Biopolitik und Recht. Christoph Menkes Kritik rechtlicher Normativität im Spektrum biopolitischer Theorien [1. ed.] 9783756005390, 9783748938941

273 24 2MB

German Pages 445 Year 2023

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Biopolitik und Recht. Christoph Menkes Kritik rechtlicher Normativität im Spektrum biopolitischer Theorien [1. ed.]
 9783756005390, 9783748938941

Table of contents :
Cover
Einleitung
TEIL I Rekonstruktion: Christoph Menkes Kritik der Rechte
Kapitel 1
1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik
1.1.1 Der Ausgangspunkt: Das Recht als Paradox
1.1.2 Der rechtsphilosophische Kontext: Walter Benjamins Kritik der Gewalt
1.1.3 Zur Fundamentalstruktur des Rechts: Die Unterscheidung von Norm und Natur
1.1.4 Selbstreflexion: Die Revolution des modernen Rechts
1.1.5 Zur Geschichtsphilosophie: Die Differenz von modernem und traditionellem Recht
1.1.6 Die Autonomie des modernen Rechts und der Primat der Rechte
1.1.7 Die Form der subjektiven Rechte als Verrechtlichungsprozess
1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts
1.2.1 Zur Dialektik von Beherrschung und Berechtigung
1.2.2 Der ideologische Charakter des bürgerlichen Rechts
1.2.3 Zur Aporie der subjektiven Rechte: Die Legalisierung des Eigenwillens
1.2.4 Das bürgerliche Recht als soziale Pathologie
Kapitel 2
2.1 Die beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts: Privatrecht und Sozialrecht
2.2 Menkes Kritik des Privatrechts
2.2.1 Das Privatrecht als Bedingung kapitalistischer Ausbeutung und Klassenherrschaft
2.2.2 Menkes Begriffsbestimmung des Privatrechts: Die Erlaubnis der Willkür
2.2.3 Der philosophiegeschichtliche Kontext: Marx‘ Kritik der Menschenrechte
2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts
2.3.1 Menkes Begriffsbestimmung des Sozialrechts: Die Ermöglichung des Interesses
2.3.2 Der analytische Hintergrund: Die aporetische Struktur der Normativität
2.3.3 Das Sozialrecht als Bedingung der gesellschaftlichen Normalisierung des Subjekts
Übergang: Das bürgerliche Recht als Subjektivierungsform
TEIL II Biopolitik und Recht: Grundzüge einer biopolitischen Kritik rechtlicher Ausschlüsse
Kapitel 3
3.1 Menkes Rechtskritik im Kontext von Foucaults Theorie der biopolitischen Macht
3.2 Biopolitik und Normalisierung bei Michel Foucault
3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen
3.3.1 Das Rechtssubjekt bei Menke und der Homo oeconomicus bei Foucault: Zur Gegensätzlichkeit der Ansätze Menkes und Foucaults
3.3.2 Zur Stellung des Eigenwillens bei Menke und Foucault: Die Eigenständigkeit der Biopolitik als Perspektive des Politischen
3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen
3.4.1 Zweierlei Naturalisierungen: Zum Paradox des Rechts unter den Bedingungen der Biopolitik
3.4.2 Foucaults Analyse des Rassismus in der Normalisierungsgesellschaft
Zwischenfazit
Kapitel 4
4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben: Judith Butlers Radikalisierung von Foucaults Rassismusbegriff
4.2 Von ungleich betrauerbaren Leben: Butlers Theorie des precarious life und die Unterscheidung von Leben und Nichtleben
4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik
4.3.1 Der Ausschluss der Nichtlebenden aus dem Recht: Die Differenz von Recht und Nichtrecht im Licht von Butlers Biopolitikbegriff
4.3.2 Zur Relationalität von Biopolitik und Recht: Biopolitische Entrechtungen und die Illegalisierung des Natürlichen
Zwischenfazit
TEIL III Biopolitische Konturierungen: Historische und aktuelle Dimensionen biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht
Kapitel 5
5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel
5.1.1 Der Ausschluss des Pöbels als Problem der Hegelschen Rechtsphilosophie
5.1.2 Über den Pöbel als biopolitischen Ort der Kritik des bürgerlichen Rechts
5.1.3 Der Pöbel als Punkt der Unmöglichkeit einer rechtlichen Selbstreflexion
5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft: Illegalisierte Flüchtlinge als globale Erscheinungsform des Pöbels
Zwischenfazit
Kapitel 6
6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik
6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts
Kapitel 7
7.1 Biopolitik als moralische Ökonomie: Zum biopolitischen Ansatz Didier Fassins
7.2 Die Lebensform des Flüchtlings in der Perspektive von Fassin
7.3 Vom politischen zum biologischen Leben: Fassins Konzept der Biolegitimität
Zwischenfazit
TEIL IV Widerstand
Kapitel 8
8.1 Das Recht auf Berücksichtigung: Menkes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche
8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung: Zur Dekonstruktion von Menkes Interpretation des Sklavenaufstands
8.3 Das bürgerliche Rechtssubjekt im Spiegel von Nietzsches Herrenrecht
Zwischenfazit
Kapitel 9
9.1 Zur Notwendigkeit des Widerstands: Menkes Deutung der Haitianischen Revolution
9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung: Butlers Kritik an der rechtlichen Kontrolle des öffentlichen Erscheinungsraums
9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen
Schluss
Literatur

Citation preview

Schriftenreihe Zeitgenössische Diskurse des Politischen herausgegeben von Prof. Dr. Andreas Hetzel Prof. Dr. Oliver Flügel-Martinsen Band 21

Wissenschaftlicher Beirat Mathias Albert (Bielefeld), Robin Celikates (Berlin), Anna Geis (Hamburg), Charles Girard (Lyon), Ina Kerner (Koblenz-Landau), Regina Kreide (Giessen), Oliver Marchart (Wien), Stephan Moebius (Graz), Maria Muhle (München), Martin Nonhoff (Bremen), Dirk Quadflieg (Leipzig), Hartmut Rosa (Jena), Rainer Schmalz-Bruns † (Hannover) Die Forschungsreihe versteht sich als Forum der Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen des Politischen heute. Sie vereint Schriften aus der Politischen Theorie, der Politischen Philosophie, der Sozialphilosophie und der Soziologie. Ohne sich schulpolitisch festlegen zu wollen, verfolgen die Schriften der Reihe die Pfade eines antiessentialistischen, pluralistischen und radikaldemokratischen Denkens des Politischen, wie es sich seit der Mitte der 1980er Jahre vor allem in Frankreich, Italien, England und in den USA formiert hat. Das Themenspektrum der Bände erstreckt sich von dekonstruktiven über genealogische, agonistische, diskurs- und hegemonietheoretische Ansätze bis in die Felder der Gouvernementalitätsstudien, des (Post-)Feminismus und der Postcolonial Studies. Die Reihe eröffnet eine konstruktive Kontroverse über die Diskurse des Politischen und sucht zugleich nach Perspektiven ihrer Weiterentwicklung.

Simon Faets

Biopolitik und Recht Christoph Menkes Kritik rechtlicher Normativität im Spektrum biopolitischer Theorien

Nomos

Diese Arbeit wurde ursprünglich im Wintersemester 2021/22 als Inaugural-Dissertation an der Hochschule für Philosophie München / Philosophische Fakultät SJ eingereicht.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7560-0539-0 (Print) ISBN 978-3-7489-3894-1 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Dank

Dieses Buch ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern wurde in seiner Entstehung von zahlreichen Menschen getragen und gefördert. Allen, die mich bei der Entwicklung dieser Arbeit über die Jahre begleitet und unterstützt haben, gilt mein aufrichtiger Dank. Die Arbeit an diesem Buch wurde während meiner Zeit als Promotions­ student an der Hochschule für Philosophie München begonnen. Von 2016 bis 2018 durfte ich dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter auf dem For­ schungsprojekt Zukünftige Generationen als Leerstelle der Demokratie arbei­ ten, das von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert wurde. Die Fortsetzung meiner Arbeit wurde anschließend durch ein großzügiges Promotionssti­ pendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert, während ich die Endphase des Schreibprozesses als wissenschaftlicher Assistent an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing verbringen konnte. Mein Doktorvater Michael Reder hat mich in jeder erdenklichen Hin­ sicht auf großartige Weise bei meiner Arbeit unterstützt und betreut. Für alles, was ich von ihm lernen durfte und worin er mich philosophisch und menschlich geprägt hat, danke ich ihm von Herzen. Das Umfeld an seinem Lehrstuhl hat mir für mein Dissertationsprojekt ein ideales Arbeitsklima geboten. Ich danke allen jetzigen und ehemaligen Mitarbei­ ter*innen am Lehrstuhl, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, für die wunderbare gemeinsame Zeit und für ihre Kollegialität und Freundschaft, ganz besonders Nejma Tamoudi, mit der ich viele produktive Gespräche und streitbare Diskussionen geführt habe. Michael Reders Promotionskol­ loquium war für mich stets ein zentraler Ort für die inhaltliche Reflexion und Diskussion auf dem Weg der Entstehung dieses Buches. Ich danke daher allen Teilnehmer*innen, die dort meine Arbeit mit mir besprochen und mir wichtige Impulse mit auf den Weg gegeben haben. Ein wesentli­ cher Dank gilt außerdem meinem Zweitgutachter Dominik Finkelde, der für mich auf fachlicher wie persönlicher Ebene zu einem wichtigen und besonderen Gesprächspartner geworden ist. Gemeinsam mit ihm habe ich im Winter 2020/21 ein Hauptseminar zu Christoph Menkes Kritik der Rechte und darüber hinaus mehrere Jahre lang einen Lesekreis zu vielfältigen Themen der Politischen Philosophie veranstaltet, der einen offenen Raum für Debatten jenseits verpflichtender Curricula eröffnet hat. Ich danke allen Teilnehmer*innen dieser Veranstaltungen für ihre vie­

5

Dank

len Inspirationen und Kommentare, ganz besonders Max Fesl, Henriette Hufgard und Nicki K. Weber, über deren Freundschaft ich mich glücklich schätze. Ich hatte über die Jahre hinweg das Privileg, meine Thesen und Ar­ gumente bei zahlreichen Gelegenheiten auf unterschiedlichen Tagungen und Workshops zur Diskussion stellen zu können. Besonders hervorhe­ ben möchte ich hier neben vielen anderen ausgezeichneten Formaten die Forschungskolloquien von Franziska Dübgen und Martin Oppelt sowie das Forum Sozialethik und die Tagung für Praktische Philosophie in Salz­ burg. Teile meiner Arbeit habe ich im Laufe der Zeit mit einer Reihe an Kolleg*innen und Mentor*innen diskutiert, denen ich viel verdanke; erwähnen möchte ich hier namentlich Franziska Dübgen, Daniel Loick, Christoph Menke, Martin Oppelt, Martin Saar und Benno Zabel. Andre­ as Hetzel und Oliver Flügel-Martinsen danke ich als Herausgebern für die Aufnahme meiner Arbeit in die Schriftenreihe Zeitgenössische Diskur­ se des Politischen. Nicht zuletzt danke ich Alexander Filipović, Marianne Heimbach-Steins und Anna Maria Riedl, in deren Seminaren während meiner Münsteraner Studienzeit ich mich zum ersten Mal tiefgreifend mit der poststrukturalistischen Philosophie Judith Butlers und der Kritischen Theorie Axel Honneths auseinandersetzen konnte. Besonderer Dank ge­ bührt schließlich Carsten Rehbein und Joanna Werner vom Nomos Verlag für die hervorragende Betreuung und die Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts. Das Gelingen dieses Dissertationsprojekts wäre in der Form nicht mög­ lich gewesen ohne den lebendigen geistigen Austausch mit und den emo­ tionalen Rückhalt von Menschen im engen persönlichen Umkreis, von Freunden, Weggefährt*innen und Mitdenker*innen, deren Beitrag weit über fachliche Gespräche und inhaltliche Einsichten hinausreicht. Darum möchte ich hier zum Abschluss ganz besonders Christian Küsters, Char­ lotte Schüsseler und Michael F. Zimmermann für ihre unverzichtbare Unterstützung und Solidarität danken, die sie mir in vielfältigster Hinsicht – und auf je einzigartige Weise – haben zuteil werden lassen und die für mich von unschätzbarem Wert ist.

6

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

11

TEIL I

39

Rekonstruktion: Christoph Menkes Kritik der Rechte

Kapitel 1

41

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik 1.1.1 Der Ausgangspunkt: Das Recht als Paradox 1.1.2 Der rechtsphilosophische Kontext: Walter Benjamins Kritik der Gewalt 1.1.3 Zur Fundamentalstruktur des Rechts: Die Unterscheidung von Norm und Natur 1.1.4 Selbstreflexion: Die Revolution des modernen Rechts 1.1.5 Zur Geschichtsphilosophie: Die Differenz von modernem und traditionellem Recht 1.1.6 Die Autonomie des modernen Rechts und der Primat der Rechte 1.1.7 Die Form der subjektiven Rechte als Verrechtlichungsprozess

41 41

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts 1.2.1 Zur Dialektik von Beherrschung und Berechtigung 1.2.2 Der ideologische Charakter des bürgerlichen Rechts 1.2.3 Zur Aporie der subjektiven Rechte: Die Legalisierung des Eigenwillens 1.2.4 Das bürgerliche Recht als soziale Pathologie

64 64 72

Kapitel 2

92

2.1 Die beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts: Privatrecht und Sozialrecht

92

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts 2.2.1 Das Privatrecht als Bedingung kapitalistischer Ausbeutung und Klassenherrschaft 2.2.2 Menkes Begriffsbestimmung des Privatrechts: Die Erlaubnis der Willkür

43 47 50 54 58 60

80 85

98 98 105

7

Inhaltsverzeichnis

2.2.3 Der philosophiegeschichtliche Kontext: Marx‘ Kritik der Menschenrechte

112

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts 2.3.1 Menkes Begriffsbestimmung des Sozialrechts: Die Ermöglichung des Interesses 2.3.2 Der analytische Hintergrund: Die aporetische Struktur der Normativität 2.3.3 Das Sozialrecht als Bedingung der gesellschaftlichen Normalisierung des Subjekts

120

Übergang: Das bürgerliche Recht als Subjektivierungsform

145

TEIL II Biopolitik und Recht: Grundzüge einer biopolitischen Kritik rechtlicher Ausschlüsse

153

Kapitel 3

155

3.1 Menkes Rechtskritik im Kontext von Foucaults Theorie der biopolitischen Macht

155

3.2 Biopolitik und Normalisierung bei Michel Foucault

164

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen 3.3.1 Das Rechtssubjekt bei Menke und der Homo oeconomicus bei Foucault: Zur Gegensätzlichkeit der Ansätze Menkes und Foucaults 3.3.2 Zur Stellung des Eigenwillens bei Menke und Foucault: Die Eigenständigkeit der Biopolitik als Perspektive des Politischen

170

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen 3.4.1 Zweierlei Naturalisierungen: Zum Paradox des Rechts unter den Bedingungen der Biopolitik 3.4.2 Foucaults Analyse des Rassismus in der Normalisierungsgesellschaft

184

Zwischenfazit

213

Kapitel 4

218

4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben: Judith Butlers Radikalisierung von Foucaults Rassismusbegriff

218

8

120 128 137

170 177

184 196

Inhaltsverzeichnis

4.2 Von ungleich betrauerbaren Leben: Butlers Theorie des precarious life und die Unterscheidung von Leben und Nichtleben 4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik 4.3.1 Der Ausschluss der Nichtlebenden aus dem Recht: Die Differenz von Recht und Nichtrecht im Licht von Butlers Biopolitikbegriff 4.3.2 Zur Relationalität von Biopolitik und Recht: Biopolitische Entrechtungen und die Illegalisierung des Natürlichen

228 237 237 244

Zwischenfazit

253

TEIL III Biopolitische Konturierungen: Historische und aktuelle Dimensionen biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht

257

Kapitel 5

259

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel 5.1.1 Der Ausschluss des Pöbels als Problem der Hegelschen Rechtsphilosophie 5.1.2 Über den Pöbel als biopolitischen Ort der Kritik des bürgerlichen Rechts 5.1.3 Der Pöbel als Punkt der Unmöglichkeit einer rechtlichen Selbstreflexion

259 259 265 271

5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft: Illegalisierte Flüchtlinge als globale Erscheinungsform des Pöbels

279

Zwischenfazit

288

Kapitel 6

292

6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik

292

6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts

302

Kapitel 7

313

7.1 Biopolitik als moralische Ökonomie: Zum biopolitischen Ansatz Didier Fassins

313

7.2 Die Lebensform des Flüchtlings in der Perspektive von Fassin

320

9

Inhaltsverzeichnis

7.3 Vom politischen zum biologischen Leben: Fassins Konzept der Biolegitimität

327

Zwischenfazit

334

TEIL IV Widerstand

341

Kapitel 8

343

8.1 Das Recht auf Berücksichtigung: Menkes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche

343

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung: Zur Dekonstruktion von Menkes Interpretation des Sklavenaufstands

352

8.3 Das bürgerliche Rechtssubjekt im Spiegel von Nietzsches Herrenrecht

367

Zwischenfazit

374

Kapitel 9

376

9.1 Zur Notwendigkeit des Widerstands: Menkes Deutung der Haitianischen Revolution

376

9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung: Butlers Kritik an der rechtlichen Kontrolle des öffentlichen Erscheinungsraums

385

9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen

395

Schluss

405

Literatur

423

10

Einleitung

In der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 brachen in Europas größtem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos mehrere Feuer aus, in deren Folge das gesamte Lager vollständig zerstört wurde. In Moria waren zu dem Zeitpunkt mehr als 12.000 Menschen untergebracht (vgl. dw.com 2020), „darunter 4.000 Kinder“ (zeit.de 2020), die infolge des Brandes vom einen auf den anderen Tag obdachlos wurden und die nächsten Tage auf offener Straße unter freiem Himmel schlafen mussten (vgl. im Folgenden dw.com 2020). In dem extrem überfüllten Lager, das ursprünglich für rund 2.800 Menschen ausgelegt worden war, herrschten schon seit Jahren entsetzliche und menschenunwürdige hygienische Be­ dingungen. Kurz vor dem Ausbruch des Brandes wurde in den Medien vom ersten bestätigten Corona-Fall unter den Flüchtlingen und Migranten berichtet, woraufhin das gesamte Lager durch die Sicherheitsbehörden abgeriegelt wurde. Bereits Monate zuvor hatten internationale Hilfswer­ ke wie Medico oder Oxfam vehement vor einem Covid-19-Ausbruch ge­ warnt und wiederholt kritisiert, dass die ansonsten zur Eindämmung der Pandemie üblicherweise eingesetzten Hygieneregeln wie Abstandhalten, Händewaschen und alltägliches Tragen von Masken aufgrund der katastro­ phalen sanitären Infrastruktur in Moria nicht möglich seien. Angesichts der unwürdigen Lebensbedingungen der Menschen in Moria „[wurde] ein Covid-19-Ausbruch geradezu provoziert“ (Loick 2020b; vgl. ausführlicher Loick 2020c). In den Tagen nach dem Brand verschlechterte sich die Lage der Flücht­ linge und Migranten auf Lesbos deutlich. Während „der Weg in das na­ hegelegene Dorf von wütenden Anwohnern blockiert“ (Loick 2020b) wor­ den war, wurde ausländische Hilfe für die obdachlos gewordenen Men­ schen durch die griechische Polizei und das Militär erheblich erschwert und behindert (vgl. sueddeutsche.de 2020). „Die zuständigen Behörden weigerten sich tagelang, ausreichend Wasser, Essen, Zelte und Medizin zur Verfügung zu stellen“ (Loick 2020b) und die Flüchtlinge und Mig­ ranten vor den gewalttätigen Übergriffen durch Anwohner zu schützen. „Gleichzeitig hinderte die griechische Polizei NGOs und Solidaritätsgrup­ pen daran, Medizin oder Lebensmittel zu verteilen“ (ebd.). Dementspre­ chend kursierten bald in den Medien Bilder, die das Leid der ehemaligen Bewohner des abgebrannten Lagers drastisch vor Augen führten. Der So­

11

Einleitung

zialphilosoph Daniel Loick bezieht sich in seinem Kommentar zu Moria auf verschiedene Bilder, die „Gruppen obdachloser Geflüchteter [zeigen], die vor einer geschlossenen Filiale der deutschen Supermarktkette Lidl campieren, nur Fensterscheiben trennen sie von den dringend benötigten Lebensmitteln“ (ebd.). Auf einem weiteren Bild, das von Loick erwähnt wird, sind Geflüchtete erkennbar, die Zuflucht auf einem Friedhof gesucht haben und „inmitten der Grabsteine“ (ebd.) und Kreuze – buchstäblich bei „den Toten“ (ebd.) – liegen. Dieser äußerst feindselige und gewalttätige Umgang mit den obdachlos gewordenen Menschen trotz des massiven Protests „von Menschenrechts­ gruppen, Kirchen, humanitären Hilfseinrichtungen, politischen und sozia­ len Bewegungen“ (ebd.) reiht sich in eine politische Rationalität ein, in der die elementare Versorgung und Unterstützung geflüchteter und auf Hilfe angewiesener Menschen nicht nur unzureichend garantiert und durchge­ setzt, sondern bewusst unmöglich gemacht und „aktiv verhindert“ (ebd.) wird: So war „im März ein Projekt des Technischen Hilfswerks (THW) wegen ‚po­ litischer Probleme‘ gescheitert. Im Auftrag der Bundesregierung soll­ te demnach die Wasserversorgung auf Ägäis-Insel Samos verbessert werden. Die Hauptwasserleitung zum Flüchtlingslager sei durch eine Gemeindeverwaltung aufgrund von Protesten der Bevölkerung abge­ klemmt worden“ (zeit.de 2020). Angesichts solcher menschenfeindlichen Strategien und Praktiken spricht Loick in Anlehnung an den kamerunischen Philosophen Achille Mbembe mit Blick auf die beschriebene Situation der geflüchteten Menschen auf Lesbos von der Entstehung von „Todeswelten“ (Loick 2020b). Menschen, die dazu gezwungen werden, in einer Todeswelt zu leben, bewegen sich Loick zufolge in einer sozialen und politischen Umwelt, die ihrem Leben nicht einfach nur anteilnahmslos und vernachlässigend gegenübersteht, sondern in der gesellschaftliche und politische Mechanismen wirken, die ihr Leben aktiv auslöschen und töten sollen. In Anspielung auf die AMCFernsehserie The Walking Dead ließe sich formulieren, dass Menschen, die in Todeswelten leben müssen, gar nicht mehr als menschliche Leben zählen, sondern auf den zombiehaften Status „lebende[r] Toter“ (ebd.) reduziert worden sind. Mit Mbembe gesprochen, ist ihr Leben zum Ge­ genstand einer Politik der Feindschaft und „einer Politik des Todes“ (ebd.) geworden, d.h. einer Politik, in der es um die radikale Ausschließung von Menschen aus dem Bereich des Lebens und der Menschheit und letztlich

12

Einleitung

um das Verschwinden und die Tötung dieser Menschen „in einer Welt des großen Loswerdens“ (Mbembe 2017, 74) geht. Diese Politik des Todes in Gestalt des aktiven Sterbenlassens bzw. Tö­ tens von Flüchtlingen und Migranten im Rahmen gegenwärtiger Migrati­ ons- und Grenzpolitiken scheint dabei offensichtlich mit den normativen Ordnungen und staatlichen Rechtssystemen aktueller europäischer Gesell­ schaften vereinbar zu sein, in deren Rahmen sie derzeit betrieben und umgesetzt und von denen sie öffentlich geduldet und akzeptiert wird. „Nicht nur werden den Geflüchteten regelmäßig ihre Menschenrechte vor­ enthalten; mittlerweile steht auch ihr biologisches Leben auf dem Spiel“ (Loick 2020b). Am Beispiel von Moria, aber auch an vielen anderen Bei­ spielen innerhalb der Europäischen Union, wird sichtbar, dass sowohl das „Regime der europäischen Migrationskontrolle“ (Loick 2021, 359) als auch die einzelnen Regierungen europäischer Nationalstaaten mittlerweile eine Politik verfolgen, die das Leben geflüchteter Menschen nicht schützt und erhält, sondern gefährdet und vernichtet. Mit Mareike Gebhardt ge­ sprochen, hat sich das europäische Grenzregime am Mittelmeer zu einer „mediterranen Todeslandschaft“ (Gebhardt 2021, 467) entwickelt, in der „das Leben unerwünschter Bevölkerungsgruppen zur Disposition“ (Loick 2020b) gestellt wird. Obwohl die Corona-Pandemie vor Augen geführt hat, „[d]ass es möglich ist, ungeheure medizinische Ressourcen zu mobi­ lisieren, Unmengen an Forschungsgelder freizugeben, Massenevents zu verschieben, Millionen von Menschen von der Änderung ihres Alltagsver­ haltens zu überzeugen“ (ebd.), scheint das Leben – und der Tod – der Flüchtlinge in Moria und in anderen Lagern einer solchen politischen Intervention und gesellschaftlichen Transformation nicht wert zu sein. Im Gegenteil: „Die griechische Regierung hat auf der Insel Samos ein sogenanntes ‚geschlossenes Zentrum mit kontrolliertem Zugang‘ für die Unterbringung von 3000 Migranten eröffnet“ (tagesschau.de 2021a). Bei diesem neuen Flüchtlingslager handelt es sich um ein „Pilotprojekt“ (ebd.), das von der Europäischen Union gefördert wird (vgl. ebd.) und mit einer Reihe neuer Restriktionen für seine Bewohner und Insassen ein­ hergeht, deren Strenge und Härte die Brutalität des europäischen Grenzre­ gimes auf ein bisher unerreichtes Level heben: Das neue ‚geschlossene‘ Hightech-Lager auf Samos ist „mit Stacheldraht umzäunt und mit Über­ wachungskameras, Röntgenscannern und Magnettüren ausgestattet. Es verfügt zudem über ein Gefangenenlager und ist nur per elektronischem Chip zugänglich“ (ebd.). Es herrscht eine allgemeine nächtliche Ausgangs­ sperre (vgl. ebd.). „Griechischen Medien zufolge dürfen die Menschen das Lager täglich zwischen 8 und 20 Uhr verlassen – bis auf jene, deren

13

Einleitung

Asylgesuch abgelehnt wurde und die im Rahmen des Flüchtlingspakts der EU mit der Türkei zurück in die Türkei gebracht werden sollen“ (ebd.). Vier weitere solcher Hochsicherheitslager sind auf den ägäischen Inseln Leros, Lesbos, Kos und Chios derzeit in Planung (vgl. ebd.). „Die EU hat für die Anlage 276 Millionen Euro bereitgestellt“ (ebd.). Und auch in diesem Fall sind die zahlreichen Forderungen von „Nichtregierungsor­ ganisationen und Vertreter[n] der Zivilgesellschaft (…), die Pläne zur Ein­ schränkung der Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge fallenzulassen“ (ebd.), einmal mehr wirkungslos geblieben und durch die politischen Entschei­ dungsträger ignoriert worden. Die gegenwärtige europäische Migrations- und Grenzpolitik lässt also einen deutlichen Trend und ein klares Programm erkennen: „[S]owohl die Europäische Union, als auch die griechische Regierung [haben] sich von dem Anspruch verabschiedet, ihre Politiken nach dem Prinzip des Schutzes menschlichen Lebens auszurichten“ (Loick 2020b). Stattdessen wird eine flächendeckende Politik des Todes zusehends vorangetrieben, gefördert und normalisiert, in deren Kontext die Gewalt und Grausamkeit gegenüber Geflüchteten mittlerweile eine neue Stufe erreicht hat. Die Architektur neu errichteter Lager ähnelt nicht zufällig der Struktur von Gefängnissen und militärischen Einrichtungen. Vom Europäischen Parla­ ment wurde kürzlich eine Verordnung zur Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex verabschiedet, in deren Rahmen der Agentur eine neue Grenztruppe zur Verfügung gestellt werden soll, die im Laufe der nächsten Jahre insgesamt 10.000 neue Einsatzkräfte umfassen wird (vgl. etiasvisa.com 2021). Seit Jahren wird Frontex von zahlreichen inter­ nationalen Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch die Durchführung illegaler Pushbacks im Rahmen der Kontrolle von Seegren­ zen vorgeworfen (vgl. hrw.org 2021). Die Techniken, die im aktuellen Kontext des europäischen Grenzre­ gimes angewendet werden, sind insgesamt Ausdruck einer wachsenden Militarisierung, Kriminalisierung und Illegalisierung im Umgang mit Phä­ nomenen von Flucht und Migration. Die Politik des Todes, die dabei zur Geltung gebracht wird, lässt sich als Extremform und Perversion der mo­ dernen Biopolitik beschreiben, in der das Leben der einen in Beziehung zum Tod der anderen gesetzt wird und in der es nicht mehr allein um die „Verteidigung unseres Wohlstands gegen eine imaginierte Bedrohung von außen“ (Loick 2020b) geht, die unsere politischen Gemeinwesen in Euro­ pa scheinbar gefährdet, sondern um die Vernichtung rassifizierter Körper auf der Basis der Entmenschlichung und Entrechtung des migrantischen Anderen (vgl. Gebhardt 2020). Diese biopolitischen Konstellationen im

14

Einleitung

Rahmen gegenwärtiger Migrations- und Grenzpolitiken machen eine radi­ kale Kritik der Rechtsordnungen erforderlich, von denen diese Politiken des Todes getragen und etabliert werden und deren Logiken zur Einrich­ tung von Todeswelten an den Rändern moderner Gesellschaften führen. Die vorliegende Arbeit ist vor diesem Hintergrund einer solchen Kritik der Normativität gegenwärtiger bürgerlicher Rechtssysteme gewidmet und stellt die Frage nach der inhärenten biopolitischen Gewalt, die das moder­ ne Recht gegenüber seinem radikal Anderen impliziert. Wie kann erklärt werden, dass die Strukturen und Praktiken moderner liberaler Rechtsord­ nungen, in deren Zentrum die Ideale der Gleichheit und Freiheit, der Inklusion und Partizipation stehen, mit der radikalen Unterordnung, Aus­ schließung und Tötung des rassifizierten Lebens der Anderen einhergehen? Diese Frage nach den biopolitischen Ausschlüssen aus modernen, bürgerli­ chen Rechtsordnungen steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Zu diesem Zweck nimmt diese Arbeit ihren Ausgang von einem der zentralen Werke der gegenwärtigen Rechtskritik, nämlich von Christoph Menkes Kritik der Rechte (vgl. Menke 2015), und problematisiert dabei mit Blick auf dieses Werk zugleich das Fehlen einer kritischen Perspektive auf die beschriebenen biopolitischen Ausschlussdynamiken. Denn obwohl Menkes Rechtskritik eine der radikalsten und konsequentesten Kritiken moderner rechtlicher Strukturen und Prozesse im Rahmen der interdiszi­ plinären Forschungslandschaft der letzten Jahrzehnte darstellt, finden die zahlreichen Formen biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht und die unterschiedlichen Figuren der Entmenschlichung und Entrechtung von geflüchteten Menschen durch das Recht merkwürdigerweise keinen Platz in Menkes rechtskritischer Heuristik. Diese Leerstelle soll die vorliegende Arbeit durch eine grundlegende Kritik des Rechts aus der Perspektive der biopolitischen Ausschlüsse aus aktuellen Rechtsordnungen füllen. * In den letzten zwanzig Jahren hat sich in Deutschland eine intensive wis­ senschaftliche Debatte darüber entwickelt, wie Normativität und Recht auf philosophischer Ebene in ihrer Wechselbeziehung und gegenseitigen Einflussnahme grundsätzlich zu verstehen sind (vgl. exemplarisch Hon­ neth 2011; Joas 2011; Loick 2012; Opitz 2012; Menke 2013; Jaeggi 2014; Raimondi 2014; Möllers 2015a; von der Pfordten 2011; 2016). Als ein ent­ scheidender Impulsgeber der Diskussion in Deutschland ist dabei u.a. der diskurstheoretische bzw. -ethische Ansatz von Jürgen Habermas anzusehen (vgl. Habermas 1992; 2011). Der deutschsprachige Diskurs bewegt sich in

15

Einleitung

erster Linie an den theoretischen Schnittstellen zwischen Sozial-, Rechts-, politischer Philosophie und normativer Ethik und ist gleichzeitig im grö­ ßeren Rahmen einer internationalen Debatte verortet, die in der Traditi­ on der kritischen Rechtstheorie steht (vgl. exemplarisch Balibar 1992b; Brown/Halley 2002; Brown 2011; Colliot-Thélène 2011; Douzinas/Gearty 2014; Douzinas 2000; 2019). Das Spezifikum der genannten Debatten besteht allgemein darin, die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Normativität und Recht, klas­ sisch formuliert: von Recht und Moral, systematisch mit einer rechtskri­ tischen Perspektive zu verbinden: Normen und Rechte werden nicht allein begrifflich bestimmt oder begründet und dabei in ihrer wechselsei­ tigen Verwiesenheit rekonstruiert. Das den Debatten zugrundeliegende Programm setzt vielmehr von vornherein herrschaftskritisch an der Her­ ausarbeitung einer fundamentalen Ambivalenz von Rechtsordnungen an: Das Recht bringt aktiv gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen hervor und trägt durch seine begrenzenden Elemente maßgeblich zu deren Stabilisie­ rung bei, entsteht aber zumeist selbst aus Prozessen der politischen Desta­ bilisierung von zementierten Herrschaftsverhältnissen und ist daher von Anfang an mit einem emanzipatorischen Potenzial verknüpft. Kurz: Das Recht oszilliert notwendig zwischen den beiden Polen seiner repressiven und emanzipatorischen Elemente und verweist damit auf seine Grund­ spannung von Legalität und Legitimität (vgl. Ladwig 2006). Christoph Menkes 2015 erschienene Kritik der Rechte interveniert in das beschriebene Spannungsfeld der gegenwärtigen Debatten, indem sie „die vielen Enden kritischer Rechtstheorie seit Marx aufnimmt“ (Möllers 2015b) und zu einer systematischen „Fundamentalkritik“ (ebd.) des libe­ ralen Rechts synthetisiert. Menkes Rechtsphilosophie ist allgemein in den Wissenschaftshorizont der Kritischen Theorie einzuordnen. Menke gilt als einer der Hauptvertreter der dritten Generation der Frankfurter Schule (vgl. zur internationalen Bestandsaufnahme der aktuellen sozialphi­ losophischen und gesellschaftskritischen Debatten in der Tradition der Frankfurter Schule Forst/Hartmann/Jaeggi/Saar 2009). Mit seiner Kritik der Rechte knüpft er an bestehende rechtskritische Debatten im Rahmen der Kritischen Rechtstheorie an: In diesem Kontext ist in der jüngeren Vergangenheit der Ambivalenz moderner Rechtssysteme und der damit verbundenen Wechselbeziehung von normativen Ordnungen und sozialen Machtverhältnissen verstärkte Aufmerksamkeit zuteilgeworden (vgl. exem­

16

Einleitung

plarisch Honneth 2011; Brunkhorst 2014; Forst 2007; 2015; Loick 2013; 2017a; Menke 2018a).1 Menkes Studie hat im Feld der Rechtsphilosophie und politischen Phi­ losophie sowie in der breiteren akademischen Öffentlichkeit eine kontro­ vers geführte Debatte ausgelöst (vgl. exemplarisch Fischer-Lescano/Franz­ ki/Horst 2018; Hilgendorf/Zabel 2021).2 Menkes rechtskritisches Denken wird dabei bspw. in unterschiedlichen Strängen der christlichen Sozial­ ethik verarbeitet (vgl. Becka 2020, 37f.), die sich explizit in der konstrukti­ ven Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie Frankfurter Prägung positionieren und an den dort vertretenen Kritikbegriff anschließen (vgl. Becka/Emunds/Eurich/Kubon-Gilke/Meireis/Möhring-Hesse 2020). Menke bestimmt das Recht in der Moderne zunächst im Anschluss an Marx in seiner dominanten Erscheinungsform, dem bürgerlichen Recht, und entwickelt darauf aufbauend eine umfassende Kritik seiner rechtlichen Grundfigur, den subjektiven Rechten. Mit der Kritik subjektiver Rechte re­ kurriert Menke auf eigene frühere Überlegungen (vgl. exemplarisch Men­ ke 2008b; 2008c) und ordnet sich zugleich in einen rechtstheoretischen Diskussionsstrang ein, der speziell auf die Rolle subjektiver Rechte für das Rechtskonzept der Moderne fokussiert (vgl. exemplarisch Ladeur 1978; 1 Menke schließt mit seiner Rechtskritik außerdem an eine Vielzahl eigener Vorar­ beiten an, etwa in der eigenen Positionierung zu Michel Foucault (vgl. Menke 2003), Walter Benjamin (vgl. Menke 2011), Karl Marx (vgl. Menke 2013) sowie zu Hannah Arendt (vgl. Menke 2008a; 2018b). Zudem hat Menke ausführlich zum Begriff der Menschenrechte gearbeitet (vgl. Menke/Pollmann 2007; Menke/Rai­ mondi 2011) und knüpft in seiner theoretischen Grundausrichtung insgesamt an die in der aktuellen – insbesondere postfundamentalistischen – politischen Philosophie unter dem Namen der politischen Differenz firmierende konzeptuelle Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen an (vgl. Menke 2004; Marchart 2010; Marchart/Martinsen 2019a), die besonders unter dem Eindruck der poststrukturalistischen Theoriebildung entstanden ist (vgl. exemplarisch Agamben 2002; Laclau 2005; Rancière 2016; einen hilfreichen, systematisierenden Überblick über die poststrukturalistische politische Philosophie im französischsprachigen Raum der sogenannten French Theory geben Oliver Flügel-Martinsen und Franziska Martinsen in ihrem Sammelband über Demokratietheorie und Staatskritik aus Frank­ reich, vgl. Flügel-Martinsen/Martinsen 2015) 2 Neben diesen aktuellen Publikationen ist Menkes Kritik der Rechte darüber hinaus zum Gegenstand verschiedener internationaler und interdisziplinärer Tagungen und Workshops geworden und ist dementsprechend, nicht nur in rechtswissen­ schaftlicher Hinsicht, auf lebendige und vielfältige Weise diskutiert worden. Vgl. dazu exemplarisch die Tagung „Kritik der subjektiven Rechte“ im Rahmen des ERC-Forschungsprojekts „Transnational Force of Law“, die im Februar 2017 an der Universität Bremen stattfand: https://www.tfl.uni-bremen.de/wp-content/uploa ds/2016/12/Programm_Subjektive_Rechte.pdf (zugegriffen am 30. August 2021).

17

Einleitung

Preuß 1979; Teubner 1987; Brunkhorst 1994; Colliot-Thélène 2011; Rai­ mondi 2014). Darüber hinaus spielen für Menkes Konzeption verschiede­ ne marxistische und neo-materialistische Rechtstheorien eine wichtige Rol­ le, die neben Marx auf das Denken Antonio Gramscis (vgl. Gramsci 1991– 2002) und dessen gesellschaftskritische Analysen der politischen Kräfteverhältnisse innerhalb moderner, kapitalistischer Klassengesellschaften Bezug nehmen (vgl. Poulantzas 1972; Maihofer 1992; Paschukanis 2003; Buckel 2007; dazu überblickhaft Buckel 2020). Menkes Vorgehensweise geht ähnlich wie dieser materialistische Tra­ ditionszweig von einer kritischen Analyse der Rechtsform aus. Trotz die­ ser methodischen Fokussierung auf die Form des Rechts verleiht Menke seinem rechtskritischen Ansatz jedoch eine eigene Stoßrichtung: Weder betrachtet Menke das Recht vornehmlich als homogenisierendes Machtin­ strument, das von der herrschenden, bürgerlichen Klasse zum Erhalt ge­ sellschaftlicher Hegemonien eingesetzt wird (vgl. Poulantzas 1972), noch begreift er die Rechtsverhältnisse in fundamentaler Abhängigkeit von der kapitalistischen Warenform (vgl. Paschukanis 2003). Im Unterschied zu diesen marxistischen Rechtskonzeptionen, die rechtliche Prozesse auf un­ terschiedliche Art aus ökonomischen Verhältnissen ableiten und das Recht dementsprechend „auf die Absicherung entweder der Warenproduktion oder der Klassengesellschaft“ (Buckel 2020, 195) engführen, lenkt Menke die Aufmerksamkeit auf die innere, begriffliche Widersprüchlichkeit der Form der subjektiven Rechte selbst und stellt dadurch das bürgerliche Recht als autonomes und gegenüber ökonomischen Dynamiken eigenstän­ diges gesellschaftliches System in den Vordergrund der Analyse. Sein theo­ retisches Grundanliegen besteht darin, zunächst aus der rechtlichen Innen­ perspektive die Herrschaftseffekte kritisch herauszustellen, die aus der apo­ retischen Eigenlogik subjektiver Rechte resultieren und sich in relativer Selbstständigkeit gegenüber gesellschaftlichen Subsystemen entwickeln. Durch die kritische Thematisierung der Form moderner, subjektiver Rechte hat Menke zudem eine aktuelle rechtsphilosophische Diskussion zum Status subjektiver Rechte angestoßen (vgl. exemplarisch Khurana 2017; Loick 2017b; Schmidt 2017; Zabel 2017; Menke/Schmidt/Zabel 2017; Menke 2021; Reder 2021). Der kritische Fokus von Menkes Analyse richtet sich dabei in der Tradition von Marx auf die Funktionalität des Rechts für die Herrschaftslogik der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. exem­ plarisch Menke 2013). Gleichzeitig schließt Menke an die Rechtsgewaltkri­ tik Walter Benjamins an (vgl. Menke 2011; Benjamin 1991): In der rechts­ konstitutiven Grundunterscheidung von Norm und Natur, d.h. von Recht und Nichtrecht, spiegelt sich ein irreduzibles rechtliches Gewaltpotenzial.

18

Einleitung

Die Einsetzung des Rechts beinhaltet immer zugleich seine gewaltsame Abgrenzung gegenüber dem Nichtrecht und damit die positive Bestim­ mung des Nichtrechts, d.h. aus rechtlicher Perspektive: der Natur (vgl. Menke 2015, 404). Dieses rechtliche Gewaltproblem steht auch im Zentrum des Rechts der Moderne. Laut Menke ist die Antwort des modernen Rechts auf dieses Problem die Selbstreflexion. Das bürgerliche Recht reflektiert seine Grund­ unterscheidung von Norm und Natur (und damit seine Gewaltförmigkeit) in der Rechtsordnung selbst. Das tut es durch die Erklärung subjektiver Rechte: Subjektive Rechte reflektieren die normativen Gehalte des bürger­ lichen Rechts in den individuellen Ansprüchen des durch diese Rechte ermächtigten Rechtssubjekts. Subjektive Rechte sind somit die Vollzugs­ form der Selbstreflexion des Rechts. Durch deren Deklaration begrenzt das bürgerliche Recht seine Gewalt an den subjektiven Ansprüchen, die es als vorrechtlich, also natürlich versteht und die es seinem Selbstverständnis nach nur nachträglich rechtlich zur Geltung bringt und schützt. Kritisch gewendet: Die Normativität des liberalen Rechts begrenzt sich so, dass sie ihre nichtrechtliche Außenseite, die individuellen Ansprüche von Sub­ jekten, naturalisiert und aus dem Bereich der Normativität ausschließt, so dass Ermächtigung durch subjektive Rechte die Freigabe des privaten Eigenwillens, des individuellen Eigennutzens von politischer Normierung zur Folge hat. Das Recht im Liberalismus ermächtigt den subjektiven Eigenwillen als Natürlichen, indem es Freiheit rein negativ (als Willküroder Wahlfreiheit) bestimmt und entpolitisiert: Das Recht ermöglicht, dass das Subjekt bloß nach seinen privaten Interessen unter Absehung von normativen und politischen Erwägungen handelt. In Menkes Diktion: Die normative Struktur des liberalen Rechts ist die Legalisierung des Natürli­ chen. Vor dem Hintergrund der skizzierten aktuellen Debattenlage besteht Menkes rechtskritisches Argument in dem analytischen Aufweis, dass in den subjektiven Rechten als normativem Kern des modernen Rechts die ambivalente Struktur rechtlicher Normativität zum Ausdruck kommt, die Menke durch eine Formanalyse dieser Rechte zur Aporie zuspitzt: Die den Rechten zugrundeliegende Formbestimmung subjektiver Freiheit pro­ duziert gleichzeitig die Unterwerfung des Subjekts unter die spezifischen Herrschaftsstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft. Die egalitäre Form der Rechte konstituiert paradoxerweise soziale Verhältnisse von Ungleich­ heit und Unfreiheit. Menkes rechtskritische Argumentation folgt damit

19

Einleitung

dem logischen Schema eines Prozesses dialektischer Umkehrung:3 Erst die ermächtigende Struktur subjektiver Rechte ermöglicht den dialektischen Umschlag von rechtlicher Normativität in soziale Herrschaftsverhältnisse der Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Mehr noch: Subjektive Rechte sind notwendig mit dieser Dialektik verbunden, als Legalisierung des Natürli­ chen müssen sie aus begrifflichen Gründen den Eigenwillen, den sie recht­ lich befähigen, entpolitisieren und damit der sozioökonomischen Eigen­ dynamik dadurch entstehender gesellschaftlicher Herrschaftsbeziehungen ausliefern. Mit dieser Argumentationsführung, so lautet die in dieser Arbeit vertre­ tene These, geht auf struktureller Ebene einher, dass Menke sowohl die Macht- und Herrschaftsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft als auch die Konfiguration der rechtlichen Unterscheidung von Norm und Natur in Gestalt subjektiver Rechte im größeren Kontext der biopolitischen Macht verortet. Menkes Rechtskritik muss mithin vor dem Hintergrund ihres biopolitischen Kontexts verstanden werden (vgl. Menke 2015, 159): Die Grundidee der paradoxen Gleichzeitigkeit und wechselseitigen Vorausset­ zung von Freiheit und Herrschaft, die Menke anhand der Figur der subjek­ tiven Rechte nachzeichnet und die für seine rechtskritische Heuristik von entscheidender Bedeutung ist, entfaltet er ausdrücklich in Anlehnung an das diskursanalytische Paradigma Michel Foucaults und dessen Analysen

3 Der Begriff der Dialektik wird im Kontext dieser Arbeit im Anschluss an die Tradition von Hegel und Marx verwendet, in die sich auch Menke einordnet. Dialektische Strukturen zeichnen sich demnach durch innere Widersprüche und Ambivalenzen aus, die für sie konstitutiv sind. Gesellschaftliche Dynamiken sind in dieser philosophischen Traditionslinie insofern als dialektisch zu betrachten, als sie durch ihre innere Krisenhaftigkeit systematisch zu ihrem eigenen Gegenteil führen, etwa wenn freiheitliche (Rechts-)Praktiken faktisch so eingerichtet sind, dass sie notwendig Unfreiheit zeitigen, oder wenn gesellschaftliche Inklusionsdis­ kurse auf der tatsächlichen Exklusion von bestimmten Subjekten oder Gruppen beruhen. So schreibt etwa Adorno in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie, dass dialektisches Denken die bewusste Bewahrung und Problematisierung von Widersprüchen beinhaltet: „Dialektisches Denken heißt ja überhaupt, wenn ich es einmal von dieser Seite her versuchen darf zu bestimmen, soviel wie: nicht mit dem Verleugnen oder dem Wegschaffen von Widersprüchen – wenn diese Widersprüche zwangvoll auftreten – sich zu begnügen, sondern statt dessen den Widerspruch zum Gegenstand, zum Thema der philosophischen Reflexion zu erheben – und Sie können hier sehen, wie stark diese Nötigung nun tatsächlich ist“ (Adorno 2015, 118). Dieses Verständnis von Dialektik steht auch im Zentrum von Menkes Kritik der Rechte: „Das ist der dialektische Umschlag – von rechtlicher Gleichheit und Freiheit in soziale Herrschaft –, den die Kritik im Kern des bürger­ lichen Rechts aufweist“ (Menke 2015, 275).

20

Einleitung

zur Entstehung der Biopolitik in der Moderne (vgl. Menke 2015, 247; 259– 266). Denn auch Foucault begreift in seinen machttheoretischen Arbeiten die moderne Struktur der Subjektivierung als das ambivalente Ineinander von Erzeugung und Unterwerfung des Subjekts. Foucault zufolge vollzieht sich die Konstitution des Subjekts als gegenseitiges Bedingungsverhältnis von positiver Befähigung und restriktivem Beherrschtwerden des Einzel­ nen durch die Macht. Vor diesem Horizont geht Menke von der grundle­ genden These aus, dass die widersprüchliche Struktur und ambivalente Dynamik subjektiver Rechte „das moderne ökonomische, biopolitische Regime“ (Menke 2015, 202) bürgerlicher Gesellschaften konstituieren. Die paradoxe Form der Subjektivierung, die Foucault herausarbeitet, ist dabei in erster Linie in der poststrukturalistischen Forschungstradition aufge­ nommen und weiterentwickelt worden. Ein besonders prominentes und theoretisch wirkmächtiges Beispiel hierfür bildet Judith Butlers Konzept der Subjektivation: „‚Subjektivation‘ bezeichnet den Prozess des Unterwor­ fenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung“ (Butler 2001c, 8). Grundsätzlich teilen Menkes und Foucaults Theoriemodelle eine ge­ meinsame, nämlich liberalismuskritische Zielrichtung: Mit der Kritik der subjektiven Rechte zielt Menke gleichzeitig auf eine grundlegende Kritik des Liberalismus als politischer Rationalität und Regierungsform (vgl. Menke 2015, 7–13). Menkes Kritik der Rechte dreht sich dementsprechend um die kritische Beleuchtung der liberalen, bürgerlichen Rechtskonzepti­ on und ihrer inhärenten Widersprüche. Damit befindet sich sein rechts­ philosophisches Vorhaben auf einer Linie mit Foucaults biopolitischem Untersuchungsprogramm, denn auch Foucault geht es um die genealo­ gische Analyse und Kritik „der liberalen Regierungspraxis“ (Pieper/Atz­ ert/Karakayali/Tsianos 2011a, 12). In konzeptueller Hinsicht begreift Fou­ cault „[d]en Liberalismus als allgemeinen Rahmen der Biopolitik“ (Fou­ cault 2006b, 43). Der Begriff der Biopolitik geht, wie bereits angesprochen, auf das macht­ kritische Denken Foucaults zurück, insbesondere auf dessen machttheore­ tische Untersuchungen seit Mitte der 1970er Jahre, in denen Foucault die Biopolitik als genealogische Perspektive und systematischen Analy­ serahmen mit Blick auf moderne Diskurse einführt. In den internatio­ nalen Forschungsdebatten der vergangenen Jahrzehnte ist das Konzept der Biopolitik mittlerweile zu einem interdisziplinären Schlüsselbegriff innerhalb der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften gewachsen (vgl. exemplarisch Haraway 1995; Rabinow 1999; Rose 2006; Rabinow/Rose

21

Einleitung

2006; Patton 2011; Rancière 2011; Brown 2015; Mills 2018; Siisiäinen 2019; Gebhardt 2020). Auch in der deutschsprachigen Theorielandschaft wird die Biopolitik derzeit lebendig und vielfältig diskutiert (vgl. exempla­ risch Spieker 2009; Muhle/Thiele 2011; Lemke 2004; 2007; 2013; Muhle 2013a). Dabei wird Biopolitik u.a. als Kategorie der politischen Philoso­ phie (vgl. Pieper/Atzert/Karakayali/Tsianos 2011b), der Sozialtheorie (vgl. Gerhards/Braun 2019a) oder als gesellschaftskritischer Analyserahmen in Bezug auf die Funktionalisierung ethischer Debatten (vgl. Finkelde/In­ thorn/Reder 2013) verstanden. Zudem nimmt die Biopolitik aktuell eine zentrale Stellung als theoretischer Leitbegriff im Kontext bioethischer und biomedizinischer Diskurse ein (vgl. Braun 2000; van den Daele 2005; Grae­ fe 2008; Kauffmann/Sigwart 2011). Zu den wichtigsten Arbeiten in diesem Forschungsfeld gehören nach wie vor die Arbeiten der Darmstädter Philo­ sophin Petra Gehring (vgl. exemplarisch Gehring 2006).4 Foucault verwendet den Begriff erstmalig 1974 in seinem Vortrag Die Geburt der Sozialmedizin (vgl. Foucault 2003, 275) und verarbeitet ihn anschließend v.a. 1976 in seiner Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesell­ schaft (vgl. Foucault 2014) und in Der Wille zum Wissen, dem ersten Band von Sexualität und Wahrheit (vgl. Foucault 1983). Biopolitik bezeichnet Foucault zufolge die Machtform, die speziell für die Epoche der Moderne charakteristisch ist, d.h. Biopolitik stellt „eine spezifisch moderne Form der Machtausübung“ (Lemke 2008, 80) dar. Der Terminus beschreibt den 4 Maria Muhle weist in Bezug auf die Verwendung des Biopolitikbegriffs innerhalb biowissenschaftlicher Debatten zu Recht kritisch darauf hin, dass die Biopolitik dabei oftmals einseitig auf ihren bioethischen Bedeutungsaspekt enggeführt wird. Dabei kann dann der falsche Eindruck entstehen, dass Biopolitik mit Bioethik identisch sei. Demgegenüber muss aber die konzeptuelle Eigenständigkeit der Biopolitik betont werden: „Die Realpolitik (und das sie begleitende Feuilleton) versteht unter Biopolitik die politische Auseinandersetzung mit den zunehmend wichtigeren Biowissenschaften. In diesem Sinne wird Biopolitik meist als Sammel­ begriff für Beiträge verstanden, die sich in der einen oder anderen Weise mit der ethischen und politischen Dimension der neueren Entwicklungen in der Biogene­ tik auseinandersetzen. Debatten um die Möglichkeiten von Gentechnologie und Reproduktionsmedizin, die um Begriffe wie ‚therapeutisches Klonen‘, ‚embryona­ le Stammzellenforschung‘ und ‚Präimplantationsdiagnostik‘ kreisen, sind zentral für ein solches Verständnis der Biopolitik. Diese Diskussion übersieht jedoch die wesentliche Tatsache, dass der Begriff der Biopolitik eine Geschichte hat, die sich nicht erst aus den bioethischen Debatten ergeben hat“ (Muhle 2013a, 17). Dieser Sichtweise schließe ich mich ausdrücklich an: Die Bioethikdebatte ist im Vergleich zur Ausarbeitung der Biopolitik als theoretisches Konzept ein nachträgliches und darüber hinaus partikulares Phänomen, das die Thematisierung der Biopolitik als eigenes Begriffskonzept nicht ersetzen kann oder sollte.

22

Einleitung

gesellschaftlichen und politischen Prozess, durch den unter modernen Be­ dingungen Leben und Politik durch die diskursiven Wirkungen der Macht zueinander in Beziehung gesetzt werden. Es geht „um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle“ (Foucault 1983, 138). Biopolitik dreht sich damit um „‚Leben‘ und ‚Poli­ tik‘ als Elemente eines dynamischen Beziehungsgeflechts“ (Lemke 2008, 82f.), weshalb Thomas Lemke einen „relationale[n] Begriff der Biopolitik“ (Lemke 2008, 80) stark macht, der auf die gegenseitigen Interaktionen und Überformungen von Politik und Leben innerhalb eines umfassenden Spannungsfelds der Macht abstellt. Als Form der Macht, „die erst mit dem Übergang zur Moderne auf­ getreten ist und sich seitdem auf verschiedenen Ebenen ausdifferenziert und mit verschiedenen politischen Rationalitäten verbunden hat“ (Ger­ hards/Braun 2019b, 5), zeichnet sich Biopolitik v.a. dadurch aus, dass sie sich auf das biologische Leben des menschlichen Körpers bezieht, und zwar sowohl auf der Mikroebene der individuellen Körper als auch der Makroebene des Gattungskörpers von Bevölkerungen: „[D]ie ‚biologische Modernitätsschwelle‘ einer Gesellschaft liegt dort, wo es in ihren politi­ schen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht“ (Foucault 1983, 138). Damit ist zunächst eine grundsätzlich produktive und aktivierende Bezugsform der Macht auf das Leben verknüpft, ein „wesentlich positiver und nicht repressiver Zugriff auf das Leben“ (Muhle 2013a, 9f.). In der Biopolitik geht es eher um „Ausschöpfen statt Abschöpfen, Leben produk­ tiv machen statt beherrschen, Leben optimieren statt disziplinieren“ (Ger­ hards/Braun 2019b, 28). Allerdings lassen sich durch diesen fördernden und effizienzsteigernden Bezug auf das Leben gleichzeitig „unter Bezugnahme auf ökonomische Argumente neue Formen der Kontrolle über den menschlichen Körper etablieren, beispielsweise hinsichtlich der Fortpflanzung, der Geburtenra­ te, des Gesundheitsniveaus oder ganz allgemein der Lebensdauer“ (Re­ der 2018, 22). Biopolitische Operationen und Mechanismen drehen sich aus einer solchen Perspektive um „die ökonomische Produktivmachung, Förderung und Optimierung der Lebensprozesse“ (Pieper/Atzert/Karakaya­ li/Tsianos 2011a, 8) mit Blick auf die der biopolitischen Macht unterworfe­ nen Subjekte. Auf diese Art und Weise wird das Leben als Referenzpunkt biopolitischen Kalküls durch die Biopolitik selbst erst diskursiv hergestellt, was bedeutet, dass das Leben „als historisch-spezifisches Konstrukt verstan­ den werden muss, das gemeinsam mit der modernen episteme entsteht“

23

Einleitung

(Gerhards/Braun 2019b, 9).5 Der Konzentration der biopolitischen Macht auf das biologische Leben und der damit einhergehenden Reduktion des Menschen auf seinen biologischen Körper korrespondiert daher ein öko­ nomisch motivierter „Optimierungszwang“ (Gerhards/Braun 2019b, 29), der sich in verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Normalisierung und individuellen Selbstdisziplinierung manifestiert. Mit den Worten Fou­ caults: „Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen“ (Foucault 1983, 138). Diese biopolitische Bestimmung moderner Diskurse übernimmt Men­ ke also als zentralen Bezugspunkt und gesellschaftstheoretischen Kontext seiner rechtskritischen Analysen. Seine Darstellung der rechtlichen Unter­ scheidung von Norm und Natur lässt sich nicht unabhängig von ihrem konstitutiven Bezug auf Foucaults Verständnis der Biopolitik begreifen. Im Zentrum beider Theorielinien steht die Reflexion und Kritik des mo­ dernen Verhältnisses von Normativität und Natur: Die Unterscheidung von rechtlicher Norm und nichtrechtlicher Natur, die Menke im spezifischen Rahmen des liberalen Rechts anhand einer Genealogie der subjekti­ ven Rechte rekonstruiert, ist in historischer wie systematischer Hinsicht mit der biopolitischen Differenz von Politik und Leben korreliert, deren Machtimplikationen Foucault in unterschiedlichen Arbeiten herausstellt (vgl. Foucault 2006a; 2006b; 2014). Damit problematisieren beide Tradi­ tionen, sowohl Menkes rechtskritischer Ansatz als auch Foucaults biopoli­ tische Konzeption, eine spezifische Praxis der Naturalisierung, die moder­ 5 Nach Maria Muhle ist das moderne, biopolitische Konzept des Lebens durch eine Doppelbestimmung definiert: „Das Leben ist nicht nur Gegenstand der Biopolitik, es ist zugleich das funktionale Modell, nach dem sich die Macht auf ihren Gegen­ stand bezieht“ (Muhle 2013a, 11). Das heißt, dass die Normen und Regulierungen der Biopolitik „die vitalen Normen imitieren“ (Muhle 2013a, 15) und wiederho­ len, die dem biologisch-modernen Verständnis des Lebens selbst inhärent sind. Dieser Lebensbegriff, so Muhle, „[verbindet] organisch-regulatorische Prozesse und normative Abweichungen miteinander“ (Muhle 2013a, 13). Hierfür bezieht sich Muhle auf Foucaults intellektuellen Lehrer Georges Canguilhem und dessen Lebensbegriff (vgl. Canguilhem 1974), und begreift das Leben als „normative[n] Prozess (…): Normativ ist das Leben in dem Sinne, dass es seine Normen immer wieder hinterfragt und überschreitet, um so den bestmöglichen Zustand im best­ möglichen Milieu zu erreichen“ (Muhle 2013a, 13). Diese „Logik der inneren Normativität des Lebens“ (Muhle 2013a, 15), die in den Humanwissenschaften konzeptuell auf Selbsterhaltung, Gesundheitssteigerung und Lebensoptimierung angelegt ist, wird auf gesellschaftlicher Ebene durch die biopolitischen Regierungs­ techniken nachvollzogen und verinnerlicht, um das Leben des Einzelnen und der Bevölkerung einer möglichst effizienten Beherrschung und Steuerung zu un­ terwerfen (vgl. dazu Menke 2015, 159–163).

24

Einleitung

nen Normativitätskonzepten zugrunde liegt und in der die Geltungskraft normativer Ansprüche auf ihre scheinbare Verankerung in etwas Natür­ lichem, also Nichtnormativem, zurückgeführt und dadurch legitimiert wird. Dieser grundsätzlichen Korrelation entspricht eine theoretische Parallele aufseiten der jeweils zugrundeliegenden Konzeption von Normativität und deren Verhältnis zur Macht: Sowohl Menke als auch Foucault ge­ hen anstelle eines antagonistischen Verständnisses von einem relationalen Modell mit Blick auf die Beziehung von Normativität und Macht aus. Wie bereits dargestellt, funktioniert die Wirkungslogik der biopolitischen Macht nach Foucault durch anstatt gegen Normativität, d.h. in Affirmation gesellschaftlicher Normen, die wiederum die vitalen Normen des Lebens selbst bejahen bzw. nachbilden und denen sich Individuen freiwillig bzw. unbewusst unterordnen. Analog dazu konstatiert Menke, dass soziale Un­ gleichheiten und Herrschaftsstrukturen im Rahmen der bürgerlichen Ge­ sellschaft nicht trotz, sondern gerade wegen der Normativität subjektiver Rechte, nämlich infolge der dialektischen Umschlagslogik entstehen, wel­ che der normativen Architektur subjektiver Rechte immanent eingeschrie­ ben ist. Menkes Rechtskritik rekurriert somit in grundlegender Weise auf Fou­ caults Begriff der Biopolitik und schreibt ihn in rechtskritischer Absicht fort: In der normativen Struktur subjektiver Rechte verwirklicht sich der biopolitische Machtfokus auf das natürliche Leben des Einzelnen und der Gattung. Das natürliche Leben des Menschen wird durch die in Rechten verkörperten subjektiven Ansprüche des Individuums repräsen­ tiert. In dieser Sichtweise verzahnt Menke die normative Ordnung des liberalen Rechts, in deren Zentrum die Legalisierung des Natürlichen mittels subjektiver Rechte steht, systematisch mit den biopolitischen Herr­ schaftsmechanismen und Machtstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft: Biopolitische Herrschaft ist Menke zufolge die paradoxe Konsequenz aus der normativen Selbstreflexion des modernen Rechts im Medium der subjektiven Rechte. Nach Menke beruht die biopolitische Regierung von Bevölkerungen und die biopolitische Subjektivierung der Individuen auf der normativen Struktur subjektiver Rechte, deren dialektische Dynamik die bürgerliche Gesellschaft entpolitisiert und dem biopolitischen Macht­ zugriff unterwirft. Zusammenfassend lässt sich demnach insgesamt festhal­ ten, dass Menkes Rechtsphilosophie von Foucaults Konzeption der Biopo­ litik in entscheidender Hinsicht untermauert wird. Gerade vor dem Hintergrund der skizzierten Ausgangslage erscheint es daher äußerst erstaunlich und überraschend, dass Menke einen zentra­

25

Einleitung

len Aspekt des Foucaultschen Konzepts der Biopolitik nahezu vollständig ausblendet, der jedoch in der gegenwärtigen biopolitischen Debatte breit diskutiert wird und in erster Linie auf gesellschaftliche Ausschlüsse und Marginalisierungen fokussiert. Bereits Foucault führt den Begriff der Bio­ politik im größeren Zusammenhang seiner Analysen der „diskursiven Aus­ schließungsmechanismen und sich verselbstständigenden Methoden der Disziplinierungen in gegenwärtigen Gesellschaften“ (Reder 2018, 22) ein. Dementsprechend wurde die Konzeption der Biopolitik durch den Groß­ teil der biopolitischen Forschungsdebatten der letzten Jahrzehnte in einer gesellschaftskritischen Stoßrichtung „von der Seite der Machttechnologi­ en und Rationalitäten her analysier[t]“ (Pieper/Atzert/Karakayali/Tsianos 2011a, 18). In seiner Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft stellt Foucault die vielfach zitierte und in der Folge breit rezipierte These auf, dass die grundlegende Funktionsweise der Biopolitik darin besteht, im Be­ reich der Gesellschaft eine fundamentale Spaltung bzw. „eine Zäsur einzu­ führen: die Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss“ (Foucault 2014, 104). In dieser Heuristik wird Biopolitik als paradoxe Ein­ heit der Steigerung und Zerstörung des Lebens akzentuiert und dement­ sprechend über ihre produktiven und lebensfördernden Elemente hinaus auf die unterschiedlichen Ausschlussverfahren und Exklusionsdynamiken sowie auf die vielfältigen Prekarisierungen und Entrechtungen menschli­ cher Leben im Rahmen moderner Gesellschaftsgefüge und Rechtssysteme bezogen (vgl. exemplarisch Morton/Bygrave 2008). Im spezifischen Rahmen dieser Rezeptionslinie kommen daher in erster Linie die zahlreichen Formen der biopolitischen Kontrolle, Selektion, Un­ terdrückung, Vernichtung und Tötung menschlichen Lebens sowie die rassistische Aufteilung, Klassifizierung und Hierarchisierung der moder­ nen (Welt-)Gesellschaft in den Blick: „It is in this sense that race is the extreme of biopolitical alterity, the last border, as biological justification of invisibility or of the disappearance of the undesirable“ (Agier 2016, 133). Biopolitik wird dabei im Anschluss an Foucaults ursprüngliche Begriffsbestimmung in ihrer Ambivalenz als Macht über Leben und Tod6 verstan­ 6 Zum Begriff des Todes vgl. einführend Gehring 2010. Mit dem Begriff des Todes ist im Kontext der Biopolitik konzeptuell etwas anderes gemeint als bspw. in der Lebensphilosophie oder der Existenzphilosophie, wie etwa im Rahmen von Heideggers existenzialistischer Vorstellung des „Sein[s] zum Tode“ (Heidegger 2006, 234). Für Heidegger gilt programmatisch: „Die existenziale Interpretation des Todes liegt vor aller Biologie und Ontologie des Lebens“ (Heidegger 2006, 247). Der biopolitische Todesbegriff benennt dagegen vielmehr als begriffliches Pendant zum biologischen Lebensbegriff der modernen Biopolitik zunächst das

26

Einleitung

den: „Die Stärke des von Foucault konzipierten Begriffs der Biopolitik liegt gerade darin, dass er einen analytischen Brückenschlag erlaubt, der die Materialität von Lebensprozessen mit Formen politischen Handelns verknüpft und die Sicherung und Bewahrung des Lebens mit dessen Ein­ schränkung und Zerstörung zusammen denkt“ (Folkers/Lemke 2014, 53). Diese kritische Bedeutungsdimension der Biopolitik ist im internationa­ len Kontext der biopolitischen Diskussion besonders durch einen wichti­ gen Teilstrang der „sogenannte[n] Italian Theory“ (Gerhards/Braun 2019b, 6) aufgenommen und weitergedacht worden.7 Dieser italienische Zweig der biopolitischen Forschung lässt sich dabei grob in zwei Hauptachsen einteilen (vgl. überblickhaft Gorgoglione 2016): Auf der einen Seite lassen sich die Denkerinnen und Denker „des italienischen ‚Postoperaismus‘“ (Pieper/Atzert/Karakayali/Tsianos 2011a, 18) verorten, welche eine alterna­ tive Lesart des Konzepts der Biopolitik entwickeln und das Biopolitische als Kategorie des Subalternen, Emanzipatorischen und Widerständigen im Sinne einer „produktiv gewendete[n] ‚Biopolitik von unten‘“ (Pieper/At­ zert/Karakayali/Tsianos 2011a, 19) adressieren. Hier sind in erster Linie die gemeinsam verfassten, marxistischen Werke Michael Hardts und Anto­ nio Negris (vgl. Hardt/Negri 2003; 2004; 2010), aber auch die Arbeiten Paolo Virnos (vgl. Virno 2005) zu nennen. Besonders Hardt und Negri fra­ gen in ihren Studien in konstruktiver Fortschreibung von Foucault nach den Möglichkeiten dissidenter Praktiken, widerständiger Subjektivitäten und aufständischer kollektiver Gegenmächte unter den biopolitischen Be­ dingungen eines weltweiten Kapitalismus (vgl. exemplarisch Hardt/Negri 2010, 70–79; 132–145). „Biopolitik bezeichnet vor diesem Hintergrund

medizinische, hygienische und statistische Wissen in Bezug auf die Sterblichkeit des Individuums und der Bevölkerung. Der Tod erscheint dem klinischen Blick des Arztes v.a. als biologischer Bestandteil und inhärente Funktion des Lebens und dient dessen wissenschaftlicher Erforschung, z.B. durch die klinische Untersu­ chung von Leichen (vgl. Foucault 1973). Der Tod wird so durch die Biopolitik auf verschiedene Weise reguliert und zum Gegenstand soziologischen Wissens ge­ macht, indem etwa die Mortalität verschiedener gesellschaftlicher Gruppen durch Städteplanung und Polizeiwesen gesteuert wird. Vor diesem konzeptuellen Hinter­ grund weist Foucault darauf hin, dass in modernen Gesellschaften eine spezifische Politik des Todes implementiert wird, in deren Rahmen bestimmte Leben eher geschützt und lebendig erhalten werden als andere, die schutzlos bleiben. Diese schutzlosen Leben werden in dieser Politik des Todes gezielt sterben gelassen oder aktiv getötet. Die Politik des Todes bildet nach Foucault so gesehen die Kehrseite der Biopolitik. 7 Vgl. zum Traditionsstrang der Italian Theory einführend Lucci/Schomacher/Söffner 2020.

