enfin réellement acquis le suffrage universel par l'octroi du droit de vote aux femmes aux élections législatives. 5 Sur cette question, voy. L. Vos , Le mouvement flamand, un aperçu historique, in: M. Martiniello/M. Swyngedouw, Où va la Belgique ? Les soubresauts d'une petite nation européenne, Paris 1998, pp. 59-71. 6

Sur cette question, voy. F. Joris , Les Wallons et la réforme de l'État, Charleroi 1998.

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toire national, la Région wallonne (y compris la Communauté germanophones8) ne compte qu'environs 30% de la population du Royaume9. La Flandre, dont le développement est, en général, plus récent, présente un tissu économique relativement dynamique, essentiellement de petites et moyennes entreprises (PME). Par contre, la Wallonie, région de vielle industrialisation (mines de charbon, acier, construction mécanique), a subi à partir des années soixante la crise des secteurs d'activité sur lesquels elle avait bâti sarichesse passée. Le système politique belge était dès l'origine marqué par la question religieuse et scolaire. A cette question se superpose très tôt la question sociale. Le parti libéral (1846) et le parti catholique (1885) restent en effet partisans, pour le reste, d'une politique économique libérale et s'opposent majoritairement d'une même voix aux revendications de ce qu'il convenait d'appeler alors la »classe ouvrière«. Le parti ouvrier belge est fondé en 1886. Ces trois familles politiques vont se scinder sur des bases linguistiques (c'est la question linguistique) à partir du milieu des années soixante, sous la pression de partis »communautaires« au poids électoral grandissant. Le parti catholique donne naissance en 1968 a deux partis distincts. Le parti libéral se scinde en 1972 et le parti socialiste en 1978. Le début des années quatre-vingt voit l'émergence d'une quatrième famille politique, à savoir la famille écologiste, composée d'emblée de deux partis indépendants, l'un flamand et l'autre d'expression française. Un élément essentiel à la compréhension du système politique et constitutionnel belge est le fait que le parti dominant en Flandre est le parti catholique (aujourd'hui CVP - Christelijk Volkspartij) tandis qu'en Wallonie, c'est le parti socialiste (PS) qui domine le champ politique. A Bruxelles, le premier parti est le parti libéral (aujourd'hui allié notamment avec un parti »communautaire« francophone, il se dénomme PRL-FDF). Il ne s'agit pas là d'une simple précision, mais d'un élément fondamental qui a influencé la forme de l'Etat: il a en effet semblé - à tort ou à raison - dangereux pour l'équilibre de l'Etat »d'abandonner« les libres-penseurs flamands et les catholiques wallons aux »corbeaux« ou aux »ogres rouges« qui dominaient - ou étaient censé dominer - leur région linguistique respective.

7

Lors des élections régionales du 13 juin 1999, les listes flamandes à Bruxelles ont obtenu, à la proportionnelle, 15 des sièges au Conseil de la Région de Bruxelles-Capitale (11 sièges sur 75). 8 Environs 60.000 habitants. 9 Cette situation est due à la présence sur le territoire wallon du plateau ardennais, très peu peuplé; l'essentiel de la population wallonne se regroupe le long d'un axe Ouest-Est „HaineSambre-Meuse-Vesdre".

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II. Les caractéristiques du fédéralisme belge 7. Les divisions du territoire LA BELGIQUE L'ETATFEDEFÄL

fédéral et les entités

LES COMMUNAUTES

LES REGIONS

LA COMMUNAUTE

LA REGION FLAMANDE

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Source: site web du Gouvernement fédéral (http://belgium.fgov.be).

2. Les régions linguistiques , les communautés et les régions Selon l'article ter de la Constitution belge 10 , »La Belgique est un Etat fédéral, qui se compose des communautés et des régions«. Il s'agit là sans doute de l'élément le plus original du fédéralisme belge, à savoir la coexistence sur un même territoire de deux types d'entités. Cette originalité est le fruit d'un compromis entre les mouvements flamand, basé sur des revendications identitaires et culturelles (d'où les communautés) et wallon, orienté vers des revendications socio-économiques (d'où les régions). 10

Le texte de la Constitution belge est accessible à l'adresse http://www.senate.be/senbeldocs/constitution/const_fr.html. En 1994, le texte de la Constitution a été „coordonné" et renuméroté. Sauf indication contraire, nous utiliserons dans la présente contribution la numérotation „coordonnée".

Les communautés et régions belges

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La Constitution connaît quatre régions linguistiques, à savoir la région de langue française, la région de langue néerlandaise, la région de langue allemande et la région bilingue de Bruxelles-Capitale (article 4 Const.). Ces »régions linguistiques« (»Taalgebieden / Sprachgebiete«) ne doivent en aucun cas être confondues avec les »régions« (»Gewesten/ Regionen«): elles ne constituent pas des entités, mais de simples divisions territoriales à partir desquelles vont s'articuler les régions et les communautés. Les trois communautés sont la Communauté française, la Communauté flamande et la Communauté germanophone (article 2 Const.). Les communautés sont compétentes en matière culturelle, sociale (»personnalisable«) et, sauf, du moins en principe, pour la communauté germanophone, en matière d'emploi des langues. Les parlements (»conseils«) de communauté agissent par »décrets« ayant force de loi. Territorialement parlant, les communautés sont compétentes dans »leur« région linguistique unilingue respective, et, pour la Communauté française et flamande, à Bruxelles selon des modalités un peu particulières: en ce qui concerne l'emploi des langues, les communautés ne sont pas compétentes à Bruxelles, mais bien l'Etat fédéral. En ce qui concerne les matières culturelles et l'enseignement, les communautés sont compétentes »à l'égard des institutions [ . . . ] qui, en raison de leurs activités, doivent être considérées comme appartenant à l'une ou l'autre communauté«11. C'est ainsi que l'Université libre de Bruxelles relève de la compétence de la Communauté française tandis que son homologue flamande, la Vrije Universiteit Brüssel relève de la compétence de la Communauté flamande. Par contre, les institutions qui ne peuvent, en raison de leurs activités, être considérées comme appartenant exclusivement à l'une ou à l'autre communauté (les institutions »bicommunautaires«) restent de la compétence de l'Etat fédéral. Il en est ainsi de l'Opéra de la Monnaie, par exemple. Enfin, en ce qui concerne les matières »personnalisables«, les communautés sont compétentes »à l'égard des institutions [ . . . ] qui, en raison de leur organisation, doivent être considérées comme appartenant exclusivement à l'une ou à l'autre communauté«12. Il en sera ainsi d'un hôpital universitaire rattaché à une université relevant de la Communauté française ou de la Communauté flamande. Cette construction compliquée est due au fait que le constituant a refusé de créer des sous-nationalités en Belgique. Il était donc absolument nécessaire que les normes des communautés riaient pas de destinataires »humains« mais au contraire institutionnels dans la région bilingue de Bruxelles-Capitale. Qu'il me soit d'ailleurs permis d'insister ici fortement sur le fait que, selon la jurisprudence de la Cour d'arbitrage 13, chaque communauté serait exclusivement compétente dans la région linguistique unilingue qui lui correspond, de sorte que π Article 127, § 2 Const. 12 Article 128, § 2 Const. 13 C. arb., η 54/96 du 3 octobre 1996, Moniteur b., 10 octobre 1996, B.9. ; compa C. arb., η 9 et 10 du 30 janvier 1986, Moniteur b16 février 1986.

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les communautés ne seraient pas érigées en protectrices de »leur« minorité en dehors de leur territoire. Il est en effet une erreur souvent commise à l'étranger, lorsque l'on songe au droit belge: contrairement à certaines idées reçues - excusables eu égard à l'ambiguïté du nom - les communautés sont des entités essentiellement territoriales, au même titre que les régions. La Belgique ne connaît donc pas de »droit personnel«. Ce n'est donc qu'à Bruxelles, et justement de manière à éviter la création de sous-nationalités, que les Communauté sont partiellement »déterritorialisées«. Les trois régions sont la Région wallonne, la Région flamande et la Région bruxelloise 14 (article 3 Const.). Les régions sont compétentes en matière d'économie, d'aménagement du territoire, du logement, d'infrastructures etc. Les parlements (»conseils«) des régions flamande et wallonne agissent par »décrets« ayant force de loi. Par contre, la Région de Bruxelles-Capitale n'adopte pas de »décrets« mais des »ordonnances«, dont le statut est légèrement inférieur. La raison de cette différence est la volonté flamande de minimiser l'existence de la région bruxelloise, dans la perspective d'un Etat »bicommunautaire« flamando-wallon. Le fédéralisme belge est donc »à double étage«, dans la mesure où il connaît des communautés et des régions. Il est aussi asymétrique, dans la mesure où, en Flandre, le poids prépondérant est mis sur la communauté alors qu'en Wallonie et à Bruxelles, l'accent est mis sur les régions. Ainsi, si chaque communauté et chaque région dispose normalement d'une assemblée élue et d'un gouvernement, les organes de la Communauté flamande exercent les compétences et les pouvoirs de la Région flamande. Il s'agit de ce qu'il est convenu d'appeler la »fusion« 15 de la Communauté et de la Région flamandes. Par contre, la Région wallonne et la Commission communautaire française à Bruxelles (c'est-à-dire, pour faire bref, l'aile française de la Région de Bruxelles-Capitale), exercent certaines compétences qui leur ont été transférées par la Communauté française. Il s'agit d'un phénomène appelé »défusion«. Il y a donc pour la Flandre un conseil et un gouvernement qui exercent tantôt les compétences de la communauté, tantôt les compétences de la région. Comme le conseil de la Communauté flamande compte en son sein des Bruxellois flamands, ceux-ci ne participent pas aux votes concernant les affaires régionales. Par contre, au Sud du pays, il y a deux conseils et deux gouvernements de région (pour la Région wallonne et la Région de Bruxelles-Capitale) et deux conseils et deux gouver14 Dans la suite du texte, il sera parlé indistinctement de „Région bruxelloise" et de „Région de Bruxelles-Capitale". En 1970, l'article 107 quater de la Constitution, dont est issu l'article 3 de la Constitution „coordonnée" instituait trois régions, à savoir la région wallonne, la région flamande et la „région bruxelloise". La réforme de 1988-1989 qui a effectivement mise en ceuvre à Bruxelles le prescrit de l'article 107 quater a cependant créé une „Région de Bruxelles-Capitale", à ne pas confondre avec la région linguistique bilingue de Bruxelles-Capitale. 15

On notera avec intérêt, cependant, que la Région flamande dispose toujours d'une personnalité juridique distincte de la Communauté flamande.

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nements de communauté (pour la Communauté française et la Communauté germanophone), ce qui laisse nombre d'étrangers - et de Belges d'ailleurs - perplexes. 3. Les institutions fédérales Les institutions fédérales sont essentiellement celles de la monarchie centralisée du dix-neuvième siècle. Elles ont toutefois subi de profondes modifications afin de tenir compte du caractère »bicommunautaire« de l'Etat et afin de protéger la minorité de langue et de culture française (40% de la population nationale): c'est ainsi que depuis 1970, le Conseil des Ministres doit compter autant de membres d'expression française que de membres d'expression néerlandaise, le Premier ministre éventuellement excepté16. Dans le même ordre d'idée, si trois-quarts des membres d'un groupe linguistique à la Chambre ou au Sénat estiment, par une motion motivée, qu'un projet ou une proposition de loi est »de nature à porter gravement atteinte aux relations entre les communautés«', la procédure parlementaire est suspendue et la motion est déférée au Conseil des Ministres 17 , qui, comme il vient d'être exposé, est composé paritairement (il s'agit du mécanisme connu sous le nom imagé de »sonnette d'alarme«). De même, la Cour d'arbitrage, la cour constitutionnelle de Belgique créée par la réforme constitutionnelle de 1980, compte autant de membres d'expression française que de membres d'expression néerlandaise. Le phénomène le plus remarquable est cependant l'avènement d'un nouveau type de loi requérant pour leur adoption une double majorité, dite »majorité spéciale« 18 . Pour adopter une telle loi, il faut d'abord que la majorité des membres de chaque groupe linguistique soit présente. Il faut encore que la proposition ou le projet recueille la majorité des suffrages dans chaque groupe linguistique. Il faut enfin que le total des votes positifs dans les deux groupes linguistiques atteigne les deux tiers des suffrages exprimés. La procédure doit être suivie aussi bien à la Chambre qu'au Sénat, qui sont sur ce point tout à fait égaux. Les mécanismes de la »sonnette d'alarme« et de la »majorité spéciale« peuvent peut-être expliquer en partie que la Belgique ne dispose toujours pas, malgré la volonté affichée de la dernière réforme de 1993, de véritable »sénat fédéral« 19 et que la procédure de révision de la Constitution riait pas été modifiée depuis 1831. Dans le premier cas, les Belges d'expression française ont obtenu de pouvoir s'opposer victorieusement à un projet ou à une proposition de loi d'origine flamande malgré leur minorisation à la Chambre et au Sénat; dans le second, un mécanisme 16 Art. 99, al. 2 Const. 17 Art. 54 Const. 18

Art. 4, dernier al. Const. 19 La composition du Sénat prévue à l'art. 67 de la Const, est proportionnelle à la population de chaque communauté et région. Il n'y a donc ni la parité, ni la pondération qui caractérisent généralement les chambres hautes dans les Etats fédéraux.

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de »fixation« du pacte fédéral, dans une certaine mesure plus protecteur pour la minorité que le mécanisme de révision constitutionnelle, a été érigé en dehors de la Constitution. Notons enfin qu'un parallélisme peut parfois être fait entre certains mécanismes fédéraux et les mécanismes mis en place à Bruxelles, que certains considèrent à cet égard comme une véritable »Belgique renversée«, pour protéger la minorité flamande (officiellement 20% de la population bruxelloise). C'est ainsi, par exemple, »(qu')outre le président, le gouvernement (de la Région de Bruxelles-Capitale) compte deux membres du groupe linguistique français et deux membres du groupe linguistique néerlandais«20.

I I I . Réflexions A ce point de l'exposé, le lecteur aura compris que la Belgique est un Etat fédéral atypique. Par rapport aux autres systèmes présentés dans le colloque, deux particularités - parmi tant d'autres! - du fédéralisme belge peuvent encore être mises en exergue, dans la mesure où elles soulignent un élément essentiel du système: son caractère centrifuge et empirique, ce qui implique l'absence totale de caractère systématique. Toute avancée de la fédéralisation se fait au détriment du caractère unitaire de l'Etat, par délégation de compétences21. Le système n'a donc pas été pensé de manière systématique et cohérente dès le départ. Les communautés et les régions ne disposent pas de constitution propre. Tout au plus, la Communauté flamande, la Communauté française et la Région wallonne peuvent-elles user d'une certaine »autonomie constitutive« encadrée dans certains domaines bien précis. Ainsi, par exemple, la Communauté flamande et la Région wallonne ont la faculté de modifier certaines dispositions relatives aux élections de leur conseil. Ce pouvoir reste extrêmement limité et ne peut en aucun cas être confondu avec un pouvoir constituant. Ensuite, malgré le libellé de l'article 35 de la Constitution22, la compétence résiduaire relève de la compétence de l'Autorité fédérale, dont, jusqu'à présent, la liste des compétences exclusives n'a pas été dressée. 20

Art. 34, § ter, 2e phrase de la loi spéciale du 12 janvier 1989 relative aux institutions bruxelloises. 21 A cet égard, n'est-il pas utile de rappeler que selon Particle 33 de la Const., „tous les pouvoirs" (y compris les pouvoirs communautaires et régionaux) „émanent de la Nation" (au singulier) et qu'ils „sont exercés de la manière établie par la Constitution" (fédérale). Ne pourrait-on donc pas affirmer que la souveraineté originaire appartient encore maintenant à la Nation, et non aux ,»ressortissants" de l'une ou l'autre entité ? Ni aux entités elles-mêmes? 22 „L'autorité fédérale n'a de compétence que dans les matières que lui attribuent formellement la Constitution et les lois portées en vertu de la Constitution même. Les communautés ou les régions, chacune pour ce qui la concerne, sont compétentes pour les autres matières, dans les conditions et selon les modalités fixées par la loi [ . . . ]".

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Par contre, s'il est un point commun avec les autres systèmes fédéraux étudiés qu'il faut relever, c'est le rôle important joué en Belgique par la négociation politique et par le juge constitutionnel, qui constitue véritablement »l'huile« dans les rouages du jeu fédéral. La Belgique est un régime parlementaire de longue date (1831). C'est aussi à la fois une démocratie, sans conteste en tout cas depuis l'obtention du suffrage par les femmes en 1947, et un Etat de droit, dans la mesure où chacun des pouvoirs est »juridictionnellement« soumis au droit. Qu'on ne s'y trompe pas: il est en effet plusieurs manières de régler les conflits dans une communauté politique, surtout dans un Etat bi- ou multicommunautaire. La Belgique a, jusqu'à présent, choisi parmi ceux-ci, la négociation politique de compromis - parfois au risque d'incohérences dans le système - et le contrôle juridictionnel de leur respect. Ne s'agit pas là du principal enseignement, politique mais non juridique, que le système belge puisse valablement présenter au monde?

Der Bundesstaat des Grundgesetzes - in Europa Von Wolfgang Graf Vitzthum „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder, soweit dieses Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt." „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig."

Während Art. 1 des Grundgesetzes (GG) mit der Garantie der Würde des Menschen, dem Bekenntnis zu den Menschenrechten und der Bindung der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht den materialen Kern der deutschen Verfassung von 1949 umschreibt, enthalten die zitierten Art. 20 Abs. 1, Art. 30 bzw. Art. 79 Abs. 3 GG die staats- und verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen, die grundlegende Funktionszuordnung zu den Ländern sowie die Definition des verfassungsänderungsfesten Minimums. Zusammen genommen normieren diese Bestimmungen - Art. 1, 20, 30 und 79 GG - den Kern der rechtlichen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, eines Gemeinwesens, das sich von Anfang an zudem auch als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa" definiert (S. 1 der Präambel des GG) und insofern nicht nur allgemein die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen ermöglicht (Art. 24 Abs. 1 GG), sondern seit 1992 auch die Mitwirkung „bei der Entwicklung der Europäischen Union" vorschreibt (Art. 23 Abs. 1 GG). Zu dieser verfassungsrechtlichen Identität Deutschlands gehört die bundesstaatliche Ordnung. Ihr - einschließlich ihrer europäischen Einbettung - gilt nachfolgende Skizze. Dabei interessieren nicht die diversen staats- und verfassungstheoretischen Modelle des Föderalismus, etwa die der Allgemeinen Staatslehre. Es geht vielmehr um die konkreten Formen der Bundesstaatlichkeit, so wie sie im Grundgesetz ausgestaltet und in mehr als einem halben Jahrhundert Staatspraxis gelebt und ausgeprägt worden sind. Im Mittelpunkt stehen die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, die Rechtfertigung der bundesstaatlichen Ordnung sowie ihre Zukunftstauglichkeit, auch in Hinblick auf die Risiken und Chancen Deutschlands in einem sich immer stärker institutionalisierenden Europa. Nach einem historischen, terminologischen und empirischen Überblick (unten I) werden nachfolgend kompetenzielle und institutionelle Fragen beantwortet (unten 12 Graf Vitzthum/Winkelmann

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II). Eine Skizze der bundesstaatlichen Finanz- und Haushaltsordnung sowie der Zuständigkeit für das „Auswärtige" schließen sich an (unten III). Es folgen die Themen Bundestreue, Homogenitätsgebot und kooperativer Föderalismus (unten IV), bevor ein knapper Ausblick gegeben wird, zumal bezüglich der europäischen Dimension unseres Themas (unten V). Literaturhinweise, die ihrerseits auch die einschlägige Rechtsprechung belegen, finden sich am Ende des Beitrags. Dessen Vortragsform wurde beibehalten.

I. Geschichte, Begriff und Wirklichkeit des deutschen Bundesstaates Die einleitend zitierte Grundentscheidung für eine bundesstaatliche Ordnung in Art. 20 Abs. 1 GG gewährleistet den Ländern einen beträchtlichen Spielraum eigener Gestaltung. Das Schema knüpft an die Staatsform des deutschen Bundesstaats in seiner historischen Prägung an. Die Selbständigkeit der Länder ist dabei das wichtigste traditionelle Element. Zwar können von den heutigen Gliedstaaten nur der Freistaat Bayern, die beiden Stadtstaaten Hamburg und Bremen sowie, mit Einschränkung, die Freistaaten Sachsen und Thüringen auf eine im Wesentlichen ungebrochene vielhundertjährige Entwicklung zurückblicken; die übrigen Länder wurden nach 1945 mit Hilfe der (West-)Alliierten neu gebildet bzw. in der zentralistischen DDR (1949-1990), einschließlich der beiden mitteldeutschen Freistaaten, schließlich aufgelöst. Doch auch für diese nach 1945 (Kriegsende) bzw. im Jahre 1990 (Wiedervereinigung Deutschlands durch Beitritt der DDR) neu gebildeten Länder konnte auf die bundesstaatliche Gliederung gerade in ihrem historischen Profil und in ihrer Anerkennung politischer und kultureller Verschiedenartigkeit (in gesamtstaatlicher Einheit) zurückgegriffen werden. Zeitgleich mit dem völkerrechtlichen Untergang der von der staatsbildenden Partei rigoros als Einheitsstaat organisierten DDR am 3. Oktober 1990 erfolgte deren staatsrechtliches Ende. Auch als bloßer Gliedstaat, als Gebietskörperschaft im Bundesstaat, überlebte die DDR den Beitritt zum freien Teil Deutschlands nicht; an ihre Stelle traten vielmehr die fünf erneuerten Länder. Seither umfasst die Bundesrepublik Deutschland 16 Länder. Die Präambel des Grundgesetzes listet sie in alphabetischer Reihenfolge auf: Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. Das geschichtliche und staatliche Profil der Gliedstaaten bildete den Ausgangspunkt der deutschen (Bundes-)Staatsbildung im 19. Jahrhundert. Die politischen Einheiten, die sich 1867 im Norddeutschen Bund (der nach der Niederwerfung Napoleons errichtete Deutsche Bund [1820] war demgegenüber ein Staatenbund) und dann im Deutschen Reich Bismarcks zusammenschlossen, besaßen durchweg historisches Gewicht. Die Länder, die auch in der Weimarer Republik (1919) den Bundesstaat konstituierten, wurden dann 1934 durch den Zentralismus der Natio-

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nalsozialisten „gleichgeschaltet", die Landesregierungen der Fachaufsicht der Reichsexekutive unterstellt. 1945 wurde Preußen, das viel größer (und historisch belasteter) als die anderen Länder war - eine Asymmetrie, die schwer auf dem Weimarer Föderalismus lastete - , aufgelöst. Aber schon 1945/46 bildeten sich die neuen, z.T. mit den alten identischen „Länder des Bundes". Das Grundgesetz als gesamtstaatliche Verfassung ging 1949 dann bereits ganz selbstverständlich von den Ländern und ihrer staatlichen Existenz aus. Diese wiederum nahmen das Grundgesetz an (Art. 144 Abs. 1 GG), passten sich also ebenso fraglos als Gliedstaaten in ein föderales (gesamt- wie nationalstaatliches) Gefüge ein. Die Konkursmasse des „Dritten Reiches" hätte sich auch schwerlich geteilt verwalten lassen. Im Laufe der Zeit verlagerte sich der Schwerpunkt der Staatlichkeit dann auf den ursprünglich wohl eher als zusammenhaltenden Rahmen gedachten Bund: weg von den Gliedstaaten, hin zur (auch finanziell) größeren „Masse". Nur im Südwesten Deutschlands kam es 1952, auf der Grundlage der Spezialermächtigung des Art. 118 GG, zum Zusammenschluss eines großen Landes (BadenWürttemberg) aus drei kleineren. Im Übrigen erwies sich die föderal-territoriale Gliederung, die in Art. 29 GG ursprünglich als durchaus verbesserungsdürftig, also als labil angelegt worden war, als erstaunlich stabil. Selbst die Bildung eines Landes Berlin-Brandenburg scheiterte (1995), obwohl Art. 118 a GG (seit 1994) ein erleichtertes Verfahren für das Verschmelzen von Berlin und Potsdam vorsieht; ein zweiter Fusionsversuch erscheint freilich nicht ausgeschlossen. Insgesamt sind die mittlerweile stark abgeschwächten Regelungen über die Neugliederung des Bundesgebietes kompliziert und aufwendig. Eher die beharrenden als die änderungswilligen Kräfte favorisierend, führen sie verfassungspraktisch ein Schattendasein. Keine politische Partei, kein Interessenträger von Gewicht, hat sich auf die Fahne geschrieben, das Bundesgebiet neu zu gliedern, um, wie es in Art. 29 Abs. 1 GG heißt, zu gewährleisten, dass die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. So läuft die ebenda aufgegebene Berücksichtigung u. a. der „landsmannschaftliche(n) Verbundenheit" und der „geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge" in der Praxis leer. Der Bundesstaat lässt hier emotionale Konsensquellen versiegen, zugunsten eines reformunwilligen, in den Ländern versäulten Parteiengefüges. Die Staatlichkeit des Gesamtstaates (des Bundes) und der Gliedstaaten (der Länder) ist dem Begriff Bundesstaat immanent. Die Staatsgewalt als das entscheidende Kriterium der Staatsqualität ist in der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes dabei in der Weise aufgeteilt, dass die Organe des Gesamtstaates und die der Gliedstaaten über eine wechselseitig jeweils unabhängige Staatsgewalt verfügen. Diese üben sie auf dem Aufgabengebiet aus, das ihnen kompetenziell zugeordnet ist. Die Kompetenzzuordnung nimmt das Grundgesetz vor. Der Gesamtstaat besitzt damit die Kompetenz-Kompetenz. Im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung üben die Länder eigene, nicht vom Bund abgeleitete, also originäre Staatsgewalt aus. Sie sind nicht-souveräne Staaten. 12*