27

Einleitung

das Terrain der Kämpfe um Subjektivität, um die Arten und Weisen der Verbindung zwischen Lebensführung, Konsum, Sexualität, politischer Repräsentation und Produktionsweise“ (Pieper/Atzert/Karakayali/Tsianos 2011a, 17). Auf der anderen Seite stehen Denkerinnen und Denker, die sich in erster Linie mit den juridischen Implikationen und Aporien der Biopo­ litik auseinandersetzen. „Zentral für diese Denker ist die Beziehung zwi­ schen Leben und Recht, life and law, jedoch nicht in ihren historisch-spe­ zifischen, kontingenten Ausformungen, sondern als Strukturprinzip des Rechts überhaupt“ (Gerhards/Braun 2019b, 6). Diese zweite Achse, in de­ ren Rahmen unter Biopolitik primär ein Konzept der Rechtsphilosophie und der politischen Philosophie verstanden wird (vgl. ebd.), ist v.a. mit den Namen Roberto Esposito (vgl. Esposito 2004; 2008; 2013) und Giorgio Agamben (vgl. Agamben 2002; 2004; 2016) verknüpft. In diesem speziellen Forschungsstrang wird das kritische Bedeutungselement der Biopolitik, das im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, stärker und expliziter als bei den Postoperaisten vertreten. Im Vergleich zum Postoperaismus trägt der Begriff der Biopolitik bei Agamben und Esposito nämlich eine deutlich negativere Konnotation (vgl. Loick 2012). Beide Autoren verstehen Biopolitik in der Linie Fou­ caults als Ausdruck einer unauflösbaren Verschränkung der biologischen Dimension des Lebens mit den politischen Prozessen und Interventionen in der Moderne und arbeiten von hier aus die damit verbundenen aus­ schließenden und vernichtenden Effekte biopolitischer Konstellationen heraus, welche sie angesichts der darin enthaltenen Tötungsdimension im Anschluss an Foucault als „Thanatopolitik“ (Esposito 2010, 15) bezeich­ nen. In beiden Ansätzen liegt der rechtsphilosophische Fokus dabei stark auf der Kritik der Ersetzung demokratischer Verfahren durch verschiedene Notstandsgesetzgebungen und eine Politik des Ausnahmezustands, die bei­ den Denkern zufolge aktuell immer mehr zur Normalität innerhalb der globalisierten Welt zu werden droht (vgl. Agamben 2017). Agamben stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass das menschliche Leben unter den Bedingungen des Ausnahmezustands und der Suspension des geltenden Rechts, auf, wie Agamben im Rekurs auf Walter Benjamin formuliert, „das nackte Leben“ (Agamben 2002, 100), d.h. auf seine bloßen biologischen Eigenschaften reduziert und dadurch seiner rechtlichen und politischen Dimensionen beraubt wird. Diese bio­ politische Dynamik verdeutlicht Agamben begrifflich zu Beginn seines bekanntesten Werkes Homo sacer (vgl. Agamben 2002) anhand der griechi­ schen Unterscheidung zwischen „zoé und bíos“ (Agamben 2002, 19): Beide

28

Einleitung

Begriffe bezeichnen in einer jeweils unterschiedlichen Akzentsetzung das Leben. Während jedoch zoé das Leben im Sinne des natürlichen Leben­ digseins eines Lebewesens bzw. Organismus meint, bezieht sich bíos auf die politisch und rechtlich qualifizierte Form des Lebens, d.h. auf eine spe­ zifisch soziale und kulturelle Lebensweise (vgl. Agamben 2002, 11). In der modernen Biopolitik, so Agamben, tendiert das Leben immer mehr dazu, auf seine biologischen Aspekte im Sinne der ‚natürlichen‘ zoé enggeführt zu werden. Wer als Person auf das nackte Leben reduziert wird, erscheint bei Agam­ ben als radikal entrechtetes Leben, das über keinen politischen Schutz verfügt und straflos getötet werden kann (vgl. Agamben 2002, 83). Diese radikale Bedeutung der Biopolitik sieht Agamben dabei paradigmatisch in „einer Figur des archaischen römischen Rechts“ (Agamben 2002, 81) ange­ legt, nämlich in der Figur des homo sacer, der nicht religiös geopfert wer­ den darf, aber trotzdem straflos getötet werden kann (vgl. Agamben 2002, 83). Die biopolitische Struktur des homo sacer als rechtloses und vor seiner willkürlichen Tötung schutzloses Leben sieht Agamben in verschiedenen historischen Figuren konkret verkörpert, besonders in den inhaftierten In­ sassen der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager, aber auch in den illegalisierten Einwanderern, die in die rechtlosen Zonen der heutigen Flüchtlingslager wie Moria auf Lesbos interniert werden. Espositos Denken weist zahlreiche Ähnlichkeiten zu Agambens Argu­ mentationsführung auf. Eine Besonderheit von Espositos Ansatz besteht je­ doch darin, dass dieser sich in seinen biopolitischen Studien in Ergänzung zu Foucault intensiv mit dem Paradigma der Immunisierung beschäftigt hat (vgl. exemplarisch Esposito 2004). Dabei nimmt Esposito die von Foucault stammende Frage zum Ausgangspunkt, „[w]arum eine Politik des Lebens stets [droht], in eine Praxis des Todes zu entarten“ (Esposito 2010, 15). Der Begriff der Immunisierung benennt vor diesem Hinter­ grund „die immer stärkere Tendenz, das Leben vor den Gefahren, die aus den zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgehen, zu schützen, und sei es auf Kosten der Aufhebung gemeinschaftlicher Bindungen“ (ebd.). Bei den mit der Biopolitik verbundenen Prozessen der politischen und gesellschaftlichen Immunisierung handelt es sich Esposito zufolge also um antirelationale Schutzmechanismen zur Abschottung bzw. Abschließung einer Rechtsgemeinschaft gegenüber realen oder imaginierten „Gefahren gewaltsamer Auslöschung“ (Esposito 2010, 12). Diese Abschließungsprozesse lassen sich aktuell an verschiedensten Bei­ spielen exemplifizieren, u.a. in nationalistisch und populistisch motivier­ ten Kämpfen gegen die Migration etwa durch die Militarisierung von Au­

29

Einleitung

ßengrenzen oder auch in den nationalstaatlichen Anstrengungen zur Ein­ dämmung der Covid-19 Pandemie angesichts des globalen Ausbruchs des Coronavirus.8 Auch Esposito entwickelt dabei seine biopolitische Perspek­ tive in der Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Nationalsozialismus und versteht das Konzept der Immunisierung ausgehend von der national­ sozialistischen Rassenideologie, die den Schutz und die Optimierung des eigenen, rassisch definierten ‚Volkskörpers‘ auf dem Weg der massenhaf­ ten Vernichtung sogenannten ‚lebensunwerten Lebens‘ zu verwirklichen versuchte (vgl. dazu auch Agamben 2002, 145–153). Esposito untersucht dabei in einer gesellschaftskritischen Absicht, wie diese verschiedenen Immunisierungsverfahren im Namen des nationalen Selbstschutzes das Leben bestimmter Gruppen und Kräfte, die als Gefährder der eigenen Bevölkerung markiert werden, opfern und damit bestimmte stigmatisierte Leben gezielt zerstören und abtöten. Agamben und Esposito stellen in ihren Arbeiten somit auf unterschied­ liche Weise den Nationalsozialismus und den Rassismus ins Zentrum ihrer Reflexionen. In der deutschsprachigen Forschungsdebatte ist in der Folge der Zusammenhang von Biopolitik und Rassismus bereits zum Ge­ genstand einiger einschlägiger Untersuchungen geworden (vgl. Stingelin 2003; darin insb. Bertani 2003; Lemke 2003; Sarasin 2003). Esposito for­ muliert mit Blick auf die biopolitische Verbindung von Rassismus und Nationalsozialismus: „Sobald das Leben eines rassisch definierten Volkes zum höchsten Wert aufsteigt, dessen Reinheit es zu bewahren und dessen Grenzen es zu erweitern gilt, wird jedes andere Leben – das Leben anderer Völker sowie das Leben anderer Rassen – als ein Hindernis betrachtet, das der Realisierung des eigenen Projekts zum Opfer fallen soll. Der bíos wird durch künstliche Grenzen in Bereiche unterschiedlichen Werts unter­

8 Im Zuge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie sind in der internationalen Debatte an der Schnittstelle von (praktischer) Philo­ sophie, politischer Theorie und Sozialtheorie sowie Sozialwissenschaften zahlrei­ che Beiträge und Untersuchungen entstanden, die ausgehend vom Begriff der Biopolitik die gesellschaftlichen, politischen und gouvernementalen Auswirkun­ gen der Corona-Pandemie (sozial-)kritisch in den Blick nehmen und die damit einhergehenden sozialen Transformationsprozesse und Ungleichheitsdynamiken beleuchten (vgl. exemplarisch Mezes/Opitz 2020; Sylvia 2020; Krach 2021; Mi­ lan/Treré/Masiero 2021; Rose 2021). Biopolitik erweist sich in diesem interdiszipli­ nären Zusammenhang als eine zentrale Analyseperspektive insbesondere für die philosophisch-kritische Verarbeitung der Covid-19 Pandemie und ihrer sozialen und gesellschaftspolitischen Folgen.

30

Einleitung

teilt. Als Folge davon muss sich ein Teil des Lebens der gewalttätigen, zerstörerischen Herrschaft eines anderen Teils beugen“ (Esposito 2010, 16). Diese von Esposito angesprochene Unterteilung und Aufspaltung des Le­ bens in ungleich wertvolle Teile bildet dabei nicht nur den Kern der gerade erläuterten (gesellschafts-)kritischen Bedeutungskomponente der Biopolitik, sondern markiert als solche die entscheidende Dimension des Biopolitischen, die im Zentrum dieser Arbeit stehen soll. Im Laufe meiner Untersuchung möchte ich diese kritische Lesart der Biopolitik, in der Bio­ politik von der Seite ihrer Ungleichheitseffekte und Ausschlussdynamiken her akzentuiert wird, zunächst im Ausgang von Michel Foucault rekon­ struieren und dann primär im Anschluss an Judith Butler, Achille Mbem­ be und Didier Fassin als drei zentralen zeitgenössischen Autorinnen und Autoren innerhalb der gegenwärtigen biopolitischen Debatte weiter her­ ausarbeiten (s.u.). Denn dieses kritische Element, in dem es um den biopo­ litischen Ausschluss und die Vernichtung der einen Leben zugunsten der anderen geht, stellt gleichzeitig, wie bereits eingangs angesprochen, die zentrale Leerstelle im Rahmen von Menkes kritischer Rechtsphilosophie dar: Obwohl er das bürgerliche Recht einer radikalen Kritik unterzieht, beschäftigt sich Menke an keiner Stelle näher mit Formen der rechtlichen Ausschließung und Entrechtung. Auf der Basis dieser Ausgangsdiagnose möchte ich im Kontext der vorliegenden Arbeit Menkes rechtskritischen Ansatz durch eine grundle­ gende Kritik biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht ergänzen und kritisch erweitern. Allgemein formuliert, verstehe ich dabei unter Biopo­ litik die unterschiedlichen Formen und Praktiken der gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Ungleichbewertung des menschlichen Lebens in modernen Gesellschaften und den mit ihnen verbundenen bürgerli­ chen Rechtssystemen. In biopolitischen Strukturen, Mechanismen und Praktiken werden Menschen auf ungleiche Weise behandelt, weil ihre Leben ungleich bewertet werden. Auf dieser Folie begreife ich Biopolitik als eine Politik der Ungleichheit, in der im Gegensatz zum normativen Gleichheitsanspruch des Rechts bestimmte Leben als weniger wertvoll und schützenswert angesehen und daher letztlich als weniger menschlich und lebendig betrachtet werden als andere Leben. Damit geht einher, dass Biopolitik weder ein in erster Linie rechtliches Phänomen darstellt noch aus einer rein rechtlichen bzw. rechtstheoretischen Heuristik heraus be­ schreibbar ist. Biopolitik wird in dieser Arbeit vielmehr als übergreifender Rahmen des Politischen verstanden, d.h. als umfassender Kontext sozialer

31

Einleitung

Verhältnisse, Konstellationen und Prozesse, in dessen Machtdynamik die Diskurse und Praktiken des Rechts selbst noch einmal eingebettet sind. Vor diesem konzeptuellen Hintergrund gehe ich von der leitenden These aus, dass Menke insgesamt ein reduktionistisches Verständnis der Biopolitik vertritt und aus diesem Grund im Laufe seiner rechtskritischen Argumentation die biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht aus den Au­ gen verliert. Menke bezieht den Begriff der Biopolitik in seinem rechtsphi­ losophischen Ansatz zu einseitig auf den internen Bereich des Rechts und die spezifische Struktur des Rechtssubjekts. Dadurch wird das Konzept der Biopolitik in seiner systematischen Vielschichtigkeit und Heterogenität je­ doch auf einen bestimmten Bedeutungsaspekt enggeführt, nämlich auf die biopolitische Normalisierung von Rechtssubjekten innerhalb moderner Rechts­ ordnungen. Gleichzeitig unterschlägt Menke auf diese Weise die soeben exemplarisch mit Esposito und Agamben diskutierte kritische Bedeutungs­ dimension der Biopolitik, in deren Rahmen es in erster Linie um die biopo­ litische Entrechtung der Ausgeschlossenen geht. Biopolitik wird bei Menke v.a. als eine rechtliche Funktion konzeptualisiert, wohingegen die vorliegende Untersuchung demgegenüber davon ausgeht, dass moderne Gesellschaf­ ten in einem grundsätzlichen und umfassenden Sinn durch biopolitische Machtformen gekennzeichnet sind, nämlich bereits auf der Ebene ihrer grundlegenden Strukturen, Ordnungseffekte, Praxiszusammenhänge und Subjektivierungsweisen. In ihrer Eigenschaft als allgemeine Matrix der sozialen Vermachtung aktueller Gesellschaften liegt die Biopolitik den be­ sonderen Diskursformationen und Funktionszusammenhängen des Rechts zugrunde und prägt diese gewissermaßen als gesamtgesellschaftlich wirksa­ me Rationalitätsform. Im Kontext der vorliegenden Arbeit geht es mir auf der Basis der skizzierten Überlegungen einerseits darum, an Menkes rechtskritischen Ansatz, wie er in der Kritik der Rechte entfaltet wird, anzuknüpfen und diesen durch eine konstruktive Kritik aus der Instanz der Biopolitik weiter­ zudenken, um dessen blinde Flecken in Gestalt biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht zu problematisieren und einen theoretisch fundierten Ge­ genvorschlag in Bezug darauf zu entwickeln, wie über biopolitische Exklu­ sionen aus aktuellen Rechtssystemen rechtskritisch nachgedacht werden kann. Andererseits geht es mir im selben Zuge nicht einfach nur um die Erweiterung von Menkes rechtsphilosophischem Theoriegebäude, sondern darüber hinaus und entscheidender um die Entwicklung und Ausgestal­ tung des Konzepts der Biopolitik als eigenständige Perspektive im Rahmen einer aktuellen Kritik von Rechtsstrukturen. Während Menke in seiner kritischen Rechtsphilosophie primär im Anschluss an Marx, Luhmann

32

Einleitung

und Foucault ein besonderes Augenmerk auf die entpolitisierenden Wir­ kungen der subjektiven Rechte legt, geht es dagegen in der biopolitischen Perspektive, die im Kontext dieser Arbeit entfaltet werden soll, um biopo­ litische Prozeduren und Mechanismen der Ausschließung, Prekarisierung, Entrechtung, Gefährdung und Tötung, die ihrerseits aus der relationalen Verschränkung biopolitischer Machtformen mit rechtlichen Diskursen und Praktiken resultieren. Im Laufe der folgenden Untersuchungen werde ich dementsprechend dafür argumentieren, dass Biopolitik und Recht in grundsätzlicher Weise relational miteinander verbunden sind. Die vorliegende Arbeit ist insgesamt in vier große Teile gegliedert. Teil I widmet sich der Rekonstruktion des rechtskritischen Ansatzes, den Menke in seiner Kritik der Rechte entwickelt. In Kapitel 1 erläutere ich zunächst das argumentative Grundgerüst und die wichtigsten Grundbegriffe von Menkes Rechtsphilosophie und arbeite daraufhin den kritischen Flucht­ punkt heraus, auf den Menkes Rechtskritik abzielt, nämlich den patholo­ gischen und ideologischen Charakter des bürgerlichen Rechts, den Men­ ke durch den Aufweis der aporetischen Struktur der subjektiven Rechte herausstellt. In der Berechtigung des Eigenwillens schlägt die rechtliche Ermächtigung des Subjekts durch die subjektiven Rechte dialektisch in die soziale Beherrschung und Unterwerfung des Subjekts um, welche im grundlegenden Widerspruch zur Normativität des bürgerlichen Rechts und der subjektiven Rechte stehen. Anschließend nehme ich in Kapitel 2 die beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts in den Blick, an deren Beispiel Menke die Dialektik und die gesellschaftlichen Herrschaftseffekte des Rechts problematisiert, nämlich zum einen das Privatrecht und zum anderen das Sozialrecht. Beide Rechtsformen führen Menke zufolge aus ihrer eigenen normativen Logik und Funktionsweise heraus zur paradoxen Entstehung spezifischer Herrschaftsstrukturen im Raum der bürgerlichen Gesellschaft, die der rechtlichen Normativität fundamental entgegenge­ setzt sind: Während die Normativität des Privatrechts widersprüchlicher­ weise zur Herausbildung von sozioökonomischen Ausbeutungsstrukturen im Bereich des Sozialen führt, schlägt die Normativität des Sozialrechts in die gesellschaftliche Normalisierung des Subjekts um. In Teil II soll die Perspektive der Biopolitik als eigenständige Kategorie im Rahmen einer rechtskritischen Heuristik mit Blick auf die biopoliti­ schen Ausschlüsse aus aktuellen Rechtsordnungen eingeführt werden. In Kapitel 3 setze ich mich zu diesem Zweck ausführlich mit dem diskurskri­ tischen Denken Michel Foucaults auseinander und ordne Menkes rechts­ kritischen Entwurf in den Kontext von Foucaults philosophischem Werk ein, speziell mit Blick auf Foucaults Analysen zum Begriff der Biopolitik.

33

Einleitung

Ausgehend von der grundlegenden These, dass Menkes rechtskritisches Modell in entscheidender Hinsicht auf Foucaults machtkritischen Unter­ suchungen beruht, stelle ich die Ansätze Menkes und Foucaults in einer vergleichenden Analyse einander gegenüber und arbeite die zentralen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verhältnis beider Konzeptionen heraus. Zum einen geht es mir dabei um die Betonung der konzeptuellen Eigenständigkeit der Perspektive der Biopolitik gegenüber Menkes Kon­ zentration des Biopolitischen auf den Bereich des Rechts, zum anderen um die systematische Akzentuierung der Biopolitik als kritische Perspekti­ ve auf rechtliche Ausschlüsse, deren theoretische Entfaltung im Zentrum dieser Arbeit steht. In diesem Zusammenhang setze ich mich einerseits mit den jeweils unterschiedlichen Naturalisierungsverständnissen bei Menke und Foucault auseinander, andererseits nehme ich auf Foucaults Analysen zur biopolitischen Funktion des Rassismus im Kontext moderner Norma­ lisierungsgesellschaften Bezug, um die rechtskritische Heuristik biopoliti­ scher Ausschließungen aus dem Recht zu konturieren und zu schärfen. Kapitel 4 wendet sich auf dieser Basis dem poststrukturalistischen Ansatz Judith Butlers zu und fokussiert im konstruktiven Anschluss an Butlers radikalisierende Lektüre der Biopolitik bei Foucault auf die spezifisch biopolitischen Bedingungen von Rechtssubjektivität. Ausgehend von But­ lers Konzeptionen des precarious life und der gesellschaftlich ungleich verteilten Betrauerbarkeit menschlicher Leben wird Menkes Grundunter­ scheidung von Recht und Nichtrecht in Butlers biopolitisches Vokabular übertragen und auf dieser Grundlage als biopolitische Unterscheidung zwischen Leben und Nichtleben rekonzeptualisiert. Dabei steht die von Butler aufgeworfene und für den Kontext einer biopolitischen Rechtskritik paradigmatische Fragestellung im Mittelpunkt, wer wann wie und unter welchen Bedingungen überhaupt zum Subjekt eines Rechts auf Leben werden kann. Von hier aus wird Biopolitik in ihrer grundlegenden Funk­ tion als systematische Erweiterung aktuellen rechtskritischen Denkens the­ matisiert und auf die kritische Reflexion der Ausschließung von Subjek­ ten aus dem Recht gerichtet, welche als nichtlebendig markiert und aus diesem Grund als Teil des Nichtrechts betrachtet und radikal exkludiert werden. Vor diesem Hintergrund wird abschließend über Menkes Struk­ turbeschreibung der subjektiven Rechte als Legalisierung des Natürlichen hinaus die Konzeption der Illegalisierung des Natürlichen eingeführt und mit Blick auf den biopolitischen Ausschluss von Flüchtlingen und undo­ kumentierten Migranten aus dem Recht diskutiert. Teil III dient auf dieser Grundlage der weiteren Konturierung und Ver­ tiefung der zuvor mit Foucault und Butler entfalteten Konzeption der

34

Einleitung

Biopolitik als Kritik rechtlicher Ausschlüsse. Zu diesem Zweck nehme ich in diesem Teil auf weitere zentrale Ansätze innerhalb der aktuellen interdisziplinären Debatte über den Begriff der Biopolitik Bezug und stel­ le diese meinen vorherigen Überlegungen an die Seite. In Kapitel 5 soll zunächst in einem philosophiegeschichtlichen Rückblick der Begriff des Pöbels als strukturelles Problem im Kontext von Hegels Rechtsphilosophie rekonstruiert werden und von hier aus als ein systematisches Vorläufermo­ dell in Bezug auf die biopolitische Kritik des modernen Rechts interpre­ tiert werden. Dabei entwickle ich die These, dass der Hegelsche Begriff des Pöbels in philosophiegeschichtlicher Hinsicht als paradigmatische Ge­ stalt der biopolitisch Ausgeschlossenen verstanden werden kann und als solche den selbstreflexiven Anspruch des modernen Rechts unterwandert. Das Argument besteht darin, dass das moderne Recht den biopolitischen Ausschluss des Pöbels nicht nochmals rechtlich reflektieren kann, so dass die von Menke beschriebene Selbstreflexion des bürgerlichen Rechts ge­ rade am Phänomen des Pöbels scheitert. Daran anschließend werde ich die Idee des Pöbels bei Hegel in den gegenwärtigen Kontext der Globali­ sierung übertragen und in diesem Zusammenhang die heutige Figur des illegalisierten Flüchtlings bzw. des undokumentierten Migranten als eine aktuelle, globale Erscheinungsform des Pöbels deuten und mit Blick auf dessen biopolitische Ausschließung aus weltgesellschaftlichen Strukturen kritisch beleuchten. Daraufhin nehme ich in Kapitel 6 Achille Mbembes postkolonialen An­ satz als eine der einflussreichsten zeitgenössischen Weiterentwicklungen von Foucaults Konzeption der Biopolitik in den Blick, um die Biopolitik noch einmal stärker auf ihre postkolonialen und rassistischen Implikatio­ nen hin zu untersuchen. Dabei steht Mbembes Neuakzentuierung des Begriffs der Biopolitik im Mittelpunkt, die er aus einer postkolonialen Heuristik heraus artikuliert und speziell im Konzept der sogenannten Nekropolitik ausbuchstabiert. Im Begriff der Nekropolitik radikalisiert Mbembe Foucaults Verständnis des Biopolitischen mit Blick auf den Aus­ schließungscharakter und die Tötungsdimension biopolitischer Diskurse und Praktiken, indem er die Biopolitik in den spezifischen Kontext der Reproduktion (post-)kolonialer Herrschaftsverhältnisse einordnet und von ihrer konstitutiven Verankerung innerhalb rassistischer Sozialstrukturen her begreift. Nekropolitik erscheint hierbei als eine besonders brutale und gewaltsame Form der Biopolitik, in der es darum geht, rassisch stigmatisierte Subjektpositionen hervorzubringen und darauf aufbauend den Tod von rassisch definierten Bevölkerungsgruppen herbeizuführen. Im Anschluss an Mbembes postkoloniale Perspektive, so lautet die The­

35

Einleitung

se, können biopolitische Ausschließungen von illegalisierten Flüchtlingen bzw. undokumentierten Migranten aus aktuellen Rechtssystemen als spe­ zifischer Effekt nekropolitischer Machtformen rekonstruiert werden: In nekropolitischen Diskursen, Strukturen und Praktiken, so Mbembe, wer­ den rassisch stigmatisierte Menschen auf den entsubjektivierten Status von Rassensubjekten reduziert, um gegenwärtige Prozeduren der Entrechtung und potenziellen Tötung dieser Menschen zu legitimieren und im selben Zuge die auf rassistische Weise produzierte Position des radikal Anderen von der eigenen Rechtsgemeinschaft abzutrennen und auszuschließen. Kapitel 7 greift im Anschluss daran das soziologische Denken Didier Fassins auf. In einer Neuinterpretation Foucaults hat Fassin den Begriff der Biopolitik vor einem sozialphilosophischen Hintergrund in den letzten Jahren neu aufgerollt und in der Konzeption einer Politik des Lebens gesellschaftskritisch reformuliert. Unter einer Politik des Lebens versteht Fassin dabei die unterschiedlichen Mechanismen, Formen und Praktiken der Ungleichbewertung und Ungleichbehandlung von Menschenleben in modernen Gesellschaften. Biopolitik wird in diesem Zusammenhang bei Fassin konzeptuell als eine moralische Ökonomie aufgefasst, in deren Rah­ men das Leben von Menschen auf ungleiche Weise moralisch besetzt und ethisch bewertet wird. Dadurch politisiert Fassin zugleich in entscheiden­ der Hinsicht Foucaults diskursanalytische Verständnisweise der Biopolitik, indem er den Fokus von den Machttechnologien und Regierungstechni­ ken hin zur sozialen und politischen Umgangsweise mit verschiedenen Menschenleben verschiebt und die konkreten Handlungskontexte im Hin­ blick auf die darin enthaltenen Ungleichheiten untersucht. Unter dem Vorzeichen der Politik des Lebens begreift Fassin die Biopolitik dement­ sprechend als den gesamtgesellschaftlichen Horizont der sozialen, kulturel­ len und politischen Dynamiken und Strukturen der ungleichen Wertschät­ zung von Menschenleben, in dessen Rahmen bürgerliche Rechtsdiskurse noch einmal eingebettet sind. Im Anschluss an Fassin lässt sich daher das in dieser Arbeit vertretene Verständnis der Biopolitik als umfassende Perspektive des Politischen gegenüber deren rechtszentrierter Lesart bei Menke untermauern. Gleichzeitig erlaubt die Beschäftigung mit Fassins Ansatz eine analytische Weiterentwicklung und konzeptuelle Präzisierung in Bezug auf Butlers Begriffe der Betrauerbarkeit und des precarious life: Anhand von Fassins Konzept der Biolegitimität lässt sich der Begriff des Lebens in seinen immanenten Bedeutungsebenen ausfalten und speziell mit Blick auf die Ungleichgewichtung der biologisch-medizinischen Di­ mension des Lebens gegenüber dessen sozialen und politischen Elementen problematisieren.

36

Einleitung

Teil IV wirft vor dem bis dahin erarbeiteten Hintergrund der Kritik biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht die Frage nach dem Widerstand der rechtlich Ausgeschlossenen auf. Zunächst nehme ich hierfür in Kapitel 8 noch einmal erneut Ausgang von Menkes eigenem Theoriemodell und beleuchte in diesem Zusammenhang kritisch die Interpretation des Skla­ venaufstands in der Moral, die Menke im Anschluss an Nietzsches Überle­ gungen in der Genealogie der Moral entwickelt. Dabei vertrete ich die The­ se, dass Menkes Deutungsansatz des Sklavenaufstands, in dessen Zentrum die Kritik des sogenannten Rechts auf Berücksichtigung steht, konzeptuell nicht dazu in der Lage ist, auf kohärente Weise den Widerstand derer zu denken, die rechtlich exkludiert werden und kollektiv gegen ihre Ent­ rechtung ankämpfen: Menkes Darstellung des Sklavenaufstands verstrickt sich vielmehr, so die These, zu stark in ästhetische und erkenntnistheoreti­ sche Kategorien und verliert dadurch letztlich die politische Dimension ihres Untersuchungsgegenstands aus dem Blick. Stattdessen entwickle ich auf der Basis einer biopolitischen Relektüre des von Nietzsche in der Genealogie der Moral beschriebenen Herrenrechts, Werte zu schaffen, einen philosophischen Gegenvorschlag, in dem es im Unterschied zu Menkes Interpretation darum geht, die biopolitische Struktur des Herrenrechts im Dialog mit Mbembe und Fassin kritisch herauszuarbeiten und dessen biopolitischen Ausschlusscharakter daraufhin im Rekurs auf Daniel Loick mit der Genese des bürgerlichen Rechtssubjekts parallel zu lesen. In Kapitel 9 skizziere ich abschließend die Struktur des Widerstands der rechtlich Ausgeschlossenen gegen die biopolitischen Prozeduren ihrer Ent­ rechtung und Illegalisierung. Zu diesem Zweck leite ich in einem ersten Reflexionsschritt die Notwendigkeit, die kritische Dimension des Wider­ stands als ein zentrales Element im Kontext einer Kritischen Rechtstheorie zu denken, aus Menkes eigenen Überlegungen zur Haitianischen Revolu­ tion ab. In einem zweiten Schritt widme ich mich dann Judith Butlers jüngeren rechtskritischen Untersuchungen, in denen Butler die gewaltsa­ me Selbstkonstitution des Rechts als die gleichzeitige Einsetzung eines be­ stimmten Regimes der Erscheinung durch das Recht begreift. Ausgehend hiervon erläutert Butler die biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht in ihrem inneren Zusammenhang mit dem in der Setzung des Rechts automatisch gestellten rechtlichen Machtanspruch auf die Regulierung und Kontrolle des öffentlichen Erscheinungsraums. Den Widerstand der Ausgeschlossenen rekonstruiere ich vor diesem Hintergrund als performa­ tive Inbesitznahme, Rückeroberung und Neubestimmung der öffentlichen Erscheinungsräume durch Praktiken des unerlaubten kollektiven Erschei­ nens der Ausgeschlossenen in der Öffentlichkeit. Durch solche Akte der

37

Einleitung

körperlichen Versammlung, so die leitende These im Anschluss an Butler, üben die Ausgeschlossenen die ihnen vorenthaltenen Rechte auf performa­ tive Weise aus und zeigen darin auf kritische Weise auf, inwiefern das herr­ schende Regime der Erscheinung auf der Bedingung ihrer Entrechtung und Exklusion beruht. Im Zentrum dieser performativen Konzeption des Widerstands steht dabei die Dimension des widerständigen körperlichen Erscheinens derer, die unter der Bedingung ihrer Rechtlosigkeit nichts­ destotrotz ihre Rechte einfordern und dadurch die sie ausschließenden Rechtsregime zu delegitimieren versuchen. Meine Arbeit endet mit einem postkolonialen Ausblick, in dessen Rah­ men ich den performativen Widerstand der biopolitisch Ausgeschlossenen in Beziehung zu Frantz Fanons dekolonialer Perspektive auf den Befrei­ ungskampf der schwarzen Sklaven gegen die weißen Herren am Schluss von Schwarze Haut, weiße Masken setze. Dabei spitze ich einerseits die im Kontext dieser Arbeit entwickelte rechtskritische Perspektive der biopoliti­ schen Ausschlüsse aus dem Recht vor dem Hintergrund der rassistischen Kategorien von Weißsein und Schwarzsein nochmals zu und arbeite in diesem Zuge andererseits die antirassistische Struktur des Widerstands der Ausgeschlossenen in grundlegenden Umrissen heraus.

38

TEIL I Rekonstruktion: Christoph Menkes Kritik der Rechte

Kapitel 1

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik 1.1.1 Der Ausgangspunkt: Das Recht als Paradox Die Kritische Theorie problematisiert das Recht in erster Linie in seiner Gestalt als Praxis (vgl. im Folgenden Faets 2018). Das Recht ist als Praxis deshalb für die Kritische Theorie problematisch, weil sein Praxischarakter paradox, ja aporetisch verfasst ist. Das Recht ist als Praxis paradox, da sich die Praxis des Rechts nur in Abtrennung von einer anderen, nichtrechtli­ chen Praxis konstituieren kann. In dieser paradoxen Struktur der rechtli­ chen Praxis kommt Christoph Menke zufolge nicht nur die Rechtsförmig­ keit der rechtlichen Normativität zum Ausdruck, sondern es zeigt sich darin zugleich und fundamentaler, dass jede Form von Normativität eine rechtsförmige Seite hat, dass also „das Recht ein strukturelles Merkmal der Normativität als solcher ist“ (Menke 2018a, 144). Die Rechtsförmigkeit normativer Ordnungen kommt immer in dem Moment zur Geltung, in dem durch einen Akt der Suspendierung der konkreten sozialen Praxis der Herrschaftsanspruch einer Norm durchgesetzt wird, also dort, „wo sich eine Norm von der Praxis trennt, um urteilend in sie interve­ nieren zu können: um die Praxis von außen – im Namen ihres nach außen getretenen Inneren oder Wesens – regieren zu können. Dies ist der Moment, in dem jede normative Ordnung durch eine ‚Ökonomie der Gewalt‘, also äußerlich – faktisch, nicht normativ – aufeinander einwirkender Kräfte, bestimmt wird. Die Rechtsförmigkeit der Nor­ mativität besteht in ihrem Regierungsanspruch (eine Norm, die nicht regiert, ist keine)“ (Menke 2018a, 144f.). Der Normativität des Rechts ist also notwendig ein Moment der Gewalt eingeschrieben, worauf schon Walter Benjamin in seiner Rechtsgewaltkri­ tik hingewiesen hat (vgl. Benjamin 1991). In dieser Arbeit wird unter Gewalt in Übereinstimmung mit Menke allgemein die faktische Einwir­ kung einer Macht oder Kraft auf das Subjekt verstanden, insofern diese Einwirkung vom Subjekt als Zwang, als Entmächtigung oder Verletzung erfahren wird: „Gewalt ist, unabhängig von ihrer Legitimität, Überwälti­ gung und Übermacht“ (Dedek 2018, 94). Der Gewaltcharakter des Rechts

41

Kapitel 1

hängt mit seinem Gesetztsein, mit dem Akt seiner Einsetzung zusammen. „Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt“ (Benjamin 1991, 198). Denn die Setzung des Rechts lässt sich als solche nicht nochmals normativ begründen oder recht­ fertigen, da die Setzung erst den Rahmen und die Bedingungen für eine solche Rechtfertigung hervorbringt. Am Ursprung des Rechts liegt die Gewalt, weil die Setzung des Rechts selbst ein Akt der Gewalt ist: „Die Gewalt der rechtsetzenden Gewalt liegt im bindenden Imperativ ihres Anfangs, der festlegt: ‚Dies soll Recht sein‘ oder ‚Dies gilt von nun an als Recht‘“ (Butler 2020, 158). Indem das Recht sich selbst als Recht, d.h. als normative Praxis setzt, bestimmt es im Akt seiner Setzung zugleich das, was außerhalb des Rechts ist, als Nichtrecht und damit als der rechtlichen Normativität notwendig entgegengesetzt, nichtnormativ oder, wie Menke formuliert, als Natur.9 Menke zufolge ist die bürgerliche Gesellschaft aus der Perspektive des Rechts etwas Natürliches. Die normative Praxis des Rechts muss sich, um eine normative Praxis zu sein, von dem absetzen, was dieser Praxis äußerlich ist. Die Gewalt kommt dabei dadurch ins Spiel, dass dieser Prozess der Absetzung und Abgrenzung gegenüber dem Nichtrecht nicht nur vom Recht selbst ausgeht, sondern dass das Recht im eigenen Konstitutionsakt das Nichtrecht als sein Anderes mitsetzt und als solches bestimmt. Durch seine Etablierung als normative Ordnung ist das Recht zugleich eine nichtnormative Praxis der Veräußerlichung gegenüber allem Nichtrechtlichen. „Weil das Recht diesen Gegensatz von Recht und Nichtrecht selbst setzt, bleibt es in diesem Gegensatz gefangen“ (Menke 2015, 404). Problematisch ist die rechtskonstitutive Beziehung zwischen Recht und Nichtrecht deshalb, weil sie selbst nichtnormativ, d.h. gewaltförmig, ist. Nur in seiner Differenz zum Nichtrecht kann das Recht sich als Recht setzen. Da die Setzung dieser Differenz zwischen (normativem) Recht und (nichtnormativem) Nichtrecht dem Recht selbst intern ist, bleibt das Recht von der Notwendigkeit verfolgt, sich immer erneut gegenüber dem Nichtrecht durchsetzen zu müssen. Gegenüber dem nichtrechtlichen Äu­ ßeren muss sich das Recht deshalb mit Gewalt durchsetzen, weil seine nor­ mativen Regeln im Verhältnis zum Nichtrecht notwendig keine Geltung haben. Die nichtnormative, also gewaltsame Spaltung zwischen Recht und Nichtrecht muss im Moment der Etablierung des Rechts eingeführt und in jedem normativen rechtlichen Akt implizit wiederholt werden. 9 Vgl. zu einer alternativen Akzentuierung des Naturbegriffs im Anschluss an Han­ nah Arendt Khurana 2017.

42

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

Deshalb ist das Recht paradox verfasst: Es hängt als normative Ordnung von nichtnormativen Voraussetzungen ab, die es mit seinen normativen Mitteln selbst nicht garantieren kann.10 Die Etablierung einer normativen Ordnung kann nicht innerhalb dieser Normativität nochmals begründet werden, weil ihre Etablierung eine Setzung ist und daher die – ausschlie­ ßende – Absetzung von allem, was normativ äußerlich, also nichtnormativ, ist. „Ich schlage vor, das Potential dieser nichtnormativen Wirksamkeit die ‚Gewalt‘ des Rechts zu nennen: Das Recht begrenzt, bekämpft oder unterdrückt das Nichtrecht. Das Verhältnis zwischen Recht und Nichtrecht kann nur ein Verhältnis der Gewalt sein“ (Menke 2018a, 155). Das Recht ist also notwendig beides zugleich: Eine Ordnung der Norma­ tivität und eine nichtnormative Instanz der Gewalt, ja das Recht kann überhaupt nur eine Form von Normativität sein, indem es gleichzeitig und paradoxerweise eine nichtnormative Herrschaft über das Nichtrecht ist. Diese gewaltförmige Herrschaft übt das Recht dadurch aus, dass es das Nichtrecht als Nichtrecht konstituiert und von der rechtlichen Normativi­ tät ausschließt. 1.1.2 Der rechtsphilosophische Kontext: Walter Benjamins Kritik der Gewalt Das Paradox des Rechts folgt also aus seiner notwendigen Doppelbestim­ mung (vgl. zum folgenden Absatz Faets 2018). „Das Recht muß normativ und nichtnormativ zugleich sein, aber es kann nicht gleichzeitig normativ und nichtnormativ sein“ (Menke 2018a, 156). Diese beiden Seiten, die das Recht ausmachen, sind nicht ineinander auflösbar, sondern stehen in einem dialektischen, ja antagonistischen Spannungsverhältnis zueinander. Im gewaltförmigen Herrschaftsanspruch besteht der Rechtscharakter von Normativität, denn jede normative Ordnung konstituiert sich selbst durch

10 Vgl. dazu in einer anderen Stoßrichtung das berühmte Böckenförde-Theorem, das der Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde promi­ nent in seinem Aufsatz Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation aufgestellt hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist“ (Böckenförde 1976, 60).

43

Kapitel 1

das Ziehen einer Trennlinie zwischen dem, was der Normativität intern ist, und all dem, was ihr „äußerlich, fremd oder gar feindlich ist“ (Menke 2018a, 154). Die Gewalt ihrer Etablierung ist die Existenz- und Funktions­ bedingung der Normativität. Walter Benjamin hat diese Gewaltdynamik des Rechts anhand der Un­ terscheidung zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt ausge­ lotet und dabei speziell zu einer Kritik der rechtserhaltenden Gewalt hin ausbuchstabiert (vgl. Benjamin 1991, 189ff.; vgl. dazu Menke 2011, 49– 57).11 Benjamin fokussiert auf eine grundlegende Ambivalenz des Rechts, die er als „mythische Gewalt“ (Benjamin 1991, 197) bezeichnet. Damit ist, grob zusammengefasst, gemeint, dass sich die Gewalt des Rechts niemals endgültig eindämmen lässt, da die ursprüngliche rechtsetzende Gewalt im Akt der Einsetzung des Rechts „nicht abdankt“ (Benjamin 1991, 198), sondern dauerhaft im Recht erhalten bleibt.12 Menke bezieht sich auf diesen Benjaminschen Begriff der mythischen Gewalt, wenn er, wie oben beschrieben, den Wiederholungscharakter der Rechtsgewalt thematisiert.13 Die Idee der mythischen Gewalt bringt das rechtskonstitutive Missverhält­

11 Mit der Gegenüberstellung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt reinterpretiert Benjamin „das Verhältnis zwischen konstituierender Gewalt und konstituierter Gewalt“ (Agamben 2002, 51) als zentrales Problem der Rechtsphi­ losophie und politischen Philosophie (vgl. zur Unterscheidung von konstituie­ render und konstituierter Macht in einer marxistisch-radikaldemokratischen Aus­ richtung Negri 2011). 12 Vgl. dazu: „Als Überwinder der Gewalt ist Recht auf Gewalt angewiesen und schicksalhaft in einer ewigen echohaften Wiederholung seiner eigenen gewalt­ samen Setzung gefangen. Es geht um den Nachhall einer konkret-physischen Verletzungsgewalt, die in der Todesstrafe ihren letzten, archaisch-schrecklichen Ausdruck findet“ (Dedek 2018, 84). 13 Jacques Derrida hat an Benjamins Begriff der mythischen Gewalt angeschlossen und das Konzept der unendlichen Gerechtigkeit entwickelt: Der Gerechtigkeits­ anspruch des Rechts kann niemals vollständig verwirklicht werden, weil jede richtende Entscheidung und jedes richterliche Urteil den Prozess der gerechten Urteilsfindung abbricht; der Richter kann bspw. bis zuletzt nicht wissen, ob nicht noch ein entscheidendes Indiz aufgefunden oder ein entscheidender Zeuge auftreten wird, der das tatsächlich verkündete Urteil als ungerecht ausweisen wird. Gleichzeitig kann das Urteil nicht unendlich weit hinausgezögert werden, die Gerechtigkeit verlangt eine Entscheidung. Damit folgt die Logik der Ent­ scheidung paradoxerweise einer kategorial anderen Rationalität als der Prozess, der zu ihr hinführen soll. Die Entscheidung ist die Unterbrechung, ja der Ab­ bruch der prozeduralen Suche nach Gerechtigkeit vor Gericht. Im Hintergrund von Derridas Untersuchungen steht dabei der Benjaminsche Gedanke, dass zwi­ schen Recht und Gerechtigkeit notwendig eine unschließbare Lücke klafft (vgl. Derrida 1991).

44

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

nis zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt zum Ausdruck. Zum Begriff des Rechts gehört notwendig ein Gewaltpotenzial, also die Fähigkeit des Rechts, seine normative Geltung im Krisenfall mit den Mitteln staatlicher Gewalt durchsetzen zu können. Dem modernen recht­ lichen Selbstverständnis – und der dahinterstehenden liberalen Ideologie – zufolge ist dieses Gewaltpotenzial des Rechts dadurch legitimiert, dass die Gewalt der Verwirklichung eines Rechtszwecks dient. Die Gewalt ist immer dann berechtigt, wenn sie als Mittel auf einen gerechten Zweck ausgerichtet ist. Der Liberalismus geht von der Annahme aus, dass die Rechtsordnung notfalls mit gewaltsamen Mitteln erhalten und durchge­ setzt werden muss, weil die Etablierung und Erhaltung des Rechts einen gerechten Zweck darstellt. Im liberalen Modell ist die Rechtsgewalt also dadurch legitimiert, dass sie als Mittel den Zweck der Erhaltung einer ge­ rechten Rechtsordnung verfolgt. Oder mit Benjamins Worten: „Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden“ (Benjamin 1991, 180). Benjamin zufolge missversteht genau diese liberale Sichtweise das ei­ gentliche Problem im Verhältnis von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt und damit den tatsächlichen Charakter der Rechtsgewalt. Denn die Gewalt der Rechtserhaltung kann niemals nur Mittel für einen gerech­ ten Zweck sein. Die Differenz von Mittel und Zweck ist vielmehr selbst instabil, sodass Mittel und Zweck stets ineinander umzuschlagen drohen (vgl. Benjamin 1991, 198). Als Beispiel hierfür führt Benjamin die Poli­ zeigewalt an. Die Polizei zeichnet sich nämlich nach Benjamin dadurch aus, „dass in ihr die Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist“ (Benjamin 1991, 189). Zwar dient die Polizei als Institution vordergründig dem Zweck der Rechtserhaltung, aber in ihrem polizeilichen Handeln emanzipiert sie sich von den ursprünglichen Rechtszwecken, mit denen ihre Operationen scheinbar identisch sind, und tendiert dazu, sich zu verselbstständigen und ihr eigenes Recht und ihren eigenen Zweck zu setzen, „den sie mit Rechtsanspruch ergehen lässt“ (ebd.). Es gibt dementsprechend für Benjamin überhaupt keine reinen Mittel; die liberale Zweck-Mittel-Relation, der zufolge legitime Mittel mit gerechten Zwecken im Einklang stehen, ist eine Täuschung, ja eine ideolo­ gische Verzerrung des Rechts. „Dass das Recht mit einer Zwangsbefugnis verbunden ist, ist deshalb so selbstverständlich, da sich Recht und Zwang zueinander verhalten wie Zweck und Mittel. Der Zwang ist das Mittel des Zwecks des Rechts, er ist die Exekution der Legislation“ (Loick 2012, 182). In seiner Kritik der Gewalt zeigt Benjamin auf, inwiefern diese selbstver­ ständliche und scheinbar unproblematische Koppelung von Zwecken und

45

Kapitel 1

Mitteln sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar und widersprüchlich offenbart. Zwischen der Gerechtigkeit der Erhaltung des Rechts als Zweck und der Berechtigung der Gewalt als deren Mittel klafft nämlich eine Lücke (vgl. Benjamin 1991, 181), und zwar insofern die Frage nach der Legitimierung der Gewalt in entscheidender Hinsicht unbeantwortet bleibt. Denn selbst wenn die rechtserhaltende Gewalt ein reines Mittel zur Verwirklichung des gerechten Zwecks der Rechtserhaltung wäre, so Benjamins Argument, ist damit normativ noch überhaupt nichts darüber ausgesagt, aus welchen Gründen eigentlich ausgerechnet die Gewalt als legitimes Mittel zur Zweckerreichung in Frage kommen sollte. Die Legitimierung der Erhal­ tung des Rechts als gerechter Zweck kann also nicht schon die Frage nach der Legitimität der Gewalt als deren rechtmäßiges Mittel miterklären. Oder wie Daniel Loick formuliert: „Die Frage nach der Legitimität der Gewalt als Mittel ist durch die Legitimität des Rechts als Zweck niemals schon mitbeantwortet“ (Loick 2012, 182). Das bedeutet für Benjamin, dass das Recht als Zweck und die Gewalt als Mittel nicht abschließend in eine gegenseitige Übereinstimmung gebracht werden können, sondern durch eine Kluft voneinander getrennt bleiben. Denn die Rechtfertigung der Gewalt als Mittel der Rechtserhaltung setzt immer schon das Recht als Rahmen dieser Rechtfertigung zirkelhaft voraus. Vor diesem Hintergrund konstatiert Judith Butler, dass „die Instituierung des Rechts erst die Bedingungen für Legitimations­ verfahren und Überlegungen zur Legitimität beabsichtigten Handelns [schafft]. Anders gesagt ist das Recht der implizite oder explizite Rah­ men für unsere Auffassung darüber, ob Gewalt legitimes Mittel zu einem gegebenen Zweck ist oder nicht, aber auch dafür, ob wir eine gegebene Machtinstanz ‚gewaltsam‘ nennen sollen oder nicht. Die Rechtsherrschaft, einmal gegründet, regelt auch die Legitimierungs­ muster und die Benennungspraxis. Sie tut dies tatsächlich durch einen Erlass, und hier liegt denn auch ein Aspekt der Gewaltsamkeit der Rechtsetzung“ (Butler 2020, 158). Die Asymmetrie von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt, die Benjamin anhand der Unterscheidung von Zweck und Mittel näher be­ schreibt und in ihrem mythischen Charakter untersucht, führt damit eine aporetische Doppelstruktur in den Begriff des Rechts ein. Wer das Recht verstehen will, ist daher dazu gezwungen, es von zwei radikal unterschiedlichen, aber trotzdem zusammengehörigen Perspektiven aus zu betrachten: Zum einen ist das Recht eine normative Ordnung, eine

46

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

Praxis normativer Rechtfertigung; zum anderen aber ist es in seiner Gestalt als Normativität eine Instanz der Macht, eine nichtnormative Form des Zwangs und der Gewalt. „Der Grund dafür liegt in der Logik, die bereits die Einsetzung des Rechts regiert: Die Einsetzung des Rechts ist seine Ent­ gegensetzung zum Außerrechtlichen oder zum Nichtrecht“ (Menke 2015, 404). 1.1.3 Zur Fundamentalstruktur des Rechts: Die Unterscheidung von Norm und Natur Die Normativität des Rechts kann also Menke zufolge nur aus sich selbst heraus verstanden werden. Das rechtliche Sprachspiel normativer Legiti­ mation ist notwendig auf die Innenseite des Rechts beschränkt. Das Recht ist allein in der rechtlichen Innenperspektive als Normativität intelligibel, da seine normative Geltung nur nach innen normativ gerechtfertigt wer­ den kann. Oder: Seine Normativität kann nur innerhalb der Ordnung, die das Recht selbst ist, normativ begründet und legitimiert werden. Das be­ deutet, dass die rechtliche Normativität in ihrem grundsätzlichen Funktio­ nieren nicht einfach nur äußerlich, sondern von innen her durch Gewalt bedingt ist. Da das Recht nur im Gegenüber zu seinem Äußeren oder Anderen als Recht konstituiert werden kann, muss es sich zum Zweck der Selbsterhaltung dauerhaft gegen dieses Andere durchsetzen, das es im eigenen Konstitutionsakt mitgesetzt hat. Die rechtserhaltende Gewalt ist in dieser Heuristik, wie gesehen, nie­ mals ein reines Mittel, weil die Einsetzung des Rechts niemals mit der In­ stitutionalisierung, also Setzung eines normativen Regelsystems von Rech­ ten und Pflichten endet, sondern unaufhörlich die in jedem Rechtsakt wiederholte, gewaltsame Setzung der normativen Geltung des Rechts ge­ genüber ihrem nichtrechtlichen Äußeren erzwingt. Dass die Normativität des Rechts nur nach innen hin und von innen heraus normativ legitimiert werden kann, exemplifiziert Daniel Loick anhand des strafrechtlichen Ex­ tremfalls der Todesstrafe: „Die Entscheidungen, zu töten oder zum Töten zu zwingen, sind legitime rechtserhaltende Maßnahmen aus dem Register des Souveräns, so lange man sie innerhalb des normativen Koordinaten­ systems des zwangsbewehrten Rechts beurteilt“ (Loick 2012, 189). Die Legitimität der Todesstrafe wird genau in dem Moment infrage gestellt, in dem die normative Geltungskraft des rechtlichen Koordinatensystems nicht länger anerkannt wird, welches ihr ihre Legitimität verleiht.

47

Kapitel 1

Das Recht bleibt also von dem Erfordernis verfolgt, sich immer erneut gegen das Nichtrecht durchsetzen zu müssen (vgl. zum folgenden Absatz Faets 2018). In diesem Sinn führt Menke auch den Begriff der Natur als Gegenbegriff zur Norm ein. Menkes Terminologie funktioniert dabei fol­ gendermaßen: Normativ meint im Rahmen von Menkes Rechtsphilosophie stets und ausschließlich aus der normativen Perspektive des Rechts. Aus der Binnenlogik der rechtlichen Normativität betrachtet ist die bürgerliche Gesellschaft natürlich im Sinne von nichtnormativ, da sie nichtrechtlich, also der Normativität des Rechts extern ist. Die Begriffe der Natur und des Nichtrechts verwendet Menke also synonym. Die außerrechtlichen Gesell­ schaftsverhältnisse folgen anderen normativen Ordnungen als der rechtli­ chen: z.B. ökonomischen, religiösen oder pädagogischen Wertesystemen. Das Soziale14 ist aus der Sicht des Rechts Natur, es ist nichtnormativ, d.h. nicht normativ im Sinn der Rechtsnormativität (vgl. Menke 2015, 57). In Menkes rechtskritischer Heuristik kann es daher keinen direkten Austausch, keine unmittelbare Kommunikation zwischen dem Recht und dem Nichtrecht, also zwischen Norm und Natur geben. Da beide nor­ mativ buchstäblich nichts gemeinsam haben, d.h. nicht Teil derselben normativen Ordnung sind, muss die rechtliche Norm sich gegen die nichtrechtliche Natur durchsetzen. Nach Menke setzt sich das Recht mit der Natur im Medium der Verrechtlichung in Beziehung. Aus Sicht des

14 Liberale Modelle setzen bei der Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse und der Begründung normativer Prinzipien in den meisten Fällen methodisch am Individuum an. Gegen einen solchen methodischen Individualismus vertrete ich in dieser Arbeit ausdrücklich ein relationales Verständnis des Sozialen. Eine rela­ tionale Konzeption des Sozialen geht nicht vom einzelnen Individuum aus, son­ dern von der fundamentalen Beziehungshaftigkeit des Menschen. Der Mensch steht als genuin soziales Wesen immer schon „in vielfältigen Beziehungen zu an­ deren“ (Lessenich 2018, 48) und wird erst durch diese dynamischen Beziehungen gesellschaftlich zu einem Subjekt geformt. „Das Soziale ist dabei weder eine An­ sammlung von Individuen noch eine homogene Einheit, sondern ein relationales dynamisches Geschehen. Relationalität ist grundlegend für das, was Menschen ausmacht und woraus sich auch erst normative Ansprüche begründen“ (Reder 2020, 283f.). In der philosophischen Analyse des Sozialen unterscheidet dabei bspw. der Frankfurter Sozialphilosoph Martin Saar zwischen den Begriffen der Ordnung, der Praxis und des Subjekts als drei Ebenen des Sozialen, denen jeweils drei unterschiedliche Spielarten der Vermachtung des Sozialen in Form von Herrschaft, Normalisierung und Subjektivierung entsprechen (vgl. Saar 2019). In der Tradition der Frankfurter Schule stehend, identifiziert Saar schließlich drei Felder des Politischen, die er den genannten Unterscheidungen als struktu­ rell korrespondierend zuordnet, nämlich (radikale) Demokratie, Widerstand und Selbsttransformation (vgl. ebd.).

48

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

Rechts ist die Natur, wie erläutert, nicht normativ, d.h. nichtnormativ verfasst. Daher muss die Natur, um mit dem Recht zu kommunizieren, ja um im Recht buchstäblich vorzukommen, erst verrechtlicht, d.h. in normative Begriffe und Kategorien des Rechts übersetzt werden. Diese Operation kann jedoch nicht wiederum normativ erfolgen, sondern allein mittels Zwangs. Denn der Übergang von der vor- oder außerrechtlichen in die rechtliche Ontologie kann nicht normativ, sondern nur zwanghaft und gewaltförmig geschehen, nämlich in Gestalt des Aufzwingens einer normativen Ordnung von außen, oder auf ein Äußeres, Nichtrechtliches. Die Natur muss in eine rechtliche Form gezwungen und rechtskategorial neugefasst und umdefiniert werden, um rechtlich erscheinen zu können, d.h. im Recht anerkannt zu werden. Das Recht kann also nicht anders als exklusiv aus seiner eigenen, inter­ nen Perspektive heraus zu verfahren. Obwohl das Recht mit der Eigenbzw. Gegennormativität der Natur beständig rechnet – sonst wäre die Gewaltbefugnis des Rechts sinnlos –, ist es unter einem epistemologischen Gesichtspunkt für die normative Logik des Nichtrechts – etwa in Form der Normativität von Märkten oder der Normativität kultureller und religiöser Weltanschauungen – taub und blind und muss der Natur notwendig mit Zwang begegnen. Giorgio Agamben hat dabei in einer radikalisierenden Lesart des Benjaminschen Arguments darauf hingewiesen, dass sowohl im Totalitarismus als auch in modernen westlichen Demokratien Norm und Natur, Recht und Gewalt in Extremsituationen ununterscheidbar werden. Im Anschluss an Carl Schmitts Definition des Souveräns als derjenigen Instanz, die über den Ausnahmezustand, also die Aufhebung der gesetzli­ chen Ordnung im Krisenfall entscheidet, verweist Agamben auf Institutio­ nen wie die nationalsozialistischen Konzentrationslager, aber auch die ‚hu­ manitären‘ Flüchtlingslager als paradigmatische Orte der Ununterscheid­ barkeit von legitimiertem Recht und willkürlicher Gewalt. Agamben stellt dabei die These auf, dass das Lager das politische Paradigma der Moderne sei: „Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes“ (Agamben 2002, 190). Mit dieser Argumentation macht Agamben auf die politischen Gefahren der Entdifferenzierung von Norm und Natur aufmerksam. Damit erscheint nicht erst ein moralisch betrachtet illegitimes Rechts­ system als normativ problematisch. Die Setzung des Rechts selbst, also die bloße Etablierung eines Rechtsregimes, beinhaltet vielmehr bereits aus sich heraus ein normatives und rechtstheoretisches Problem, auch wenn die Normativität des jeweiligen Rechtssystems egalitär und gerecht sein mag. Denn diese Etablierung ist immer zugleich die Entgegensetzung

49

Kapitel 1

zur Natur und daher unvermeidbar von einer inneren Gewaltförmigkeit gekennzeichnet, die das Recht aus strukturellen Gründen nicht mehr kom­ pensieren kann. Daniel Loick hat an anderer Stelle auf diese Gewaltdyna­ mik am Beispiel der kolonialen Einführung des Kapitalismus im aborigi­ nalen Amerika des Frühimperialismus aufmerksam gemacht: „Hier wird auch deutlich, dass es zu kurz gegriffen ist, das koloniale Projekt nur als Enteignung, das heißt als Missachtung von Eigentums­ ansprüchen zu sehen. Es besteht vielmehr in der Etablierung eines Systems von Eigentumsansprüchen, das andere, nicht-proprietäre Nut­ zungsweisen ausschließt“ (Loick 2016, 44). Jede Form von Normativität ist mit einem Regierungsanspruch über die Natur verbunden. Im Fall des Rechts zwingt die rechtliche Normativität jedes außerrechtliche Leben dazu – und in Menkes Heuristik hat selbst­ verständlich jedes Leben als Leben außerrechtlichen, also natürlichen Cha­ rakter –, die normativen Spielregeln des Rechts zu übernehmen und zu verinnerlichen, sofern es rechtlich geschützt und nicht rechtlos, d.h. außer­ halb des Rechts leben will. Das Recht kann als Ökonomie der Gewalt die Etablierung von alternativen Vergesellschaftungsformen nicht dulden, da es konstitutiv zum Begriff des Rechts, ja zur Rechtsförmigkeit von Norma­ tivität an sich gehört, einen allgemeinen und daher exklusiven Regierungs­ anspruch in Bezug auf die normative Organisation der Gesellschaft zu erheben. Im Recht geht es somit von Anfang an um das Inbezugsetzen von Norm und Natur. Die Differenz von Normativem und Natürlichem, von rechtlicher Regierung und natürlichem Leben bildet die konstitutive Grundunterscheidung und damit die begriffliche Fundamentalstruktur des Rechts. 1.1.4 Selbstreflexion: Die Revolution des modernen Rechts Die Antwort des modernen Rechts, also der spezifische Umgang des Rechts mit seiner inhärenten Gewalt, der es modern werden lässt, besteht vor diesem Hintergrund laut Menke in der Selbstreflexion des Rechts (vgl. im Folgenden Faets 2018). Das moderne Recht ist für Menke das selbstreflexive Recht. Die rechtliche Selbstreflexion soll dabei das zentrale Problem der rechtlichen Gewalt lösen oder wenigstens eindämmen. „Das Schicksal des Rechts ist seine Lücke: dass es sich nur so setzen kann, dass es sich sein Anderes voraussetzt, gegen das es sich wiede­ rum äußerlich durchsetzen muss. Das Schicksal des Rechts ist daher

50

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

seine Gewalt der Ein- und Durchsetzung, die die uneinholbare Äu­ ßerlichkeit seiner Form endlos reproduziert. Die Selbstreflexion des Rechts beginnt mit der Einsicht, dass es mithin die Form des Rechts selbst ist, die seine Nachträglichkeit gegenüber seinem Anderen her­ vorbringt. Die Äußerlichkeit der Form ist ihre eigene Tat. (…) Die bisher erreichte Grundbestimmung des selbstreflexiven Rechts lautet: Selbstveräußerlichung des Rechts als Voraussetzung des Nichtrechts“ (Menke 2015, 141). Das moderne Recht geht von der Erkenntnis aus, dass seine interne Gewaltdynamik unhintergehbar ist und sich das Recht daher nicht von seiner Gewalt im Verhältnis zum Nichtrecht befreien kann. Das Recht kann seinen nichtnormativen Bezug auf das Nichtrecht oder, um Menkes alternative Formulierung zu verwenden, auf die Natur nicht vermeiden. Deshalb besteht das Ziel der rechtlichen Selbstreflexion nicht allein darin, den Bezug des Rechts auf das Nichtrechtliche in anderer Weise zu vollzie­ hen oder auf ein anderes Nichtrechtliches zu lenken, sondern den Bezug selbst radikal zu transformieren, ihn von innen heraus neu zu bestimmen. Da die Äußerlichkeit der Form des Rechts notwendigerweise seine eigene Tat ist, muss die äußere Differenz zwischen Norm und Natur, die den Gewaltcharakter des Rechts bedingt, zur inneren Gesetzmäßigkeit und Ordnungsstruktur der Rechtsnorm selbst werden. Seine Selbstreflexion ist also das Spezifikum des modernen Rechts, das Kriterium, welches es als modern ausweist. „Das moderne Recht (…) beginnt, indem die Differenz von Norm und Natur reflexiv wird. Das heißt, dass die Differenz von Norm und Natur zur Bestimmung und Vollzugsweise der Norm selbst wird. Die – äußere – Differenz von Norm und Natur wird zur – inneren – Form des Rechts und bringt dadurch die moderne Form der Rechte hervor“ (Menke 2015, 262). Die Unterscheidung von Recht und Nichtrecht soll als Unterschied noch­ mals im Recht selbst thematisch werden, um die Heterogenität des Rechts gegenüber dem Nichtrecht anzuerkennen und im Recht selbst zu reflektieren. Durch diese Selbstreflexion des Rechts soll der endlose Reproduk­ tionsprozess seiner Einsetzung und damit seiner Veräußerlichung und Gewalt gegenüber dem Nichtrechtlichen, Natürlichen kompensiert und innerhalb der rechtlichen Normativität widergespiegelt und aufgefangen werden. „Die Normativität des neuzeitlichen Rechts der Rechte hat die Struktur der Legalisierung des Natürlichen“ (Menke 2015, 33). Im Medium

51

Kapitel 1

seiner Legalisierung soll das Natürliche als Anderes der rechtlichen Nor­ mativität im Recht selbst nochmals zur Geltung gebracht werden. In der Selbstreflexion erfindet sich das Recht demnach radikal neu. Es wird dadurch modern, dass es sich selbst revolutioniert. Das moder­ ne Recht beantwortet das Dilemma seiner Gewaltförmigkeit mit „einer radikalen Transformation der Normativität“ (Menke 2015, 253), es ist selbst der „Ausdruck eines Umbruchs in der Seinsweise der Normativität: eines ontologischen Umbruchs“ (Menke 2015, 10). Dieser Umbruch in der Normativität des Rechts besteht darin, dass das moderne Recht in Rechnung stellt, dass es außerhalb seiner Normativität, also im Bereich des Natürlichen oder Nichtrechtlichen, andere normative Ordnungssysteme gibt, etwa im Bereich der Ökonomie, Kultur oder Religion, deren norma­ tive Regeln, Aussagen und Überzeugungen sich nicht ohne weiteres an die rechtliche Normativität anpassen oder mit ihr in Übereinstimmung bringen lassen. Die christliche Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung bspw. bildet einen integralen Bestandteil der Normativität der christlichen Religion. Als solche ist sie aber nicht eins zu eins in das normative Voka­ bular des Rechts übersetzbar. Die christliche Heilshoffnung ist schlicht und ergreifend kein normativer Teil des modernen Rechtssystems, sondern verhält sich ihm gegenüber radikal heterogen. Der Anspruch des moder­ nen Rechts besteht nun darin, mit diesen nichtrechtlichen Ordnungszu­ sammenhängen und normativen Kräfteverhältnissen auf eine Weise um­ zugehen, die nicht gewaltförmig ist und die die Eigenständigkeit dieser außerrechtlichen normativen Ordnungen wahrt und bestehen lässt anstatt sie prinzipiell zu restringieren. Diese nichtrechtlichen Bereiche sollen im modernen Recht nicht ein­ fach unvermittelt der rechtlichen Geltungskraft unterworfen werden, son­ dern als Bereiche des Natürlichen im Recht Berücksichtigung finden. Das moderne Recht „vollzieht die Differenz von Recht und Nichtrecht im Inneren des Rechts“ (Menke 2015, 12). Diese spezifisch moderne Art und Weise, mit der Relation von Norm und Natur umzugehen, ist insofern revolutionär, als sie die Form des rechtlichen Bezugs auf die Natur selbst von innen her transformiert und damit den Sinn dessen, was Norm und Natur jeweils bedeuten, radikal neu begreift. „Durch den Akt der Selbstre­ flexion wird das, was ein erlittenes Geschehen war, zum eigenen, freien Tun“ (Menke 2015, 141). Mit der Bestimmung des modernen Rechts als selbstreflexiv grenzt Men­ ke nach eigener Angabe das moderne, bürgerliche Recht in geschichts­ philosophischer Hinsicht gegenüber dem sittlichen Rechtsverständnis der antiken griechischen Polis und dem naturrechtlichen Konzept des klassi­

52

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

schen römischen Rechts ab. „Die moderne Form der Rechte bricht mit der Tradition des klassischen Rechts“ (Menke 2015, 12). Menke geht zunächst von der allgemeinen Fundamentalstruktur allen Rechts aus – nämlich der Differenz von Norm und Natur –, um anschließend zu untersuchen, auf welche Weise diese Struktur im modernen Recht im Unterschied zum traditionellen Recht interpretiert wird. „Die Selbstreflexion des Rechts ist die grundlegende Operation, durch die das moderne Recht sich hervorbringt. Diese Operation bildet sein Wesen. (…) In dieser Selbstreflexion tritt die Grundstruktur hervor, die alles Recht als Recht definiert: die Entgegensetzung von Gesetz und Natur, von Normativem und Faktischem“ (Menke 2015, 164). Selbstreflexiv ist also nach Menke allein das moderne, bürgerliche Recht. Die Selbstreflexion bildet sozusagen den Operationsmodus und spezifischen Charakterzug des modernen Rechts. Das bürgerliche Recht der Moderne ist dabei trotzdem – wie alles Recht – eine Form der Veräußer­ lichung, genauer: der Selbstveräußerlichung gegenüber seinem Anderen, der außerrechtlichen Natur, denn alles Recht muss sich begrifflich von der Natur als seinem konstitutiven Außen unterscheiden. Dass das moderne Recht in Reaktion auf seine Selbstveräußerlichung selbstreflexiv wird, ist nach Menke aber nicht bloß eine historische Betrachtung, sondern eine strukturelle Aussage, und zwar nicht nur über das moderne Recht, son­ dern über das Recht an sich. In der Selbstreflexion des modernen Rechts kommt nach Menke eine ontologische Aussage über das Recht als solches zum Ausdruck (vgl. Menke 2015, 102). Damit meint Menke zum einen, dass es notwendig zur Seinsweise des modernen Rechts gehört, dass es sich selbst reflektiert. Die Selbstreflexion gehört zum Begriff des moder­ nen Rechts notwendig dazu. Zum anderen tritt aber in dieser spezifisch modernen Form des Rechts als selbstreflexives Recht zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte überhaupt hervor, „was das Recht ist“ (ebd.). In der Selbstreflexion bringt das moderne Recht, so Menkes weiter reichende These, nur zur Geltung, wie und was das Recht an sich, d.h. ontologisch ist, oder mit Menkes Formulierung: Dass die rechtliche Selbstreflexion eine ontologische Kategorie ist, bedeutet nicht weniger als dass „sie die spezifische Seinsweise des modernen Rechts aus dem Sein des Rechts begründet. Dass das moderne Recht, in seiner Form der Rechte, die Selbstreflexion des Rechts ist, bedeutet, dass – erst und nur – in dieser Form im Recht zur Darstellung und zum Vollzug kommen kann, was das Recht ist“ (ebd.).