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Für Aufrechterhaltung und Legitimationskraft dieser traditionsreichen Staatlichkeit der Länder sind materiale Elemente entscheidend, vor allem ein änderungsfester „Kern eigener Aufgaben als ,Hausgut'", wie das Bundesverfassungsgericht betont. Hinzu kommt die Partizipation der Gliedstaaten an der gesamtstaatlichen Willensbildung sowie an Entscheidungen, die ihren Kompetenzumfang betreffen. Weniger Ursprung und Ursprünglichkeit ihrer Herrschaft als Gewicht ihrer Aufgaben und Umfang ihrer Mittel begründen und gewährleisten die Staatsqualität der Länder. Als Glieder eines Bundesstaates besitzen sie freilich eine Staatlichkeit besonderer Art. Sie sind zusammen- und eingeordnete Staaten, eben („bloße") GliedStaaten. Damit verfügen sie einerseits, anders als der Gesamtstaat, nicht über Souveränität; andererseits sinken sie nicht auf die Stufe eines bloßen innerstaatlichen Autonomiegebietes oder einer Großkommune herab. Die Länder sind nicht „Staaten h.c.", sondern Repräsentanten einer nicht-nationalen, nicht-souveränen Staatlichkeit. Dem Gesamtstaat sichern sie, trotz des Ignorierens der Vorgaben des Art. 29 GG, als regionale, dem Bürger vertraute Geschichtslandschaften landsmannschaftlich-kulturelle, auch irrationale Substanz. Historisch gewachsene, politisch nützliche und verwaltungstechnisch unentbehrliche Integrationskräfte besitzen auch Kommunen und Regionen. Aber sie sind keine Staaten. Sie besitzen z. B. keine eigenen, identitätsstützenden Verfassungen, und sie sind nicht in die gesamtstaatliche Willensbildung und Entscheidung institutionell eingebunden. Stärker noch als die europäische Integration prägt die bundesstaatliche Ordnung die Verfassungswirklichkeit Deutschlands. Mögen in den letzten Jahrzehnten auch zahlreiche Gesetzgebungskompetenzen (und auch diverse Vollzugszuständigkeiten) von den Ländern auf den Bund verlagert und von dort z. T. an die EG/EU weiter übertragen worden sein - die Ausführung der Gesetze und damit der unmittelbare Kontakt des Bürgers mit dem Staat (und umgekehrt) findet nach wie vor v. a. auf Landesebene statt, zumal in den Kommunen (Gemeinden, Kreise); diese sind den Ländern eingegliedert, demnach nicht dem Bund zugeordnet. Außerdem wirken die Länder über den Bundesrat, also über das von ihnen bestückte Organ auf Bundesebene - eine seit 1867 in internationalem Vergleich einzigartige Einrichtung - , intensiv „bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der Europäischen Union" (Art. 50 GG) mit. Diese „Politikverflechtung" (Fritz W. Scharpf ), also die so unübersehbare wie unübersichtliche Verschränkung von Zuständigkeiten, Organen und Organwaltern des Bundes und der Länder, verstärkt noch durch parteipolitische Einwirkungen und finanzielle Abhängigkeiten, ist ein Charakteristikum der deutschen Verfassungswirklichkeit. Auch die unterschiedliche Größe (vom nach Fläche und Einwohnerzahl großen Nordrhein-Westfalen bis hin zum kleinen Bremen) und die weit auseinander klaffende Finanz- und Wirtschaftskraft der Länder (vom armen Mecklenburg-Vorpommern bis hin zu den reichen Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Hessen) prägen die gelebte Bundesstaatlichkeit Deutschlands. Die Realität des heutigen deutschen Bundesstaates ist, wie bereits angedeutet, durch einen doppelten Verflechtung s Vorgang {Rudolf Hrbek) gekennzeichnet:

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durch jenes dichte Netz der Länder-Länder- und der Bund-Länder-Kooperation sowie durch das Eingeflochtensein nicht nur des Gesamtstaates, sondern in zunehmendem Maße auch der Gliedstaaten in europäische Gefüge. Dabei wirken die Länder in Angelegenheiten der EU „durch den Bundesrat" mit, also nur in mediatisierter Form, zudem - natürlich - unter Wahrung der „gesamtstaatliche(n) Verantwortung des Bundes" (Art. 23 Abs. 2 - 7 GG). Das Sein der Länder, auch im Finanziellen und im politischen Gewicht, wird wesentlich durch jene Gliedstaatenkooperation (etwa mittels der Kultusministerkonferenz) und Länder-Bund-Abstimmung (etwa in den Planungsausschüssen der Gemeinschaftsaufgaben) einerseits und diese zweite Verflechtungsdimension - die zwischen dem nationalen Föderalismus und der supranationalen Integration - andererseits bestimmt. Bundesstaatspolitisch stellt die Länderkooperation, etwa im Polizei- oder Schulbereich, eine Alternative zum immer weiteren Ausbau gesamtstaatlicher Kompetenzen dar. Auch eröffnen sich den Ländern durch die Kooperation mit dem Bund manche Einfluss- und Einnahmemöglichkeiten. Unter Demokratie- und Rechtsstaatsaspekten sticht demgegenüber primär die kritikwürdige kooperationsverursachte Diffusion der politischen Verantwortung ins Auge. Kooperation ist zudem keine Kompensation für Verlust von Eigen-Ständigkeit.

II. Die bundesstaatliche Kompetenz- und Institutionenordnung Art 30 GG markiert den Ausgangspunkt der Kompetenzordnung des Bundesstaates. Die Zuständigkeiten für die dort angesprochenen „staatlichen Befugnisse und Aufgaben" werden nicht en bloc auf den Gesamtstaat oder die Gliedstaaten verteilt, sondern - komplizierend - jeweils unabhängig voneinander zugeordnet: für Gesetzgebung, für Rechtsprechung und für Vollzug. Der Bund legiferiert, die Länder administrieren und judizieren - das ist bei sehr grober Zeichnung das Schema des deutschen Bundesstaates (der US-amerikanische und der bosnisch-herzegowinische sind insofern - „vertikale Einheit" [Gleichlauf] von legislativer, exekutiver und judikativer Zuständigkeit - „einfacher"). Bundesgesetze werden in Deutschland also nicht automatisch durch Bundesbehörden ausgeführt; ihre judizielle Durchsetzung obliegt nicht in erster Linie Bundesgerichten. Vielmehr führen die Landesbehörden neben den Landesgesetzen auch die meisten Bundesgesetze aus, und zwar „als eigene Angelegenheit" (Art. 83 GG). Die gliedstaatlichen Gerichte entscheiden nicht nur über ihr jeweiliges Landesrecht, sondern in erster und zweiter Instanz auch über Bundesrecht (auf Bundesebene sind lediglich Revisionsgerichte vorgesehen). Die im Einzelnen verwickelte, häufig nur historisch erklärbare (nämlich ähnlich schon in der betont föderalistischen Bismarck'sehen Reichsverfassung angelegte) Kompetenzordnung, insbesondere im Bereich der Verwaltungszuständigkeit, steht nicht zur Disposition von Bund und Ländern. Kompetenzrecht ist zwingendes Recht. Ein Kompetenzträger oder Organverwalter kann nicht auf seine Zuständig-

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keit verzichten, auch nicht zugunsten eines anderen. Nur der verfassungsändernde Gesetzgeber kann, in den Grenzen des einleitend zitierten Art. 79 Abs. 3 GG, die Kompetenzverteilung abändern. Das hat er in all den Jahren zu Gunsten des Bundes in so erheblichem Umfang getan, dass der Bundesstaat des Grundgesetzes treffend als „unitarisch" (Konrad Hesse) qualifiziert wird - wobei nach den tiefgreifenden Kompetenzübertragungen an Brüsseler Institutionen mittlerweile die Integrationsnatur noch stärker ins Auge sticht: integrierter Bundesstaat. Um den Begriff der „doppelten Politikverflechtung" variierend aufzugreifen: der Bundesstaat des Grundgesetzes ist ein doppelt integrierter - subnational und supranational. Bei der Skizze der Kompetenzordnung ist bei der Ersten Gewalt zu beginnen, also bei der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten. Hier bildet Art. 70 GG, in Konkretisierung des Art. 30 GG, die Grundsatznorm: Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, wenn und soweit nicht das Grundgesetz dem Bund eigens die Zuständigkeit verleiht. Trotz dieser föderalistisch formulierten Weichenstellung ist die Zuständigkeit der Länder keineswegs die Regel. Vielmehr ist die Gesetzgebung bei Lichte betrachtet überwiegend Sache des Bundes. Art. 73-75 GG weisen ihm weitreichende Befugnisse zu. Den Ländern verbleiben kaum mehr als Rand- und Restmaterien: das Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Teilbereiche des Bau- und des Umweltrechts, das Gemeinderecht sowie das „Kulturelle". Im Einzelnen ist vor allem zwischen ausschließlicher und konkurrierender Zuständigkeit zu unterscheiden. Art. 73 GG zählt die Gegenstände ausschließlicher Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes auf: auswärtige Angelegenheiten und Verteidigung, einschließlich Zivilschutz, Staatsangehörigkeit im Bund, Währungswesen, Außenhandel und Außenzölle, Luftverkehr, Bundeseisenbahnen, Post und Telekommunikation etc. Letztere Kompetenzzuweisung z. B. führt zu Konflikten im Bereich des Rundfunks und der Telekommunikation. Als „Kultur" sind Rundfunk und Fernsehen Ländersache. Die Veranstaltung etwa von Satellitenrundfunk ist aber schon von der Technik her zumindest bundesweit ausgerichtet; ein Bündel unterschiedlicher landesgesetzlicher Regelungen würde dieser Gegebenheit nicht gerecht. Die Praxis löst das Problem weitgehend durch „kooperativen Föderalismus", konkret: mittels Staatsverträgen der Länder untereinander („3. Ebene des Bundesstaates"). Teilweise wird für derartige, das einzelne Land übergreifende Agenden auch eine ungeschriebene Bundeskompetenz kraft Natur der Sache in Anspruch genommen; bloße Zweckmäßigkeitserwägungen reichen für die Generierung von Kompetenzen freilich nicht aus. Im Übrigen verlieren selbst die Gesamtstaaten in der global vernetzten Telekommunikationsgesellschaft (Stichworte Internet, Cyberspace) zunehmend die Kontrolle über Kommunikationsvorgänge in und „über" ihrem Staatsgebiet - eine Auswirkung der partiellen Entstaatlichung transnationaler Rechtsbeziehungen und der „Offenheit" der Verfassungsstaaten. Für die in Art. 74 GG genannten Materien - konkurrierende Gesetzgebung sind Bund und Länder zuständig. Ersterer ist nur bei Vorliegen eines Bedürfnisses

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nach bundeseinheitlicher Regelung zuständig; die Kriterien hierfür (Art. 72 Abs. 2 GG, u. a. „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet") sind freilich „großzügig" gefasst. Ist der Bund tätig geworden, sind die Länder insoweit ausgeschlossen (Art. 72 Abs. 1 GG). Bereits bestehendes Landesrecht, das nun im Widerspruch zu bundesgesetzlichen Regelungen steht, tritt außer Kraft: „Bundesrecht bricht Landesrecht" (Art. 31 GG). Hat der Bund eine umfassende Kodifikation vorgenommen, sind die Länder zur Gänze ausgeschlossen. Zu dem durch den verfassungsändernden Gesetzgeber ständig erweiterten Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung gehören bedeutsame Gegenstände: das Zivil-, Straf- und Prozessrecht, das Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, wichtige Bereiche des Rechts des Umweltschutzes sowie (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) die Schlüsselmaterie „Recht der Wirtschaft". Die wirtschafts- und sozialpolitische Gesetzgebung wirkt besonders „unitarisierend"; der relevante Raum ist hier allzu häufig der Gesamtstaat, zunehmend gar Europa. Art. 74a GG verleiht dem Bund auch die konkurrierende Zuständigkeit für Besoldung und Versorgung der Beamten, Richter und Hochschullehrer. Art. 75 GG gibt dem Gesamtstaat eine thematisch begrenzte Rahmengesetzgebungskompetenz, etwa für den öffentlichen Dienst, das Hochschulwesen, den Naturschutz und das Melde- und Ausweiswesen. Je enger der Bund den Rahmen ausfüllt - häufig eine Auswirkung des Pörte/enbundesstaates, also des Wunsches, die Landesgesetzgebung in bestimmter Hinsicht bundesstaatlich (also nach den inhaltlichen Vorstellungen der Mehrheit in den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes) zu programmieren - , desto mehr schränkt er auch hier die Gestaltungsfreiheit der Länder ein. Zugleich kommt es auf diese Weise zu einer Problemaggregation auf Bundesebene - eine unerwünschte, u. a. den politischen Wettbewerb hindernde Entscheidung. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen - also der Zuständigkeit im Bereich der Zweiten Gewalt - folgt, wie erwähnt, nicht der („unitarisierten") Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten. Die Grundentscheidung des Art. 30 GG für eine Regelzuständigkeit der Länder hält das Grundgesetz für die Exekutive im Unterschied zur Legislative - nach wie vor weitgehend durch. So bestimmt Art. 83 GG, dass die Länder die Bundesgesetze grundsätzlich als eigene Angelegenheit eigenverantwortlich ausführen: landeseigener Vollzug von Bundesgesetzen. Der Bund übt lediglich eine beschränkte Rechtsaufsicht aus. Nur mit Zustimmung des Bundesrats, mittelbar also der Länder (-mehrheit) kann die Bundesregierung allgemeine Ausführungsvorschriften erlassen. Eine Ausnahme bildet die Bundesawyiragsverwaltung, Art. 85 GG. Hier sind die Länder weisungsgebunden; der Bund trägt die Kosten. Die Bereiche, für die dieser an Militärisches erinnernde Verwaltungstyp vorgesehen ist, sind im Grundgesetz benannt: Bundesfernstraßenverwaltung (Art. 90 GG), Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken (Art. 87e GG) etc. Aus föderaler Sicht ist die Auftragsverwaltung, wie auch die Beispiele einiger anderer Bundesstaaten lehren,

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eine konfliktreiche, die Gliedstaaten stark einengende, keineswegs verantwortungs- und transparenzfördernde Notlösung. Bereiche bundeseigener Verwaltung führt Art. 87 GG auf: Auswärtiger Dienst, Bundesfinanzverwaltung, die Verwaltung der Bundeswasserstraßen und der Schifffahrt, die Bundeswehr-, Luftverkehrs- und Eisenbahnverkehrsverwaltung. Soweit der Bund dabei über einen eigenen Verwaltungsunterbau verfügt, erfolgt eine aufgabendeckende, quantitativ umfangreiche Vollverwaltung bis hinunter auf die Mittel- und Unterstufe. Neuere Privatisierungsschritte, teilweise bereits durch europäische Vorgaben erzwungen (Art. 87d Abs. 1, 87e Abs. 3, 87 f Abs. 2 GG), haben an dieser unitarisierenden Tendenz wenig geändert, zumal die Flut des Privatisierungs/ö/gerechts steigt. Werden Funktionen nicht unmittelbar durch Bundesbehörden, sondern durch rechtlich selbständige juristische Personen des öffentlichen Rechts wahrgenommen, spricht man von „mittelbarer Verwaltung". Beispiele sind die Träger der Sozialversicherung (Art. 87 Abs. 2 GG), sowie die Bundesanstalt für Arbeit mit den nachgeordneten Arbeitsämtern. Derartige - praktisch wichtige, außerordentlich umfangreiche - Einrichtungen können nur durch Gesetz und nur in den vom Grundgesetz vorgesehenen Fällen errichtet werden. Auch auf Landesebene, selbst in den Kommunen, spielt die mittelbare, also dezentralisierte Verwaltung eine große Rolle. Soweit kein Fall der Bundesauftragsverwaltung oder der bundeseigenen Verwaltung vorliegt, bleibt es bei der Regelzuständigkeit der Länder (Art. 30, 83 GG). Das gilt auch bezüglich der nicht-gesetzesakzessorischen, also „gesetzesfreien" Verwaltung. Auf dem kulturellen Sektor z. B. ist sie zu Recht nach wie vor weit verbreitet. Formen der Mischverwaltung von Bund und Ländern sind unzulässig - es sei denn, sie sind ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehen. Dies ist etwa bei den (unechten) Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a und b GG der Fall, also bei dem umstrittenen Paradebeispiel der Bund-Länder-Politikverflechtung („4. Ebene des Bundesstaates"). Weniger die Ausweitung als die Ausdünnung der Gemeinschaftsaufgaben steht heute auf dem verfassungspolitischen Programm der Föderalisten, zumal der bayerischen (die für eine etwaige Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben freilich zu Recht „Kompensation" im Bereich der Steuern verlangen). Quantitativ hat die Bundesverwaltung mit der Landesverwaltung fast gleichgezogen. Ein Grund für diese verblüffend umfangreiche, vom Grundgesetzgeber nicht vorausgesehene „Verwaltungsnahme" des Bundes ist die ihm in Art. 87 Abs. 3 GG eröffnete Möglichkeit einer Parallelisierung (bzw. „vertikalen Gleichschaltung") von gesamtstaatlicher Gesetzgebungs- und gesamtstaatlicher Verwaltungskompetenz. Bezüglich dieser vom (relativ finanzstarken) Bund massiv genutzten Kompetenz zum Ausbau seiner eigenen Verwaltung fehlt dem Bundesrat (und damit den Ländern) eine Vetoposition (also das Erfordernis bundesrätlicher Zustimmung) - ein freilich nicht überzubewertender Konstruktionsmangel des deutschen Bundesstaatsrechts.

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Bei der Auswirkung der bundesstaatlichen Ordnung auf die Dritte Gewalt bleibt es bei der Weichenstellung des Art. 30 GG: Die Einrichtung der Gerichte ist Sache der Länder. Auf Bundesebene bestehen nur die in Art. 95 GG genannten obersten Gerichtshöfe: der Bundesgerichtshof (BGH) für das Gebiet der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeits- und das Bundessozialgericht. Diese Revisionsgerichte sind auf die Anwendung von Bundesrecht beschränkt. Hinzu kommt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Art. 93 und 94 GG. Seine Stellung ist in der grundgesetzlichen Ordnung - aber auch im europäischen und internationalen Vergleich - ungewöhnlich stark ausgebaut. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet neben Grundrechtsfragen u. a. über Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern, über die Vereinbarkeit von Bundes- und Landesrecht mit dem Grundgesetz sowie über die Vereinbarkeit des Landesrechts mit dem sonstigen Bundesrecht (Art. 93 GG). Insofern besitzt das Gericht alle Zuständigkeiten, die gerade für die Sicherung der bundesstaatlichen Ordnung erforderlich sind. Es hat diese Zuständigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten intensiv genutzt, tendenziell im Sinne einer Stärkung der (faktisch gleichwohl immer schwächer werdenden) Position der Länder. Im Rahmen ihrer (rahmenbegrenzten) Verfassungsautonomie (Art. 28 Abs. 1 GG) haben alle Länder Landesverfassungsgerichte oder, traditionsorientierter, Staatsgerichtshöfe eingerichtet. Diese Gerichte überprüfen besonders die Vereinbarkeit von Landesrecht mit der jeweiligen Landesverfassung. Da Grundgesetz und Landesverfassungen im Wesentlichen inhaltsgleiche Grundrechtskataloge enthalten, und da die Landesverfassungsgerichte sich deutlich an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientieren, besitzt dieses erheblichen Einfluss auch auf die Verfassungsentwicklung in den Ländern, zumal im Grundrechtsbereich (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). Erst in jüngerer Zeit entwickelten einige Landesverfassungsgerichte unter Duldung des Bundesverfassungsgerichts etwas mehr Profil - womit sie dieses mittelbar (etwas) entlasten. In institutioneller Hinsicht prägt vor allem der Bundesrat die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes. Er besteht aus - weisungsgebundenen - Mitgliedern aller Landesregierungen, ist also keine Zweite (Parlaments-)Kammer. Die Zahl der Mitglieder, die die einzelnen Länder entsenden, und damit deren jeweiliges Stimmgewicht, richten sich nach der Größe der Länder; jedes Land kann seine Stimmen nur einheitlich abgeben (Art. 51 GG). Anders als ζ. B. der US-Senat repräsentiert der Bundesrat eben nicht unmittelbar den Willen des Staatsvolks in den Ländern, wie dies bei Direktwahl seiner Mitglieder der Fall wäre, sondern den in den Ländern bereits formierten Staats willen. Insgesamt verstärkte die 1948/49 getroffene Entscheidung gegen die Senatslösung den regierungs- und verwaltungslastigen Charakter des deutschen Bundesstaates. Die enge Zusammenarbeit von Bundesund Landesministerien (also die wenig parlamentsfreundlichen „Ressortbruderschaften"), zunehmend auch mit der EG-Kommission, unterstreicht diesen exekutivföderalen Zug des Bundesstaates des Grundgesetzes (ethnoföderale Züge weist

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er im Unterschied zum bosnisch-herzegowinischen Bundesstaat [sui generis] demgegenüber nicht auf). Neben seiner Beteiligung an der Verwaltung des Bundes und in EU-Angelegenheiten (vgl. auch Art. 52 Abs. 3a GG) wirkt der Bundesrat vor allem bei der gesamtstaatlichen Gesetzgebung mit, auch mittels des Rechts zur Gesetzesinitiative. Alle Bundesgesetze bedürfen zu ihrem Zustandekommen der - abgestuften - Mitwirkung des Bundesrates (Art. 77 GG). Bei Einspruchsgesetzen kann der Bundestag eine hemmende Entscheidung des Bundesrates zurückweisen. Zustimmungsgesetze bedürfen zu ihrem Zustandekommen aber seines positiven Votums. Es sind dies vor allem Gesetze, die den Verwaltungsbereich und die staatliche Organisation der Länder berühren; die wichtigsten Fälle benennen Art. 84 ff. GG. In der Praxis sind, entgegen den Vorstellungen der Väter des Grundgesetzes, mittlerweile mehr als die Hälfte aller Bundesgesetze zustimmungspflichtig. Das lässt die Länder(-regierungen) über den Bundesrat zu Mitregenten der Bundesregierung und deren Bundestagsmehrheit werden, zu Motoren oder Bremsen der Bundesgesetzgebung. Im Parte/enbundesstaat des Grundgesetzes tritt dieses potenzielle Spannungsverhältnis vor allem dann zutage, wenn die Opposition im Bundestag über die Mehrheit (der Länderstimmen) im Bundesrat verfügt. Parteipolitische Konflikte werden dann, wie häufig auch vor dem Bundesverfassungsgericht, als föderale Konflikte ausgetragen.