53

Kapitel 1

Diese These lässt sich so verstehen, dass erst das moderne Recht in sei­ ner rechtlichen Praxis und seinen normativen Operationen den spezifisch rechtlichen Charakter seiner Normativität anerkennt, und zwar dadurch, dass das moderne Recht die Differenz von Norm und Natur als gegensätz­ liche Struktur seiner Normativität explizit thematisiert und reflektiert (vgl. Menke 2015, 164). Im modernen Recht wird Menke zufolge zum ersten Mal in der Geschichte des Rechts konsequent zur Geltung gebracht, dass der Gegensatz von Norm und Natur die Form des Rechts selbst ausmacht und deshalb als Gegensatz im Recht mitgedacht werden muss. Mit der These, dass sich erst das moderne Recht im Akt der Selbstreflexion konse­ quent der Einsicht stellt, dass die Gegensätzlichkeit von Normativität und Natur notwendig in der begrifflichen Logik des Rechts angelegt ist und daher als gegensätzliche Dynamik dauerhaft in Rechnung gestellt werden muss, grenzt Menke das selbstreflexive Recht der Moderne von traditionel­ len Rechtsvorstellungen ab. Im nächsten Schritt möchte ich daher kurz Menkes Gegenüberstellung von modernem und traditionellem Recht dis­ kutieren. 1.1.5 Zur Geschichtsphilosophie: Die Differenz von modernem und traditionellem Recht Die nichtrechtliche Natur ist als das Andere des Rechts zugleich der normative Gehalt des Rechts. Im Recht geht es um die Regelung der außerrechtlichen Natur, auf sie bezieht sich das Recht in seinen norma­ tiven Operationen. Diese Feststellung hat ontologischen Charakter, sie betrifft das Recht nicht bloß in einzelnen historischen Gestalten, sondern beschreibt den Begriff des Rechts. Ausgangspunkt ist hier erneut das grundsätzliche, weil dauerhafte Problem der Rechtsgewalt: „Alles Recht herrscht: Die Regelungen des Rechts beruhen auf der Möglichkeit von Zwang“ (Menke 2015, 65). Diese begriffliche, also ontologische Bestim­ mung des Rechts differenziert sich allerdings in seinen historischen Kon­ kretisierungsformen auf radikal unterschiedliche Weise aus, und zwar anhand der Art und Weise, wie Norm und Natur durch das Recht zuein­ ander in Bezug gesetzt werden bzw. wie sich die rechtliche Norm auf die nichtrechtliche Natur bezieht. Sowohl im traditionellen als auch im modernen Recht geht es um den Umgang des Rechts mit seiner Äußerlich­ keit gegenüber der Natur, doch versteht das traditionelle Recht den Sinn dessen, was Natur – und damit auch Norm – bedeutet, radikal anders als das moderne Recht. Der geschichtsphilosophische Vergleich zwischen

54

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

dem modernen und dem traditionellen Rechtskonzept dient Menke dazu, das spezifisch moderne Kriterium des bürgerlichen Rechts herauszustellen und dieses gegenüber seinen klassischen Vorläufern zu konturieren. Das griechische Rechtsverständnis gründet die Herrschaft des Rechts laut Menke in einer dem Recht vorhergehenden Idee der Gerechtigkeit, die durch das Recht verwirklicht werden soll. Der Weg, um die vorrechtli­ che Idee der Gerechtigkeit zu verwirklichen, ist für das griechische Recht die sittliche Erziehung. „Die griechische Rechtskonzeption ist paidäisch“ (Menke 2015, 69). Die Rechtsgewalt, die zum allgemeinen Begriff des Rechts gehört, wird im griechischen Recht teleologisch interpretiert und legitimiert. Das griechische Recht erzieht die Natur des Menschen zu einem vorrechtlichen Ideal der Tugend, es hat den normativen Anspruch, „dass das Individuum den Habitus der Gerechtigkeit ausbildet und sittlich wird“ (Menke 2015, 88). Die Natur des Menschen soll im griechischen Recht durch pädagogische Anleitung in die Haltung der Tugend verwan­ delt werden. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass das griechische Rechtskonzept von Anfang an darauf angelegt ist, sich selbst aufzuheben. Indem es die Idee sittlicher Erziehung durch die Orientierung an einem Tugendideal verwirklicht, versteht das griechische Recht sich als transito­ rische Phase einer sittlichen Anleitung, die sich durch ihren paidäischen Effekt in Form einer gelungenen Erziehung des Individuums zu einem gerechten Menschen selbst abschafft. Der Eingriff der rechtlichen Norm in die außerrechtliche Natur ist demnach von Anfang an zeitlich beschränkt und auf die eigene Selbstaufhebung hin gedacht. Auch das römische Recht geht von einer vorrechtlichen Konzeption der Gerechtigkeit aus. Das römische Recht gründet seinem Selbstverständnis nach in der natürlichen Vernunft. Im Unterschied zum teleologischen Recht der griechischen Polis steht im römischen Recht aber nicht die Erziehung, sondern der Befehl im Zentrum, und zwar deshalb, weil das römische Recht von der Erkenntnis ausgeht, dass die Äußerlichkeit des Rechts gegenüber der Natur „seine notwendige Erscheinungsweise“ (Menke 2015, 72) ist, also dem Recht dauerhaft anhaftet. Hierin geht die römische Rechtskonzeption über die griechische hinaus. Das römische Recht rechnet nicht mehr mit der Möglichkeit, die Natur des Menschen erzieherisch zu verwandeln. Es weist den Gedanken zurück, dass das Recht selbst der Akteur dieser Erziehung sein kann. Deshalb nimmt es einen befehlenden, imperativen Charakter an. „Gerade die naturrechtliche Überbietung der politischen Paideia, die das Recht statt in der Regierung des Gemeinwesens in der vernünftigen Natur des Menschen begründet, bringt den Begriff eines Rechts

55

Kapitel 1

hervor, das durch die Äußerlichkeit seiner Herrschaft sich gegenüber, auf seiner anderen Seite, eine nichtrechtliche – un-rechtliche – Natur hervorbringt“ (Menke 2015, 73). Im römischen Recht wird die zwangsförmige Rechtsgewalt nicht mehr durch ihren erziehenden Zweck gerechtfertigt, weil das römische Recht „in seinem befehlenden Operieren die teleologische Verknüpfung von Na­ tur (als Anlage) und Tugend (als Zweck) zerschneidet“ (Menke 2015, 73). Das römische Recht wird in viel stärkerem Maße zu einem befehlenden Zwangsapparat als das griechische Recht, und zwar deshalb, weil es davon ausgeht, dass die Natur des Menschen in Bezug auf die Einhaltung der Gesetze permanent korrumpiert ist und das Recht daher dauerhaft mit der Abweichung des natürlichen Strebens des Menschen von der rechtlichen Norm rechnen muss. Dadurch impliziert das römische Recht zugleich eine pessimistische Anthropologie, der zufolge „die Abweichung des Men­ schen von der natürlichen Vernunft zu seiner zweiten Natur geworden ist“ (Menke 2015, 72). Das römische Recht nimmt zwar als Naturrecht seinen Ausgang von der natürlichen Vernunft des Menschen, aber es versteht sich selbst nicht mehr erziehend, sondern befehlend, und koppelt deshalb die Erziehung vom Recht ab. Die Natur des Menschen wird nicht mehr durch das Recht zur Gerechtigkeit hin erzogen, sondern die Erziehung findet außerhalb des Rechts statt. Das Recht hat nun die Aufgabe, die potenziell korrupte Natur des Menschen zu beherrschen und zu unterdrücken. Vor diesem geschichtsphilosophischen Hintergrund unterscheidet sich das moderne Recht grundlegend sowohl vom griechischen als auch vom römischen Rechtskonzept, und zwar dadurch, dass es nicht mehr in die Natur eingreift, weder erziehend noch befehlend. Es verfolgt nicht mehr den Anspruch, etwas Natürliches zu verwandeln oder zu unterdrücken. Das moderne Recht greift deshalb nicht mehr in die Natur ein, weil es seinem Selbstverständnis nach demokratisch eingesetzt wurde und sei­ ne Souveränität, also seine Gewaltbefugnis und seinen Zwangscharakter, dementsprechend dadurch legitimiert, dass sie Ausdruck des sich selbst regierenden Volkes ist. Die Rechtsgewalt wird unter modernen demokrati­ schen Bedingungen repräsentationstheoretisch verstanden und gerechtfer­ tigt (vgl. Mateo 2018). Im Akt der politischen Selbstbestimmung „haben die Menschen den Souverän selbst gemacht, und weil sie ihn selbst gemacht haben, weil sie seine ‚Autoren‘ sind, kann, was immer der Souverän aufgrund dieser Autorität tut, auch kein Unrecht gegen sie sein, ist also stets berechtigt. Ihnen äußerlich, bloß setzend und zwingend, erscheint den Untertanen ihr Souverän mithin nur, wenn

56

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

sie dessen Grund, also wenn sie sich selbst, ihre Handlung der Einset­ zung, vergessen“ (Menke 2015, 74). In dieser demokratischen Bestimmung des modernen Rechts ist bereits ein spezifisch menschenrechtlicher Anspruch impliziert. Denn das moderne Recht ist aufgrund seiner demokratietheoretischen Grundierung sowohl eine Begrenzung der rechtlichen Souveränität an der außerrechtlichen Natur als auch eine Begründung der rechtlichen Souveränität auf der außerrechtlichen Natur.15 Da der Souverän auf seiner Einsetzung durch ein sich selbst bestimmendes und regierendes Volk beruht und damit im Dienst des natürlichen Strebens nach Selbsterhaltung dieses Volkes steht, kann er, „ohne sich zu widersprechen, seinen Untertanen ihr Streben nach Selbsterhaltung nicht verbieten“ (Menke 2015, 76). In der demokratischen Begründung der staatlichen Souveränität und damit des Rechts als deren primäres Medium und Instrument drückt sich der normative Primat der individuellen Freiheit des Menschen und damit die rechtliche „Systement­ scheidung zugunsten von Freiheit schlechthin“ (Menke 2015, 316) aus. Es ist damit souveränitätstheoretisch unmöglich, innerhalb des politischen Gemeinwesens die politische Macht gegen das Leben und die Selbsterhal­ tung des Menschen zu richten, da diese Macht gerade durch den Schutz des menschlichen Lebens und die Garantie der Selbsterhaltung legitimiert ist. Die normative Verpflichtung der rechtlichen Herrschaft auf das natür­ liche Streben nach Selbsterhaltung erklärt die gleiche Freiheit aller Men­ schen zum unüberbietbaren politischen Gut und zum unhintergehbaren Fundament der Normativität des Rechts und der politischen Macht, „an deren normativem Gehalt sich die konkreten Herrschaftsstrukturen mes­ sen lassen müssen“ (Menke/Pollmann 2012, 103). Diese gleiche Freiheit ist für den modernen Souverän ein absoluter und damit vorrechtlich beste­ hender Wert, was speziell im modernen Recht so verstanden wird, dass die individuelle Freiheit und Würde des Menschen allen konkreten staatlichen Gesetzen als menschenrechtliche Grundlage vorgeordnet ist und aufgrund dieses primordialen normativen Status als unantastbare Voraussetzung al­ ler weiteren Normsetzung anerkannt wird.

15 Vgl. dazu: „(i) Indem Rechte ermöglichen, begründen sie das Recht auf natürlichfaktischen Strebungen. (ii) Indem Rechte erlauben, begrenzen sie das Recht an natürlich-faktischen Strebungen“ (Menke 2015, 105; vgl. gleichermaßen Menke 2015, 318).

57

Kapitel 1

1.1.6 Die Autonomie des modernen Rechts und der Primat der Rechte Aufgrund dieser radikalen Vorordnung der Natur in Gestalt der natürlich verstandenen Freiheit kann das moderne Recht aus strukturellen Gründen nicht mehr in die Natur als Fundament seiner Normativität eingreifen. Das moderne Recht verabschiedet endgültig den Anspruch des traditionel­ len Rechts, die Natur entweder transformierend zu erziehen oder unter­ drückend zu beherrschen, und affirmiert stattdessen seine Äußerlichkeit, indem es buchstäblich nur noch von außen auf die Natur zugreift. Das bedeutet in letzter Konsequenz, „dass der Souverän in das Wollen seiner Untertanen gar nicht eingrei­ fen darf, wenn er nicht in Widerspruch zu sich selbst, zu seiner Einset­ zung und Berechtigung geraten will: Wie und was seine Untertanen wollen und erstreben, ist ihre Sache, denn es ist eine natürliche Sache – diejenige natürliche Sache, die die Basis, weil den Ausgangspunkt der Hervorbringung des Souveräns ausmacht. Das Natürliche, das Streben nach Selbsterhaltung, das der Souverän autorisieren muss, weil er durch es autorisiert wird, wird damit zum Inneren, das seiner Herrschaft systematisch entzogen ist. Es ist das Innere der Untertanen, das dem Recht gegenüber äußerlich ist und dem gegenüber daher das Recht äußerlich bleiben muss“ (Menke 2015, 77). Das moderne Recht bestimmt also das rechtskonstitutive Verhältnis von Norm und Natur so, dass es sich das natürliche Streben nach Selbsterhal­ tung, also das natürliche Leben des Individuums mit all seinen biologi­ schen Eigenschaften und Mechanismen als normative Grundlage voraus­ setzt und dadurch zu einer für das Recht faktisch gegebenen Tatsache macht. Das moderne Recht greift auf das natürliche Leben als sein norma­ tives Fundament, das es in seiner natürlichen Gegebenheit hinzunehmen hat, von außen zu statt es von innen zu transformieren. Dabei wird das Recht dadurch autonom, dass es die Setzung seiner Normativität ohne Rekurs auf eine vorgängige nichtrechtliche Gerechtigkeitsidee bejaht. Das moderne Recht enthält in seinem repräsentationstheoretischen Charakter die radikale Anerkennung seines Gesetztseins, es impliziert die vollstän­ dige Affirmation seiner Normativität als Setzung. Hierin besteht seine Autonomie. „Und Autonomie heißt hier, dass das Recht seine eigene Nor­ mativität hervorbringen muss. Oder: Die Normativität des Rechts ist nur seine eigene, wenn sie selbst hervorgebracht ist – ohne Rückhalt in einer sittlichen Politik oder der natürlichen Vernunft“ (Menke 2015, 103). Das

58

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

neuzeitliche Recht der Moderne ist, insofern es autonom ist, legales Recht, das Recht der Legalität. Mit Legalität ist hier gemeint, dass das moderne Recht seine Normati­ vität nicht mehr durch eine substanzielle Gerechtigkeitsvorstellung legiti­ miert, und zwar deswegen, weil dem modernen Recht seine Normativität – und damit seine Legitimität – nicht mehr durch eine außerrechtliche Idee der Gerechtigkeit vorgegeben, sondern durch das Recht selbst erzeugt wird. Das autonome Recht muss sich von der traditionellen Grundierung in einer vorrechtlichen Gerechtigkeitsvorstellung ablösen, weil es seine Normativität aus sich heraus und nicht mehr durch kulturell vermittelte, das Recht außerrechtlich stützende Hintergrundannahmen hervorbringen muss. Und es muss seine Normativität deshalb eigenständig, autonom evozieren, weil es von der selbstreflexiven Erkenntnis ausgeht, dass die Äu­ ßerlichkeit der rechtlichen Norm gegenüber der außerrechtlichen Natur ein notwendiger Teil des Begriffs, der ontologischen Struktur des Rechts und daher für das Recht unvermeidbar ist. Das moderne Recht ist legales Recht, weil es die Unterscheidung von Norm und Natur selbstreflexiv vollzieht. Mit dem Legalwerden des modernen Rechts geht „eine radikal neue Bestimmung der Form rechtlicher Normativität“ (Menke 2015, 39) einher. Diese Neubestimmung drückt sich im „Primat der Rechte vor dem Recht“ (Menke 2015, 39) aus, das legale Recht wird aufgrund seiner selbstreflexiven Autonomie zum „Recht der Rechte“ (Menke 2015, 29). Der Primat der Rechte meint, dass das moderne Recht seinen Ausgang nicht mehr von gesetzlich auferlegten Pflichten, sondern von rechtlich zu sichernden Rechten des Einzelnen nimmt. Menke folgt hier der Hobbes-Deutung von Leo Strauss, in der Strauss die von Thomas Hobbes eingeführte neuzeitli­ che Unterscheidung zwischen law und right als Revolutionierung der mo­ dernen Politik interpretiert. Obwohl diese Unterscheidung bereits auf der antiken Differenz zwischen lex und ius – also zwischen einer allgemeinen Rechtsordnung und einem besonderen Rechtstitel – beruht, etabliert sie in der Form, in der sie von Hobbes bestimmt wird, eine revolutionäre Transformation des Rechts. Denn indem das moderne Recht im Primat der Rechte von individuellen Rechtsansprüchen ausgeht, versteht es auch sich selbst als gesetzliche Ordnung ausgehend von einzelnen Ansprüchen. Es verkehrt den traditionellen Primat des allgemeinen Gesetzes vor dem individuellen Anspruch und setzt damit den einzelnen Rechteinhaber an „den Grund der rechtlichen Ordnung“ (Menke 2015, 22). Durch diese Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem Recht und den Rechten wird das moderne Recht liberal.

59

Kapitel 1

„Liberalismus heißt, das Recht, die gesetzliche Ordnung, von den Rechten, von dem einzelnen, her zu denken; (…) Der Liberalismus sieht in der Unterscheidung zwischen dem Recht und einem Recht deshalb den revolutionären Akt, der die politische Ordnung der Neu­ zeit von der Tradition trennt, weil mit dieser Unterscheidung das Recht als Anspruch von dem Recht als Gesetz zuerst getrennt wird – der rechtliche Anspruch ist nicht mehr, wie in der Tradition, ein Effekt der gesetzlichen Ordnung, sondern besteht für sich –, um ihm schließlich vorgeordnet zu werden“ (Menke 2015, 23f.). So lautet Menkes Argumentation im Anschluss an Strauss. Der spezifisch moderne Zug des Rechts besteht darin, Rechte zu erklären und sich darin selbst als Rechtsordnung von Rechten des Einzelnen her zu verstehen. Die moderne Form der Rechte macht den Kern des modernen Rechts aus. 1.1.7 Die Form der subjektiven Rechte als Verrechtlichungsprozess Das moderne Recht deklariert die Rechte des Einzelnen und geht von diesen Rechten des Einzelnen als seinem normativen Fundament aus. Sein Selbstverständnis hängt intrinsisch mit den individuellen Rechten zusam­ men, die es erklärt und die es im Recht und durch das Recht unbedingt zu schützen gilt. Im Zentrum des modernen Rechts stehen also individu­ elle, d.h. subjektive Rechte. Die subjektiven Rechte bilden das Medium der rechtlichen Selbstreflexion, durch sie wird „im Recht die Differenz zwischen Recht und Nichtrecht“ (Menke 2015, 106) zum Austrag gebracht. Die Tatsache, dass dem modernen Recht in seinem normativen Kern die Erklärung subjektiver Rechte zugrunde liegt, bedeutet, dass seine Grund­ struktur, also das Verhältnis bzw. die Unterscheidung von Norm und Na­ tur, die Form der Verrechtlichung, d.h. der Verrechtlichung der Natur zur Norm und der Norm auf der Basis der Natur, annimmt. „In der modernen Form der Rechte wird das Recht zum Prozess der Verrechtlichung: Die Rechte sind die Mechanismen einer unabschließbaren Legalisierung des Natürlichen“ (Menke 2015, 18). Durch ihren Verrechtlichungscharakter macht sich die moderne rechtliche Normativität, so Menke, das natürliche Leben des Einzelnen zu einer faktischen Vorbedingung und unhintergeh­ baren Voraussetzung. In dieser entscheidenden Dimension der Verrechtli­ chung folgt das moderne Recht dabei einer doppelten Voraussetzungslo­ gik.

60

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

„Die moderne Form der Rechte ist die Form eines Prozesses – des Prozesses der Legalisierung: der Verrechtlichung von Natürlichem, der Hervorbringung des Rechts aufgrund von Natürlichem. Und die Form (oder die Dynamik und Energetik) dieses Prozesses ist die Differenz von Normativität und Faktizität. In der Form der Rechte wird die Differenz von Recht und Nichtrecht zur Form des Rechts“ (Menke 2015, 106). Die abstrakte Definition der modernen Rechtsstruktur als Legalität be­ inhaltet konkret, dass das Recht zum Prozess der Legalisierung des Natürli­ chen wird. Oder: „Die Legalität des Rechts besteht in der Operation der Legalisierung“ (Menke 2015, 103). Das bedeutet erstens, dass das moderne Recht seine Normativität unter der Voraussetzung von bereits gegebenen, vorrechtlich bestehenden, also natürlichen Fakten aufbaut, auf die es sich unablässig bezieht. Im Lockeschen Liberalismus bspw. wird der rechtliche Eigentumsanspruch auf Gegenstände in der Außenwelt auf der Grundlage eines vorrechtlichen Eigentums gerechtfertigt, nämlich auf dem natürlich vorhandenen Eigentum an der eigenen Person (vgl. Menke 2015, 212ff.). Der Gehalt rechtlicher Normen ist also nichts anderes als Natur. „In der Form bürgerlicher Rechte bleibt der vorrechtliche, natürliche Zustand im rechtlichen Zustand anwesend, ja wird der vorrechtliche natürliche Zustand im rechtlichen Zustand zur Geltung gebracht. Die Gewährleistung des Vor- und Außerrechtlichen, also Natürlichen, wird zur Wesensbestimmung des Rechts“ (Menke 2015, 55). Im modernen Recht wird der individuelle bzw. subjektive Anspruch des Einzelnen als natürlich vorhanden, also bereits vorrechtlich gegeben ver­ standen.16 Das legale Recht behandelt die individuellen Ansprüche, die zum Inhalt subjektiver Rechte werden, als natürliche Tatsachen, in die es nicht eingreift, sondern die es von außen „zu begrenzen, bestenfalls zu befördern“ (Menke 2015, 104) gilt. Das moderne Recht verfolgt nicht mehr den Zweck, die Natur des Menschen zu verwandeln, sondern zu verrechtlichen, d.h. zu legalisieren. In dieser Legalisierung geht das Recht davon aus, dass die Natur eine vorrechtliche Voraussetzung des Rechts ist. Voraussetzung meint hier also, dass die Normativität des Rechts auf einer präexistierenden Natur begründet wird. 16 Vgl. dazu: „Der Inhalt eines Rechts ist etwas Außerrechtliches. Ein Recht ist der Anspruch auf die Macht oder die Freiheit der Ausübung einer natürlichen Tätigkeit; der Inhalt eines rechtlichen Anspruchs ist ein vorrechtlicher Anspruch“ (Menke 2015, 58).

61

Kapitel 1

Zweitens wird das Recht normativ an der Natur begrenzt, nämlich an den natürlich und damit rechtsunabhängig bestehenden „Voraussetzungen, über die es selbst nicht verfügen kann“ (Menke 2015, 104). Oben wurde dieses Charakteristikum bereits als allgemeines Paradox des Rechts heraus­ gearbeitet. Die Verrechtlichung, also die Deklaration subjektiver Rechte, ist die selbstreflexive Reaktion des autonomen Rechts auf diese Leerstelle. „Gerade die sich selbst begründende Normativität kann nicht sicherstellen, dass ihre Gründe geteilt werden“ (Menke 2015, 104). Aufgrund der bereits angesprochenen demokratischen Einsetzung des modernen Rechts steht das Recht im Dienst des natürlichen Strebens nach Selbsterhaltung seiner Autoren und kann daher in die als natürlich verstandene Freiheit des Menschen nicht eingreifen, sondern diese Freiheit nur von außen gegen die Freiheit anderer begrenzen. In dieser Deutung der Voraussetzung wer­ den aus natürlichen Ansprüchen dadurch rechtliche Ansprüche, dass das Recht die natürlichen Ansprüche äußerlich aneinander begrenzt, wodurch gleichzeitig die Äußerlichkeit des Rechts gegenüber der Natur unterstri­ chen wird: „Das Gesetz verwirklicht die Gleichheit eines jeden (und bringt da­ durch rechtliche Ansprüche hervor), indem es die vorrechtlichen An­ sprüche – die als natürliche grenzenlos und daher unvereinbar sind – gegeneinander abgrenzt und so miteinander zusammen bestehen lässt. So lautet der neue Gesetzesbegriff, den die moderne Figur der Rechte voraussetzt: Das Gesetz ist der äußere Rahmen für in sich selbst Un­ begrenztes, nicht die verbindliche Statuierung eines inneren Maßes“ (Menke 2015, 58). Hier kommt noch einmal deutlich der formale Charakter des normativen Gleichheitsanspruchs im modernen Recht zur Sprache. Die Natur wird nicht substanziell nach einem inneren Maßstab der Gleichheit beurteilt und bewertet, sondern sie wird gleich beurteilt und bewertet, d.h. sie wird gleichermaßen, nach einem gleichen Maß berechtigt. Darin besteht die Egalität der rechtlichen Normativität. Die Gerechtigkeit des modernen Rechts bedeutet also nicht, dass die natürlichen Ansprüche inhaltlich, in ihrer inneren Struktur nach gleichen Maßstäben bewertet und damit je auf- oder abgewertet werden, sondern äußerlich gleichbehandelt, in gleichem Maß wie andere natürliche Ansprüche berechtigt werden. Die egalitäre Gerechtigkeit des autonomen Rechts der Legalität, das natürli­ che Ansprüche als vorrechtlich bestehende Fakten verrechtlicht, ist keine

62

1.1 Grundbegriffe von Christoph Menkes Rechtskritik

Gerechtigkeit eines substanziellen, moralischen Maßstabs, sondern eines äußerlichen, formalen Ausmaßes.17 In dieser zweiten Deutung der Voraussetzung steht nicht bloß im Vor­ dergrund, dass die Natur als Grund des Rechts außerhalb des Rechts steht und ihm vorausgeht,18 sondern es wird darüber hinaus betont, dass die Na­ tur gerade in ihrem vorrechtlichen Charakter gegenüber der rechtlichen Herrschaft autonom ist. „Eine Rechtsordnung, die sich als autonome der Grenzen ihrer (Erzie­ hungs- und Herrschafts-) Macht bewusst ist, ist eine Ordnung, die das Streben, das sie reguliert, als ihr vorausgesetztes und entzogenes freige­ ben muss. Die Rechtsordnung muss es der Willkür, dem – aus der Sicht des Rechts und seiner Gründe – grundlosen Belieben überlassen“ (Menke 2015, 105). In der Legalisierung des Natürlichen greift das Recht also erstens auf sei­ ne natürliche, ihm vorhergehende Voraussetzung zu, die es aber zweitens nicht innerlich umformen kann, sondern rein äußerlich begrenzen und mit anderen natürlichen Ansprüchen koordinieren muss. Die Natur wird als eine gegenüber der rechtlichen Normativität innerlich immunisierte Tatsache verrechtlicht. „Für die moderne Figur der Rechte gilt daher: (…) Das Gesetz schafft die Rechte, indem sie etwas vorrechtlich Bestehendes autorisiert. Die Form der Hervorbringung der Rechte ist die Legalisierung des Natürlichen“ (Menke 2015, 62f.). Diese Logik der Voraussetzung, die mit dem neuzeitlichen Verrechtli­ chungscharakter des Rechts einhergeht und die Form der modernen Rech­ te produziert, ist der Einsatzpunkt für die Kritik der subjektiven Rechte. Menke entwickelt die Kritik der subjektiven Rechte, indem er zeigt, dass sich die Selbstreflexion des Rechts, deren Sinn und Zweck die Lösung des Problems der rechtlichen Gewalt war, in eine Aporie verwandelt und zwar dadurch, wie das moderne Recht sich selbst reflektiert: Das Vehikel

17 Diese Definition der Egalität des modernen Rechts befindet sich in dieser Hin­ sicht durchaus auf der Linie der Kantischen Moralphilosophie: Dem kategori­ schen Imperativ liegt ja die Vorstellung zugrunde, dass das moralische Sittenge­ setz rein aus der formalen Idee der Vernunft und daher unabhängig von substan­ ziellen Gerechtigkeitsannahmen abgeleitet werden kann. 18 Das war die Logik der ersten Erläuterung des Voraussetzungscharakters: „Natur bezeichnet darin all dasjenige, was vor oder außerhalb der Rechtsordnung, als normativer Ordnung, besteht: Es ist für das Recht natürlich, weil es unabhängig von ihm, ihm voraus existiert und so vom Recht zur Geltung zu bringen ist. Die legale Rechtsordnung reguliert Natürliches“ (Menke 2015, 104).

63

Kapitel 1

der rechtlichen Selbstreflexion sind die subjektiven Rechte. Durch ihre Er­ klärung soll die Rechtsgewalt rechtlich reflektiert werden, denn subjektive Rechte sollen die außerrechtlichen, natürlichen Ansprüche des Subjekts im Recht zum Ausdruck bringen und dadurch gegenüber der rechtlichen Herrschaft schützen und stärken. Ihre spezifische Form lässt die rechtliche Normativität jedoch in ihr herrschaftsförmiges Gegenteil, konkret: in die Herrschaft des individuellen Eigenwillens, dialektisch umschlagen. Die Form subjektiver Rechte, d.h. die gesellschaftliche Art und Weise, wie sie praktisch funktionieren, führt in eine Aporie.19 Bevor jedoch diese Aporie der subjektiven Rechte näher beleuchtet wird, die als Folge des ontologischen Umbaus der rechtlichen Normati­ vität (vgl. Menke 2015, 11) auftritt, soll im folgenden Kapitel zunächst erklärt werden, wie es zu verstehen ist, dass die Normativität des Rechts in soziale Herrschaft als ihr Gegenteil umschlägt. Diese Gegenüberstellung von Normativität und Herrschaft verlangt gerade angesichts der oben the­ matisierten Rechtsgewalt, in deren Fall ja auch zwischen normativ und nichtnormativ, Norm und Gewalt differenziert wurde, einige terminologi­ sche und philosophische Bemerkungen. Die Dialektik von Normativität und Herrschaft buchstabiert die interne Grundstruktur des Rechts, nämlich eine normative Ordnung und zugleich eine Instanz nichtnormativer Herr­ schaft zu sein, unter einem externen Gesichtspunkt aus. Der dialektische Umschlag von rechtlicher Norm in soziale Herrschaft soll daraufhin als ideologische Dimension des bürgerlichen Rechts rekonstruiert werden. Dieser ideologische Charakter des bürgerlichen Rechts, der unmittelbar aus der dialektischen Dynamik dieses Rechts folgt, bildet dann die Folie für das Verständnis der Aporie subjektiver Rechte, er liefert das Paradigma der Herrschaft des Eigenwillens. 1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts 1.2.1 Zur Dialektik von Beherrschung und Berechtigung Die These, dass die Normativität des Rechts dialektisch in eine nichtnor­ mative Form der sozialen Herrschaft umkippt, übernimmt Menke aus­ drücklich von Marx. Menke knüpft bereits in der Einleitung seiner Kritik der Rechte an die rechtskritische Philosophie von Marx an, erweitert sie 19 Vgl. zum Formkonzept bereits in Menkes Einleitung: „Es ist aber die Form, durch die Absichten Wirkungen hervorbringen“ (Menke 2015, 11).

64

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

aber gleichzeitig um entscheidende rechtstheoretische Elemente.20 Marx‘ gesellschaftskritische Untersuchungen zum bürgerlichen Recht liefern Menke das Grundparadigma, vor dessen Hintergrund er seine rechtskriti­ sche Argumentation entfaltet. Speziell greift Menke auf Marx‘ Frühschrift Zur Judenfrage zurück, in der Marx eine radikale Kritik der Menschenrech­ te entwickelt (vgl. Marx 1956). Daniel Loick bezeichnet im Zusammen­ hang seiner eigenen Kritischen Theorie des modernen Rechts Menkes rechtskritischen Entwurf insgesamt als marxistisch und deutet die Kritik der Rechte in erster Linie als eine Reinterpretation von Marx (vgl. Loick 2017a, 161–185).21 Es ist von daher auch kein Zufall, dass das umfassende Schlusskapitel am Ende des dritten Teils der Kritik der Rechte, in dem Menke die gesellschaftskritischen Desiderate seiner rechtskritischen Analy­ se kulminieren lässt und das mit dem Titel „Subjektive Rechte und soziale Herrschaft: eine Skizze“ überschrieben ist, auf Menkes Aufsatz „Die ‚andre Form‘ der Herrschaft. Marx‘ Kritik des Rechts“ (vgl. Menke 2013) aufbaut und dessen Argumentation weiterentwickelt. Terminologisch entscheidend ist Menkes Differenzierung zwischen einer normativen und einer sozialen Dimension oder Logik des Rechts. Mit dieser Unterscheidung greift Menke auf Marx zurück, der mit der Formulierung der ‚andren Form‘ auf die dialektische Dynamik des Rechts in Bezug auf seine gesellschaftlichen Wirkungen verweist. Seine sozialen Effekte formen die Normativität des Rechts sozusagen in ihr nichtnorma­ tives Gegenteil um. Das Verhältnis dieser terminologischen Trennung zwi­ schen normativ und sozial zu dem oben erläuterten Doppelcharakter des Rechts als zugleich normativ und nichtnormativ kann in diesem Kontext wohl am besten als Parallelismus beschrieben werden. Das Recht ist, wie gesehen, strukturell durch eine innere Spaltung gekennzeichnet: Es ist nämlich einerseits dadurch bestimmt, dass es eine normative Ordnung ist;

20 In erster Linie besteht diese Erweiterung, wie weiter unten noch thematisiert wird, darin, nicht nur – mit Marx – das Privatrecht, sondern auch – gegen Marx – das Sozialrecht als eine Grundform des bürgerlichen Rechts und darin als eine Ermächtigung des subjektiven Eigenwillens zu begreifen. Indem er entgegen der klassischen marxistischen Tradition auch das Sozialrecht als eine begriffliche Ausprägung des bürgerlichen Rechts liest, versteht Menke den Charakter des Sozialrechts als mit der bürgerlichen Rechtsform, und das bedeutet mit dem subjektiven Eigenwillen konform und von daher als genuinen Gegenstand einer Kritik der bürgerlichen Rechte. 21 Vgl. dazu: „In seiner Kritik der Rechte (2015) hat Christoph Menke den groß angelegten Versuch einer systematischen Neuinterpretation und Revitalisierung der Marx’schen Rechtskritik unternommen“ (Loick 2017a, 164).

65

Kapitel 1

andererseits kann es aber zugleich gegenüber allem, was dieser Ordnung äußerlich ist, nur eine Instanz der Herrschaft sein, die sich gegenüber dem außerrechtlichen Bereich gewaltsam, d.h. nichtnormativ verhält. Seine Ja­ nusköpfigkeit macht das Recht zu einem Paradox. Gerade weil das Recht in seiner inneren, begrifflichen Grundstruktur pa­ radox verfasst ist, also weil es gleichzeitig normativ und nichtnormativ sein muss, bringt es auch im externen Bereich seiner sozialen Wirkungen, also auf der Außenseite seiner reellen Folgen im Bereich der bürgerlichen Ge­ sellschaft nichtnormative, d.h. der rechtlichen Norm widersprechende so­ ziale Herrschaftsdynamiken hervor. Diese externen Formen sozialer Herr­ schaft folgen laut Menke aus der selbstreflexiven Art und Weise, in der das moderne Recht mit der paradoxen Grundstruktur in seinem Inneren umgeht, nämlich durch die Erklärung subjektiver Rechte. Menke begreift die gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen somit als das widersprüch­ liche Ergebnis der spezifisch modernen, nämlich selbstreflexiven Antwort des Rechts auf sein Paradox. In der externen Unterscheidung zwischen normativ und sozial deutet Menke also die interne Begriffsstruktur des Rechts, die sich in der paradoxen Gleichzeitigkeit des normativen und nichtnormativen Charakters des Rechts ausdrückt, konsequentialistisch und gesellschaftstheoretisch. Durch diesen terminologischen Parallelismus wer­ den die sozialen, also außerrechtlichen Folgen und Effekte des Rechts im Raum der bürgerlichen Gesellschaft auf den aporetischen Mechanismus der subjektiven Rechte selbst zurückgeführt: Rechtskritik wird zur Gesell­ schaftskritik zugespitzt. Menke beschreibt diesen marxistischen Ansatz einer Rechtskritik als „das Programm einer sozialen Kritik des Rechts: Es geht ihr darum, die soziale Logik des Rechts, den strukturellen Zusammenhang seines norma­ tiven Gehalts mit den Grundformen gesellschaftlicher Herrschaft aufzu­ weisen“ (Menke 2013, 273). Während also das Recht intern durch das Paradox seiner normativen und nichtnormativen Struktur gekennzeichnet ist, begreift Menke auch den externen Gegensatz von normativen Rech­ ten und sozialen, also aus der rechtlichen Perspektive nichtnormativen Herrschaftsformen im Raum der bürgerlichen Gesellschaft als Einheit im Widerspruch. Das bedeutet, dass Menke das externe Verhältnis von bürger­ lichem Recht und sozialer Herrschaft im Anschluss an Marx dialektisch interpretiert. Diese dialektische Dynamik lässt sich im Kontext dieser Arbeit als ein paradoxes Missverhältnis zwischen normativer Ordnung und sozialer Praxis beschreiben. Die normative Ordnung des Rechts führt aufgrund ihrer normativen Operationen, also der Berechtigung von Subjekten durch die

66

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

Verrechtlichung ihrer natürlichen Ansprüche, zu sozialen Praktiken in der außerrechtlichen Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, welche sich aus rechtlicher Perspektive durch eine gewaltförmige Struktur der Unterwer­ fung des Subjekts unter eine beherrschende Zwangsinstanz auszeichnen und von daher im normativen Widerspruch zum egalitären und freiheit­ lichen Charakter des bürgerlichen Rechts stehen. Kurz: Die normative Ordnung von Freiheit und Gleichheit, die das moderne Recht verkörpert, erzeugt eine soziale Praxis der Ungleichheit und Unfreiheit, und zwar – das ist die Pointe – aufgrund des normativen Funktionsmechanismus des bürgerlichen Rechts selbst. Mit dieser dialektischen Argumentation steht Menke zugleich in der Traditionslinie der Kritik des dialektischen Charakters der Aufklärung, der besonders durch die Autoren der ersten Generation der Frankfurter Schule, allen voran Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (vgl. Horkheimer/Adorno 2012), kritisch analysiert worden ist und von Amy Allen folgendermaßen formuliert wird: „Die aufgeklärte Rationalität ist Freiheit und Unfreiheit (oder Beherrschung) zugleich. Und diese widersprüchliche Wahrheit kann nur durch ein apore­ tisch aufgebautes Argument ausgedrückt werden“ (Allen 2019, 224). Menke bestimmt das methodische Vorgehen im Rahmen seiner Rechts­ kritik als „genealogische Kritik“ (Menke 2015, 11). Systematisch lässt sich Menkes Kritikverständnis insgesamt in das begriffliche Konzept der imma­ nenten Kritik innerhalb der Kritischen Theorie einordnen (vgl. zum Begriff der immanenten Kritik Jaeggi 2014, 258; 277–302; Stahl 2013; zum Kritik­ begriff in der Kritischen Theorie allgemein Forst/Hartmann/Jaeggi/Saar 2009). Rahel Jaeggi beschreibt das Vorgehen der immanenten Kritik in ihrem Buch Kritik von Lebensformen folgendermaßen: „Immanente Kritik lokalisiert die Normativität sozialer Praktiken in den Vollzugsbedingungen dieser Praktiken selbst. Außerdem geht immanente Kritik davon aus, dass die Kontexte, aus denen sie ihre Maßstäbe bezieht, gleichzeitig in sich widersprüchlich sind. Sie werden nicht zufällig nicht verwirklicht, sondern sind von einem systemati­ schen Problem gezeichnet“ (Jaeggi 2014, 277). Die Radikalität von Menkes Rechtskritik als genealogischer Kritik besteht vor diesem Hintergrund darin, dass Menke die kritische Genealogie der bürgerlichen Rechte nicht nur in einem historischen oder archäologi­ schen, sondern in einem ontologischen, also den Begriff und die systemati­ sche Struktur des Rechts betreffenden Sinn versteht. Das bedeutet, dass das moderne Recht nicht nur in seiner wirkungsgeschichtlichen Dynamik und seinen historischen Ausprägungen am Maßstab seines eigenen normativen

67

Kapitel 1

Programms beurteilt wird, dass also die tatsächlichen geschichtlichen Wir­ kungen im Sinne einer internen Kritik am normativen Selbstverständnis des Rechts gemessen werden (vgl. zum Begriff der internen Kritik Jaeggi 2014, 261–276). In Menkes genealogischem Kritikverständnis geht es eher im Sinne der beschriebenen immanenten Kritik darum, die normative Idee zu verstehen, die dem modernen Recht immanent zugrunde liegt, und, darauf aufbauend, den spezifischen Widerspruch zu rekonstruieren, welcher die tatsächliche Verwirklichung dieser Idee notwendig kennzeich­ net und systematisch mit ihr einhergeht.22 Menke geht also analog zu Jaeg­ gis Verständnis der immanenten Kritik davon aus, dass die Widersprüch­ lichkeit der rechtlichen Praxis nicht zufällig ist, sondern in deren „Funk­ tionsweise (…) systematisch verankert ist, ja deren Funktionieren erst ermöglicht“ (Jaeggi 2014, 288). Menkes genealogische Kritik des Rechts soll von hier aus zur Darstellung bringen, dass die bürgerliche Form der Rechte aus immanenten Gründen nicht die angemessene oder geeignete Form sein kann, um die normative Idee des modernen Rechts, nämlich die Gleichheit eines jeden einzelnen, zu realisieren.23 Das bürgerliche Recht wird also bei Menke nicht anhand eines externen Kriteriums, das dem Gegenstand der Kritik enthoben bzw. transzendent ist, kritisch beurteilt, sondern es wird an den Widersprüchen gemessen, die mit der Realisierung seines eigenen Anspruchs und seines normativen Programms immanent verbunden sind, d.h. „anhand von Maßstäben, die in diesem selbst schon enthalten sind“ (Jaeggi 2014, 277). Insofern wird Kritik hier methodisch als eine genealogische Praxis konzeptualisiert (vgl. Saar 2009): In der Kritik geht es nicht um die Konfrontation einer Pra­ xis mit einem von außen stammenden moralischen Kriterium, sondern

22 Vgl. dazu: „Der Grund der bürgerlichen Form der Rechte – so die These – ist der moderne Umbruch in der Ontologie der Normativität. Also muss nach dem Programm der wahren Kritik der ontologische Umbruch des modernen Rechts die Form der bürgerlichen Rechte – die er begründet – zugleich in Frage stellen, ja, sie auflösen und zerstören. Die wahre, genealogische Kritik entdeckt einen Widerspruch in dem modernen Umbruch des Rechts: Er begründet und bestreitet das bürgerliche Recht“ (Menke 2015, 11). 23 Vgl. dazu die allerersten Sätze von Menkes Studie: „Die bürgerlichen Revolutio­ nen, die seit dem 18. Jahrhundert die Ordnungen traditioneller Herrschaft um­ stürzen, sind vor allem anderen Deklarationen der gleichen Rechte: Sie erklären die Rechte des Menschen und Bürgers. Die Ordnungen traditioneller Herrschaft waren Ordnungen der Ungleichheit; in ihnen ist die Macht, zu urteilen und zu regieren, radikale ungleich verteilt. Dagegen setzen die bürgerlichen Revolutio­ nen die Gleichheit, und Gleichheit heißt für sie: gleiche Rechte. Beides fällt für sie in eins“ (Menke 2015, 7).

68

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

zunächst um die immanente Entfaltung des Begriffs, d.h. den begrifflichen Nachvollzug der Entstehung dieser Praxis. In der genealogischen Kritik wird zunächst die begriffliche Architektur und Funktionsweise einer Pra­ xis, die kritisiert wird, rekonstruiert. Durch diesen Nachvollzug wird die Wirklichkeit dieser Praxis, also ihre Gegebenheit als Faktizität, wieder zur Möglichkeit, ihre Aktualität wird wieder zur Potenzialität, weil in der genealogischen Kritik die Entstehungsgeschichte und damit die Kon­ tingenz einer faktisch gegebenen und daher scheinbar notwendigen Praxis herausgestellt wird. Gleichzeitig führt das genealogische Verstehen und Nachvollziehen einer Praxis dabei zu einem kritischen Verständnis der „immanenten Probleme und Widersprüche einer bestimmten sozialen Konstellation“ (Jaeggi 2014, 277). Es geht in der genealogischen Kritik also weniger um den moralischen Einspruch gegen eine Praxis als um die begriffliche Analyse des Geworden­ seins einer Praxis und, darauf aufbauend, den Nachweis der in dieser Pra­ xis systematisch enthaltenen widersprüchlichen Strukturen. Kritik richtet sich so verstanden auf das „Spannungsverhältnis innerhalb einer Formation, das diese über sich selbst hinaustreiben wird“ (Jaeggi 2014, 287). Gegenüber einer rein internen Kritik des Rechts, die dieses an seinen eigenen Norm­ vorstellungen (und der unzureichenden Verwirklichung dieser Vorstell­ ungen) bemisst, lässt sich Menkes genealogischer Ansatz der Form nach gerade deshalb als immanente Rechtskritik verstehen, weil er die in die Pra­ xis des Rechts selbst eingeschriebenen Aporien und Widersprüche als für diese Praxis spezifischen und systematisch implizierten Elemente in den Blick nimmt. Menke weist die normative Architektur der bürgerlichen Rechts­ praxis somit in ihrer immanenten Selbstbewegung als widersprüchlich aus. Mit diesem Kritikverständnis beruft sich Menke – übrigens analog zu Jaeggi24 – wiederum auf Marx,25 der zwischen vulgärer und wahrer Kritik unterscheidet. „Die wahre Analyse ist zugleich die wahre Kritik, indem sie die – ontologische, nicht historische – Genealogie der bürgerlichen Rechte erkennt. Sie konfrontiert die bürgerlichen Rechte nicht mit ihrer mo­

24 Vgl. dazu: „Zu den ‚dogmatischen Irrtümern‘, die Marx der ‚vulgären‘ Kritik ankreidet, gehört deshalb auch das Verfahren des bloßen Aufweisens von Wider­ sprüchen, das sich um ‚Genesis‘, ‚Notwendigkeit‘ und ‚eigentümliche Bedeutung‘ eines so diagnostizierten Widerspruchs nicht kümmert“ (Jaeggi 2014, 280). 25 Selbstverständlich stehen im Hintergrund einer solchen genealogischen Auffassung von Kritik neben Marx besonders Nietzsche (vgl. Nietzsche 2013) und, auf diesem aufbauend, Michel Foucault (vgl. Foucault 1977; 1992).

69

Kapitel 1

ralischen Absicht, sondern mit ihrer Genesis, ihrem Grund“ (Menke 2015, 11). Aus der genealogischen Perspektive einer solchen immanent ansetzenden Kritik stehen die normative Ordnung des Rechts und die durch diese rechtliche Ordnung erzeugten sozialen Praktiken, wie angedeutet, in einer dialektischen Wechselbeziehung. Die gesellschaftskritische Pointe dieser rechtskritischen Aussage besteht vor diesem Hintergrund darin, dass das moderne Recht in seiner begrifflichen Struktur notwendig an die wider­ sprüchliche Einheit von (sozialer) Beherrschung und (normativer) Berech­ tigung gebunden ist. Der dialektische Prozess, durch den der moderne Verrechtlichungsdiskurs in die Implementierung sozialer Herrschaftspraktiken mündet, ist der internen Logik des bürgerlichen Rechts notwendig inhärent und kann nicht nachträglich aufgehoben werden. In Menkes radikaler Lesart dieser Dialektik ist das Recht dadurch konstituiert, ja, „da­ durch definiert, die andere Form sozialer Herrschaft zu sein; die soziale Logik der Rechtsform besteht darin, Verhältnisse sozialer Herrschaft zu ihrem Inhalt zu haben“ (Menke 2013, 289). Die Normativität des bürger­ lichen Rechts ist Menke zufolge zu jedem Zeitpunkt und in jeder ein­ zelnen normativen Operation, d.h. wesentlich herrschaftsfunktional und herrschaftskonstitutiv. Und mit Herrschaft ist an dieser Stelle eben nicht bloß der Zwangscharakter der Rechtsgewalt im Inneren des Rechtsbegriffs gemeint, sondern gerade die (rechtliche) Hervorbringung von gesellschaftlichen Machtformen und Gewaltdynamiken, die entgegen der rechtlichen Normativität zu Ungleichheit und Unfreiheit im Sozialen führen. Menke drückt dies in Anlehnung an Marx so aus: „Die Rechtsverhältnisse haben daher einen normativen Gehalt, aber keinen, der sich gegen die soziale Herrschaft wenden ließe: Es ist eine Normativität ohne Überschuss. Das bürgerliche Recht ist durch seinen normativen Gehalt herrschaftskonstituierend. Marx‘ Formel vom Recht als ‚andrer Form‘ begreift die bürgerliche Gesellschaft als interne Ver­ bindung von Herrschaft und Recht: Herrschaft durch Recht“ (Menke 2015, 270). Das Recht steckt also in einem unvermeidbaren Dilemma: Sobald das Recht die – Ungleichheit und Unfreiheit produzierende – soziale Praxis der bürgerlichen Gesellschaft kritisiert, tut es dies notwendig im Namen derjenigen Normativität, deren ‚soziale Logik‘ dafür verantwortlich ist, dass diese Praktiken überhaupt als solche des nichtnormativen Zwangs und der Herrschaft und damit als normativ kritikbedürftig entstanden sind. Obwohl z.B. der Aufbau einer gerechten, egalitären und demokra­

70

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

tischen Gesellschaftsordnung zu den grundlegenden liberalen Leitvorstel­ lungen moderner Rechtsstaaten gehört, muss der Liberalismus nichtsdes­ totrotz mit dem Widerspruch umgehen, dass die kapitalistischen Wirt­ schaftsdynamiken, in die er gesellschaftlich involviert ist und die er recht­ lich absichert, zu massiven sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkei­ ten sowohl auf nationaler als auch auf globaler Ebene führen, wie bspw. in Form irreversibler Klimaschäden im Kontext des globalen Nord-Süd-Ge­ fälles. Die liberale Kritik dieser sozialen Ungleichheiten richtet sich also immer zugleich auf den Liberalismus selbst. Ein weiteres Beispiel lässt sich im Anschluss an post- und dekoloniale Debatten anführen: Obwohl moderne Demokratien auf die immer um­ fassendere Berechtigung und rechtliche Inklusion von immer mehr Men­ schen etwa durch das Instrumentarium der Menschenrechte abzielen, ist die demokratische Politik durch eine grundlegende Widersprüchlichkeit in ihrem historischen und systematischen Kern gekennzeichnet, nämlich der Verbindung von Demokratie und Rassismus, durch die bis heute rassi­ fizierte Subjekte von vornherein aus demokratischen Verfahren und men­ schenrechtlichen Diskursen exkludiert werden (vgl. Mbembe 2017, 121f.). Die demokratische Kritik an undemokratischen Ausschlüssen muss also die eigenen konstitutiven Exklusionen und rassistischen Begrenzungen von Menschenrechtsdiskursen stets ausblenden (vgl. Gündoğdu 2021). Auf diese ambivalente Verbindung wird an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen. Aufgrund der besprochenen dialektischen Umschlagslogik ist die Kritik an der ungleichen und unfreien sozialen Praxis der bürgerlichen Gesell­ schaft durch den normativen Einspruch des Rechts dauerhaft versperrt. Denn eine solche Kritik kann nur auf diejenige Normativität zurückgrei­ fen, die zugleich die Urheberin dessen ist, was kritisiert wird, und ver­ strickt sich dadurch in einen performativen Selbstwiderspruch. Indem sich das Recht im Rahmen seiner Kritik des Sozialen auf seine eigene Norma­ tivität beruft, fällt es im Akt dieser Kritik stets auf das zurück, was das Problem der sozialen Herrschaft erst herbeigeführt hat, nämlich auf sich selbst, eben auf seine eigene Normativität und ihren inneren dialektischen Charakter. Rechtstheoretisch gilt daher: „Die Form des bürgerlichen Rechts ist anders gegenüber ihrem eigenen Inhalt. Form und Inhalt des Rechts – so Marx immer wieder – stehen in Differenz; sie entsprechen sich nur so, dass sie einander widersprechen. Das Recht widerspricht sich selbst“ (Menke 2013, 274f.). Oder noch einmal anders formuliert: „Die Logik des Rechts ist eine Doppellogik; sie ist die Logik der Verkehrung seines sozia­

71

Kapitel 1

len Inhalts in eine andere Form“ (Menke 2015, 269). Diese dialektische Dynamik der Normativität des modernen Rechts bildet den theoretischen Ausgangspunkt für Menkes grundsätzliche Kritik des bürgerlichen Rechts. Im Rahmen dieser marxistischen Kritik denkt Menke, wie gezeigt, die normative Form des Rechts mit den nichtnormativen Formen sozialer Herrschaft intern zusammen. Gerade diese dialektische Grundierung sei­ ner Kritik erlaubt Menke dabei, im Anschluss an Marx den ideologischen Charakter des Rechts herauszuarbeiten. Was genau damit gemeint ist, dass das bürgerliche Recht einen ideologischen Charakter besitzt, soll nun im Folgenden erläutert werden. 1.2.2 Der ideologische Charakter des bürgerlichen Rechts Der ideologische Charakter des bürgerlichen Rechts folgt aus der Dialek­ tik seiner Normativität. Oder anders formuliert: Die Rekonstruktion der dialektischen Dynamik des Rechts beinhaltet unmittelbar einen ideolo­ giekritischen Bedeutungsaspekt, insofern die genealogische Analyse des bürgerlichen Rechts den ideologischen Kern im Inneren seiner normati­ ven Dynamik offenbart, d.h. das Recht als Ideologie kritisiert. Mit diesem ideologiekritischen Aufweis einer dem Recht immanenten Dialektik steht Menke in einer Linie mit Rahel Jaeggis Auffassung von Ideologiekritik als immanenter Kritik, welche „an der inneren Widersprüchlichkeit der Rea­ lität und der diese konstituierenden Normen“ (Jaeggi 2009, 287) ansetzt, um von hier aus zu untersuchen, inwiefern die Werte einer Gesellschaft „als wirksame widersprüchlich geworden und defizitär“ (ebd.) verwirklicht worden sind. Mit dieser Bestimmung des bürgerlichen Rechts als Ideologie geht für Menke gleichzeitig eine Radikalisierung und Transformation der alltags­ sprachlichen Bedeutung des Begriffs der Ideologie einher. Die Konzeption der Ideologie wird in Menkes Heuristik, wiederum im Anschluss an Marx, sozusagen begrifflich verschoben, und zwar zunächst von einem negati­ ven oder repressiven Verständnis hin zu einer positiven oder produktiven Auffassung des Ideologischen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird unter dem Begriff der Ideologie oftmals eine sprachliche Verfälschung oder be­ griffliche Verzerrung eines Sachverhalts verstanden. In diesem Verständnis lässt die Ideologie einen Sachverhalt als etwas anderes erscheinen als er in Wirklichkeit ist. Dadurch wird, wie Marx ursprünglich formuliert, ein fal­ sches Bewusstsein hergestellt, eine Täuschung, die auf der Ebene des Verste­ hens einer äußerlich gegebenen Tatsache, also auf einer hermeneutischen

72

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

Ebene vollzogen wird. Diese Deutung des Konzepts der Ideologie verfehlt jedoch Menke zufolge die eigentliche Pointe des Ideologischen. Um diese Pointe gegen die herkömmliche, alltagssprachliche Standarddeutung der Ideologie zu verdeutlichen, bezieht sich Menke auf den Marxschen Begriff des Scheins: „Der Begriff des Scheins bedeutet bei Marx (wie bei Hegel und auch bei Nietzsche) nicht eine falsche Ansicht. Schein ist gar kein episte­ mologischer, sondern ein ontologischer Begriff. ‚Schein‘ bezeichnet eine Seinsweise, die erstens ein Resultat von Setzungen und also von Voraussetzungen abhängig ist und sich zweitens diesen Setzungen und Voraussetzungen gegenüber verselbstständigt und dadurch den Charakter von etwas natürlich Gegebenem oder gar absolut Selbstge­ gründetem annimmt – also anzunehmen scheint. Das Recht ist Schein, weil sich zeigt, dass der Inhalt und daher Grund seiner Gleichheit – nichts anderes als – die soziale Herrschaft ist“ (Menke 2015, 276). Menke interpretiert also den Begriff der Ideologie anhand der Marxschen Konzeption des Scheins gegenüber seiner alltagsprachlichen Verwendung um, indem er die Wirkungsweise der Ideologie nicht in hermeneutischen, sondern in politischen Kategorien versteht. Die Bedeutung des Ideolo­ giebegriffs wird auf diese Weise nicht in einem theoretischen, sondern in einem praktischen Sinn interpretiert. Erst diese praktisch-politische Grundlage der Ideologiekritik, die den Ideologiebegriff nicht als eine Ka­ tegorie der theoretischen, sondern der praktischen Philosophie begreift, erlaubt es, die marxistische Dialektik der ‚andren Form‘ des Rechts in erster Linie als eine gesellschaftlich produktive anstatt hermeneutisch repressive Operation der rechtlichen Normativität zu lesen. Vor dem Hintergrund eines solchen Ideologieverständnisses lässt sich dann jede Form einer einseitigen Repressionshypothese überwinden.26 26 Die sogenannte ‚Repressionshypothese‘ stammt aus dem Foucaultschen Kontext einer Kritik der Sexualität. Foucault revolutionierte im Zuge seiner biopoliti­ schen Studien der 1970er Jahre die zeitgenössischen Kritikformen von Sexuali­ tät, welche seiner Diagnose zufolge in einem Denken festgefahren waren, das irrtümlicherweise davon ausging, das Ziel der Kritik der Sexualität müsse darin bestehen, die Sexualität von der Unterdrückung durch konservative Konventio­ nen, Zwänge und repressive moralische Normen zu befreien, die sie insgesamt in ein moralisches Gefängnis der Verbote einsperrte und so den Menschen an der freien Selbstverwirklichung seiner individuellen Sexualität hinderte (vgl. Fou­ cault 1983). Foucault trat dadurch in Opposition gegen eine solche ‚Repressions­ hypothese‘, dass er zeigte, inwiefern das Diskursfeld der Sexualität gerade nicht einfach unterdrückt, sondern im Gegenteil durch eine Vielzahl an gesellschaftli-

73

Kapitel 1

Eine reine Repressionshypothese würde behaupten müssen, dass das Recht ideologisch ist, insofern es so tut, als wäre es eine normative Ordnung, während es in Wirklichkeit bloß eine Form von nichtnormativer Herr­ schaft und nichtlegitimierter Gewalt darstellt. Aus dieser Perspektive wä­ re die Formbestimmung des Rechts, die darin besteht, eine normative Ordnung der Anerkennung der Gleichheit und Freiheit eines jeden einzel­ nen als unhintergehbare menschenrechtliche Grundlage von Normativität schlechthin zu sein, einfach nur eine Falschdarstellung oder schlicht eine Täuschung. Diese unterkomplexe Lesart ist jedoch nicht einmal im Ansatz dazu in der Lage, die Dialektik und damit die Ideologie der normativen Dynamik des modernen Rechts im praktischen Bereich der bürgerlichen Gesellschaft zu denken, da sie die Rechtsgewalt schlicht und ergreifend verabsolutiert und als Totschlagargument gegen die Normativität des Rechts als solcher ausspielt. Menke denkt im Rahmen seiner rechtskritischen Heuristik jedoch die repressiven Merkmale des modernen Rechts mit dessen normativen Ele­ menten und emanzipatorischen Potenzialen dialektisch zusammen und entwickelt erst auf dieser tiefergehenden Grundlage seine kritische Genea­ logie des bürgerlichen Rechts. Das moderne Recht ist nach Menke nicht einfach deshalb ideologisch, weil es seine tatsächliche Wirkungsweise im Sozialen im Nachhinein verdeckt, sondern weil die Dynamik des Rechts seine eigene Normativität im Bereich der gesellschaftlichen Effekte des Rechts gerade dadurch verkehrt, dass sie die sozialen Wirkungen, die das Recht hervorbringt, im Widerspruch zur Normativität des Rechts aktiv

chen Diskursen und Normen gefördert, produziert, organisiert und kanalisiert wurde. Foucault zeigte in diesem Kontext etwa auf, inwiefern die Sexualität nicht unabhängig von ihrer Verbindung zu gesellschaftlichen Diskursen bestimmt und geformt werden kann, die darüber entscheiden und kontrollieren, was in einer Gesellschaft als Wahrheit anerkannt und was nicht darunter verstanden bzw. verhandelt und gezählt werden kann. Foucaults Einspruch gegen die ‚Repressi­ onshypothese‘ bestand also im Grunde in dem Aufweis, dass die diskursiven Machtformen moderner Gesellschaften sich nicht einfach repressiv durch Verbo­ te und Tabus, sondern produktiv durch biopolitische Machtformationen auf die Sexualität als zentrales Element des natürlichen, biologischen Lebens bezogen (vgl. Foucault 2006b). Damit stellte er heraus, dass die Sexualität schon früh ein Bereich war, den es nicht zu unterdrücken, in die Privatheit abzuschieben und unsichtbar zu machen galt, sondern der im Gegenteil durch eine große Bandbrei­ te an gesellschaftlichen Technologien, diskursiven Praktiken und wissenschaftlichen Dispositiven reglementiert, gestaltet sowie thematisiert und kultiviert wer­ den musste. Sex wurde damit für Foucault eine (bio-)politische Angelegenheit, die explizit von öffentlichem Interesse war.