I I I . Ordnung des Finanz- und Haushaltswesens sowie der Auswärtigen Gewalt Der X. Abschnitt des Grundgesetzes ordnet die Zuständigkeit im Bereich der Steuergesetzgebung. Er verteilt zudem das Steueraufkommen im „vertikalen" Verhältnis zwischen Bund und Ländern sowie „horizontal", d. h. zwischen den Ländern. Außerdem regelt er die Ausgabentragung. Die grundsätzliche Unabhängigkeit von Bund und Ländern in ihrer Haushaltswirtschaft (Art. 109 Abs. 1 GG) korrespondiert dem bundesstaatlichen Grundgefüge: Gesamtstaat wie Gliedstaaten treffen in eigener Verantwortung ihre finanzbezogenen Aufstellungs- und Vollzugsentscheidungen. Ohne eigenständiges Budgetrecht könnten die Länder nicht Zentren eigenständiger Willensbildung und Entscheidung sein; der Bund bliebe ohne Gegengewicht, das bundesstaatliche Gefüge verkäme zur leeren Form. Auch hinsichtlich der Frage, wer die Ausgaben trägt, geht das Grundgesetz vom Grundsatz gesonderter Verantwortung aus. Bund und Länder bestreiten die Kosten für die von ihnen zu erfüllenden Aufgaben aus ihrem jeweiligen Haushalt. Bei Leistungsgesetzen (z. B. Subventionen, Wohn- oder Kindergeld) kann der Bund Ausgaben übernehmen (Art. 104 a Abs. 3 GG); unter Umständen führen die Länder das Gesetz dann in Auftragsverwaltung aus. Trägt der Bund mindestens drei Viertel der Kosten, ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich; das sichert die Position der Länder gegenüber möglicherweise unerwünschten Ingerenzen des

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Bundes (durch dessen Politik des „goldenen Zügels"). Für bestimmte Investitionen - nur für sie - kann der Bund direkte Finanzhilfen geben (Art. 104 a Abs. 4 GG). Die Zuständigkeiten im Bereich der Steuergesetzgebung richten sich weitgehend nach der Ertragshoheit. Ausgangspunkt ist Art. 106 GG: „vertikale" Verteilung des Steueraufkommens. Für die ertragsstärksten Steuern gilt dabei ein Verbundsystem: Das Aufkommen steht Bund und Ländern gemeinsam zu. Art. 107 Abs. 1 GG regelt den primären „horizontalen" Finanzausgleich, d. h. den Ausgleich zwischen den Ländern. Dieser kann die erheblichen Divergenzen in der Finanzausstattung der Länder nicht entscheidend mildern. Hier greift der sekundäre „horizontale" Finanzausgleich korrigierend ein (Art. 107 Abs. 2 GG). Danach erhalten - Ausfluss des „bündischen Prinzips des Füreinandereinstehens" (Bundesverfassungsgericht) - die ärmeren Länder Ausgleichsleistungen seitens der reicheren Länder. Letztere haben sich, mit Leistungs- und Wettbewerbsargumenten, in mehreren Verfassungsprozessen zäh gegen zu umfangreiche Ausgleichspflichten, also gegen eine Dominanz des Solidarprinzips, zur Wehr gesetzt - mit ungewissem Ausgang hinsichtlich der Umsetzung der gerichtlichen Vorgaben bzw. der entsprechenden Langzeit-Auswirkung. Die bundesstaatliche Ordnung prägt auch die Kompetenzen zum Abschluss internationaler Verträge. Die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten und damit der Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen - auch über das Staatsgebiet, das mangels bundesunmittelbarer Territorien stets Landesgebiet ist: das Grundgesetz schützt die Gliedstaaten nicht vor Gebietsänderungen durch den Bund - ist grundsätzlich Sache des Bundes (Art. 32 Abs. 1, 73 Nr. 1 GG): Verbandskompetenz. Die entsprechende Organkompetenz regelt Art. 59 GG. „Politische Verträge" bedürfen nach Art. 59 Abs. 2 GG der parlamentarischen Zustimmung in Form eines Gesetzes. Es sind dies Verträge, die Fragen der Existenz der Bundesrepublik Deutschland, ihrer territorialen Integrität und ihrer Stellung in der Staatengemeinschaft regeln, ferner Verträge, die innerstaatlich nur im Wege der Gesetzgebung Wirksamkeit entfalten können. Die auch in diesem Bereich wichtige Beteiligung des Bundesrates erfolgt nach den allgemeinen Regeln über Einspruchs- und Zustimmungsgesetze. Ungeachtet der vom Grundgesetz übernommenen Regel, dass ein Bundesstaat im völkerrechtlichen Verkehr grundsätzlich als Einheit auftritt, können die Länder für Bereiche, in denen sie das Recht zur Gesetzgebung haben, mit Zustimmung der Bundesregierung und ohne den Gesamtstaat zu verdrängen, Verträge mit auswärtigen Staaten abschließen (Art. 32 Abs. 3 GG). Dies kann dazu führen, dass Verträge des Bundes - etwa über kulturelle Belange - der Zustimmung in Gesetzesform bedürfen, die Befugnis dazu aber bei den Ländern liegt. In diesen Fällen auseinanderfallender Zuständigkeiten wächst dem Bund nicht eine zusätzliche Kompetenz zu; Art. 59 Abs. 2 GG (Organkompetenz) überspielt nicht die verbandskompetentielle Zuordnung der Art. 30, 70 ff. GG. Auch sind die Länder nicht verpflichtet, einen Vertrag des Bundes durch eigene Gesetzgebung zu erfüllen: „Bundestreue" generiert keine Kompetenz (weder für den Bund, noch für die Länder), sondern

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schränkt sie ein. Bei dieser Konstellation bleibt es demnach bei der fehlenden Deckung von Vertragsschluss- und Transformationskompetenz. Der Bund muss sich deshalb, bevor er entsprechende Verträge schließt, der Kooperationswilligkeit der Länder versichern, und sei es mittels sachlicher Konzessionen oder finanzieller Kontributionen (an die Länder, deren Folgebereitschaft ja benötigt wird). In einem „gentlemen's agreement", dem „Lindauer Abkommen" von 1957, wurde ein entsprechendes, die Bedürfnisse der Praxis seither durchaus befriedigendes Verfahren frühzeitig vereinbart - ein weiterer Beleg dafür, dass der Bundesstaat auf Zusammenarbeit und Kompromiss angelegt und angewiesen ist, und dass die innerföderale, wechselseitig gewinnbringende Kooperation auch möglich ist. Deutschland ist als Bundesstaat Mitglied der EG und der sie umhüllenden EU ein Element seiner Identität, ja seiner „Staatsraison". Als Gliedstaaten des Gesamtstaates besitzen die Länder keine selbständige europäische Rechtsposition; das Subsidiaritätsprinzip des Art. 3 Abs. 2 EGV kennt nur die Ebenen Gemeinschaft/ Mitgliedstaaten, nicht auch die der internen Gliederungen der Mitgliedstaaten. Die EU ist kein dreistufiges „Europa der Regionen". Freilich finden sich die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften („Regionen"), einschließlich der Gliedstaaten der Bundesrepublik Deutschland (die den europarechtlichen Sammelbegriff „Regionen" als pejorativ empfinden), nunmehr auch ausdrücklich in einem EG-Organ („Ausschuss der Regionen") berücksichtigt. Deutschland kann sich im Rat durch einen Landesminister vertreten lassen.

IV. Bundestreue, Homogenitätsgebot und kooperativer Föderalismus Die bundesstaatliche Kompetenzordnung teilt die staatlichen Funktionen im Verhältnis von Bund und Ländern, wie skizziert, umfassend auf. Die Differenzierung der staatlichen Funktionen einerseits, die intensiven parteiendemokratischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen „Politikverflechtungen" im Bundesstaat andererseits bringen es häufig mit sich, dass die Ausübung der dem einen Verband zugewiesenen Kompetenzen Belange eines anderen Verbandes tangiert: „Alles hängt irgendwie mit allem zusammen", lautet regelmäßig der empirische Befund. Der deutsche Bundesstaat nimmt zwar unterschiedliche Regelungen von Land zu Land grundsätzlich in Kauf; mehr Wettbewerb unter den Ländern (etwa im Landtagswahlkampf zum Ausdruck kommend, z. B. bei den Materien Schule oder innere Sicherheit) und zwischen ihnen und dem Bund (etwa bzgl. der Arbeitsmarktpolitik) wäre sogar erwünscht („Wettbewerbsföderalismus"), freilich nur im Rahmen des „Verträglichen", damit es nicht heißt: „Eltern versetzt, Kinder sitzen geblieben". Im Einzelfall kann eine Maßnahme relevante Belange anderer Beteiligter freilich in einem so hohen Maße berühren, dass es nahezu rechtsmissbräuchlich wäre, das fragliche Vorhaben „auf Biegen und Brechen", ohne Abstimmung mit den anderen Mitgliedern des Bundesstaates, zu verwirklichen.

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Die dem Bundesstaatsprinzip immanente Verpflichtung, Auswirkungen auf andere Beteiligte zu berücksichtigen, wird traditionellerweise (so schon für das Bismarck-Reich) als Bundestreue oder als bundesfreundliches Verhalten bezeichnet. Dieser Grundsatz wechselseitiger Rücksichtnahme gilt umfassend: für die Länder untereinander, für ihr Verhältnis zum Bund sowie für den Bund im Verhältnis zu den Ländern (in modifizierter Form gilt er auch im Mehr-Ebenen-System Mitgliedstaat/EU und EU/Mitgliedsstaat). Sie alle sind im Bundesstaat aufeinander angewiesen; andernfalls erstickt er an seinen Abstimmungsproblemen und mutiert entweder zu einem zentralistischen Einheitsstaat oder zerfällt in staatenbündische, désintégrations-, ja sezessionsanfällige Gebilde. Das Zusammenwirken der je eigenen Bundesglieder in der verbindenden Einheit des (Gesamt-) Staates ist Grundelement der bundesstaatlichen Ordnung. Die Verpflichtung zu wechselseitiger Rücksichtnahme wirkt als Kompetenzschranke; sie modifiziert das Wahrnehmen einer Zuständigkeit, ändert diese aber nicht in ihrer Substanz. Vor allem programmiert die Bundestreue den Umgang miteinander, das Procedere im Verhältnis Bund/Länder und Länder/Bund, in Angelegenheiten von gesamtstaatlichem Interesse. Der Bund muss sich z. B. in Angelegenheiten, die auch die Rechte und Interessen der Länder betreffen, mit diesen abstimmen; er muss sie, etwa auf dem (glatten) supranationalen europäischen Parkett (Art. 23 GG), als Sachwalter fair vertreten. Auch ist er zur „föderativen Gleichbehandlung4' der Länder verpflichtet. Zur wechselseitigen Anpassung oder gar Kompetenzaufgabe sind allerdings weder die Länder noch der Bund verpflichtet bzw. berechtigt. So weit trägt der Bundestreue-Grundsatz nicht, trotz seiner beträchtlichen argumentations- und legitimationspolitischen Bedeutung. Art. 28 Abs. 1 GG enthält ein Homogenitätsgebot: Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundentscheidungen des Grundgesetzes für die republikanische Staatsform, für Demokratie und den sozialen Rechtsstaat entsprechen. Wegen der weitgehenden Rechtsvereinheitlichung durch die vorstehend skizzierten umfassenden (und durch Grundgesetzänderungen immer weiter vergrößerten) Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, wegen der unmittelbaren Geltung der Grundrechte des Grundgesetzes auch für die Landesstaatsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) und wegen der Durchsetzung der umfassenden Grundrechtsbindung letztlich durch das Bundesverfassungsgericht, auch in dem populären Verfahren der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG), einem außerordentlichen Rechtsbehelf, tritt das so eindrücklich formulierte Homogenitätsgebot in seiner praktischen Bedeutung deutlich zurück. Zumal im Bereich der Staätsorganisation, dem Schwerpunkt der Verfassungsautonomie der Länder, darf Homogenität nicht mit Identität verwechselt werden. Die Länder können etwa ihr Wahlrecht anders ausgestalten als der Bund. Auch dürfen sie - in Abweichung von der pointiert repräsentativ ausgestalteten Demokratie des Grundgesetzes - plebiszitäre Elemente einführen; davon haben sie auch zunehmend Gebrauch gemacht. Als identitätsprägend hat sich das in einem eher grundrechtsgeprägten staatlich-gesellschaftlichen Gefüge nicht erwiesen.

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Mit dem Homogenitätsgebot hängt die freilich weiter ausgreifende Frage nach den Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Länder zusammen. Hier ist zunächst festzuhalten: Das Grundgesetz kennt keine allgemeine Bundesaufsicht über die Länder. Das scharfe Instrument des Bundeszwangs nach Art. 37 GG erlangte bisher keine Bedeutung; in der konfliktreichen Weimarer Republik (1919-1933), in der einige Gliedstaaten bewusst und konfliktbereit „aus dem Ruder liefen", war das noch anders. Gemäß Art. 91 Abs. 2 GG darf der Bund für den Fall eines inneren Notstandes in einem Land auch gegen dessen Willen eingreifen. Im Übrigen sind alle Behörden nach Art. 35 Abs. 1 GG zur Amtshilfe verpflichtet. Bei erheblichen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, bei Unglücks- und Katastrophenfällen sowie im inneren Notstand besteht die Verpflichtung zu wechselseitiger Unterstützung. Erscheinungsformen des kooperativen Föderalismus finden sich, wie angedeutet, vor allem auf exekutiver Ebene. Verwaltungsabkommen und gemeinsame Verwaltungseinrichtungen der Länder (z. B. das Zweite Deutsche Fernsehen) sind zulässig, soweit sie sich auf die gliedstaatlichen Zuständigkeitsbereiche beschränken. Die Wahrnehmung staatlicher Funktionen der Länder kann sich auch auf einer gemeinsamen Ebene aller (oder mehrerer) Länder abspielen. Als „Mischverwaltung" sind nur gemeinsame Einrichtungen von Ländern und Bund unzulässig. Bloß koordinative Gremien (z. B. die Ständige Konferenz der Innenminister des [Bundes und der Länder]) sind freilich unbedenklich. Im Bereich der Gesetzgebung drückt sich der kooperative Föderalismus insbesondere in der vertraglichen Koordination der Länder untereinander („3. Ebene") aus. Hier verpflichten sie sich wechselseitig zum Erlass (mehr oder weniger) einheitlicher Gesetze; dies erfolgte z. B. im Bereich des Gemeinde wirtschaftsrechts. Die entsprechenden Staats Verträge bedürfen jeweils der Zustimmung der Landesparlamente. Diese klagen darüber, dass sie auf Grund der faktischen Vorabfestlegungen seitens der meist bundesweit (ja auch bereits mit „Brüssel") intensiv kooperierenden Exekutiven auf eine bloße „Ratifikationslage" beschränkt sind: Sie „dürfen" ablehnen, sie „können" aber nur zustimmen - am Inhalt vermögen sie ohnehin nichts mehr zu ändern. Kooperativer Föderalismus geht auch insofern zu Lasten der Landesparlamente (wie der europäische Föderalismus zu Lasten des Deutschen Bundestages). Gleiches gilt von der europäischen Integration. Der Europaartikel (Art. 23 GG), der sämtliche Aufgaben und Befugnisse des Staates (d. h. des Bundes und der Länder) erfasst, stärkt über den Bundesrat zwar die Länder, dabei aber, wie gesagt, nicht die Landtage, sondern die Landesregierungen. Die Kooperationsoption des Art. 24 GG, die ebenfalls erheblichen Kompetenzeinbußen der Länder ermöglicht, gebietet, zumal bei der Übertragung von Hoheitsrechten der Länder, eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. In Abweichung von der ursprünglichen Konzeption der europäischen Integration nach dem Grundgesetz konstituieren die Verfassungsnormen über die Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland nun einen (freilich exekutivlastigen) „kooperativen Bundesstaat".

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Die skizzierten Erscheinungsformen des kooperativen Föderalismus tendieren zum unitarischen Bundesstaat, zu einem letztlich auch sozialstaatlich und europapolitisch motivierten Abbau föderaler Vielfalt. Allgemein unitarisierend wirkt bereits - eine Erfahrung des Ersten Weltkriegs - die Tätigkeit des daseinsvorsorgenden, aktiv lenkenden und gestaltenden Modernen Staates. Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist freilich überschritten. Der kooperative Föderalismus - als Formel von den nordamerikanisch-australischen Bundesstaaten übernommen - stößt in den Kernbereichen verbleibender Landeszuständigkeiten an seine Grenzen, mag der Abbau des Gefälles zwischen reichen süd- und westdeutschen und armen nordund ostdeutschen Ländern auch als eine Solidaraufgabe des gesamten Gemeinwesens aufgefasst und im letzten Jahrzehnt insbesondere mit dem milliardenschweren „Aufbau Ost" erfolgreich in Angriff genommen worden sein. Die Länder sind immer weniger gewillt, den auf gleichwertige Lebensverhältnisse in der EU gerichteten Integrationsprozess ausschließlich als Sache des Bundes zu betrachten. Entsprechende föderale Brems- und Mitwirkungshebel sieht Art. 23 Abs. 2, Abs. 4 bis 6 GG vor, zu Recht: Nach wie vor ist die Berechtigung des Bundesstaates nicht nur unter funktionalen Gesichtspunkten - wie etwa denen der Angleichung der Lebenschancen, der Dezentralisierung politischer Entscheidungsmacht, der Steigerung der verwaltungstechnischen Effizienz oder der Berücksichtigung wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit - zu sehen, sondern auch, ja vor allem in der Wahrung bundesstaatlicher Vielfalt. Eine derartige (länder-)identitätswahrende Bedeutung des Föderalismus entspricht nicht nur älterer deutscher Verfassungstradition, sondern lässt auch die emotionalen Konsensquellen nicht versiegen, auf die zumal der intransparente heutige integrierte Parteienstaat angewiesen ist.

V. Bewertung der Bilanz - mit Ausblick auf Europa Die damit bereits angeschnittene Frage nach der Rechtfertigung des Bundesstaates wird heute im Wesentlichen mit seiner Bedeutung für die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung beantwortet. Nach dieser vorherrschenden, primär von Konrad Hesse entwickelten These legitimiert sich der Bundesstaat weniger durch die Gewährleistung regionaler Besonderheit und dezentraler Gestaltungsmöglichkeit als durch die komplementäre Sicherung von Demokratie (vor allem durch mehr Transparenz, Partizipation [von Volk und Opposition]) und Rechtsstaat (insbesondere durch zusätzliche Elemente der Gewaltenteilung). Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes ist für Leben und Gestalt des gesamten Gemeinwesens in der Tat entscheidend; sie ist ein komplementäres Element der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Die dezentrale Aufgliederung politischer Entscheidungsgewalt trägt regional unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen differenziert Rechnung, und sie ermöglicht sachnähere Willensbildung und Entscheidung. Die auf Bundesebene in Opposition stehenden politischen Kräfte etwa erhalten die Chance, auf Landesebene Verantwortung zu übernehmen, hierbei

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politische Alternativen aufzuzeigen, Erfahrungen zu sammeln und Führungspersonal herauszustellen, auch und gerade für die Bundespolitik; in diese können sie zudem über den Bundesrat einwirken (und das tun sie auch). Bundesstaatlichkeit bedeutet damit nicht zuletzt, dass auf der Ebene der Länder Gegengewichte zur politischen Macht des Bundes (und zu den dort regierenden politischen Parteien) existieren. Dieses Schema verstärkt und ergänzt das rechtsstaatliche Postulat einer Begrenzung staatlicher Macht. „Checks and balances" wirken nicht nur „horizontal", im Verhältnis der drei „klassischen" Gewalten - Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung - zueinander, sondern auch „vertikal", im Bund-Länder-Verhältnis. Die (Bundesrats-)Beteiligung der Länder an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der EU ist ein zusätzliches Element „horizontaler" Gewaltenteilung. Bundesstaatlichkeit wirkt auch insofern, sachgerecht ausgestaltet und ausgeübt, machtbegrenzend, freiheitsschützend, integrierend, zumal im heutigen Parte/enbundesstaat. Mit dem bundesstaatlichen Gefüge gehen freilich auch Koordinationsprobleme und, dies allerdings nicht zwingend, Effizienzverluste einher. Entstehen diese aber nicht auch in einheitsstaatlichen, zentralistischen Ordnungen, etwa durch überdimensionierte, sachferne Verwaltungsapparate? Ist das nicht der Grund, weswegen der EU-Vertrag und nun auch Art. 23 GG das Subsidiaritätsprinzip dem Prozess der Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration als Steuerungsprinzip vorschreiben? Wird damit die EU, so oder so, letztlich nicht zunehmend „föderalisiert"? Zeichnet sich hier nicht eine dreigliedrige Föderation (später gar ein „dreistufiger Bundesstaat") ab: Land, Bund, Europa? Freilich ist die europäische Integrationsgemeinschaft, wie das Bundesverfassungsgericht nicht müde wird zu betonen, kein Staat; die Kompetenz-Kompetenz ist bei den Mitgliedstaaten verblieben, sie sind die Herren der Verträge. Die Mitgliedsstaaten der EU machen keine Anstalten, diese Schlüsselposition zu räumen. Auch der Brüsseler Verfassungskonvent wird die EU nicht als Bundesstaat strukturieren. Für ein in Ansätzen bereits sichtbar werdendes föderales, freilich nicht-staatliches Europa bildet der Bundesstaat des Grundgesetzes gewiss kein kopierfähiges Original; aber er birgt einen wichtigen Erfahrungsschatz, nicht zuletzt im Hinblick auf die Wahrung der Identität und der Individualität seiner Glieder. Mitwirkung an der Bundespolitik via Bundesrat kompensiert nur teilweise für Einbußen eigenständiger Willensbildung und Entscheidung. Abbau des Differenzierten, Gewachsenen, Gefühlsmäßigen, Eigenen einerseits, Gewinn durch Partizipation an „übergreifenden", einheitsorientierten, letztlich „fremden" Entscheidungsprozessen andererseits - dieses Kompensationsschema enthält für den deutschen Bundesstaat (und wohl auch für die Mitgliedstaaten einer föderalen EU) keine auf Dauer lebenssichernde Synthese. Wie steht es also, erneut und abschließend gefragt, mit der Rechtfertigung und Zukunftsfähigkeit föderaler Ordnungen? Das Bild ist, jedenfalls für die deutsche

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Situation, komplex; die Antwort muss entsprechend differenziert ausfallen. Für manche Länder der Bundesrepublik Deutschland mag die gesamtstaatliche Mitgestaltungschance entscheidend sein - und das föderative Getriebe, auch mittels Landesvertretungen in Brüssel, macht der Landespolitik und -Verwaltung offensichtlich Spaß - ; für andere dominiert die Wahrung ihrer Eigen-Ständigkeit. Der Bundesstaat besitzt insofern einen doppelten Funktionssinn. Eigenverantwortliche Aufgabenerfüllung - Grundelement der bundesstaatlichen Ordnung - ist den Ländern ohne hinreichende Kompetenz- und Finanzausstattung nicht möglich, gewiss. Erforderlich ist aber auch der Wille, Zuständigkeiten auszuüben und Verantwortung zu übernehmen, zumal für die so ungeliebten wie im Bundesstaat unentbehrlichen Kompromisse. Diesbezüglich bleiben im integrierten Bundesstaat des Grundgesetzes die Länder, die politischen Parteien und die Bürger gefordert. Ohne bürgerschaftliches Engagement („Zivilgesellschaft"), ohne Wissen über und Einsatz für die regionale und soziale Individualität verblasst das traditionsreiche Erfolgs- und verfassungspolitische Exportmodell „deutscher Bundesstaat". Die Verantwortung für eine weitere Unitarisierung könnten unengagierte, föderalismusvergessene Landespolitiker und -kinder nicht „Berlin" oder gar „Brüssel" zuweisen; sie hätten sie bei sich selbst zu suchen. Für die historische und regionale Selbstvergewisserung der Bürger und damit für die auch emotionale Fundierung, Stabilisierung und Weiterentwicklung der Demokratie des Grundgesetzes (und für den Abbau des Demokratiedefizits EU-Europas) wäre eine Schwächung des deutschen Bundesstaates ein Verlust. Gewicht und Gegengewicht machen den Bundesstaat, Tradition und Individualität, Emotionalität und Engagement die Gliedstaatlichkeit aus. Ein in diesem Sinne lebendiger, gelebter Föderalismus - als politisches Formprinzip des Bundesstaates - ist nicht eine Gefahr, sondern ein Gewinn für den Staat des Grundgesetzes, auch und gerade bei seiner Ausrichtung auf Formen überstaatlicher Aufgabenwahrnehmung in einem sich globalisierenden internationalen System.

Literatur* Peter Badura, Staatsrecht, 2. Auflage, München 1996 Hartmut Bauer, Die Bundestreue, Tübingen 1992 Bernd Becker, Öffentliche Verwaltung, Percha 1989 Michael Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Staates in rechtsvergleichender Sicht, Berlin u. a. 1977 Christoph Degenhart, Staatsrecht I, Staatsorganisationsrecht, 18. Auflage, Heidelberg 2002 Armin Dittmann, Die Bundesverwaltung, Tübingen 1983

* Rechtsprechungshinweise sind im angeführten Schrifttum enthalten. 13 Graf Vitzthum/Winkelmann

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Schnabel, Politikverflechtung, Kronberg/Ts. 1976

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Die Bundesregierung als Sachverwalter von Länderrechten, DÖV 1996,

Föderalismus als Solidarprinzip Von Jörn Axel Kämmerer

I. Ausreichende Finanzausstattung als Basis föderativer Freiheit Im Mai 2001 gab der Berliner Senat bekannt, dass die Bankgesellschaft Berlin, an welcher das Land zu 56,6% beteiligt war, ein Defizit in Höhe von mindestens 4 Milliarden Mark aufwies. Als Mehrheitsgesellschafter bekannte sich das Land zu seiner Pflicht, für die entstandenen Verluste aufzukommen. Die damit einhergehende finanzielle Zusatzbelastung brachte den Stadtstaat an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Während der Bundesfinanzminister zusätzliche finanzielle Unterstützung für Berlin aus Bundesmitteln ablehnte, erklärte der Senat, das Haushaltsloch aus eigenen Kräften stopfen zu wollen. Zur gleichen Zeit wurde auch andernorts über finanzielle Hilfen debattiert: Im Vorfeld des EU-Gipfels in Göteborg stellte sich Spanien gegen die vorliegenden Pläne zur Osterweiterung der Europäischen Union. Die Aufnahme weiterer Staaten, deren Sozialprodukt fast ausnahmslos unterhalb desjenigen des ärmsten EU-Mitgliedstaats liegt, würde den Wohlstandsdurchschnitt der Union in einer Weise senken, dass nur noch wenige Regionen des Landes (wie Andalusien und Estremadura) von Strukturhilfen der Union profitieren würden; auch eine Reduzierung der Agrarhilfen wäre zu erwarten. Auf der anderen Seite sperrten sich die Geberländer, namentlich Deutschland, dessen Zahlungen die Rückflüsse aus Brüssel um 11 Milliarden Euro jährlich übersteigen, gegen die Erhöhung der Lasten, die ihnen aus EU-Fördermaßnahmen zugunsten der ärmeren Mitgliedstaaten erwachsen. Mögen auch die Schauplätze der beschriebenen politischen Krisen erheblich divergieren, etwas haben sie doch gemein: In beiden Fällen geht es um eine adäquate Finanzausstattung als Grundlage föderativer Freiheit und um die Frage, ob und inwieweit das föderale Prinzip - das auch auf der Gemeinschaftsebene gilt 1 - ein solidarisches Einstehen für notleidende Bündnispartner gebietet2. Zugleich stellt 1

Vgl. nur die Beiträge von W. Hertel, J. A. Kämmerer und V. Hackel in W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, Berlin 2000; ferner F. Walthes, Europäischer Finanzausgleich, Berlin 1996, insbes. S. 94, 114 ff.; einschränkend hingegen („Europa ist [noch] nicht föderal gedacht, doch es darf [schon] föderal denken") A. Leisner, Europa als Wettbewerbsgemeinschaft von Staaten, in: FS K. Vogel, Heidelberg 2000, S. 593 (611). 2 BVerfGE 72, 330 (386 f.); vgl. auch St. Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Tübingen 1997, S. 119 ff. 13*

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sich die Frage nach den rechtlichen Grenzen finanzieller Hilfe, deren Gewährung nicht nur zur Wiederherstellung körperschaftlicher Handlungsfreiheit führen kann, sondern infolge der Kostgängerschaft ärmerer Bündnispartner im Verhältnis zur Föderation auch Abhängigkeiten zu produzieren und damit Handlungsautonomie zu zerstören vermag. So wird man fragen müssen, ob das jahrelange Einstehen des Bundes für Defizite der Hauptstadt das Bundesland Berlin nicht bereits in einen „Bundesdistrikt" à la Washington D.C. verwandelt hat. „Geld ist geprägte Freiheit" (Dostojewskij). Dieses plastische Diktum 3 gilt für den Bürger ebenso wie für den Staat und seine Glieder. Demokratische Freiheiten werden durch körperschaftliche Handlungsspielräume konditioniert; diese wiederum laufen ins Leere, wenn es der Körperschaft an finanzieller Autonomie gebricht. Die Gesamtverfassung eines Staates widerspiegelt sich insofern, wie schon Johannes Popitz feststellte, in seiner Finanzordnung4; diese ist akzessorisch dienender Teil der bundesstaatlichen Struktur 5. In föderalen Systemen, zu denen auch die EU gerechnet werden darf, fügen sich über- und untergeordnete Einheiten zu einer Solidargemeinschaft 6. Finanzielle Ausgleichsleistungen zielen im Grundsatz auf Wahrung der Autonomie und damit auf Reduzierung von Abhängigkeiten7; zugleich und keineswegs im Widerspruch hierzu stärkt die Herstellung annähernder finanzieller Gleichheit die Eigenständigkeit der Glieder als Staatswesen. Im Bundesstaat treffen mithin, wie das BVerfG wiederholt betonte, zwei heterogene Komponenten des Föderalismus aufeinander: Das Prinzip autonomer Verschiedenheit der Länder (mit etwas abweichendem Zungenschlag wird auch von Wettbewerbsföderalismus gesprochen) und das u. a. auf die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gerichtete Solidarprinzip, der „bündische" Grundsatz des Füreinandereinstehens 8. Beide Prinzipien sind gleichermaßen Ausprägungen des föderalen Gedankens, der sich etwas verkürzend mit dem Schlagwort „Einheit in Vielfalt" umschreiben ließe. Die Harmonisierung dieser beiden dem Föderalismus inhärenten konträren Zielsetzungen ist ein Dauerproblem des föderalen Alltags. Föderale Systeme sind mit der Pflicht belastet, unter sich ständig wandelnden wirtschaftlichen und sozialen 3 Vgl. auch BVerfGE 97, 350 (371); mit etwas weniger literarischem, dafür umso stärker verfassungsrechtlichem Akzent G. Dürig, Der Staat und die Vermögenswerten öffentlichrechtlichen Berechtigungen seiner Bürger, in: FS Apelt, München u. a. 1958, S. 13 (56): „Eigentum ist ,freiheitsdurchwirkte ökonomische Sicherheit', oder umgekehrt ökonomisch gesicherte Freiheit'." 4 Vgl. nur J. Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, Berlin 1932, S. 3 f., 339. 5 Vgl. Korioth (Fn. 2), S. 95, 126 f., 415. 6 Korioth (Fn. 2), S. 130. 7 Korioth (Fn. 2), S. 543; vgl. auch BVerfGE 34, 9 (20). 8 BVerfGE 72, 330 (386 f.); P. Kirchhof, Der Verfassungsauftrag zum Länderfinanzausgleich als Ergänzung fehlender und als Garant vorhandener Finanzautonomie, Köln 1982, S. 5; Th. Christmann, Vom Finanzausgleich zum Maßstäbegesetz, DOV 2000, S. 315 (316).

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Ausgangsbedingungen einen gerechten finanziellen Ausgleich zwischen ihren Gliedern herzustellen, der einerseits die Mindestanforderungen der Nehmerländer an tatsächliche politische Handlungsspielräume befriedigt, andererseits den Geberländern eigene Handlungsspielräume nicht nur bewahrt, sondern ihre finanzielle Stärke als Resultat eigener Leistung oder ökonomischer Gunstfaktoren anerkennt. Solidarisierung darf, mit anderen Worten, nicht zu Egalisierung führen und dem Nehmerland den Anreiz nehmen, die Finanzen durch eigene Anstrengungen aufzubessern. Die Realisierung dieses Postulats erweist sich als um so intrikater, je ausgeprägter die Spezifika der föderalen Glieder sind. So machen in Deutschland beispielsweise die Stadtstaaten spezifische Bedürfnisse und Lasten geltend; auch in der EU konkurrieren Flächenstaaten vom Zuschnitt Frankreichs oder Italiens mit Kleinstaaten wie Luxemburg oder künftig Malta und Ländern, die - wie Polen oder Ungarn - im Lichte eines erst leidlich überwundenen Transitionsprozesses andere Bedürfnisse äußern als die Gründungsmitglieder von 1957. Die nachfolgende Skizze versteht sich als kritische Betrachtung der insbesondere auf bundesstaatlicher Ebene unternommenen Versuche, die Realisierung des Solidarprinzips im Föderalismus zu optimieren. Seit 1969, als die Finanzverfassung des Grundgesetzes im Wesentlichen ihre heutige Gestalt erhielt, ist der Finanzausgleich im Bundesstaat des Grundgesetzes, dessen Grundlage sich in dessen Art. 106 und 107 GG findet, dreimal Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen gewesen: 1986, 1992 und 1999. Die „Bruderliebe der deutschen Länder", wie sie der Abgeordnete Dresbach vor dem Bundestagsplenum 1954 noch pathetisch beschwor9, erkaltet beim Geld offenbar rasch. Schwindende Verteilungsmassen seit Beginn der achtziger Jahre und das Hinzutreten der Neuen Bundesländer verschärften noch die Verteilungskämpfe, vor allem rund um den psychologisch wichtigen Finanzausgleich zwischen den Ländern. Der Antrag der Geberländer Baden-Württemberg, Bayern und Hessen, die zentralen Regelungen des Gesetzes über den Finanzausgleich (FAG), insbesondere wegen Verstoßes gegen Art. 107 GG für verfassungswidrig (wenn auch nicht für nichtig) zu erklären, hatte im Ergebnis Erfolg, wenngleich das ΒVerfG in seiner Entscheidung vom 11. November 1999 einen anderen Begründungs weg beschritt als erwartet. Das Gericht ging nicht, wie von den Antragstellern erhofft, auf Einzelregelungen des FAG ein, sondern beanstandete das Fehlen eines vorgeschalteten „Maßstäbegesetzes", dessen Erforderlichkeit es aus den Bestimmungen der Art. 106 f. GG ableiten zu müssen glaubte. Im Folgenden soll eine kritische Stellungnahme zu diesem Urteil den bisher unternommenen Versuchen des Bundesgesetzgebers gegenübergestellt werden, den Forderungen des BVerfG gerecht zu werden.

9 BT-Prot. vom 19. 11. 1954 (2. Wahlperiode), S. 2840: „Wir sind von der echten Bruderliebe der deutschen Länder untereinander zutiefst überzeugt, und wir sind dessen gewärtig, dass der Reiche dem Armen in guter christlicher Art abgeben wird."

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II. Die Forderung des BVerfG nach Erlass eines Maßstäbegesetzes 1. Der Mechanismus des bunde s staatlichen Finanzausgleichs Der bundesstaatliche Finanzausgleich nach dem Grundgesetz10 vollzieht sich in zwei Schritten, die jeweils wiederum in zwei Teilschritte untergliedert sind. Erster Schritt ist die Festsetzung der Ertragshoheitsrechte. Dabei wird nach den komplizierten Vorgaben des Art. 106 GG zunächst ein vertikaler Steuerertragsausgleich vorgenommen: Wie viel von welcher Steuer geht an den Bund, wie viel an die Länder? Den zweiten Teilschritt bildet der horizontale Steuerertragsausgleich für die Ländersteuern (Art. 107 Abs. 1 GG). Der zweite große Schritt des Finanzausgleichs ist die etwas missverständlich als „subsidiär", treffender als „sekundär" bezeichnete Arrondierung der Finanzlage im Wege der Umverteilung durch Finanzzuweisungen, mithin solidarisches Teilen und Geben. Im ersten Teilschritt wird ein horizontaler Zwischen-Länder-Finanzausgleich vorgenommen (Art. 107 Abs. 2 S. 1 und 2 GG); hinzu tritt - als zweiter Teilschritt - ein fakultativer vertikaler Ausgleich durch Ergänzungszuweisungen des Bundes nach Maßgabe des gleichen Ausgleichsgesetzes (S. 3). Das zur Umsetzung dieser Vorgaben geschaffene Finanzausgleichsgesetz vom 23. Juni 1993 (FAG 1993) stellt eine Finanzkraftmesszahl auf, die das absolute Finanzaufkommen eines Landes wiedergibt, während die Ausgleichsmesszahl über das hypothetische Steueraufkommen Auskunft gibt, das ein Land bei gleichem Pro-Kopf-Einkommen in allen Ländern erreichen müsste11. Länder, deren Finanzkraftmesszahl über der Ausgleichsmesszahl liegt, sind ausgleichspflichtig, alle anderen ausgleichsberechtigt. Die Kritik der antragstellenden Geberländer entzündete sich am Gesamtergebnis des Ausgleichs wie auch am Berechnungsmodus. Die Antragsteller beklagten, dass der Ausgleich zu einer unzulässigen Nivellierung der Finanzkraft aller Länder geführt (diejenige Baden-Württembergs beispielsweise sei 1997 von 110,7 auf 97,3% des Länderdurchschnitts gefallen) und zugleich unzulässigerweise die Finanzkraftreihenfolge verändert habe12. Das Prinzip des föderalen Wettbewerbs, wonach einem Land ausreichend Anreiz zur Ausschöpfung eigener Steuerkraft verbleiben müsse, sei verletzt 13 . Beanstandet wurde auch die „Einwohnerveredelung" bei 10

Dazu aus der jüngeren monographischen Literatur etwa U. Häde, Finanzausgleich, Tübingen 1996, insbes. S. 217 ff.; Korioth (Fn. 2); J. W. Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland, Baden-Baden 1999; vgl. auch die relativ ausführlichen Darlegungen von Th. Kroll, Das BVerfG setzt „Maßstäbe" - Wie geht es nun weiter im Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern? StuW 2000, S. 45 ff. 11

Diese Berechnungsgrößen wurden auch in das neue FAG übernommen (§§ 6 ff.). ι 2 Kritisch dazu auch Korioth (Fn. 2), S. 646. 13 Dieser Umstand wird vielfach als Anreiz zur Untätigkeit bzw. als „Bestrafung" von Leistung angesehen; vgl. Korioth (Fn. 2), S. 472. Dem ist jedenfalls für den horizontalen Ausgleich entgegenzuhalten, dass die verteilten Beträge im Verhältnis zum Steuervolumen der Länder und zum Gesamtvolumen der Länderhaushalte doch relativ bescheiden ausfallen (vgl. BVerfGE 101, 158 [191]).

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Stadtstaaten, also die Höhergewichtung von Einwohnern bei der Bestimmung der Ausgleichsmesszahl, welche die Zahlungspflichten Hamburgs verringerte und die Ausgleichsansprüche Berlins und Bremens erhöhte.

2. Die Entscheidung vom IL November 1999 als „ imperative non-decision " a) Forderung nach einem Maßstäbegesetz Das BVerfG parierte die Ausführungen der antragstellenden Geberländer mit einer kühnen, geradezu ingeniösen Volte 14 und schien auf diese Weise den „Gordischen Knoten" des bundesstaatlichen Finanzausgleichs zerschlagen zu wollen. Anders als in früheren Entscheidungen, auf welche die Antragsteller in ihrer Begründung Bezug nahmen, ging das Gericht auf die Verfassungsgemäßheit des FAG nicht unmittelbar ein. Gerügt wurde ein ganz anderer, Rechtsprechung und Lehre bis dahin überwiegend nicht aufgefallener Mangel: das Fehlen vorgeschalteter gesetzlicher Maßstäberegelungen. Zwar hatte das Gericht schon in früheren Entscheidungen der These von der verfassungsrechtlich intendierten Bindungslosigkeit des Gesetzgebers15 immer wieder Absagen erteilt. Auch auf die in den Entscheidungen von 1986 und 1992 modellierten Grundsätze, insbesondere das Verbot der Nivellierung der Finanzkraft und der Umkehr der Finanzkraftreihenfolge zwischen den Ländern sowie das Gebot systemischer Kohärenz, nahm das Gericht 1999 zwar weiterhin Bezug - wie ein roter Faden durchziehen die Rekurse den Urteilstext - , doch werden sie vom erstmals prononcierten Maßstäbe-Postulat überstrahlt. Insoweit versagte sich der entscheidende Senat einer über die Feststellung fehlender Maßstabssetzung hinaus gehenden, abschließenden Würdigung des FAG 1993. Das Gericht entnahm Art. 106 Abs. 3 und 4 sowie Art. 107 Abs. 2 GG einen „Verfassungsauftrag zur langfristigen gesetzlichen Maßstabsbildung", gleichsam also eine „Verfassungspflicht zur Verfassungsergänzung". Grundlage sind die letztgenannten zwei Bestimmungen, wonach das Gesetz „Grundsätze" bzw. „Maßstäbe" zu fixieren habe. Daraus leitete das Gericht nicht etwa das Verdikt der Verfassungswidrigkeit des FAG ab, dem der geforderte Maßstab ganz überwiegend fehle, sondern es gelangte von seinem rechtsdogmatischen Ausgangspunkt, wonach die Maßstäbe in einem spezifischen Gesetz niedergelegt sein müssten, zu einem ganz anderen Ergebnis. Das Erfordernis der Maßstäbegesetzgebung sei in der Eigenart des Finanzausgleichssystems angelegt, das drei aufeinander aufbauende Rechtsquellen kenne: An erster Stelle stehe das allgemeine Prinzipien statuierende GG. Die Zweite nehme das - noch fehlende - Maßnahmengesetz ein, welches, langfri14 Kritisch zu dieser „Überraschungsentscheidung" U. Berlit/I. Kesper, Ein Eingriff in die demokratische Gestaltungsverantwortung, KJ 2000, S. 607 (609 mit Fn. 17). 15 E Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Grundfragen des Länderfinanzausgleichs gem. Art. 107 I I GG, Baden-Baden 1984.

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stig angelegt, die verfassungsrechtlichen Grundsätze durch Benennung der Maßstäbe für Zuteilung und Ausgleich konkretisiere. Damit binde es den Gesetzgeber mit Blick auf die dritte der Rechtsebenen: die des kurzfristig wirksamen, periodisch zu überprüfenden Finanzausgleichsgesetzes mit seinen konkreten finanzrechtlichen Folgerungen. Zur Begründung dieses erstaunlichen normativen Konstrukts rekurrierte das BVerfG auf einen „rechtsstaatliche[n] Auftrag eines gesetzlichen Vorgriffs in die Zukunft" (angeblich im Sinne des Juristen und Rechtsphilosophen Gerhart Husserl). Nur langfristige Maßstäbe würden dem Gesetz wieder seine durch Zukunftsgestaltung, Dauerhaftigkeit, Abstraktheit und Distanz gekennzeichnete herkömmliche rechtsstaatliche Funktion zuweisen. Das Verhältnis zwischen Maßstäbe- und Finanzausgleichsgesetz sei dabei i. S. d. „klassischen Zeitwirkung von Vor-Rang und Vor-Behalt des Gesetzes zu regeln". Das FAG von 1993 erfülle diese Voraussetzungen nicht. Maßstäbe seien teils gar nicht vorhanden, teils seien sie uneinheitlich oder zur Randkorrektur degradiert. Daher könne das FAG 1993 nur noch als Übergangsrecht Anwendung finden. Verfassungswidrig werde es, wenn nicht innerhalb einer näher bezeichneten Frist (31. 12. 2002) ein Maßstäbegesetz erlassen und das FAG an dieses angepasst werde. Die Entscheidung des BVerfG begegnet schwerwiegenden Bedenken. Die Lehre vom Maßstäbegesetz steht in offensichtlichem Zusammenhang mit dem Bemühen des seiner Rolle als „Ersatzgesetzgeber" in Angelegenheiten des Finanzausgleichs überdrüssigen Gerichts um „self-restraint" und um die Anerkennung legislativer Letztentscheidungskompetenzen, auf die in der Entscheidung vielerorts Bezug genommen wird. Tatsächlich erreicht hat das Gericht das Gegenteil: die Majorisierung des Bundesgesetzgebers, der - wie noch darzustellen sein wird - in Ermangelung einer eigenständigen Strategie die Maßstäbevorgaben des Gerichts akribisch übernahm 16. Das Gericht hätte seine Prüfung auf die Frage beschränken können, ob kohärente gesetzliche Maßstäbe für den Finanzausgleich vorlagen (und sich damit dem alten Dilemma mangelnder Justiziabilität der Finanzverfassung zum Teil entziehen können). Stattdessen wurden dem Gesetzgeber inhaltliche Vorgaben für die Maßstabsbildung gemacht, welche die ihm zugebilligte Letztverantwortung für den Finanzausgleich wieder verwässern. Zum erhofften Befreiungsschlag geriet die Entscheidung nicht. In rechtsdogmatischer Hinsicht steht bereits die Forderung, der Bundesgesetzgeber müsse ein Maßstäbegesetz vorlegen, auf tönernen Füßen. Angesichts der nur einmaligen Erwähnung der „Maßstäbe" (in Art. 107 Abs. 2 S. 2 GG) lässt sich ein solcher Imperativ aus der Finanzverfassung selbst bei ausgesprochen wohlwollender Betrachtung - anders als im eindeutig geregelten Fall des Art. 109 Abs. 3 GG - schwerlich ableiten. Ohne Frage gebieten Art. 106 Abs. 3 S. 3,4 und 6, Abs. 4 S. 3 Anders H. P. Bull/V. Mehde, Der rationale Finanzausgleich - ein Gesetzgebungsauftrag ohnegleichen, DÖV 2000, S. 305 (305), die das Urteil als angemessene Antwort auf das „Politikversagen" beim Finanzausgleich werten (ähnlich ebd., S. 308).

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sowie Art. 107 Abs. 1 S. 2 - 4 , Abs. 2 GG dem Gesetzgeber, die verfassungsrechtlichen Vorgaben - einen „Fruchtsalat vielfältiger unbestimmter Rechtsbegriffe" 17 zu konkretisieren. Dem Wortlaut lassen sich jedoch keine ausreichenden Hinweise darauf entnehmen, dass der Gesetzgeber seinen Auftrag nur durch ein allgemein gehaltenes Maßstäbegesetz erfüllen könnte, das dem Finanzausgleichsgesetz zeitlich und rechtlich vorgeschaltet sein müsste18, ja nicht einmal, dass die Umsetzung der - immerhin unterschiedlichen Verfassungsbestimmungen entspringenden Vorgaben in Gesetzeseinheit zu erfolgen hat 19 . Selbst wenn man Langfristigkeit und Abstraktheit für notwendige Eigenschaften finanzverfassungsrechtlicher Verteilungsmaßstäbe halten wollte, wird nicht ersichtlich, warum das Gericht ein Verbot statuiert, allgemeine Maßstäbe und konkrete Vorgaben in demselben Gesetz zu vereinen. Auch die These von der Selbstbindung des Bundesgesetzgebers20 durch Vorschaltung des Maßstäbegesetzes, mit der das Gericht sich eine in der staatsrechtlichen Debatte vor allem für Art. 109 Abs. 3 GG vertretene Auffassung zu Eigen macht 21 , begegnet Bedenken. Bereits mit seinen rechtsphilosophischen Anknüpfungen an Gerhart Husserl und John Rawls begibt sich das Gericht auf dünnes Eis. Die Formel vom „rechtsstaatliche[n] Auftrag eines gesetzlichen Vorgriffs in die Zukunft" findet sich, anders als das Urteil suggeriert, bei Husserl nicht. Der Rechtsphilosoph trachtet nicht danach, Verhaltensregeln oder gar juristische Imperative zu setzen, sondern ordnet den drei Staatsgewalten im Rahmen einer deskriptiv-analytischen Betrachtung zeitbezogene Funktionen zu: Das Agieren der Exekutive sei auf einen zeitnahen Erfolg gerichtet und entspreche insofern dem „Gegenwartsmenschen", das des Richters, der über Vergangenes zu judizieren habe, dem „Vergangenheitsmenschen"22. Der Gesetzgeber entspreche dem „Zukunftsmenschen", da er durch Setzung genereller Regeln für menschliches Verhalten, das als wiederholbares konzipiert werde, in die Zukunft weisende, gestaltende Planungsakte vollziehe 23 . Welche der drei Gewalten in einer Gemeinschaft die Oberhand gewinne, sei situationsabhängig, je nachdem, ob das Leben einen festen Rahmen habe, fortschrittsgeneigt oder von erschütterten Grundsätzen ge17 K. M. Hettlage, Die Revisionsklausel in der Finanzverfassung, in: FS Maunz, München 1981, S. 119 (135) (über Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 1 und 2 GG); vgl. auch dens., VVDStRL 14 (1955), S. 2 (30). 18 Vgl. J. Linck, Das „Maßstäbegesetz" zur Finanzverfassung - ein dogmatischer und politischer Irrweg, DÖV 2000, S. 325 (327); B. Pieroth, Die Missachtung gesetzter Maßstäbe durch das Maßstäbegesetz, NJW 2000, S. 1086 (1086).

Anders Pieroth, a. a. O.; wie hier A. Hanebeck, Zurückhaltung und Maßstäbegesetz, KJ 2000, S. 262 (265); J. Wieland, Das Konzept eines Maßstäbegesetzes im Finanzausgleich, DVB1. 2000, S. 1310 (1314 f.). 20 Ansätze hierzu finden sich bereits in BVerfGE 79, 311 (355 ff.)· 21

Umfangreiche Nachweise hierzu bei P. Heibig, Maßstäbe als Grundsätze, KJ 2000, S. 433 (438). 22 G. Husserl, Recht und Zeit, Frankfurt a. M. 1955, S. 53, 58. 2 3 Husserl (Fn. 22), S. 55.

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prägt sei 24 . Auch dem „Ann des Gesetzgebers, mit dem er in die Zukunft vorgreift", spricht Husserl nur eine „endliche Länge" zu: „Wesentliche Strukturwandlungen der sozialen Wirklichkeit, auf deren Boden stehend der Gesetzgeber handelt, entziehen seinem Werk die Grundlage." 25 Erst Günter Dürig stellte - zwei Jahrzehnte später - die von Husserl als Seinssatz verstandene „Entzeitung" des Rechts (also die Lösung von Rechtsbestandteilen aus einem konkreten Zeitbezug)26 in einen Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz, welchem er die Kraft zuschreibt, „Stabilität und Flexibilität so zu strukturieren, dass kein Rechtsgenosse vom Recht überrascht (,überfahren', ,überrollt') wird" 2 7 . Dürig deduziert hieraus jene Sollenssätze, auf die sich das BVerfG (ohne sich auf ihn zu berufen) stützt. Im Unterschied zum Gericht wendet er sich gegen funktionale Differenzierungen zwischen Gesetzen. Dürig sieht im „abstrakten, generellen und eben auch auf Dauer angelegten" und im Lichte seines „Vorrangs" und „Vorbehalts" mit „zeitlicher,Vorherigkeit'" ausgestatteten Gesetz den wichtigsten Gleichheitsfaktor 28. „Dieser Planungstyp zur Antizipierung und Konzipierung der Zukunft gehört in die Legislative [ . . . ] und muss dort, soll er verbindlich werden, als Plangesetz festgeschrieben werden." Maßnahmegesetze hingegen seien als „sterile Aufgeregtheit in Gesetzesform", als ad-hoc-Entscheidungen, dem Wesen nach Exekutivangelegenheiten und nur als „Krisengesetze" akzeptabel29. Damit stellt Dürig klar, dass das Gesetz seinem Wesen nach und um der materiellen Gleichheit der Gesetzesbetroffenen willen als zukunftsweisender Plan - bzw. als prospektives Mittel sozialer Gestaltung30 - eingesetzt sein soll. Das BVerfG verfremdet durch die bloße Akzentverschiebung vom Plangesetz zum P/arcgesetz (als einem Gesetzestypus, dessen Wesenseigenschaft die vorausschauende Planung alias Maßstabssetzung ist) die gesamte Konzeption und bereitet damit den Boden für eine funktionale Mehrheit von Gesetzeszwecken, die weder in Husserls noch in Dürigs Sinn lag. Diffus erscheint der Rekurs des Gerichts auf John Rawls * umstrittene Hypothese, wonach (prozedurale) Gerechtigkeit vor einem „veil of ignorance" („Schleier des Nichtwissens") am besten verwirklicht werden könne 31 . Hierbei handelt es sich um ein Gedankenmodell, dessen Voraussetzungen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit grundsätzlich nicht vorliegen. Wo es - so Rawls - an Wissen über die 24 Husserl (Fn. 22), S. 63 ff. 25 Husserl (Fn. 22), S. 27. - Krit. insoweit auch Heibig (Fn. 21), S. 442; dies., Der steuerverfassungsrechtliche Halbteilungsgrundsatz, Berlin 2002, S. 33. 26 Husserl (Fn. 22), S. 12. 27 G. Dürig, Zeit und Rechtsgleichheit, in: FS Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 21 (28). 28 Dürig (Fn. 27), S. 29, 34. 29 Dürig (Fn. 27), S. 42 [Zitat; Hervorhebung im Original], 45 ff. 30 Vgl. nur F. Ossenbühl, in: HdbStR III, § 61 Rn. 21 ff. m. w. N. 31 J. Rawls, ATheory of Justice, Revised Edition, Oxford 1999, S. 118 ff.