74

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

formiert und produziert. Die ideologische Verkehrung ist daher nicht als eine epistemologische Verdeckung, sondern als eine ontologische Erzeugung des nichtnormativen Gegenteils der modernen Rechtsnormativität zu ver­ stehen. „Die soziale Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft hat eine recht­ liche Form; (…) Die bürgerliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Herrschaft, nur weil und indem sie eine Gesellschaft der Freiheit ist. Also ist sie, indem sie die Gesellschaft der Freiheit ist, zugleich eine Gesellschaft der Herrschaft. Diese Doppelantwort ist die grundlegende Einsicht der kritischen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, die zu­ erst Marx entwickelt (und Max Weber in einem zentralen Argument seiner Rechtssoziologie reformuliert) hat“ (Menke 2015, 268). Die Ideologie liegt also nicht quer zur rechtlichen Normativität, gewisser­ maßen als das von ihr unabhängige Andere, sondern sie wird durch die Normativität des Rechts, also performativ, als deren Anderes produziert. Hier wird deutlich, aus welchem Grund das bürgerliche Recht nicht nur in einem transitorischen Sinn, sondern wesentlich krisenhaft ist: Seine Nor­ mativität ist unlösbar mit der sozialen Herrschaft als ihrem Anderen ver­ bunden, weil die Produktion dieses Anderen der Normativität konstitutiv zur Faktizität, zum faktischen Funktionieren des Rechts selbst gehört. Die normative Selbstverpflichtung des Rechts auf die Freiheit des Subjekts ist dabei für die paradoxe Verkehrung des normativ-egalitären Programms des modernen Rechts in die Herrschaftsverhältnisse sozialer Ungleichheit und gesellschaftlichen Zwangs funktional notwendig. Oder noch ein wei­ teres Mal mit Menkes Formulierung: „Wie Marx bestimmt Weber das bürgerliche Recht durch den Zusam­ menhang von Freiheit und Zwang. Und wie Marx denkt Weber diesen Zusammenhang dialektisch: als Einheit im Widerspruch (oder als Wi­ derspruch in der Einheit). Marx und Weber zeigen, dass das bürgerli­ che Recht sozialen Zwang hervorbringt. Das bedeutet nicht, dass das bürgerliche Recht nicht die Gleichheit der Freiheit verwirklicht. Son­ dern, dass das bürgerliche Recht sozialen Zwang hervorbringt, indem es die Gleichheit der Freiheit verwirklicht“ (Menke 2015, 281). Auf Webers Rechtssoziologie als Unterstützung des Marxschen Arguments der ‚andren Form‘ innerhalb von Menkes Rechtskritik wird an späterer Stelle noch einmal eingegangen. Der Fokus liegt an dieser Stelle auf der Betonung, dass gerade die Anerkennung der egalitären und freiheitlichen Normativität des bürgerlichen Rechts als dessen tatsächliche normative

75

Kapitel 1

Struktur für die genealogische Kritik dieses Rechtssystems unerlässlich und von entscheidender Bedeutung ist. Es geht Menke nicht darum, den normativen Gehalt des modernen Rechts einfach zu leugnen oder das Recht reduktionistisch auf seine rein repressiven Elemente zu verkürzen. Im Zentrum von Menkes Rechtskritik steht vielmehr die dialektische Um­ schlagslogik von Recht in Herrschaft, deren Komplexität eine präzise Ana­ lyse der autonomen, selbstreflexiven Logik des modernen Rechtsregimes erfordert, wie sie in den vorhergehenden Kapiteln bereits rekonstruiert worden ist. Nur auf dieser normativitätstheoretischen Basis lässt sich die Dialektik des modernen Rechts kritisch untersuchen und als ideologischer Kern des bürgerlichen Rechts zum Ausdruck bringen. „Daher ist das bürgerliche Recht für Marx keineswegs bloße Ideologie – falsches Bewusstsein: ‚die Verdunkelung des Faktischen durch das Recht‘ (Claude Lefort) –, sondern die ‚Bedingung der Existenz‘ (Nicos Poulantzas) eben derjenigen sozialen Verhältnisse der Herrschaft, die es als Verhältnisse rechtlicher Gleichheit erscheinen lässt; (…) Die Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft wird durch das Recht kon­ stituiert. Es bedarf daher nicht nur der Ideologie, sondern der prakti­ schen, normativen Existenz rechtlicher Verhältnisse gleicher Anerken­ nung, damit es in der bürgerlichen Gesellschaft soziale Herrschaft geben kann“ (Menke 2015, 296f.). Im Rahmen dieser Arbeit wird das, was Menke im Anschluss an Marx‘ Begriff des Scheins herausarbeitet, als Ideologie bezeichnet. Das bürger­ liche Recht lässt sich vor diesem Hintergrund in einem umfassenden, weil grundlegenden Sinn als Ideologie einordnen, und zwar aufgrund des praktischen Funktionsmechanismus seiner Normativität. Dadurch, dass das Recht durch den operativen Vollzug seines normativen Programms auf gesellschaftlicher Ebene in nichtnormative Herrschaft umschlägt, ist es durch seine soziale Produktivität und Effektivität, d.h. in seinen konkre­ ten, praktischen Folgen ideologisch. Die Ideologie des bürgerlichen Rechts liegt in der tatsächlichen, faktischen Setzung bzw. Freisetzung sozialer Herrschaft, welche dem normativen Format des Rechts widerspricht. Das Recht ist Schein, weil es seinen sozialen Gehalt, also die praktischen Herr­ schaftsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, durch seine immanente Formbestimmung notwendig so hervorbringt, dass diese seinem normati­ ven Anspruch entgegenstehen und daher zu dessen normativer Krise, zu einem rein rechtlich unauflösbaren Dilemma führen. Diese These folgt aus dem oben erläuterten dialektischen Charakter der bürgerlichen Rechtspraxis. Die immanente Kritik dieser dialektischen

76

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

Praxis des Rechts deckt auf, dass die durch das moderne Recht ermöglich­ ten sozialen Praktiken innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund ihres Herrschaftscharakters in einem fundamentalen Widerspruch zum freiheitlichen Programm des Rechts stehen. Das Recht ist also in seinem normativen Charakter ein „Mechanismus zugleich der Verdeckung und Ermöglichung sozialer Herrschaft“ (Menke 2015, 275). Das bürgerliche Recht ist also in seiner Faktizität, durch sein praktisches Funktionieren (und nicht durch eine epistemologische Verzerrung) eine Ideologie. Poin­ tiert ausgedrückt: Die Ideologie des bürgerlichen Rechts besteht in der Ontologie der bürgerlichen Gesellschaft, die durch die ideologischen Wir­ kungen des bürgerlichen Rechts in ihrer spezifischen Gestalt erst evoziert wird. Diese Argumentation wendet sich dabei gleichzeitig kritisch gegen den Liberalismus. Der Liberalismus ist ja die politische Rationalität, vor de­ ren Hintergrund das bürgerliche Recht entsteht; umgekehrt bildet das bürgerliche Recht das zentrale normative Dispositiv,27 durch das sich der Liberalismus als gesellschaftliche und politische Ordnungsstruktur zur Geltung bringt. Der Liberalismus bildet also einerseits den politischen Ordnungsrahmen für die Entwicklung des bürgerlichen Rechts, anderer­ seits wird er selbst durch die spezifische Form des bürgerlichen Rechts im Sinne des primären normativen und politischen Gestaltungsmediums der Gesellschaft entscheidend mitbestimmt und geprägt. Der Kritikpunkt, den Menke gegen das liberale Paradigma ins Feld führt, besteht darin, dass der Liberalismus konstant die dialektische Logik des bürgerlichen, liberalen Rechts verkennt und dadurch seine eigene Autorschaft in Bezug auf die Hervorbringung ungleicher und unfreier Gesellschaftsverhältnisse missversteht bzw. übersieht: „Aber zugleich kann der Liberalismus nicht 27 Vgl. zur begrifflichen Einordnung des ursprünglich von Foucault stammenden Begriffs des Dispositivs Giorgio Agambens aufschlussreichen Essay Was ist ein Dispositiv (vgl. Agamben 2008). Agambens Interpretation zufolge stellt der Be­ griff des Dispositivs gewissermaßen eine Steigerung und Radikalisierung von Foucaults Vorstellung des Diskurses dar. Während Diskurs bei Foucault, grob verallgemeinert, in erster Linie umfassende sprachliche Machtgebilde meint, steht das Dispositiv demgegenüber für eine deutliche Erweiterung und Verallgemeine­ rung des konzeptuellen Spektrums und „[bezeichnet] die Gesamtheit der Insti­ tutionen, Subjektivierungsprozesse und Regeln, in denen sich die Machtverhält­ nisse konkretisieren“ (Agamben 2008, 14). Das Dispositiv „[verweist] auf eine Gesamtheit von (zugleich sprachlichen und nichtsprachlichen, juristischen, tech­ nischen und militärischen) Praktiken und Mechanismen, die das Ziel haben, einer Dringlichkeit zu begegnen und einen mehr oder weniger unmittelbaren Effekt zu erzielen“ (Agamben 2008, 17).

77

Kapitel 1

begreifen, dass – und wie – es nichts anderes als die bürgerliche Form der Rechte ist, die die Politik zur Polizei degradiert und die ‚faktischen Ungleichheiten‘ der Gesellschaft hervorbringt“ (Menke 2015, 11). Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Das moderne Recht ist nach Menke nicht nur in einem theoretischen, sondern in einem praktischen Sinn eine Ideologie.28 Die soziale Herrschaft bildet nicht einfach den verleugne­ ten oder verdrängten Kern des bürgerlichen Rechts, den das Recht durch eine ideologische Verschleierung verdeckt. Denn die Ideologie des Rechts besteht gerade nicht darin, dass das Recht gewissermaßen aus einer freien Willensentscheidung heraus seine tatsächliche Wahrheit verschleiert und im Verborgenen eigentlich ganz anders, nämlich nichtnormativ, d.h. ge­ walt- und herrschaftsförmig verfasst ist. Diese Interpretation begeht den entscheidenden Fehler, aus dem Recht ein Subjekt zu machen, indem sie das Recht zu einem Akteur mit geheimen Kalkülen personifiziert und genau dadurch die ideologiekritische Pointe der strukturellen Dialektik des Rechts verfehlt. Hier muss kritisch vermerkt werden, dass Menke an verschiedenen Stel­ len so klingt, als würde er das Recht als Subjekt verstehen, ja seine „Rechts­ zentrierung produziert einen Subjektcharakter des Rechts: ‚Es‘ reflektiert sich selbst, ‚es‘ produziert, ‚es‘ widerspricht seinem Wesen“ (Buckel 2018, 130). Ich schließe mich Sonja Buckels Kritik hier an, verweise jedoch gleichzeitig darauf, dass Menke sich in seiner Argumentation grundsätz­ lich darüber im Klaren ist, dass das Recht eine normative Ordnung und darin zugleich eine entscheidende gesellschaftliche Institution im Rahmen

28 Diese Lesart des Ideologiebegriffs deckt sich dabei mit Judith Butlers Interpretati­ on, die sie in der Auseinandersetzung mit Marx und den marxistischen Schriften Louis Althussers entwickelt. Butler versteht unter dem Konzept der Ideologie in erster Linie keinen kognitiven Akt des Geistes, sondern eher die praktisch-po­ litische Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse selbst: „Und Ideologien sind keine Erfindungen des ‚Bewusstseins‘, sondern Teil der gesellschaftlichen Struktur selbst“ (Butler 2019, 40). Zwar etablieren Ideologien Butler zufolge „das imaginäre Verhältnis“ (ebd.) zwischen den Subjekten und den gesellschaftlichen Zusammenhängen und Bedingungen, unter denen die Subjekte leben; jedoch manifestieren sich in dieser ‚imaginären‘ Beziehung der Ideologie nicht bloß individuelle oder kollektive Formen des Denkens oder der Phantasie, sondern die konkreten sozialen und materiellen Ressourcen, durch die in einer Gesell­ schaft Subjekte produziert werden. In diesem subjektkonstituierenden Sinn der Ideologie bezieht sich Butler daher auch auf Althussers berühmte Theorie der gesellschaftlichen Anrufung: „Subjekte werden von Gesellschaften auf Weisen hervorgebracht, die deren Strukturen reproduzieren – oder zu reproduzieren versuchen“ (ebd.).

78

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

des Liberalismus ist, auch wenn seine Sprache teilweise suggeriert, das Recht sei ein autonomer Akteur. Diese sprachliche Uneindeutigkeit in Bezug auf ein gesellschaftliches Ordnungssystem hätte, so lässt sich kritisch festhalten, vermieden werden können. Das Recht hat weder einen Willen noch ein Bewusstsein, sondern es besitzt eine normative Struktur. In der sozialphilosophischen Diktion des Frankfurter Philosophen Martin Saar: Das bürgerliche Recht ist ein zentra­ les Element der allgemeinen „Ordnungsstruktur“ (Saar 2019, 163) libera­ ler Gesellschaften. Deshalb muss man, wenn man das Recht kritisieren will, auf diesen Strukturcharakter fokussieren. Von hier aus lässt sich das Recht dann als ideologisch charakterisieren, insofern es durch eine struktu­ relle Ideologie gekennzeichnet ist. Die Ideologie des Rechts betrifft daher nicht seine falschen oder verfälschenden Entscheidungen (denn die gibt es schlicht und ergreifend nicht, da nur Subjekte Entscheidungen treffen können), sondern sie bezieht sich auf sein strukturelles Funktionieren als normatives Ordnungssystem. Auf der Basis der genealogischen Analyse der Funktionsmechanismen des Rechts arbeitet Menke dementsprechend he­ raus, auf welche Weise die normative Ordnung des bürgerlichen Rechts in soziale Praktiken im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft umschlägt, de­ ren Herrschaftsdynamik der normativen Struktur des Rechts widerspricht. Die Ideologie des Rechts betrifft, mit der Formulierung Menkes, seine ontologische Falschheit, also seine strukturelle Widersprüchlichkeit. Das rechtliche Instrument, durch das sich die ideologische Wirkungs­ weise und damit die dialektische Dynamik des modernen Rechts entfaltet, sind die subjektiven Rechte. Als Vehikel der rechtlichen Selbstreflexion etablieren subjektive Rechte, entgegen ihrem immanenten normativen Anspruch, im Bereich des Sozialen die nichtnormative Herrschaft des indi­ viduellen Eigenwillens, der durch die Institution der subjektiven Rechte rechtlich ermächtigt und darin zugleich so formiert wird, dass seine gesell­ schaftliche Gestalt und soziale Wirkmacht in einen radikalen Widerspruch zur normativen Struktur subjektiver Rechte gerät. Die Aporie der subjek­ tiven Rechte besteht in der Ermächtigung, ja der Erzeugung des subjekti­ ven Eigenwillens im Raum der bürgerlichen Gesellschaft. Genauer: Die Aporie des modernen Rechts besteht Menke zufolge darin, dass das Recht aufgrund seiner normativen Struktur die individuellen Ansprüche, die es im Medium der subjektiven Rechte rechtlich ermächtigt, immer zugleich naturalisiert und dadurch entpolitisiert. Diese rechtliche Naturalisierung steht im Zentrum der Kritik der Rechte und soll im Folgenden in ihren wichtigsten Konturen rekonstruiert werden.

79

Kapitel 1

1.2.3 Zur Aporie der subjektiven Rechte: Die Legalisierung des Eigenwillens Subjektive Rechte haben Menke zufolge die Struktur der Legalisierung des Natürlichen (vgl. im Folgenden Faets 2018). An dieser Struktur setzt die Kritik der subjektiven Rechte an. Subjektive Rechte zeichnen sich nach Menke dadurch aus, dass sie das, was sie berechtigen, als Natürliches berechtigen. Das bedeutet, dass sie das, was sie rechtlich ermächtigen, naturalisieren. „Das bürgerliche Recht vollzieht die Selbstreflexion des Rechts in sei­ ner Differenz vom Natürlichen so, dass es sich das Natürliche, das Nichtnormative, als Tatsache voraussetzt; das bürgerliche Recht versteht also die selbstreflexive Reproduktion der Differenz von Norm und Natur im Recht so, dass sie die Reifizierung des Natürlichen zum Gegebenen, zur Grundlage des Rechts verlangt“ (Menke 2015, 262f.). Subjektive Rechte bringen das Nichtrechtliche innerhalb der rechtlichen Normativität dadurch zur Geltung, dass sie es verdinglichen, es zu einer vorrechtlichen, also natürlichen Tatsache machen. Im bürgerlichen Kon­ text subjektiver Rechte kommt das Nichtrecht, das innerhalb der rechtli­ chen Normativität reflektiert werden soll, immer schon als Gegebenes, als Positiviertes zur Geltung. Der Grund hierfür liegt darin, dass subjektive Rechte die Herrschaft des Rechts dadurch normativ begründen, dass sie sie begrenzen.29 Subjektive Rechte ordnen die rechtliche Normativität da­ durch neu, dass sie das Recht auf dem normativen Fundament individuel­ ler Freiheit errichten. Das moderne Recht erkennt die individuelle Freiheit als unhintergehbaren Ausgangspunkt seiner Normativität an. Subjektive Rechte werden auf dieser Basis als rechtlicher Ausdruck vorrechtlicher individueller Ansprüche verstanden, was dazu führt, dass die Freiheit des Einzelnen, die es im Recht als dessen legitimatorischen Ausgangspunkt zu schützen gilt, als individueller Eigenwille des Subjekts aufgefasst wird. Das

29 Vgl. dazu: „Dadurch, eben durch die Erklärung von politischen Grundrechten, ist die bürgerliche (Selbst-)Verfassung der Politik in der Form subjektiver Rechte eine ‚neue Art der Herrschaftsbegründung und Herrschaftsbegrenzung‘: Sie ist eine neue Art der Herrschaftsbegründung, weil die Politik sich nun im Grund­ recht eines jeden auf Teilnahme an der politischen Macht begründet. Aber eben­ deshalb ist sie auch eine neue Art der Herrschaftsbegrenzung, denn wenn alle Rechte nun durch ihre Form subjektive oder Freiheitsrechte sind, berechtigen sie die Freiheit des subjektiven Eigenwillens ‚schlechthin‘ (Grimm) und damit nicht nur in der Politik, sondern auch gegenüber der Politik“ (Menke 2015, 318).

80

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

Konzept des Eigenwillens beschreibt die Naturalisierung des subjektiven Wollens. Im Eigenwillen werden die beliebigen Willensinhalte von Sub­ jekten als natürlich vorhanden vorausgesetzt und dadurch immunisiert: Um berechtigt zu sein, muss sich das subjektive Wollen nicht weiter recht­ fertigen; es genügt, dass es das Wollen eines Subjekts, eben ein Eigenwille, ist. Deshalb wird der Eigenwille durch das Recht auch nicht normativ begründet, sondern er wird als Gegebenes, als Grundlage des Normativen, legalisiert. Das moderne Recht begreift den subjektiven Eigenwillen als vorrechtliche Grundlage seiner Normativität. Und genau hier liegt das Problem: „Die Form der subjektiven Rechte setzt den individuellen Eigen­ willen des Subjekts als Gegebenes voraus“ (Menke 2015, 204). Die problematische Annahme, die der Idee der subjektiven Rechte zu­ grunde liegt, besteht darin, dass die in Rechten verkörperten individuellen Ansprüche rechtlich nur dadurch zur Geltung gebracht werden können, dass sie dauerhaft zur „Autorität des Vorgegebenen“ (Menke 2015, 176) der rechtlichen Normativität gemacht werden. Nichts anderes meint der Begriff des Eigenwillens: Er ist das Instrument und gleichzeitige Produkt der Immunisierung des subjektiven Wollens gegenüber rechtlichen Inter­ ventionen und normativen Transformationen. Der entscheidende Punkt ist, dass im Konzept des Eigenwillens der bloßen Tatsache des subjektiven Wollens eine fundamentale normative Geltungskraft verliehen wird. Das moderne Recht macht sich in der Figur subjektiver Rechte die Geltung des Eigenwillens zur eigenen Voraussetzung. „Diese Voraussetzung ist das Definiens des bürgerlichen Rechts. Bür­ gerliches Recht ist das Recht, das den Eigenwillen des Subjekts voraussetzt. Die Weise, in der das bürgerliche Recht den Eigenwillen voraussetzt, drückt der Satz aus: Das Wollen des Subjekts gilt. (…) Seine Entschei­ dungen sind für das Recht eine Tatsache. Diese Tatsache – dass das Subjekt dies will – bildet die ‚Grundlage‘ (Locke), auf der das Recht aufbaut: Nur im fraglosen Ausgang von diesen Tatsachen können die Regeln des Rechts bestimmt werden. Dass subjektive Rechte das Subjekt ermächtigen, heißt daher, dass sie seinen Entscheidungen den Status, die Autorität einer Tatsache verleihen. Das ist der Empirismus (oder Positivismus) der Form subjektiver Rechte“ (Menke 2015, 249). Indem sich das Recht „die Tatsache, dass das Subjekt dies will“ (Menke 2015, 225), als normative Grundlage voraussetzt, baut es seine Normativi­ tät auf der Verdinglichung und Immunisierung des subjektiven Wollens auf, hinter die es nicht mehr zurück kann. Deshalb ist für Menke das Programm der rechtlichen Ermächtigung des Subjekts durch subjektive

81

Kapitel 1

Rechte auf seiner Rückseite nicht nur an die Entmächtigung des Rechts selbst, sondern darüber hinaus an die Entpolitisierung des Wollens gebun­ den. Das nichtnormative Verhältnis von Recht und Nichtrecht wird in der Logik subjektiver Rechte durch eine eigentümliche, ja paradoxe Ver­ bindung von Normativität und Faktizität reflektiert: Bürgerliche Rechte „regeln normativ, indem sie die Gleichheit sichern, aber das tun sie unter der – aktiven – Voraussetzung von faktischen Bedingungen, die sie dadurch der politischen Regierung entziehen. Die Normativi­ tät der bürgerlichen Rechte besteht in der Hervorbringung vor- und außernormativer Faktizität“ (Menke 2015, 10). Indem sie das Wollen der Rechtssubjekte als vorrechtliche Tatsache be­ handeln, „in die sie nicht mehr eingreifen dürfen“ (Loick 2017a, 165), konstituieren moderne Rechte durch ihre normativen Operationen die bür­ gerliche Gesellschaft als diejenige Sozialstruktur, in der die Normativität des Rechts dialektisch in „die andere Form sozialer Herrschaft“ (Menke 2013, 284) umschlägt. Das Recht verkehrt sich also aufgrund der dialekti­ schen Verfasstheit seiner Normativität im Raum der nichtrechtlichen, bür­ gerlichen Gesellschaft in sein nichtnormatives Anderes. Die Normativität des modernen Rechts ist dadurch herrschaftskonstitutiv, dass sie durch subjektive Rechte den Eigenwillen legalisiert. Denn die Legalisierung des Eigenwillens als natürlichen, also gegebenen, bringt als normativer Me­ chanismus der Rechte „die bürgerliche Gesellschaft als einen gegenüber der politischen Regulierung autonomen Zusammenhang hervor“ (Menke 2015, 325). Die rechtliche Normativität erzwingt unter den Bedingungen der Form subjektiver Rechte die Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft als entpolitisierten Raum sozialer Zwänge und asymmetrischer Kräfteverhältnisse, die dem Recht potenziell normativ widersprechen. Die „Natura­ lisierung des Wollens der Rechtssubjekte“ (Loick 2017a, 165) setzt die nichtnormative Herrschaft des Eigenwillens im Raum der bürgerlichen Gesellschaft frei. „Das bürgerliche Recht produziert ein neues Subjekt. (…) Die Er­ mächtigung durch subjektive Rechte bringt ein neues Wollen hervor: ein Subjekt, das indifferent gegenüber Sittlichkeit und Freiheit ist und damit alleine, für sich, wollen kann“ (Menke 2015, 253). Da sich das Recht in der Form subjektiver Rechte auf den normativen Primat des Eigenwillens festlegt, erzeugt es den individuellen Eigenwil­ len als normativ indifferente und entpolitisierte Souveränitätsinstanz – mit Marx: es ermächtigt den egoistischen, bürgerlichen Privatmenschen.

82

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

Insofern das Recht den souveränen Eigenwillen nur noch legalisiert, d.h. äußerlich reguliert und innerlich naturalisiert und entpolitisiert, setzt es das individuelle Wollen von normativen Anforderungen und politischen Legitimationszwängen frei. Das moderne Recht, so lautet bereits Marx‘ rechtskritische Diagnose in Zur Judenfrage, ermöglicht durch die selbstreflexive Ontologie seiner Normativität, dass das Subjekt potenziell bloß nach seinen privaten, egoistischen Interessen – unter Absehen von normativen und politischen Erwägungen – entscheidet und handelt und dabei die Rücksichtnahme auf gesellschaftlich schwächer gestellte Gruppen den ei­ genen Privatinteressen unterordnet. Unter den normativen Bedingungen subjektiver Rechte wird ein gesellschaftlicher Prozess in Gang gesetzt, in dessen Verlauf sich die sozialen Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft unabhängig von politischer Regierung, d.h. eigendynamisch, zu Gewaltund Herrschaftsverhältnissen ausdifferenzieren. Hierin besteht die Aporie: Rechte autorisieren den Eigenwillen und schaffen so die nichtrechtlichen Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft, die in das herrschaftsförmige Ge­ genteil der rechtlichen Normativität umschlagen. Die sozialen Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft werden zum Ausdruck des nichtnormativen Eigenwillens, zum apolitischen Wirkungsort seiner Souveränität. Die Naturalisierung des Eigenwillens, die zugleich dessen Entpolitisie­ rung ist, lässt sich darüber hinaus anhand einer kurzen Problematisierung des Dispositivs der Geltung verdeutlichen: Nach Menke ist der Eigenwille eine „Kategorie der Geltung“ (Menke 2015, 202). Geltung bedeutet dabei „die normative Kraft als die ‚maßgebende Rolle‘ zu fassen, die ein Gegebe­ nes für ein Subjekt spielt; als einen (‚ideellen‘) Status, den etwas ‚Reelles‘ für ein Subjekt erhält“ (Menke 2015, 203). Menke fügt darüber hinaus hinzu, dass der Begriff der Geltung „erst (und genau) mit dem modernen Recht seine Karriere beginnt“ (ebd.). Definiert man das Dispositiv der Gel­ tung auf eine solche Weise, so liegt der normativen Kraft der Geltung ein Akt des Ingeltungsetzens zugrunde. Da es bei der Geltung um den norma­ tiven Stellenwert geht, den ein Gegebenes für ein Subjekt einnimmt, kann dieses Gegebene nicht einfach als solches, d.h. in sich selbst als normativ bindend gedacht werden. Geltung im Sinn von normativer Valenz und Verbindlichkeit erwächst einem Gegebenen nur von außen, eben indem es für ein Subjekt und durch ein äußeres Instrument in Geltung gesetzt wird. Deshalb ist die normative Geltung des modernen Rechts auch unlös­ bar mit seinem Gewaltcharakter verklammert: „Um dem Gesetz Geltung zu verschaffen, ist es zwangsbewehrt, also mit Gesetzeskraft ausgestattet“ (Loick 2012, 186). Geltung kann ein Gegebenes, also eine reine Tatsache, niemals von sich aus besitzen, sondern sie wird dieser Tatsache durch

83

Kapitel 1

einen kontingenten Sprechakt von außen zugeschrieben. Das bedeutet, dass Geltung das kulturelle Produkt von sozialen Beziehungen ist und nicht unabhängig von ihrer Einbettung in die Strukturen eines relationa­ len Gesellschaftsgefüges gedacht werden kann. Geltung ist stets in die Dynamik eines relationalen Geschehens eingeschrieben und entsteht nur aus sozialen Verhältnissen heraus. Stärker formuliert: Die Geltung einer Tatsache wird immer diskursiv behauptet, sie bedarf einer machtvollen Inszenierung im Sozialen. Das Instrument, durch das dem individuellen Wollen eine allgemein verbindliche Geltung zugeschrieben wird, ist nach Menke „die Form der subjektiven Rechte: Die Form der subjektiven Rechte ermöglicht den individuellen Eigenwillen. Denn in der Form subjek­ tiver Rechte legalisiert das Recht die bloße Tatsache, dass etwas der eigene Wille eines Subjekts – seine Wahl oder sein Interesse – ist; subjektive Rechte verleihen der Tatsache, dass ein Subjekt etwas will, Geltung. Von dieser Tatsache gehen alle subjektiven Rechte aus, sie ist ihre Voraussetzung“ (Menke 2015, 202). Subjektive Rechte laden also die Tatsache des individuellen Wollens nor­ mativ auf. Den subjektiven Rechten liegt somit ein Naturalisierungsakt zugrunde, der sowohl als Verdinglichung als auch als Entpolitisierung cha­ rakterisiert werden muss. Darin drückt sich der Voraussetzungscharakter subjektiver Rechte aus, der von hier aus dekonstruiert werden kann: Sub­ jektive Rechte zeichnen sich dadurch aus, dass sie das Wollen des Subjekts gegenüber der normativen und politischen Beurteilung freigeben. Um normativ gültig bzw. verbindlich zu sein, braucht der Eigenwille weder sittlich begründet noch selbstständig ausgebildet worden zu sein. Allein die Tatsache, dass er subjektiv, also der Ausdruck eines Subjekts ist, das et­ was will, reicht für seine Rechtfertigung aus, solange das jeweils Gewollte mit der grundsätzlichen Gleichheit (der Ansprüche) aller anderen Subjekte vereinbar ist (vgl. Menke 2015, 203). Die Legalisierung des Natürlichen evoziert also das, was sie bloß nach­ träglich zu verrechtlichen scheint, in Wahrheit selbst: Der Eigenwille des Subjekts ist nicht von Natur aus – also bereits vorrechtlich – normativ gültig, sondern verdankt seine Geltung dem produktiven Akt der Berech­ tigung durch subjektive Rechte. Gleichzeitig geben subjektive Rechte je­ doch im Akt der Legalisierung vor, dass sie sich auf etwas rein Natürliches, Vorrechtliches beziehen, obwohl sie den Eigenwillen erst durch dessen Verrechtlichung, d.h. durch die Transformation des subjektiven Wollens in die normativ unhintergehbare Grundlage des Rechts, in seiner spezifi-

84

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

schen Form selbst produzieren. Subjektive Rechte verdinglichen das Wol­ len des Subjekts, indem sie im Medium der Legalisierung den Anschein erwecken, dieses Wollen sei vorrechtlich, also bereits natürlicherweise vor­ handen. Durch diese verdinglichende Operation erschaffen Rechte das Dis­ positiv eines Eigenwillens, der unabhängig von normativer Überprüfung und politischer Regulierung Geltung beanspruchen kann. Durch seine normative Geltung als natürliches ist das subjektive Wollen somit gegenüber der normativen und politischen Rechtfertigung immuni­ siert. Vor dem Hintergrund dieser Reifizierung ist bereits implizit ange­ klungen, dass das Recht hier unter einem besonderen Aspekt in der Kritik steht, und zwar als eine spezifische Form der Subjektivierung. Diesen zen­ tralen Kritikpunkt werde ich am Übergang vom ersten, rekonstruktiven Teil dieser Arbeit zum zweiten, biopolitischen Teil expliziter untersuchen und herausarbeiten. Zuvor möchte ich die bis hierhin erarbeiteten Argu­ mentationslinien jedoch noch einmal bündeln und in einem gesellschaftskritischen Begriff zusammenfassen und zuspitzen, der für die Kritische Theorie, besonders im Rahmen der Frankfurter Schule, mittlerweile eine tief verankerte und fundamentale Konzeption der Sozialkritik darstellt, nämlich in der Konzeption der sogenannten sozialen Pathologie. 1.2.4 Das bürgerliche Recht als soziale Pathologie Einleitend wurde bereits angemerkt, dass sich die Kritische Theorie in erster Linie für das Recht interessiert, insofern es eine Praxis ist (vgl. im Folgenden Faets 2018). Genauer: Die Untersuchung der Kritischen Theo­ rie richtet sich als kritische Untersuchung des Rechts auf seinen Praxischa­ rakter. Das Recht grundlegend als Praxis zu verstehen, ist für die Kritische Theorie deshalb entscheidend, weil sich eines der Grundkonzepte ihres gesellschaftskritischen Programms, nämlich der Begriff der sozialen Patho­ logie, stets auf soziale Praktiken bezieht. Axel Honneth zufolge bildet der Begriff der sozialen Pathologie insgesamt den gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Ansätze innerhalb der Frankfurter Schule: „Bei aller Disparatheit in der Methode und im Gegenstand eint die verschiedenen Autoren der Frankfurter Schule die Idee, dass die Le­ bensbedingungen der modernen, kapitalistischen Gesellschaft soziale Praktiken, Einstellungen oder Persönlichkeitsstrukturen erzeugen, die sich in einer pathologischen Verformung unserer Vernunftfähigkeiten niederschlagen“ (Honneth 2007, 7).

85

Kapitel 1

Besonders Honneth hat demensprechend die Sozialphilosophie als Diszi­ plin in der Tradition der Frankfurter Schule vornehmlich an der Identifikation und Kritik sozialer Pathologien ausgerichtet und damit die soziale Pathologie als Konzept in den Mittelpunkt seiner sozialphilosophischen Arbeit gestellt (vgl. Honneth 1994). Honneths Vorschlag hat dabei in der sozialphilosophischen Forschung eine breite Rezeption erfahren (vgl. ex­ emplarisch Anderson 2009; Zurn 2011; Freyenhagen 2015). Die Sozialphi­ losophie hat nach Honneth die primäre Aufgabe, innerhalb des sozialen Gefüges moderner Gesellschaften pathologische Strukturen aufzudecken, die die gesellschaftliche Kohäsion bereits auf der Systemebene stören oder reduzieren (vgl. Honneth 2007; Stahl 2011). Soziale Pathologien tre­ ten dort auf, wo die relationalen Bindungen, der soziale Zusammenhalt und die Solidaritätsbeziehungen unter den gesellschaftlichen Teilnehmern durch die spezifische Einrichtung gesellschaftlicher Institutionen, Prakti­ ken und Funktionszusammenhänge gehemmt, destabilisiert oder aufgelöst werden. Daher geht es im kritischen Aufdecken einer sozialen Pathologie nach Honneth auch um die Ebene des Allgemeinen im Unterschied zur Ebene des Besonderen bzw. Individuellen: „Das Verfehlen eines vernünftigen Allgemeinen, welches die gesell­ schaftliche Pathologie der Gegenwart ausmacht, muss kausal durch einen geschichtlichen Prozess der Verformung der Vernunft erklärt werden, der zugleich die öffentliche Dethematisierung der sozialen Missstände verstehbar macht“ (Honneth 2007, 41). Sozial pathologisch können also keine einzelnen Subjekte, sondern nur die darüber liegenden sozialen Praktiken und Normen sein, die als kollek­ tive Grammatik fungieren, in der sich Individuen vergesellschaften, d.h. subjektivieren. Pathologisch sind sie in dem Maße, in dem sie sich von sich selbst, von ihrem eigenen normativen Anspruch und ihrer gesellschaftlichen Funktion entfernt bzw. entfremdet haben. Der Begriff der Entfrem­ dung spielt hierbei eine wichtige Rolle, da er mit der Idee der sozialen Pathologie innerlich verwandt ist. Er entstammt der philosophisch-gesell­ schaftstheoretischen Tradition von Hegel und Marx. Im aktuellen Diskurs der Kritischen Theorie hat prominent Rahel Jaeggi den Entfremdungsbe­ griff aufgenommen und theoretisch erneut produktiv gemacht (vgl. Jaeggi 2019). Jaeggi gibt ihm dabei „eine formale Wendung“ (Jaeggi 2019, 20), in­ dem sie Entfremdung als eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (ebd.) be­ stimmt. Jaeggi zufolge kennzeichnet Entfremdung also nicht das einfache Fehlen einer Beziehung, sondern beschreibt den relationalen Charakter von sozialen Verhältnissen, die innerlich kontradiktorisch und problema­

86

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

tisch geworden sind, nämlich die „Störung von Aneignungsverhältnissen“ (ebd.). In diesem Sinne kann der Entfremdungsbegriff durchaus als korre­ lativer Begriff zum Konzept der sozialen Pathologie gelten, insofern die soziale Pathologie den immanenten Selbstwiderspruch sozialer Praktiken und der sie rahmenden normativen Ordnungen bezeichnet, der es den Individuen versperrt, als Gesellschaftsmitglieder, d.h. als Subjekte, an der gesellschaftlichen Praxis zu partizipieren. Im Diskurs der Kritischen Theorie nimmt das sozialkritische Konzept der sozialen Pathologie mittlerweile einen grundlegenden Stellenwert ein und hat durch zentrale Vertreterinnen und Vertreter dieser Denktradition eine breite Anwendung erfahren, bspw. bei Frederick Neuhouser (vgl. Neuhouser 2012). Nach Honneth, der den Pathologiebegriff, wie bereits ausgeführt, wirkungsvoll in die Sozialphilosophie der Frankfurter Schule eingeführt hat, markiert das Konzept der sozialen Pathologie all jene „gesellschaftlichen Entwicklungen, die zu einer nennenswerten Be­ einträchtigung der rationalen Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder führen, an maßgeblichen Formen der sozialen Kooperation teilzuneh­ men. Im Unterschied zu sozialen Ungerechtigkeiten (…) sind solche Pathologien auf einer höheren Stufe der sozialen Reproduktion wirk­ sam, auf der es um den reflexiven Zugang zu den primären Hand­ lungs- und Normensystemen geht: Immer dann, wenn einige oder alle Gesellschaftsmitglieder aufgrund von gesellschaftlichen Ursachen nicht mehr dazu in der Lage sind, die Bedeutung dieser Praktiken und Normen angemessen zu verstehen, können wir von einer ‚sozialen Pathologie‘ sprechen“ (Honneth 2011, 157). Die soziale Pathologie betrifft das Subjekt daher in dem Maße, in dem es ein soziales Wesen ist. Aus diesem Grund ist der Begriff der sozialen Pa­ thologie, wie bereits angedeutet, ein genuin sozialphilosophischer Begriff. Er sagt etwas darüber aus, auf welche Weise die sozialen Bindungen und gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen gefährdet, unterlaufen und destabilisiert werden. Dabei fokussiert er aber nicht auf die Konstitution der individuellen Psyche des Einzelnen, sondern er beleuchtet die gesell­ schaftlichen Strukturen und sozialen Praktiken, deren allgemeine Erosion und Fehlentwicklung sich in der Instabilität des besonderen, individuellen Lebens der Einzelnen reflektiert. Das Konzept der sozialen Pathologie geht, mit den Worten von Eva Illouz, von der sozialphilosophischen Er­ kenntnis aus, „dass psychische Erfahrungen – Bedürfnisse, Triebe, innere Konflikte, Begierden oder Ängste – die Dramen unseres kollektiven Lebens

87

Kapitel 1

durchspielen und wiederholen; dass unsere subjektiven Erfahrungen gesellschaftliche Strukturen widerspiegeln und in Existenz halten, ja in Wirklichkeit konkrete, verkörperte, gelebte Strukturen sind“ (Illouz 2018, 15). Die gesellschaftskritische Pointe der sozialen Pathologie besteht vor die­ sem Horizont in dem Aufweis und der Kritik an der Art und Weise, wie die Dynamiken von sozialen Handlungssystemen selbst die Teilnahme des Subjekts am sozialen Leben der Gesellschaft blockieren: „[E]s handelt sich um Rationalitätsdefizite, die darin bestehen, dass Überzeugungen oder Praktiken einer ersten Stufe von den Betroffenen auf einer zweiten Stufe nicht mehr angemessen angeeignet und verwendet werden können. Derartige Pathologien sind gewiss nicht im Sinne einer sozialen Häufung von individuellen Pathologien oder psychischen Störungen zu deuten; wer nicht dazu in der Lage ist, den rationalen Gebrauch einer bestimmten, sozial institutionalisierten Praxis zu begreifen, ist nicht etwa psychisch erkrankt, sondern hat nur aufgrund von gesellschaftlichen Einflüssen verlernt, die normati­ ve Grammatik eines intuitiv eigentlich vertrauten Handlungssystems adäquat zu praktizieren. Die Symptome, in denen sich solche sozia­ len Pathologien spiegeln, äußern sich daher auch nicht in Form von individuellen Verhaltensauffälligkeiten oder charakterlichen Deforma­ tionen; vielmehr kommen sie darin zum Ausdruck, dass die Mitglieder bestimmter Gruppen Tendenzen zur Verhaltenserstarrung, zur Rigidi­ sierung ihres Sozialverhaltens und Selbstbezuges entwickeln, die sich in schwer greifbaren Stimmungen der Niedergedrücktheit und Orien­ tierungslosigkeit offenbaren“ (Honneth 2011, 157f.). Von dieser allgemeinen Definition unterscheidet sich Menkes rechtskriti­ scher Gebrauch des Pathologiebegriffs noch einmal dadurch, dass Menke die soziale Pathologie in ihrer gesellschaftskritischen Bedeutung in ent­ scheidender Hinsicht zuspitzt. Menke zufolge muss das kritische Potenzial des Begriffs der sozialen Pathologie in Bezug auf die spezifische Praxis des Rechts nämlich radikaler gefasst werden. In der bisherigen Tradition der Kritischen Theorie richtete sich die kritische Kraft der sozialen Pathologie, wie ausgeführt, auf bestimmte Dimensionen, Bereiche oder Tendenzen normativer Ordnungen und Handlungssysteme. Menke hingegen bezeich­ net das bürgerliche Recht als Ganzes, nicht nur in einzelnen normativen Teilausschnitten, als pathologisch. „Die Pathologie des Rechts liegt daher nicht – das heißt: nicht bloß oder vor allem – auf der Ebene individueller

88

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

‚Verhaltenssymptome‘. Sie besteht in nicht weniger als darin, die bürgerli­ che Gesellschaft hervorzubringen“ (Menke 2015, 259). Nach Menke ist das bürgerliche Recht also eine soziale Pathologie, und zwar dadurch, dass es die bürgerliche Gesellschaft hervorbringt, sowie durch die spezifische Art und Weise, wie es das tut. Diese begriffliche Radikalisierung impliziert, dass das Recht als solches den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft die freie und gleiche Teilnahme an der gesell­ schaftlichen Praxis versperrt und dadurch normativ selbstwidersprüchlich wird. Im Zentrum von Menkes Argumentation steht dabei, wie bereits in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich herausgearbeitet wurde, die Diskrepanz zwischen der normativen Form der Rechte und ihres sozialen Inhalts in Gestalt von nichtnormativen, d.h. herrschaftsförmigen Prakti­ ken im Raum der bürgerlichen Gesellschaft. Die Grundthese von Menkes Kritischer Theorie des Rechts lautet daher, dass das Recht aufgrund seiner spezifischen normativen Praxis gesellschaftliche Formen von Herrschaft hervorbringt, die seiner Normativität widersprechen und das bürgerliche Recht dadurch in seine Krise stürzen. Mit anderen Worten: Das bürgerli­ che Recht ist wesentlich krisenhaft, weil seine Normativität in ihrer sozia­ len Produktivität pathologisch ist. Menke trifft auf der terminologischen Ebene keine trennscharfe Unter­ scheidung zwischen dem Recht als normativer Ordnung einerseits und der sozialen Praxis des Rechts andererseits. Gleichwohl lässt sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit zwischen den Begrifflichkeiten differenzieren: Unter einer normativen Ordnung verstehe ich die allgemeine Struktur oder Heuristik, welche die Einrichtung und Ausgestaltung konkreter so­ zialer Praktiken im gesellschaftlichen Raum normativ anleitet und als Herrschaftszusammenhang rahmt, während eine soziale Praxis ein in den dynamischen Reproduktions- und Kommunikationsprozessen einer Gesellschaft institutionalisiertes Handlungsregime ist, welches die Mate­ rialität des sozialen Lebens der Gesellschaft in Orientierung an den Rah­ menbedingungen normativer Ordnungsstrukturen reguliert und dadurch die zwischenmenschlichen Interaktionen von Individuen und Gruppen normiert und normalisiert. Normative Ordnungssysteme fungieren gewis­ sermaßen als kulturelle und epistemische Grundraster gesellschaftlicher Verhältnisse, die den jeweils besonderen kollektiven Handlungsformen und sozialen Praktiken innerhalb einer Gesellschaft als normative Matrix und sozialontologischer Herrschaftsrahmen zugrunde liegen und somit de­ ren praktischen Vollzug beeinflussen und die Art und Weise ihrer sozialen Verwirklichung (mit-)bestimmen. Das bedeutet, dass die Pathologie einer sozialen Praxis die sie rahmende normative Ordnung stets mitbetrifft.

89

Kapitel 1

Wird eine soziale Praxis also in ihrem pathologischen Charakter identi­ fiziert und unter diesem Aspekt sozialkritisch beleuchtet, so zieht das auto­ matisch auch die Kritik der darüber liegenden normativen Ordnungsstruk­ tur nach sich. Durch die Pathologie einer sozialen Praxis schaut die so­ zialphilosophische Analyse gewissermaßen auf die Selbstwidersprüchlich­ keiten und Aporien der übergeordneten normativen Ordnung hindurch, welche die pathologische Verzerrung und Fehlentwicklung der sozialen Praxis bedingen und somit zur Beeinträchtigung der sozialen Rationalität bzw. reflexiven Kohäsion der Gesellschaft als solcher führen. Natürlich bleibt dabei die konzeptuelle Trennung zwischen normativer Ordnung und sozialer Praxis als Bedingung der Möglichkeit ihrer doppelten, also in beiden Fällen je eigenständigen Kritik von entscheidender Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kann auch das theoretische Sprachspiel von Menkes Kritischer Theorie des Rechts noch einmal deutlicher konturiert werden: Im Zentrum von Menkes Rechtskritik steht die dialektische Dy­ namik, die sich im Verhältnis des Rechts als normativer Ordnung zur sozia­ len Praxis entfaltet, die das Recht im konkreten Bereich der Gesellschaft durch die praktische Wirksamkeit seiner Normativität hervorbringt. Hier­ in besteht die grundlegende konzeptuelle Unterscheidung im Rahmen von Menkes Ansatz: Die Differenz zwischen der normativen Ordnung, die das Recht verkörpert, und der sozialen Praxis, die das Recht im Sozialen erzeugt, indem es als Form der Normativität, als Ordnungssystem rechtlicher Normen die soziale Praxis, oder besser: die sozialen Praktiken innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft evoziert und regiert. Unterschieden wird also zwischen der normativen Ordnung, die das Recht ist, und der sozialen Praxis, die das Recht nicht ist bzw. die nicht zum internen Bereich des Rechts gehört und die dementsprechend nichtrechtlich verfasst ist. Menke gewinnt dabei die Grundthese seiner Kritischen Theorie des bürgerlichen Rechts, wie bereits ausgeführt, indem er die paradoxe Logik herausarbeitet, die das Recht als solches kennzeichnet. Die Idee des Rechts impliziert begrifflich ein Paradox, durch das sich das Recht selbst konstitu­ iert. Dieses rechtskonstitutive Paradox besteht darin, dass das Recht gleich­ zeitig eine Form der Normativität und – darin – unvermeidlich eine nicht­ normative Gewalt ist. Diese inhärente Gewalt kann das Recht selbst nicht wiederum normativ rechtfertigen. Die Pathologie des bürgerlichen Rechts folgt für Menke jedoch nicht direkt und unmittelbar aus dieser paradoxen Grundstruktur des Rechts, sondern daraus, wie das moderne Recht auf dieses Paradox reagiert. In Menkes Rechtskritik geht es ausgehend von der Bestimmung des Begriffs des Rechts als Paradox um die Aporie, die aus der spezifischen Antwort des modernen Rechts auf dieses begriffliche Paradox

90

1.2 Menkes Kritik der Normativität des bürgerlichen Rechts

folgt bzw. mit ihr einhergeht. Diese moderne Antwort ist die Etablierung subjektiver Rechte. Nur unter den Bedingungen subjektiver Rechte entste­ hen aus der rechtlichen Normativität soziale Herrschaftsverhältnisse, die das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft nichtnormativen, d.h. der recht­ lichen Normativität entgegengesetzten Zwängen unterwerfen. Menke geht also methodisch davon aus, dass das Recht als normative Ordnung nur dadurch gesellschaftlich wirksam werden kann, dass es sich in einer sozialen Praxis ausdrückt, nämlich indem es sich in der normativen Praxis subjektiver Rechte gesellschaftlich zur Geltung bringt. Damit unter­ scheidet Menke innerhalb des Rechtsbegriffs implizit zwischen dem Recht als normativer Ordnung und dem Recht als sozialer Praxis, d.h. zwischen seinen Dimensionen als normative Matrix für eine Sozialstruktur und als praktische Handlungsform in einer Sozialstruktur. Nur unter der Bedin­ gung, dass man das Recht zunächst unter dem Aspekt seines Praxischarak­ ters untersucht und damit nach den internen, also begrifflichen Widersprü­ chen und Paradoxien des Rechts als sozialer Handlungsform fragt, ist es möglich, den dialektischen Charakter des Rechts als normativer Ordnung in Gestalt seiner externen, also gesellschaftlichen Folgen herauszustellen. Erst nachdem man die interne Widersprüchlichkeit in der Immanenz des rechtlichen Handlungsregimes, also der sozialen Praxis des Rechts selbst nach­ vollzogen hat – nämlich die aporetische Praxis der subjektiven Rechte –, versteht man, wie es zur externen Dialektik im Verhältnis der normativen Ordnung des Rechts zu den sozialen Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft kommen kann. In dieser externen Dimension kommt der spezifisch gesellschaftskritische Aspekt zum Ausdruck, der für Menkes Kritische Theorie des bürgerlichen Rechts von entscheidender Bedeutung ist. Im Folgenden soll nun auf der Basis des ideologischen und pathologischen Charakters des modernen Rechts, wie er bis hierhin erarbeitet und problematisiert worden ist, die Praxis der subjektiven Rechte in ihren aporetischen Strukturen und ge­ sellschaftlichen Herrschaftseffekten in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt und kritisch diskutiert werden. Was bisher also eher in abstraktbegrifflicher Hinsicht beleuchtet wurde, nämlich die Dialektik zwischen der Normativität des bürgerlichen Rechts und den sozialen Herrschaftsformen der bürgerlichen Gesellschaft, soll nun in der spezifischen Figur und normativen Praxis der subjektiven Rechte und ihren jeweiligen rechtsprak­ tischen Ausfaltungen weiter konkretisiert werden.

91

Kapitel 2

2.1 Die beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts: Privatrecht und Sozialrecht Menke demonstriert in seiner kritischen Rechtstheorie, inwieweit die dia­ lektische Wechselbeziehung zwischen Beherrschung und Berechtigung zur begrifflichen Logik des bürgerlichen Rechts gehört: Träger von subjektiven Rechten zu sein schließt die gleichzeitige Unterwerfung des Rechtssubjekts unter gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen ein, welche in ihrer sozialen, also nichtrechtlichen Form erst unter der Bedingung des bürgerlichen Rechts entstehen. Da das Recht diese dialektische Dynamik begrifflich impliziert, kann es sie aus eigener Kraft nicht überwinden, sie haftet dem Recht als dessen permanente Pathologie an. „Die ‚Pathologie‘ der Rechte ist ihr normaler Zustand. Es gibt keine Rechte jenseits ihrer Pa­ thologie“ (Menke 2018b, 104). Diese Kritik richtet sich auf die ‚soziale Logik‘ des Rechts. Nach Marx besteht die ‚soziale Logik‘ des Rechts darin, dass das bürgerliche Recht durch seine normativen Operationen notwendig soziale Formen der Herrschaft konstituiert, die im Widerspruch zu dessen normativem Selbstverständnis stehen. Hierin besteht der ideologische Me­ chanismus des bürgerlichen Rechts: Immer wenn das Recht ein Subjekt normativ berechtigt, geht diese rechtliche Ermächtigung zugleich mit der sozialen Unterwerfung des Subjekts unter die Herrschaftsapparate der bür­ gerlichen Gesellschaft einher. Diese rechtliche Dialektik liegt laut Menke, der hierin dem frühen Marx folgt, in der Praxis der subjektiven Rechte begründet; in ihrer Form als Legalisierung des subjektiven Eigenwillens stellen sie Menke zufolge das Strukturmoment der dialektischen Dynamik des modernen Rechts dar. Wie aber geht dieser dialektische Umschlag praktisch vonstatten? In wel­ chen konkreten Phänomenen schlägt sich die Pathologie des Rechts nieder und wo lässt sich die gesellschaftliche Unterwerfung als rechtlich produ­ zierte beobachten? Menke verortet die bis hierher abstrakt rekonstruierte Dialektik des Rechts in zwei konkreten, historisch spezifischen Rechtskon­ zepten, nämlich erstens im Privatrecht und zweitens im Sozialrecht. Diese beiden Konzepte grenzt Menke in einer Marxschen Tradition rechtstheo­ retisch voneinander ab: Während es im Privatrecht um liberale Freiheits­ rechte in der klassischen Tradition etwa von Humboldt, Constant oder

92

2.1 Die beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts: Privatrecht und Sozialrecht

Mill geht, in deren Zentrum in erster Linie der Schutz der Privatheit und des Privateigentums des Einzelnen steht, versteht Menke unter Sozialrecht hauptsächlich die im Zuge der Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhun­ derts von der Arbeiterbewegung erkämpfen sozialistischen Grundrechte, in denen es um die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe in Form von Rechten u.a. auf Bildung, Arbeit oder Kranken- und Sozialversicherung geht. In den folgenden Überlegungen soll der Unterschied dieser Konzepte näher beleuchtet werden. Erst diese historischen Kontextualisierungen verleihen Menkes Analyse der ‚sozialen Logik‘ des Rechts ihre rechtskritische Sprengkraft. Wie an früherer Stelle bereits kurz angedeutet wurde, bricht Menke am Übergang zu seiner Problematisierung des Sozialrechts mit der Marxschen Darstel­ lung und erweitert diese, indem er die von Marx beschriebene ‚soziale Logik‘ des Privatrechts gegen dessen eigenen theoretischen Ansatz auch im Kontext des Sozialrechts untersucht. Menkes rechtskritische Grundthe­ se bleibt also in ihrer inneren Struktur marxistisch, aber sie beschränkt sich entgegen Marx‘ eigener Deutung nicht allein auf die Praxis des Privat­ rechts, sondern wird darüber hinaus, gegen Marx und mit Foucault, auf den Bereich des Sozialrechts ausgedehnt. Menkes Diagnose zufolge hat Marx seine Rechtskritik nur in verkürzter oder halbierter Form durchgeführt: „Das bürgerliche Privatrecht ist die einzige Gestalt, für die Marx seine These von der herrschaftskonstitutiven Logik des Rechts in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hat“ (Men­ ke 2015, 281). Nach Menke hat Marx damit systematisch verkannt, dass auch das Sozialrecht ein eigenständiges, vom Privatrecht unterschiedenes Rechtskonzept des bürgerlichen Rechtsdenkens darstellt. Das Sozialrecht ist in seiner Selbstständigkeit eine weitere Grundform des bürgerlichen Rechts, weil seine Normativität ebenfalls eine konstitutive Rolle für die Herrschaftsformen in der bürgerlichen Gesellschaft spielt. Beide Rechts­ konzeptionen, sowohl Privat- als auch Sozialrecht, folgen laut Menke der von Marx beschriebenen ‚sozialen Logik‘ des Rechts, beide sind funda­ mental an der Konstitution von gewaltförmigen Herrschaftsbeziehungen innerhalb der Gesellschaft beteiligt. Was Menke vor diesem Hintergrund leisten muss, besteht deshalb darin zu zeigen, mit welchem sozialen In­ halt beide Rechtskonzepte jeweils einhergehen, d.h. in welche sozialen Herrschaftsfiguren sie ihre Normativität umkehren. Er muss also erstens demonstrieren, inwieweit sich die bürgerlichen Herrschaftsdynamiken nur durch oder als die ‚andre Form‘ der Rechte, entweder der privaten oder der sozialen Rechte, vollziehen und verwirklichen können. Und er muss die Herrschaftsbeziehungen darin zweitens konkret benennen, er muss

93

Kapitel 2

sie im Hinblick auf ihren jeweiligen Zusammenhang entweder mit dem Privatrecht oder mit dem Sozialrecht spezifizieren. In den folgenden Kapiteln soll Menkes Untersuchung der ‚sozialen Logik‘ des bürgerlichen Rechts im Hinblick auf beide Rechtsgestalten nachgezeichnet werden. Beide Konzepte versteht Menke dabei als jeweils autonome Ausprägung derselben bürgerlichen Rechtsform, denn Privatwie Sozialrecht rekurrieren in ihren normativen Operationen auf dieselbe Grundlage, nämlich auf den Eigenwillen des Subjekts, der durch die sub­ jektiven Rechte autorisiert wird. Das bürgerliche Privatrecht ist genauso wie das Sozialrecht eine Gestalt der subjektiven Rechte, denn beide funk­ tionieren auf demselben normativen Fundament, „im Namen desselben Prinzips: des subjektiven Eigenwillens“ (Menke 2015, 247). Beide Konzep­ tionen sind die beiden Seiten desselben Rechtsgedankens, weil sie „die­ selbe Voraussetzung machen: Die Voraussetzung des Eigenwillens. Diese Voraussetzung ist das Definiens des bürgerlichen Rechts. Bürgerliches Recht ist das Recht, das den Eigenwillen des Subjekts voraussetzt“ (Menke 2015, 249). In beiden Konzeptionen kommt also die bereits erläuterte Voraussetzungs­ logik des Rechts zum Ausdruck, die der Grundstruktur der subjektiven Rechte zugrunde liegt. Hierin geht Menke also über Marx hinaus: Er begreift auch die sozialrechtliche Konzeption des bürgerlichen Rechts als genuinen Ort für die Kritik der subjektiven Rechte. Nach Menke besteht die Grundstruktur bzw. Performanz der subjekti­ ven Rechte in der Legalisierung des Natürlichen.30 „Diese Performanz nimmt eine doppelte Gestalt an: Ermöglichung und Erlaubnis. Sie bestim­ men die Regierungsweise des modernen Rechts; in der Regierung des modernen Rechts geht es darum, zu ermöglichen und zu erlauben“ (Men­ ke 2015, 89). Die grundsätzliche Struktur des bürgerlichen Rechts, also die Legalisierung des Natürlichen in der Form der subjektiven Rechte, spaltet sich demnach in zwei Elemente auf, nämlich in ein ermöglichendes und ein erlaubendes. Menke ordnet diese beiden Elemente jeweils den beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts zu: Das Privatrecht erlaubt bspw. bestimmte Handlungen und Willensäußerungen, während das Sozi­ alrecht sie ermöglicht, indem es die gesellschaftspolitischen Voraussetzun­ 30 Vgl. dazu: „Die Performanz der modernen Form der Rechte ist die Legalisierung des Natürlichen. Deshalb – nicht weil sie von Natur aus, also ‚vor dem Gesetz‘ (Spinoza), Gültigkeit besäßen – heißen sie ‚natürliche‘ Rechte. Ihre Leistung besteht darin, das vorrechtlich Bestehende, das natürliche Handeln und Wollen, zu sichern; in der modernen Form der Rechte geht es um die Sicherung des Na­ türlichen. Das leisten sie in einer irreduzibel doppelten Gestalt: als Ermöglichung und als Erlaubnis“ (Menke 2015, 91).

94

2.1 Die beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts: Privatrecht und Sozialrecht

gen dieser Handlungen und Willensäußerungen garantiert. Dass sich die Legalisierung des Natürlichen in ein ermöglichendes und ein erlaubendes Element ausdifferenziert, liegt dabei darin begründet, dass der Eigenwille, um den es in der Legalisierung des Natürlichen geht, sich aus zwei wesent­ lichen Bestandteilen zusammensetzt: „den Willen als Wählen von individuellen Zielen und den Willen als Werten von sozial gegebenen Möglichkeiten. Daher hat auch die rechtliche Ermächtigung des Eigenwillens zwei Gestalten: das Recht auf die eigene, private Sphäre freier Wahl und auf private Vermögen durch soziale Teilhabe“ (Menke 2015, 267). Das bedeutet, im schematischen Vokabular Menkes gesprochen, dass es im Privatrecht um die Erlaubnis der Willkür und im Sozialrecht um die Ermög­ lichung von Interessen geht. Private Rechte beziehen sich auf die rechtliche Absicherung der privaten Wahlfreiheit der Einzelperson, also der indivi­ duellen Privatsphäre, während im Hintergrund sozialer Rechte die Frage steht, zu welchen sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Institutionen das Individuum öffentlichen Zugang erhalten muss, um überhaupt eigene Interessen zu entwickeln und dadurch seine private Freiheit verwirklichen zu können. Denn um private Interessen verfolgen zu können, muss der Einzelne bereits Zugriff auf kollektive Gesellschaftsstrukturen haben, d.h. er muss die Möglichkeit haben, als Teil der relationalen Beziehungen des Sozialen an gesellschaftlichen Prozessen zu partizipieren. Diese Möglich­ keit wird nach Menkes Darstellung durch sozialrechtliche Bestimmungen gewährleistet. Menke ordnet mit dieser Doppelbestimmung des Eigenwillens und der korrespondierenden Dualität des bürgerlichen Rechts seine rechtskri­ tische Analyse in den Kontext zweier grundsätzlicher rechtstheoretischer Strömungen des 19. Jahrhunderts ein und bezieht dabei gleichzeitig Stel­ lung, indem er beide Traditionen im Hinblick auf die Figur der subjek­ tiven Rechte bündelt (s.u.). Es handelt sich dabei zum einen um die Willenstheorie und zum anderen um die Interessentheorie, die in einem grundsätzlichen Konflikt über die Begründung der Rechte stehen. Menke zufolge teilen beide Traditionen, obwohl sie gegensätzliche Auffassungen in Bezug auf den Zweck der Rechte haben, ein grundlegendes Charakteris­ tikum, nämlich dass sie von der normativen Geltung des individuellen Eigenwillens als vorrechtlich bestehender, natürlich gegebener Tatsache ausgehen und diese gemeinsame Voraussetzung nur jeweils unterschied­ lich akzentuieren.

95

Kapitel 2

Dass das bürgerliche Recht den Eigenwillen doppelt zur Geltung bringt, nämlich entweder in der privatrechtlich geschützten Willkür oder in sozi­ alrechtlich geschützten Interessen, bedeutet jedoch zugleich, dass es ihn immer nur einseitig und defizitär ausdrücken kann und ihn dadurch stets in seiner Komplexität verfehlt: „In der Form subjektiver Rechte kann das Subjekt seinen Eigenwillen immer nur so geltend machen, dass er ihm in einer seiner beiden grundlegenden Gestalten – als Willkür oder Interesse, als Recht auf eine private Sphäre der beliebigen Zielverwirklichung oder als Recht auf ein privates Vermögen durch soziale Teilhabe – Geltung verschafft und damit dessen andere Gestalt verkürzt und verletzt. Deshalb bedarf es eines unablässigen, sich endlos wiederholenden und steigernden Regierungshandelns zur Sicherung der einen gegen die andere Gestalt des Eigenwillens. Die rechtliche Ermächtigung kann immer nur eine Gestalt des Eigenwillens auf Kosten seiner anderen sichern. Sie kann aber nicht die Einheit seines Willens verwirklichen“ (Menke 2015, 250). Obwohl sie von der gleichen normativen Grundlage ausgehen – nämlich von der Legalisierung des Natürlichen – und darin die Doppelstruktur in der Einheit des bürgerlichen Rechtsgedankens bilden, sind Privatrecht und Sozialrecht also dennoch innerlich gegensätzlich strukturiert: „Einerseits gilt, dass die Ermöglichung von Interessen und die Erlaub­ nis der Willkür zwei Aspekte der Legalisierung des Natürlichen in der modernen Form der Rechte sind, denn jedes Recht ist stets beides zugleich. Auf der anderen Seite aber gilt, dass die Performanz der modernen Form der Rechte nicht jeweils gleichermaßen ermöglichend und erlaubend sein kann. Denn Ermöglichung und Erlaubnis sind einander strukturell entgegengesetzte Weisen der Legalisierung des Natürlichen“ (Menke 2015, 95). Zwar bringen beide Rechtsformen den subjektiven Eigenwillen zur Gel­ tung, aber sie verstehen ihn von unterschiedlichen Positionen her und akzentuieren ihn dementsprechend auf je eigene Weise: „Beiden Gestalten des Rechts liegen entgegengesetzte Konzeptionen der bürgerlichen Grundidee gleicher rechtlicher Freiheit zugrunde: als Gleichheit der (Privat-)Eigentümer im freien Gebrauchen von und Verfügen über Eigentum und als Gleichheit der (Sozial-)Teilnehmer im freien Bilden und Ausüben ihrer Fähigkeiten“ (Menke 2013, 282).

96

2.1 Die beiden Grundformen des bürgerlichen Rechts: Privatrecht und Sozialrecht

In beiden Fällen, sowohl im Fall des Privat- als auch im Fall des Sozial­ rechts, liegt der rechtlichen Normativität die unhintergehbare Geltung des Eigenwillens zugrunde. Im Dispositiv des Eigenwillens kristallisiert sich in diesem Zusammen­ hang das bürgerliche Verständnis des Eigentums heraus. Das Eigentum ist im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft dabei nicht nur deshalb ent­ scheidend, weil die kapitalistische Ökonomie um Eigentumsverhältnisse herum aufgebaut ist, sondern weil die normative Ordnung der bürgerli­ chen Gesellschaft selbst wesentlich eigentumsförmig verfasst ist. Denn dass etwas der Eigenwille des Subjekts ist, heißt im Kern einfach nur, dass es sich um das Eigene des Subjekts handelt. „Deshalb ist die Ausübung meines Rechts, das, was ich mit meinem Eigenen tue, auch meine eigene Sache“ (Menke 2018b, 104f.). Dass das bürgerliche Recht sich in zwei Grundformen oder Performan­ zen aufspaltet, bringt vor diesem Hintergrund also nichts anderes zur Gel­ tung als dass das Eigene des Subjekts in zwei Dimensionen oder Bereichen lokalisiert ist: Das Subjekt hat eigene Interessen, die es eigenmächtig, d.h. willkürlich wählt. Die Tatsache, dass der Eigenwille einerseits die Gestalt der Willkür und andererseits die Gestalt des Interesses annimmt, macht „den doppelten Eigentumsbegriff des bürgerlichen Rechts – als Sphäre beliebiger Entscheidungen und als Vermögen sozialer Teilhabe“ (Menke 2015, 283) erforderlich. Dieser doppelte Eigentumsbegriff spiegelt sich in der oben bereits erwähnten theoretischen Aufspaltung der modernen Rechtstheorie in zwei unterschiedliche Ansätze, in denen jeweils eine der beiden von Menke identifizierten Dimensionen des Eigenwillens ins Zen­ trum gerückt wird: „Die moderne Theorie der Rechte hat im 19. Jahrhundert zwei Grund­ konzeptionen ausgebildet, deren Gegensatz bis weit ins 20. Jahrhun­ dert die Diskussion bestimmt: die Interessen- und die Willens- oder Willkürtheorie. Diese beiden Theorien formulieren einseitig jeweils eine der beiden Performanzen der modernen Form der Rechte und blenden die andere aus. Die Interessentheorie besagt, dass alle Rechte ihren Sinn darin haben, die gleiche Verwirklichung des natürlichen Strebens zu gewährleisten. Die Grundtypen dieses Strebens, deren Ver­ wirklichung durch Rechte zu sichern ist, sind die Interessen. Demge­ genüber hebt die Willenstheorie hervor, dass alle Rechte ihren Sinn darin haben, Bereiche der beliebigen Ausrichtung des natürlichen Strebens zu sichern. In diesen Bereichen rechtlicher Nichtregulierung herrscht die Willkür“ (Menke 2015, 91f.).

97

Kapitel 2

Beide Male geht es darum, dem Eigentum des Subjekts in Gestalt der Le­ galisierung seines Eigenwillens einen rechtlichen Ausdruck zu verleihen. Dieser rechtliche Ausdruck bleibt jedoch nach Menkes Diagnose, wie das vorhergehende Zitat zeigt, stets einseitig, er oszilliert zwischen den beiden Polaritäten der privatrechtlichen Erlaubnis der Willkür und der sozialrechtlichen Ermöglichung von Interessen. „Aufgrund der Form der Rechte entfaltet sich die Einheit des modernen Rechts nur im Gegeneinan­ der sich ausschließender Leistungen“ (Menke 2015, 97). Diese rechtlichen Dynamiken und Widersprüche sollen im Verlauf der folgenden Kapitel nun im Detail untersucht werden, indem beide Rechtskonzeptionen – zunächst das Privatrecht und danach das Sozialrecht – näher diskutiert werden. 2.2 Menkes Kritik des Privatrechts 2.2.1 Das Privatrecht als Bedingung kapitalistischer Ausbeutung und Klassenherrschaft Das erste Rechtskonzept, für das Menke die ‚soziale Logik‘ des Rechts, also die Herrschaftsfunktionalität der rechtlichen Normativität in Bezug auf die bürgerlichen Gesellschaftsstrukturen herausstellt, ist das bürgerliche Privatrecht. Wie gesehen, geht Menke hier von der kritischen Annahme aus, dass Marx‘ Rechtskritik sich exklusiv und daher reduktionistisch auf das Privatrecht bezieht, weil die Sphäre des Privatrechts „für Marx die einzige funktional notwendige Rechtsgestalt der bürgerlichen Gesellschaft“ (Menke 2013, 276) ist. Nach Menke bringt das Privatrecht durch seine nor­ mative Formbestimmung die kapitalistische Herrschaftsform der Ausbeu­ tung der einen sozialen Klasse durch die andere hervor. Die ökonomische Ausbeutung ist die erste der beiden fundamentalen Gestalten bürgerlicher Herrschaft; sie ist der soziale Inhalt des Privatrechts und kann dementspre­ chend als Herrschaftsfigur der bürgerlichen Gesellschaft nicht unabhängig von der egalitären Normativität verstanden werden, die das Privatrecht als Grundform des bürgerlichen Rechts verkörpert. Menke bestimmt das Privatrecht dabei im Ausgang von Marx als die ‚andre Form‘ der sozioökonomischen Klassenherrschaft im Kapitalismus. Um diese rechtskritische These mit den hermeneutischen Mitteln der Marxschen Idee einer ‚sozialen Logik‘ des Rechts zu untermauern, muss Menke zunächst zeigen, dass die Normativität des Privatrechts tatsächlich egalitär verfasst ist. Sodann muss er nachweisen, dass durch den konkreten

98

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

Vollzug dieser egalitären Normativität im sozialen Bereich der bürgerli­ chen Gesellschaft asymmetrische und gewaltförmige Herrschaftsbeziehungen in Form von Ausbeutungsverhältnissen entstehen. Dies tut Menke sowohl im Anschluss an Marx‘ Rechtskritik als auch an Max Webers Rechtssoziologie. Im Privatrecht geht es entsprechend der egalitären Normativität des bür­ gerlichen Rechtsdenkens „um das gleiche Recht der Person auf die freie Verfügung über Sachen im Gebrauch (Eigentum), dem das gleiche Recht auf den freien Tausch dieser Sachen mit anderen Personen entspricht (Vertrag)“ (Menke 2015, 273).31 Im Rahmen der Logik des vertragsförmi­ gen Tausches eines Gegenstandes zwischen gleichen Freien, d.h. gleich freien (Rechts-)Subjekten, so Marx‘ bekannte Argumentation im Kapital, abstrahieren die Tauschenden im Tauschakt vom tatsächlichen Gebrauchs­ wert des getauschten Gegenstandes und verengen auf diese Weise dessen soziale Bedeutung auf den abstrakten Tauschwert: „Erst innerhalb ihres Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschied­ nen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wert­ gegenständlichkeit“ (Marx 1962, 87). Das Medium, durch das in kapitalisti­ schen Gesellschaften getauscht wird, ist die soziale Institution des Geldes. Im geldvermittelten Tausch, d.h. im Kauf und Verkauf von Dingen, neh­ men die getauschten Gegenstände Warencharakter an, der Gegenstand wird zur Ware, die nach Marx‘ berühmter Formulierung in ihrem Fetisch­ charakter „voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ (Marx 1962, 85) ist. Gleichzeitig verwirklicht sich das Privatrecht nach Menke in diesem gelvermittelten Tauschakt als normative Ordnung gleicher Freiheit auf der praktischen Ebene der bürgerlichen Gesellschaft, denn im Tauschakt erfah­ ren sich die Tauschenden als gleichgestellte Vertragsparteien innerhalb ein und desselben Tauschzusammenhangs. Nach Marx‘ Diagnose „[werden] Gebrauchsgegenstände überhaupt nur Waren, weil sie Produkte vonein­

31 Zur Einheit der beiden privatrechtlichen Institutionen des Eigentums und des Vertrags vermerkt Foucault: „Der Vertrag ist, im politischen Denken des 18. Jahrhunderts, die juristische Form, mittels deren die Besitzenden sich aneinander binden. Er ist die juristische Form, die das Eigentum eines jeden garantiert. Er ist das, was dem Tausch eine juristische Form gibt. Schließlich ist er das, wodurch die Individuen ausgehend von ihrem Eigentum Allianzen schmieden. Anders gesagt, ist er die Bindung der Individuen an ihr Eigentum oder die Bindung der Individuen aneinander über ihr Eigentum“ (Foucault 2015, 323f.). Die Idee des bürgerlichen Eigentums tritt hier als zugrundliegende Matrix sowohl des Vertragsrechts als auch des Rechts auf Eigentum hervor.

99

Kapitel 2

ander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind“ (Marx 1962, 87). Die gesellschaftliche Vermittlung dieser voneinander getrennten Privatarbeiten wird auf der normativ-rechtlichen Ebene durch das Privatrecht geregelt. Indem es die Tauschenden als ebenbürtige privatrechtliche Akteure, d.h. als gleiche Vertragspartner konstituiert, reguliert das Privatrecht den ge­ sellschaftlichen Güteraustausch bzw. die geldvermittelte Warenzirkulation als eine sozioökonomische Praxis unter formal gleichgestellten Individuen. Diese formale Gleichheit der Tauschenden existiert allerdings, so Marx‘ Kritik, auf die im Folgenden einzugehen ist, nur unter der Bedingung „einer Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit“ (ebd.) an Eigen­ tum, sozialer Stellung und ökonomischer Macht. Die kapitalistische Praxis des Warentausches wird nämlich dadurch zur ‚sozialen Logik‘ des Rechts, dass sie der egalitären Normativität des Pri­ vatrechts faktisch entspricht (weil sie tatsächlich, also faktisch, auf der ega­ litären Struktur des Privatrechts beruht) und gleichzeitig normativ wider­ spricht (weil sie wesentlich inegalitär verfasst ist und soziale Ungleichheit erzeugt). Dies wird in dem Moment deutlich, in dem die Arbeitskraft des Arbeiters auf einem Arbeitsmarkt zum Kauf angeboten wird und dadurch Warencharakter annimmt. Der Warencharakter der Arbeitskraft, also der geldvermittelte „Kauf und Verkauf der Arbeitskraft als Ware“, bildet Marx zufolge die „strukturbildende[n] Grundoperation des Kapitalismus“ (Men­ ke 2015, 274). Durch den Kauf der Arbeitskraft als Ware erwirbt demnach der Käufer, in kapitalistischen Gesellschaften also der Kapitalist, das Recht zu deren freiem Gebrauch. Aus der rein formalistischen Perspektive des Privatrechts ist dieser Tauschakt zwischen Kapitalist und Arbeiter ein Tauschakt wie jeder andere, weil hier schlicht und ergreifend eine Ware gegen Geld getauscht wird; aus Sicht des Rechts also ein gewöhnliches Vorgehen, das ganz im Einklang mit den normativ-egalitären Standards des Warentausches zwischen gleichen Tauschpartnern steht. Die Arbeitskraft ist jedoch keine Ware wie jede andere, und zwar des­ wegen, weil ihr Gebrauch etwas anderes und mehr impliziert als der Gebrauch anderer Waren: „Der Gebrauch der Ware Arbeitskraft ist je­ doch qualitativ anders als der anderer Waren“ (Menke 2015, 274). Das Gebrauchsrecht an der Ware Arbeitskraft ist „das Recht des einen an der Ausübung der Arbeitskraft des anderen“ (Menke 2015, 274). Da der Arbeiter derjenige ist, der seine Arbeitskraft sowohl verkauft als auch ausübt, hat der Kapitalist mit dem privatrechtlichen Erwerb von dessen Arbeitskraft die Macht über den Gebrauch dieser Ware. Das bedeutet aber in der sozialen Praxis, dass der Kapitalist gesellschaftliche Macht über den Arbeiter selbst erhält, indem er über den Arbeiter und dessen Gebrauch

100

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

seiner Arbeitskraft bestimmt, d.h. ihn seiner freien Entscheidung darüber enteignet, wann, wie und wozu er seine Arbeitskraft benutzt und einsetzt. Mit Menke: „Der Erwerb der Ware Arbeitskraft bedeutet ein Recht auf Herr­ schaft über den Arbeiter“ (Menke 2015, 275). Die formal egalitäre Form des Vertrags ermöglicht also die ungleiche und asymmetrische Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. „Herrschaft durch Verträge wird ausgeübt zwischen einzelnen, die recht­ lich einander gleichgeordnet sind; ihre rechtliche Gleichheit ist das Medium, durch das sich ihre Ungleichheit an Besitz und damit an Marktmacht in die Herrschaft der einen über die anderen übersetzt. Herrschaft durch Verträge ist Herrschaft-zwischen – intersegmentäre Herrschaft“ (Menke 2015, 289f.). Dieses ausbeuterische Herrschaftsverhältnis spielt sich „zwischen den so­ zialen Teilen oder Gliedern“ (Menke 2015, 290), also zwischen den ver­ schiedenen Klassen innerhalb des Ganzen der bürgerlichen Gesellschaft ab, und zwar „durch die freie Ausübung der gleichen Rechte auf beiden Seiten: der Herrschenden wie der Beherrschten“ (Menke 2015, 291). Die­ sen Prozess hat Marx schon in den Pariser Manuskripten als Entäußerung und, prominenter noch, als Entfremdung beschrieben (vgl. Marx 1968). Marx zufolge führt der Kapitalismus zur Entfremdung des Arbeiters von der Tätigkeit seiner Arbeit und zur Fremdbestimmung des Gebrauchs seiner Arbeit durch den Kapitalisten: „Also durch die entfremdete, entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Men­ schen zu dieser Arbeit. Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhältnis des Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn nennen will. Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äu­ ßerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst. Das Privateigentum ergibt sich also durch Analyse aus dem Begriff der entäußerten Arbeit, d.i. des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen“ (Marx 1968, 520). Das Verhältnis der Entfremdung betrifft nach Marx‘ kritischer Analyse zudem auch die Beziehung zwischen dem Arbeiter und dem Produkt seiner Arbeit, die Marx als Entwirklichung, Verlust und schließlich als Entfremdung des Arbeiters von sich selbst rekonstruiert.

101

Kapitel 2

„Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegen­ ständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Verge­ genständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als Entfremdung, als Entäußerung“ (Marx 1968, 512). Dieser Entfremdungsprozess ist deshalb eine Form der ‚sozialen Logik‘ des Rechts, weil die Voraussetzung für die Entstehung dieser ausbeuterischen bzw. entfremdenden Herrschaftsbeziehung in der egalitären Normativität des privatrechtlichen Tausches zwischen gleichgestellten Rechtssubjekten besteht. Der Tausch, dessen Ergebnis die (Selbst-)Entfremdung des Arbei­ ters und die ausbeuterische Herrschaft des Kapitalisten ist, wird nach den Gleichheitsregeln des privatrechtlichen Vertrags vollzogen, ja er verlangt die Existenz und erfordert die Einhaltung der egalitären Logik der privat­ rechtlichen Normativität. Im Kapital verweist Marx in diesem Zusammen­ hang darauf, dass die Privatarbeiten im Privatrechtsregime „austauschbar“ (Marx 1962, 87) werden, insofern die eine Privatarbeit infolge ihres ab­ strakt-egalitären Charakters der anderen „gleichgilt“ (ebd.). Gerade ihre abstrakte Form lässt die Gleichheit hierbei aber in konkrete Ungleichheit umschlagen. Auf dieser Grundlage bezeichnet Menke den privatrechtlich angeleiteten Tausch der Arbeitskraft als Ware im Marxschen Sinn als Schein. Das Privatrecht hat eine ideologische Form, denn es erzeugt eine soziale Praxis innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – die kapitalistische Herrschaft der Ausbeutung – als Verkehrung der egalitären Normativität des Rechts. Diese ‚soziale Logik‘ des Privatrechts spezifiziert Menke weiter­ gehend im Anschluss an Max Weber als „Steigerung des Zwangs“ (Menke 2015, 277). Weber zufolge schlägt sich in der durch den privatrechtlichen Vertrag ermöglichten Aneignung der Ware Arbeitskraft „die ökonomische Ausbeu­ tung begrifflich als Machtverhältnis – genauer: als eine institutionalisierte, verfestigte Asymmetrie der Macht, und das heißt: als Herrschaft“ (Menke 2015, 279) nieder. Mit Marx und Weber lassen sich die Ausbeutungsver­ hältnisse in Gestalt der kapitalistischen Herrschaft der einen sozioökono­ mischen Klasse über die andere als eine gesellschaftliche Auswirkung des Privatrechtsregimes verstehen. Obwohl das Privatrecht seinem eigenen Anspruch nach eine freiheitlich-egalitäre Ordnungsstruktur sein soll, zei­ tigt es im Raum der bürgerlichen Gesellschaft asymmetrische und hierar­

102

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

chische Machtverhältnisse, in denen sich die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter und dadurch die Unfreiheit des Arbeiters angesichts des kapitalistischen Zwangs manifestiert. Diese sozialen Machtverhältnisse widersprechen jedoch dem normativen Selbstverständnis des Privatrechts. Auf der formalrechtlichen Ebene ist der Vertrag zwischen Kapitalisten und Arbeitern ein egalitäres Gebilde, eine Verwirklichung der rechtlichen Normativität gleicher Freiheit. Auf der faktischen Ebene der damit hervor­ gebrachten sozioökonomischen Dynamiken innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft kehrt sich jedoch nach Weber diese egalitäre Normativität in ihr Gegenteil um, und zwar aufgrund ihrer normativen Struktur. Diese Einsicht bündelt Weber in der berühmten Passage: „Eine formell noch so viele ‚Freiheitsrechte‘ und ‚Ermächtigungen‘ verbürgende und darbietende und noch so wenig Gebots- und Ver­ botsnormen enthaltende Rechtsordnung kann daher in ihrer fakti­ schen Wirkung einer quantitativ und qualitativ sehr bedeutenden Stei­ gerung, nicht nur des Zwangs überhaupt, sondern auch einer Steige­ rung des autoritären Charakters der Zwangsgewalten dienen“ (Weber 1980, 439; zitiert in: Menke 2015, 280). Auch Weber zufolge schlägt also das dem Recht zugrundeliegende Frei­ heitskonzept des Eigenwillens im Zuge seiner Anwendung und Verwirk­ lichung innerhalb der faktischen Sozialstrukturen in gesellschaftliche Zwangsmechanismen um. Dem freien Vertrag zwischen formal gleich­ gestellten Rechtssubjekten korrespondiert auf der konkreten Ebene der Gesellschaftsordnung die Freisetzung unterschiedlicher Gestalten von un­ gleich verteilter Macht und sozialem Zwang: Durch den Vertragsschluss schließen zwar zwei rechtlich gleichgestellte Subjekte eine gegenseitige Übereinkunft, doch nimmt diese im Rahmen des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts sogleich die Form eines prekären Machtverhältnisses an, etwa wenn die Kapitalisten in der Fabrik als Eigentümer der Produktions­ mittel den Lohnarbeitern deren Arbeitsbedingungen autoritär oktroyieren und dadurch ein Machtmonopol der besitzenden Klasse über diejenigen etablieren, die zum Überleben dauerhaft auf Lohnarbeit angewiesen sind. Ideologiekritisch gewendet bedeutet das, dass „das bürgerliche Privat­ recht den Asymmetrien der ‚Marktmacht‘ (Weber) den Ausdruck freier Übereinstimmungen verschafft“ (Menke 2015, 296). Das hat in Bezug auf die theoretische Ebene zur Folge, dass die egalitäre Logik des Vertrags nur aus rechtsimmanenter Perspektive als solche aufrechtzuerhalten ist. Sie hat nur dann Sinn, wenn die vertragsschließenden Subjekte ausschließlich als Subjekte des Privatrechts betrachtet werden und ihre Rolle als außer­

103

Kapitel 2

rechtliche Gesellschaftsmitglieder, d.h. als sozial und politisch-ökonomisch eingebettete Subjekte, ausgeblendet wird. Diese nichtrechtliche Perspektive, so möchte ich betonen, ist jedoch entscheidend, denn sie stellt überhaupt erst den praktischen Grund dar, warum ein Vertrag zwischen zwei Subjekten geschlossen wird: Der privat­ rechtliche Vertrag über den Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft setzt auf der sozialen Ebene voraus, dass eine Nachfrage nach Lohnarbeit infol­ ge eines sozioökonomischen Subsistenzdrucks besteht. Arbeitssuchende, so muss festgehalten werden, gibt es nur innerhalb einer Sozialstruktur, in der die materielle Selbsterhaltung an den Verkauf der eigenen Arbeitskraft gebunden ist. Umgekehrt erlaubt erst diese Nachfrage nach Arbeit der besitzenden Klasse der Kapitalisten, das Arbeitsangebot nach den Gesetzen der Konkurrenz und des Wettbewerbs so zu gestalten und zu organisieren, dass sie ihre ökonomische Überlegenheit – in Form des Eigentums an den Produktionsmitteln und der darauf aufbauenden Generierung von Mehrwert bzw. der Akkumulation von Eigentum – als Machtinstrument zum Ausbau ihrer Marktmacht und zur Vermehrung ihres Reichtums verwenden und dadurch zugleich einen verstärkten sozialen Zwang über die Arbeiter ausüben kann. Nach Weber reicht dieser durch das Privatrecht im Sozialen etablierte Zwang aber noch tiefer. Denn dass die Individuen überhaupt dazu ge­ zwungen sind, unter den Bedingungen einer Marktsituation durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft Sorge für ihre Selbsterhaltung zu tragen und sich damit den durch die besitzende Klasse vorgeschriebenen Spielregeln der kapitalistischen Ausbeutung zu unterwerfen, nimmt Weber im Unter­ schied zu den neuzeitlichen Vertragstheorien, in denen die sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließenden Individuen über ein bereits verge­ sellschaftetes Bewusstsein der damit einhergehenden ökonomischen Vor­ teile zu verfügen scheinen, nicht als Selbstverständlichkeit oder natürliche Tatsache hin. Im Gegenteil: Weber historisiert und kontextualisiert diese schicksalhafte Macht des Sozialen, durch die das einzelne Gesellschaftsmitglied den ökonomischen Zwängen kapitalistischer Marktdynamiken unterworfen wird, indem er ihre Anonymität und scheinbare Gegebenheit und Neutralität auf die kontingente Wirkmacht des Privatrechts zurück­ führt. Das Herrschaftsverhältnis der Kapitalisten über die Arbeiter kann näm­ lich nicht unabhängig von der Wirkmacht des Privatrechtsregimes gedacht werden, weil es die Verträge, durch die die Arbeiter ausgebeutet werden, allein innerhalb einer Privatrechtsordnung gibt. Sinkende Löhne, steigen­ der Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, die wachsende Schere zwi­

104

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

schen Arm und Reich oder die Prekarisierung großer Massen sind als Folge der kapitalistischen Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, in die der Einzelne eingebettet ist und die er erst einmal als Aus­ gangssituation vorfindet und als gegeben hinnehmen muss. Darin akzep­ tiert er aber nicht etwa zeitlos gültige Marktgesetze, sondern ökonomische Ungleichheitsstrukturen, die es so nur unter den konkreten Bedingungen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gibt und die Hand in Hand mit spezifisch modernen, privatrechtlichen Bestimmungen gehen. Aus diesem Grund wird in der Tradition des Marxismus auch die Emanzipation der unterdrückten Klassen an die Abschaffung des ka­ pitalistischen Gesellschaftssystems z.B. durch den Kampf der Multitude gebunden (vgl. exemplarisch Hardt/Negri 2010; Lorey 2019). Was aus der abstrakten Sicht des Privatrechts also als bloße Optionali­ tät und damit als das Resultat einer freien Entscheidung des Subjekts erscheint, nämlich die freie Übereinkunft zwischen gleichen Rechtssubjek­ ten in Form eines Vertragsschlusses, stellt sich im konkreten Rahmen des sozialen Geflechts der bürgerlichen Gesellschaft als Ideologie heraus: Aus der Perspektive der konkreten sozioökonomischen Situation des Einzelnen stellt es gerade keine bloße Option dar, ob er oder sie die eigene Arbeits­ kraft verkauft oder eben nicht verkauft. Insofern es sozial und ökonomisch in den konkreten Sozialstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft verortet ist, sieht sich das (lohnabhängige) Subjekt durch die schicksalhafte Macht des kapitalistischen Marktes dazu gezwungen, ja dazu verdammt, zum Zweck der Selbsterhaltung und des Überlebens die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. Was also aus rechtlicher Sicht als frei wählbar erscheint, ist im Raum der sozialen Konkretion des subjektiven Eigenwillens eine unvermeidliche Notwendigkeit und gerade nicht Gegenstand einer freien Entscheidung für oder gegen etwas. 2.2.2 Menkes Begriffsbestimmung des Privatrechts: Die Erlaubnis der Willkür Menke zufolge bildet das Privatrecht also entgegen seinem eigenen norma­ tiven Selbstverständnis die Grundlage für die kapitalistische Ausbeutung und Instrumentalisierung des Individuums. Die Voraussetzung für die Herrschaftsform der Ausbeutung besteht dabei laut Menke genauer in der privatrechtlichen Erlaubnis der Willkür. Was ist damit genau gemeint? Das Privatrecht ist genauso wie das Sozialrecht eine konkrete Ausfaltung der Idee der subjektiven Rechte. Die grundlegende Struktur der subjektiven

105

Kapitel 2

Rechte ist die Legalisierung des Natürlichen, d.h. des Eigenwillens. Da sie auf die rechtliche Stärkung des Eigenwillens des Individuums zielen, sind subjektive Rechte „Anspruchsrechte der Einzelnen, die bedingungslos gelten, die also nicht an eine Leistung oder Voraussetzung gebunden sind“ (Loick 2013, 298f.). Seine Legalisierung immunisiert den Eigenwillen, in­ dem sie ihn naturalisiert und innerlich von politischem wie normativem Rechtfertigungsdruck befreit. Das bürgerliche Freiheitsverständnis konkre­ tisiert sich in der Legalisierung des Eigenwillens. Sowohl das Privat- als auch das Sozialrecht verleihen dieser Freiheit des Eigenwillens jeweils eine spezifische Form, denn die Freiheit gibt es niemals einfach nur als solche, sondern immer nur in einer historisch und soziokulturell bestimmten Form. Im Privatrecht kommt der individuelle Eigenwille dabei als Willkür, als Sphäre des beliebigen Entscheidens zur Geltung. Privatrechtlich verfasst, ist die Freiheit des Subjekts gleichbedeutend mit dessen willkürlicher und beliebiger Entscheidung. Das bedeutet jedoch zugleich, dass das Recht im Akt seiner Formgebung der Freiheit nicht nur einen spezifischen Ausdruck verleiht, sondern dadurch gleichzeitig auf einen bestimmten Bedeutungsaspekt engführt und reduziert. „Alle Rechte begrenzen, was sie erlauben“ (Menke 2015, 291). Um den Aspekt der Willkür, auf den die subjektive Freiheit im Rahmen ihrer privatrechtlichen Formierung verkürzt wird, begrifflich zu schärfen und philosophiegeschichtlich zu exemplifizieren, führt Menke u.a. Spino­ zas Theologisch-politischen Traktat (vgl. Spinoza 2018) und Kants Metaphysik der Sitten (vgl. Kant 1997) an: Während sich in der Willkür nach Kant „das ‚angeborene‘ Freiheitsrecht, ‚sein eigener Herr (sui juris) zu sein‘“ (Menke 2015, 85) artikuliert, spricht Spinoza davon, dass das Recht nicht in die Willkür der Einzelnen eingreifen dürfe, da „die Beherrschten dadurch auf­ hörten, Menschen zu sein“ (Menke 2015, 87). In dieser philosophiegeschicht­ lichen Bestimmung kommt der bereits erläuterte selbstreflexive Charakter des modernen Rechts zum Ausdruck: Das Recht begrenzt seinen gewalt­ förmigen Zwangscharakter vor dem natürlichen Wollen des Individuums; es „herrscht nicht mehr gegen die Natürlichkeit der Menschen, sondern legalisiert ihr natürliches Streben“ (Menke 2015, 80). Die Willkürfreiheit, die im privaten Bereich des Einzelnen ausgeübt wird, wird im bürgerli­ chen Privatrecht als natürlicher Ausdruck des subjektiven Eigenwillens verstanden. Aus rechtlicher Perspektive wird die individuelle Willkür somit unangreifbar und unkritisierbar, weil sich das moderne Recht auf­ grund seines selbstreflexiven Charakters gegenüber dem Eigenwillen des Rechtssubjekts begrenzt: In den geschützten Bereich der Privatperson darf das Recht nicht durch normierende Maßnahmen eingreifen; seine Aufgabe

106

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

besteht vielmehr darin, die Privatsphäre von außen zu regulieren und zu sichern. Mit anderen Worten: Das Recht erlaubt die Willkür des Einzelnen, d.h. es „erlaubt, nach natürlichem Belieben zu wollen“ (Menke 2015, 89). Dem Privatrecht liegt damit die Vorstellung zugrunde, dass der Schutz des in­ dividuellen Eigenwillens der Einrichtung einer rechtlich abgesicherten Pri­ vatsphäre des Einzelnen bedarf. Im Unterschied zum öffentlichen Raum geht es in dieser Sphäre privater Entscheidungen nicht um den kollektiven Prozess des Gebens und Nehmens von Gründen, welcher die öffentliche Rechtfertigung und Begründung von Entscheidungen innerhalb sozialer Praktiken und Institutionen einschließt. Gerade dieser öffentliche Recht­ fertigungsdruck entfällt in der Sphäre des Privaten, wie Raymond Geuss feststellt: „Der Liberalismus befasst sich in erster Linie mit der Unterscheidung öffentlich/privat, weil er ein Interesse daran hat, das, was er ‚die Pri­ vatsphäre‘ oder ‚den privaten Bereich‘ nennt, (…) vor allen Arten unerbetener Einmischung zu verteidigen“ (Geuss 2013, 96). Mit dieser Gegenüberstellung von Privatheit und Öffentlichkeit bringt der klassische Liberalismus den Grundgedanken der Freiheit als Eigen­ tumsfreiheit zum Ausdruck: Die Privatsphäre ist ein rechtlich gesicherter Spielraum des Subjekts, in dem das Recht selbst abwesend ist. Die pri­ vatrechtlich erlaubte Freiheit begreift sich somit nicht als Autonomie, etwa im neuzeitlich-aufklärerischen Sinne Rousseaus oder Kants, sondern als Anomie: Freiheit bedeutet, privatrechtlich verstanden, Gesetzlosigkeit bzw. die Abwesenheit gesetzlicher Vorschriften. Die private Entscheidung des Subjekts ist frei, insofern sie seiner bloßen Willkür, also unabhängig vom Gesetz, entspringt. So begreift der Liberalismus die Freiheit, die er in der Form der Rechte schützen will: „Freiheit, so definiert Benjamin Constant, meint für den ‚Modernen‘ die ‚Rechtsgarantien‘, die ‚die Institu­ tionen seinem privaten Genuss gewähren‘; Freiheit ist, liberal verstanden, ‚Sicherheit im privaten Genuss‘“ (Menke 2018b, 101). Der Liberalismus konzeptualisiert die privatrechtliche Freiheit „als institutionelle Garantie des privaten Genusses; in protestantisch-deutscher Fassung (also ohne an den Genuss zu denken): als ‚ein Gebiet unabhängiger Herrschaft des indi­ viduellen Willens‘ (Friedrich Carl v. Savigny)“ (Menke 2018b, 102). Im Zuge der Unterscheidung zwischen privat und öffentlich zieht das moderne Recht eine diskursive Trennlinie zwischen Innen und Außen und veräußerlicht sich selbst gegenüber dem Innenbereich der bürgerli­ chen Gesellschaft, die erst dadurch als nicht-, weil außerrechtlich bestimmt

107

Kapitel 2

wird. Diese Dynamik der Selbstveräußerlichung des Rechts gegenüber sei­ nem sozialen Inhalt wendet Menke direkt freiheitskritisch: „Die moderne Figur der Rechte gibt nicht das Individuum gegenüber dem Recht frei, sondern das rechtlich unregulierbare Innere gegenüber dem rechtlich re­ gulierten Äußeren. Die moderne Figur der Rechte etabliert die Differenz von Innen und Außen“ (Menke 2015, 88). Erst die Einführung dieser Dif­ ferenz schafft die Grenzen, die das rechtliche Grundprinzip der Gleichheit der individuellen Wahlfreiheit zieht, indem es die privaten Spielräume der einzelnen Subjekte äußerlich gegeneinander abgrenzt. Innerhalb dieser privaten Sphäre, d.h. unter Einhaltung der Grenzen der Gleichheit, ist das privatrechtliche Subjekt niemandem Rechenschaft über seine Entschei­ dungen und Handlungen schuldig. Die privatrechtliche Berechtigung der Willkür erlaubt also dem Rechts­ subjekt, sein individuelles Begehren, seine privaten Wünsche und Stre­ bungen sowohl gegenüber dem Recht selbst als auch gegenüber der Ge­ sellschaft und ihren einzelnen Mitgliedern als Tatsache zur Geltung zu bringen, die als natürlich gegeben hinzunehmen ist, solange sie nicht in die gleichen Rechte des Anderen eingreift.32 Die privatrechtlich geschützte Willkür verleiht dem Subjekt die Macht der Verdinglichung des eigenen, beliebigen Wollens gegenüber dem öffentlichen Bereich des Sozialen. In dieser Hinsicht geht die Idee der Privatheit unmittelbar damit einher, das Subjekt zu privilegieren: „Wenn das ‚Private‘ im Allgemeinen die Idee des Privilegs mit sich führt, ist ‚Privateigentum‘ ein Eigentum, über das ein Individuum unabhängig davon, ob es irgendein (öffentliches) politisches Amt bekleidet, privilegiert verfügt“ (Geuss 2013, 106). Die Institution des Eigentums stattet den Eigentümer mit einer normativen Macht aus, die sich potenziell zu einem gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnis ent­ wickelt: Ausschließlich der Eigentümer hat das Recht, darüber zu bestim­ men, was mit seinem Eigentum geschehen soll und wozu er es gebrauchen will, und zwar gerade deswegen, weil es sein Eigenes ist. Während der einzelne Eigentümer also willkürlich über seinen Besitz verfügen kann, dürfen weder das Recht noch die Gesellschaft sich über diese individuelle

32 Vgl. dazu: „Denn in der modernen Form begrenzt sich die Durchsetzung der Rechtspflichten so auf das ‚Äußere‘, die Handlungen und ihre Auswirkungen aufeinander, dass damit das ‚Innere‘ der Untertanen, ihr Wollen, nicht nur hinge­ nommen, sondern erlaubt wird. Das moderne Recht begründet die zwingende Verpflichtung zu seiner Befolgung gerade dadurch, dass es die Gründe für seine Befolgung freistellt. In der modernen Form der Rechte geht es um die Freiheit der Willkür: die natürliche Freiheit vom Recht durchs Recht“ (Menke 2015, 91).

108

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

Bestimmungsmacht hinwegsetzen. Das bedeutet jedoch, dass das konkrete individuelle Wollen für das moderne Recht inhaltlich unbestimmbar ist: „Da es hingegen in der rechtlichen Erlaubnis darum geht, die Aus­ übung der Willkür zu gewährleisten, und da Willkür das Vermögen der Wahl unter Absehung von Gründen ist, kann das Recht sie nur legalisieren, indem es sie nicht bestimmt: Es muss sich blind machen für die Unterscheidungen, die die außerrechtlichen Vollzüge leiten“ (Menke 2015, 96). Diese normative Blindheit ist konstitutiv für die rechtliche Ermächtigung, d.h. Erlaubnis der Willkür. Der soziale Inhalt des Wollens ist allein privat bestimmbar, also aus der normativen Sicht des Rechts beliebig und darin letztlich unbewertbar; in Menkes Worten: das Privatrecht kann immer nur „das unbestimmte Streben“ (Menke 2015, 81) erlauben.33 Hierin be­ steht die entpolitisierende Wirkung des Privatrechts: Durch die Privatisie­ rung des Eigenwillens bleiben seine Ziele und Handlungsabsichten aus Sicht des Rechts normativ unbestimmt. Die Bestimmung darüber, was der Inhalt des natürlichen Wollens ist, gehört nicht in die Kompetenz des Rechts, sondern markiert den souveränen Bezirk des einzelnen, privat­ rechtlich verfassten Subjekts. Das beinhaltet aber, dass die subjektive Willkür gar keine natürliche Gegebenheit vor dem Recht darstellt, sondern in dieser spezifischen Form erst durch das Privatrecht hervorgebracht wird. Die Willkür des Einzelnen, so Menkes Argument, ist ein Herrschaftseffekt des Privatrechts, d.h. das soziokulturelle Produkt der rechtlichen Erlaubnis. Denn erst das moderne Privatrecht liefert die gesellschaftlichen und institutionellen Voraussetzun­ gen, unter denen der Einzelne überhaupt seine individuelle Wahlfreiheit im Privaten ausüben kann, ohne seine Entscheidungen vor anderen oder der Gesellschaft gegenüber rechtfertigen zu müssen. Denn um seinen Ei­ genwillen auf der Basis der rein privaten Beurteilung der eigenen Hand­ lungsgründe und damit unpolitisch zum Ausdruck bringen zu können, muss das Individuum sich in den Innenbereich der eigenen Privatsphäre zurückziehen können, die ihrerseits jedoch nicht privat hergestellt werden kann, sondern der rechtlichen Konstitution und Garantie bedarf. Ohne die

33 Vgl. dazu: „Dagegen geht es nach der Willkürtheorie im Recht gerade umgekehrt darum, sicherzustellen, dass das natürliche Wollen, unter Absehung von seinen Bestimmungen, ausgeübt werden kann; es geht also um die Möglichkeit zu beliebigen Vollzügen – gleichgültig zu welchen Zielen und damit aus welchen Gründen sie ausgeführt werden mögen“ (Menke 2015, 92).

109

Kapitel 2

Bedingung des Privatrechts gibt es den subjektiven Eigenwillen in seiner bürgerlichen Erscheinungsform also gar nicht. Obwohl die klassische liberale Vorstellung etwa bei Constant oder Savi­ gny davon ausgeht, dass in rechtlichen Praktiken die bereits vorrechtlich bestehende, natürliche Freiheit des Menschen zur Geltung gebracht wird, verhält es sich Menkes kritischer Diagnose zufolge tatsächlich umgekehrt: Das Wollen des Einzelnen als Willkür ist keine natürliche, unabhängig vom Recht bestehende Tatsache, sondern der Effekt einer bürgerlichen Rechtstruktur: Die subjektive Willkür als Ausdruck menschlicher Freiheit ist an eine moderne, privatrechtliche Normativität gebunden, in deren Kontext sie erlaubt und in ihrer Form erst ermöglicht wird. Damit er­ zeugt das Privatrecht, wie gesehen, die Willkür durch die selbstbegrenzen­ de Form der Erlaubnis gleichzeitig so, dass sie aus der Perspektive des Rechts unbestimmbar wird. Mit anderen Worten: Das bürgerliche Recht ist aufgrund des Mechanismus der privatrechtlichen Erlaubnis indifferent gegenüber den sozial herausgebildeten Inhalten der subjektiven Willkür. Diese rechtliche Unregierbarkeit des privatrechtlichen Willkürsubjekts, al­ so die Unabhängigkeit des subjektiven Inneren gegenüber der äußeren Regulierung durch das Recht, schlägt sich in der mit Marx und Weber herausgearbeiteten Klassenherrschaft in Form kapitalistischer Ausbeutung nieder. „Die Ermächtigung der Willkür geschieht durch die Sicherung einer privaten Sphäre, in der Subjekte nach eigenem Belieben über ihre Ziele entscheiden können. Damit erlangen sie (auch) die Macht über andere Subjekte, sie durch die freie Ausübung ihrer Rechte – das heißt durch die freie Ausübung der gleichen Rechte auf beiden Seiten: der Herrschenden wie der Beherrschten – in ihre Herrschaftssphäre ‚einzusaugen‘ (Preuß). Aber dafür müssen sich beide Seiten ebenfalls gleichermaßen den Bedingungen unterwerfen, die die rechtliche Ge­ währleistung ihrer Willkür ihnen auferlegt“ (Menke 2015, 291). Hier wird die bereits zuvor erläuterte Dialektik des bürgerlichen Rechts deutlich: Die ‚soziale Logik‘ des Privatrechts besteht nämlich darin, dass sich die soziale Unterwerfung des Subjekts unter die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse widersprüchlicherweise durch die Vermittlung der gleichen privaten Rechte vollzieht. Der Arbeiter kann nur in Aus­ übung seiner privaten Eigentumsrechte als freies, vertragsrechtliches Sub­ jekt durch den Kapitalisten ausgebeutet werden. Die kapitalistische Unter­ drückung des Proletariers setzt die aktive Affirmation und Anerkennung von dessen unverletzlichen privaten Rechten voraus. Denn der Kapitalist

110

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

beutet den Arbeiter gerade unter der Bedingung aus, dass er mit ihm einen Vertrag schließt und ihn darin formal als gleiches Rechtssubjekt anerkennt. Der Arbeitsvertrag bildet aber als egalitäre Rechtsbeziehung gleichzeitig die Grundlage für die Entstehung und Verfestigung faktischer Ungleichheiten und sozialer Machtabstufungen im Arbeits- und Produk­ tionsprozess. Gegenüber diesem Paradox ist das Recht, wie ausgeführt, jedoch notwendig blind. Indem die rechtlich abgesicherte Privatsphäre durch die Institutionen des Privateigentums und des Vertrags zwischen Privateigentümern zum Medium der sozialen Interaktion wird, wird die Gesellschaft als relationa­ ler Raum des Sozialen durch die normativ kodifizierte und gesellschaftlich ungleich verteilte Macht der individuellen Willkür kolonisiert. Diese un­ gleiche Verteilung gesellschaftlicher Macht bleibt für das Recht jedoch abstrakt, denn in der Berechtigung der Willkürfreiheit nimmt das Recht endgültig Abschied von der normativen Bestimmung und Beurteilung der konkreten Willensinhalte. Die liberale Bestimmung der subjektiven Freiheit als Willkür führt demnach aus Sicht des Rechts notwendig zur normativen Unbestimmbarkeit des freien, subjektiven Wollens und Han­ delns. Die Pathologie der privaten Rechte besteht also darin, dass sie das soziale Leben der bürgerlichen Gesellschaft im Ausgang von einer ideo­ logischen, nämlich besitzindividualistischen und normativ indifferenten Konzeption des Subjekts strukturieren. Das bürgerliche Subjekt lernt, sein Handeln und Entscheiden aus der Privatheit seines subjektiven Wollens wahrzunehmen. Dadurch entsteht auf der gesellschaftlichen Ebene eine nichtsoziale, weil atomistische Form von Subjektivität: Indem das Indivi­ duum seine subjektive Willkür verdinglicht und immunisiert und, darauf aufbauend, seine sozialen Beziehungen instrumentalisiert, bildet es nach und nach ein solipsistisches Selbstverständnis aus. „Die privaten Spielräu­ me werden gar nicht vernünftig, zur Persönlichkeitsentfaltung, sondern hedonistisch oder egoistisch, nach eigenem Belieben, genutzt“ (Menke 2018b, 104). Das private Willkürsubjekt benutzt die Gesellschaft in erster Linie als den Raum, in dem es seine beliebigen Ziele und Wünsche ver­ wirklicht und seinen eigenen Willen durchsetzt. Die Gesellschaft erscheint dem privatrechtlichen Subjekt daher als et­ was, das privat angeeignet anstatt gemeinschaftlich geteilt wird, da seine Willkür sich nach außen souverän abschottet, während sie ihre Geltung nach innen hin verabsolutiert. „Darin sind alle Rechte „atomistisch“: Die Subjekte der Rechte sind Atome, die durch ihre rechtliche Anerkennung nicht verwandelt werden, sondern so sind – und bleiben –, wie sie nun

111

Kapitel 2

mal sind“ (Menke 2018b, 106). Aus dieser Selbstverdinglichung des Sub­ jekts resultiert also eine instrumentelle Haltung zur gesellschaftlichen Au­ ßenwelt, mit den Worten Horkheimers und Adornos: ein Weltverhältnis aus dem Geist der instrumentellen Vernunft (vgl. Horkheimer 2007; Hork­ heimer/Adorno 2012). Indem das bürgerliche Subjekt im Rahmen seiner privatrechtlichen Subjektivierung lernt, sich als eine Instanz des Eigenwil­ lens im Sinn individueller Willkür zu verstehen, nimmt es zugleich die gesellschaftliche Umgebung, in der es lebt, nicht als Bedingung, sondern, wie bereits Marx in Zur Judenfrage schreibt, als Schranke und Bedrohung seiner Freiheit wahr: „Das Menschenrecht des Privateigentums ist also das Recht, willkür­ lich (à son gré), ohne Beziehung auf andre Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren, das Recht des Eigennutzes. Jene individuelle Freiheit, wie diese Nutzanwendung derselben, bilden die Grundlage der bür­ gerlichen Gesellschaft. Sie lässt jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.“ (Marx 1956, 365) Das Subjekt des Eigenwillens bildet in seinen sozialen Interaktionen aso­ ziale Verhaltensweisen aus. Der gesellschaftliche Effekt des Privatrechts besteht daher darin, „zu isolieren, zu vereinzeln“ (Menke 2018b, 106). Auf diese negativen sozialen Effekte möchte ich im nächsten Schritt in Auseinandersetzung mit Marx noch einmal genauer eingehen. 2.2.3 Der philosophiegeschichtliche Kontext: Marx‘ Kritik der Menschenrechte Das Privatrecht verfolgt das Ziel, das Subjekt der subjektiven Rechte da­ durch sozial zu ermächtigen, dass es ihm den nach außen hin geschützten und nach innen hin unbestimmten und daher unbegrenzten Bereich der Privatheit sichert, in dem es nach eigenem Belieben entscheiden und seine Entscheidung auf irgend etwas Bestimmtes und darin Beliebiges richten kann. Die individuelle Entscheidung ist dabei für das Recht des­ halb unbestimmt, weil das Subjekt im rechtlich abgesteckten Rahmen des Privaten selbst darüber bestimmt, auf was oder wen sich sein Wille beziehen soll. Diese souveräne Macht des Rechtssubjekts wird durch das bürgerliche Recht selbst eingesetzt. „Das paradigmatische subjektive Recht ist hier das moderne Eigentumsrecht, das den Gebrauch eines Gegenstan­

112

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

des der souveränen Disposition Einzelner unterstellt“ (Loick 2017a, 165). Der Eigenwille des Rechtssubjekts wird durch dessen Privatisierung zum legitimatorischen Ausgangspunkt des bürgerlichen Rechts. In der rechtlich gesicherten, individuellen Privatsphäre des Willkürsubjekts findet damit nicht nur das spezifische Recht auf Eigentum, sondern der bürgerliche Eigentumsbegriff als solcher (wie er dem Privat- wie dem Sozialrecht zu­ grunde liegt) seinen genuinen Ausdruck. Die Konzeption des bürgerlichen Eigentums erfüllt dabei im Kern die Funktion, die individuelle Freiheit als normative Grundlage des Liberalismus zu verwirklichen. Marx hatte diese liberale Konzeption der Freiheit, die im Konzept des Privatrechts zur Geltung kommt, bereits in Zur Judenfrage als einen sub­ jektphilosophischen Reduktionismus scharf kritisiert, der vor allem in der Gleichsetzung von Menschen- und Bürgerrechten zum Ausdruck kommt. Entgegen ihrem eigenen Anspruch sind die aus der Französischen Revo­ lution hervorgehenden Menschenrechte tatsächlich gar nicht die Rechte des Menschen, sondern immer nur die des Bürgers; sie kommen dem Menschen nicht qua Menschsein zu, sondern sie sind „die Rechte des Mit­ glieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen“ (Marx 1956, 364). Diese Diagnose lässt sich in zwei Richtungen lesen: In der ersten, negativen Lesart geben die Menschenrechte vor, etwas zu sein, was sie nicht sind, d.h. sie erwecken den Anschein, als seien sie tatsächlich die Rechte eines jeden Menschen, während sie in Wirklichkeit nur die Rechte des Bürgers, des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft sind. Diese Argu­ mentationslinie wurde prominent u.a. von Hannah Arendt stark gemacht (vgl. Arendt 2011), auf die sich auch Menke in einem Aufsatz bezieht: Menschenrechte sind dieser positivistischen Kritiktradition zufolge „gar nicht Rechte des Menschen, sondern Rechte bereits von Mitgliedern politi­ scher Einheiten“ (Menke 2008a, 135). Sowohl die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 als auch die Allgemeine Erklärung der Men­ schenrechte von 1948 verwickeln sich Menke zufolge, der hierin Arendts naturrechtskritischer Argumentation folgt, in denselben Widerspruch: „In den sogenannten Menschenrechtserklärungen geht es in Wahrheit also nicht um Rechte, die jeder einzelne Mensch, bloß als Mensch, hat. So hat er vielmehr gar keine Rechte; denn nur Mitglieder eines politi­ schen Gemeinwesens, nicht Menschen außerhalb und ohne politisches Gemeinwesen können Rechtsträger sein. Eine jede Erklärung der Men­ schenrechte setzt mithin unausgesprochen voraus, dass die Menschen Mitglieder eines Gemeinwesens bereits sind“ (Menke 2008a, 136).

113

Kapitel 2

In der zweiten, positiven Lesart sorgen dagegen die Menschenrechte dafür, dass ein verkürztes Verständnis des Menschen, nämlich seine Rolle als Bürger, absolut gesetzt, also ontologisiert und damit naturalisiert wird. In dieser Perspektive erzeugen die Menschenrechte durch ihre Verengung des Menschen auf den Bürger ein partikularistisches Verständnis des Men­ schen, das durch die Menschenrechte im konkreten Raum der bürgerli­ chen Gesellschaft in Umlauf gebracht und als hegemoniale anthropologi­ sche Vorstellung sozial institutionalisiert wird. In diesem Zusammenhang konstatiert Daniel Loick „neben der permissiven auch noch eine direkti­ ve Dimension“ (Loick 2013, 296) des Rechts und der Menschenrechte. Loick zufolge „[ist] das Recht nicht einfach der nachträgliche Ausdruck oder das ideologische Resultat von Atomismus und Egoismus, sondern stellt sie auch erst her“ (ebd.). Der Philosoph Karl Löwith hat bereits im Rückgriff auf Rousseau diese Verkürzung als spezifische Problematik der bürgerlichen Gesellschaft interpretiert, die sich über Hegel und Marx bis zu Nietzsche fortsetzt und fest im bürgerlichen Denken implementiert ist: „Rousseaus Schriften enthalten die erste und deutlichste Charakteristik der menschlichen Problematik der bürgerlichen Gesellschaft. Sie be­ steht darin, dass der Mensch der bürgerlichen Gesellschaft nichts Ein­ heitliches und Ganzes ist. Er ist einerseits Privatmensch und andrerseits Staatsbürger, weil die bürgerliche Gesellschaft in einem problematischen Verhältnis zum Staat existiert. Das Missverhältnis von beiden ist seit Rousseau ein Grundproblem aller modernen Staats- und Gesellschaftslehren und die totalitären Staaten der Gegenwart sind der Versuch einer Antwort auf Rousseaus Fragestellung: wie lässt sich der Mensch, der doch von Natur aus schon selbst etwas Ganzes ist, in Überein­ stimmung bringen mit der ganz andersartigen Ganzheit der ‚société politique‘? (…) Er ist in einer Person zweierlei, er gehört einerseits sich selbst, und andrerseits dem ‚ordre civil‘ an“ (Löwith 1995, 255). Marx attestiert den Menschenrechten also nicht trotz, sondern wegen ihrer Normativität einen problematischen Charakter. „Menschenrechte sind für ihn nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems, und zwar gerade weil sie wirksam sind“ (Loick 2017a, 167). Im Zusammenhang seiner Kri­ tik der Menschenrechte konkretisiert Marx, was genau an der reduktionis­ tischen Gleichsetzung von Mensch und Bürger problematisch ist, indem er spezifiziert, welche Eigenschaft des Bürgers in den Menschenrechten überbetont, verabsolutiert und dadurch zur Pathologie zugespitzt wird: Die Menschenrechte sind die Engführung des Menschen „auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische unabhängige Individuum“

114

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

(Marx 1956, 370). Indem die Menschenrechte den Bürger zum Wesen des Menschen machen, stellen sie den Egoismus des bürgerlichen Rechts­ subjekts, genauer: des privatrechtlichen Eigentümers ins Zentrum, d.h. sie substanzialisieren den Egoismus des ökonomisch definierten und in­ dividualistisch enggeführten Marktteilnehmers der kapitalistischen Gesell­ schaft zur Wesenseigenschaft des Menschen als solchen. Aus diesem Blick­ winkel sind die Menschenrechte sozusagen das politische Instrument zur Hegemonialisierung und Universalisierung eines partikularen Merkmals des Individuums, welches jedoch überhaupt erst unter den historisch-kon­ tingenten Bedingungen des Kapitalismus in Erscheinung treten kann. Diese Marxsche Argumentationslinie bildet den Hintergrund von Men­ kes Kritik des Privatrechts als einer Grundgestalt des bürgerlichen Rechts. Obwohl Menke in seinem rechtskritischen Projekt an wesentliche Motive der Marxschen Rechtsanalyse anknüpft, wirft er Marx im Laufe seiner Untersuchung einen Kategorienfehler vor, der sich auf die Einführung des Egoismus als eines sozialkritischen Begriffs bezieht. Indem Marx das Sub­ jekt der bürgerlichen Gesellschaft als egoistischen Menschen beschreibt, so Menkes Kritik, bedient er sich auf der Ebene der Gesellschaftskritik eines moralischen Konzepts und moralisiert dadurch eine eigentlich ge­ sellschaftstheoretische Problematik. Denn, so Menke, „Egoismus ist über­ haupt keine gesellschaftliche, sondern eine moralische Kategorie“ (Menke 2015, 266). Ob in einer Gesellschaft Egoisten leben, sagt nach Menke also noch nichts Grundlegendes über diese Gesellschaft aus und trägt nichts Wesentliches zu deren Kritik bei. Diese Kritik greift jedoch zu kurz, da moralische Einstellungen und Überzeugungen sehr wohl gesellschaftliche Konsequenzen nach sich zie­ hen können und selbst gesellschaftlich hervorgebracht werden. Nichts an­ deres zeigt die Kritik des privatrechtlich konstituierten Eigentümers, des­ sen egoistisch-atomistische Haltung gegenüber der Gesellschaft den Raum des Sozialen kolonisiert und dadurch eben auch prägt und privatistisch einfärbt. Darüber hinaus, so möchte ich argumentieren, lässt sich auch grundsätzlich in Frage stellen, ob Menke mit dieser scheinbar klaren Ein­ ordnung des Egoismus in die Schublade des Moralischen nicht selbst noch der in der Privatrechtskritik problematisierten Aufteilung in ein Innen und Außen, also in einen inneren Bereich der privaten Moral und einen äußeren Bereich der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, verhaftet bleibt und damit hinter seine eigenen ideologiekritischen Überlegungen zurückfällt. Im Anschluss an Daniel Loick lässt sich hier gegen Menke festhalten: „‚Egoistisch‘ ist eine Handlungsorientierung, bei der die Menschen ihre individuellen Ziele und Interessen ohne Rücksicht auf die Ziele

115

Kapitel 2

und Interessen anderer verfolgen. Christoph Menke verkennt den Sta­ tus dieses Begriffs, wenn er Marx mehrfach einen Kategorienfehler unterstellt, indem er behauptet, der Egoismus sei ‚überhaupt keine rechtstheoretische oder gesellschaftskritische Kategorie (sondern eine moralische)‘. Die Pointe von Marx‘ Rechtskritik besteht jedoch gerade darin, dass die Rechtsform eine spezifische Subjektform konstituiert, was eben auch moralische Einstellungen und Haltungen umfasst. Es geht ihm gerade darum, vorherrschende moralische Praktiken auf gesellschaftliche und rechtliche Praktiken zurückzuführen“ (Loick 2017a, 173). In solch einer sozialphilosophischen Heuristik lassen sich, so lässt sich an Loick anschließen, egoistische Handlungsmotivationen der einzelnen Individuen nicht von den kollektiven, institutionellen und damit auch rechtlichen Rahmensetzungen innerhalb der Gesellschaft abtrennen, unter deren Bedingung egoistische Haltungen erst entstehen und sich in sozia­ len Praktiken verfestigen. Worum es Marx also geht, ist die Betonung der gesellschaftlichen und politischen Bedingtheit individueller, moralischer Handlungseinstellungen. In individuellen Haltungen drücken sich stets gesellschaftliche Diskurse und kollektive Praktiken aus, die diesen indivi­ duellen Haltungen als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde liegen. Der Egoismus des bürgerlichen Subjekts ist daher als die politische Folge einer allgemeinen Gesellschaftsformation zu verstehen, die durch das Recht mithervorgebracht und aufrechterhalten wird. Auch wenn er eine indivi­ duelle, moralische Einstellung sein mag, bleibt der Egoismus trotzdem der Ausdruck eines diskursiv strukturierten und politisch umkämpften Gesellschaftsraums, in dem er verwurzelt ist. Da sich der Begriff des Egois­ mus bei Marx darüber hinaus primär auf Handlungen bezieht und somit konkrete, praktische Einwirkungen vonseiten des Subjekts auf das Soziale markiert, liegen dessen gesellschaftskritische und politische Implikationen auf der Hand. Der gesellschaftskritische Aspekt des Egoismus folgt außerdem direkt aus dem liberalen Freiheitsbegriff, den Marx (und Menke) vehement kri­ tisieren. Genauer gesagt, bleibt Menkes Kritik der Voraussetzungslogik des bürgerlichen Rechts ohne den Rekurs auf Marx unverständlich, denn Marx selbst verortet die Logik der Voraussetzung präzise in der Institution der Menschenrechte: „Dieser Mensch, das Mitglied der bürgerlichen Gesell­ schaft, ist nun die Basis, die Voraussetzung des politischen Staats. Er ist von ihm als solche anerkannt in den Menschenrechten“ (Marx 1956, 369). Und es ist ebenfalls Marx selbst, der schon in Zur Judenfrage diese Voraus­ setzungsdynamik in ihrem naturalisierenden Charakter offenlegt, indem

116

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

er zeigt, dass sich die Politik innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu dieser Gesellschaft so verhält, als würde sie sie als bereits gegebene und fest etablierte Gesellschaftsordnung vorfinden, die nur noch bürokratisch verwaltet und nicht mehr aktiv (um-)gestaltet und politisch transformiert werden müsste: „Die Konstitution des politischen Staats und die Auflösung der bürgerli­ chen Gesellschaft in die unabhängigen Individuen – deren Verhältnis das Recht ist, wie das Verhältnis der Standes- und Innungsmenschen das Privilegium war – vollzieht sich in einem und demselben Akte. Der Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, der unpoli­ tische Mensch, erscheint aber notwendig als der natürliche Mensch. (…) Der egoistische Mensch ist das passive, nur vorgefundne Resultat der aufgelösten Gesellschaft, Gegenstand der unmittelbaren Gewissheit, also natürlicher Gegenstand. Die politische Revolution löst das bürgerli­ che Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen. Sie verhält sich zur bürgerlichen Gesellschaft, zur Welt der Bedürfnisse, der Arbeit, der Privatinteressen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehns, als zu einer nicht weiter begründeten Voraussetzung, daher als zu ihrer Naturbasis“ (ebd.). Der ‚egoistische Mensch‘ wird im Rahmen des Liberalismus als die natür­ liche Grundlage der ‚politischen Revolution‘ begriffen; womit ausgesagt ist, dass die Französische Revolution die bürgerliche Gesellschaft dadurch hervorbringt, dass sie sie entpolitisiert bzw. naturalisiert. Diese Naturalisie­ rung macht es nach Marx erst notwendig, die sozialen Verhältnisse der Subjekte untereinander, also das soziale Band und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, anhand subjektiver Rechte zu organisieren und äußerlich zu regulieren. Die Entpolitisierung, der die Revolution die nachrevolutio­ näre Gesellschaftsordnung unterwirft, macht die politisch-revolutionäre Herkunft der bürgerlichen Subjektivität aktiv vergessen. Das bürgerliche Recht ist aus diesem Blickwinkel in erster Linie dazu da, die sozialen Ver­ hältnisse der voneinander isolierten Individuen zu regeln, indem es ihre Interaktionen anhand eines abstrakten Gleichheitsgrundsatzes ausrichtet, ohne dabei deren atomistische Verfassung substanziell zu verändern: „Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem andern unschädlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt

117

Kapitel 2

sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezoge­ ner Monade“ (Marx 1956, 364). Hierin klingt erneut an, inwiefern Marx die Isolation und den Egoismus des bürgerlichen Subjekts als gesellschaftlichen Effekt einer allgemeineren Freiheitsidee interpretiert, deren spezifische Form intern mit dem bürgerli­ chen Rechtsverständnis zusammenhängt. Die von Marx verwendete Meta­ pher des Zaunpfahls erinnert dabei an die radikale Kritik des Eigentums, die bereits Rousseau in seinem Diskurs über die Ungleichheit (vgl. Rousseau 2008) vorgenommen hat. Rousseau zufolge repräsentiert die Erfindung des Eigentums den Beginn der bürgerlichen Gesellschaft: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug wa­ ren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesell­ schaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht er­ spart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‘“ (Rousseau 2008, 173). Bereits Rousseau artikuliert in kritischer Absicht den Grundgedanken des bürgerlichen Eigentums, den Marx dann ins Zentrum seiner Kritik der Menschenrechte rückt. Diese Marxsche Kritik steht, wie erläutert, im Hintergrund von Menkes rechtstheoretischer Analyse. Nachdem er seine kritische Theorie des Privatrechts im Anschluss an Marx rekonstruiert hat, wendet Menke jedoch sogleich gegen Marx kritisch ein, dass dieser genau­ so wie die bürgerliche Ideologie, die er bekämpft, die konstitutive Rolle eines zweiten Rechtskonzepts im Hinblick auf die Emergenz bürgerlicher Herrschaftsformen systematisch unterschätzt hat, und zwar die des Sozial­ rechts: „Wie die traditionelle bürgerlich-liberale Ideologie der Freiheitsrechte, die er kritisiert, hat Marx die konstitutive Rolle verkannt, die diese zweite, soziale Gestalt der subjektiven Rechte in immer größerem Aus­ maß in der bürgerlichen Gesellschaft spielt. Auch für sie trifft jedoch seine allgemeine These zu, dass die Freiheit und Gleichheit im Recht die andere Form sozialer Herrschaft ist. Aber das ist eine fundamental andere Gestalt sozialer Herrschaft (ohne die – im Gegensatz zu der Ansicht, die Marx mit der von ihm kritisierten traditionell liberalen

118

2.2 Menkes Kritik des Privatrechts

Ideologie teilt – die bürgerliche Gesellschaft nicht existieren kann): soziale Herrschaft als Normalisierung“ (Menke 2015, 271). Menke zufolge bildet das Sozialrecht also, wie bereits oben angemerkt, die zweite grundlegende Ausdrucksform der bürgerlichen Rechtskonzeption, was bedeutet, dass auch das Sozialrecht, in gleichem Maße wie das Privat­ recht, von der normativen Grundlage des subjektiven Eigenwillens ausgeht und dessen Macht zur Geltung bringt. Indem er die Normalisierung als Gestalt bürgerlicher Herrschaft bezeichnet, stellt Menke zugleich die These auf, dass die Herrschaft der Normalisierung in ihrer konstitutiven Abhän­ gigkeit von der Normativität des Sozialrechts begriffen werden muss, ohne die sie daher gar nicht angemessen gedacht werden kann. Normalisierung bezeichnet bei Menke im Anschluss an Michel Foucault allgemein die Herrschaft des Sozialen über das Individuum in Form „der Notwendigkeit der sozialen Existenz, der Macht sozialer Formen und Normen“ (Menke 2018a, 120), d.h. der disziplinierenden Ausrichtung des Subjekts an sozia­ len Normen. Im Hintergrund dieses Gedankens steht dabei die u.a. von Adorno formulierte Einsicht, dass das gesellschaftliche Allgemeine stets droht, das individuell Besondere zu überformen und zu homogenisieren, bspw. im Kontext moderner Bürokratieapparate. Im Folgenden soll nun zunächst der rechtskritische Argumentations­ gang näher erläutert werden, durch den Menke seine These begründet, dass gegen Marx‘ Ansicht auch das Sozialrecht aus derselben rechtlichen Grundidee wie das Privatrecht emergiert, nämlich aus der bürgerlichrechtlichen Ermächtigung des subjektiven Eigenwillens. Diese Überlegun­ gen betreffen in erster Linie die begriffliche Struktur des Sozialrechts als Ausdrucksform des bürgerlichen Rechts. Sie erfordern gleichzeitig eine Problematisierung des willenstheoretischen Arguments, das im Hin­ tergrund der subjektiven Rechte und damit des liberalen Freiheitsverständ­ nisses steht, und beinhalten darüber hinaus eine kritische Auseinander­ setzung mit dem Begriff der Normativität. Auf dieser Grundlage soll dann in einem weiteren Schritt die konkrete gesellschaftliche Gestalt und soziale Auswirkung der Normalisierung als Herrschaftseffekt des Sozialrechts, d.h. im Rückbezug auf ihre Herkunft aus der ‚sozialen Logik‘ der subjektiven Rechte beschrieben werden.

119

Kapitel 2

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts 2.3.1 Menkes Begriffsbestimmung des Sozialrechts: Die Ermöglichung des Interesses Der privatrechtliche Schutz der individuellen Privatsphäre gegenüber äu­ ßeren Eingriffen dient dem Zweck, den subjektiven Eigenwillen sozial zu ermächtigen und damit die bürgerliche Eigentumsvorstellung gesellschaftlich zu konsolidieren. Wenn die Ermächtigung des Eigenwillens sich aller­ dings auf diese Umgrenzung einer privaten Sphäre beliebiger Willensäuße­ rungen beschränkt, so wird der Eigenwille, um dessen Macht es im bür­ gerlichen Recht geht, wesentlich missverstanden; das privatrechtliche Ziel einer Sicherung der Freiheit des Eigenwillens muss fehlschlagen, sofern diese allein über den Weg der Berechtigung der individuellen Willkür er­ folgt. Das hat einen willenstheoretischen Grund, den Menke im Anschluss an John Locke herausarbeitet (vgl. Menke 2015, 215–225): Wenn man die Freiheit des Eigenwillens allein als die Ausübung der Willkür innerhalb einer privaten Sphäre versteht, so wird damit der Wille nicht einfach nur als privater berechtigt, sondern zugleich privatistisch verkürzt. Denn zu wollen bedeutet, so Menkes Argument, nicht nur ein Ziel zu wählen, sondern schließt darüber hinaus ein, dieses Ziel auch verwirklichen zu wollen. Zu diesem Zweck benötigt der Wollende jedoch die geeigneten Mittel. Ohne Zugang zu den konkreten Mitteln bleibt das Wollen bloß ein Wünschen, die Zielverwirklichung bleibt bei einer Wunschvorstellung stehen. Das Privatrecht abstrahiert jedoch von den Mitteln und beschränkt sich auf die Garantie eines privaten Gebiets souveräner Willensäußerungen. Indem es von den Mitteln abstrahiert, kann das Privatrecht aber nicht mehr erklären, wie die im Privaten gewählten Ziele tatsächlich, also in der sozialen Wirklichkeit, umgesetzt werden können; was in der Folge bedeutet, dass die individuelle Privatsphäre, die durch die privaten Rechte geschützt werden soll, ohne die Gewährleistung der zur Verwirklichung der gewählten Ziele benötigten Mittel, die privatrechtlich gerade nicht geschützt werden können, weil sie gar nicht erst in den Blick kommen, nutzlos ist. Mit anderen Worten: Der Begriff des bürgerlichen Eigentums führt über sich selbst, d.h. über seine Auffassung als Privatheit hinaus, er kann in seinem Anspruch nicht allein durch die privatrechtliche Erlaubnis der Willkür erfüllt werden. Die privatrechtlich angestrebte Ermächtigung des Eigenwillens kann nicht rein auf privatrechtlichem Wege geleistet oder verwirklicht werden:

120

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

„Wenn der Eigenwille des Subjekts die vorrechtliche (oder natürliche) Grundlage des bürgerlichen Eigentums bildet; und wenn der Eigen­ wille nicht nur als Instanz der Wahl, sondern auch der Wertung, nicht nur als Willkür, sondern auch als Interesse, als Wollen nicht nur von Zielen, sondern auch von Mitteln zu begreifen ist – dann ist die Definition des bürgerlichen Eigentums als privates Gebiet ungehinderter Willensherrschaft unzureichend“ (Menke 2015, 218). Menke spitzt diese willenstheoretischen Überlegungen zu der These zu, dass das bürgerliche Eigentum, das den individuellen Eigenwillen in seine Macht einsetzen soll, aus der eigenen Logik heraus die Ergänzung durch das Sozialrecht verlangt. Denn das Sozialrecht versteht den Willen des Subjekts auf eine fundamental andere Weise als dessen privatrechtliche Konfiguration. Sozialrechtlich verstanden, besteht die Pointe des individu­ ellen Eigenwillens nicht in dem privaten Wählen von Zielen, sondern in dem Bewerten und Abwägen von Mitteln, um die gewählten Ziele zu er­ reichen. Während im Privatrecht die Willkür im Mittelpunkt steht, richtet sich die sozialrechtliche Konzeption der Freiheit des Willens, wie bereits oben erläutert, auf die Verwirklichung von konkreten individuellen Inter­ essen. Das Sozialrecht gewährleistet das individuelle Verfolgen von Interes­ sen, indem es die Teilnahme des Subjekts an der sozialen Wirklichkeit, die subjektive Teilhabe am Sozialen ermöglicht, etwa durch das Recht auf Arbeit, Bildung oder Altersvorsorge. Menke drückt das in der Formel aus, dass es im Sozialrecht um die Ermöglichung von Interessen geht. Darin be­ steht seine rechtliche Performanz. Die sozialen Rechte sind dafür da, dass die einzelnen Subjekte überhaupt Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sein können; was einschließt, dass sie es nicht von Natur aus sind, sondern immer noch erst und wieder werden müssen. Während also private Rechte eher dazu da sind, andere Subjekte aus dem eigenen, privaten Bereich auszuschließen, stellen soziale Rechte sicher, dass die einzelnen Subjekte an der Gesellschaft partizipieren können. Inhaltlich geht es in sozialen Rechten also um die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Das Sozialrecht überwindet also die privatistische Verkürzung der Frei­ heit des Eigenwillens, indem es das Subjekt der Rechte nicht nur als ein privates Willkürsubjekt, sondern darüber hinaus, ja dem entgegengesetzt, als sozialen Akteur, als ein genuin soziales Wesen deutet, das notwendig im Kontext eines relationalen Gesellschaftsgefüges verortet ist. Damit liegt der sozialrechtlichen Sicht auf das bürgerliche Rechtssubjekt die Erkennt­ nis zugrunde, dass der Mensch wesentlich Teil einer sozialen Gemeinschaft ist, womit Durkheims grundlegende Aussage bejaht wird: „In der Tat ist der Mensch nur deshalb Mensch, weil er in Gesellschaft lebt“ (Durkheim

121

Kapitel 2

1991, 89). Obwohl das Sozialrecht diese fundamentale Relationalität des Menschen als soziales Wesen anerkennt, fällt es Menke zufolge jedoch trotzdem wieder in den isolatorischen Atomismus und Individualismus zurück, der schon für das Privatrecht aufgrund von dessen anthropologi­ schen Reduktionismen kennzeichnend ist. Dies liegt Menke zufolge darin begründet, dass der soziale Charakter des Menschen in den sozialen Rechten eben rechtsförmig, genauer: in der Form subjektiver Rechte zur Geltung kommt. Und das bedeutet wiederum, dass das Soziale, also der relationale Raum der Gesellschaft, im Medium sozialer Rechte nicht anders als in Gestalt des Eigenen des Subjekts zum Ausdruck kommen kann. Denn die Grundbestimmung subjektiver Rechte besteht darin, den sozialen Inhalt der Rechte zu naturalisieren, zu einer natürlichen Gegebenheit zu erklären, die dem Rechtssubjekt bereits vor­ rechtlich zu eigen ist; „alle Rechte, ob klassisch oder sozialliberal, sind ‚Ei­ genrechte‘ (Roberto Esposito)“ (Menke 2018b, 104). Auch für den Inhalt der Sozialrechte gilt daher, dass das, was das Subjekt mit diesen Rechten tut, seine eigene Angelegenheit ist, also in der privaten Verfügungsgewalt des Einzelnen liegt. Auch in sozialen Rechten wird somit der Eigenwille des bürgerlichen Subjekts nachträglich normativ zur Geltung gebracht. Soziale Rechte über­ steigen zwar den privatistischen Raum der privatrechtlich erlaubten Will­ kür, aber sie bleiben ihrer Struktur nach privat verfasst, sie beziehen sich auf das Soziale als ein privates Vermögen des Subjekts, d.h. als das Eigene des Subjekts, das natürlich gegeben ist. Darin rekurrieren sie auf denselben Ausgangspunkt wie die spezifisch privaten Rechte, nämlich auf das bürger­ liche Eigentum. Während private Rechte das Subjekt zur geschäftsfähigen Monade machen, stellen soziale Rechte sicher, dass die Interessen des Subjekts auch tatsächlich im gesellschaftlichen Raum des Sozialen verwirk­ licht werden können; in ihrer Logik bleiben die subjektiven Interessen jedoch, nicht anders als im Fall des Privatrechts, monadisch. Das heißt, so lautet Menkes Schlussfolgerung, dass das Sozialrecht den privatrechtlichen Begriff des Eigentums nicht überwindet, sondern ihn im Gegenteil aus einer anderen Richtung her flankiert, ergänzt und stützt.34 34 In diesem Sinne gilt auch für das Sozialrecht, was Marx polemisch in Bezug auf den privatrechtlich konzeptualisierten Menschen konstatiert hat: „Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht von dem Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit“ (Marx 1956, 369). Es geht in der Figur der sozialen Rechte nicht um das soziale Aufbrechen des individualistisch verkürzten Privateigentümers; sondern es geht gerade um die Konsolidierung des bürgerlichen Privateigentümers durch die

122

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

Im Sozialrecht geht es also darum zu gewährleisten, dass das Subjekt seine Interessen im sozialen Raum der bürgerlichen Gesellschaft verwirk­ lichen kann. Dabei gilt, dass die Interessen des Subjekts nicht nur in­ nerhalb des Sozialen, also durch den individuellen Gebrauch von sozial konstituierten und gemeinschaftlich geteilten Mitteln, umgesetzt werden können, sondern – grundlegender – als Interessen allein in der Interaktion mit einer sozialen Wirklichkeit ausgebildet werden können. Die privaten Vermögen des Subjekts, seine Interessen auszubilden und daraufhin zu verwirklichen, sind selbst sozial bedingt; sie gehen darauf zurück, dass das Subjekt an der Gesellschaft teilhat und erst durch dieses Teilsein über­ haupt private Vermögen ausprägt, die durch das Sozialrecht wiederum als natürlich, also vorsozial und vorrechtlich vorhanden vorausgesetzt werden. Auch soziale Rechte naturalisieren also, und zwar gerade insofern sie sub­ jektive Rechte sind. In Menkes Worten: „Ein Subjekt hat seine Mittel, Ressourcen oder Fähigkeiten, äußere oder innere, nur so, dass es sich sozial ausgebildete und existierende Mittel aneignet. Das individuelle Verfügen über Mittel hat die Form der Teilhabe an gesellschaftlichen Mitteln. Die Teilhabe des Subjekts an der Gesellschaft bedeutet die individuelle Aneignung sozialer Mit­ tel und definiert damit, wie ein Subjekt seine Mittel hat. Alle eigenen Mittel sind angeeignete soziale Mittel“ (Menke 2015, 220). Gerade aufgrund ihrer Aneignungslogik sind die subjektiven Interessen, die im Sozialrecht ermöglicht werden, Ausdruck des bürgerlichen Eigen­ tumsgedankens. Durch die Arbeit, der ich innerhalb der Gesellschaft nach­ gehe, oder den Bildungsprozess, den ich zu diesem Zweck durchlaufen habe, entwickle ich bspw. subjektive Fähigkeiten, die ich nur durch die Formen meiner sozialen Teilhabe, d.h. in der aktiven Teilnahme an so­ zialen Praktiken ausprägen kann. Obwohl meine Fähigkeiten wesentlich sozial sind, handelt es sich dem bürgerlich-individualistischen Verständnis nach jedoch um meine Fähigkeiten, meine eigenen Bildungsressourcen und meine eigenen Chancen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund meines Humanka­ pitals. Durch diese Abstraktion von den sozialen und relationalen Grund­

eigentumsförmige Vereinnahmung des Sozialen: Die soziale Sphäre wird durch die Vermittlung sozialer Rechte durch das Subjekt als Privateigentümer in Besitz genommen – das Soziale wird dem Subjekt untergeordnet, die bürgerliche Idee des Eigentums ins Soziale hinein ausgedehnt und dadurch in ihrer bestehenden Form bestätigt.