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eigene gesellschaftliche Stellung oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation, über ökonomische und politische Errungenschaften der eigenen gesellschaftlichen Gruppierung etc. fehle und Kenntnisse sich auf allgemeine Handlungsgesetzlichkeiten und Wirkungszusammenhänge beschränkten, könnten Gerechtigkeitsprinzipien zur unbehinderten Entfaltung gelangen32. Diese neokantianische Konzeption scheint sich in rechtsstaatlichen Verfassungen niederzuschlagen, die ohne Ansehung des Einzelfalls allgemeine „kategorische Imperative" zur Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee statuieren (wie „Gleichheit vor dem Gesetz", „Treue", „Solidarität", „distributive Gerechtigkeit"). Als praktischer Leitfaden für die Gestaltung politischer, insbesondere föderaler Systeme ist Rawls ' hypothetisches Modell indes nur wenig brauchbar 33. Für die Verwirklichung föderaler Gerechtigkeit ist positives Wissen um die - systemimmanenten und systemtragenden - Eigen- und Verschiedenheiten der föderalen Glieder unabdingbar. Insofern mag sich ein Maßstäbegesetz um der Begründung allgemeiner Ausgleichsmaßstäbe willen wohl in den „Schleier des Nichtwissens" hüllen dürfen, doch kann der gesetzlich zu fixierende Ertrag des Finanzausgleichs nicht an individuellen und partikulären Gegebenheiten in den Gliedstaaten vorbeigehen. Der Frage, warum ein Finanzausgleichssystem mit zwischengeschaltetem Maßstäbegesetz in Rawls ' Sinn „gerechter" sein soll als ein solches, dessen allgemeine Grundlagen sich allein nach der Verfassung bestimmen, stellt sich das BVerfG nicht. Vielmehr löst es Rawls „ignorance"-Begriff von seinem ursprünglichen Kontext und deutet dieses „Nichtwissen" im Sinne beschränkter Fähigkeit des Gesetzgebers, zukünftige Entwicklungen vorhersagen zu können34. So wird eine komplexe philosophische Betrachtung auf die banale Erkenntnis reduziert, dass allgemeine Regeln „gerechter" sind als Einzelfallgesetze, dass sich die Zukunft nicht vorhersagen lässt und ein guter Gesetzgeber daher für unvorhergesehene Entwicklungen Vorsorge trägt. Schon das rechtsphilosophische Fundament, auf dem das BVerfG seine Lehre vom Maßstäbegesetz errichtet, vermag dieses Gedankengebäude nach alledem nicht zu tragen. Doch auch ihr Zusammentreffen mit verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen erzeugt Brüche und Dissonanzen. Die Äußerungen zu „VorRang" und „Vor-Behalt" des Gesetzes suggerieren das Bestehen einer normhierarchischen Stufe zwischen Maßstäbe- und Finanzausgleichsgesetz. Damit knüpft das Gericht an die These von der Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programmgesetze an. Nach einer in weiten Teilen der staatsrechtlichen Literatur vertretenen Auffassung ist eine solche Selbstbindung in der „Grundsatzgesetzgebung" des Art. 109 Abs. 3 GG für das Verhältnis von Haushaltsgrundsätzegesetz (das überdies der Zustimmung des Bundesrates bedarf) und (Bundes-)Haushaltsordnung35 32 /tow/i(Fn.31),S. 118. 33

Krit. insbes. auch J. F. Lindner, Das BVerfG, der Länderfinanzausgleich und der ,Schleier des Nichtwissens", NJW 2000, S. 3757 (3759 f.); Wieland (Fn. 19), S. 1313. 34 BVerfGE 101, 158(218).

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angelegt, möglicherweise auch in Art. 109 Abs. 2 GG für das Stabilitätsgesetz im Verhältnis zum Haushaltsrecht 36. Von der Grundsatzgesetzgebung i. S. d. Art. 91a Abs. 1 S. 2 und Art. 109 Abs. 3 GG unterscheidet sich das geforderte „Maßstäbegesetz" freilich dadurch, dass jene für Bund und Länder Geltung beansprucht, also zumindest teilweise fremdbindende und zudem vereinheitlichende Wirkung entfaltet. Die hier in Frage stehende Selbstbindung des Gesetzgebers an gesetzte Maßstäbe findet ihre Grenze in der normativen Kraft des Gesetzes. Als einfache Gesetze sind Maßstäbe- und Finanzausgleichsgesetz einander im Range ebenbürtig 37. Eventuelle Widersprüche können nur mit Hilfe der allgemeinen, auf den Inhalt der Gesetze abstellenden Kollisionsregeln der lex specialis und der lex posterior gelöst werden. Die Selbstbindungsthese erkennt Maßstabsregelungen eine Art Übergesetzlichkeit („lex superior") zu und steht damit im Widerspruch zum GG, das solche Übergesetzlichkeit nur den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art. 25 GG) zubilligt 38 . Darüber hinaus ist allein die Staatsverfassung übergesetzlich und wird in mustergültiger Weise den Ansprüchen an Dauerhaftigkeit, Zukunftsgestaltung und Selbstbindung gerecht. Diese durch diese Parameter gekennzeichnete Vorrangfunktion der Verfassung wird durch die zu ihrer Änderung erforderliche Zweidrittelmehrheit (Art. 79 Abs. 2 GG) und damit durch eine besondere demokratische Legitimation gesichert, die dem Maßstäbegesetz hingegen fehlt 39 . Dem Gesetzgeber ist freilich weder verwehrt, ein Maßstäbegesetz zu erlassen, noch sich von solchem Gesetz gewordenen politischen Willen durch einen abweichenden Gesetzesbeschluss wieder zu distanzieren. Wer glaubt, das allgemeine (Programm-)Gesetz 35

Für das Verhältnis zwischen HGrG und den Landeshaushaltsordnungen gilt Art. 31 GG. Vgl. R. Breuer, Selbstbindung des Gesetzgebers durch Programm- und Plangesetze?, DVB1. 1970, S. 101 (102 f.) m. w. N. (auch für die gegenteilige Ansicht); H. Fischer-Menshausen, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Band 3, 3. Aufl., München 1996, Art. 109 Rn. 17; W Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band III, Tübingen 2000, Art. 109 Rn. 33. 36

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? So auch Linck (Fn. 18), S. 327. 8 Krit. auch Bull/Mehde (Fn. 16), S. 309; Heibig (Fn. 21), S. 445 f.; dies. (Fn. 25), S. 29 ff., 39; Pieroth (Fn. 18), S. 1087; H. H. Rupp, Länderfinanzausgleich, JZ 2000, S. 269 (271); Wieland (Fn. 19), S. 1313; letztlich auch Chr. Trzaskalik, Bemerkungen zum Finanzausgleichsurteil vom 11. November 1999, in: FS Rudolf, München 2001, S. 379 (386 f.); a.A. Chr. Degenhart, Maßstabsbildung und Selbstbindung des Gesetzgebers - als Postulat der Finanzverfassung des Grundgesetzes, ZG 2000, S. 79 (89): ,,gesteigerte[r] Verfassungsbezug der im Gesetz getroffenen Wertungen"; Hanebeck (Fn. 19), S. 272; F. Ossenbühl, Das Maßstäbegesetz - dritter Weg oder Holzweg des Finanzausgleichs?, FS K. Vogel, Heidelberg 2000, S. 227 (229 ff.); P. M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band 3, München 2001, Art. 107 Rn. 51 ff.; vermittelnd F. Kirchhof, Neue Wege durch ein Maßstäbegesetz? Die Entscheidungen des BVerfG zum Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, in: EZFF Tübingen, Jahrbuch des Föderalismus, Baden-Baden 2001, S. 143 (147 ff., 153); G. Sydow, Mehrstufige Gesetzgebung als Verfassungspostulat?, SächsVBl 2001, S. 1 (2 ff.).; vgl. auch Chr. Waldhoff, Reformperspektiven der bundesstaatlichen Finanzverfassung im gestuften Verfahren, ZG 2000, S. 193 (205 ff.). 3 9 Linck (Fn. 18), S. 328; Wieland (Fn. 19), S. 1313; andererseits aber Waldhoff (Fn. 38), S. 217 f.: „besondere] Verfassungsnähe des Maßstäbegesetzes". 3

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werde auf solche Weise auf „nicht mehr als eine unter dem Vorbehalt jederzeit zulässiger Zuwiderhandlung im Einzelfall stehende Deklamation des guten Willens" reduziert 40, schätzt seine normative Appellfunktion ebenso gering wie das politische Verantwortungsbewusstsein des Gesetzgebers, der (außer im Fall des Art. 109 Abs. 3 GG) die ändernde Regelung mit gleichem Wortlaut und gleicher Mehrheit übrigens auch im vorgeschalteten Programmgesetz vornehmen könnte. Wenn überhaupt, ist eine gewünschte Selbstbindung durch das Ausführungsgesetz herzustellen, etwa indem die Beachtung der Programmgrundsätze des allgemeinen Gesetzes zur Auslegungsmaxime erklärt wird 4 1 . Regelungen, die hierzu klar im Widerspruch stehen, können wegen Perplexität keine Anwendung finden; hier mag sich also ausnahmsweise die lex prior einmal durchsetzen42. Die These vom Vorrang des Maßstäbegesetzes ist auch aus prozessualen Gründen zweifelhaft: Inhaltliche Abweichungen des Finanzausgleichsgesetzes vom Maßstäbegesetz dürfte das BVerfG nicht beanstanden, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, die einfachgesetzlichen Maßstäbe zu verkonstitutionalisieren und damit der Verfassungsdurchbrechung Vorschub zu leisten. Denn wer ein maßstäbegesetzwidriges Finanzausgleichsgesetz eo ipso als verfassungswidrig deklariert 43, hebt ein einfaches Gesetz - nur weil es (wie viele andere Gesetze auch) Verfassungsvorgaben konkretisiert und weil es zweitens ausfüllungsbedürftig ist (wie - im Verordnungswege - viele andere Gesetze auch) - auf den Schild des Verfassungsrechts 44. Hier eröffnet sich das Dilemma, in das sich das Gericht manövriert hat: Würde es - wie es richtig wäre - das Finanzausgleichsgesetz weiterhin allein an der Finanzverfassung messen, so entkräftete das Gericht selbst seine These von der Vorgreiflichkeit des Maßstäbegesetzes.

b) Nachfristsetzung statt Verwerfung des FAG 1993 Letztlich erteilte das BVerfG dem Bundesgesetzgeber den Auftrag zum Erlass eines Gesetzes, dessen Erforderlichkeit die Legislativorgane bis dato (mit gutem Grund) nicht erkannt hatten. Dabei gab es ihnen ein Paket inhaltlicher Vorgaben 40 Breuer (Fn. 36), S. 102. 41 Dieser Ansatz findet sich z.T. im Haushaltsrecht; vgl. § 2 S. 3 HGrG, § 2 S. 3 BHO. 42 Zum Sonderfall des Haushaltsplans, der als „Binnenrecht" begrenzte Geltungskraft besitzt und daher allgemein verbindliches Recht nicht zu modifizieren vermag, vgl. K. Stern, Staatsrecht II, München 1980, S. 1202 f. 43 Bedenklich insofern etwa Hanebeck (Fn. 19), S. 268, 270, der den Verstoß gegen das Maßstäbegesetz als solchen gegen die Verfassung interpretiert. 44

Daher ist auch die Auffassung, eine dem Haushaltsgrundsätzegesetz widersprechende Vorschrift der Haushaltsordnung sei wegen Verstoßes gegen Art. 109 Abs. 3 GG verfassungswidrig (so G. Kisker, in: HdbStR IV, § 89 Rn. 11), abzulehnen. Dies ist auch bei der von manchen Autoren (insbes. H.-P. Arndt /E. Benda/K. von Dohnanyi/H.-P. Schneider/R. Süssmuth/W. Weidenfeld, Zehn Vorschläge zur Reform des deutschen Föderalismus, ZRP 2000, S. 201 [202 f.]) geforderten Ausweitung der „Grundsatzgesetzgebung" zu bedenken.

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mit, mit denen es nicht nur an die Entscheidungen im 72. und 86. Band anknüpfte (Verbot der Finanzkraftnivellierung, Unzulässigkeit der Umkehr der Finanzkraftreihenfolge, systemische Kohärenz etc.) 45 , sondern indirekt dann doch auf die Rechtsfragen der antragstellenden Geberländer antwortete. Seine Verwerfungskompetenz übte das Gericht nicht einmal aus. Andererseits beanspruchte es ohne Not eine Entscheidungsbefugnis, die ihm das Verfahrensrecht überhaupt nicht zuweist. Korrekterweise hätte das BVerfG entweder das FAG unter dem Gesichtspunkt des Fehlens grundgesetzlich geforderter Maßstabssetzung für verfassungswidrig erklären oder den Normenkontrollantrag unter Feststellung der Verfassungskonformität des FAG abweisen müssen - tertium non datur. Im Ergebnis verwehrte das BVerfG dem Gesetzgeber, wie früher zu ephemeren und mitunter kurzsichtigen (Formel-)Kompromissen zwischen den Beteiligten Zuflucht zu nehmen46. Es zwang ihn mit dem erhobenen Schwert der bis 2002 laufenden Frist, Gesetzgebung auf planerische, visionäre Weise vorzunehmen und damit zugleich die Substanzdefizite der verfassungsrechtlichen Vorgaben abzugleichen 47 . Fast scheint es, als habe das Gericht die Geduld mit dem immer in Finanzausgleichsbelangen kaum lernbereiten Bundesgesetzgeber (und das Vertrauen auf sein verfassungsgemäßes Handeln) verloren und wolle den Rechtsstreitigkeiten um den Finanzausgleich auf Dauer Einhalt gebieten. Der horror vacui des Gerichts scheint sich nicht zuletzt an den bislang praktizierten vertragsähnlichen Verständigungsverfahren zu entzünden, die von manchen als Spielraum legislativer Letztentscheidungsfreiheit gerühmt 48, von anderen als „Blankoermächtigung" kritisiert werden, die das Zerrbild einer „Kaminrunde" feilschender Ministerpräsidenten wachrufen 49. Das Maßstäbegesetz sollte dazu beitragen, die „Erstzuständigkeit des Gesetzgebers bei der Verfassungsinterpretation" zu sichern 50. Tatsächlich erschöpft sich, wie auch am Maßstäbegesetz vom Juli 2001 zu belegen sein wird, die Tätigkeit des Gesetzgebers im Nachvollzug der Vorgaben des BVerfG, das dem Gesetzgeber bei der Verfassungsinterpretation - ungeachtet des niedrigen Bestimmtheitsgrades der Art. 106 f. GG - kaum noch Raum lässt. Dabei nahm das Gericht einen Entscheidungsspielraum in Anspruch, der ihm von Gesetzes wegen nicht zusteht: Nicht nur überschritt es seine Jurisdiktionsbefugnisse, indem es pflichtwidrigerweise ein für verfassungswidrig erkanntes Gesetz nicht verwarf, sondern es sprach darüber hinaus einen Gesetzgebungsbefehl für den Erlass eines Maßstäbegesetzes 45 BVerfGE 72, 330 ff.; 86, 148 ff. 46 Vgl. auch Christmann (Fn. 8), S. 324. - Auch dies ist letztlich ein Anliegen Husserls ([Fn. 22], S. 57). 47

Vgl. etwa Ossenbühl (Fn. 15), S. 80 ff., für den Begriff des „angemessenen Ausgleichs". 48 Ossenbühl (Fn. 15). 49 BVerfGE 101, 158 (218): „Die Regelung des Finanzausgleichs darf nicht dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen bleiben." (Zurückhaltender dagegen noch BVerfGE 72, 330 [396]) - Dazu Berlit/Kesper (Fn. 14), S. 611; vgl. auch Korioth (Fn. 2), S. 610. 50 BVerfGE 101, 158 (217 f.).

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aus, dessen Notwendigkeit sich aus dem Verfassungswortlaut und -kontext nicht erschließt 51. Um die gewiss vorhandenen Lücken, Ungereimtheiten und Beliebigkeiten des FAG gebührend anzuprangern, hätte es dieses Vorgehens nicht bedurft.

c) Zur Appellativfunktion des Urteils: Wettbewerbs- oder Solidarföderalismus? Über dieser rechtsdogmatischen Kritik darf nicht außer Acht gelassen werden, welche Wege das BVerfG für die Neugestaltung des Finanzausgleichs im deutschen Bundesstaat wies. Der Umstand, dass sich sowohl die Geber- als auch die Nehmerländer durch das Urteil in ihren Positionen bestärkt sahen, deutet darauf hin, dass sich das Gericht weder klar auf die Seite der „Wettbewerbsföderalisten" noch auf die der „Solidarförderalisten" geschlagen hat. Dabei hat sich das Gericht nicht etwa, worauf der erste Anschein deutet, auf das sicher-abstrakte Postulat nach dem Maßstäbegesetz zurückgezogen, welches das künftige Verteilungsgewicht noch nicht zu präjudizieren vermag. Vielmehr enthält das Urteil trotz der einstweiligen „decisio non decidendi" eine Vielzahl konkreter Vorgaben für den Finanzausgleich, die zwar in erster Linie das neue FAG betreffen, im Grundsatz aber auch schon für die Maßstäbegesetzgebung beachtlich sind. Was den horizontalen Finanzausgleich betrifft, mahnte das Gericht die Erfüllung schon 1992 formulierter Prüfungsaufträge an. Sie bezogen sich u. a. auf die auch als „Brecht'sches Gesetz" bezeichnete Theorie, wonach mit höherer Einwohnerzahl und -dichte die Kosten öffentlicher Aufgaben überproportional stiegen52. Zu ermitteln sei, ob die Ballung oder nicht vielmehr die Streuung von Bevölkerung einen abstrakten Mehrbedarf erzeuge 53. Damit rüttelte das Gericht an den Grundfesten der „Einwohnerveredelung", also der überkommenen Praxis, die Einwohner von Stadtstaaten bei der Bestimmung der Ausgleichsmesszahl rechnerisch höher zu gewichten (§ 9 Abs. 2 FAG 1993). Auch die Begünstigung der Länder mit größeren Seehäfen - sie erfolgt durch Verminderung der Finanzkraftmesszahl - wurde erstmals auf den Prüfstand geschickt54, obschon das Gericht den Argumenten der Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit beider Klauseln55 nicht zu folgen ge51

Vgl. auch H.-P. Schneider/U. Berlit, Die bundesstaatliche Finanzverteilung zwischen Rationalität, Transparenz und Politik, NVwZ 2000, S. 841 (843 f.). - Nach Wieland (Fn.19), S. 1314, sind die Ausführungen zur Vorgängigkeit und Eigenständigkeit sowie Bindungswirkung des Maßstäbegesetzes „obiter dicta" und haben als solche an der Rechtskraftwirkung des Urteilstenors nicht teil; der Gesetzgeber hätte Maßstäbe und konkrete Finanzausgleichsvorgaben in einem einheitlichen Gesetz zusammenfassen dürfen. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen; allerdings setzt die im Tenor angelegte Maßgeblichkeit (und damit Ausfüllbarkeit) der Maßstäbe voraus, dass die Maßstäbe von den übrigen Regelungen des Gesetzes optischräumlich abgesetzt werden. 52 Vgl. etwa Popitz (Fn. 4), S. 262 ff., 279 ff. 53 BVerfGE 101,158 (230 f.). 54 BVerfGE 101,158 (229).

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willt war. Ferner verlangte das Gericht die Überprüfung der zu berücksichtigenden gemeindlichen Steuereinnahmen bzw. ihrer bis dato nur hälftigen Anrechnung. Diese sei umso mehr geboten, als durch die Neugestaltung der Art. 28 und 106 GG, die der kommunalen Autonomie zugute kommt, die bisherige Zweistufigkeit der Finanzverfassung modifiziert worden sei 56 . Bei den Bundesergänzungszuweisungen wurde vor allem die Akzentuierung ihrer Komplementärfunktion angemahnt. Der beträchtliche Umfang dieser Leistungen - 1992 noch dem des horizontalen Ausgleichs entsprechend, seither auf das Doppelte angewachsen - wurde als späte Folge der deutschen Teilung akzeptiert. Ergänzungszuweisungen zwecks allgemeiner Anhebung der Länderfinanzkraft behandelte das Gericht ähnlich wie Leistungen im horizontalen Ausgleich und band sie an dessen „Output". Sollten hingegen Sonderlasten mitfinanziert werden, sei unter außergewöhnlichen Umständen zeitweise auch die Umkehrung einer unterin eine überdurchschnittliche Finanzkraft in einem Land hinzunehmen. Das Nivellierungsverbot - insoweit wird der Einlassung der Antragsteller widersprochen gelte insoweit nicht, doch bestehe eine besondere Begründungs- und Benennungspflicht 57 . Das Gericht nahm insoweit auch auf die Kosten der politischen Führung, insbesondere auf den Bedarf der Bundeshauptstadt, Bezug. Aktuelle Sonderergänzungszuweisungen für die Haushaltssanierung in Bremen und im Saarland wurden, allein weil sie 2004 auslaufen sollten, nicht beanstandet. Für die Zeit nach 2004 forderte das Gericht im Gegenzug die Berücksichtigung verbliebener Belastungen aus dem „Fonds Deutsche Einheit" 58 . Für sich genommen, sind diese Maßstabsvorgaben nicht revolutionär. Vorwiegend wurden alteingeführte Prinzipien aufgegriffen oder bereits früher erteilte Prüfungsaufträge reformuliert. Dabei wurden freilich auch Ungereimtheiten perpetuiert, etwa einerseits das Festhalten am abstrakten, allgemeinen Bedarfsmaßstab der Einwohnerzahl, andererseits die großzügige Berücksichtigung abstrakter wie konkreter Sonderbedarfe. Der Auseinandersetzung mit Lehrmeinungen, gerade im Zusammenhang mit dem Finanzkraftbegriff, entzog sich das Gericht. So glitten ihm die übergreifenden Zusammenhänge, deren Erkenntnis es dem Gesetzgeber abverlangt, mitunter selbst aus dem Blickfeld. Besonders mit der wichtigen Aufgabe wechselseitiger Balancierung der Maßstäbe für Ertragshoheit und Ausgleichsbemessung blieb der Gesetzgeber weitgehend auf sich gestellt. Das geforderte Maßstäbegesetz bietet für sich genommen noch keine Gewähr für Systemgerechtigkeit. Bei allen erkennbaren Unwuchten der Entscheidung, die ein Nebeneinander von Zuviel und Zuwenig an Vorgaben im Verhältnis der Judikative zur Exekutive (und an richterlichen Entscheidungen) bietet, wird doch eines erkennbar: In inhaltlicher Hinsicht suchte das Gericht Kontinuität zu wahren. Entgegen manchen Kassandra55 56 57 58

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

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158 (195 ff.). 158 (229 f.). 158 (224 f.) m. w. N. 158 (237).

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rufen stärkte es nicht die „Wettbewerbsföderalisten", sondern mahnte lediglich die Überprüfung allzu selbstverständlich gewährter und damit systemwidriger Ausgleiche an 59 . Der Finanzausgleich sollte in inhaltlicher Hinsicht nicht völlig neu modelliert, sondern neu justiert werden. Dabei mag die Erkenntnis ausschlaggebend gewesen sein, dass wirtschaftliche Gleichheit kein Desiderat des Föderalismus (der in gewissem Umfang von der Ungleichheit der Ressourcenverteilung lebt) 60 und die Wettbewerbsfähigkeit der Länder begrenzt ist; insbesondere ihr enger steuerpolitischer Spielraum limitiert die ausschöpfbaren Eigenressourcen. Für die Neuen Länder, die das Ausreizen des steuerpolitischen Spielraums mit der Erdrosselung zarter Konjunkturblüten bezahlen müssten, wäre rasch forcierte finanzielle Autonomie derzeit ohnedies ein Danaergeschenk61. Die Geberländer vermögen die im Zuge der Wiedervereinigung noch gewachsenen Lasten grundsätzlich nicht abzuschütteln; auf ihre Forderung, die Abgabepflicht solle gemäß dem steuerrechtlichen Halbteilungsgrundsatz 62 auf die Hälfte der überdurchschnittlichen Finanzkraft beschränkt bleiben 63 , ging das Gericht nicht einmal ein. Wenn überhaupt, stärkte nur der Zwang zum raschen Kompromiss die Geberländer, die bei Scheitern einer Neuregelung des Finanzausgleichs spätestens ab 2005 ihre Mehreinnahmen hätten behalten dürften.

III. Die gesetzliche Neuregelung des Finanzausgleichs Emanation erzwungener Solidarität 1. Der Bund als Garant des neuen Finanzausgleichs Das BVerfG brachte seine Ungeduld mit dem Bundesgesetzgeber in der äußerst kurzen Frist 64 zum Ausdruck, die es ihm für den Erlass der erforderlichen Maßstabsregeln setzte: Das FAG 1993 durfte zwar als Übergangsrecht bis zum 31. Dezember 2004 fortgelten, doch nur, wenn spätestens am 1. Januar 2003 das geforderte Maßstäbegesetz in Kraft getreten sein würde; andernfalls wäre das FAG 59 I.d.S. auch Schneider/Berlit

(Fn. 51), S. 842.