123

Kapitel 2

lagen subjektiver Fähigkeiten werden diese Fähigkeiten als das individuelle Eigentum des Subjekts begriffen. Wenn es im Sozialrecht um die Gewährleistung der individuellen Fä­ higkeit bzw. des individuellen Vermögens der Interessenverwirklichung geht, so verdoppelt sich bei genauerem Hinsehen dieses Vermögen. Denn wenn das private Vermögen des Subjekts an der Gesellschaft teilzunehmen die eigentumsförmige Inanspruchnahme sozialer Mittel und Ressourcen beinhaltet, „dann besteht das private Vermögen in der Möglichkeit der Teilhabe am sozialen Vermögen“ (Menke 2015, 221). Darin wird zwar das „Recht auf das private Vermögen (…) als ein soziales Recht verstanden“ (Menke 2015, 221), d.h. das private Vermögen des Subjekts wird auf des­ sen soziale Kontextualisierung innerhalb einer kollektiven Gemeinschaft zurückgeführt. Aber dennoch steht im Hintergrund dieser Fokussierung auf das Soziale die Ermächtigung privater Macht mithilfe des Vehikels von subjektiven „Rechte[n] auf private Vermögen durch soziale Teilhabe“ (Menke 2015, 223). Hier wird eine deutliche Hierarchisierung zugunsten der Privatheit erkennbar, insofern die Ermöglichung sozialer Teilhabe pri­ mär im Dienst der Privatperson steht, die ihre privaten Ziele verwirklichen will. Im Zentrum des Sozialrechts steht damit Menke zufolge das individu­ elle Wohl, d.h. der Einzelne und sein Wille, dem – entsprechend des me­ thodischen Individualismus der politischen Rationalität des Liberalismus – das Wohl der Gemeinschaft dienen soll und dem das Soziale dadurch gewissermaßen nachgeordnet wird. Vor dem Horizont dieses rechtskritischen Befunds weist Menke nach, dass auch die Konzeption des Sozialrechts in ihrem Kern nichts anderes als die Geltung des individuellen Eigenwillens zum Gegenstand hat und aufgrund dieser Tatsache eine zweite genuine Ausdrucksform des bürgerli­ chen Rechtskonzepts darstellt, die dem Privatrecht in der Betonung des Eigentums in nichts nachsteht. Sowohl das Privat- als auch das Sozial­ recht emergieren aus demselben, sie einenden Prinzip des bürgerlichen Eigentums, welches selbst wiederum den individuellen Eigenwillen als die normative Grundlage der Idee der subjektiven Rechte zur Geltung bringt. Zwar stellen soziale Rechte gegen die privatistische Verkürzung des Menschen auf ein Willkürsubjekt die Ermöglichung der Partizipation an der Gesellschaft ins Zentrum, aber darin teilen sie „dieselbe Grundidee subjektiver Rechte, also die Grundidee des bürgerlichen Rechts, die in beiden Gestalten ganz unterschiedlich ausgelegt wird“ (Menke 2015, 222). Die vordergründige Opposition des besitzindividualistischen Privatrechts und des partizipativ ausgerichteten Sozialrechts (vgl. Menke 2015, 223) wird durch deren grundlegenderen Konsens relativiert, nämlich dass sie

124

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

jeweils unterschiedliche Ausprägungen der gleichen Grundidee des Eigen­ tums sind. „Diese historische These bedeutet begrifflich, dass das Recht auf sozia­ le Teilhabe nicht mit der bürgerlichen Form der subjektiven Rechte bricht; es ist ihr konform. Denn: Das Recht auf soziale Teilhabe folgt aus der rechtlichen Ermächtigung des Eigenwillens des Subjekts (…). (…) Auch das private Recht auf soziale Teilhabe ist nur eine Legalisie­ rung der Tatsache, dass das Subjekt dies will“ (Menke 2015, 223). Das bedeutet, dass Menke den traditionellen rechtskritischen Vorwurf des Besitzindividualismus, den ursprünglich Marx ins Feld geführt und den Crawford Brough Macpherson noch einmal reformuliert hat (vgl. Macph­ erson 1973), kritisch uminterpretiert. Genauer: Er lehnt die Anführung des rechtlichen Besitzindividualismus als zureichendes Kriterium einer Kritik des bürgerlichen Rechts ab, indem er zeigt, dass das bürgerliche Recht selbst die besitzindividualistische Engführung des Subjekts (so wie sie im Privatrecht paradigmatisch artikuliert wird) infrage stellen kann, ohne da­ durch jedoch mit der Vorstellung des bürgerlichen Eigentums brechen zu müssen. Menke radikalisiert also die Kritik des bürgerlichen Rechts, indem er demonstriert, inwiefern der Besitzindividualismus entgegen dem äußeren Anschein nicht gleichbedeutend mit dem Eigentumsgedanken ist. Dabei will Menke einerseits darauf hinaus, dass das bürgerliche Recht durch die Erklärung sozialer Rechte performativ zeigt, dass sein Verständ­ nis des Rechtssubjekts heuristisch bereits über dessen besitzindividualis­ tische Konzeption hinausreicht, die für das Privatrecht leitend ist; die Kritik des bürgerlichen Rechts muss deshalb mehr leisten als nur den privatrechtlichen Besitzindividualismus intern zu kritisieren, denn genau das leisten bereits die sozialen Rechte selbst. Andererseits führen die Sozi­ alrechte diese Kritik und Erweiterung der besitzindividualistischen, privat­ rechtlichen Engführung des bürgerlichen Rechtssubjekts nicht konsequent genug durch, denn auch sie sind letztlich, wie bereits mit Menke aufge­ zeigt wurde, privat verfasst und bleiben darin der Idee des subjektiven Eigenwillens und der damit verbundenen bürgerlichen Eigentumsvorstel­ lung verpflichtet. In der Konzeption sozialer Rechte trägt das bürgerliche Recht selbst (und nicht erst seine Kritikerinnen und Kritiker) der Tatsache Rechnung, dass das bürgerliche Subjekt nicht nur ein privat besitzendes, sondern auch ein sozial teilnehmendes Wesen ist. In der Zuschreibung sozialer Rechte bringt das bürgerliche Recht als Konsequenz aus dieser Einsicht die gesellschaftliche Existenz des Subjekts innerhalb des Rechtssystems

125

Kapitel 2

zum Ausdruck, während es jedoch gleichzeitig in der Form sozialer Rechte des Einzelnen die gesellschaftliche Sphäre auf eine privat anzueignende Menge von Ressourcen reduziert und dadurch die sozialen Beziehungen zum Eigenen des Subjekts verdinglicht. Auf diese Weise zeigt Menke, dass der Besitzindividualismus „nur eine mögliche ideologische Ausdeutung“ (Menke 2015, 224) der Grundidee des bürgerlichen Eigentums darstellt und deshalb nicht in ein grundsätzliches Verhältnis zur Form der subjekti­ ven Rechte gesetzt werden darf. Denn soziale Rechte sind als subjektive Rechte ebenfalls eine Ausdrucksform des bürgerlichen Eigentums, obwohl sie den Besitzindividualismus infrage stellen. Deshalb konstatiert Menke: „Wesentlich für die Form der subjektiven Rechte ist – ausschließlich – der Willensindividualismus: der Positivismus des Eigenwillens. (…) Denn die Substanz des bürgerlichen Rechts ist – nichts anderes oder nur – die Form der subjektiven Rechte“ (Menke 2015, 224). Gleichzeitig zeigt Menke jedoch auch auf, in welcher Hinsicht Privatund Sozialrecht einander tatsächlich ausschließen, und zwar im Hinblick auf die Art und Weise, wie sie das Natürliche, das sie jeweils legalisieren, verstehen. Privat- und Sozialrecht konzeptualisieren den Begriff der Natur bzw. des natürlichen Eigenwillens auf entgegengesetzte Weise. Während die privaten Rechte die Willkür des Subjekts gerade dadurch sichern, dass sie sie inhaltlich unbestimmt lassen, ja sie als rechtlich unbestimmbar hervorbringen, sind soziale Rechte im Gegensatz dazu gezwungen, ihren natürlichen Inhalt, also die individuellen Interessen des Subjekts, jeweils konkret zu bestimmen und zu spezifizieren: „Da es in der rechtlichen Ermöglichung darum geht, die Verwirk­ lichung von Interessen zu gewährleisten, und da Interessen Grundty­ pen des natürlichen Strebens sind, muss das Recht sie bestimmen: Es muss definieren, was ein Interesse ist, welche Interessen es gibt und wann sie verwirklicht sind – was als ihre Verwirklichung zählt. Der begriffliche Ort des Interesses liegt genau dort, wo das Recht in sich die Unterscheidungen, die für das natürliche Handeln relevant sind, abzubilden versucht; Interessen gibt es nur im modernen Recht, in der Ermöglichung des Natürlichen“ (Menke 2015, 95). Nur im Ausgang von inhaltlich bestimmten Zielen kann das bürgerliche Recht die erforderlichen Mittel zu deren Verwirklichung bereitstellen, was impliziert, dass das Recht im Vorhinein benennen und festlegen muss, wo­ rin die zu ermöglichenden Interessen im konkreten Raum der Gesellschaft bestehen sollen. Das Sozialrecht garantiert demnach „die Möglichkeit zur Ausführung von bestimmten, an Zielen orientierten und daher durch ihre

126

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

Ziele identifizierbaren Handlungen der Interessenbefriedigung“ (Menke 2015, 92). Gerade deshalb aber muss das Recht auch Grenzen gegenüber denjenigen Handlungen, Zielen und Interessen ziehen, die aus seiner Per­ spektive nicht die Bedingungen erfüllen, um rechtlich gewährleistet und geschützt zu werden. Insofern das Recht in der Berechtigung natürlicher Handlungen und Interessen notwendigerweise definieren und auswählen muss, was überhaupt als eine natürliche Handlung zählt und was als ein natürliches Interesse gilt, schließt es zugleich aktiv alle potenziellen Handlungen, Ziele und Interessen aus den Berechtigungsräumen aus, die den Maßstäben und Kriterien des Sozialrechts nicht entsprechen. Im Akt dieser Ausschließung, die mit den Operationen des Sozialrechts notwendig einhergeht, offenbart sich das bürgerliche Recht somit als eine selektieren­ de und naturalisierende Praxis; es macht erkennbar, inwieweit es durch die eigenen Selektionsmechanismen den Begriff der Natur, den es in der Gestalt natürlicher Interessen neutral vorauszusetzen scheint, in Wirklich­ keit selbst erzeugt und in eine bestimmte, nämlich sozialrechtlich definierte Form bringt. In seinen Selektions- und Naturalisierungsmechanismen manifestiert sich die Normativität des Sozialrechts als Herrschaft der kon­ tingenten Formbestimmung des Eigenwillens als natürliches Interesse des Subjekts. Diese sozialrechtliche Gestalt des Eigenwillens ist dabei notwen­ diger Teil der inneren Struktur der subjektiven Rechte.35 Das Sozialrecht muss bspw. festlegen, welche Tätigkeiten überhaupt als (Lohn-)Arbeit gelten, um auf dieser Basis z.B. Arbeitslosen- und Ren­ tenversicherungsansprüche begründen zu können. Wer keiner Lohnarbeit im rechtlich definierten Verständnis nachgegangen ist, kann dementspre­ chend auch nur in eingeschränktem Maße Ansprüche auf staatliche Leis­ tungen wie Arbeitslosengeld oder Altersvorsorge geltend machen. Ein 35 Vgl. dazu: „Als ermöglichendes will das Recht gewährleisten, dass etwas für das natürliche Streben Wichtiges und daher Bestimmtes vollzogen werden kann; als erlaubendes will es gewährleisten, dass sich das natürliche Streben auf irgend etwas Beliebiges und daher Unbestimmtes beziehen kann. (…) Die Ermögli­ chung versteht das Natürliche als grundsätzlich durch das Recht bestimmtes (und bestimmbares), die Erlaubnis als gegenüber dem Recht ebenso grundsätz­ lich unbestimmtes (und nicht zu bestimmendes). Diese beiden gegenläufigen Naturbegriffe definieren das moderne Recht als (i) ökonomisches und (ii) anthro­ pologisches Recht: (i) Durch seine positive, ermöglichende Performanz ist das moderne Recht unmittelbar ökonomisch; es dient dem natürlichen Streben nach Selbsterhaltung, indem es ihm die notwendigen Mittel bereitstellt. (ii) Durch seine negative, erlaubende Performanz ist das moderne Recht unmittelbar an­ thropologisch; es bringt den vom Bürger unterschiedenen, natürlichen Menschen hervor, indem es ihn vom Sittlichen entlastet“ (Menke 2015, 96).

127

Kapitel 2

Problem dabei ist, dass dadurch bestimmte Formen von Arbeit unsicht­ bar, nichtanerkannt und unbezahlt bleiben, die aus dem sozialrechtlichen Definitionsrahmen herausfallen, wie z.B. verschiedene Formen der emotio­ nalen Arbeit und der Care-Arbeit innerhalb und außerhalb der Familie, welche nach wir vor weiblich konnotiert sind und weiterhin überwiegend von Frauen geleistet werden.36 Im Fall einer Ehescheidung sind dann Frauen, die primär solchen unbezahlten Formen von Arbeit nachgegangen sind, in weitaus stärkerem Maße durch Prekarität und Arbeitslosigkeit bedroht als berufstätige Männer. An diesem Beispiel wird deutlich, inwie­ fern das bürgerliche Recht daran beteiligt ist, im Rahmen einer heteronor­ mativen und patriarchalischen Geschlechterordnung sexistisch begründe­ te Geschlechterrollen (hier: die Frau als fürsorgende Hausfrau und Mut­ ter) gesellschaftlich zu reproduzieren, zu verfestigen und die soziale und ökonomische Prekarisierung von Frauen fortzuschreiben, die unbezahlte Care-Arbeit leisten, nämlich durch die sozialrechtliche Bestimmung des Begriffs der Arbeit, die immer schon notwendig eine Beschränkung dessen beinhaltet, was Arbeit überhaupt bedeutet und welche Tätigkeit als Arbeit zählt. 2.3.2 Der analytische Hintergrund: Die aporetische Struktur der Normativität Der Zusammenhang zwischen dem bürgerlichen Recht und der bürgerli­ chen Gesellschaft ist im Verlauf der bisherigen Untersuchung aus den beiden grundlegenden Perspektiven beleuchtet worden, in die sich das bürgerliche Recht nach Menke rechtspraktisch ausdifferenziert, nämlich 36 Aus der Perspektive einer Intersektionalität gesellschaftlicher Machtverhältnisse muss hinzugefügt werden, dass zahlreiche prekäre Formen der Hausarbeit, Für­ sorge und Pflege in Ländern des Globalen Nordens insbesondere von Migran­ tinnen aus armen Weltregionen bzw. Ländern des Globalen Südens verrichtet werden. Da diese Frauen oftmals über keinen gültigen Rechtsstatus oder Auf­ enthaltstitel verfügen und sich dementsprechend unter illegalen Bedingungen im jeweiligen Land aufhalten, sind sie existenziell darauf angewiesen, dass ihre Arbeit unsichtbar bleibt, wodurch jedoch gleichzeitig ihre Vulnerabilität weiter verstärkt wird. Sexistische und rassistische Herrschaftsstrukturen erscheinen hier in ihrer internen Verschränkung, gerade insofern in westlichen, kapitalistischen Gesellschaften das Vorhandensein dieser prekären und oftmals illegalisierten sowie rassistisch und sexistisch kodierten Formen migrantischer Arbeit in den sozialen und ökonomischen Reproduktionsprozessen selbstverständlich voraus­ gesetzt wird.

128

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

erstens aus der Perspektive des Privatrechts und zweitens aus der Perspek­ tive des Sozialrechts. Beide Rechtskonzeptionen sind, wie erläutert, Aus­ faltungen desselben rechtlichen Fundaments in Gestalt des bürgerlichen Eigentums, welches den normativen Primat des individuellen Eigenwillens im Recht zum Ausdruck bringt. Um zu demonstrieren, inwiefern die ‚so­ ziale Logik‘ des Rechts, die Marx im Rahmen seiner Menschenrechtskritik ursprünglich gegen die privaten Rechte kritisch ins Feld geführt hatte, auch für die sozialen Rechte zutrifft, hinterfragt Menke erneut die Form­ struktur dieser Rechte. Mit anderen Worten: Um den herrschaftsförmigen sozialen Inhalt des Sozialrechts freizulegen, untersucht Menke in erster Linie die Formbestimmung der sozialen Rechte, genauer: die Herrschaftsimplikationen, die mit dem Prozess der sozial-rechtlichen Formgebung notwendig einhergehen. Menke will also in Erweiterung der Marxschen Privatrechtskritik aufzeigen, dass die sozialen Rechte in der Ermächtigung des subjektiven Eigenwillens, also durch die Funktionsweise ihrer Norma­ tivität, zugleich eine gewaltförmige Herrschaft über das Subjekt des Eigen­ willens ausüben. Dabei verfolgt er das Ziel, auch das Sozialrecht in seiner dialektischen Dynamik zu identifizieren. Im Folgenden soll rekonstruiert werden, inwiefern Menke vor diesem Hintergrund die sozialen Rechte als rechtliche Pathologie, d.h. als ideologische Hervorbringung gesellschaftlicher Machtverhältnisse ausweist. Die bürgerliche Gesellschaft ist Menkes kritischer Diagnose zufolge als sozialer Zusammenhang primär rechtlich verfasst. Ihr Zweck besteht ihrem liberalen Selbstverständnis nach darin, jedem einzelnen Individuum seine Freiheit zu sichern. Diesen Zweck verfolgt sie durch die Erklärung der subjektiven Rechte. Für die liberale Gesellschaft kann die Freiheit des Menschen nur durch die Deklaration gleicher Rechte politisch garantiert werden, „Gleichheit heißt für sie: gleiche Rechte. Beides fällt für sie in eins“ (Menke 2015, 7). Genau darin ist die bürgerliche Gesellschaft liberal: Sie ist erstens liberal, weil sie von der individuellen Freiheit jedes Einzel­ nen ausgeht, die sie als natürliche Eigenschaft des Menschen voraussetzt. Und sie ist zweitens liberal, weil sie annimmt, dass diese naturhaft gege­ bene Freiheit, in der alle Menschen von Natur aus gleich sind, politisch nicht anders erhalten und geschützt werden kann als durch ihre Kodifizierung in Rechten. „Gegen Ungerechtigkeit und für die Gleichheit zu sein, heißt, es kann nur heißen, für individuelle, subjektive Rechte zu sein“ (Menke 2018b, 100). Politik ist im Liberalismus primär rechtsförmig; das Politische verengt sich tendenziell auf das Rechtliche. Folglich spielt sich auch Sozialpolitik unter liberalen Vorzeichen in erster Linie im Medium sozialrechtlicher Diskurse ab, die jedoch nach Menke immanent mit der

129

Kapitel 2

Entstehung eines neuen Herrschaftstyps verbunden sind, nämlich mit der gesellschaftlichen Normalisierung. Diese These wird im Folgenden weiter entfaltet. Wie gesehen, geht der Liberalismus von der Annahme aus, dass der Mensch von Natur aus frei ist. Diese natürliche Freiheit des Menschen ist die normative Quelle subjektiver Rechte: Subjektive Rechte sind normativ dazu da, um das Subjekt vor den Fremdbestimmungen und Zwängen der Macht zu schützen und vor Herrschaft und Unterdrückung frei zu halten. Die Legalisierung des Eigenwillens durch die Form der subjektiven Rech­ te, so die liberale Idee, dient dem Erhalt der Freiheit des Subjekts. Vor dem Hintergrund dieses liberalen Selbstverständnisses hat der rechtskritische Einwand, dass gerade das liberale, freiheitliche, egalitäre Recht aus sich heraus zur Entstehung von gewaltförmigen Herrschaftsstrukturen führt, einen besonders schwerwiegenden, weil grundsätzlichen Charakter: Der Einwand richtet sich nicht einfach gegen die normative Grundprämisse des Liberalismus, nämlich dass der eigene Wille des Subjekts in seiner Frei­ heit zur Geltung kommen soll. „Die bürgerliche Gesellschaft ist der soziale Zusammenhang, der sich dadurch bildet, was die Subjekte selbst wollen“ (Menke 2015, 267). Dieses liberale Fundament bejaht Menke vielmehr zunächst auch in der Kritik des Sozialrechts, um in einem zweiten Schritt rekonstruieren zu können, auf welche Weise die Freiheit des Eigenwillens dialektisch in ihr Gegenteil umschlägt. Auch im Falle des Sozialrechts ist also wieder der Eigenwille als normatives Zentrum des bürgerlichen Rechts der kritische Ansatzpunkt, an dem die Dekonstruktion beginnt. Denn zwar entsteht die bürgerliche Gesellschaft als Produkt der freien Willensausübung der Individuen, aber darin ist sie zugleich „der soziale Zusammenhang, der sich dadurch bildet, dass die Subjek­ te so – das heißt: in der Form – wollen, wie sie rechtlich ermächtigt sind zu wollen. Diese rechtliche Determination der Form des Wollens geht der Freiheit des sozialen Zusammenhangs voraus und liegt der liberalen Antwort – der Antwort, dass die bürgerliche Gesellschaft eine freie Gesellschaft ist – undurchschaut zugrunde“ (Menke 2015, 267f.). Dieses Argument betrifft den spezifischen Charakter des Begriffs der Nor­ mativität; Menke spricht in einem anderen Zusammenhang von einem „normativitätstheoretische[n] Argument“ (Menke 2018c, 56). Es besagt, dass jede besondere Form von Normativität und damit die allgemeine Form der Normativität selbst notwendig mit einem Machtanspruch ein­

130

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

hergeht.37 Mit dieser Argumentation schließt Menke an die Macht- und Diskursanalyse Michel Foucaults an, in der sich eine grundlegende macht­ kritische Einsicht artikuliert, die Foucault wiederum von Georges Canguil­ hem übernimmt (vgl. Biebricher 2020, 209) und bereits 1974/75 in seinen Vorlesungen über Die Anormalen formuliert: Die Norm zeichnet sich Fou­ cault zufolge allgemein durch ihre Fähigkeit aus, „an Bereiche, auf die sie angewandt wird, Anforderungen zu stellen und auf sie Zwang auszuüben. Die Norm trägt mithin einen Machtan­ spruch in sich. Die Norm ist nicht einfach ein Erkenntnisraster; sie ist ein Element, von dem aus eine bestimmte Machtausübung begründet und legitimiert werden kann“ (Foucault 2019, 72). Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit im Zusammenhang des Gewaltcharak­ ters der rechtlichen Normativität angemerkt wurde, steht jede Norm in einer kritischen Distanz zu der sozialen Praxis, auf die sie Anwendung findet. Normen können niemals vollständig in den sozialen Praktiken auf­ gehen, welche sie normativ anleiten, da sie ansonsten mit diesen Praktiken ununterscheidbar zusammenfallen würden. Sie müssen vielmehr aufgrund ihres normativen Charakters, also ihrer Funktion als Form von Normati­ vität, in einem bestimmten Maß von den konkreten sozialen Praktiken abstrahieren. Man könnte formulieren: Insofern sie normativ, d.h. eine Ausdrucksform der Normativität ist, muss sich jede Norm aufgrund ihrer formalen Struktur der sozialen Praxis auch entgegensetzen können, für die sie eine orientierende Geltung beansprucht. Insofern Normen sich aber Praktiken entgegensetzen, üben sie Macht aus. Deshalb spricht Menke von der „Rechtsförmigkeit der Normativität“ (Menke 2018a, 145) und meint damit die immanenten Machtwirkungen, die mit allen Normen verbun­ den sind. Weicht die Praxis nämlich zu stark von der Norm ab, so wird die Norm im Krisenfall als Herrschaftsanspruch durchgesetzt.38

37 Vgl. zu einer alternativen Deutung des Zusammenhangs von Normativität und Macht Forst 2015. 38 In den beiden folgenden Absätzen nehme ich unmittelbaren Bezug auf einige mündliche Aussagen Menkes, die dieser in einem Podiumsgespräch mit Chris­ toph Möllers am 5. Februar 2016 im Rahmen eines Abendkolloquiums unter dem Titel „Berichte aus der Gegenwelt der Normen“ am Wissenschaftskolleg zu Berlin getroffen hat. Das Kolloquium wurde aufgezeichnet und ist hier als Video abrufbar: https://www.wiko-berlin.de/wikothek/multimedia/berichte-aus-der -gegenwelt-der-normen (zugegriffen am 30. August 2021). Inhaltlich handelt es sich also um Menkes Gedanken, die ich jedoch paraphrasiere und mit meinen eigenen Worten wiedergebe.

131

Kapitel 2

Menke unterscheidet damit innerhalb des Begriffs der Normativität noch einmal zwischen zwei entgegengesetzten Elementen und stellt damit den ambivalenten Charakter des Normativen heraus: Indem Normen be­ stimmte Dinge oder Handlungen positiv ermöglichen, müssen sie zugleich auf restriktive Weise den Rahmen festlegen, innerhalb dessen die ermög­ lichte Handlung in die Tat umgesetzt werden kann. Normen können also nur dadurch neue Handlungsräume eröffnen, dass sie gleichzeitig eine ein­ schränkende Macht ausüben, denn Normen ziehen den von ihnen eröffneten Handlungsmöglichkeiten gleichzeitig Grenzen. Jeder ermöglichende Akt, so argumentiert Menke, ist zugleich eine begrenzende Operation, weil er die Form bzw. den Rahmen dessen, wozu er ermächtigt, zugleich bestimmen und dadurch festlegen und eingrenzen muss. Aus diesem Grund erfordert die analytische Auseinandersetzung mit der Form der Normativi­ tät notwendig eine machtkritische Perspektive, die innerhalb jeder norma­ tiven Ordnung die Frage nach der damit verbundenen Herrschaft aufwirft. Normativität muss Menke zufolge also von Beginn an in der paradoxen Gleichzeitigkeit von Ermöglichung und Begrenzung verstanden werden, deren gegensätzliche Dynamik unauflösbar ist. Bereits die Form der Nor­ mativität selbst, so lautet Menkes These daher, impliziert als solche eine konstitutive Aporie. Das bedeutet, so Menke weiter, dass sich Normativität begrifflich so­ wohl aus produktiven als auch restriktiven Elementen zusammensetzt. Normativität lässt sich nach Menke überhaupt nur in diesem aporetischen Doppelcharakter denken. Das Subjekt kann zu Dingen oder Handlungen nur dadurch ermächtigt werden, dass diese Dinge oder Handlungen im selben Zuge an einer konkreten, vorgegebenen Form ausgerichtet werden. Die normative Ermächtigung setzt demnach immer die Vorschrift einer bestimmten, vorab definierten Form voraus, die vom Subjekt akzeptiert und übernommen werden muss, damit der jeweilige Inhalt der Ermächti­ gung durch das Subjekt tatsächlich in Anspruch genommen werden kann. Normativität ist in ihrer ermächtigenden Eigenschaft immer auch eine vorschreibende Macht. Das Subjekt, das normativ zu einer bestimmten Handlung ermächtigt wird, zahlt den Preis, dass es den sozialen Inhalt seiner Ermächtigung in einen zuvor festgelegten, genauer: im Akt der Ermächtigung notwendig mitgesetzten Rahmen spezifischer Grenzen und Verbote einordnen muss, an dessen Form die Ermächtigung gebunden ist. Das Subjekt wird zu einem bestimmten Inhalt also niemals in einer beliebigen Form ermächtigt. Indem Normen neue Möglichkeiten erschlie­ ßen, sind sie dazu gezwungen, im Zuge dieser Erschließung die jeweiligen Möglichkeiten näher zu bestimmen und in der Differenz zu anderen Vari­

132

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

anten oder Interpretationen dieser Möglichkeiten abzugrenzen, die unter bestimmten Umständen vielleicht auch denkbar wären, aber aus Sicht der jeweiligen Norm verboten sind. Die Notwendigkeit, in der Ermöglichung zugleich die Form des Ermöglichten zu spezifizieren, führt also dazu, dass das Recht in der Ermöglichung einer speziellen Form automatisch alternative Formgebungen aus dem Bereich der normativen Geltung und Anerkennung ausschließen muss. In dieser aporetischen Dynamik, die sich in der widersprüchlichen Ein­ heit von Ermöglichung und Begrenzung, ja Ausgrenzung (nämlich derje­ nigen, die die Norm nicht erfüllen) ausdrückt, wird die Rechtsförmigkeit von Normativität als solcher erkennbar. Da die spezifische Performanz des Sozialrechts nach Menke in der Ermöglichung von Interessen besteht, tritt in dieser Rechtsgestalt der Herrschaftscharakter der Ermöglichung pa­ radigmatisch hervor, der in der rechtlichen Vorgabe der Form des subjekti­ ven Eigenwillens angelegt ist. Im Sozialrecht, so wurde bereits erläutert, geht es um die positive Ermöglichung von sozialen Chancen, die sich das Subjekt durch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben aneignet. „Das Sozialrecht sichert das private Vermögen der Subjekte, ihre Interessen zu verwirklichen, indem sie sie zur Teilhabe am Sozialen ermächtigt“ (Menke 2015, 293). In dieser normativen Ermächtigung manifestiert sich jedoch zugleich die beschriebene Aporie der Normativität, da in jeder sozialrecht­ lichen Operation autoritativ festgelegt wird, zu welchen Konditionen das Subjekt an der Gesellschaft teilhaben kann. „Es gibt die Teilhabe am So­ zialen aber nur zu Bedingungen: Die soziale Ermächtigung zum Subjekt bedeutet die soziale Normalisierung des Individuums“ (Menke 2015, 293). Das Sozialrecht unterwirft das Subjekt im Moment seiner sozialen Er­ mächtigung zum gesellschaftlichen Teilnehmer den normativen Formbe­ stimmungen der subjektiven Rechte. Genauer: Soziale Rechte passen die Teilnahme des Subjekts an der Gesellschaft an die sozialrechtliche Norma­ tivität an, d.h. sie passen das gesellschaftliche Leben des Subjekts so an die sozialen Normen an, wie sie durch das Sozialrecht definiert werden. Darin ermöglichen soziale Rechte überhaupt erst die Herrschaft der Ge­ sellschaft über das Subjekt. In Menkes Worten: Das Sozialrecht schafft in der Ermächtigung des Individuums gegenüber dem Sozialen zugleich die Herrschaft des Sozialen über das Individuum in Gestalt „der Notwen­ digkeit der sozialen Existenz, der Macht sozialer Formen und Normen“ (Menke 2018a, 120). Die Frage, warum das Soziale an sich überhaupt einer herrschaftskritischen Reflexion bedarf, wird durch das normativitätstheoretische Argu­ ment beantwortet, dem zufolge die Struktur der Normativität als solche

133

Kapitel 2

einer aporetischen Logik gehorcht: Das Soziale erfordert, sozialphiloso­ phisch gesehen, nicht erst dann eine herrschaftskritische Perspektive, wenn es intern durch gewaltförmige und ungerechte Herrschaftsverhältnisse ge­ kennzeichnet ist, also wenn z.B. die konkrete Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft durch eine extreme Ungleichverteilung politischer, ökonomi­ scher und gesellschaftlicher Macht in einen normativen Widerspruch mit den liberalen Ideen von Freiheit und Gleichheit gerät. Dann könnte sich die Herrschaftskritik des Sozialen tatsächlich auf die ungerechte Einrich­ tung konkreter Gesellschaften beschränken. Die normativitätstheoretische Pointe besteht vielmehr darin anzuerkennen, dass sich auch freiheitlichegalitäre Ordnungen des Sozialen wie der Liberalismus – unabhängig von der Frage nach dem gerechten oder ungerechten Charakter ihrer Struktu­ ren und Praktiken – durch einen grundsätzlichen und notwendigen Herr­ schaftscharakter auszeichnen, welcher der Kritik bedarf; und zwar gerade insofern sie soziale Ordnungen, d.h. Formen des Sozialen sind. Nicht erst die inhaltliche Bestimmung der jeweiligen Gesellschaftsordnung als gerecht oder ungerecht führt zu einer Kritik der Herrschaft, sondern es ist, dem vorausliegend, die Form des Sozialen selbst, die – als Form – eine irreduzi­ ble Herrschaft ausübt, indem sie die Bedingungen der Teilnahme an der Gesellschaft auf einer grundlegenden, nämlich formalen Stufe des Sozialen doktrinär diktiert. In dieser formalen Hinsicht gilt dies für freiheitliche ebenso wie für autoritäre, für gerechte wie für ungerechte Regime. Das bedeutet, dass jede Gesellschaft unabhängig von ihrer inhaltlichen Bestimmung die Freiheit, welche sie sozial ermöglicht, immer zugleich aufgrund ihrer Form als soziale Ordnung beschränkt. Denn Freiheit gibt es, so lautet übereinstimmend eine Grundthese der Kritischen Theorie im Anschluss an Hegel, einerseits nur im Sozialen. Niemand ist einfach für sich selbst frei, sondern die Freiheit des Einzelnen verwirklicht sich nur im Sozialen; die Freiheit hat einen grundsätzlich sozialen Charakter, sie ist soziale Freiheit (vgl. dazu Honneth 2011, 81–118). Andererseits aber ist die gesellschaftliche Gestalt der Freiheit, wie Menke im Anschluss an Durkheim betont, gleichzeitig die Herrschaft des Sozialen über das Indivi­ duum. Die Gesellschaft ist immer beides zugleich: zum einen der Ort der Verwirklichung der Freiheit, also das Medium der Befreiung und Emanzi­ pation; zum anderen die Institutionalisierung der Freiheit, welche als über­ greifende Ordnung des Sozialen – also aufgrund ihres Ordnungscharakters – die Freiheit begrenzt, da sie als allgemeine Ordnung stets die besonderen Kämpfe um Befreiung und Emanzipation beschränken und kanalisieren muss (vgl. Menke 2018c, 48; 121).

134

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

Durch ihre gesellschaftliche Institutionalisierung verselbstständigt sich die Freiheit gegenüber ihrer politischen Entstehung, also den besonderen Kämpfen um Befreiung, und verkehrt sich in den Zwang des Sozialen, wie Menke im Anschluss an Weber formuliert. In Anlehnung an Durkheim spricht Menke in diesem Zusammenhang vom „Despotismus“ (Menke 2015, 246) der Gesellschaft und bezeichnet damit den Zwang zur individu­ ellen Assimilation an die Macht sozialer Normen. Durkheim problemati­ siert in seiner Physik der Sitten und des Rechts (vgl. Durkheim 1991), auf die Menke an verschiedenen Stellen seiner Untersuchung Bezug nimmt und die eine Soziologie der Moral entfalten soll, inwieweit der Einzelne durch die Teilnahme am Sozialen verändert und unterworfen wird: „Eben weil die Gruppe eine moralische Kraft darstellt, die der ihrer Glieder so deutlich überlegen ist, strebt sie ganz unvermeidlich da­ nach, die Herrschaft über diese Glieder zu erlangen. Und denen bleibt gar nichts anderes übrig, als sich in diese Abhängigkeit zu fügen. Wir haben hier ein Gesetz der moralischen Mechanik vor uns, das ebenso unausweichlich ist wie die Gesetze der physikalischen Mechanik. Jede Gruppe, die eine Zwangsherrschaft über ihre Mitglieder ausübt, strebt danach, sie nach ihrem Bilde zu formen, ihnen ihre Art zu denken und zu handeln aufzuzwingen und jegliche Abweichung zu verhin­ dern. Jede Gesellschaft ist despotisch, soweit nicht etwas von außen hinzutritt, das ihren Despotismus in Grenzen hält“ (Durkheim 1991, 89f.). Nach Durkheim nimmt die Macht des Sozialen eine gleichsam naturhafte Gestalt an, sie übt einen Zwang des Kollektivs über den Einzelnen in Form einer ‚moralischen Mechanik‘ aus. Das Subjekt erfährt die sozialen Normen, denen es mechanistisch unterworfen wird, als unhintergehbare Naturgesetze, denen es als bloß Einzelnes nichts entgegenzusetzen hat. Die Herrschaftsimplikationen der gesellschaftlichen Normierung des Individu­ ums, die Durkheim als eine ‚moralische Mechanik‘ herausarbeitet, sind auf andere Weise von Michel Foucault unter den Stichworten der Diszipli­ nierung und Normalisierung in den Blick genommen worden. Foucault distanziert sich in seinen Analysen dieser Begriffe jedoch von Durkheims mechanistischem Vokabular und überträgt die unterschiedlichen Phäno­ mene der Disziplin und der Normalisierung in den dynamischeren Rah­ men seiner machttheoretischen Untersuchungen, genauer: in den Rahmen dessen, was er in einer terminologischen Neuschöpfung als Bio-Macht

135

Kapitel 2

bzw. Biopolitik bezeichnen wird.39 Dadurch bezieht sich Foucault struk­ turell ebenfalls auf den Herrschaftscharakter der sozialen Normierung, beschäftigt sich aber ausgehend von seinem biopolitischen Ansatz auf der inhaltlichen Ebene mit anderen gesellschaftlichen Konstellationen und po­ litischen Problemzusammenhängen als Durkheim. Foucaults Konzeption der biopolitischen Macht wird als sozialtheoretischer Kontext der Norma­ lisierung und Disziplinierung in Kapitel 3 ausführlich diskutiert. Zunächst soll der Fokus primär auf Menkes Ausarbeitung des Begriffs der Normali­ sierung als sozialrechtlich generierter Herrschaftsfigur liegen. Menke greift in seiner Rechtskritik Foucaults Begriff der Disziplin auf und wendet ihn auf das Rechtssubjekt an. „Das moderne Recht erzieht nicht mehr, sondern es diszipliniert“ (Menke 2015, 88). Der bereits im Vorhergehenden problematisierten Veräußerlichung des modernen Rechts korrespondiert ein Disziplinierungszwang im Inneren des Rechtssubjekts. „Die Äußerlichkeit des modernen Rechts wird zur Innerlichkeit des mo­ dernen Subjekts“ (Menke 2015, 88). Das Subjekt muss die rechtliche Ver­ äußerlichung in seinem Inneren wiederholen: „Es muss die äußerliche Regulierungsweise des Rechts gegenüber dem natürlichen Wollen in (und durch) sich selbst ausüben. Es muss sich selbst äußerlich regieren“ (Men­

39 Ich treffe im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine Differenzierung zwischen ‚Biopolitik‘ und ‚Biomacht‘, da auch Foucault selbst in seinem Werk nicht klar zwischen beiden Begriffen unterscheidet. ‚Biopolitik‘ und Biomacht‘ sind vielmehr austauschbare Begriffe, beide bezeichnen einen spezifisch modernen Machttypus, den Foucault von der klassischen, souveränen Macht abhebt. Der Hauptunterschied zwischen souveräner und biopolitischer Macht, der im Verlauf dieser Arbeit weiter ausgefaltet wird, besteht dabei in der Bezugsform beider Machtformen auf das Leben: Während die souveräne Macht sich negativ bzw. repressiv (bspw. strafend oder tötend) auf das Leben von Untertanen bezieht, geht es in der Biomacht um die Steigerung und Förderung von individuellen und gesellschaftlichen Lebenspotenzialen. Hierin lehne ich mich u.a. an die Diagnose von Thomas Lemke an, der kon­ statiert, dass „[b]ei Foucault sich keine systematische Unterscheidung zwischen ‚Biomacht‘ und ‚Biopolitik‘ [findet], beide Begriffe werden weitgehend synonym verwendet“ (Lemke 2003, 161). Auch Maria Muhle betont bereits zu Anfang ihrer wegweisenden Studie zur Genealogie der Biopolitik, dass in ihrer „Arbeit keine Unterscheidung zwischen den Begriffen Biopolitik und Biomacht getroffen [wird], da beide eine Form der Macht (und nicht der Politik) bezeichnen, die sich positiv auf das Leben bezieht, indem sie es reguliert und so regierbar macht“ (Muhle 2013a, 12). Vgl. dagegen zu einem Differenzierungsvorschlag exempla­ risch Graefe 2008, 8ff; außerdem Pieper/Atzert/Karakayali/Tsianos 2011a, 8; 23.

136

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

ke 2015, 88).40 In dieser Selbstdisziplinierung des Individuums schlägt sich der normative Regierungsanspruch subjektiver Rechte im einzelnen Subjekt nieder; sie bildet somit die individuelle Entsprechung zur sozia­ len Normalisierung. Dass das moderne Subjekt sich selbst disziplinieren muss, liegt daran, dass es unter den Bedingungen der subjektiven Rechte gezwungen ist, sich der ‚Macht sozialer Formen und Normen‘ (Menke) anzupassen. Die Normalisierung – also subjektiv gesehen: sich normalisie­ ren zu lassen – fungiert als notwendige Bedingung, um überhaupt ein Rechtssubjekt werden zu können.41 Was Menke speziell damit meint, soll im folgenden Kapitel noch einmal zusammenfassend herausgearbeitet wer­ den. 2.3.3 Das Sozialrecht als Bedingung der gesellschaftlichen Normalisierung des Subjekts Der Normalisierungszwang zeichnet das Sozialrecht nach Menke neben dem Privatrecht als die zweite rechtliche Grundlage der bürgerlichen Herr­ schaft aus. Die normalisierende Herrschaft baut dabei auf der sozialen Teilhabe des Subjekts auf. Menke bezeichnet sie deshalb auch als institu­ tionelle Herrschaft, da die Normalisierung von den gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen ausgeht und über die einzelnen Individuen ausge­ übt wird: „Herrschaft durch Teilhabe wird ausgeübt in der asymmetrischen Relati­ on der Mitgliedschaft, zwischen den einzelnen und dem Allgemeinen; indem die soziale Einrichtung die einzelnen zur Teilhabe berechtigt, gewinnt sie die Macht, deren Bedingungen zu definieren. Herrschaft

40 Einige Zeilen später heißt es außerdem: „Der Anspruch des modernen Rechts an das Subjekt lautet vielmehr, dass es in seinem Inneren selbst die äußerliche Herrschaft des Rechts über das Natürliche – über sich als natürliches – auszuüben fähig wird; dass es die Macht über sich erwirbt, sich in rechtliches Wollen und natürliches Wollen so zu spalten, dass sein rechtliches Wollen sein natürliches Wollen zugleich begrenzt und freigibt“ (Menke 2015, 88). Das durch subjektive Rechte ermächtigte Subjekt ist also in seiner Ermächtigung zugleich „das Subjekt der Selbstdisziplin: das Subjekt, das seine eigene Natur selbst beherrschen kann“ (Menke 2015, 88). 41 Denn um ein rechtlich anerkanntes Subjekt zu werden, muss es sich den norma­ lisierenden Vorgaben der subjektiven Rechte beugen: „Die moderne Figur der Rechte etabliert die Differenz von Innen und Außen. Aber sie etabliert diese Differenz im Individuum (das dadurch zum Subjekt wird)“ (Menke 2015, 88).

137

Kapitel 2

durch Teilhabe ist Herrschaft-in – institutionelle Herrschaft“ (Menke 2015, 290). Im Unterschied zur Herrschaftsform der Ausbeutung, die Menke in Be­ zug auf das Privatrecht herausarbeitet und die ihm zufolge „zwischen den sozialen Teilen oder Gliedern“ ausgeübt wird, vollzieht sich die sozial­ rechtliche Herrschaft der Normalisierung „durch soziale Mitgliedschaft“ (Menke 2015, 290). Aus diesem Grund bezeichnet Menke die Herrschaft der Ausbeutung als „Herrschaft-zwischen – intersegmentäre Herrschaft“ und setzt sie dadurch in ihrer sozialen Dimensionierung gegenüber der institu­ tionellen Normalisierung ab. Während Normalisierungspraktiken in ihrer sozialtheoretischen Beschreibung vornehmlich vertikal strukturiert sind, lassen sich Ausbeutungsverhältnisse primär horizontal begreifen (vgl. Men­ ke 2015, 290).42 Dabei ist die institutionelle Normalisierungsherrschaft der intersegmentären Ausbeutungsherrschaft sowohl rechtstheoretisch als auch sozialontologisch vorgelagert, denn das Sozialrecht übernimmt in sei­ nen normalisierenden Operationen die Aufgabe, den Zugang der Subjekte zum Recht zu regulieren und darin eben auch die Teilhabe der Subjekte an der rechtlich verfassten Gesellschaft zu kontrollieren. Die privatrechtli­ che Berechtigung der Willkür bringt einerseits die Freiheit des Rechtssub­ jekts als für das Recht unbestimmte hervor, aber diese „Unbestimmtheit ist selbst nicht unbestimmt“ (Menke 2015, 291), denn die unbestimmte Willkürfreiheit wird ihrerseits nur zu (sozial-)rechtlich definierten Bedin­ gungen gewährleistet. Private Rechte statten das Rechtssubjekt mit der Macht aus, andere aus seiner privaten Sphäre auszuschließen. Für seine privatrechtlich gesicherte Handlung muss das Subjekt keine weitere Re­ chenschaft ablegen, da es sich per definitionem um die eigene, privat getrof­ fene Entscheidung des Subjekts handelt. Als Ausdruck des immunisierten Eigenwillens bedarf die Handlung keiner Rechtfertigung, ja sie ist aus der Perspektive des Rechts einer normativen Beurteilung anhand von ver­ allgemeinerbaren Gründen nicht einmal fähig. In der Privatheit wird die Freiheit negativ, d.h. als Willkür, verstanden.

42 An dieser Stelle muss hinzugefügt werden, dass Menke darauf hinweist, dass die jeweiligen Zuordnungen (also Ausbeutung als intersegmentäre Herrschaft auf der Basis von Willkürberechtigung einerseits, Normalisierung als institutionelle Herrschaft auf der Basis von Teilhabeberechtigung andererseits) in ihrer sugge­ rierten Geschlossenheit und starren Fixierung nicht zutreffen, sondern vielmehr dynamisch und fluide sind und sich gegenseitig ergänzen und überlagern (vgl. dazu im Detail Menke 2015, 290–296).

138

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

Die Willkür selbst ist aber andererseits nicht natürlich gegeben, sondern stellt ihrerseits das Produkt einer rechtlichen Formgebung dar, genauer: sie ist selbst eine sozialrechtliche Formierung. Das zeigt sich daran, dass die eigenen Handlungen des Subjekts nur dann zum Gegenstand recht­ licher Ermächtigung werden können, wenn sie sich an die Formbestim­ mung der Willkür anpassen. Nur als willkürliche Handlungen können sie auch als die eigenen Handlungen des Subjekts aufgefasst werden, denn das Privatrecht bindet den Eigenwillen des Subjekts an dessen systematische Bestimmung als Willkürfreiheit. Nur als solcher kann er als berechtigter zählen. Zwar eröffnet die Willkür nach innen hin einen Raum der norma­ tiven Indifferenz und beliebigen Entscheidung. Aber dieser Raum wird seinerseits (sozial-)rechtlich gesetzt und kontrolliert. Denn es sind vor allem die vom Sozialrecht ausgehenden sozialstaatlichen und sozialpoliti­ schen Bestimmungen, die rechtlich definieren, wie die soziale Teilhabe des Einzelnen an der bürgerlichen Gesellschaft jeweils auszusehen hat und ausgeübt werden kann. Insofern das Sozialrecht den verbindlichen Ordnungsrahmen für die öffentlichen Teilhabemöglichkeiten der Indivi­ duen am Sozialen absteckt, entscheidet es also zugleich darüber, wie und unter welchen Bedingungen die privaten Interessen des einzelnen Subjekts gesellschaftlich tatsächlich verwirklicht werden können. Die willkürlichen Entscheidungen, die das Subjekt im privaten Raum treffen mag, werden demnach im Zuge ihrer gesellschaftlichen Realisie­ rung nichtsdestotrotz normiert. Die äußere Form der Willkür muss mit an­ deren Worten durch die Rechtssubjekte so übernommen werden, wie sie ist, d.h. so, wie sie durch das Recht auferlegt wird. Die Subjekte der subjek­ tiven Rechte müssen sie übernehmen, um rechtlich ermächtigt werden zu können. Die Form der Willkür wird dabei sozialrechtlich vorgeschrieben und steht demnach für die Rechtssubjekte nicht mehr zur Verhandlung. „Denn Berechtigung erlangen ihre Handlungen nur, indem sie die Form­ bestimmung annehmen, Vollzüge von Willkür zu sein. Diese Form ist die Bedingung ihrer rechtlichen Geltung“ (Menke 2015, 293). Bevor bzw. indem das Subjekt also zur Willkür ermächtigt wird, muss es die Herrschaft akzeptieren, „die die Rechtsordnung über ihre Mitglieder ausübt, indem sie deren Teilhabe am Recht normiert (und dadurch nor­ malisiert)“ (ebd.). Diese vom Sozialrecht ausgehende Normalisierung stellt somit die grundlegende Bedingung dafür dar, um grundsätzlich an der Ge­ sellschaft partizipieren und ein rechtlicher Teilnehmer werden zu können. Solange die privat gewählten Ziele des Subjekts mit den sozialrechtlich ge­ währleisteten Möglichkeiten der sozialen Teilhabe übereinstimmen, bleibt die Herrschaft der Normalisierung latent und unsichtbar. Sobald das Sub­

139

Kapitel 2

jekt aber im Zuge der gesellschaftlichen Verwirklichung seiner privaten Interessen und Ziele „die Grenzziehung rechtlicher Gleichheit“ (Menke 2015, 292) übertritt, offenbart sich die sozialrechtliche Ermöglichung sub­ jektiver Interessen als formierender und daher beschränkender Zwang: „Diese Bedingung bleibt aber latent, solange sich das Wollen des ein­ zelnen, von selbst oder durch Zufall, in den Grenzen hält, die das neue Grundprinzip der Gleichheit ihm zieht. Es enthüllt sich als Herrschaft, als Normalisierung durch Normierung, wenn es zum Konflikt kommt. Dann manifestiert sich die Herrschaft des Rechts in elementarer und eindeutiger Weise: in der Behauptung – siehe Rawls –, dass es in Wahr­ heit gar keinen Konflikt gibt. Genau das ist die Bedingung, an die das Recht seine Ermächtigung der Willkür der Subjekte knüpft: dass sie anerkennen, dass sie, eben weil ihre Freiheit Willkür ist, keine Macht gegen die rechtliche Begrenzung mehr haben, mit dem Recht also gar nicht in Konflikt geraten können (außer sie missverstehen, was sie sind)“ (Menke 2015, 293). Die Willkür, zu der das Subjekt im Medium der privaten Rechte ermäch­ tigt wird, bildet aufgrund der sozialrechtlichen Formbestimmung, die sie impliziert, zugleich das Element der Unterwerfung des Rechtssubjekts un­ ter die normalisierende Herrschaft des bürgerlichen Rechts. In der Berech­ tigung der Willkür abstrahiert das Recht notwendig von der inhaltlichen Gestalt der willkürlich gesetzten Ziele. Denn: „Seine Ziele willkürlich zu wählen heißt zugleich, jederzeit andere wählen zu können“ (Menke 2015, 292).43 Das bedeutet einerseits, dass sich das bürgerliche Subjekt potenziell gleichgültig gegenüber der normativen Qualität seiner privaten Ziele ver­ hält; andererseits wird dem Subjekt damit jedoch zugleich abverlangt, sich im Konfliktfall für ein anderes Ziel zu entscheiden, d.h. sein ursprüngli­ ches privates Ziel durch ein anderes zu ersetzen. Darin zeigt sich, dass auch

43 Diese Abstraktion gehört zur genuinen Struktur der subjektiven Rechte; ihr Be­ griff kann nicht unabhängig von dieser Abstraktheit gedacht werden, da sie we­ sentlich für die Bestimmung der subjektiven Willkür ist: „Das eine frei gewählte Ziel ist so gut wie das andere (denn das Gute ist für das Willkürsubjekt nur das frei Gewählte). Was immer es wählt, es ist seine freie Wahl. Aus der Sicht des Rechts, das mittels subjektiver Rechte regiert, kann es keine Begrenzung im Namen der Gleichheit geben, die für das Subjekt als solche schlechthin inakzeptabel, unerträglich ist“ (Menke 2015, 292). Das bürgerliche Recht bezieht sich daher nach Menke auf die Willkürfreiheit des Subjekts ausschließlich unter quantitativen und niemals unter qualitativen Gesichtspunkten (vgl. Menke 2015, 292).

140

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

das bürgerliche Recht eine indifferente Haltung gegenüber dem konkreten Inhalt der subjektiv jeweils gesetzten Ziele einnimmt. Die normalisierende Herrschaft ist also bereits in der privatrechtlichen Ermächtigung zum Will­ kürsubjekt angelegt: „Die Ermächtigung der Willkür normalisiert, denn sie macht die Subjekte zu unbegrenzt anpassungsfähigen, ja anpassungs­ willigen Gliedern des Rechts“ (Menke 2015, 293). In dieser Assimilation an die Macht sozialer Normen kommt der spezi­ fisch moderne Regierungscharakter des bürgerlichen Rechts zum Ausdruck. Menke spricht in diesem Zusammenhang von der „beständigen, flexiblen Adaption des Subjekts an die Grenzen der Gleichheit“ (Menke 2015, 292). Damit ist gemeint, dass die sozialrechtliche Normalisierung auf die verschiedenen sozialen Sphären der bürgerlichen Gesellschaft, in denen sich die sozialen Teilhabemöglichkeiten gesellschaftlich entfalten, „nur von außen einwirken“ (Menke 2015, 246) kann. Das bürgerliche Recht bezieht sich im Medium der sozialen Rechte deshalb rein äußerlich auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären, weil es diese Sphären als Ausdruck des subjektiven Eigenwillens versteht, der gegenüber der sub­ stanziellen – also inneren – normativen Transformation immunisiert ist. In seiner Anpassungsleistung offenbart sich das moderne Recht daher als „der Anfang der ‚Regierung‘“ (Menke 2015, 244).44 Die Regierung „ist ein Medium der Anpassung: der Anpassung der Subjekte, deren Eigenwillen sie berechtigt, an die Normativität der sozialen Sphären (oder ein Medium der ‚Normalisierung‘ der Subjekte)“ (Menke 2015, 246). Normalisierend ist die rechtliche Regierung also deshalb, weil sie das Subjekt in seiner sozialen Teilhabe dazu zwingt, sich in Entsprechung zu den sozialen Normen zu verhalten, die sich innerhalb der jeweiligen sozia­ len Sphären eigendynamisch herausgebildet haben (vgl. Menke 2015, 246). Das bedeutet, dass die durch die sozialen Teilhaberechte ins Werk gesetzte Regierung die Rechtssubjekte diszipliniert, „denn indem diese Rechte dem einzelnen die Möglichkeit der Teilhabe am Sozialen – am Sozialen, so wie es ist – eröffnen, binden diese Rechte den einzelnen an dessen Nor­ mativität“ (Menke 2015, 247). In dieser Bestimmung des Sozialrechts als disziplinierende und normalisierende Regierung weist Menke die sozialen Teilhaberechte – gegen Marx und mit Foucault – als die ‚andre Form‘ der sozialen Herrschaft innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aus. Denn

44 Vgl. dazu: „Die Erklärung der Grundrechte ist daher der Anfang der ‚Regierung‘ – und das Ende der traditionellen (‚pastoralen‘) Herrschaft, die die Macht hat, das Innere zu durchdringen, um das Denken und Wollen der Untertanen zu ihrem Heil zu lenken“ (Menke 2015, 244).

141

Kapitel 2

die rechtliche Regierung eröffnet nicht nur in einem produktiven Sinn Möglichkeiten der aktiven sozialen Teilhabe des Subjekts, sondern „sie muss die sozialen Teilhabemöglichkeiten durch beständige Anpassung an die gesellschaftlichen Entwicklungen sichern“ (Menke 2015, 246). Deshalb steht das bürgerliche Recht in dieser Hinsicht zur sozialen Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft notwendig in einem Verhältnis der Nachträglichkeit. „Die rechtliche Sicherung der sozialen Teilhabe ver­ hält sich affirmativ zu der sozialen Ordnung“ (Menke 2015, 246), die sie als natürlich gegeben voraussetzt. Das Sozialrecht ist also konstitutiv für die Form der bürgerlichen Herrschaft: Marx hatte die herrschaftskonstitutive Logik des bürgerlichen Rechts im historischen Kontext seiner Zeit zunächst und ausschließlich im Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsverhältnisse verortet. Menke fügt der Marxschen Diagnose auf der Basis von Foucaults machtkritischen Analysen der Normalisierungsge­ sellschaften hinzu, dass sich der Herrschaftscharakter des modernen Rechts nicht erst in der kapitalistischen Produktionsweise niederschlägt, sondern bereits – dem vorhergehend – „in Kommunikations- oder Partizipationsver­ hältnissen“ (Menke 2015, 286). Die dialektische Umschlagslogik von rechtlicher Normativität in soziale Herrschaft weist Menke in Bezug auf das Sozialrecht dadurch nach, dass er mit Foucault demonstriert, dass „es gar keine soziale Kommunikation und Partizipation ohne Disziplinierung, Formierung und Normalisierung gibt“ (Menke 2015, 286). Die Herrschaft des Sozialrechts verwirklicht sich vor diesem Hintergrund gerade dadurch, dass die Subjekte ihre Rechte auf soziale Teilhabe in Anspruch nehmen. Das Subjekt ist als sozialer Teilneh­ mer an der bürgerlichen Gesellschaft, also im Kern seiner Subjektivität, immer schon der normalisierenden Herrschaft unterworfen: „Es ist diese Gestalt sozialer Herrschaft – die normalisierende Herr­ schaft, die sich durch die soziale Kommunikation und Partizipation vollzieht –, die durch die sozialistisch geforderten Rechte auf soziale Teilhabe, Existenz oder Leben ermöglicht und hervorgebracht wird: (…) so gibt es die Herrschaft der Gesellschaft über die Individuen nur durch die sozialrechtlichen Ansprüche auf ihr Vermögen der Teilhabe. Daher sind die sozialrechtlichen Ansprüche auf das Vermögen der Teilhabe zugleich – widerspruchslos, das heißt: ohne dass dies einen Widerspruch bedeutete – genau die normativen Mechanismen, durch die sich die zweite Gestalt sozialer Herrschaft in der bürgerlichen Ge­ sellschaft, die Herrschaft des Sozialen über die Individuen, vollzieht“ (Menke 2015, 286).

142

2.3 Menkes Kritik des Sozialrechts

Die rechtliche Regierungspraxis erschöpft sich jedoch nicht in den nor­ malisierenden Operationen des Sozialrechts, also in der disziplinierenden Anpassung der Subjekte an die bestehenden sozialen Institutionen, Appa­ rate und Diskurse, durch die das Subjekt an der bürgerlichen Gesellschaft partizipieren kann. Die Regierungsaktivität erstreckt sich vielmehr über die Normalisierung der Subjekte hinaus auf das Austarieren von privatund sozialrechtlichen Ansprüchen selbst. Menkes Analyse zufolge stehen nämlich Privat- und Sozialrecht als die beiden grundlegenden Gestalten des bürgerlichen Rechts in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinan­ der. Denn die permanente Tendenz der sozialrechtlichen Normalisierung, die sozialen „‚Mitglieder völlig zu absorbieren‘“ (Menke 2015, 247), steht im Konflikt mit der privatrechtlichen Idee der Privatheit, innerhalb derer die Subjekte beliebige Ziele willkürlich, d.h. in normativer Indifferenz sollen wählen können. Die disziplinarische Anpassung der Subjekte an das soziale Ordnungsgefüge „bedroht die Willkür der Subjekte – die Fähigkeit zur freien Wahl ihrer Ziele. Um diese Fähigkeit geht es in der Sicherung ihrer privaten Sphäre“ (Menke 2015, 246). Das bedeutet, dass die Form der subjektiven Rechte in sich selbst wider­ sprüchlich ist, denn ihre beiden Ausformungen in Privat- und Sozialrecht schließen einander aus und folgen einer gegensätzlichen Logik. Da die Legalisierung des Eigenwillens sich in die zwei Elemente der privatrechtli­ chen Erlaubnis der Willkür und der sozialrechtlichen Ermöglichung von Interessen aufspaltet, liegt der Form der subjektiven Rechte eine rechts­ praktische Dialektik zugrunde. Denn da beide Rechtsgestalten auf dasselbe normative Fundament des subjektiven Eigenwillens rekurrieren, gleichzei­ tig jedoch einander notwendig in ihrer rechtlichen Performanz und sozia­ len Funktionalität widerstreben, lässt sich der Konflikt, der im Inneren des bürgerlichen Rechts schwelt, nicht rechtsimmanent auflösen.45 Der moderne Staat ist in einem rechtstheoretischen Dilemma gefangen: „Die Aufgabe seines Regierens ist unbegrenzt, weil die Form der sub­ jektiven Rechte sich gegen sich selbst richtet: weil die eine Gestalt der subjektiven Rechte wieder auflöst, was die andere – im Namen

45 Vgl. dazu: „Denn in der Praxis kommen sich diese beiden rechtlichen Siche­ rungsregime notwendigerweise in die Quere. Die rechtliche Sicherung der einen Dimension des Eigenwillens gefährdet die der anderen, ruft daher verstärkte Anstrengungen der zur rechtlichen Sicherung dieser anderen Dimension hervor, die wiederum die der ersten gefährdet, so dass diese verstärkt zu sichern ist, usf. Die Steigerung der Regierung der Subjekte folgt aus dem Kampf der beiden Grundformen ihrer (Eigentums-)Rechte“ (Menke 2015, 245).