60

Zur Relativierung des verfassungsrechtlichen Stellenwerts der Herstellung „einheitlicher Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" nach der Wiedervereinigung vgl. P. Selmer, VVDStRL 52 (1993), S. 10 (23). 61 Dazu Selmer (Fn. 60), S. 39 f. 62

Zu diesem - umstrittenen, vom BVerfG aber für das Vermögensteuerrecht anerkannten (E 93, 121 [137 f.]) - Grundsatz zuletzt etwa H. Butzer, Freiheitsrechtliche Grenzen der Steuer- und Sozialabgabenlast, Berlin 1999, S. 59 ff.; / Lang, Vom Verbot der Erdrosselungssteuer zum Halbteilungsgrundsatz, FS K. Vogel, Heidelberg 2000, S. 173 ff.; Heibig (Fn. 25), insbes. S. 44 ff. 63 BVerfGE 101, 158 (199). Skeptisch auch H Zühlsdorf, Der Halbteilungsgrundsatz im Steuerrecht und im Recht des Bund-Länder-Finanzausgleichs, ThürVBl 2001, S. 25/53 (55 ff.) m. w. N. 64 Bull/Mehde (Fn. 16), S. 314, halten den Zeitrahmen für zu eng bemessen, um die erforderliche Qualität des Maßstäbegesetzes zu gewährleisten. 14 Graf Vitzthum/Winkelmann

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schon mit diesem Tag verfassungswidrig und nichtig geworden. Gleiches wäre am 1. Januar 2005 der Fall gewesen, wenn das Finanzausgleichsgesetz nicht bis dahin dem Maßstäbegesetz getreu neu gefasst und in dieser Form in Kraft getreten sein würde. Der zwischenzeitlich erfolgte Erlass sowohl des Maßstäbegesetzes als auch eines neuen Finanzausgleichsgesetzes hat diese Gefahr, zumindest äußerlich betrachtet, abgewendet. Da die gesetzliche Regelung des Bundesfinanzausgleichs Sache des Bundes ist, wurde diesem mehr denn je die Rolle des Garanten für einen funktionierenden Föderalismus auf den Leib geschrieben: Von seinen Anstrengungen um fristgerechte Rechtsetzung hing und hängt es ab, ob das „solidarische Geben und Nehmen" nach dem Jahr 2004 bzw. 2005 fortgesetzt werden kann. Denn wäre die Neuregelung des Finanzausgleichs auf nur einer der beiden Stufen gescheitert, hätte - unausgesprochene, aber unausweichliche Folge künftiger Nichtigkeit des FAG 1993 - ein sekundärer Finanzausgleich grundsätzlich nicht mehr stattgefunden. Die Geberund Nehmerländer einschließlich ihrer Gemeinden hätten dann ihre Steuereinkünfte behalten dürfen und sich mit Uberfluss oder Mangel arrangieren müssen. Dieses (verfassungsrechtlich bedenkliche)65 Zurückgeworfensein auf die eigenen Ressourcen hätte jedoch dort seine Grenze gefunden, wo das Ausbleiben der Zahlungen zur Bedrohung der Eigenstaatlichkeit der Länder geführt hätte. Insofern hätte bei verzögertem Erlass eines Maßstäbegesetzes zumindest eine Pflicht des Bundes bestanden, die Neuen Länder als schwächste Glieder der föderalen Gemeinschaft zu alimentieren. Diese Pflicht folgt bereits aus dem Prinzip der Bundestreue 66: Da schon die Verantwortung für die Regelung des Finanzausgleichs in den Händen des Bundes liegt (der hier nur „Zahlmeister", nie jedoch Empfänger von Leistungen ist), muss dieser die Folgen seiner Säumnis gegen sich gelten lassen. Die intendierte Stärkung des Bundes bei der Verteilung von Ressourcen unter den föderalen Gliedern wird jedoch dadurch relativiert, dass die Länder aus dem Prozess der Gesetzgebung nicht wirklich ausgeblendet werden können. Zum einem setzte das In-Kraft-Treten des Maßstäbegesetzes die Zustimmung des Bundesrates voraus und war damit an ein Mehrheitsvotum der Landesregierungen gekoppelt67. Manche attestieren der Ansicht des Gerichts, ein Maßstäbegesetz könne erlassen werden, ohne dass die Auswirkungen auf die Finanzausstattung der Länder und des Bundes schon zu diesem Zeitpunkt evaluiert worden seien, eine „gewisse Weltfremdheit" und Mangel an politischem Realitätssinn68. Der Verlauf der Vorberei65 Christmann (Fn. 8), S. 324. 66 Vgl. BVerfGE 72, 330 (386 f.); H. Bauer, Die Bundestreue, Tübingen 1993, S. 344 f. 67 Die Geberländer - Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen - bringen zusammen 26 Stimmen auf die Waage, wobei die Mehrheit derzeit bei 35 Stimmen liegt. Dies zeigt, dass die Geber auf einen Kompromiss mit den Nehmerländern angewiesen sind. 68 Linck (Fn. 18), S. 329; Berlit/Kesper (Fn. 14), S. 607; vgl. auch Rupp (Fn. 38), S. 270: „Der grundgesetzliche Finanzausgleich ist letztlich ein hochpolitischer Gesamtakt und lässt

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tungen für das Maßstäbegesetz bestätigte manche dieser Vermutungen und dürfte auch das BVerfG in gewisser Weise desillusioniert haben. Um dem bekannten „föderalen Feilschen" um finanzielle Ressourcen zu entweichen, setzte der Deutsche Bundestag gemäß § 54 Abs. 1 seiner Geschäftsordnung am 12. Oktober 2000 einen „Sonderausschuss Maßstäbegesetz / Finanzausgleichsgesetz" ein, der sich mit der Vorbereitung eines Maßstäbegesetzes sowie mit der Erarbeitung eines neuen Finanzausgleichsgesetzes innerhalb der vom BVerfG gesetzten Fristen befassen sollte 69 . Im Mai 2001 übermittelte die Bundesregierung dem Ausschuss den Referentenentwurf eines Gesetzes über „verfassungskonkretisierende allgemeine Maßnahmen für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich unter den Ländern sowie für die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen" 70 , zu dem der Sonderausschuss am 29. Juni 2001 eine mit zahlreichen Änderungsvorschlägen versehene Beschlussempfehlung sowie einen Bericht vorlegte 71. Sicher nicht zufällig war erst sechs Tage zuvor auf der Grundlage einer zweitägigen Sonderkonferenz der Regierungschefs der Länder und des Bundeskanzlers eine Vereinbarung über die Neuordnung der Bund/Länder-Finanzbeziehungen getroffen worden 72 . Diese auf den Zeitraum vom 2005 bis 2019 bezogene Einigung gleichsam die Geschäftsgrundlage für die Zustimmung des Bundesrates zum Maßstäbegesetz - enthält eine Fülle konkreter Zahlen- und Datenangaben, die das Finanzausgleichsgesetz vom 20. Dezember 2001 (FAG 2001) 73 inhaltlich weitestgehend präjudizieren. Insoweit dürfte das BVerfG mit seinem Anliegen, das Maßstäbegesetz von kurzfristigen politischen Erwägungen freizuhalten, zumindest teilweise gescheitert sein. Erst die nach alter Manier erfolgten Festlegungen der Ministerpräsidenten auf konkrete Zahlen und Daten ebneten den Weg für das Maßstäbegesetz. Auch der vom Verfassungsgericht angemahnte Primat des Bundes bei der Maßstäbegebung wurde hierbei stark verwässert. Gegen das gewählte Procedere ist nicht zu Unrecht vorgebracht worden, die Idee des BVerfG sei „auf den Kopf gestellt worden", denn es seien „zunächst die konkreten Geldströme festgelegt und dann erst versucht worden, einen theoretischen Uberbau in Form des Maßstäbegesetzes über diese Vereinbarung zu stülpen" 74 . Letztlich jedoch ist diese Vorgehensweise nur Ausdruck der unter allen Parlamentariern herrschenden Einsicht, dass die Forderung des BVerfG nach Aufgliederung des Finanzausgleichs in ein „absich nicht für eine unüberschaubare Zeit so vorprogrammieren, dass das Finanzausgleichsgesetz und die Ausgleichsabrechnung sich nur noch als Vollzugsaufgaben darstellten." 69 Der Sonderausschuss setzte sich aus 22 Mitgliedern zusammen, von denen 9 der SPD, 8 der CDU/CSU, je 2 dem Bündnis 90/Die Grünen und der FDP und eines der PDS angehörte. Vgl. BT-Drs. 14/6533, S. 13. 70 BT-Drs. 14/5971; vgl. auch die Stellungnahme des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung hierzu (BT-Drs. 14/5951 und 14/5971). 7 1 Vgl. BT-Drs. 14/6533 vom 2. 7. 2001. 7 2 Vgl. FAZ vom 25. 6. 2001, S. 1, 2; SZ vom 25. 6. 2001, S. 1, 2; Handelsblatt vom 25. 6. 2001, S. 1,2, 11. 73 BGBl. 20021, S. 3955. 74 So die Kritik der FDP-Fraktion im Sonderausschuss (vgl. BT-Drs. 14/6533, S. 31). 14*

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straktes" Maßstäbegesetz und ein „konkretes" Finanzausgleichsgesetz artifiziell und „in der Praxis kaum durchführbar" ist 7 5 .

2. Das Maßstäbegesetz vom 9. September 2001 In Anbetracht der Tatsache, dass § 31 Abs. 2 BVerfGG Entscheidungen des BVerfG in Normenkontrollsachen ohnedies Gesetzeskraft zuweist, erscheint das Maßstäbegesetz (MaßstG)76, das der Deutsche Bundestag am 5. Juli 2001 verabschiedete und dem der Bundesrat acht Tage darauf seine Zustimmung erteilte, fast als überflüssiger Akt. In lediglich fünfzehn Paragraphen repetiert, ja rezitiert der Bundesgesetzgeber die einschlägigen Passagen des jüngsten Finanzausgleichsurteils. Zwar reduzierte die Präzision der verfassungsgerichtlichen Vorgaben den Bundesgesetzgeber auf die Rolle eines Exekutors, doch scheute dieser davor zurück, den (wenn auch) dürftigen Spielraum für eigene politische Maßstabssetzung adäquat auszufüllen. Inhalt der §§ 1 und 2 MaßstG sind die Grundsätze der Maßstabsbildung sowie die Bindungswirkung der festgesetzten Maßstäbe. Der Gesetzgeber hält sich insoweit streng an die Vorgaben des BVerfG. § 1 Abs. 2 übernimmt fast wörtlich die im 2. Leitsatz des Verfassungsgerichtsurteils verankerte Zweckbestimmung des MaßstG77. Während § 1 die rechtlichen Bezüge zwischen MaßstG und GG definiert, verweist § 2 auf das Verhältnis zwischen dem MaßstG und dem zumindest praktisch rangniedrigeren Finanzausgleichsgesetz. Im Rahmen seines Zwecks, die konkreten jährlichen Zuteilungs- und Ausgleichsfolgen im Regelungsbereich der Art 106 Abs. 3 S. 4, Abs. 4 S. 1, Art. 107 Abs. 1 S. 4, 2. Hs., Abs. 2 S. 1, 2, Abs. 2 S. 3 GG abzuleiten (§ 2 I), hat das Finanzausgleichsgesetz den finanzwirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen und Möglichkeiten der Anpassung an Veränderungen in diesem Bereich sicherzustellen. Auch insoweit greift der Gesetzgeber auf den Urteilstext zurück 78 . Der zusätzliche Hinweis (§ 2 Abs. 3), dass diese Regelungen den Erfordernissen der Normenklarheit und Normenverständlichkeit genügen sollen, ist überflüssig, da er eine aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Selbstverständlichkeit benennt. Auf Wunsch des Sachverständigenrats wurde in den Regierungsentwurf eine „Eigenbehaltsklausel" (§3) eingefügt, die laut Begründung den Gestaltungsspielraum des FAG-Gesetzgebers bei Regelungen zum Eigenbehalt erweitern soll 79 . Der Sinn und Zweck der ausgesprochen kryptischen Formulierung erschließt sich nur mit Mühe. 75 Vgl. BT-Drs. 14/6533, S. 17. 76 Gesetz über verfassungskonkretisierende allgemeine Maßstäbe für die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, für den Finanzausgleich sowie die Gewährung von Bundesergänzungszuweisungen (Maßstäbegesetz - MaßstG), BGBl. 2001 1, S. 2302. 77 Ebenso BVerfGE 101, 158 (217). 78 BVerfGE 101, 158 (226). 79 BT-Drs. 14/6533, S. 35.

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Die Betrachtung der sonstigen Regelungen des Gesetzes soll sich hier auf die Abschnitte 4 (Länderfinanzausgleich) und 5 (Bundesergänzungszuweisung) beschränken. § 6 MaßstG trägt die im FAG bisher nicht enthaltene Zieldefinition des Länderfinanzausgleichs (Annäherung der Finanzkraft) sowie die dabei zueinander ins Lot zu bringenden gegensätzlichen Axiome (Eigenstaatlichkeit der Länder versus bundesstaatliche Solidargemeinschaft) nach. Die Definition der ausgleichsberechtigten und ausgleichspflichtigen Länder entspricht - unter Auslassung des Begriffs der Finanzkraftmesszahl - § 5 FAG. Was dem FAG bislang nur sinngemäß zu entnehmen war, ist nunmehr in § 7 Abs. 1 S. 1 MaßstG niedergelegt: die Bestimmung der Finanzkraft (Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG) nach den ausgleichserheblichen Einnahmen. Dieser neu eingeführte Rechtsbegriff wird in den Folgesätzen weiter aufgeschlüsselt. Weitgehend im Einklang mit § 8 FAG wird die Berücksichtigung der Einnahmen von Gemeinden sowie Gemeindeverbänden verfügt, die das BVerfG mit Blick auf Art. 107 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 GG bereits in einer früheren Entscheidung angemahnt hatte 80 . Anders als nach dem FAG 1993 (§ 8 Abs. 5) werden sie nicht hälftig gekürzt, sondern im Grundsatz vollständig bei der Bestimmung der ausgleichserheblichen Einnahmen berücksichtigt. Das Gericht hatte in seiner Entscheidung vom 11. 11. 1999 offen gelassen, ob seine sieben Jahre zuvor ausgesprochene Billigung der hälftigen Kürzung 81 unter dem Gesichtspunkt der Anerkennung finanzieller Eigenverantwortung der Kommunen (Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG) und der Gewährleistung eigener Anteile am Einkommenssteuer- (Art. 106 Abs. 5 GG) und Umsatzsteueraufkommen (Art. 106 Abs. 5a GG) noch Bestand haben konnte 82 . Diese scheinbar mutige Entscheidung des Gesetzgebers wird jedoch bereits durch § 7 Abs. 1 S. 3 MaßstG relativiert, wonach eine Reihe von Einnahmen - insbesondere solche, die in allen Ländern verhältnismäßig je Einwohner gleich anfallen - für nicht ausgleichserheblich erklärt werden; dementsprechend einigten sich Bund und Länder darauf, die Kommunalsteuern keineswegs zur Gänze, sondern nur in Höhe von 64% in den Länderfinanzausgleich einzubeziehen. Die Kernbestimmung des dritten Abschnittes des MaßstG ist § 8, der in Ubereinstimmung mit den Anforderungen des BVerfG den finanzausgleichsrechtlichen Status quo in die Form abstrakter Kriterien gießt. Als abstraktes Bedarfskriterium für den Vergleich der Länderfinanzkraft wird die Einwohnerzahl bestimmt. (Sie ist nach §§ 6, 9 Abs. 1 FAG 2001 Grundlage der Ausgleichsmesszahl, die für Stadtstaaten, Absatz 2, und für Gemeinden, Absatz 3, modifiziert wird.) Das mehrfach ausgesprochene Monitum des Gerichts, ein abstrakter Mehrbedarf müsse nach objektivierbaren Indikatoren bestimmt werden 83, wird pflichtschuldig rezipiert (§ 8 Abs. 2 S. 2 MaßstG). Ob die Festschreibung der „Einwohnerveredelung" in Stadt80 BVerfGE 86, 148 (215). si BVerfGE 86, 148(231 ff.). 82 BVerfGE 101, 158 (229 f.). 83 BVerfGE 72, 330 (415 f.); 86, 148 (239); 101, 158 (230). - Das Problem der angemessenen Würdigung insbes. der Bedeutung der Hansestädte für die gesamte deutsche Volkswirtschaft ist keineswegs neu (vgl. bereits Popitz [Fn. 4], S. 329 f.).

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Staaten unter bloßem Hinweis auf ihre „abstrakten Mehrbedarfe" diesem Postulat hinreichend Rechnung trägt, scheint sehr zweifelhaft: Die bloße Stadtstaateneigenschaft erfüllt, umso mehr als das „Brecht'sche Gesetz" nicht ohne Grund in die Kritik geraten ist, noch nicht die Eigenschaft eines „verlässlichen, objektivierbaren Indikators". Daran ändert auch nichts, dass § 8 Abs. 3 S. 2 dem Mehrbedarf der Stadtstaaten anstelle des Ergebnisses finanzwissenschaftlicher Prüfungen 84 ein vages und laues Apropos zur Seite stellt, die Berücksichtigung abstrakter Mehrbedarfe besonders dünn besiedelter Flächenländer könne notwendig werden. Weitgehend in Leerformeln erschöpft sich § 9 MaßstG, der Maßstäbe für die angemessene Höhe des Ausgleiches festlegen soll. Die bereits an der Grenze zur Unbestimmtheit liegende Klausel des Art. 107 Abs. 2 S. 1 GG, die unterschiedliche Finanzkraft der Länder müsse „angemessen ausgeglichen" werden, findet ihr Echo in der kaum weniger unbestimmten Formel, wonach der angemessene Ausgleich eine „den ländereigenen Aufgaben entsprechende hinreichende Annäherung der Finanzkraft der Länder" erfordere (§ 9 Abs. 1). Wenig aufschlussreich ist der Folgesatz, der die hinreichende Annäherung von der gleichzeitigen Berücksichtigung der Eigenstaatlichkeit der Länder und ihre Einbindung in die bundesstaatliche Solidargemeinschaft (vgl. § 2) abhängig macht. Mit der Maßgabe, eine „entscheidende Schwächung" der Leistungsfähigkeit ausgleichspflichtiger Länder als auch eine „Nivellierung" der Finanzkraft der Länder insgesamt „auszuschließen", mit dem Verbot, Finanzkraftabstände zu nivellieren oder die Finanzkraftreihenfolge unter den Ländern zu verkehren (§ 9 Abs. 1 S. 3,4), stützt sich das Gesetz auf eine gefestigte Verfassungsrechtsprechung, die zum Teil bis auf das Jahr 1952 zurückgeht 85. Bundesergänzungszuweisungen dienen, wie § 10 Abs. 1 S. 1 MaßstG im Einklang mit Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG formuliert, dem „ergänzenden Ausgleich im Anschluss an den Länderfinanzausgleich". Die in der Praxis durchgeführte Unterscheidung zwischen allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen und Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen wird durch § 10 Abs. 2 kodifiziert. Die verfassungsrechtlich vorausgesetzte Leistungsschwäche hat der Maßstäbegesetzgeber nach Auffassung des BVerfG im Rahmen nachvollziehbarer und widerspruchsfreier Regelungen, die sich vom Ergebnis des horizontalen Finanzausgleichs inhaltlich absetzen müssen, näher zu bestimmen86. Diesem Erfordernis wird § 10 Abs. 1 S. 2, 3 MaßstG nicht gerecht, der lediglich lapidar formuliert, dass leistungsschwach grundsätzlich nur ausgleichsberechtigte Länder seien und die Leistungsschwäche anhand des Verhältnisses von Finanzaufkommen und Ausgabenlasten zu bestimmen sei. Handhabbare Maßstäbe sind dies nicht. Das Wesen allgemeiner Bundesergänzungszuweisungen als eines nachrangigen Korrektivs zum horizontalen Ausgleich ist im Grunde in Art. 107 Abs. 2 S. 3 GG bereits angelegt, durch das BVerfG in mehreren Entscheidungen aber näher ausge84 BVerfGE 101, 158 (230). 85 BVerfGE 1, 117 (131); 72, 330 (398,418 f.); 86, 148 (250); 101, 158 (221 f.). 86 BVerfGE 101, 148 (233 f.) m. w. N.

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formt worden 87 . Seinen Aussagen entlehnt, freilich wenig aussagekräftig, ist die Vorgabe, die Ergänzungszuweisungen dürften im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Finanzausgleichs unter den Ländern „nicht beträchtlich" sein (§ 10 Abs. 3 S. 3 MaßstG). Dieser Passus bildet gleichsam spiegelverkehrt die Karlsruher Formel ab, wonach Sonderbedarfs-Ergänzungszuweisungen, wenn sich der Gesetzgeber zu ihrer Berücksichtigung entschließe, auch dann verfassungsgemäß seien, wenn sie im Verhältnis zum horizontalen Ausgleich ein „beträchtliches Volumen" erreichten 88 . Der Maßstäbegesetzgeber scheint von seiner Option nicht umfassend Gebrauch zu machen, sondern lässt Abweichungen von § 10 Abs. 3 S. 3 nur aus besonderen Gründen und vorübergehend zu (Abs. 4). Auch im Hinblick auf den Umstand, dass die Vergabe von Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen nur fristgebunden erfolgen kann (§ 12 Abs. 3 S. 1), könnte diese scheinbare Einschränkung doch wieder auf eine allgemeine Freigabe der Umfangsbegrenzung für Sonderergänzungszuweisungen hinauslaufen. Das Erfordernis der Leistungsschwäche ist im Hinblick auf allgemeine Bundesergänzungszuweisungen (§ 11 Abs. 1 MaßstG) erfüllt, wenn nach dem Ergebnis des horizontalen Ausgleichs die Finanzkraft eines Landes noch „unangemessen" im Verhältnis zur länderdurchschnittlichen Finanzkraft ist. Um als unangemessen angesehen zu werden, muss sie „erkennbar" unterhalb der länderdurchschnittlichen Finanzkraft liegen. Auch insoweit ersetzt der Maßstäbegesetzgeber die mit Rücksicht auf den Einschätzungsspielraum der Legislative sehr allgemein gehaltene Formel des BVerfG nur durch unbestimmte Rechtsbegriffe aus eigener Werkstatt, anstatt zweckdienliche Maßstäbe zu setzen. Das auch für die allgemeinen Ergänzungszuweisungen noch einmal ausdrücklich festgehaltene Verbot der Finanzkraftnivellierung (§ 11 Abs. 2 S. 1) kann, was das BVerfG ausdrücklich guthieß89, bei der Gewährung von Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen durchbrochen werden (§ 12 Abs. 2). § 12 MaßstG, der die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen regelt, ist die ausführlichste Bestimmung des Gesetzeswerks. Angesichts der Vielzahl unterschiedlichster Sachverhalte, die Sonderlasten begründen können, ist es nicht zu beanstanden, dass der Maßstäbegesetzgeber sich dem Versuch einer Definition der Sonderlast entzieht. Die Annäherung an den Begriff führt über eine Negativdefinition: Die Finanzierung aktueller Vorhaben, voraussehbare finanzielle Schwächen als Folge politischer Entscheidungen, aber auch kurzfristige Finanzschwächen sind als Sonderlasten nicht berücksichtigungsfähig (§12 Abs. 1 S. 2, 3). Wenn Karlsruhe statuiert, der Gesetzgeber sei „aus dem föderalen Gleichbehandlungsgebot auch verpflichtet, die Sonderlasten zu benennen und zu begründen" 90, ist dies allerdings als Auftrag an den Maßstäbegesetzgeber aufzufassen, entsprechend zu verfahren. 87 88 89 90

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

86, 148 (261); 101, 158 (232 f.). 72, 330 (403, 419 f.); 101, 158 (233). 72, 330 (405 f.); 101, 158 (234 f.). 72, 330 (405); 101, 158 (235).

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Das bloße Wiederkäuen der Formel (§12 Abs. 1 S. 1,4) führt das Maßstäbepostulat insoweit ad absurdum. Dies gilt auch im Hinblick auf Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für die Kosten politischer Führung, auf deren Zulässigkeit § 12 Abs. 6 MaßstG lediglich hinweist, wohingegen das Gericht konkrete Vorgaben anmahnte91. § 12 Abs. 3 S. 2 verlangt, dass die befristeten Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen im Regelfall degressiv auszugestalten sind. Mit diesem nicht unmittelbar von Karlsruhe vorgegebenen Postulat trägt der Gesetzgeber der Notwendigkeit Rechnung, dass solche Zuweisungen die Eigenstaatlichkeit der Länder stärken, sie also sukzessive in die Lage versetzen sollen, ökonomisch und finanziell auf eigenen Füßen zu stehen. Mit § 11 Abs. 4 (Sonderbedarfszuweisungen zur Haushaltssanierung aufgrund einer extremen Haushaltsnotlage) folgt der Gesetzgeber den Vorgaben des 1992er Urteils zum Finanzausgleich92. Darüber hinaus werden Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zur Deckung des besonderen Nachholbedarfs und zum Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft in den Neuen Ländern für zulässig erklärt (§11 Abs. 5). Mag der Bundesgesetzgeber auch nach der hier vertretenen Auffassung nicht verpflichtet sein, überhaupt ein Maßstäbegesetz zu erlassen, bleibt doch festzustellen, dass das verabschiedete Gesetz den Vorgaben des BVerfG in weiten Teilen nicht gerecht wird. Seine Vorgaben sind so vage und allgemein gehalten, dass sich die konkreten Umrisse des neuen Finanzausgleichssystems in ihm nicht abzeichnen: Eine wirkliche inhaltliche Bindung des Finanzausgleichsgesetzes, die stärker und konkreter wirkte als die vorliegenden Entscheidungen des Gerichts, geht vom MaßstG nicht aus; dem FAG-Gesetzgeber verbleibt ein weiterer Spielraum, als es der von Karlsruhe vorgegebenen Systematik entspricht. Tatsächlich wurden die Vorgaben des BVerfG nicht nur nicht erfüllt, sondern geradezu unterlaufen, da bei Erlass des MaßstG die auf dessen ideeller Grundlage auszuarbeitenden Details eines künftigen Finanzausgleichs bereits von Bund und Ländern konsentiert und präzisiert worden waren 93 . Das FAG wurde insoweit nicht, wie gefordert, aus dem Maßstäbegesetz heraus entwickelt, vielmehr war sein Inhalt Geschäftsgrundlage für die Maßstabssetzung, die sich im Grunde als abstraktes Destillat konkreter politischer Entscheidungen darstellt. Dies ist wohl ebenso als Widerstand gegen den Versuch einer allzu starken Kanalisierung politischer Willensbildung durch das BVerfG zu verstehen wie als Kapitulation vor den praktischen Schwierigkeiten, die eine (verfassungsrechtlich weder geforderte noch zulässige) Trennung langund kurzfristiger Vorgaben für den Bundesfmanzausgleich mit sich bringt 94 .

91 BVerfGE 101, 158 (235). 92 BVerfGE 86, 148 (259 ff.). 93 Vgl. M. Beise, „Der Kanzler trickst, und der Bürger zahlt drauf, SZ vom 12. 7. 2001, S. 23. 94 Insofern hat sich der Gesetzgeber von der „List" des Stufenmodells (Sydow [Fn. 38], S. 6 f.) nicht becircen lassen, sondern weist mit der unzulänglichen Umsetzung des Modells den Anspruch erhöhter Rationalität des MaßstG implizit von sich.