143

Kapitel 2

desselben Prinzips: des subjektiven Eigenwillens – hervorbringt. Damit wird das Subjekt des Eigenwillens zum Gegenstand eines endlosen Re­ gierungshandelns, in dem immer neue Rechte erfunden werden müs­ sen, um die freiheitszerstörerischen Effekte der alten, anderen Rechte aufzufangen“ (Menke 2015, 247). Während es privatrechtlich darum geht, dass das Subjekt seinen Willen unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben und Einflüssen durchsetzt, wird dasselbe subjektive Wollen im Kontext des Sozialrechts wiederum an die gesellschaftliche Normativität angepasst und eingeschränkt. „Die Grenze der Regulierungen liegt im Recht, dessen Geltung selbst wiederum mit dem Appell an feinere Kontrollmechanismen begrenzt wird“ (Vogl 2015, 62f.). Diese Logik zeichnet die Regierungspraxis des bürgerlichen Rechts als seine dauerhafte Paradoxie aus. „Die Autorisierung des Eigen­ willens durch die Form der subjektiven Rechte – so die liberale Apologie – bedeutet die rechtliche Emanzipation des Subjekts“ (Menke 2015, 249). Aber der emanzipatorische Sinn der subjektiven Rechte – nämlich das Subjekt so weit wie möglich von Herrschaft und Zwang zu befreien – verkehrt sich auf der rechtspraktischen Ebene in die Unterwerfung des Subjekts unter das rechtliche Regierungshandeln, weil der Eigenwille, der durch die subjektiven Rechte geschützt werden soll, in zwei irreduzible, aber gleichzeitig inkommensurable Komponenten zerfällt.46 Die Proliferation dieser Regierungstätigkeit des bürgerlichen Rechts, die Menke rechtskritisch auf die ‚soziale Logik‘ der sozialen Rechte zurück­ führt und damit als rechtliche Pathologie kritisiert, hat Michel Foucault als „die Rückseite der rechtlichen und politischen Strukturen der Reprä­ sentation“ (Foucault 2019, 70f.) bezeichnet und darin als „Bedingung des Funktionierens und der Wirksamkeit dieser Apparate“ (Foucault 2019, 71)

46 Dass die Emanzipation in Unterwerfung umschlägt, liegt wiederum exakt an der naturalisierenden Struktur der subjektiven Rechte. Indem sie ihn legalisieren, statten subjektive Rechte den Eigenwillen mit einer naturhaften Geltungsmacht aus, die in ihrer Abstraktheit zum Ankerpunkt für die Entstehung neuer Herr­ schaftsverhältnisse und Regierungspraktiken avanciert: „Indem es die politische Teilnahme an der Rechtserzeugung in die Form subjektiver Rechte bringt, wird sie zum bloßen Medium der privaten Durchsetzung des eigenen Willens. Das lässt die liberale Gleichung (rechtliche Ermächtigung = subjektive Emanzipation) zerbrechen: Emanzipation bedeutet nicht bloß, seinen Eigenwillen geltend ma­ chen zu können. Aber mehr als die Geltung des Eigenwillens kann die Ermächti­ gung durch subjektive Rechte nicht erreichen. Das ist auch der Grund, aus dem die Ermächtigung durch subjektive Rechte eine noch nie gekannte Steigerung der Regierungsmacht hervorbringt“ (Menke 2015, 250).

144

Übergang: Das bürgerliche Recht als Subjektivierungsform

verstanden. Und er fügt hinzu: „Worauf zielt dieses typische Dispositiv ab? Auf etwas, das man, wie ich denke, ‚Normalisierung‘ nennen kann“ (ebd.). Foucault hat die Begriffe der Normalisierung und der Normalisie­ rungsgesellschaft in seinen Arbeiten der 1970er Jahre geprägt und dabei im unmittelbaren Zusammenhang mit der Entstehung der Biopolitik als vorherrschender Machtform in der Moderne eingeordnet. Im Verlauf der folgenden Überlegungen soll deshalb Menkes Denken und seine Verwen­ dung des Normalisierungsbegriffs ausdrücklicher in den Kontext der Fou­ caultschen Diskursanalyse gestellt werden, dem das Konzept der Normali­ sierung ursprünglich entstammt. Zuvor soll jedoch in einer kurzen Über­ leitung versucht werden, die zentrale Pointe von Menkes rechtskritischen Analysen, wie sie im bisherigen Verlauf rekonstruiert worden sind, zu bündeln und zuzuspitzen, und zwar mit Blick auf das bürgerliche Recht als Subjektivierungsregime. Auf dieser Grundlage möchte ich mich dann im nächsten Teil zunächst mit dem systematischen Vergleich der philoso­ phischen Konzepte Menkes und Foucaults beschäftigen, um daraufhin das Programm einer Kritik biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht in seinen Grundlinien zu entfalten. Übergang: Das bürgerliche Recht als Subjektivierungsform In den vorhergehenden Kapiteln wurde die Dialektik von Beherrschung und Berechtigung, welche den ideologischen Charakter des bürgerlichen Rechts ausmacht, in seinen beiden grundlegenden Erscheinungsformen, nämlich im Privat- und im Sozialrecht, konkretisiert. Beide Rechtsgestal­ ten sichern aus unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Richtungen die subjektiven Rechte des Einzelnen, die das moderne Recht als seine unhin­ tergehbare normative Grundlage deklariert. Darin bringen sie die Grund­ idee des bürgerlichen Rechtssystems zum Ausdruck, nämlich den Schutz des subjektiven Eigenwillens durch dessen Legalisierung als Natürlichen. Dabei wurde in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich erläutert, in­ wiefern beide Rechtskonzeptionen durch die jeweils spezifische Art und Weise, in der sie den Eigenwillen rechtlich zur Geltung bringen, unfrei­ willig gesellschaftliche Herrschaftsdynamiken produzieren, die den Eigen­ willen paradoxerweise wiederum unfrei machen und unterdrücken – und damit dem liberalen Anspruch des bürgerlichen Rechts widersprechen: Das Privatrecht garantiert dem Rechtssubjekt einen privaten Raum der Willkür und bringt dadurch gleichzeitig die kapitalistische Herrschaft der Ausbeutung hervor. Das Sozialrecht eröffnet demgegenüber dem Rechts­

145

Kapitel 2

subjekt Chancen auf soziale Teilhabe und ermöglicht darin zugleich die gesellschaftliche Herrschaft der Normalisierung. In beiden Fällen schlägt demnach die rechtliche Normativität notwendig aufgrund ihres gesell­ schaftlichen Funktionierens in Formen der ungleichen Herrschaft und Gewalt um, wodurch die sozialen Wirkungen des Rechts in einen dauer­ haften Widerstreit mit dessen normativem, nämlich freiheitlich-egalitären Selbstverständnis geraten. Dieser Widerstreit konstituiert nach Menke die Pathologie der subjektiven Rechte. Die Pointe dieser rechtskritischen Argumentation liegt aber auf einer noch grundlegenderen Ebene. Menkes Argument besteht nicht nur darin, dass die subjektiven Rechte das Subjekt den bürgerlichen Herrschaftsformen unterwerfen, die sie selbst als ihre eigene Pathologie erst erzeugen. Das eigentliche kritische Argument lautet vielmehr, dass die subjektiven Rechte das bürgerliche Subjekt überhaupt erst hervorbringen. Die Patho­ logie der subjektiven Rechte ist ihre Subjektivierung. Und diese Subjekti­ vierung tritt im Rahmen der Herrschaftskritik des bürgerlichen Rechts unmittelbar zutage: „In der bürgerlichen Gesellschaft gilt: nur durch die – aktive, freie – Inanspruchnahme ihres Rechts, über ihr Eigenes nach Belieben zu entscheiden, können Subjekte ausgebeutet werden, und nur durch die – aktive, freie – Inanspruchnahme ihres Rechts, Vermögen durch soziale Teilhabe zu erlangen, können Subjekte normalisiert werden. Bürgerliche Herrschaft ist Herrschaft durch rechtliche Ermächtigung: durch Subjektivierung und daher über Subjekte. Beherrschung durch Berechtigung ist die gemeinsame Grundstruktur von Ausbeutung und Normalisierung, die sie als Gestalten bürgerlicher Herrschaft definiert.“ (Menke 2015, 289) Ohne die – produktive, affirmative, ermächtigende – Berechtigung kann die – repressive, unterwerfende, entmächtigende – Herrschaft des Rechts über die Subjekte nicht funktionieren. Darin besteht das dialektische Ver­ hältnis zwischen Beherrschung und Berechtigung: die eine Seite verwirk­ licht sich nur in, d.h. in der Bejahung und Verwirklichung der anderen Seite. Hierin spiegelt sich einmal mehr die Marxsche These der ‚sozialen Logik‘ des Rechts wider, der zufolge die rechtliche Normativität selbst die ge­ sellschaftlichen Gewaltstrukturen und Herrschaftsverhältnisse konstituiert. Beherrscht zu werden bedeutet, seine Rechte auszuüben. „Also heißt be­ herrscht zu werden nicht, entrechtet zu sein“ (Menke 2015, 289), sondern im Gegenteil berechtigt, d.h. ein Subjekt (oder Träger) der subjektiven Rechte zu sein. Ein Subjekt der subjektiven Rechte zu sein bedeutet aber,

146

Übergang: Das bürgerliche Recht als Subjektivierungsform

ein Subjekt des subjektiven Eigenwillens zu sein. Genau darin besteht, so Menkes Pointe, der subjektivierende Charakter der subjektiven Rechte. Denn zu einem Subjekt des Eigenwillens wird das Individuum nur durch die Normativität der subjektiven Rechte, nämlich durch den normativen Mechanismus der Legalisierung des Natürlichen. Damit ist ausgesagt, dass es den Eigenwillen des Subjekts ohne die subjektiven Rechte nicht gibt. Bevor der liberale Staat subjektive Rechte er­ klärt, existiert die Form des Wollens, so wie sie in den subjektiven Rechten berechtigt wird, auch nicht auf nichtrechtlicher, gesellschaftlicher Ebene.47 Das bürgerliche Recht kreiert in den subjektiven Rechten zuallererst die für den Eigenwillen spezifische Modalität des Wollens. Menke fasst die gesellschaftskritischen Folgen dieser Kreation an einer Stelle seiner Unter­ suchung in äußerst pointierter und polemischer Weise zusammen: „Aus dem Mangel des Vermögens wird die – positive – Bestimmung des Vermögens. So ist die Erlaubnis durch subjektive Rechte hervor­ bringend. Sie schafft die Möglichkeit einer ganz neuen Weise zu wol­ len – einer Weise, die es noch niemals gab: eines Wollens, das sich kein Maß gibt, keinen Bildungsprozess durchläuft, keine Gemeinsam­ keit kennt, sondern bloß sein Eigenes setzt; Wollen als Feststellen der Tatsache des Wollens. Das heißt ‚Ermächtigung durch Dürfen‘: Das Recht bringt durch seine Erlaubnis ein Subjekt hervor, dessen Wollen gleichgültig gegenüber der normativen Unterscheidung ist, das keinen Anspruch auf Selbständigkeit erhebt und sich ohne jeden Bezug auf den Raum des Gemeinsamen vollzieht. So zu wollen heißt, sein Ei­ genes zu wollen. Die Positivierung der normativen Indifferenz und asozialen Privatheit besteht in einer Selbstpositivierung. Das Subjekt wird sich selbst positiv – zu einer Tatsache. Das Selbstverhältnis des

47 Denn, so lautet Menkes zentrale rechtskritische These, das Nichtrechtliche ist im Liberalismus konstitutiv an das Rechtliche gebunden. Das Rechtliche bringt durch die Setzung seiner selbst als Recht zugleich das Nichtrechtliche als ihm entgegengesetztes hervor; darin besteht die Gewalt des Rechts, die äußerliche Einwirkung auf das Nichtrechtliche. Diese Gewaltbestimmung gilt in dieser All­ gemeinheit für jede Rechtsform. Für die moderne, d.h. liberale Rechtsform gilt im speziellen, dass es die nichtrechtliche Natur als normative Grundlage rechtli­ cher Operationen nicht unabhängig von der rechtlichen Norm geben kann. „Das moderne Recht produziert die Natürlichkeit des Nichtrechtlichen oder das Nicht­ rechtliche als natürliches. Das Recht sichert die Möglichkeit zum natürlichen Handeln“ (Menke 2015, 90). Hinter dieser abstrakten Formulierung verbirgt sich nichts anderes als der subjektivierende Effekt der subjektiven Rechte.

147

Kapitel 2

Subjekts wird theoretisch (oder ‚kontemplativ‘) – zu einem Verhältnis der Registrierung, der Feststellung.“ (Menke 2015, 252f.) In dieser Passage finden sich alle rechtskritischen Argumentationsstränge in gebündelter Form wieder, die in den vorhergehenden Kapiteln heraus­ gearbeitet wurden. Die subjektiven Rechte, wie sie im Privat- und im Sozi­ alrecht auf je verschiedene Weise artikuliert werden, zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie auf das ihnen allen gemeinsame Fundament des individuellen Eigenwillens rekurrieren, sondern – grundlegender – dass sie die Gestalt (und damit die willenstheoretischen Implikationen) des Eigenwillens ins Leben rufen und ontologisch hervorbringen. Darin besteht die Radikalität von Menkes rechtskritischem Programm: Bevor die Institution der subjektiven Rechte durch den modernen, liberalen Staat eingeführt wurde, gab es die Form des Wollens, wie sie im Eigenwillen verkörpert ist, schlicht und einfach gar nicht;48 und zwar deshalb, weil es Formen des Wollens immer nur unter speziellen sozialen Bedingungen gibt. Es gibt den Willen von Individuen nicht einfach so, sondern immer nur vor einem konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund, d.h. vor dem spezifischen Hintergrund sozialer Konstellationen, innerhalb derer das Indivi­ duum lernt, was es an einem bestimmten historischen Ort und zu einer bestimmten historischen Zeit bedeutet, etwas zu wollen. Der sozialphiloso­ phische Aufweis von Menkes Rechtskritik besteht darin, dass der Wille des Einzelnen nichts Natürliches, d.h. nichts natürlich Vorhandenes ist, sondern eine genealogisch rekonstruierbare und kritisierbare Vorgeschich­ te hat, also etwas historisch Entstandenes und damit etwas kontingent Formiertes ist. Das bedeutet, dass das bürgerliche Recht im Rahmen von Menkes Heu­ ristik primär als Subjektivierungsform in der Kritik steht. Die subjektiven Rechte müssen deshalb einer fundamentalen Kritik unterzogen werden, weil ihr ideologischer Mechanismus auf einer grundsätzlichen Stufe des gesellschaftlichen Lebens und der sozialen Beziehungen ansetzt, nämlich auf der Ebene der Subjektivierung. Im Liberalismus entstehen Subjekte durch subjektive Rechte. Mit Daniel Loick gesprochen, bilden subjekti­ ve Rechte nicht einfach nur „Anspruchsinstrumente[n], die Subjekte ge­ brauchen können“, sondern „Subjektivierungsinstanzen, die Subjekte erst 48 Vgl. dazu: „Die Form der subjektiven Rechte bringt die Form eines neuen Wollens hervor: des Wollens nach eigenem Belieben. Es gibt das Wählen nach eigenem Belieben – als soziale, kulturelle und politische Gestalt der Subjektivität – erst, seitdem es die subjektiven Rechte gibt; bevor es die Berechtigung zum Belieben gab, existierte es nicht“ (Menke 2015, 196).

148

Übergang: Das bürgerliche Recht als Subjektivierungsform

form[en]“ (Loick 2017a, 166). Denn die subjektiven Rechte beziehen sich nicht auf ein vorgängiges Subjekt, auf das sie bloß rechtlich einwirken, sondern sie erzeugen und konstituieren selbst erst die Subjektivität, auf die sie bloß nachträglich Einfluss auszuüben scheinen. Das bürgerliche Recht ist also nach Menke ein Subjektivierungsregime; die Gesellschaft ist bürgerlich, „weil (oder soweit) sie am Prinzip rechtlicher Subjektivierung festhält“ (Menke 2015, 437). Das Vehikel dieser rechtlichen Subjektivie­ rung besteht dabei in der Legalisierung des Eigenwillens: „Die rechtliche Hervorbringung des Eigenwillens produziert ein neues gesellschaftliches Subjekt“ (Menke 2015, 251). In der Legalisierung des Eigenwillens verdichtet sich die subjektivieren­ de Funktion der subjektiven Rechte, „denn ohne dass er durch subjektive Rechte legalisiert wird, gibt es den subjektiven Eigenwillen gar nicht“ (Men­ ke 2015, 245). Indem es sich selbst in seinem inhärenten Gewaltpotenzial reflektiert, konstituiert sich das moderne Recht als autonomes Recht, d.h. als das Recht der Legalität (s.o.): Das moderne, bürgerliche Recht begrün­ det seine Normativität auf der Geltung des individuellen Eigenwillens, den es als eine vorrechtlich bestehende Tatsache behandelt und in der Erklärung subjektiver Rechte normativ zum Ausdruck bringt. So lautet das liberale Selbstverständnis des Rechts. Menkes rechtskritische Analyse führt demgegenüber vor Augen, dass die Operation der Legalisierung nichts Vorrechtliches nachträglich im Recht zur Geltung bringt, sondern dass die Legalisierung den Eigenwillen als normativen Bezugspunkt des Rechts zuallererst in seiner spezifischen Form produziert, und zwar indem sie ihn naturalisiert. Menke demonstriert also, dass der Prozess der Verrechtlichung gleichzeitig eine Praxis der Naturalisierung ist. Die Legalisierung des Eigen­ willens bedeutet dessen Naturalisierung. Es gibt den Eigenwillen nicht unabhängig von seiner rechtlichen Hervorbringung. Mit Daniel Loick for­ muliert: „Diese Funktion des Rechts ist aktiv; das Recht ist nicht einfach der nachträgliche Ausdruck oder das ideologische Resultat von Atomismus und Egoismus, sondern stellt sie auch mit her“ (Loick 2017a, 162f.). Durch das Instrument der subjektiven Rechte erzeugt das moderne Recht einerseits die gesellschaftliche Gestalt des Eigenwillens; es ruft durch die Performanz der Verrechtlichung das Subjekt der bürgerlichen Gesell­ schaft hervor. In der Erklärung derselben subjektiven Rechte behandelt das moderne Recht aber andererseits diesen Eigenwillen zugleich so, als wäre er etwas natürlich Vorhandendes. Demnach naturalisieren subjekti­ ve Rechte, indem sie subjektivieren. Das bürgerliche Subjekt wird unter den politischen Bedingungen des Liberalismus durch die Verrechtlichung des Eigenwillens konstituiert, welcher im bürgerlichen Recht als etwas

149

Kapitel 2

Natürliches begriffen wird. Im Prozess der Verrechtlichung werden die Ansprüche des individuellen Eigenwillens, die als natürlich gegebene vor­ ausgesetzt werden, in die Form subjektiver Rechte gebracht. Die Subjekti­ vierung ist somit an die Naturalisierung des hervorgebrachten Subjekts gekoppelt. Tatsächlich vollzieht sich aber im Medium dieser Verrechtlichung nichts anderes als die Naturalisierung des individuellen Wollens, welches erst durch diese vom Recht ausgehende Naturalisierungspraxis in seiner gesellschaftlichen Gestalt als subjektiver Eigenwille konstituiert und er­ möglicht wird. Diese naturalisierende Operation erhält dabei laut Menke dadurch ihren spezifisch bürgerlichen Charakter, dass sie sich notwendig innerhalb eines Verrechtlichungsdiskurses ereignet. In Menkes Worten: „Es gibt den sittlich indifferenten, das Soziale privat appropriierenden Ei­ genwillen nur durch die normative Ordnung des Rechts: durch die bürger­ liche Form der Rechte“ (Menke 2015, 266). Was zur Folge hat, dass das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft, also nach Menke das Subjekt „des sittlich indifferenten Eigenwillens“ (ebd.), in einem präzisen Sinn als der „Effekt rechtlicher Geltung“ (ebd.) bestimmt werden muss. Im Rahmen der politischen Rationalität des Liberalismus, so Menke, werden Subjek­ te durch die normative Ordnung des bürgerlichen Rechts konstituiert. Und diese juridische Subjektivierung führt aufgrund des Funktionsmecha­ nismus ihrer Normativität auf der sozialen Ebene zu einer naturalistisch verfassten Subjektivität. Menke streicht diese subjektivierende Funktion der subjektiven Rechte als Pointe seiner Rechtskritik u.a. im Anschluss an Max Weber heraus: „Die subjektiven Rechte sind nicht die Rechte, die ein Subjekt (das vorrechtlich besteht) hat, sondern die Rechte, die Subjektivität, als Inbegriff des Könnens oder der Macht, hervorbringen; die subjektiven Rechte heißen so, weil sie subjektivieren. (…) Weber radikalisiert diesen Gedanken zu der These, dass bereits die rechtliche Erlaubnis produktiv ist: Die Erlaubnis bringt das Erlaubte, das sie vorauszusetzen scheint, hervor. (…) Das Subjekt des Wollens als Belieben ist das bür­ gerliche Subjekt der negativen Freiheit oder das Subjekt des Wählens. Die Hypothese von Webers Untersuchungsprogramm lautet daher, dass das bürgerliche Subjekt ein Machteffekt der subjektiven Rechte ist“ (Menke 2015, 196). Dass das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft ‚ein Machteffekt der subjek­ tiven Rechte‘ ist, bedeutet vor dem systematischen Hintergrund von Men­ kes kritischer Rechtstheorie, dass bereits die Hervorbringung des privaten

150

Übergang: Das bürgerliche Recht als Subjektivierungsform

Willkürsubjekts durch die Erlaubnis der Willkür (s.o.) als eine rechtliche Formierung des modernen Subjekts zu verstehen ist. Menke macht mit Weber das Argument geltend, „dass das Dürfen selbst als Ermächtigung zu begreifen ist: Auch schon oder bloß das rechtliche Dürfen ermächtigt, weil es ein neues Wollen- und Handelnkönnen und damit ein neues Subjekt hervorbringt“ (Menke 2015, 248). Bereits das rechtliche Dürfen ist somit als die Geburtsstunde des bürgerlichen Subjekts des Eigenwillens anzuse­ hen. Im folgenden Teil II möchte ich nun auf der Basis der vorausliegenden Rekonstruktionen von Menkes Rechtsphilosophie die Perspektive einer biopolitischen Kritik rechtlicher Ausschlüsse herausarbeiten, um über Menkes rechtskritische Heuristik hinaus die biopolitischen Exklusionen aus Rechtssystemen in den Blick zu rücken. Zu diesem Zweck beziehe ich mich auf das Denken Michel Foucaults, der den Begriff der Biopolitik ur­ sprünglich eingeführt und geprägt hat, und stelle dessen theoretischen An­ satz Menkes Rechtsphilosophie kritisch gegenüber. Dabei stehen zunächst die jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen mit Blick auf das Verhält­ nis von Recht und Biopolitik im Mittelpunkt, um daran anschließend die Kritik biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht als die zentrale philoso­ phische Perspektive der vorliegenden Arbeit in kritischer Erweiterung von Menke zu entwickeln. Die rechtskritische Perspektive der biopolitischen Ausschlüsse, die im Folgenden mit Foucault erarbeitet werden soll, werde ich dann in einem darauffolgenden Reflexionsschritt im Anschluss an Ju­ dith Butler weiter vertiefen und mit Blick auf die Leerstellen von Menkes Ansatz weiterdenken.

151

TEIL II Biopolitik und Recht: Grundzüge einer biopolitischen Kritik rechtlicher Ausschlüsse

Kapitel 3

3.1 Menkes Rechtskritik im Kontext von Foucaults Theorie der biopolitischen Macht Mit der Kritik des bürgerlichen Rechts als Subjektivierungsregime bewegt sich Menke allgemein im Rahmen von Foucaults kritischer Heuristik der Machtformen. In den folgenden Kapiteln möchte ich mich eingehend mit dem komplexen Verhältnis auseinandersetzen, das zwischen den Theorie­ modellen dieser beiden Denker besteht. Dabei gehe ich von der grundle­ genden Feststellung aus, dass Menkes Rechtskritik in elementarer Hinsicht auf dem theoretischen Fundament von Foucaults Konzeption der Biopoli­ tik steht. Diese These möchte ich im Folgenden anhand einer vergleichen­ den Lektüre beider Ansätze untermauern. Der Blick zurück zu Foucault soll dabei grundsätzlich zweierlei leisten: Erstens liefert Foucaults Modell der biopolitischen Macht den Ansatzpunkt, um das bürgerliche Recht in den größeren Horizont des Politischen einzuordnen und dadurch Menkes starke Konzentration auf den immanenten Bereich des Rechts zu dezen­ trieren. In der politischen Theorie und Philosophie wird Foucault insbe­ sondere in einer konstruktivistischen Tradition als „Theoretiker des Politi­ schen“ (Marchart/Martinsen 2019b, 3; vgl. auch Bedorf/Röttgers 2010) rezi­ piert, wobei unter dem Begriff des Politischen in Erweiterung eines engen politikwissenschaftlichen Verständnisses von Politik als politisches System eines Staatsapparats „die Politizität von Entscheidungs- und Machtverhält­ nissen oder von Subjektivierungsweisen“ (Marchart/Martinsen 2019b, 2) im Sinne „einer umfassenden Politizität sozialer Verhältnisse“ (ebd.) ver­ standen wird.49 Menkes rechtskritische Analysen richten sich demgegenüber vornehm­ lich auf die rechtsinternen Widersprüche der subjektiven Rechte und blei­ ben dadurch stark dem konzeptuellen Rahmen des bürgerlichen Rechts verhaftet. Dadurch wird die Biopolitik jedoch, wie ich im Folgenden

49 In diesem Sinne bestimmt auch Costas Douzinas den Begriff des Politischen als grundlegende Konfliktstruktur des Sozialen: „The ‘political’ (…) refers to the way in which the social bond is instituted and concerns deep rifts in society. It is the expression and articulation of the irreducibility of social conflict“ (Douzinas 2019, 102).

155

Kapitel 3

zeigen möchte, als zentraler Bezugspunkt für Menkes rechtskritisches Pro­ gramm in zu hohem Maß rechtstheoretisch vereinnahmt und auf ihre rechtlichen Aspekte vereinseitigt. Aus dieser Sicht wird deutlich, inwie­ fern Menkes Bezugnahme auf Foucaults Begriff der Biopolitik zugleich den blinden Fleck seiner rechtsphilosophischen Systematik bildet: Die entscheidende Leerstelle von Menkes Ansatz besteht darin, dass er seinen Untersuchungen ein verkürztes Verständnis der Biopolitik zugrunde legt, in dem die Biopolitik speziell auf die Dimension der rechtlichen Normali­ sierung von Rechtssubjekten enggeführt wird. Vor dem Hintergrund eines solchen reduktionistischen Begriffs der Biopolitik, so lautet das zu entfal­ tende Argument, blendet Menke den Einfluss außerrechtlicher, also nicht­ staatlicher und rechtsexterner Prozesse auf die Dynamiken und Diskurse des Rechts zu stark aus. Diese Vernachlässigung der verschiedenen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge, in deren Spannungsfeld das Recht verortet ist, führt dazu, dass bei Menke die Frage nach den Ausschlüssen aus dem Recht unbeantwortet, ja sogar größtenteils ungestellt bleibt. Das Problem der rechtlichen Exklusion spielt in Menkes rechtskritischem Ent­ wurf so gut wie keine Rolle, was unmittelbar mit einer theoretischen Grundentscheidung im Rahmen seines rechtsphilosophischen Untersu­ chungsprogramms zusammenhängt: Menke kritisiert die Widersprüche der subjektiven Rechte aus der internen Perspektive des bürgerlichen Rechts selbst, d.h. er spricht aus der Sicht des Rechts, um das Recht aus dessen eigener Logik heraus zu problematisieren. Die Perspektive der rechtlich Ausgeschlossenen, der Entrechteten und Rechtlosen, kann vor diesem Hintergrund aber nur als Teil des Nichtrechts in den Blick kom­ men, zu dem aus Sicht des Rechts nicht viel zu sagen ist. Schließlich ent­ wirft Menke, wie bereits erläutert, die Differenz von Recht und Nichtrecht gerade in einer Art und Weise, in der das Nichtrecht für die Normativität des Rechtsystems epistemologisch unzugänglich und praktisch unverfüg­ bar bleibt. Hier liegt der zweite entscheidende Punkt, an dem Foucaults biopoliti­ sche Perspektive in Erweiterung von Menkes Ansatz ins Spiel kommt. Foucaults Analytik der Machtformen und speziell dessen Genealogie der biopolitischen Macht ermöglicht über Menkes Theoriemodell hinaus die Problematisierung und Kritik der biopolitischen Ausschließungsmechanis­ men und entrechtenden Praktiken, die vom bürgerlichen Recht ausgehen. Denn Foucault führt einen alternativen Begriff der Naturalisierung ein: Während Naturalisierung im Rahmen von Menkes Rechtskritik primär den rechtsimmanenten Akt der Verrechtlichung, d.h. der Legalisierung

156

3.1 Menkes Rechtskritik im Kontext von Foucaults Theorie der biopolitischen Macht

des Natürlichen bezeichnet, bezieht sich Naturalisierung in einem Fou­ caultschen Verständnis auf Formen des radikalen Ausschlusses aus rechtli­ chen Rastern, d.h. auf prekarisierende und diskriminierende Praktiken des Rechtsentzugs und Rechtsvorenthalts. Dieses radikale Bedeutungselement der Biopolitik im Sinne der Exklusion aus dem Recht soll im Rekurs auf Foucault aufgearbeitet und mit Blick auf eine kritische Erweiterung von Menkes Rechtsphilosophie anschlussfähig gemacht werden. In solch einem erweiterten biopolitischen Verständnis, so möchte ich zeigen, meint Naturalisierung nicht den Prozess der Verrechtlichung, sondern bezeichnet darüber hinaus gesellschaftlich ausschließende Praktiken der Entrechtung. Mit seiner diskursanalytischen und machtkritischen Perspektive steht Foucaults Theorieansatz in unmittelbarer Nähe und Verwandtschaft zur Tradition der Kritischen Theorie. Dementsprechend wird Foucaults Werk in der deutschsprachigen Wissenschaftsdebatte besonders von Denkerin­ nen und Denkern im Frankfurter Umkreis aufgenommen und weiterent­ wickelt, vor allem in den sozialphilosophischen Arbeiten Martin Saars (vgl. Saar 2007) und den am Schnittpunkt von Soziologie und Sozialphilo­ sophie angesiedelten Schriften Thomas Lemkes (vgl. Lemke 1997; 2007; 2011a).50 Darüber hinaus wird Foucaults Denken insgesamt innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Diskursraum auf lebendige und vielfältige Weise diskutiert und weiterentwickelt, pro­ minent etwa in den soziologischen Ansätzen von Ulrich Bröckling (vgl. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000) und Andreas Folkers (vgl. Folkers 2018) oder den politikwissenschaftlichen Arbeiten Thomas Biebrichers (vgl. Biebricher 2012), die alle in jeweils unterschiedlicher Weise an Foucaults Konzepte des Sicherheitsdispositivs und der Gouvernementalität anschlie­ ßen, sowie in den Schriften des Zürcher Historikers Philipp Sarasin (vgl. Sarasin/Tanner 1998; Sarasin 2001; Sarasin/Berger/Hänseler/Spörri 2007; Sarasin 2009).51 Neben den Werken Judith Butlers, Didier Fassins und Achille Mbembes als primären Referenzautorinnen und -autoren meiner Arbeit ist Foucaults Denken im Allgemeinen sowie dessen Konzept der Biopolitik im Speziel­ 50 Eine umfassende Zusammenfassung und Systematisierung der deutschsprachigen sozialphilosophischen Debatte um den Freiheitsbegriff bei Foucault liefert Kars­ ten Schubert in Freiheit als Kritik (vgl. Schubert 2018). 51 Einen nach wie vor maßgeblichen und aufschlussreichen Überblick über die ver­ schiedenen inhaltlichen Rezeptionslinien und unterschiedlichen systematischen Perspektiven der deutschsprachigen und internationalen Foucault-Debatte bietet der Sammelband zur Frankfurter Foucault-Konferenz 2001 (vgl. Honneth/Saar 2003).

157

Kapitel 3

len in der internationalen Debatte der vergangenen Jahrzehnte auf eine umfangreiche und interdisziplinäre Rezeption gestoßen, u.a. im Bereich der politischen Philosophie (vgl. Patton 2007; Esposito 2008; 2013; Deut­ scher 2017), der Kritischen Theorie (vgl. Brown 2015) sowie auf dem Ge­ biet der Internationalen Beziehungen (vgl. Bonditti/Bigo/Gros 2017). Als besonders prominenter und wirkmächtiger Ansatz im Feld der politischen Philosophie sind Giorgio Agambens biopolitische Studien hervorzuheben (vgl. Agamben 2002). Einen umfassenden Überblick über die internatio­ nale Diskussionslandschaft zu Foucaults Begriff der Biopolitik – mit spezi­ ellem Fokus auf dessen Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft – bieten die im Sammelband Foucault in an Age of Terror (vgl. Morton/Bygra­ ve 2008) versammelten Aufsätze. In den letzten zwanzig Jahren hat sich außerdem ein jüngerer Forschungsstrang entwickelt, der sich über diszi­ plinäre Grenzen hinweg mit dem Verhältnis von Foucaults Machtbegriff und der Institution des Rechts sowie den Anschlussmöglichkeiten von rechtstheoretischen bzw. -philosophischen Diskursen und Argumenten an Foucaults Theoriemodell beschäftigt (vgl. Hunt/Wickham 1994; Mourad 2003; Patton 2005; Lemke 2011b; Cheah 2014; Golder 2015; Biebricher 2020). Foucault hat in seinen Werken den Anstoß dazu gegeben, den Prozess der Entstehung von Subjektivität in seiner Ambivalenz, ja Aporie zu be­ greifen und als die Gleichzeitigkeit von Ermächtigung und Unterwerfung auszubuchstabieren. Das Paradox der Subjektivierung hat Foucault dabei im Begriff des assujettissement formuliert, nämlich als das „Paradox (der Verhältnisse) zwischen Fähigkeit und Macht“ (Foucault 2005, 704). Das Paradox besteht dabei darin, dass jede Erweiterung der Freiheit des Sub­ jekts durch den Erwerb neuer Fähigkeiten gleichzeitig mit der Unterwer­ fung des Subjekts unter eine neue Macht einhergeht. Menkes rechtskriti­ sche These im Anschluss an Foucaults diskursanalytisches Verständnis der Subjektivierung lautet dementsprechend, dass das bürgerliche Subjekt in seiner rechtlichen Subjektivierung zugleich der biopolitischen Normalisie­ rungsmacht subjektiver Rechte unterworfen wird. Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit dargestellt, muss Menkes rechts­ kritisches Programm vor dem Hintergrund von Foucaults Konzept der Biopolitik gelesen werden. Denn erst Foucaults Idee der Biopolitik lie­ fert die theoretische Folie, auf der Menke das moderne Verhältnis von Normativität und Macht denken kann: Seine Grundthese eines dialekti­ schen Umschlags von rechtlicher Normativität in soziale Herrschaft kann Menke allein vor dem konzeptuellen Hintergrund einer biopolitischen Ge­ sellschaftsformation entfalten. Denn diese Umschlagslogik bedarf der sozi­

158

3.1 Menkes Rechtskritik im Kontext von Foucaults Theorie der biopolitischen Macht

altheoretischen Vorbedingung, dass politische Herrschaft in der bürgerli­ chen Gesellschaft, wie Menke im Anschluss an Marx‘ Figur der ‚sozialen Logik‘ des Rechts aufzeigt, in und nicht gegen einen rechtlichen Rahmen, d.h. in der Bejahung und nicht in Opposition zur normativen Geltungskraft des Rechts ausgeübt wird. „Ebenso zu herrschen wie beherrscht zu werden vollzieht sich hier nur dadurch, dass Subjekte ihre Rechte ausüben. (…) Also heißt beherrscht zu werden nicht, entrechtet zu sein“ (Menke 2015, 288f.). Menke setzt also Normativität und Macht in ein dialektisches Verhältnis zueinander. Den philosophischen Ausgangspunkt für dieses Modell stellt Foucaults biopolitische Perspektive auf moderne Diskurse dar. Denn nach Foucault funktioniert auch die Herrschaftsdynamik der biopolitischen Macht durch und nicht gegen die Anerkennung des Lebens als normatives Prinzip gesellschaftlicher und politischer Diskurse. Als spezifische Macht­ form des modernen Bevölkerungsstaates richtet sich die Biopolitik Fou­ cault zufolge auf das biologische Leben des Einzelnen und der Gattung sowie auf die Stärkung der Volksgesundheit im Allgemeinen und macht dementsprechend die Verwaltung, den Erhalt, das Wachstum und die Optimierung des lebendigen Körpers und seiner biologischen Prozesse zum Einsatz ihrer politischen Strategien und Kalküle. Das bedeutet, dass mit der Konzeption der biopolitischen Macht zunächst ein vorrangig posi­ tiver, affirmativer und aktivierender Bezug auf das Leben und seine Kräfte verknüpft ist: Biopolitik produziert und fördert individuelle und soziale Lebensprozesse; sie steigert das Gesundheitsniveau einer Gesellschaft und trägt Sorge für den Menschen als einzelnes Lebewesen; sie reguliert und plant das Bevölkerungswachstum sowie die Lebensdauer der Einzelnen, indem sie etwa die Geburten- und Sterblichkeitsraten mit Blick auf die verschiedenen sozialen Milieus innerhalb einer Gesamtbevölkerung statis­ tisch überwacht und die Ausbreitung von Krankheiten, Seuchen oder Epi­ demien in den ländlichen Bereichen oder den unterschiedlichen Bezirken der sich industrialisierenden Städte einhegt, steuert und kontrolliert (vgl. Foucault 1983, 135). Einerseits organisiert und diszipliniert die Biopolitik auf diese Weise sowohl das individuelle als auch das kollektive Leben innerhalb sich modernisierender Gesellschaften. Andererseits wird das moderne Subjekt jedoch gerade durch diese Abrichtung, Kontrolle und Disziplinierung der individuellen Körper sowie durch die Normierung, Normalisierung und Regulierung des gesellschaftlichen Lebens gleichzei­ tig der biopolitischen Macht unterworfen und im Verhältnis zu dieser anpassenden, einschränkenden und reglementierenden Macht erst hervor­ gebracht.

159

Kapitel 3

Diese ambivalente Dynamik der Biopolitik, anhand derer Foucault die Unterwerfung und Beherrschung des Subjekts in ihrer paradoxen Einheit mit der positiven Bezugnahme der Macht auf das Leben in der Moderne entfaltet, legt Menke seiner rechtskritischen Argumentation als zentrales Motiv zugrunde. Menke versteht die Beziehung von Normativität und Macht wie Foucault als einen dynamischen, ineinander verschachtelten Zusammenhang. Damit übernimmt Menke Foucaults machttheoretische Grundannahme, derzufolge die Polaritäten von Freiheit und Herrschaft unter modernen Vorzeichen nicht im Sinne eines unvereinbaren Gegen­ satzpaares begriffen werden können, sondern vielmehr in ihrer wechselsei­ tigen Verzahnung und relationalen Einheit rekonstruiert werden müssen. Aus diesem Grund sieht Menke, wie oben bereits erläutert, die bürgerliche Gesellschaft dadurch definiert, dass sie die (unterwerfende) Subjektivie­ rung des Einzelnen konzeptuell als einen primär rechtlichen Akt der Befä­ higung versteht und vollzieht (vgl. Menke 2015, 437). Wie in Foucaults relationalem Machtmodell setzt bürgerliche Herrschaft nach Menke also die freie Inanspruchnahme von Rechten voraus, sie ist Herrschaft durch Rechte: „Bürgerliche Herrschaft ist Herrschaft durch rechtliche Ermächti­ gung: durch Subjektivierung und daher über Subjekte“ (Menke 2015, 289). Menke attestiert somit den subjektiven Rechten im Anschluss an Foucault eine biopolitische Struktur (vgl. Menke 2015, 202). Gerade mit dieser Kritik der paradoxen Herrschaftslogik innerhalb der bürgerlichen, liberalen Gesellschaften steht Menkes rechtsphilosophischer Ansatz auf der theoretischen Basis von Foucaults biopolitischen Untersu­ chungen Ende der 1970er Jahre, die sich auf die „gouvernementale Ver­ nunft“ (Foucault 2006b, 97) des Liberalismus als eine „neue Regierungs­ kunst“ (ebd.) in der Moderne richten. In Die Geburt der Biopolitik bezieht Foucault ausdrücklich Stellung gegen ein klassisches und in seinen Augen unkritisches Verständnis des Liberalismus als einer gesellschaftlichen und politischen Ordnung der Freiheit, die sich „damit begnügt, diese oder jene Freiheit zu respektieren oder zu garantieren“ (ebd.). Dieser defizitären Auf­ fassung des Liberalismus hält Foucault kritisch entgegen, dass die Freiheit in liberalen Ordnungen nicht das abgetrennte Gegenstück zur Regierung, „das man zu achten hätte“ (Foucault 2006b, 99), sondern vielmehr die Grundlage und das Produkt der Regierung selbst darstellt: „Die Freiheit ist etwas, das in jedem Augenblick hergestellt wird“ (ebd.). Dieser These entspricht Foucaults alternatives Freiheitsverständnis: „Die Freiheit ist nie­ mals etwas anderes (…) als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten“ (Foucault 2006b, 97). Wenn Menke also in seiner Kritik der Rechte davon ausgeht, dass in der bürgerlichen Gesellschaft dadurch

160

3.1 Menkes Rechtskritik im Kontext von Foucaults Theorie der biopolitischen Macht

Herrschaft über Subjekte ausgeübt wird, dass diese Gebrauch von ihrer rechtlich hervorgebrachten und in ihren subjektiven Rechten geschützten Freiheit machen, dann rekurriert er damit auf Foucaults kritische Inter­ pretation der „liberalen Regierungskunst“ (Foucault 2006b, 94) als eines modernen Dispositivs der Macht, in dem sich die Regierung der Subjekte durch die Verwirklichung ihrer Freiheit realisiert. In Foucaults Worten: „[D]ie neue Regierungskunst vollzieht Freiheit“ (Foucault 2006b, 97). Deshalb charakterisiert Menke das Subjekt der subjektiven Rechte in der Linie Foucaults als „das regierbare Subjekt“ (Menke 2015, 247) und unterstreicht damit die biopolitische Herrschaftsstruktur, die in der mit den subjektiven Rechten verbundenen, liberalen Freiheitskonzeption im­ pliziert ist: „Das ist die Logik der bürgerlichen ‚Gouvernementalität‘ (Foucault): Weil sie die Regierung durch Rechte ist, regiert sie die Subjekte ‚durch den Vollzug (ihrer) Freiheit‘. Es ist gerade die Freiheit seines Eigen­ willens, die das Subjekt ‚in eminenter Weise regierbar mach(t)‘. Das Subjekt des Eigenwillens ist der Regierung nicht entzogen, sondern ihr in eminenter Weise ausgesetzt: Es ist das Subjekt, das es nur durch die Regierung gibt – das regierbare Subjekt“ (Menke 2015, 247). Beherrschung und Berechtigung, so Menkes grundlegendes Argument im Anschluss an Foucault, stehen in der bürgerlichen Gesellschaft in einem reziproken Bedingungsverhältnis zueinander. Diese dialektische Dynamik ist dabei von Foucault vorgezeichnet, der im Zentrum der liberalen Ver­ nunft „ein Verhältnis der Herstellung/Zerstörung (zur) Freiheit“ bzw. „des Vollzugs/der Aufhebung der Freiheit“ (Foucault 2006b, 98) identifiziert. Diesbezüglich stellt Foucault in seinen Vorlesungen pointiert fest: „Mit einer Hand muss die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, dass man mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwän­ ge, auf Drohungen gestützte Verpflichtungen usw. einführt“ (ebd.). Im Rahmen beider Theorietraditionen steht damit insgesamt ein spezi­ fisch modernes Normativitätskonzept im Zentrum der Kritik, in dessen Rahmen sich die Legitimität und normative Geltungskraft eines gesell­ schaftlichen Ordnungsgefüges aus dem Rückbezug auf etwas Natürliches, Nichtnormatives speist. Sowohl Menke als auch Foucault problematisieren auf je eigene Weise die spezifischen Naturalisierungspraktiken, die den normativen Ordnungen in der Moderne zugrunde liegen. Die Legalisie­ rung des Natürlichen, die Menke als die Grundstruktur der subjektiven Rechte herausarbeitet, überträgt die biopolitische Differenz von Politik und Leben, die im Mittelpunkt von Foucaults Untersuchungen der Bio­

161

Kapitel 3

politik steht, auf den spezifischen Bereich des bürgerlichen Rechts. So wie die biopolitische Macht Foucault zufolge das biologische Leben zur naturalistischen Grundlage der Politik macht, so konstituiert die Legalisie­ rung des Eigenwillens nach Menke das bürgerliche Rechtssubjekt als na­ türliches Leben, welches dem rechtlichen Regime als Gegebenes zugrunde liegt (vgl. im Folgenden Faets 2018). Die rechtliche Grundunterscheidung von Norm und Natur konfiguriert sich also unter den Bedingungen der Moderne im biopolitischen Spannungsfeld eines humanwissenschaftlichen Lebensbegriffs, den Foucault u.a. im Anschluss an Georges Canguilhems wissenschaftshistorische Grundlagenstudien (vgl. Canguilhem 1974) auf die Agenda seiner machttheoretischen Analysen gesetzt hat. Mit anderen Worten: Der Bezugsmodus des modernen Rechts auf die bürgerliche Ge­ sellschaft folgt einem biopolitischen Schema, weil die Grundlage der po­ litischen Machtausübung und rechtlichen Normsetzung im Rahmen der neuzeitlichen Verrechtlichungslogik speziell in einer natürlichen Vorausset­ zung verortet wird. Diese Voraussetzung ist das natürliche Leben des Subjekts, in dessen Rah­ men der individuelle Eigenwille auf scheinbar natürliche, vorrechtliche Art und Weise hervorgebracht wird. Unter den normativen Bedingungen der Moderne, so Menkes Argument, rekurrieren rechtliche Diskurse und Regierungspraxen aufgrund ihrer begrifflichen Struktur auf das natürliche Leben des Einzelnen, das ausschließlich als natürliches, also nicht als poli­ tisch qualifiziertes Leben legalisiert wird. Die rechtliche Ermächtigung des Eigenwillens ist somit zugleich dessen biopolitische Naturalisierung, da dieser ausschließlich als natürlicher berechtigt wird. Menkes ideologiekriti­ scher Einwand besteht dabei darin, dass der in den subjektiven Rechten vorausgesetzte Eigenwille kein natürlicher ist, sondern erst durch rechtli­ che Ermächtigung hervorgebracht wird, und zwar als ein Effekt rechtlicher Subjektivierung. Ausgehend von einem entpolitisierten, liberalen Frei­ heitsverständnis, welches mit den subjektiven Rechten einhergeht, wird ein scheinbar natürlicher Eigenwille konstruiert, der in Wirklichkeit der Ausübung biopolitischer Macht und gouvernementaler Herrschaft dient. In der Struktur subjektiver Rechte realisiert sich somit der biopolitische Bezug auf das natürliche Leben, welches durch die in Rechten zur Geltung gebrachten subjektiven Ansprüche repräsentiert wird. Biopolitische Herr­ schaft erscheint vor diesem Hintergrund gewissermaßen als die Pathologie des bürgerlichen Rechts selbst. Dadurch ordnet Menke die Biopolitik allgemein in den Rahmen des modernen, bürgerlichen Rechtsregimes ein und bindet damit gleichzeitig die Normativität der subjektiven Rechte in den diskursiven Kontext der

162

3.1 Menkes Rechtskritik im Kontext von Foucaults Theorie der biopolitischen Macht

historischen Epistemologien ein, deren biopolitischen Charakter Foucault am Umbruch vom 17. zum 18. Jahrhundert situiert. Damit gelingt Menke einerseits eine konstruktive Koppelung rechtsphilosophischer Debatten an den biopolitischen Wissenschaftsdiskurs, andererseits erweitert er dadurch das systematische Konzept der Biopolitik um entscheidende rechtskritische Elemente. Die Stärke von Menkes rechtskritischem Ansatz besteht in die­ sem Zusammenhang also darin, ein theoretisches Instrumentarium zu er­ arbeiten, mit dessen Hilfe sich moderne Verrechtlichungsdiskurse in der bürgerlichen Gesellschaft zugleich als Praxis biopolitischer Naturalisierung rekonstruieren lassen. Dieser Anschluss der biopolitischen Macht an die moderne Figur der subjektiven Rechte markiert die entscheidende innova­ tive Geste und den zentralen Beitrag von Menkes Rechtsphilosophie mit Blick auf den theoretischen Diskurs der Biopolitik. Über diese grundlegenden Übereinstimmungen und Konvergenzen zwi­ schen den Theorieansätzen Menkes und Foucaults hinaus treten jedoch bei genauerem Hinsehen gleichzeitig zentrale Unterschiede und Abwei­ chungen im Verhältnis beider Denkmodelle deutlich zutage. Wie bereits zu Anfang dieses Kapitels angedeutet, nimmt Menke im Rahmen seines rechtskritischen Untersuchungsprogramms erstens einen entscheidenden und grundsätzlichen Perspektivwechsel vor: Während Foucault nämlich in einer gesellschaftskritischen Heuristik zunächst nach den gesellschaftlichen und politischen Diskursen der Macht fragt, um die Institution des Rechts anschließend in einem machttheoretischen Horizont zu ver­ orten und im umfassenderen Rahmen des Politischen zu kontextualisie­ ren, setzt Menke im Unterschied dazu in erster Linie rechtstheoretisch an und erklärt die sozialen Herrschaftsmechanismen in der bürgerlichen Gesellschaft aus deren Zusammenhang mit rechtlichen Strukturen. Ent­ sprechend dieser methodischen Verschiebung begreift Menke die nicht­ rechtliche, gesellschaftliche Figur des Eigenwillens primär vom Recht her, nämlich ausgehend von dessen Herkunft aus den naturalisierenden Ver­ rechtlichungsdiskursen der subjektiven Rechte. In den folgenden Kapiteln möchte ich diese Unterschiedlichkeit im Verhältnis von Foucaults und Menkes Theoriemodellen näher beleuchten, indem ich zunächst Menkes Kritik der sozialrechtlichen Normalisierung in den Kontext von Foucaults Untersuchungen zur Biopolitik einordne. Mit dem Gebrauch des Normalisierungsbegriffs bezieht sich Menke näm­ lich unmittelbar auf Foucaults machttheoretische Problematisierungen der biopolitischen Normalisierungsgesellschaft. Daran anschließend möchte ich die oben genannte Verschiebung des theoretischen Blickwinkels, die konzeptuell mit dem Schritt von Foucault zu Menke einhergeht, anhand

163

Kapitel 3

eines close readings zentraler Passagen beider Autoren herausarbeiten und zeigen, inwiefern Menke Foucault entscheidend uminterpretiert – und was dabei theoretisch und argumentativ auf der Strecke bleibt, nämlich die Dynamik biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht. Auf dieser Grundlage werde ich in einem zweiten Schritt zur Diskussion der biopolitischen Ausschließungen aus dem Recht übergehen. Da Menke, wie gezeigt werden soll, von einem insgesamt verkürzten Verständnis der Biopolitik ausgeht, bleibt auch seine Rechtskritik letztlich hinter dem kri­ tischen Potenzial von Foucaults Biopolitikkonzept zurück. Dies schlägt sich darin nieder, dass in Menkes breit angelegter Rechtskritik an keiner Stelle rechtliche Ausschlüsse oder Entrechtungen thematisiert werden. Dies unterscheidet Menkes Denken deutlich von Foucaults biopolitischem Ansatz. Die Aufgabe der folgenden besteht daher darin, die theoretischen Argumente zu erarbeiten, auf deren Basis über Menke hinaus die biopoliti­ schen Ausschlüsse aus dem Recht diskutiert und rechtskritisch eingeholt werden können. Auf diese Weise können dabei gleichzeitig die Leerstellen von Menkes Rechtskritik durch ein umfassenderes Verständnis der Biopo­ litik geschlossen werden. 3.2 Biopolitik und Normalisierung bei Michel Foucault Im Schlusskapitel von Der Wille zum Wissen, das den Titel ‚Recht über den Tod und Macht zum Leben‘ trägt, grenzt Foucault die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts neu entstehende Biopolitik gegenüber dem traditionellen Machttypus der Souveränität ab. Im Unterschied zum Gesetz, dem im po­ tenziellen Ernstfall stets die Möglichkeit der Androhung von Gewalt und Zwang offensteht, bezieht sich die Biopolitik als spezifische Lebensmacht in einer grundsätzlich positiveren und affirmativeren Geste auf die ihr unterworfenen Subjekte als die rechtliche Macht der Souveränität. Dabei spielt der Begriff der Norm eine entscheidende Rolle: „Eine Macht aber, die das Leben zu sichern hat, bedarf fortlaufender, regulierender und korrigierender Mechanismen. Es geht nicht mehr darum, auf dem Feld der Souveränität den Tod auszuspielen, sondern das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren. Eine solche Macht muss eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstu­ fen als sich in einem Ausbruch manifestieren. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Sou­ veräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet. Ich will damit nicht sagen, dass sich

164

3.2 Biopolitik und Normalisierung bei Michel Foucault

das Gesetz auflöst oder dass die Institutionen der Justiz verschwinden, sondern dass das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert und die Justiz sich immer mehr in ein Kontinuum von Apparaten (Gesund­ heits-, Verwaltungsapparaten), die hauptsächlich regulierend wirken, integriert. Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie“ (Foucault 1983, 139). Foucault ordnet hier die Untersuchung des Rechts in die allgemeinere Perspektive der Machttechnologien, genauer: der Technologien der bio­ politischen Macht ein. Eine grundsätzliche methodische Prämisse von Foucaults Arbeiten besteht darin, der Ebene der Macht bei der Analyse von gesellschaftlichen Formationen eine erkenntnistheoretische Priorität einzuräumen (vgl. bspw. Foucault 2015, 27). „Foucaults Denken über das Recht leitet sich von seinem Denken über Macht ab, und sofern es eine Foucaultsche Rechtstheorie gibt, muss diese als Korrelat seiner Machtana­ lytik (…) verstanden werden“ (Biebricher 2020, 207). Gesellschaftliche Phänomene müssen Foucault zufolge stets im Ausgang von den Techni­ ken, Apparaten und Diskursen der Macht untersucht werden, welche ihr „historische[s] Auftreten“ (Foucault 2015, 123) erst ermöglichen. Foucault versteht die Ebene der Machtverhältnisse als die grundlegende Heuristik für die kritische Untersuchung von so unterschiedlichen Institutionen wie des Gefängnisses, der Psychiatrie, des schulischen Erziehungssystems, der Armee oder der industriellen Produktionsweise. Diese konkreten sozialen Phänomene betrachtet Foucault im Kontext einer „Archäologie der Macht­ apparate“ (Foucault 2015, 322) und stellt dieser archäologischen Analyse ein genealogisches Untersuchungsprogramm an die Seite, welches „die Frage der Herkunft von den Machtbeziehungen aus stellt“ (Foucault 2015, 123). Foucault begreift die gesellschaftlichen Phänomene, mit denen er sich philosophisch auseinandersetzt, als „Analysatoren von Machtverhält­ nissen“ (Foucault 2015, 27); sie sind die konkreten Verkörperungen einer ihnen als Möglichkeitsbedingung zugrundeliegenden Machtkonstellation, deren theoretische Erschließung und Kritik Foucaults primäres Ziel ist. Die genealogische Analyse der Macht, also „der Art und Weise, in der in einer Gesellschaft Macht tatsächlich ausgeübt wurde“ (Foucault 2015, 321), ist für Foucault die theoretische Matrix, von der ausgehend er die konkrete „Beschaffenheit der Kämpfe, die in einer Gesellschaft rund um die Macht stattfinden“ (Foucault 2015, 28), beleuchtet. Wenn Foucault also das moderne Rechtssystem vor dem Hintergrund der biopolitischen Macht untersucht, welche sich seinen Analysen zufolge seit dem 18. Jahr­ hundert in den Normalisierungspraktiken der bürgerlichen Gesellschaft

165

Kapitel 3

widerspiegelt, so stellt er damit die gleichermaßen methodische wie sys­ tematische These auf, dass nur eine Analyse der biopolitischen Machtbe­ ziehungen Aufschluss über die tatsächliche Rolle und Beschaffenheit des Rechts innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft geben kann. Wenn Fou­ cault davon spricht, dass „das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert“ (Foucault 1983, 139), so versteht er darin die Biopolitik als allgemeineren theoretischen Rahmen (einer Kritik) des bürgerlichen Rechts. An verschie­ denen Stellen ordnet er die Problematisierung des Rechts sogar der Unter­ suchung des Biopolitischen unter: „Eine andere Folge dieser Entwicklung der Bio-Macht ist die wachsende Bedeutung, die das Funktionieren der Norm auf Kosten des juridischen Systems des Gesetzes gewinnt“ (Foucault 1983, 139). Oder noch prägnanter: „Weit mehr als das Recht ist das Leben zum Gegenstand der politischen Kämpfe geworden, auch wenn sich diese in Rechtsansprüchen artikulieren“ (Foucault 1983, 140).52 Wenn Menke also das Sozialrecht kritisiert, so erfolgt diese Kritik unter Berufung auf Foucaults Verständnis der Normen. Der Begriff der Norm ist für Foucault immer durch die Macht vorbelastet und daher ein ebenso polemischer wie politischer bzw. politisierter Begriff (vgl. Foucault 2019, 72). Menkes Sozialrechtskritik schließt hier an eine entscheidende Pointe von Foucaults Konzept des Biopolitischen an, nämlich an dessen Einsicht, dass mit der biopolitischen Wende im 18. Jahrhundert die Macht nicht mehr vornehmlich repressiv wirkt, sondern eine wesentlich produktive Funktion übernimmt. Die Macht der Normen, die unter den Bedingungen der Biopolitik eine primordiale Position in den Spielen und Kämpfen der Macht einnehmen und darin Foucault zufolge den Primat des Gesetzes ab­ lösen, drückt sich darin aus, dass sie die Gesellschaft nicht einfach normie­ ren, sondern erzeugen. Foucault versteht die Norm als etwas, das „in Bezug auf die Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse und das vorgängige Gesellschaftssystem nicht die Rolle der Kontrolle und der Reproduktion,

52 In Überwachen und Strafen formuliert Foucault zwar etwas zurückhaltender, will aber sachlich auf das gleiche Ergebnis heraus: „In den Disziplinen kommt die Macht der Norm zum Durchbruch. Handelt es sich dabei um das neue Gesetz der modernen Gesellschaft? Sagen wir vorsichtiger, dass seit dem 18. Jahrhundert die Macht der Norm zu anderen Mächten hinzutritt und neue Grenzziehungen erzwingt: zur Macht des Gesetzes, zur Macht des Wortes und des Textes, zur Macht der Tradition“ (Foucault 1977, 237). Die biopolitische Macht der Normen richtet das Gesetz neu aus: Sie orientiert die Normativität des Rechts am Kriteri­ um des Lebens: „Was man verlangt und worauf man zielt, das ist das Leben verstanden als Gesamtheit grundlegender Bedürfnisse, konkretes Wesen des Men­ schen, Entfaltung seiner Anlagen und Fülle des Möglichen“ (Foucault 1983, 140).

166

3.2 Biopolitik und Normalisierung bei Michel Foucault

sondern vielmehr eine tatsächlich positive Rolle spielt“ (Foucault 2019, 74).53 Das Soziale ist in Foucaults Heuristik der Machttechnologien durch die Macht (der Normen) selbst hervorgebracht und bleibt daher in seiner konkreten Gestalt permanent auf die Macht verwiesen. Noch stärker als bei Durkheim hat das Soziale für Foucault eine vermachtete Struktur, so dass auch die Gesellschaftstheorie selbst in Begriffen der Macht erfolgen muss, wie Foucault am Ende seiner Vorlesung über Die Strafgesellschaft polemisch gegen Durkheim feststellt: „Was das Soziale an sich ist (…), ist nichts anderes als das System der Disziplin, der Zwänge. Dieses System der Disziplin als Medium der Macht ist das, womit die Macht ausgeübt wird, doch so, dass sie sich versteckt und sich als die Realität darstellt, die nun zu beschreiben, zu erkennen ist und die man als Gesellschaft, Gegenstand der Soziolo­ gie bezeichnet. Die Gesellschaft, hat Durkheim gesagt, ist das System der Disziplin; was er aber nicht gesagt hat, ist, dass dieses System innerhalb der für ein Machtsystem charakteristischen Strategien zu analysieren sein muss. Wenn sich die Macht jetzt tatsächlich nicht mehr in der Gewalt der Zeremonie manifestiert, sondern über die Normalisierung, die Gewohnheit, die Disziplin ausgeübt wird, wird man die Herausbildung eines neuartigen Diskurses erleben. (…) Dies 53 In der Tat folgt Menke Foucault nicht nur in seiner Konzeption des Sozialrechts als Instanz der Normalisierung; auch seine These, dass die Marxsche Rechtskritik sich in ihrer alleinigen Konzentration auf das Privatrecht wesentlich verkürzt und für die sozialgenerative Rolle des Sozialrechts blind macht, findet sich bei Foucault vorweggenommen: „Man sagt oft, das Modell einer Gesellschaft, die wesentlich aus Individuen bestehe, sei den abstrakten Rechtsformen des Vertrags und des Tausches entlehnt. Die Warengesellschaft habe sich als eine vertragliche Vereinigung von isolierten Rechtssubjekten verstanden. Mag sein. Die politische Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts scheint diesem Schema tatsächlich häufig zu entsprechen. Doch darf man nicht entsprechen, dass es in derselben Epoche eine Technik gab, mit deren Hilfe die Individuen als Macht- und Wissenselemen­ te wirklich hergestellt worden sind. Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer ‚ideologischen‘ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der ‚Disziplin‘ produziert worden ist. (…) In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches“ (Foucault 1977, 249f.). Nach Foucault entsteht die bürgerliche Ge­ sellschaft, die Marx in ihrer privatrechtlichen Verfasstheit kritisiert, als Effekt von disziplinierenden Technologien und normalisierenden Diskursen, also als Ergebnis biopolitischer Machtverhältnisse, welche in ihrer generativen Funktion auf einer grundlegenderen sozialtheoretischen Ebene als die privatrechtlichen Institutionen anzusiedeln sind – und deshalb auch einer grundlegenderen Kritik bedürfen.

167

Kapitel 3

ist ein Diskurs, der die Norm beschreiben, analysieren, begründen und sie präskriptiv und persuasiv machen wird“ (Foucault 2015, 326). Da die Gesellschaft durch die Disziplin hervorgebracht ist, hat sie auch selbst einen disziplinarischen, zwangsförmigen Charakter. Die Macht der Normen hat dabei „die Funktion, das Soziale herzustellen“ (Menke 2015, 295). Die biopolitischen Normalisierungspraktiken sind nach Foucault Praktiken der Fabrikation des Sozialen mit der „Aufgabe, ein Gesellschaftsbild, eine gesellschaftliche Norm zu erzeugen“ (Foucault 2015, 295). Hin­ ter jedem oberflächlich neutralen Gesellschaftsbild, also letztlich der gesell­ schaftlichen Realität, liegen jedoch Foucault zufolge stets gewaltförmige Machtverhältnisse, die diese Realität überhaupt erst hervorgebracht haben; was gleichzeitig einschließt, dass sich hinter der produktiven Logik des Normativen immer auch eine repressive, Möglichkeiten einschränkende Kehrseite verbirgt. An dieser Stelle wird die perspektivische Differenz der Normalisierung des Sozialrechts im Vergleich zum Privatrecht erneut sichtbar. Während sich das Privatrecht um die Eigentumsverhältnisse von ökonomisch definierten Vertragssubjekten, also wesentlich um Klassenver­ hältnisse dreht, geht es im Sozialrecht in einem umfassenderen Sinn um das Verhältnis der Einzelnen zur Gesellschaft als solcher.54 Das versteht Foucault so, dass die Techniken der Disziplinierung und Normalisierung das Individuum an die Gesellschaft anpassen. Dies geschieht Foucault zu­ folge im Herausbilden von Gewohnheiten: „Die Gewohnheit ist hingegen das, wodurch die Individuen nicht an ihr Eigentum gebunden werden, denn das ist die Aufgabe des

54 Die Normalisierung führt erstmals die Kategorie des Normalen ein und stellt die bürgerliche Gesellschaft als einen möglichst homogenen Sozialzusammenhang her. Ähnlich wie Menke betont Foucault dabei die Rolle des Egalitarismus der Gesellschaft: „Zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der großen Machtinstrumente. An die Stelle der Male, die Standeszugehörigkeiten und Privilegien sichtbar machten, tritt mehr und mehr ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörig­ keit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken. (…) Die Macht der Norm hat innerhalb eines Systems der formellen Gleichheit so leichtes Spiel, da sie in die Homogenität, welche die Regel ist, als nützlichen Imperativ und als präzises Messergebnis die gesamte Abstufung der individuellen Unterschiede einbringen kann“ (Foucault 1977, 237f.). Die Normalisierung individuiert gerade dadurch, dass sie vor dem Hintergrund einer formalen Gleichheit der Menschen eine Kaskade an Ungleichheiten, Ungleichverteilungen und -bewertungen innerhalb der Bevölkerung installiert.

168

3.2 Biopolitik und Normalisierung bei Michel Foucault

Vertrags, sondern an den Produktionsapparat. Sie ist das, wodurch die, die nichts besitzen, an einen Apparat gebunden werden, den sie nicht besitzen; das, wodurch sie aneinander gebunden werden in einer Zu­ gehörigkeit, die keine Zugehörigkeit zu einer Klasse sein soll, sondern die Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft“ (Foucault 2015, 324).55 Foucault rückt die Gewohnheiten in unmittelbare Nähe zu den Diszipli­ nierungs- und Normalisierungstaktiken. Er interessiert sich deshalb für die Gewohnheiten, weil Gewohnheiten für ihn eine paradigmatische Erschei­ nungsweise von „gesellschaftliche[n] Normen“ (Foucault 2015, 322) sind und als solche mit disziplinarischen und normalisierenden Implikationen einhergehen. Im Kontext seiner biopolitischen Analysen nähert Foucault die Begriffe der Disziplin und der Normalisierung immer wieder stark aneinander an: So spricht er im Kontext der Charakterisierung der Bio­ politik als produktive Machtform vom „System ‚Disziplin mit Normalisie­ rungseffekt‘“ oder sogar von „‚Normalisierungsdisziplin‘“ (Foucault 2019, 74). Die Disziplinarapparate zeitigen „Normalisierungseffekte“ (Foucault 2019, 74) und vereinnahmen das Individuum, indem sie seine Verhaltens­ weisen entlang einer sozialen Regelhaftigkeit organisieren, welche durch die Machtdynamik der Normen immer wieder aufs neue wiederhergestellt wird.56 Biopolitische Normen bilden demnach durch ihre sozialgenerative Funktionsweise eine Herrschaft aus, die durch den Einzelnen als eine Macht des Faktischen, mit Menke: des Natürlichen erfahren wird. Foucault ordnet also die sozialrechtlich ermöglichte Technik der Nor­ malisierung in den sozialtheoretischen Kontext der biopolitischen Macht ein. Auf diesen Analysen aufbauend soll im Folgenden konkreter heraus­ gestellt werden, in welchem Verhältnis Foucault das bürgerliche Recht

55 Und weiter heißt es: „Die Gewohnheit ist also nicht das, wodurch man auf der Ebene des Eigentums an einen Partner gebunden wird, sondern das, wodurch man an eine Ordnung der Dinge, an eine Ordnung der Zeit und an eine politi­ sche Ordnung gebunden wird. Die Gewohnheit ist für die, die nicht durch das Eigentum gebunden sind, das Gegenstück zum Vertrag“ (Foucault 2015, 324). Die Gewohnheit, also das Machtsystem der Disziplinen und der Normen bzw. dessen Niederschlag im Individuum, ermöglicht in einem ontologischen Sinn die ökonomische Eigentumsordnung; sie liegt der bürgerlichen Gesellschaft als Machtfundament zugrunde und reicht hinab bis in die kapillaren Mikrobereiche des individuellen Zeiterlebens und der Alltagserfahrung. 56 Vgl. dazu: „Mir scheint, dass sich seit dem 18. Jahrhundert die Apparate zur Herstellung von Disziplin, zur Auferlegung von Zwängen, zur Annahme von Gewohnheiten immer stärker vermehrt, verfeinert, spezialisiert haben“ (Foucault 2015, 322).