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3. Eckdaten des künftigen Finanzausgleichs: Das Finanzausgleichs gesetz vom 20. Dezember 2001 Die zahlreichen Defizite des Maßstäbegesetzes bieten Anlass zur Befürchtung, dass die gesetzlichen Grundlagen des Finanzausgleichs in einigen Jahren abermals dem BVerfG zur Überprüfung vorgelegt werden. Ob dabei das Maßstäbegesetz, das FAG oder beide Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle sein werden, ist am Ende von sekundärer Bedeutung. Wo das Finanzausgleichsmit dem Maßstäbegesetz nicht übereinstimmt, dieses jedoch mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wird das BVerfG die Maßstabsverfehlung als Grundgesetzverletzung behandeln müssen. Lücken und Unvollkommenheiten im Maßstäbegesetz begründen nicht nur das Verdikt seiner Nichtigkeit, sondern auch der des FAG, dessen Regeln insoweit, als nicht vorab ein Maßstab gesetzt worden ist, den verfassungsrechtlichen Vorgaben nach Ansicht des BVerfG selbst dann nicht entsprechen, wenn die Regelung im Maßstäbegesetz keinen anderen Inhalt gehabt hätte als die im FAG getroffene. Die Vermutung liegt nahe, dass Streitigkeiten um den Bundesfinanzausgleich durch das Urteil vom 11. November 1999 nicht etwa einstweilen ein Ende gesetzt worden ist, sondern dass sich die Zahl der möglichen Angriffspunkte für diejenigen, die sich durch das jeweilige System des Finanzausgleichs benachteiligt sehen, sogar erhöht hat. Das BVerfG hat nicht verhindern können, dass das vom Bundesgesetzgeber pflichtschuldig, wenn auch im Detail nachlässig erlassene Maßstäbegesetz zum floskelhaften Lippenbekenntnis geraten ist. Die eigentliche Rechtsgrundlage des Finanzausgleichs ist - wie bisher auch - eine Einigung zwischen Bund und Ländern über den Umfang künftiger Finanztransaktionen, deren Verbindlichkeit sie in die Nähe eines verfassungsrechtlichen Vertrages rückt 95 . Auch wenn Art. 106 f. GG den Finanzausgleich formaliter vorwiegend in die Hände des Bundes legt, entspricht es doch dem Gedanken des wechselseitigen Einstehenmüssens aller in der föderalen Gemeinschaft, dass auch Entscheidungen über den Umfang dieser Einstandspflichten von allen getragen werden. Die getroffene Einigung gilt für die Jahre 2004 bis 2019, erstreckt sich also auf einen Zeitraum, der schwerlich von jener tagespolitischen Kurzatmigkeit bestimmt ist, die das BVerfG am bestehenden einfachgesetzlichen Finanzausgleichssystem bemängelte; angesichts solcher Zukunftsgerichtetheit bereits des FAG wäre es ohne weiteres möglich gewesen, abstrakte Maßstäbe und ihre detaillierte Ausformung in einem einzigen Gesetz zu vereinigen. Die Einigung auf einen neuen Finanzausgleichsrahmen war Gegenstand eines Bund-Länder-Kompromisses vom 24. Juni 2001 96 , den der Bund mit dem Erlass des Solidarpaktfortführungsgesetzes vom 20. Dezember 2001 97 , als dessen Art. 5 das 95 Vgl. den Beschluss des Bundesrates, BR-Drs. 485/01. 96 Vgl. die Nachweise in Fn. 72. 97 BGBl. 2001 1, S. 3955 ff.

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neue FAG figuriert, lediglich normativ nachvollzog. Die Kerninhalte des ab 2005 geltenden (§ 19) neuen FAG sollen hier lediglich skizziert werden, soweit sie den Finanzausgleich unter den Ländern und die Ergänzungszuweisungen des Bundes betreffen. Es lehnt sich formal weitgehend an das alte Gesetz an, dessen § § 4 - 6 (terminologische Grundlagen des Ausgleichsmechanismus) ebenso wie eine Vielzahl anderer Bestimmungen sogar wörtlich übernommen werden. Zugleich erfährt der Finanzausgleich Korrekturen, die nur ζ. T. „kosmetischer" Natur sind und in Teilbereichen eine Verlagerung der Verantwortungsgewichtung im Bundesstaat bewirken. Die am 24. Juni 2001 gefassten Beschlüsse sind sowohl auf Besitzstandswahrung als auch auf Setzung von Leistungsanreizen gerichtet. Hierzu zählt die (in § 3 MaßstG vorausgesetzte) Einführung eines Eigen- bzw. Selbstbehalts, eines Anteils an im Vorjahres vergleich überproportionalen Steuereinnahmen (überdurchschnittliche Steuermehreinnahmen oder - bei Ländern, deren Steuersumme unterhalb des Länderdurchschnitts liegt - unterdurchschnittliche Steuermindereinnahmen), der bei der Finanzkraftermittlung unberücksichtigt und dem Land, in dem sie erwirtschaftet worden sind, erhalten bleibt. Dieses „Prämienmodell" trägt sowohl (in geringem Umfang) dem Anliegen der „Wettbewerbsföderalisten" Rechnung, welche den föderalen Gliedern den Genuss der Früchte erfolgreicher Wirtschaftsförderungspolitik sichern wollen, als auch dem Solidargedanken, da höhere Steuereinnahmen umfangreichere Ausgleichszahlungen nach sich ziehen können. Seine Umsetzung findet es in den abgeflachten, in einem komplizierten Berechnungsverfahren zu ermittelnden Ausgleichstarifen des neuen FAG (§ 10 Abs. 1, 2 FAG 2001). Die Ausgleichstarife der Geber- und Nehmerländer werden im Einklang mit dem MaßstG so justiert, dass weder die Verkehrung der Finanzkraftreihenfolge noch die Aufhebung der Finanzkraftabstände zwischen den Ländern zu besorgen sein soll 98 . An die Stelle der bisherigen Abschöpfungs- und Auffüllungsmodi tritt eine von einem Grundwert ausgehende (je nach Sichtweise) degressive oder progressive Berechnung 99. Als ernst zu nehmende Korrektur des bestehenden Systems darf das „Prämienmodell" angesichts der Geringfügigkeit des Selbstbehaltsanteils ohnedies nicht gelten. Eher trifft dies auf die das Modell ergänzende, ebenfalls neu eingeführte „Kappungsgrenze" für Abschöpfungen bei Geberländern zu, die auf 72,5% ihrer Überschüsse begrenzt werden sollen (§ 10 Abs. 3 FAG 2001). Ausfälle werden von Geber- und Nehmerländern gemeinsam unter Berücksichtigung der Reihenfolge ihrer Finanzkraft getragen. Ob die Berechnungsbasis dem Transparenzanspruch stets gerecht zu werden vermag, erscheint zumindest mit Blick auf die Gemeinden zweifelhaft, deren Steuern auch künftig nur zu 64% (anstatt bisher 50% 1 0 0 ) in den Finanzausgleich einbezogen werden sollen (§ 8 Abs. 3 FAG 2001).

98

Nach Ansicht der Bundesregierung schließt das neue System eine Veränderung der Finanzkraftreihenfolge außer in „extrem untypischen Modellannahmen" aus, wobei § 10 Abs. 3 FAG 2001 einen zusätzlichen Sicherungsmechanismus biete; vgl. BT-Drs. 14/7256, S. 14.

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Mit seiner Feststellung, die gestärkte Finanzautonomie der Kommunen modifiziere die bisherige Zweistufigkeit der Finanzverfassung, entbindet das BVerfG den Gesetzgeber nicht von der Notwendigkeit, die begrenzte Berücksichtigung kommunaler Steuereinnahmen auf ihre strukturelle Plausibilität zu prüfen 101 . Die Umstände der getroffenen Einigung legen die Annahme nahe, dass eine solche Prüfung nicht erfolgt ist. Verfassungsrechtlich geboten erscheint ein „Autonomieabschlag" in Höhe von 36% der kommunalen Steuereinnahmen jedenfalls nicht, auch nicht im Hinblick auf die durch Art. 28 Abs. 2 S. 3, 106 Abs. 5 - 6 GG nunmehr gestärkte finanzielle Eigenausstattung der Gemeinden102: Beschränkungen bundesstaatlicher Finanzzuweisungen unter Berücksichtigung kommunaler Reichtümer ziehen keine Beeinträchtigung des finanziellen Autonomiebereichs der Gemeinden nach sich. Für die Begründung abstrakter Sonderbedarfe durch so genannte Hafenlasten (§ 7 Abs. 3 FAG 1993) - „traditioneller Bestandteil der Regelung des Finanzausgleichs zwischen den Ländern im deutschen Finanzverfassungsrecht" 103 - , die bei der Finanzkraftermittlung gleichfalls unberücksichtigt bleiben müssen, fehlt es noch an einer nachvollziehbaren und widerspruchsfreien 104 finanzwissenschaftlichen Berechnungsbasis. Die Entscheidung, den Ausgleich von Hafenlasten aus dem geltenden Finanzausgleichssystem auszugliedern, leistet nicht nur der Intransparenz seiner systemischen Grundlagen und seines Berechnungsmaßstabes Vorschub, sondern läuft auch dem Grundgedanken des Art. 107 GG zuwider. Indem sich diese Bestimmung auf den Finanzbedarf und gerade nicht auf einzelne, sachbezogene finanzielle Bedürfnisse der Länder bezieht, stellt sie klar, dass seine Ermittlung im Zuge einer integrierten Gesamtberechnung erfolgen muss, bei welcher - wie das BVerfG anmahnte - auch die Einbeziehung ähnlicher Mehrbedarfe in anderen Ländern (etwa Flug- und Binnenhafenlasten) zu erwägen ist 1 0 5 . Abweichun-

99 Danach wird bei Nehmerländern die im Bereich bis 80% des Länderdurchschnitts liegende Finanzkraft pauschal um 75%, die zwischen 75 und 93% degressiv fallend um mindestens 70% und die zwischen 93 und 100% des Länderdurchschnitts liegende Finanzkraft mit mindestens 44% aufgefüllt. In analoger Weise erfolgt die Abschöpfung bei den Geberländern (pauschal 75% bei einer Finanzkraft ab 120% des Länderdurchschnitts, zwischen 120 und 107% des Durchschnitts degressiv fallend auf 70%, bis 100% des Durchschnitts auf 44%). 100 Christmann (Fn. 8), S. 318. ιοί So ausdrücklich BVerfGE 101, 158 (230); vgl. jedoch BVerfGE 86, 148 (231 f.), wo die hälftige Kürzung noch für verfassungsgemäß erklärt und insofern (anders für § 9 III FAG, S. 235 f.) kein Prüfungsauftrag formuliert worden war. - Zu weit gehend aber R. Wendt/M. Elicker, Für die volle Einbeziehung der kommunalen Finanzkraft in den Länderfinanzausgleich, DÖV 2001, S. 762 (766 ff.) m. w. N. 102 Anders J. W. Hidien, Die Berücksichtigung der Finanzkraft und des Finanzbedarfs der Gemeinden (Gemeindeverbände) im Finanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz, Baden-Baden 2001, insbes. S. 234 ff. 103 BVerfGE 72, 330 (413). 104 BVerfGE 101, 158 (233) m. w. N. 105 BVerfGE 101, 158 (229).

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gen vom Prinzip der Ausgleichseinheit bedürfen besonderer Rechtfertigung, für die es im Falle der Hafenlasten keinen Anlass gibt. Die Grundlagen der Einwohnerwertung bei Stadtstaaten, die auch künftig bei 135% liegen wird (§ 9 Abs. 2, 3 FAG 2001), wurden entgegen der Forderung des BVerfG, deren Höhe zu überprüfen 106, nicht hinterfragt. Andererseits werden, anders als bisher, auch die Einwohner der dünn besiedelten Länder MecklenburgVorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt geringfügig (Wertungen zwischen 102 und 105%) „veredelt" (§ 9 Abs. 3 FAG 2001). Während im ersten Fall das „Brecht'sehe Gesetz" ohne weitere Überprüfung 107 dem Berechnungsmaßstab zugrunde gelegt wird, gründet sich die Einwohnerwertung dünn besiedelter Länder wiederum auf die Annahme seiner (jedenfalls partiellen) Unrichtigkeit. Insoweit leidet das Ausgleichssystem an einem Systemfehler, der bei der vom BVerfG geforderten empirischen Kostenermittlung vermieden worden wäre. Obschon sie nur als sekundärer Ausgleich fungieren, übersteigt das Volumen der Bundesergänzungszuweisungen schon jetzt das des horizontalen Finanzausgleichs um fast das Doppelte 108 . Die Schere wird sich, vor allem unter dem Eindruck weiterhin hoher Finanzbedarfe in den Neuen Ländern, zunächst noch weiter öffnen. Bis 2004 liegt den Leistungen des Bundes an die Neuen Länder der Solidarpakt I zugrunde. Gemäß Art. 1, 2 SFG gehen die bislang gesondert nach den Regeln des Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost ausgekehrten Zuwendungen ab 2002 in den Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für den Abbau teilungsbedingter Sonderlasten sowie für den Ausgleich unterproportionaler kommunaler Finanzkraft auf, die sich damit auf einen jährlichen Gesamtumfang von 10,53 Mrd. € (20,6 Mrd. DM) summieren 109. Nach dem Ablauf des ersten wird ab 2005 ein zweiter, integrierter „Solidarpakt" für die Dauer von 15 Jahren dessen Platz einnehmen. Während seiner Laufzeit leistet der Bund den Neuen Ländern Sonderbedarfs-Ergänzungszuweisungen zum Abbau teilungsbedingter Sonderlasten in Höhe von insgesamt 105,32 Mrd. € (206 Mrd. DM) („Korb I"; vgl. § 11 Abs. 3 FAG 2001), denen noch einmal 51,13 Mrd. € (100 Mrd. DM) für die allgemeine Wirtschaftsförderung („Korb II") hinzugefügt werden. Auch der zunächst nicht den Vorgaben des Art. 107 Abs. 2 GG unterliegende „Fonds Deutsche Einheit", dessen ursprüngliche Finanzierungsfunktion zugunsten der Neuen Länder der Kreditab106 BVerfGE 72, 330 (415); 86, 148 (238 ff.). - Argumente für die Beibehaltung der „Einwohnerverwedelung" liefert u. a. J. Wieland, Die Rolle der Stadtstaaten im Föderalismus, NordÖR 2001, S. 45 (48 f.). 107

Zweifelnd an der Richtigkeit des Brecht'schen Gesetzes bereits BVerfGE 86, 148 (223), wo die Einwohnerveredelung in Stadtstaaten aber noch als verfassungsgemäß bezeichnet wurde. Vgl. auch Kirchhof (Fn. 8), S. 114 ff. m. w. N. los Nachw. bei BVerfGE 101, 158 (194, 233). 109 § 11 Abs. 4 FAG vom 23. 6. 1993 i. d. F. des Art. 1 Nr. 2 SFG. Vom Gesamtbetrag entfallen 3,37 Mrd. € (6,6 Mrd. DM) auf Leistungen, die bisher nach dem In vesti tionsförderungsgesetz Aufbau Ost (IfG) erbracht wurden und künftig nicht mehr separat ausgewiesen werden (Änderung des § 2 Nr. 3 IfG durch Art. 2 SFG).

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wicklung gewichen ist, wird ab 2005 in dieses System integriert 110 , wobei die Annuitäten von diesem Zeitpunkt an ausschließlich vom Bund getragen werden. Dies gilt auch für den Restbetrag, sofern er 6,544 Mrd. € nicht übersteigt; andernfalls werden auch die alten Bundesländer einstandspflichtig 111. Von Sonderergänzungszuweisungen wegen „überdurchschnittlich hoher Kosten politischer Führung" sollen gemäß § 11 Abs. 4 FAG 2001 zehn statt bisher neun Länder profitieren. Ob diese Regelung § 12 Abs. 6 MaßstG, der eine überproportionale (und nicht lediglich „überdurchschnittliche") Belastung durch diese Kosten im Hinblick auf seine Einwohnerzahl zur Grundlage von Ausgleichszahlungen macht, Genüge getan ist, muss bezweifelt werden. Entgegen den vom BVerfG aufgestellten Anforderungen 112 wird der Ausgleich für Kosten politischer Führung nicht nachvollziehbar begründet; die bloße Auflistung von Zahlen entspricht nicht dem Gebot transparenter Ausgestaltung.

IV. Fazit und Ausblick Im künftigen Finanzausgleichssystem halten Wettbewerbs- und Solidarprinzip einander scheinbar die Balance. Tatsächlich jedoch trägt der Bund immer größere Teile der finanziellen Lasten, neben denen der horizontale Ausgleich unter den Ländern zu verblassen droht. Das BVerfG wies dem Bund die gesetzgeberische Verantwortung für die Regelung des Finanzausgleichs - und die Einstandspflicht für den Fall ihres Scheiterns - zu 1 1 3 , erhob ihn also zum Garanten für die finanziellen Grundlagen des föderalen Systems. In Wahrheit hat der Bund auch die Rolle des Kassenwarts und weitgehend auch die des Financiers übernommen. Auch wenn die degressive Ausgestaltung der Ergänzungszuweisungen an die Neuen Länder auf ihre mähliche „Entlassung" in die finanzielle Selbständigkeit gerichtet ist, bleiben sie doch auf Jahre hinweg vom Bund, dessen Kostgänger sie sind, finanziell abhängig. Diese Verlagerung des seiner Ratio nach „bündisch" geprägten, also vornehmlich horizontalen Finanzausgleichs in die Vertikale ist unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Abmilderung vereinigungsbedingter Disparitäten eine in gewissem Umfang hinnehmbare Abweichung vom verfassungsrechtlichen Ideal 114 . Der Preis 110

Das BVerfG hatte dem Bund freigestellt, die Belastungen aus dem Fonds entweder wie geschehen - in den allgemeinen Finanzausgleich einzubeziehen oder die bestehenden Belastungen mit diesem Ausgleich abzustimmen (BVerfGE 101, 158 [237]). 111 Andernfalls müssen die westdeutschen Länder „einschließlich West-Berlins" 53,3% des über 6.544.536.079,31 € (53,3 Mrd. DM) liegenden Betrags begleichen, § 6b Gesetz über die Errichtung eines Fonds „Deutsche Einheit" (eingefügt durch Art. 8 SFG). 112 BVerfGE 101, 158(235). 113 BVerfGE 101, 158 (219). Vgl. auch Degenhart (Fn. 38), S. 90; kritischer zu dieser Bundesverantwortung etwa Selmer (Fn. 60), S. 30 f., 33.

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für das Abwälzen der Ausgleichsverantwortlichkeit von den um Besitzstandswahrung bemühten Geberländern auf den Bund dürfte jedoch in der weiteren Unitarisierung des deutschen Bundesstaats bestehen. Selbst wenn die finanzielle Sanierung der Neuen Länder gelingen sollte, bleibt die Existenzgrundlage der meisten Gliedstaaten schmal, ertönt der Ruf nach Ausgleich durch den Bund - der außerhalb des zweiten Solidarpaktes mitunter mit Wohlverhalten erkauft werden wird auch künftig noch. Der Wahrung der Eigenstaatlichkeit der Länder wäre mit einer Reform mehr gedient gewesen, welche ihnen höhere Steuererträge zugesprochen, eine ausreichende Grundlage für den Ausgleich im Verhältnis der Länder untereinander gewährleistet und damit die Ergänzungszuweisungen auf die ihnen ursprünglich zugedachte Funktion eines Korrektivs zurückverwiesen hätte 115 . Der Grund für eine solche Reform, die auch mit Verfassungsänderungen einhergehen müsste, hätte durch eine - über die vorliegenden Pläne zur Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a f. GG) hinaus gehende - Aufgabenentflechtung (ζ. B. nach Schweizer Vorbild) gelegt werden können, durch welche zugleich der Umfang der Verteilungsmassen begrenzt würde 116 . Ob die kosmetischen Korrekturen des Bund-Länder-Kompromisses bis 2019 Bestand haben werden, erscheint insofern zweifelhaft. Wahrscheinlicher ist, dass die Konflikte in absehbarer Zeit erneut aufflammen 117. So bleibt trotz der Bemühungen, dem Finanzausgleich ein dauerhaftes Korsett anzulegen, die Zukunft des deutschen Föderalismus offen. Das Urteil vom 11. November 1999 bestätigt die Garantiefunktion, die dem Finanzausgleich - besonders seit seiner Einführung im Osten Deutschlands - für die Eigenstaatlichkeit der Länder zukommt. Auch wenn sein Ziel und Zweck ist, fiskalische Ungleichheiten zwischen den föderalen Gliedern durch Ausgleichszahlungen zu mildern, bleibt doch die Ursache der Ungleichheiten unangetastet: die Vielgestaltigkeit der föderalen Struktur. Reiner „Wettbewerbsföderalismus" setzte Länder voraus, die sich in Größe und Wirtschaftsstruktur zumindest ähnlich sind, da nur unter dieser Voraussetzung vergleichbare Wettbewerbsbedingungen herrschen und damit ein späterer Ausgleich entbehrlich werden könnte. Eine umfassende Länderneugliederung jedoch - schwerlich ein erfolgreiches Unterfangen - ist insofern einerseits erstrebenswert 118, könnte andererseits aber auch die Ratio des Föderalismus, Vielfalt in

im Vgl. pm Selmer, Finanzverfassung im Umbruch, in: FS Carl Heymanns Verlag, Köln u. a. 1995, S. 231 (246). 115

Zur die gänzliche Abschaffung der Bundesergänzungszuweisungen, ausgenommen Sonderbedarfszuweisungen an die Neuen Länder, befürwortenden Meinung Arndt /Benda et al. (Fn. 44), S. 206. 116 Vgl. Bull/Mehde (Fn. 16), S. 310 ff., die besonders die Solidaritätsgerichtetheit der Schweizer Diskussion rühmen (S. 311). 117 Handelsblatt vom 25. 6. 2001, S. 11. us Vgl. etwa A. Ottnad/E. Linnartz, Föderaler Wettbewerb statt Verteilungsstreit. Vorschläge zur Neugliederung der Bundesländer und zur Reform des Bundesfinanzausgleichs, Frankfurt a. M. 1997, insbes. S. 175 ff. m. w. N.; A. Ottnad, Neufassung des Länderfinanz-

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der Einheit zu bewahren, in Frage stellen. Wenn die föderale Gliederung dem Gebot wirtschaftlicher Effizienz und nicht mehr dem Kriterium historischer und landsmannschaftlicher Zugehörigkeit folgt und sich auf diese Weise ihrer identitätsvermittelnden Funktion begibt, stellt sich die Frage nach dem Sinn der Bundesstaatlichkeit (die sich eben nicht mit einer bloßen Kosten-Nutzen-Rechnung beantworten lässt) 119 . Immerhin finden sich auf der Agenda der Politik Ansätze für erste Reformen im deutschen Föderalismus, die nicht erst am Finanzausgleich ansetzen. Die derzeit diskutierten Vorschläge sehen u. a. die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern vor. Die Entzerrung und damit Beschleunigung der bislang komplexen Entscheidungsverfahren könnte - so ihre Apologeten - nicht nur die Position der Länder im Bund, sondern auch die der BR Deutschland im europäischen und globalen Wettbewerb stärken 120 . Damit kann es sein Bewenden nicht haben. Geboten erscheint eine vertikale Entflechtung der Rechtsbeziehungen von Bund und Ländern, also eine solche, die aufeinander folgende Rechtsvorgänge Normgebung, Normausführung, Steuerhoheit, Kostentragung und Finanzausgleich - erfasst und sie aufeinander abstimmt 121 . So wird man darüber diskutieren müssen, ob an die Stelle der Kompetenzvermutung zugunsten der Länder in Art. 70 GG nicht nach spanischem Vorbild ein Zuständigkeitskatalog treten sollte, der den Ländern auch bedeutende Gesetzgebungszuständigkeiten in Steuerangelegenheiten zuweisen sollte. Die Verteilung des Steueraufkommens sollte so eng wie möglich an die Gesetzgebungszuständigkeit angelehnt und zum „diffusen Föderalismus" der Gemeinschaftssteuern Abstand genommen werden. Ein solches Reformsystem könnte dazu beitragen, die Vorteile föderaler Verschiedenheit zu wahren und zu effektuieren; die erweiterte finanzielle Autonomie der Länder böte Gewähr dafür, dass der bundesstaatliche Finanzausgleich, wo er denn erforderlich würde, wieder zur plurilateralen Angelegenheit der Gliedstaaten würde. Der Entwicklung in Richtung eines Föderalismus „von Bundes Gnaden", dessen Solidaritätspflichten in einer Vielzahl bilateraler Rechtsbeziehungen einseitig den Bund treffen, würde Einhalt geboten.

ausgleichs: Anstoß für eine Neugliederung des Bundesgebiets?, in: K. Eckart/H. W. Jenkis (Hrsg.), Föderalismus in Deutschland, Berlin 2001, S. 175 (184 ff.). 119 Vgl. auch Selmer (Fn. 60), S. 60 f.: „Der Finanzausgleich ist allein nach Maßgabe der vorhandenen Länder zu gestalten - so wenig manche von ihnen (und dazu gehören jetzt die meisten ostdeutschen Länder) nach ihrer Größe und/oder Finanzkraft den Vorstellungen entsprechen, die mit einer bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Aufgabenerfüllung verbunden werden." 120 Vgl. die Reformvorschläge des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (SZInterview vom 25. 6. 2001, S. 2). 121 I. d. S. das am 23. 5. 2000 von den Präsidenten der deutschen Landesparlamente beschlossene Diskussionspapier zur „Weiterentwicklung und Stärkung des Föderalismus", in: ZG-Sonderheft 2000, S. 5 ff. (m. Anm. Janssen, S. 41 ff.); vgl. auch die Forderungen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement (SZ vom 19. 6. 2001, S. 25).

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Die hier skizzierten Reformansätze dürften wohl an den Ritualen und Verknöcherungen im deutschen Bundesstaat weitgehend scheitern. Zukunft könnte ihnen jedoch andernorts beschieden sein: in Gemeinwesen, deren föderale Strukturen noch fragil und ausbaubedürftig sind wie in Bosnien-Herzegowina (BIH) oder die noch nicht die Qualität eines bundesstaatlichen Gefüges erreicht haben, was insbesondere auf die EU zutrifft. Die Verfassung von Bosnien-Herzegowina (BIHV) statuiert lediglich eine Pflicht der Föderation Bosnien-Herzegowina und der Republika Srpska (RS), den Bund (im Verhältnis 2/3 zu 1/3) zu alimentieren (Art. VIII. 3 BIHV), nicht jedoch eine solche der Entitäten zu gegenseitiger finanzieller Unterstützung. Mit der Etablierung eines transparenten horizontalen Finanzausgleichs in BIH würde jene bündische Solidarität verfassungskräftig festgeschrieben, die als selbstverständliches Merkmal föderaler Systeme anzusehen ist. Eine solche Verfassungsergänzung setzt indes den Willen zu solidarischem Zusammenwirken im Sinne der eingangs angesprochenen „Bruderliebe" voraus. BIH, dessen Zusammenhalt vorwiegend durch außenpolitischen Druck gewährleistet ist, fehlen derzeit noch die hierfür erforderlichen Kohäsionskräfte. Die fortwährende Vergemeinschaftung der Rechts- und Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen eines „immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker" eröffnet dem Solidargedanken in der Europäischen Union immer weiteren Raum 122 . Darauf deuten nicht nur die in der Präambel zum EG-Vertrag aufgeführten Ziele der Beseitigung trennender Schranken durch sozialen Fortschritt, der Verbesserung der Lebens- und Wirtschaftsbedingungen sowie der harmonischen Entwicklung der Volkswirtschaften unter Verringerung des zwischen ihnen bestehenden wirtschaftlichen Abstandes hin. Art. 2 EG-Vertrag erhebt die u. a. auf ausgewogener Entwicklung des Wirtschaftslebens und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen beruhende Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten explizit zu einer Aufgabe der Gemeinschaft. Der EU-Vertrag (EUV) nimmt in seiner Präambel 123 sowie in Art. 1 Abs. 3 EUV, welcher der Union zur Aufgabe macht, „die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten", auf das Solidarprinzip Bezug. Gleichwohl verfügt die EG bzw. EU bis jetzt über kein Finanzausgleichssystem im engeren Sinne 124 . Die Verwirklichung der Solidaridee erfolgt vorwiegend durch Auskehrung von Fördermitteln der EG (Strukturfonds, Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei [FIAF], Zahlungen der Europäischen Investitionsbank 122 Vgl. a u c h Chr. Tomuschat, Solidarität in Europa, in: Du droit international au droit de l'intégration. Liber Amicorum Pierre Pescatore, Baden-Baden 1987, S. 729 ff. (741 ff. zur „finanziellen Solidarität"); E. A. Marias, Solidarity as an Objective of the European Union and the European Community, Legal Issues of European Integration 1994/2, S. 84 (insbes. 103 ff.). 123 4. Erwägungsgrund: „ [ . . . ] die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken." 124 Vgl. Chr. Waldhoff, Probleme des europäischen Finanzausgleichs im Lichte der Erweiterung der Europäischen Union, ZEuS 2000, S. 201 (203 ff.).

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[EIB], Kohäsionsfonds) 125. Die weitere Verdichtung und Vernetzung der Rechtsund Wirtschaftsbeziehungen könnte Anlass dazu geben, dieses zentralisierte, aber lückenhafte Nebeneinander unterschiedlicher Ausgleichsinstrumente durch ein System des primär horizontalen Ausgleichs nach dem Modell des GG abzulösen, welches die Mitgliedstaaten in eine wahre Solidargemeinschaft einbindet 126 . Nur müsste es Europa gelingen, Widersprüche und Defizite zu vermeiden, unter denen das deutsche Finanzausgleichssystem auch nach dem jüngsten Urteil des BVerfG noch leidet. Gewisse Disparitäten sind dem Föderalismus zwar immanent, operiert er doch im Spannungsfeld von regionaler und gesamtstaatlich-kollektiver Identität, von partikulärem Egoismus und Solidarverhalten. Ein wohl durchdachter und fein austarierter Ausgleichsmechanismus sollte diese Spannungen jedoch in kreativer und konstruktiver Weise nutzen. Zumindest eine vage Hoffnung kann darauf gesetzt werden, dass Europa dereinst jene Konflikte erspart bleiben, die sich in Deutschland immer wieder am föderalen Finanzausgleich entzündet haben.

125 Vgl. Häde (Fn. 10), S. 489 ff.; E. Kohl/J. Bergmann, Europäischer Finanzausgleich?, Köln 1998, S. 127 ff.; P. Selmer, Der Finanzausgleich innerhalb der Europäischen Union, in: Liber amicorum Jaenicke, Berlin u. a. 1998, S. 833 ff. 126 Nachw. bei Kohl/Bergmann (Fn. 125), S. 48 ff. 15 Graf Vitzthum/Winkelmann

Nachwort Ende 2002 summieren sich sieben Jahre seit dem Friedensschluss von Dayton/ Paris. In diesem Zeitabschnitt hat Südosteuropa wichtige Etappen durchlaufen und markante politische Veränderungen erfahren. Zu den wichtigsten zählen die Kosovo Krise einschließlich der militärischen Intervention der NATO, das Ende des Regimes Tudjmdn in Kroatien (mit einem nachfolgenden EU-Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen), Wahlsieg und Regierungsübernahme durch die Opposition in der Bundesrepublik Jugoslawien, die Auslieferung von Slobodan Milosevic an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, zählen Unabhängigkeitsbemühungen in Montenegro und Rahmenabkommen mit Serbien, die Eingrenzung des Konflikts in Mazedonien sowie die dynamischen EU-Beitrittsverhandlungen von Slowenien.

I. In diesem Umfeld hat sich Bosnien-Herzegowina behauptet, mit all seiner Kompliziertheit, seinen Bruchstellen und seiner Fragilität, wie sie aus den Beiträgen zu diesem Band so deutlich zu Tage treten. Dass dieser im Jahr 1995 auf neue Fundamente gestellte Staat überlebt hat, ist bereits ein Erfolg an sich. Dass das Überleben nur mit tatkräftiger Hilfe Europas und der Internationalen Gemeinschaft insgesamt erfolgte, ist dabei kein Makel. Welche Faktoren aber haben zum Gelingen dieses Prozesses der Staatswerdung und -Stabilisierung beigetragen? Das Engagement der Internationalen Gemeinschaft. Die Unterstützung Bosnien-Herzegowinas durch die Internationale Gemeinschaft ist ohne Beispiel. Sie trägt, trotz fehlender militärstrategischer oder ressourcenbezogener Interessen traditioneller Art, der regionalen Bedeutung des kleinen Landes über seine eigenen Grenzen hinaus Rechnung. Zuallererst sind hier die Behörde des Hohen Repräsentanten zur Umsetzung des Friedensrahmenabkommens von Dayton, der militärische Apparat von SFOR und die zahlreichen in der Flüchtlingsarbeit tätigen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, allen voran UNHCR, zu nennen. EU, OSZE, UNMIBH, IPTF, Europarat und viele andere mehr haben ebenfalls Anteil an dem Erfolg. Das Engagement war finanzieller, militärischer, sozialer und nicht zuletzt politischer Natur. Der Kitt des Zusammenhalts der auseinanderdriftenden Bevölkerungsgruppen des Landes war dünn; ohne das oktroyierende Einwirken der Internationalen Gemeinschaft in einfachsten symbolischen Bereichen wie ge1*

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meinsame Autokennzeichen, Ausweispapiere, Hymne etc. wäre er wohl zu dünn gewesen. Fortschreitender Demokratisierungsprozess. Mit Hilfe der von der OSZE bis 2000 vorbereiteten, finanzierten und durchgefühlten Gesamtstaats- und Landeswahlen waren von Beginn an demokratisch legitimierte Regierungen am Aufbau des Gemeinwesens beteiligt. Man mag sich zurecht fragen, ob die frühe Durchführung von Wahlen nicht in erster Linie die alten warlords auf allen Seiten begünstigt und ethnische Risse perpetuiert hat. In künftigen Situationen sollte die Frage durchaus gestellt werden, ob ein benign protectorate der EU oder der Internationalen Gemeinschaft insgesamt für eine Anfangszeit nicht dem mittelfristigen Demokratisierungsprozess zuträglicher ist. In Bosnien-Herzegowina gelang es der einzigen erkennbaren nennenswerten politischen Kraft, deren Fundament nicht auf ethnischen Zugehörigkeiten ruhte, den Sozialdemokraten unter Zlatko Lagumdzija, erst Anfang 2001, eine Führungsrolle zu übernehmen und zusammen mit kleinen, fortschrittsbereiten Splitterparteien Regierungen im Gesamtstaat und im Landesteil Föderation zu bilden. Trotz erstem Aufruhr konnten die nationalistischen, z.T. separatistischen Bewegungen auf allen Seiten (vor allem die bosnischen Kroaten mittels des self-rule- Vorstoßes vom März 2000, zumindest in zeitlichem Zusammenhang auch die bosnischen Serben in Gestalt der in eine gemäßigte Regierung des Landesteils Republika Srpska eingebundenen Vertreter der ehemaligen Karadzic-Partei SDS) dem wenig entgegensetzen. Die Anpassung der Entitätsverfassungen an die des Gesamtstaats im Frühjahr 2002 stellt den vorläufigen Endpunkt dieser Art Zivilisierung des Gemeinwesens dar, auch wenn die Wahlergebnisse im Herbst 2002 und ihre Umsetzung bei Abfassung dieses Bandes noch ausstehen. Rechtsstaatliche Strukturen. Die erheblichen Anstrengungen, welche Internationale und Supranationale Organisationen, einzelne Staaten sowie zahlreiche Experten und Berater in die Stärkung des Justizsystems von Bosnien-Herzegowina investiert haben, werden wohl erst im späteren Rückblick gebührend gewürdigt werden können. Einen hervorgehobenen Platz nimmt dabei das Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina mit seinen sechs einheimischen und drei ausländischen Richtern ein, zu deren Beraterstab, das soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, auch ein Deutscher gehört. Drei der Richter sind in diesem Sammelband zu Wort gekommen. Die eigentliche Leistung des Gerichts bestand darin, trotz erheblicher interner Friktionen und Animositäten über seine gesamte erste Amtszeit hinweg nicht auseinandergebrochen zu sein. Trotz des ungeheuren politischen Drucks hat das junge Gericht mutig judiziert; im Fall der Rechte und Pflichten der „konstitutiven" Volksgruppen und in dem Fall des Rechtsschutzes gegenüber dem OHR hat das Gericht richtungweisende, innovative Urteile gefällt. Die Strahlkraft des Verfassungsgerichts soll nicht die Fortschritte verdunkeln, die auch auf vielen anderen justiziellen Gebieten erzielt wurden bzw. an deren Erreichung gearbeitet wird: die Uberprüfung und Neuausbildung von Richtern und Staatsanwälten, die Schaffung und Bewahrung multiethnischer Kantonalgerichte, die Einrichtung eines

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Obersten Bundesgerichts. Noch gibt es viel zu tun; bis heute verfügt Bosnien-Herzegowina nicht über ein modernes, unabhängiges, effizientes Justizsystem. Europäische Einflüsse. Mitgliedstaaten der EU, Europäische Kommission und Europarat haben finanziell und wirtschaftlich Wesentliches zur Stabilisierung des Landes beigetragen. Europäer haben von Beginn an die Führungsposition bei der zivilen Umsetzung des Friedensrahmenabkommens innegehabt. Die Perspektive eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit der EU - also nicht die sanction of non-participation, sondern die von EU-Seite stets unterstrichene Aussicht auf (auch finanzwirksame) participation - war ein wichtiges, auch von den USA gern und ungefragt genutztes Vehikel, um Reformprojekte durchzusetzen, mag es auch weiterhin bereits an den Voraussetzungen zur Durchführung einer einschlägigen Machbarkeitsstudie mangeln. Der lang angestrebte Beitritt des Landes zum Europarat erfolgte nach ausgiebigem Prüfen und Ringen im April 2002, immerhin zeitlich vor dem der Bundesrepublik Jugoslawien. Die Europarats-Mitgliedschaft stützt nicht nur die aktuelle Regierung; sie verpflichtet Bosnien-Herzegowina vielmehr auch und vor allem zur Beachtung und Durchsetzung europäischer Standards - zumal im Bereich der Menschenrechte - auf seinem gesamten Staatsgebiet, also in beiden Landesteilen, in allen Kommunen. Der Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina ist seit Mitte 2002 in Personalunion auch Sonderbeauftragter der EU für Bosnien-Herzegowina - ein glückliches dédoublement fonctionel. Das nation-building in Südosteuropa findet „im Horizont Europas" statt, gewiss. Aber was folgt daraus für die derzeitigen Beratungen des Brüsseler Verfassungskonvents, für Tempo, Modalitäten und Radius der anstehenden Südund Ost-Erweiterung der EU, zumal für die Vertiefung der gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik? Friedensbewahrung. Die militärische Präsenz von SFOR garantierte und garantiert die Bewahrung friedlicher Zustände im Lande nach dem Waffenstillstand im Spätherbst 1995. SFOR hat - trotz einer streng militärisch definierten Mandatserfüllung - in Gestalt der sog. CIMIC-Einheiten Wesentliches zur Akzeptanz der Staatswerdung auf Seiten der Bevölkerung und zur Initiierung und Durchsetzung von Flüchtlingsrückkehrströmen vollbracht. Die Verbindung eines militärischen Auftrags mit sozialen Projekten wie Flüchtlingssiedlungen, Kinderheimen, Brükkenbau, Gerichtsausstattungen etc. kann als besonders geglückt bezeichnet werden; noch im Rückblick verdient dieses Schema hohen Respekt. Dass SFOR auch an der Herstellung gesamtstaatlicher Strukturen in Form von Bemühungen um eine einheitliche Verteidigungsstrategie und um ein entsprechendes Sicherheitsgefüge im Lande beteiligt war, sei hier nur angemerkt.

II. Natürlich gehört zu den lessons learned der ersten sieben Jahre nach Dayton auch das, was nach heutiger Erkenntnis als weniger gelungen anzusehen ist.

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Schleppende Prozesse. Die verzeichneten Fortschritte wirken angesichts der investierten Mittel oftmals als zu langsam - fast so, als habe die „Entdeckung der Langsamkeit" hier, auf dem Balkan, stattgefunden. Das geringe Tempo beeinträchtigt den Bleibewillen der Jugend (die Ausreise-, ja Auswanderungswelle reißt nicht ab), vor allem aber den Prozess des wirtschaftlichen Aufbaus. Nicht einmal McDonalds hat sich getraut, in Bosnien-Herzegowina Filialen zu eröffnen - dafür aber im südserbischen Nis! Der Umbau der früheren, in großen Teilen auf Rüstungsgütern beruhenden, heute teils zerstörten, teils völlig veralteten Staatsindustrie von Bosnien-Herzegowina ist kaum vorangekommen. Die einheimischen Beteiligten sind aus vielerlei Gründen zu wenig an langfristigem Aufbau und an der Schaffung attraktiver Investitionsbedingungen interessiert; das Engagement des Auslands weist häufig eine zu geringe personelle und konzeptionelle Qualität auf. Stellvertretend für Vieles sei hier nur erwähnt, dass es an dem Ratschlag eines westlichen Konsultanten lag, dass in Bosnien-Herzegowina zur Privatisierung ein eher untaugliches voucher- System eingeführt wurde; es bescherte den maroden Betrieben statt neuem Kapital eine Vieltausendzahl von Papieranteilseignern, die selbst bedürftig sind, und war damit alles andere als für dieses besonders kapital- und investitionsarme Land maßgeschneidert. Diese Defizite haben sich nicht nur auf die Wirtschaft als solche schädlich ausgewirkt; sie haben vielmehr auch den Rückkehrprozess von Flüchtlingen behindert, für die keine Arbeitsmöglichkeiten geschaffen wurden. Diese Zusammenhänge mögen die Rückkehr oftmals mehr behindert haben als zerstörtes Hab und Gut oder Anfeindung durch die alten/neuen Nachbarn. Streamlining. Die Instrumente der Internationalen Gemeinschaft unterliegen wie jede Organisation Bürokratisierungsprozessen. Im Laufe der Jahre sind die in Bosnien-Herzegowina engagierten Institutionen zunehmend gewachsen, in vielerlei Richtungen. Ihre Aufgabenbereiche haben sich vielfach überschnitten, die Koordinierungsnöte nahmen rasch zu. Diese Fehlentwicklung wurde erkannt. Seit Ende 2000 ist ein streamlining eingeleitet, das Mitte 2002 abgeschlossen worden ist. Als Ergebnis dieses Rationalisierungsprozesses besteht nun eine klarere Aufgabendefinition unter den Hauptbeteiligten OHR, OSZE, UNMIBH und UNHCR. Sie hat auch zu einer Stärkung der Rolle des Hohen Repräsentanten geführt. Besitzstandsdenken. Bis zum heutigen Tage gestalten sich Entscheidungsprozesse in Bosnien-Herzegowina - wie andernorts auch, nicht nur in Südosteuropa, aber eben derzeit doch vor allem „dort hinten" - nicht anhand von Sachargumenten, sondern aufgrund ethnischer Machtüberlegungen sowie durchschlagenden Partei- und Partikularinteressen. Investitionen und Mitteleinsätze erfolgen nicht dort, wo sie in dem multiethnischen Staat am meistversprechenden sind, sondern dort, wo sie der „richtigen", d. h. der eigenen Volksgruppe oder Minderheit zugute kommen; zugespitzt hat ein ausländischer Beobachter insofern von „ethnischer Programmierung" des Zwei-Entitäten-Staates, ja von einem „völkischen ZwillingsBundesstaat" gesprochen. So gehen auch Stellen und Ämter nicht an den qualifiziertesten Bewerber, sondern an den, der aus der „richtigen" Ethnie kommt; Wähler entscheiden sich durchweg weniger für den, der als der qualifizierteste Bewer-

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ber erscheint, als für den, der einer der „ihren" ist; Schulausbildung für Kinder scheint erst dann als unverzichtbar zu gelten, wenn sie in der „richtigen" (ethnischen) Lesart erfolgt, etc. Die Internationale Gemeinschaft muss sich fragen lassen, ob sie mit manch pragmatischem Verhalten (ethnische Quotierung von Programmen und Delegationen) und mancher Rechtsreform (landesweite Durchsetzung von ethnischen Quotierungen in den Regierungen und Apparaten sowie Schaffung sog. „Volksgruppenräte", welche die ethnische Repräsentation nicht demokratisieren und relativieren, sondern „völkisch" portionieren und zementieren) nicht selbst ungewollt und indirekt zu solch ethnischem Besitzstandsdenken beigetragen hat und weiterhin beiträgt. Mehrheitsdemokratische Kosten internationaler Staatsbildungs- und einzelstaatlicher (also nach innen gerichteter bosnisch-herzegowinischer) Integrationspolitik dürften nur für eine Ubergangszeit hinnehmbar sein. Eigeninteressen der Internationalen Gemeinschaft. Sieben Jahre geballten Einsatzes liegen hinter dem Engagement Europas und der Internationalen Gemeinschaft insgesamt. Eine tiefen Respekt fordernde Menge an altruistischem Engagement Einzelner ist darin enthalten; man ist an die Transformation Ostdeutschlands nach der Wiedervereinigung erinnert - das nachhaltige persönliche Engagement ungezählter Einzelner war fast noch eindrucksvoller als die umfassenden staatlichen, kommunalen und europäischen Hilfsprogramme. Nebenerscheinungen in Bosnien-Herzegowina, so misslich sie sein mögen (überhöhte Gehälter, Zerstörung lokaler Gehaltsstrukturen, Prostitution), verkehren diese Bilanz nicht in ihr Gegenteil. Nachdenklicher stimmen zwei andere Entwicklungen. Zum Einen: Die Bestandteile der Internationalen Gemeinschaft beginnen, ihre Eigeninteressen zu entdecken. Immer häufiger unterliegen Entscheidungen, bei denen lokale, ausländische, europäische und internationale Entscheidungsträger in Bosnien-Herzegowina zusammenzuwirken haben, Erwägungen, denen pointiert wirtschaftliche Interessen einzelner Akteure der Internationalen Gemeinschaft i. w. S. zugrunde liegen. Standen am Anfang der Unterstützung des Landes Kriegsfolgeneindämmung und Hilfe für den jungen multiethnischen Bundesstaat im Vordergrund, treten nun zunehmend Eigeninteressen der Handelnden zu diesen Motiven hinzu. Die Tatsache, dass dies im Hinblick auf die - nach wie vor schleppende - Privatisierung ganzer Industriebranchen und Dienstleistungsbereiche sogar nachvollziehbar sein mag, macht es nicht weniger misslich, auch angesichts der Abhängigkeit Bosnien-Herzegowinas von außen, zumal vom institutionellen Europa. Zum Zweiten: Die Internationale Gemeinschaft unterliegt in ihrem Handeln bisher zu geringen bzw. nicht zureichend wahrgenommenen Kontrollen. Die Eingriffsbefugnisse der Internationalen Gemeinschaft sind weit und tief; sie sind aber kaum hinreichend definiert, und die Ausübung erfolgt weithin autonom. Dies muss zu Friktionen führen. Zum Teil werden Konflikte sehenden Auges geschürt, etwa wenn vereinzelte rechtlich fragwürdige Entscheidungen der OSZE zur Änderung von Wahlregeln von führender Stelle öffentlich mit dem Argument verteidigt wer-

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den, man (die Internationale Gemeinschaft) sei durchaus nicht an die Verfassung des Landes gebunden, in dem man agiert. Das bosnisch-herzegowinische Verfassungsgericht hat sich selbst in diesem Kontext in einem mutigen, inzwischen mehrfach bestätigten Judikat die Zuständigkeit zugesprochen, Maßnahmen der Internationalen Gemeinschaft zumindest dann auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen, wenn diese Akte in der Form eines Parlamentsgesetzes ergehen. Dies betraf und betrifft wohl nur die Amtsausübung des Hohen Repräsentanten, der über entsprechende (subsidiäre Legislativ-) Befugnisse verfügt, weist aber insgesamt in die richtige Richtung: Auch die Internationale Gemeinschaft, auch ihre Organisationen, Akteure und Aktionen sind - natürlich - an rechtsstaatliche Grundsätze sowie an die internationalen Normen gebunden, in denen Rechtsstaatselemente und damit die rule of law verankert sind. Hier kommen, um nur die wichtigsten Maßstäbe zu nennen, die Charta der Vereinten Nationen, die allgemeinen Menschenrechtsstandards, insbesondere die beiden VN-Menschrechtspakte und die EMRK, sowie das IGH-Statut (mit seinem Verweis etwa auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze) in Betracht. Soweit die Einhaltung dieser Rechtsstaatselemente durch die Hauptquartiere in New York, Wien oder anderswo nicht immer gewährleistet ist - was aufgrund der Verfasstheit der Internationalen Organisationen erfahrungsgemäß leider unvermeidlich ist - , müssen zusätzliche, andere Formen der Verantwortung und Kontrolle gefunden werden. Diese Aufgabe stellte und stellt sich nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern auch in anderen internationalen Ubergangsverwaltungen; man denke nur an Ost-Timor oder Kosovo. Möglicherweise ist das bosnischherzegowinische Verfassungsgericht, das in Bosnien-Herzegowina einen Teil dieser Aufgabe zu schultern versucht, ist also ein aus einheimischen und ausländischen Juristen bestehendes Oberstes Richtergremium ein Fingerzeig in die Richtung möglicher Lösungsansätze - auch andernorts.

III. Der Überlebenskampf von Bosnien-Herzegowina - der Staatsaufbau und -ausbau an der Hand der Internationalen Gemeinschaft insgesamt und im Horizont Europas - hat nicht nur eine Vielzahl von internen Eigenheiten und lessons learned zu Tage gebracht. Es scheint, dass er auch der Staatengemeinschaft selbst und nicht zuletzt der EU zu eigenem Lernen und Fortschreiten dient. Auch deshalb verdienen die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit Bosnien-Herzegowinas, die im Mittelpunkt vorstehender Beiträge stehen, unser aller Interesse, vor allem die einschlägigen demokratischen und föderativen Aspekte. Zumal aus der Sicht des institutionellen Europas sollte dieses Interesse weit über das Jahr Sieben nach Dayton hinausreichen. Der sich stabilisierende demokratische Bundesstaat BosnienHerzegowina verlangt und verdient Europas nachhaltiges Engagement und damit auch das unserer Wissenschaft vom Öffentlichen Recht. Wolf gang Graf Vitzthum/Ingo

Winkelmann

Die Autoren Abu Dalu, Firass, Wissenschaftlicher Assistent, Juristische Fakultät, Universität Liège, Belgien Ademovic, Nedim, Mag. jur., Rechtsberater am Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas, Sarajewo, Bosnien-Herzegowina Begic, Kasim, Prof. Dr. jur., Richter (und vormaliger Präsident) des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas, Sarajewo, Bosnien-Herzegowina Kämmerer, Jörn Axel, Prof. Dr. jur., Bucerius Law School, Hamburg, Bundesrepublik Deutschland Malinverni,

Giorgio, Prof. Dr. jur., Juristische Fakultät, Universität Genf, Schweiz

Markert, Thomas, Dr. jur., Leiter des Referats für verfassungsrechtliche Zusammenarbeit im Sekretariat der Venedig-Kommission des Europarats, Straßburg, Frankreich Matscher, Franz, Prof. Dr. jur. em., Internationales Forschungszentrum, Edmundsburg, Osterreich Miljko, Zvonko, Doc. Dr., Stellvertretender Präsident des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas, Sarajewo, Bosnien-Herzegowina Peters, Hans Jochen, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Sarajewo, Bosnien-Herzegowina Petritsch, Wolf gang, Botschafter, Hoher Repräsentant für Bosnien-Herzegowina 1999-2002, Sarajewo, Bosnien-Herzegowina Savie, Snezana, Prof. Dr. jur., Präsidentin des Verfassungsgerichts Bosnien-Herzegowinas, Sarajewo, Bosnien-Herzegowina Steiner, Christian, Ass. jur., Rechtsberater am Verfassungsgericht Bosnien-Herzegowinas, Sarajewo, Bosnien-Herzegowina Vitzthum, Wolfgang Graf, Prof. Dr. jur., Dr. h.c., LL.M. (Columbia), Juristische Fakultät, Universität Tübingen, Bundesrepublik Deutschland Winkelmann, Ingo, Dr. jur., Vortragender Legationsrat, Auswärtiges Amt Berlin, Bundesrepublik Deutschland (1998-2001 stellvertretender Leiter der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sarajewo, Bosnien-Herzegowina)