169

Kapitel 3

und die Machtebene der Biopolitik zueinander denkt. Im Hintergrund der Analyse steht dabei grundsätzlich der systematische Vergleich der Ansätze Foucaults und Menkes: Die leitende Frage besteht darin, auf welche spe­ zifische Weise Menke und Foucault die beiden Gegenstandsbereiche des Rechts und der Biopolitik jeweils bestimmen und einander zuordnen und welche Unterschiede dabei in den Blick kommen. 3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen 3.3.1 Das Rechtssubjekt bei Menke und der Homo oeconomicus bei Foucault: Zur Gegensätzlichkeit der Ansätze Menkes und Foucaults Menkes rechtskritische Untersuchungen unterscheiden sich von Foucaults Ansatz zunächst dadurch, dass sie dem Recht eine primäre, weil funda­ mentale Rolle im Zuge der Entstehung und Erklärung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse zusprechen. Dadurch dreht Menke die Foucaultsche Analyserichtung gewissermaßen um: Menke erklärt die Strukturen gesellschaftlicher Machtkonstellationen vornehmlich aus den Strukturen des Rechts. Dieser grundsätzliche Unterschied manifestiert sich paradigmatisch in der Figur des Eigenwillens, die Menke einerseits von Foucault übernimmt, andererseits jedoch in einer grundlegenden Hinsicht auf entgegengesetzte Weise konzeptualisiert. Dabei bleibt Menkes Kon­ zeption des Eigenwillens als normativer Kern des bürgerlichen Rechts57 gerade im Hinblick auf seinen absoluten, weil immunisierten Charakter von Foucaults Analysen abhängig. Die zentrale Stelle in Menkes Kritik der Rechte lautet in diesem Zusammenhang: „Foucault beschreibt mit Hilfe des empiristischen Modells des Eigen­ willens das Subjekt, das das moderne ökonomische, biopolitische Re­ gime, das Regime der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ hervorbringt: Das empiristische Subjekt ist das bürgerliche Subjekt. Seine Planungen und Kalkulationen beruhen auf einem Wollen, das ‚auf kein Urteil‘, ‚auf keine Überlegung oder Berechnung verweist‘ (Foucault). Die Exis­ tenz des bürgerlichen Subjekts hat seine Abstraktion vom Urteilen, Überlegen und Begründen zur Voraussetzung. Der Mensch der bürger­ 57 Vgl. dazu: „Wesentlich für die Form der subjektiven Rechte ist – ausschließlich – der Willensindividualismus: der Positivismus des Eigenwillens. (…) Denn die Substanz des bürgerlichen Rechts ist – nichts anderes oder nur – die Form der subjektiven Rechte“ (Menke 2015, 224).

170

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen

lichen Gesellschaft ist ein Mensch ohne Gründe. Genauer: ein Mensch, für den die bloße Tatsache seines Wollens als Grund zählt, dessen Wollen also keine guten Gründe haben muss, um zu zählen. Der Eigenwille ist eine Kategorie der Geltung: Der Eigenwille gilt – unter Absehung davon, ob sein Wollen gut oder schlecht ist, und damit auch davon, dass sich sein Wollen nur im gemeinsamen Raum bilden kann (dass also das Wollen nie das private, eigene ist). Damit zeigt sich, durch welche Operation das bürgerliche Subjekt (oder der ‚öko­ nomische Mensch‘) hervorgebracht wurde und seine Existenz allein zu erklären ist: Das bürgerliche Subjekt, das Foucault beschreibt, setzt einen radikalen Umbau in der normativen Ordnung der Gesellschaft voraus – einen Umbau in der Bestimmung dessen, welches Wollen zählt oder gilt. Und das Instrument dieses normativen Umbaus ist die Form der subjektiven Rechte: Die Form der subjektiven Rechte ermöglicht den individuellen Eigenwillen“ (Menke 2015, 202). In der Interpretation des bürgerlichen Subjekts des Eigenwillens als öko­ nomischem Menschen rekurriert Menke speziell auf Foucaults Vorlesun­ gen über die Geburt der Biopolitik. Dort problematisiert Foucault in de­ taillierten historischen Analysen – besonders in seiner Vorlesung vom 28. März 1979 – das Verhältnis zwischen dem Rechtssubjekt und dem Ho­ mo oeconomicus.58 Deren Beziehung zueinander bestimmt Foucault dabei als eine wesentlich ambivalente und heterogene Relation. Foucault geht in der Beschreibung dieser Beziehung auf einer grundsätzlichen Ebene von der wachsenden Bedeutung des Bereichs der politischen Ökonomie am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert aus. Dabei etablieren sich sowohl die wirtschaftlichen Produktionskreisläufe und Tauschbeziehungen selbst als auch deren wissenschaftliche Reflexion in den damaligen Entwürfen der Nationalökonomen laut Foucault ausdrücklich als eine Kritik einer rein juridischen Regierungsweise, d.h. in „Ablehnung einer politischen Vernunft, die sich am Staat und seiner Souveränität orientiert“ (Foucault 2006b, 390). Das Subjekt dieses neu entstehenden ökonomischen Disposi­ tivs, also der Homo oeconomicus, konstituiert sich in deutlicher Opposition zur traditionellen Auffassung des Rechtssubjekts und stellt im Zuge der Etablierung einer politökonomischen Rationalität die vollständige Kon­ trolle der Gesellschaft durch die Instrumente und Institutionen des Rechts

58 Vgl. zu einer ausführlichen Problematisierung der Figur des Homo oeconomicus im Rahmen von Foucaults Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik sowie unter dem speziellen Gesichtspunkt einer Kritik des Neoliberalismus Brown 2015, 51–133.

171

Kapitel 3

infrage. Foucault beschäftigt sich in der Folge mit diesem antagonistischen Spannungsverhältnis zwischen dem souveränen Bereich des Rechts und der sozioökonomischen Dynamik des Sozialen unter dem Stichwort der bürgerlichen Gesellschaft. Nach Foucaults Ansicht ist die bürgerliche Gesellschaft „ein Begriff der Regierungstechnik oder vielmehr das Korrelat einer Regierungstechnik, deren rationales Maß sich juristisch an einer Wirtschaft ausrichten soll, die als Produktions- und Tauschprozess aufgefasst wird“ (Foucault 2006b, 405). Als Begriff der Regierungstechnik beantwortet die bürgerliche Ge­ sellschaft die Frage: „Wie soll man nach Rechtsregeln einen Raum der Souveränität regieren, der den Nachteil oder Vorteil hat, von Wirtschaftssubjekten bevölkert zu sein?“ (ebd.). Das bedeutet, dass sowohl die Theorie als auch die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft von der Erkenntnis ausge­ hen, dass der Bereich des Ökonomischen rein mit den Mitteln des Rechts nicht adäquat erfassbar geschweige denn regierbar ist. Im Umbruch vom 17. zum 18. Jahrhundert machen sowohl die wirtschaftlichen Handlungs­ träger als auch die Vertreter der humanwissenschaftlichen Disziplinen im­ mer mehr die Erfahrung, dass sich die wirtschaftlichen Prozesse anhand rechtlicher Vorgaben, Maßnahmen und Verbote, also in Orientierung an einer vornehmlich juridischen Regierungsrationalität nicht mehr angemes­ sen steuern lassen. Die Entstehung und gesamtgesellschaftliche Ausdeh­ nung eines in seinen Funktionsmechanismen autonomen und eigendyna­ mischen ökonomischen Systems geht mit einem signifikanten Kontrollver­ lust auf Seiten des Rechts einher. Die Machtlosigkeit des Rechts angesichts dieser sozioökonomischen Umwälzungen stellt Foucault mit deutlichen Worten heraus: „Die Rechtstheorie ist nicht in der Lage, dieses Problem zu behandeln und die Frage zu entscheiden: Wie soll man in einem Raum regieren, der von Wirtschaftssubjekten bevölkert wird“ (Foucault 2006b, 403). Dieser hegemoniale Machtkampf zwischen einem souveränitätstheoreti­ schen Rechtsverständnis und einem gesellschaftlich-dynamischen Begriff der politischen Ökonomie nimmt im Kontext der Foucaultschen Termi­ nologie in der Dualität von Rechts- und Interessensubjekt konkrete Ge­ stalt an. Das Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft führt aus Foucaults biopolitischer Perspektive eine Doppelexistenz, denn die bürgerliche Ge­ sellschaft besteht für ihn aus „Individuen, die als Rechtssubjekte den Raum der Souveränität bevölkern, die aber in diesem Raum der Souveränität zugleich auch ökonomische Menschen sind“ (ebd.). Die Dualität von Rechts- und Interessensubjekt bildet vor diesem Hintergrund das Kern­ problem der bürgerlichen Gesellschaft ab, und zwar den Versuch, zwei

172

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen

grundsätzliche, aber einander widerstreitende Ansprüche miteinander zu vereinbaren: Zum einen muss die universale Geltung des Gesetzes, also die Allgemeingültigkeit rechtlicher Normen und Bestimmungen in Bezug auf alle in einem politischen Gemeinwesen lebenden Menschen bewahrt und garantiert werden. Foucault spricht hier von „der Notwendigkeit einer All­ gegenwart der Regierung“ (Foucault 2006b, 405). Zum anderen stellt sich für die staatliche Regierungspraxis jedoch die neue Herausforderung, auf ein gesellschaftliches Feld des Ökonomischen zu reagieren, dessen spezifische Dynamik sich den verallgemeinernden Schemata von Gesetzen und Rechten entzieht und diese in seiner Besonderheit, Unvorhersehbarkeit und Spontaneität unterläuft. An dieser Schnittstelle zwischen rechtlichen Diskursen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten bringt Foucault den Ge­ gensatz von Rechts- und Interessensubjekt in Anschlag. Das Interessensubjekt repräsentiert in Foucaults Heuristik den Bereich der Ökonomie. Der Homo oeconomicus wird von Foucault dabei als das Subjekt des Eigenwillens bestimmt, also als genau diejenige Figur, die Menke ins Zentrum seiner Rechtskritik rückt: Der ökonomische Mensch konstituiert sich als ein Subjekt, „das als Subjekt individueller Entschei­ dungen erscheint, die zugleich nicht weiter zurückführbar und unüber­ tragbar sind“ (Foucault 2006b, 373).59 Menkes Charakterisierung des bür­ gerlichen Subjekts als „Mensch ohne Gründe“ (Menke 2015, 202) steht in einem direkten Zusammenhang mit dieser Foucaultschen Beschreibung des ökonomischen Interessensubjekts. Letztlich besteht Menkes theoreti­ scher Zug darin, die Logik des Homo oeconomicus auf den Bereich des Rechtssubjekts zu übertragen bzw. den ökonomischen Menschen aus den Strukturen des bürgerlichen Rechts heraus zu begreifen, von denen ausge­ hend Menke zufolge „seine Existenz allein zu erklären ist“ (ebd.). Denn das Vehikel der normativen Transformation der Gesellschaftsordnung, die das Auftreten des willensindividualistisch verfassten, modernen Subjekts erst möglich macht, sind nach Menke die subjektiven Rechte (vgl. ebd.). Die Entstehung des Subjekts des Eigenwillens, also in Foucaults Termino­ logie: des Homo oeconomicus, wird laut Menke strukturell, d.h. wesentlich durch „die Form der subjektiven Rechte“ (ebd.) bedingt. Diese Interpretation der Stellung des Eigenwillens im komplexen Ge­ flecht rechtlicher und ökonomischer Diskurse widerspricht jedoch der Art und Weise, in der Foucault das Verhältnis zwischen Rechts- und Interessensubjekt versteht. Der Primat des Rechts im Hinblick auf die 59 Diese Stelle wird im Rahmen der Bestimmung des Subjekts der subjektiven Rechte explizit von Menke zitiert (vgl. Menke 2015, 198).

173

Kapitel 3

Konstituierung des bürgerlichen Subjekts des Eigenwillens, den Menke im Laufe seiner rechtskritischen Analyse argumentativ ausfaltet, kann bei ge­ nauerer Betrachtung nicht mit Foucaults biopolitischer Auffassung des In­ teressensubjekts (und, darauf aufbauend, mit einer entscheidenden Facette der biopolitischen Strukturierung der bürgerlichen Gesellschaft) in Über­ einstimmung gebracht werden. Im Zuge seiner Kritik des Eigenwillens differenziert Menke zwischen rechtlicher ‚Herstellung‘ und rechtlicher ‚Verfassung‘ des Eigenwillens: Die privatrechtliche Erlaubnis der Willkür evoziert nach Menke „ein Vermögen zu wollen und zu handeln, das zwar nicht rechtlich ist, zugleich aber nur durch das rechtliche Dürfen hervor­ gebracht wird: rechtlich hergestellt (‚interpelliert‘), aber nicht rechtlich verfasst (‚konstituiert‘)“ (Menke 2015, 248). Damit führt Menke eine zentrale Unterscheidung ein, die sich bewusst an Foucaults Abgrenzung der politischen Ökonomie gegenüber dem juri­ dischen Bereich des Rechts anlehnt und die den subjektiven Eigenwillen in die beiden unterschiedlichen Aspekte seiner (laut Menke) rechtlichen Herkunft einerseits und seiner nichtrechtlichen, gesellschaftlichen Wirk­ samkeit andererseits aufspaltet. Unabhängig davon jedoch, ob der subjek­ tive Eigenwille nun durch das Recht bloß ermöglicht (‚hergestellt‘) wird oder aber als ‚juridisch verfasster‘ einen wesentlich rechtlichen Charakter behält: In beiden Fällen steht die radikale Abhängigkeit des Eigenwillens vom bürgerlichen Recht im Vordergrund. Aus diesem Grund weicht Men­ kes Deutung der Figur des Eigenwillens in einer entscheidenden Hinsicht von Foucaults biopolitischer Heuristik ab, nämlich dadurch, dass sie den Eigenwillen des bürgerlichen Subjekts auf fundamentale Weise rechtlich konnotiert. Im Unterschied zu dieser primär rechtstheoretischen Akzentuierung des bürgerlichen Subjekts bei Menke markiert gerade die Entstehung des ökonomischen Interessensubjekts nach Foucault jedoch den modernen Übergang von der souveränen Macht des Juridischen zu einer wesentlich nichtjuridischen Machtform, nämlich zur biopolitischen Regierung des Lebens. Mit den Worten von Costas Douzinas: „The shift from sovereign power to bio-power involves a radically different conception of the subject of action or agent; it is endowed with fundamental interests, which cannot be limited, however, to the simple legal category of person. The new subject of bio-politics requires new political technologies more robust than the thin person of law and rights“ (Douzinas 2019, 31).

174

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen

Diese biopolitische Macht kann in Foucaults Verständnis zwar in ver­ schiedenen Fällen vom Recht ausgehen oder mit dem Recht verknüpft sein; allerdings versteht Foucault den neuen Machttypus der Biopolitik in grundsätzlicher Unabhängigkeit von, ja sogar in einer grundlegenden Unvereinbarkeit mit den Diskursen des Rechts (vgl. Foucault 2006b, 387). Die Biopolitik zeichnet sich für Foucault nämlich vor allem durch ihren gegenüber der rechtlichen Souveränität selbstständigen Charakter aus: Als politisch-ökonomische Machtformation bildet sie im Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft das „Regime, das auf diejenigen Regeln und Steuerungen abzielt, die im sozialen Feld selbst emergieren“ (Vogl 2015, 56). Unter biopolitischen Bedingungen gilt nach Joseph Vogls an Foucault anknüpfender Analyse: „Das ‚Politische‘ ist hier nicht mehr allein an die Reichweite souverä­ ner Herrschaft gebunden, es entwirft sich vielmehr als ein Kräftefeld, das andere Beschreibungs- und Aktionsformen politischer Macht pro­ voziert. Auf diesem Boden bilden sich – herkommend aus dem Inter­ essengebiet der Staatsräson – ein Begriff physischen Staatsvermögens und eine Form des Regierens, das diesseits juridischer Regeln operiert und sich im Objektbereich einer politischen Ökonomie konkretisiert. Das Ökonomische umfasst nun eine spezifische Realitätsschicht und ein Interventionsfeld, das neue politische Gegenstände (Bevölkerun­ gen, Individuen, Territorien) und neue Bezüge (komplexe Relationen zwischen Menschen und Dingen) hervorbringt. Diese Objekte entge­ hen nicht nur dem groben Raster einer politisch-juridischen Kodie­ rung. Das alte Rechtssystem selbst steht der ökonomischen Entwick­ lung des Kapitalismus entgegen, der feinere Kontrollmechanismen verlangt. Neben dem Recht, neben der souveränen Macht und dem Repräsentationssystem neuzeitlicher Politik jedenfalls haben sich an­ dere Formen der Steuerung eingerichtet, die sich nicht auf den reprä­ sentativen, sondern auf den physischen Staatskörper beziehen und die Fragen von Begrenzung, Verteilung und Legitimität politischer Herr­ schaft unterlaufen“ (Vogl 2015, 61f.). Die Biopolitik etabliert sich demnach als eine, wie Foucault formuliert, kapillare Machtform, die nicht extern an die bürgerliche Gesellschaft her­ angetragen oder durch das Recht implementiert wird, sondern in Konkur­ renz zu, ja in Überbietung von rechtlichen Schemata aus der Mitte gesell­ schaftlicher Dynamiken selbst erwächst. Menkes Kritik der subjektiven Rechte zeigt in Bezug auf diesen biopolitischen Kontext auf, inwieweit die Emergenz dieser biopolitischen Machtform, welche inmitten der po­

175

Kapitel 3

litischen Ökonomie operiert und dort ihr Regierungshandeln entfaltet, nichtsdestotrotz auch in Verbindung mit (und daher nicht unabhängig von) der Deklaration der subjektiven Rechte verstanden werden muss. In dieser Hinsicht stellt Menke also im Anschluss an Foucault eine Gegenthe­ se zu Foucault auf. Denn erst die normative Geltung der subjektiven Rech­ te, so Menke, naturalisiert und entpolitisiert die bürgerliche Gesellschaft und macht sie damit einer kapillaren, politökonomischen Regierungsakti­ vität überhaupt erst zugänglich. Das moderne, bürgerliche Recht stiftet nach Menkes Interpretation durch die Etablierung subjektiver Rechte die Möglichkeitsbedingung der nichtjuridischen Machtform des Biopoliti­ schen und relativiert somit durch eine genuin rechtliche Operation die eigene rechtliche Souveränität. Dadurch flankiert Menke, wie gesehen, den biopolitischen Ansatz durch wichtige rechtskritische Einsichten, u.a. durch die Erkenntnis, dass sich das Recht durch die Erklärung subjektiver Rechte selbst depotenziert und damit den biopolitischen Gesellschaftsdynamiken Vorschub leistet. Allerdings ist mit diesem Deutungsansatz gleichzeitig eine Überbeto­ nung der Rolle des Rechts mit Blick auf die biopolitische Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft verbunden, was schließlich dazu führt, dass Menke – trotz der Stichhaltigkeit seiner rechtskritischen Desiderate hin­ sichtlich der Beeinflussung des ‚biopolitischen Regimes‘ durch das bürger­ liche Recht – Foucaults Konzept der Biopolitik zu stark rechtstheoretisch überformt. Denn auch wenn Menke überzeugend nachweisen kann, in­ wieweit die Entstehung biopolitischer Machtverhältnisse in einem inter­ nen Zusammenhang mit der naturalisierenden Normativität des bürgerli­ chen Rechts steht, vernachlässigt, ja verfehlt er gar in der Rekonstruktion des willensindividualistischen Subjekts der bürgerlichen Gesellschaft letzt­ lich eine entscheidende Pointe von Foucaults biopolitischem Begriff des Interessensubjekts. Mit anderen Worten: Menkes stark rechtstheoretisch eingefärbte Interpretation des Verhältnisses zwischen Recht und Biopolitik lässt sich mit Foucaults primär nichtjuridischem Verständnis des Biopoliti­ schen nur eingeschränkt in Einklang bringen. Deshalb soll im Folgenden näher betrachtet werden, welche Facette von Foucaults Begriff der Biopo­ litik genau in Menkes Ansatz unterbelichtet bleibt und welche theoreti­ schen Konsequenzen damit verbunden sind.

176

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen

3.3.2 Zur Stellung des Eigenwillens bei Menke und Foucault: Die Eigenständigkeit der Biopolitik als Perspektive des Politischen Wie bereits ausgeführt, nennt Foucault das, was Menke als subjektiven Ei­ genwillen bezeichnet, Interesse. Bei beiden Autoren ist mit dieser Form des Willens inhaltlich dasselbe gemeint, und zwar „nicht weiter zurückführba­ re und unübertragbare Entscheidungen des Subjekts“ (Foucault 2006b, 374). Der normativen Verabsolutierung des Eigenwillens, die Menke rechtskritisch beschreibt, korrespondiert auf Seiten Foucaults ein Wollen, „das auf keine Überlegung oder eine Berechnung verweist. Es ist eine Art von rückläufiger Begrenzung in der Analyse“ (ebd.). Menke übernimmt dieses willenstheoretische Konzept dabei ausdrücklich von Foucault (vgl. Menke 2015, 198), der seinerseits diese Idee wiederum aus einer schema­ tischen Analyse des englischen Empirismus zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert gewinnt. Foucaults Einsicht zufolge kommt im englischen Empirismus zum ersten Mal etwas zum Ausdruck, „das überhaupt nicht existierte, nämlich die Idee des Subjekts eines Interesses, ich meine ein Subjekt als Prinzip des Interesses, als Aus­ gangspunkt eines Interesses oder Ort einer Mechanik von Interessen. (…) Wichtig ist, dass das Interesse als eine Form des Willens erscheint, und zwar zum ersten Mal, als eine Form des Willens, die zugleich unmittelbar und absolut subjektiv ist“ (Foucault 2006b, 375). Foucault versteht das Interesse als gesellschaftlich neuartige Form des in­ dividuellen Wollens radikal subjektiv, weshalb er es als „Prinzip einer atomistischen Entscheidung, die unbedingt auf das Subjekt selbst bezogen wird“ (Foucault 2006b, 374), bezeichnet. Bis zu diesem Punkt stimmen Menkes und Foucaults Konzeptionen miteinander überein. Foucault geht es in der Folge jedoch im Gegensatz zu Menke gerade darum, das Inter­ essensubjekt in seiner Differenz vom Rechtssubjekt zu akzentuieren. In diesem Zusammenhang bestimmt Foucault das Rechtssubjekt durch eine grundlegende Negativität in seinem Selbstbezug, die sich daraus ergibt, dass das Rechtssubjekt dem Verzicht auf seine ursprünglichen Naturrechte zustimmt und dadurch erst zu einem Subjekt von Rechten im eigentlichen Sinne, d.h. innerhalb eines positiven Rechtssystems wird: „Was kennzeichnet das Rechtssubjekt? Natürlich, dass es ursprünglich Naturrechte hat. Es wird jedoch zum Rechtssubjekt in einem positiven System, wenn es zumindest das Prinzip akzeptiert hat, diese Natur­ rechte abzutreten, wenn es zumindest das Prinzip akzeptiert hat, da­ rauf zu verzichten. Es hat einer Begrenzung dieser Rechte zugestimmt.

177

Kapitel 3

Es hat das Prinzip der Übertragung akzeptiert. Das bedeutet, dass das Rechtssubjekt per definitionem ein Subjekt ist, das die Negativität akzeptiert, das den Verzicht auf sich selbst akzeptiert, das in einem gewissen Sinne seine Spaltung akzeptiert und das akzeptiert, auf einer bestimmten Ebene Inhaber einer Reihe von unmittelbaren Naturrech­ ten zu sein, und das auf einer anderen Ebene das Prinzip akzeptiert, auf diese Rechte zu verzichten, und das sich dadurch als ein anderes Rechtssubjekt konstituiert, das sich dem ersten überlagert“ (Foucault 2006b, 377). Diese Passage wird auch von Menke zur Charakterisierung des bürgerli­ chen Rechtssubjekts zitiert (vgl. Menke 2015, 260f.). In der Abtretung sei­ ner Naturrechte und deren Substitution durch positive Rechte, deren Gel­ tung notwendig an ein gesetzliches System geknüpft ist, spiegelt sich nach Menkes Deutung die rechtliche Fundamentaldifferenz zwischen Norm und Natur wider, die sich im Selbstbezug des modernen Rechtssubjekts wiederholt. Im Rahmen der Rekonstruktion von Menkes Rechtsbegriff in früheren Kapiteln dieser Arbeit ist bereits deutlich geworden, inwie­ weit die normalisierende Anpassung des bürgerlichen Subjekts an die äußerlich regulierenden Diskurse rechtlicher Normen mit einem Diszipli­ nierungszwang im Inneren des Rechtssubjekts einhergeht: Die rechtliche Ermächtigung des Eigenwillens, in der die subjektiven Rechte das Wollen des Subjekts zu einer dem Recht positivistisch vorausgesetzten Tatsache machen und es dadurch naturalisieren, findet ihr Gegenstück in der diszi­ plinierenden Spaltung des Rechtssubjekts selbst in sein natürliches und sein rechtliches Wollen (vgl. Menke 2015, 88). Da sich Norm und Natur gegenseitig ausschließen, wird ihr Verhältnis von Foucault als ein negato­ risches definiert. In einem an Foucault anschließenden Sinne bezeichnet daher auch Menke das Rechtssubjekt als „die Instanz der Negativität, denn es vollzieht die Spaltung zwischen Norm und Natur, damit den Verzicht auf die Natur, selbst. Das Rechtssubjekt ist die Macht der Negativität der Norm gegenüber der Natur“ (Menke 2015, 261). Menke argumentiert daraufhin im weiteren Anschluss an Foucault, „dass das bürgerliche Recht ein Recht ohne Rechtssubjekt ist“ (Menke 2015, 263). Damit meint Menke, dass die Negativität im Selbstbezug des Rechtssubjekts unter der Bedingung der Herrschaft des bürgerlichen Rechts geschwächt wird, wodurch das Rechtssubjekt seinen spezifisch juri­ dischen Charakter verliert. Ähnlich konstatiert bspw. auch Pheng Cheah im Anschluss an Foucault, dass die rationalistische Konzeption des Rechts­ subjekts als Subjekt der Negativität unter biopolitischen Bedingungen durch einen Subjektbegriff ersetzt wird, der „a different form of freedom

178

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen

and, by implication, a different type of right that is no longer that of a juridical subject“ (Cheah 2014, 227) impliziert. Menke lässt sich in diesem Zusammenhang von der Beobachtung leiten, dass das von ihm beschriebe­ ne Subjekt der subjektiven Rechte, also das Subjekt des Eigenwillens, mit dem von Foucault definierten Rechtssubjekt nicht zur Deckung gebracht werden kann. Denn in den Rechtsansprüchen, die in den subjektiven Rechten zum Ausdruck kommen, artikuliert sich nach Menkes Analyse etwas wesentlich Nichtrechtliches, nämlich das natürliche Leben des Ein­ zelnen. Darin besteht nach Menke die biopolitische Dimension subjektiver Rechte: Unter der Bedingung der subjektiven Rechte macht sich die Nor­ mativität des modernen Rechts nicht mehr gegenüber der Natur auf nega­ torische, kritische Weise geltend, sondern wird umgekehrt die Natur (das natürliche Leben des Subjekts) innerhalb der rechtlichen Normativität zur Geltung gebracht, und zwar in der Figur des Eigenwillens, der – infolge der naturalisierenden Wirkung seiner Legalisierung – gerade als natürlicher ermächtigt wird. Die normative Struktur subjektiver Rechte löst durch die Legalisierung des Eigenwillens die juridische Qualität des Rechtssubjekts auf und höhlt dessen kritische Kraft der Negativität von innen her, d.h. durch eine genuin rechtliche Operation aus. In Menkes Worten: „Die Ermächtigung seines Eigenwillens bedeutet seine Entmächtigung als Subjekt der Negativität“ (ebd.). Mit der These, dass es im bürgerlichen Recht kein Rechtssubjekt im von Foucault ausgeführten Sinne mehr gibt, schließt Menke, wie bereits erläutert, an Foucaults Analyse der biopolitischen Macht an, indem er die von Foucault beschriebene Logik des Interessensubjekts, die sich im Dispositiv des Eigenwillens manifestiert, vom Bereich des Rechtlichen her konzeptualisiert. Menke verlegt damit sozusagen das willensindividualis­ tische Profil eines ‚unübertragbaren‘ und ‚absolut subjektiven‘ Interesses ins Rechtssubjekt hinein und zeigt von da aus die biopolitischen Impli­ kationen der subjektiven Rechte auf innovative wie plausible Weise auf. Zugleich vermischt Menke mit dieser Strategie jedoch zwei unterschiedli­ che Bereiche, die Foucault konzeptuell getrennt voneinander behandelt, und zwar zum einen den Bereich des Interessensubjekts, zum anderen das Gebiet des Rechtssubjekts. Denn indem er das Interessensubjekt in der Terminologie des Homo oeconomicus ausbuchstabiert, grenzt Foucault dieses auf eindeutige Weise vom Rechtssubjekt ab. Das Interessensubjekt gehört für Foucault in den Bereich des Ökonomischen, der vom Bereich des Rechtlichen radikal un­ terschieden ist. Wenn Menke das Subjekt der subjektiven Rechte als das

179

Kapitel 3

Subjekt des Eigenwillens beschreibt, beruft er sich inhaltlich genau auf die willensindividualistische Struktur des Foucaultschen Interessensubjekts, identifiziert dieses jedoch gleichzeitig gegen Foucault mit dem Rechtssub­ jekt, d.h. er setzt dessen willenstheoretische Charakteristika mit denen des Rechtssubjekts gleich bzw. schreibt sie diesem zu. Denn das Rechtssubjekt im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, also das Subjekt der subjektiven Rechte, ist laut Menke das Subjekt des Eigenwillens. Damit vertritt Menke eine Position, die sich einerseits gerade in der Kritik der biopolitischen Imprägnierung des bürgerlichen Rechts systematisch dem Foucaultschen Aufweis der spezifisch ökonomischen Struktur des Interessensubjekts ver­ dankt, andererseits jedoch in ihrer rechtlichen Überwölbung des ökono­ mischen Menschen mit Foucaults Ansatz grundlegend unvereinbar ist. Foucault selbst hält in Bezug auf die Verhältnisbestimmung zwischen In­ teressen- und Rechtssubjekt fest: „Interesse und juristischer Wille lösen sich also nicht ab. Das Rechts­ subjekt wird nicht zu einem Teil des Interessensubjekts werden. Das Interessensubjekt bleibt bis zu dem Augenblick bestehen, in dem es eine rechtliche Struktur gibt, bis zu dem Augenblick, in dem es einen Vertrag gibt. Während der ganzen Zeit, in der das Vertragswerk exis­ tiert, besteht das Interessensubjekt fort. Es reicht ständig über das Rechtssubjekt hinaus. Also ist es nicht auf das Rechtssubjekt zurück­ führbar. Es wird von ihm nicht absorbiert. Es geht darüber hinaus, es umgibt das Rechtssubjekt, es ist die Bedingung für dessen ständige Funktion. Gegenüber dem juristischen Willen stellt das Interesse also etwas Nichtreduzierbares dar“ (Foucault 2006b, 376f.). Menkes Interpretation ignoriert vor diesem Hintergrund zu stark die irre­ duzible Differenz zwischen diesen beiden unterschiedlichen Formen von Subjektivität. Das ökonomische Interessensubjekt geht eben gerade nicht vollständig in der Logik des bürgerlichen Rechtssubjekts auf, sondern bleibt in seiner spezifisch biopolitischen Dynamik von diesem strukturell unterschieden. Dass das Interessensubjekt im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft der rechtlichen Subjektivität vorgeordnet und ihr gegenüber wesentlich heterogen bleibt, erläutert Foucault dabei anhand des rechtli­ chen Vertrags: „Das bedeutet, dass man den Vertrag nicht deshalb achtet, weil es einen Vertrag gibt, sondern weil man ein Interesse daran hat, dass es einen Vertrag gibt, d.h., dass das Erscheinen und Auftauchen des Ver­ trags das Subjekt des Interesses nicht durch ein Subjekt des Vertrags ersetzt hat“ (Foucault 2006b, 376).

180

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen

Das bedeutet für Foucault darüber hinaus, dass das Interessensubjekt nicht auf dieselbe Weise regiert werden kann wie das Rechtssubjekt, da „es zwischen dem Rechtssubjekt und dem ökonomischen Subjekt einen wesentlichen Unterschied in der Beziehung gibt, die sie zur politischen Macht haben“ (Foucault 2006b, 379). Während das Rechtssubjekt durch den Erlass von Gesetzen und Verboten regiert wird, übersteigt das ökono­ mische Interessensubjekt den souveränen Bereich des Rechts und erfordert dementsprechend alternative Techniken der Steuerung und Regulierung durch die Macht. Damit verdeutlicht Foucault, dass gerade die Heteroge­ nität des Ökonomischen gegenüber dem Juridischen zur Herausbildung biopolitischer Machtformen geführt hat. Die Biopolitik wird in Foucaults Theorie daher nicht im Ausgang von der Struktur der subjektiven Rechte rekonstruiert, sondern gerade in ihrer irreduziblen Unterschiedenheit von den Diskursen des Rechts akzentuiert. Da sich der Homo oeconomicus als „eine absolut heterogene Figur eta­ bliert, die dem, was man den Homo juridicus oder den Homo legalis nennen könnte, nicht überlagert werden kann“ (Foucault 2006b, 379), verlangt er auf Seiten der politischen Macht eine Form der Regierung, die dem be­ sonderen Charakter ökonomischer Dynamiken entspricht. Nach Foucault zeichnet sich das ökonomische Subjekt in diesem Kontext dadurch aus, dass es in einem gesellschaftlichen „Bereich unbestimmter Immanenz“ (Foucault 2006b, 381) operiert. Während das Rechtssubjekt sich durch seine Kraft der Negativität auszeichnet, eignet dem Homo oeconomicus „eine egoistische Mechanik, (…) eine unmittelbar multiplikative Mechanik“ (Foucault 2006b, 378). Das bürgerliche Subjekt ist Foucault zufolge im Rahmen einer sozioöko­ nomischen Gemengelage verortet, deren Dynamik durch den Einzelnen nicht überblickt werden kann und seinem ökonomischen Kalkül entgeht. Der Wirtschaftsprozess ist gegenüber dem individuellen Interessensubjekt aufgrund seiner fundamentalen Unkontrollierbarkeit, Unbeherrschbarkeit und Undurchsichtigkeit transzendent. Gerade in seiner Transzendenz kon­ stituiert das Ökonomische jedoch gleichzeitig eine gesellschaftliche „Me­ chanik, bei der sich der Wille von jedem spontan und unwillkürlich auf den Willen und das Interesse der anderen abstimmt“ (ebd.) und auf diese Weise sowohl die Basis individueller Entscheidungen als auch den Aus­ gangspunkt für den Zugriff der politischen Macht auf das Individuum in Gestalt gouvernementaler Regierungstechniken bildet. Foucault schreibt mit Blick auf die Charakteristika der ökonomischen Sphäre als einem sozialen Komplex,

181

Kapitel 3

„der ihn (den ökonomischen Menschen; S.F.) einerseits in Form einer Abhängigkeit an eine ganze Reihe von Zufällen kettet und der ihn andererseits in Form der Produktion an den Profit der anderen, an den Vorteil der anderen bindet oder der seinen Vorteil mit der Produktion der anderen verknüpft. Die Konvergenz der Interessen wird also die­ se unbestimmte Diskrepanz der Zufälle überlagern und überdecken“ (Foucault 2006b, 381). Mit anderen Worten: Angesichts der radikalen Transzendenz des ökono­ mischen Geschehens im Verhältnis zu den auf Rechtssubjekte bezogenen juridischen Machtapparaten profaniert sich die politische Macht zu einer strikt immanenten Praxis biopolitischer Regierung. Um an dieser Stelle die machttheoretische Differenz zwischen der juridischen Macht des Rechts und dieser neuen, politisch-ökonomischen Macht der biopolitischen Re­ gierung zu veranschaulichen, lässt sich auf Joseph Vogls Gegenüberstel­ lung von „transzendentem Herrschen und immanentem Regieren“ (Vogl 2015, 63) rekurrieren. Die biopolitische Regierungspraxis vollzieht sich immer schon in der Immanenz der sozialen Reproduktionsmechanismen und Kommunikati­ onsprozesse, indem sie sich implizit auf die Transzendenz des rechtlichen Gewaltmonopols bezieht, welches sie zugleich durch den Einsatz eines filigraneren Netzwerks biopolitischer Mikromächte in der sozialen Effektivität ihres nichtstaatlichen Regierungshandelns übersteigt. Die Biopolitik bejaht den Überbau des Rechtssystems, indem sie dessen Souveränität hinter sich lässt und das gesellschaftliche Leben anhand von indirekten Anreizsystemen und gouvernementalen Techniken von innen heraus ord­ net und reguliert. In dieser Heuristik ist die Biopolitik also niemals auf die entpolitisierende Wirksamkeit rechtlicher Diskurse reduzierbar, sondern muss als „eine feine Abstimmung zwischen der auf Rechtssubjekte ausge­ übten Herrschaft und der auf lebendige Individuen bezogenen Regierungs­ macht“ (Vogl 2015, 62) begriffen werden. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit vertretene Heuristik der Biopolitik lässt sich auf der Basis der bisherigen Ausführungen die abschließende Schlussfolgerung ziehen, dass die Biopolitik in einem Foucaultschen Ver­ ständnis im Unterschied zu Menke als größerer Rahmen des Politischen konzeptualisiert werden sollte, welcher den rechtlichen Dynamiken vor­ aus- und zugrunde liegt und innerhalb dessen das bürgerliche Recht und der Rechtsdiskurs der subjektiven Rechte nochmals eingebettet sind. Damit wird auf die Biopolitik gleichzeitig als eigenständige Perspektive gegenüber dem Bereich des Rechts aufmerksam gemacht. Im Anschluss an Foucault muss also stärker als bei Menke die Heterogenität der Diskurse

182

3.3 Biopolitik als übergreifender Rahmen des Politischen

des Rechtssubjekts einerseits und des Interessensubjekts andererseits her­ vorgehoben werden, welche sich zugleich in der Verschiedenartigkeit der jeweiligen Machtmodi spiegelt, die beiden Diskursen zugeordnet werden können: „Dem juridischen Format souveräner Gewalt ist eine politökono­ mische Regierungspraxis gegenübergetreten“ (Vogl 2015, 49). Im Gegensatz zu Menke, dessen rechtskritischer Ansatz die ökonomi­ schen Ungleichheitsverhältnisse und Herrschaftsstrukturen der bürgerli­ chen Gesellschaft in ihrer biopolitischen Charakteristik aus den Dynami­ ken der subjektiven Rechte heraus erklärt, versteht Foucault die politische Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft selbst als den übergreifenden biopolitischen Horizont, in den das Recht zunächst zurückgestellt und sozialontologisch eingeordnet werden muss. Einerseits stehen somit das Recht als normative Praxis und die Biopolitik als größerer gesellschaftlicher Kontext dieser normativen Praxis in einem Verhältnis wechselseitiger Inkommensurabilität: Recht und Biopolitik spielen sich auf unterschiedli­ chen gesellschaftlichen Ebenen ab und folgen unterschiedlichen sozialen Logiken. Andererseits bleiben dabei beide in grundlegender Weise aufein­ ander verwiesen und sind funktional ineinander verschachtelt: Biopolitik und Recht sind Teil einer relationalen Beziehungsdynamik. Denn gerade ihre Selbstständigkeit gegenüber den Verrechtlichungsdiskursen der sub­ jektiven Rechte ermöglicht es der Biopolitik, einen außerrechtlichen Ein­ fluss auf das bürgerliche Recht und dessen Normativität zu nehmen, die Rechtsdiskurse in bestimmte gesellschaftliche Bahnen zu lenken und sie in ihrer Form und Wirkungsweise biopolitisch vorzustrukturieren. Die vorangehenden komparativen Analysen der philosophischen Ansät­ ze von Foucault und Menke rücken somit eine alternative Verständnis­ weise des Verhältnisses von Recht und Biopolitik in den Fokus, indem sie Foucaults Unterscheidung zwischen Rechts- und Interessensubjekt, in deren Kontext der Bereich des Interessensubjekts in Bezug auf das Rechts­ subjekt als übergreifender Rahmen des Politischen fungiert, dem Theorier­ ahmen Menkes gegenüberstellen, der systematisch von einem rechtlichen Schwerpunkt ausgeht und die Foucaultschen Logiken von Rechts- und Interessensubjekt strukturell aneinander angleicht und dadurch gleichzei­ tig gegen Foucault zu stark miteinander identifiziert. Ausgehend von Fou­ cault lässt sich die Beziehung zwischen Recht und Biopolitik dagegen als ein Verhältnis der Differenz denken, innerhalb dessen das Recht in seiner Einrahmung durch größere biopolitische Gesellschaftskonstellationen er­ scheint und gerade deshalb Recht und Biopolitik in einer grundsätzlichen Relationalität zueinander begriffen werden können. Als Zwischenergebnis der bisherigen Untersuchungen wird diese Relationalität im weiteren Ver­

183

Kapitel 3

lauf dieser Arbeit eine wichtige Rolle spielen, und zwar in Bezug auf die rechtskritische Diskussion der sozialphilosophischen Argumente Judith Butlers. Im Folgenden soll aber nun auf der Grundlage der vergangenen Kapitel der zweite entscheidende Punkt erarbeitet und diskutiert werden, den Foucault zu einer biopolitischen Rechtskritik in Erweiterung von Menkes Ansatz beiträgt, nämlich die Problematisierung der biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht. 3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen 3.4.1 Zweierlei Naturalisierungen: Zum Paradox des Rechts unter den Bedingungen der Biopolitik Der erste weichenstellende Schritt in der Kritik an Menkes rechtstheore­ tischem Ansatz aus der Instanz von Foucaults Begriff der Biopolitik ist damit abgeschlossen. Dieser Schritt ging von Menkes Verständnis des spe­ zifischen Charakters der Naturalisierung aus, die strukturell in der Figur der subjektiven Rechte angelegt ist und durch die das moderne Recht die bürgerliche Gesellschaft entpolitisiert. Im Aufweis dieser naturalisie­ renden Dynamik der subjektiven Rechte gelingt es Menke, wie erläutert, die fundamentale biopolitische Struktur der Normativität des bürgerlichen Rechts herauszustellen. Gleichzeitig jedoch, so wurde argumentiert, muss Menkes kritische Rekonstruktion der modernen Verrechtlichungsdiskurse als biopolitische Naturalisierungspraktiken den Preis einer theoretischen Abwendung von Foucaults ursprünglicher Heuristik des Biopolitischen zahlen. Denn indem er die biopolitische Struktur der Herrschaftsformen inner­ halb der bürgerlichen Gesellschaft ausgehend von einer rechtskritischen Analyse der subjektiven Rechte herausarbeitet, schreibt Menke den Fou­ caultschen Begriff der Biopolitik zugleich in einen primär rechtstheoreti­ schen Rahmen ein. Dieser theoretische Zug, so das Ergebnis der voraus­ gehenden Kapitel, ermöglicht es Menke auf der einen Seite, das begriffliche Bedeutungsspektrum der Biopolitik um entscheidende rechtskriti­ sche Elemente zu erweitern, andererseits zieht diese Herangehensweise jedoch letztlich die rechtstheoretische Engführung des Biopolitischen auf eine rechtliche Funktion, auf ein Derivat rechtlicher Mechanismen nach sich. Der Vorteil von Menkes spezifisch rechtskritischem Untersuchungspro­ gramm ist, so gesehen, also zugleich sein Nachteil: Die radikale Kritik des bürgerlichen Rechts durch die Rekonstruktion seiner biopolitischen

184

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

Implikationen verleibt das Konzept der Biopolitik zu stark dem Bereich des Rechts selbst ein. Die kritische Erweiterung der Rechtskritik Menkes anhand von Fou­ caults Konzeption der Biopolitik baut die Kritik der biopolitischen Leer­ stellen in Menkes Ansatz auf dieser Einsicht auf, reicht jedoch zugleich über diesen ersten systematischen Schritt entscheidend hinaus. Denn mit Foucault lässt sich nicht nur für eine Rekontextualisierung von Rechts­ praktiken in einen umfassenderen Diskursrahmen biopolitischer Macht argumentieren. Es lässt sich darüber hinaus auch danach fragen, welcher Stellenwert den Ausschließungen bestimmter Subjekte oder Gruppen aus den Praktiken des Rechts im Rahmen einer biopolitischen Kritik des Rechts eingeräumt werden sollte. Schließlich hat Foucault selbst in seinen machttheoretischen Arbeiten mithilfe seiner diskursanalytischen Methode stets nach den Ausschlussmechanismen von sozioökonomischen, politi­ schen und auch rechtlichen Diskursen gefragt. Vor diesem Hintergrund fällt deutlich auf, dass im Falle der an Foucault anschließenden Rechtskri­ tik Menkes die Perspektive des Ausschlusses aus dem Recht vollständig fehlt. Eine biopolitische Kritik von Menkes Ansatz muss daher zunächst dieses Fehlen thematisieren und demgegenüber den systematischen Ort der Ausschlüsse aus dem Recht innerhalb einer biopolitischen Rechtskritik bestimmen. Hierfür sollte zuallererst an Menke selbst angeknüpft werden, und zwar an seine primäre Bestimmung des Biopolitischen als Normalisie­ rung, um daraufhin aufzuzeigen, inwiefern in Menkes Normalisierungskri­ tik bereits der Schritt über Menkes verkürztes Verständnis der Biopolitik hinaus angelegt ist. Wie oben bereits herausgestellt, ist die moderne Praxis der Verrechtli­ chung nach Menke immer schon notwendig eine Praxis der biopolitischen Naturalisierung (vgl. im Folgenden Faets 2018). Darin besteht aus einer biopolitischen Perspektive die kritische These von Menkes Rechtstheorie. Diese These muss jedoch in zwei entgegengesetzte Richtungen gleichzeitig gelesen werden, was wiederum mit zwei grundlegend unterschiedlichen Akzentuierungen des Begriffs der Naturalisierung einhergeht, in denen jeweils verschiedene Deutungen des Biopolitischen vertreten werden. Die biopolitische Bestimmung des modernen Rechts muss erstens mit Menke gelesen werden. In diesem Fall meint Naturalisierung primär den Akt der Verrechtlichung. Durch ihren immunisierenden Akt der Naturalisierung depotenzieren Rechte die politische Regierung immer mehr zur äußerli­ chen Verwaltung der Gesellschaft, also zu einer Praxis biopolitischer Norma­ lisierung.

185

Kapitel 3

Hierin besteht für Menke nämlich das Biopolitische des Rechts: Das Recht ist biopolitisch, insofern es normalisiert und damit die ökonomi­ schen Machtverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft hervorbringt. In dieser Lesart steht das bürgerliche Recht, wie oben erläutert, in erster Linie als Subjektivierungsregime im Fokus der Kritik, denn „[d]ie rechtliche Hervorbringung des Eigenwillens produziert ein neues gesellschaftliches Subjekt“ (Menke 2015, 251), nämlich das spezifisch biopolitische Subjekt, das Menke im Anschluss an (und gleichzeitiger Transformation von) Fou­ caults biopolitischer Konzeption des ökonomischen Interessensubjekts als das bürgerliche Subjekt des Eigenwillens beschreibt. In den durch die sub­ jektiven Rechte artikulierten Rechtsansprüchen kommt das Rechtssubjekt laut Menke dementsprechend als natürliches Leben, also in einer naturali­ sierten Gestalt, zur Geltung. Durch ihre subjektivierenden Effekte sind Rechte jedoch zugleich poli­ tische Machtinstrumente, da sie als Subjektivierungsinstanzen die Bedin­ gungen der Teilnahme an der bürgerlichen Gesellschaft vorschreiben. Um Teilnehmer an der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, so zeigt Menke aus­ führlich auf, muss der Einzelne sein Wollen in die Form des Eigenwillens bringen. Anders formuliert: Das Individuum muss sich normalisieren las­ sen, um ein Subjekt von Rechten zu werden. Erst durch die Normalisie­ rung des Individuums entsteht das Rechtssubjekt. Wie bereits oben zitiert, denkt Menke den Bedingungscharakter rechtlicher Normen mit der biopo­ litischen Normalisierung der Gesellschaft zusammen: „Es gibt die Teilhabe am Sozialen aber nur zu Bedingungen: Die soziale Ermächtigung zum Subjekt bedeutet die soziale Normalisierung des Individuums“ (Menke 2015, 293). Dadurch wird „die Normalisierung ubiquitär, ja egalitär; jeder ist normalisiert“ (ebd.). In ihrem Normalisierungszwang ist die rechtliche Normativität somit als biopolitische Macht ausgewiesen. Das Recht unter der Bedingung seiner biopolitischen Rahmung zu be­ greifen bedeutet aber gleichzeitig, es gegen Menke zu lesen. Menke versteht das Recht insofern biopolitisch, als er den dialektischen Umschlag von der rechtlichen Selbstreflexion in die Normalisierung des Eigenwillens re­ konstruiert. Menkes starker Fokus auf die Normalisierung verkürzt jedoch, wie gesehen, den Begriff der Biopolitik reduktionistisch auf seinen norma­ lisierenden Aspekt. Für Menke ist jeder normalisiert. Diese These lässt jedoch ausgerechnet das Paradox des Rechts außer Acht, das den Ausgangs­ punkt von Menkes Rechtskritik bildet und auf das die Selbstreflexion des modernen Rechts antwortet, nämlich das nichtnormative, gewaltförmige Verhältnis zwischen dem Recht und dem Nichtrecht, das die rechtliche Normativität notwendig beinhaltet. Wie lässt sich rechtskritisch über die­

186

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

jenigen sprechen, die in der Position des Nichtrechts, d.h. mittels einer durch das Recht selbst hervorgebrachten Kategorie, aus dem Recht ausge­ schlossen werden?60 In seiner Rechtskritik versäumt Menke, diese Frage zu stellen und damit die Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht ebenfalls unter den biopolitischen Bedingungen des modernen Rechts hinreichend zu untersuchen und historisch zu kontextualisieren. Eine solche Untersuchung, so lautet die im Folgenden zu entwickelnde These, führt zu einem entgegengesetzten Verständnis von Naturalisierung: Während Menke die Naturalisierung in ihrer verrechtlichenden Struktur be­ schreibt, macht die biopolitische Relektüre der Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht Akte radikaler Entrechtung sichtbar. Die Naturalisie­ rung des Rechts muss aus einer umfassenderen biopolitischen Perspektive über ihre entpolitisierenden Wirkungen hinaus als eine entrechtende Pra­ xis, d.h. als eine Form des radikalen Ausschlusses aus der rechtlichen Nor­ mativität sowie als Entzug und Vorenthaltung von Rechten, verstanden werden. Mithin konstituiert seine biopolitische Kodierung das moderne

60 Menke scheint tatsächlich im gesamten Verlauf seiner Rechtskritik gar nicht zu sehen, dass es sich bei der systemtheoretisch inspirierten Terminologie von Recht und Nichtrecht nicht nur um eine begriffliche Unterscheidung und abstrakte Denkkategorie innerhalb der Rechtsphilosophie handelt, sondern darüber hinaus um die Beschreibung konkreter Personengruppen, die aus dem Recht und der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Unter die Kategorie des Nichtrechts fallen aber in der sozialen Wirklichkeit tatsächliche Lebenssituationen von Menschen, die rechtlich exkludiert und gesellschaftlich unsichtbar gemacht werden. Diese marginalisierte Position der Ausgeschlossenen wurde in der biopolitischen For­ schung (neben den primären Referenzautorinnen und -autoren dieser Arbeit) prominent von Giorgio Agamben herausgearbeitet, speziell in dessen Werk Ho­ mo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (vgl. Agamben 2002). Dort rekonstruiert Agamben, wie die biopolitische Macht das natürliche Leben der rechtlich Ausgeschlossenen auf die bloße körperliche Dimension von bio­ logischen Lebensprozessen reduziert und auf diese Weise als „nacktes Leben“ (Agamben 2002, 109) konstituiert, das als Nichtrecht weder über einen rechtli­ chen noch politischen Status mehr verfügt. Dabei begreift Agamben das nackte Leben in einer Neuinterpretation von Carl Schmitt als Effekt und Korrelat des Ausnahmezustands, in dem die normative Geltung des Rechts durch das Recht selbst suspendiert wird und so das nackte Leben als rechtloses Leben erzeugt wird: „Dies ist der Bereich der souveränen Entscheidung, die das Recht im Aus­ nahmezustand aufhebt und so das nackte Leben in ihn einbindet“ (Agamben 2002, 92f.). Diese biopolitische Reflexion der Recht-Nichtrecht-Unterscheidung, die Agamben mit Blick auf die Ausgeschlossenen anbietet, wird im Rahmen von Menkes kurzer Diskussion von Agambens Ansatz nirgendwo thematisiert (vgl. Menke 2015, 159–164).

187

Kapitel 3

Recht als eine aporetische Praxis, die normativ berechtigt (Menke) und zugleich nichtnormativ entrechtet, also ausschließt (Foucault). Diese aporetische Verfassung des modernen Rechts verdichtet sich dabei bereits in einer Aussage von Marx, die Menke zwar in einem Aufsatz zitiert, aber nicht weiter kommentiert. „‚Alles Recht‘, schreibt Marx auch, ist ‚ein Recht der Ungleichheit‘“ (Menke 2013, 280). Darin steckt die Aus­ sage, dass das Recht trotz seines egalitären Anspruchs die Menschen bzw. zumindest einige Menschen ungleich behandelt. Menkes Rechtskritik kon­ zentriert sich jedoch, wie gesehen, nicht auf den Ungleichheitscharakter des Rechts, sondern auf dessen Gleichheitscharakter, genauer: auf die herrschaftskonstitutive Funktion der egalitären Normativität des Rechts auf der Basis der Dialektik von Normativität und Gewalt. Daher ist das moderne Recht für Menke, wie bereits zitiert, „eine Normativität ohne Überschuss. Das bürgerliche Recht ist durch seinen normativen Gehalt herr­ schaftskonstituierend“ (Menke 2015, 270). Indem Menke seine Rechtskri­ tik auf diese Dialektik der Gleichheit hin zentriert, blendet er jedoch die Brüche der Ungleichheit und damit auch die biopolitischen Ausschlüsse aus seinem Rechtskonzept aus. Nur durch dieses Ausblenden wird die Normalisierung ubiquitär, nur dann ist „die bürgerliche Gesellschaft (…) tatsächlich das Reich der Freiheit und Gleichheit“ (Menke 2015, 273). Dieser Verallgemeinerung des rechtlichen Freiheitscharakters und der damit einhergehenden Verabsolutierung seines Gleichheitscharakters steht allerdings bereits die These vom Normalisierungszwang entgegen. Die Teilhabe an der Gesellschaft gibt es, wie Menke betont, nur zu Bedingun­ gen. Wer diese nicht erfüllt, kann gar nicht erst im Kreis derer erscheinen, die potenziell zu rechtlich ermächtigten Subjekten normalisiert werden. Bedingungen funktionieren wie Hürden. Sie implizieren begrifflich, dass sie niemals universal sein können. Da die hier thematisierten Bedingungen rechtlicher Art sind, gilt dasselbe für Rechte: In der Idee der Rechte ist in keinem Fall automatisch deren universale Ausweitung und Verteilung im­ pliziert. Im Gegenteil, Rechte müssen stets unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Form verstanden werden, d.h. im „komplexen Zusammenhang und dynamischen Zusammenspiel von Öffnung und Schließung“ (Lesse­ nich 2019, 37) unterschiedlicher Berechtigungsräume. Den Zugang zu Rechten gibt es also immer nur im Kontext ihrer politischen Stratifizierung und differenziellen Zuschreibung. Der Bedingungscharakter der sub­ jektiven Rechte, der im Zusammenhang der Problematisierung ihrer nor­ malisierenden Effekte im Raum der bürgerlichen Gesellschaft erkennbar wird, führt damit zu der rechtskritischen Erkenntnis, dass das bürgerliche Recht gerade nicht alle Subjekte gleich bzw. als Gleiche behandelt. Da

188

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

Rechte wie Bedingungen strukturiert sind, gibt es sie auch nur zu Bedin­ gungen. In der Idee der Normalisierung ist also bereits implizit die fundamentale Partikularität der Rechte enthalten. Damit weist die Normalisierung durch Rechte über sich selbst hinaus und auf den Ausschluss aus der Normalisie­ rungsgesellschaft hin. Denn Rechte stellen die Teilhabe an der Gesellschaft unter bestimmte rechtliche Bedingungen, nämlich unter die Bedingungen des Eigenwillens. Daher ziehen sie in ihrer gesellschaftlichen Funktionali­ tät nicht einfach nur eine universalisierende, sondern gleichzeitig auch eine selektierende Wirkung nach sich, die in Menkes Ausführungen aller­ dings unterbelichtet bleibt. Denn nur aus der rechtlichen Innenperspekti­ ve ist tatsächlich jeder normalisiert: Jedes Subjekt muss sich Menke zufolge in der Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft der rechtlich produzier­ ten Form des Eigenwillens unterwerfen, um ein Rechtssubjekt werden zu können. Aber diese Praxis der Normalisierung und der damit verbunde­ nen Selbstdisziplinierung des Rechtssubjekts ist von der Außenperspektive des Rechts her betrachtet zugleich ein Dispositiv der Ausschließung aus dem Recht. Was aus der Sicht des Rechtssubjekts als ein normalisierender Machtdiskurs seiner erzwungenen Anpassung an die soziale Normativität der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, das stellt sich für diejenigen, die den Normalisierungsbedingungen des Eigenwillens nicht gerecht werden, als ein Mechanismus der Exklusion aus dem Recht dar. Das Subjektivie­ rungsregime des bürgerlichen Rechts, das die Rechtssubjekte innerhalb einer Rechtsgemeinschaft normalisiert, ist damit zugleich auch ein Regime der Entsubjektivierung, das diejenigen ausschließt, die nicht die Bedingun­ gen der Normalisierung erfüllen, um ein Rechtssubjekt zu werden. Der Bedingungscharakter dieser rechtlich hervorgebrachten Normalisie­ rung markiert damit gleichzeitig die Grenzen des Rechts und der Rechts­ subjektivität. Die Praxis der Normalisierung selbst offenbart auf ihrer Rückseite den potenziellen Ausschluss aus dem Recht. Denn sie richtet sich einerseits als normierende Zwangsgewalt auf die in eine Rechtsge­ meinschaft inkludierten Rechtssubjekte, während sie andererseits als se­ lektive Ausschlussgewalt zwischen den Rechtssubjekten und denjenigen unterscheidet, die kein Rechtssubjekt werden können, weil ihre Lebens­ form nicht mit den Normalisierungskriterien des Eigenwillens in Einklang gebracht werden kann. Aus diesem Grund ist also nicht einfach jeder normalisiert, wie Menke formuliert, sondern nur jeder Teilnehmer inner­ halb einer bestimmten Rechtsordnung, also jedes Rechtssubjekt. Und nur auf die Rechtssubjekte bezieht sich Menkes Rechtskritik, weil nur die Rechtssubjekte Träger subjektiver Rechte sind und dadurch im rechtlichen

189

Kapitel 3

Fokus des Normalisierungszwangs stehen. Nur sie sind, als Subjekte des Eigenwillens, von der rechtlichen Normalisierungsmacht betroffen. Für die aus dem Recht Ausgeschlossenen stellt sich dagegen die normalisieren­ de Macht des Rechts als eine ausschließende Gewalt dar, d.h. nur für die Nicht-Teilnehmer wirkt sich die Rechtsgewalt speziell als Ausschlussge­ walt aus. Die Grenzen zwischen der normalisierenden Macht und der aus­ schließenden Gewalt des Rechts sind also letztlich fließend und können, wie an späterer Stelle weiter ausgeführt wird, weder rechtsphilosophisch noch durch die Rechtspraxis selbst abschließend voneinander abgetrennt und differenziert werden, da das Recht in jeder normativen Unterschei­ dung von Recht und Unrecht die Differenz zwischen Recht und Nicht­ recht mitsetzt und aktualisiert. Diese Konzentration auf das bürgerliche Rechtssubjekt ist der Grund, aus dem Menke den Begriff der Biopolitik auf den Aspekt der Normalisie­ rung reduziert: Menkes rechtskritische Perspektive nimmt ausschließlich den Standpunkt der Rechtssubjektivität ein und hält diesen konsequent durch. Und tatsächlich kommt aus der Binnenperspektive des Rechtssub­ jekts die von Foucault beschriebene biopolitische Macht vornehmlich als die Naturalisierung des subjektiven Eigenwillens zur Geltung. Subjektive Rechte bestimmen in der Legalisierung des Eigenwillens das bürgerliche Rechtssubjekt als natürliches Leben. Die Prozesse der Verrechtlichung werden damit von einer (durch das Recht gesetzten) natürlichen Voraus­ setzung abhängig gemacht und dadurch biopolitisch naturalisiert, dass sie strukturell auf die naturalistische Form des Eigenwillens bezogen werden. Diese kritische Diagnose betrifft jedoch nur die soziale Situation und den juridischen Status des Rechtsubjekts innerhalb einer Rechtsgemeinschaft. Kehrt man die Blickrichtung um und nimmt den Standpunkt derjenigen ein, die keine Rechtssubjekte sind und aus der jeweiligen Rechtsgemein­ schaft ausgeschlossen werden, verändert sich auch die Bedeutung der Na­ turalisierung grundlegend. Dann wird nämlich deutlich, dass das natürli­ che Leben, das durch die subjektiven Rechte normativ ermächtigt wird, in der Form einer normalisierenden Vorschrift gleichzeitig den Zugang zum Recht auf selektive Weise reguliert und somit eine biopolitische Scheideli­ nie zwischen dem Rechtssubjekt und dem Rechtlosen markiert. Die diskursive Rolle des natürlichen Lebens lässt sich jedoch im Zuge einer biopolitischen Rechtskritik über dessen gleichzeitig präskriptive und selektive Funktion im Kontext von Normalisierungsmechanismen hinaus mit Foucault entscheidend radikalisieren. Denn das Recht differenziert nicht nur implizit im Rahmen der Normalisierung von Rechtssubjekten zwischen rechtlichen Teilnehmern und Nicht-Teilnehmern, die innerhalb

190

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

der jeweiligen Rechtsordnung keinen gesicherten Rechtsstatus besitzen, sondern es unterscheidet auch explizit zwischen Rechtssubjekten und Rechtlosen, und zwar auf der fundamentaleren Ebene der rechtskonsti­ tutiven Differenz von Recht und Nichtrecht. Über ihre sozialrechtlich produzierte normalisierende Bedingungsstruktur hinaus sind Rechte vor allem dadurch politische Instrumente der Unterscheidung zwischen der Inklusion ins Recht und der Exklusion aus dem Recht, dass ihre normative Praxis auf der gewaltförmigen, nichtnormativen Differenz von Recht und Nichtrecht beruht. Dieses differenzielle Fundament verhindert dauerhaft die vollständige Egalisierung der Normalisierung durch Rechte. Wie gesehen, müssen in Menkes Heuristik all diejenigen, die nicht zur Rechtsordnung gehören, als Teil des Nichtrechts, also als Teil der Natur verstanden werden. Das Nichtrecht existiert allerdings, so Menkes grund­ legende Einsicht, nicht unabhängig von einer Rechtsordnung, sondern wird erst im Zuge der Setzung des Rechts als normative Ordnung durch das Recht selbst als dessen Außen hervorgebracht. Darin bestand Menkes ursprüngliche These mit Blick auf das Paradox des Rechts, d.h. auf den inneren Gewaltcharakter der rechtlichen Normativität. Deshalb muss das Recht sich ja auch überhaupt erst zum Nichtrecht bzw. zur Natur auf ir­ gendeine Art und Weise ethisch und politisch verhalten: Nicht nur weil es durch das Nichtrecht in seiner Normativität in Frage gestellt wird, sondern weil das Recht selbst in der Konstituierung seiner eigenen Normativität das Nichtrecht produziert und sich damit selbst infrage stellt. Die Natur ist das Ergebnis einer rechtlichen Naturalisierung. Aus diesem Grund kann die Frage nach den Ausschlüssen aus dem Recht nicht einfach mit Verweis darauf abgetan werden, dass sich das Recht als normative Ordnung nun einmal gegenüber seinem Anderen nach außen hin abgrenzen muss und dadurch notwendig eine Grenzlinie zwischen Innen und Außen, zwischen Rechtsteilnehmern und den von dieser Teilnahme Ausgeschlossenen ziehen muss. Denn die gewaltsame Abschließung nach außen hin, durch die sich das Recht erst als normatives System konstituiert, kann das Recht aus der Sicht seiner eigenen Norma­ tivität nicht bejahen. Die nichtnormative Abgrenzung nach Außen und damit der Ausschluss des Nichtrechts aus dem Recht wird durch das Recht selbst als der rechtlichen Normativität widersprechend hervorgebracht und bleibt daher für das Recht auf Dauer problematisch. Wie bereits zu Anfang dieser Arbeit zitiert: „Das Recht muß normativ und nichtnormativ zugleich sein, aber es kann nicht gleichzeitig normativ und nichtnormativ sein“ (Menke 2018a, 156). Menke zeichnet in seiner Studie den Prozess der Selbstreflexion des Rechts als Reaktion des modernen Rechts auf das

191

Kapitel 3

rechtsimmanente Paradox nach und zeigt auf, wie die rechtliche Selbstre­ flexion in der Form der subjektiven Rechte zur biopolitischen Naturalisie­ rung des subjektiven Eigenwillens führt. Was Menke dabei aber vernachlässigt, ist die Einordnung der rechtli­ chen Grundunterscheidung von Recht und Nichtrecht und damit der grundlegenden Problematik der Rechtsgewalt in den von ihm eröffneten biopolitischen Kontext des bürgerlichen Rechts. Wie lässt sich die Differenz von Recht und Nichtrecht unter biopolitischen Gesichtspunkten phi­ losophisch erfassen? Wie gestaltet sich diese Differenz unter biopolitischen Voraussetzungen aus und auf welche Weise lässt sich dabei speziell die Position des Nichtrechts beschreiben? Diese Fragen bleiben in Menkes Rechtskritik unberücksichtigt. Der besprochene einseitige Fokus auf das Rechtssubjekt halbiert vielmehr Menkes Begriff der Naturalisierung. Denn nicht nur diejenigen, die berechtigt werden (also die Rechtssubjekte), wer­ den durch das bürgerliche Recht naturalisiert, sondern auch diejenigen, die entrechtet werden (also die Ausgeschlossenen). Was Menkes Rechts­ kritik leistet, ist aufzuzeigen, was die biopolitische Struktur des Rechts für die innerrechtliche Position des Rechtssubjekts bedeutet, nämlich die entpolitisierende Verpflichtung des Subjekts auf die naturalisierte Form des Eigenwillens im Rahmen seiner sozialen Teilhabe. Der Preis der Be­ rechtigung ist die Unterwerfung unter die Normalisierung. Aber Menke versäumt darüber hinaus, danach zu fragen, wie das Paradox des Rechts selbst, das überhaupt erst zur Entstehung von Normalisierungspraktiken innerhalb des gesellschaftlichen Lebens führt, unter den historisch spezifischen Bedingungen der Biopolitik als moderner Macht- und Regierungs­ form konzeptualisiert und gedacht werden muss. Diese Frage gehört aber bei genauerer Betrachtung zu den entschei­ denden Elementen seines eigenen rechtskritischen Programms wesentlich dazu. Denn Menke selbst geht ja von der rechtstheoretischen Einsicht aus, dass in jedem einzelnen rechtlichen Akt die gewaltsame Gründungs­ szene des Rechts notwendig wiederholt werden muss. Jede einzelne nor­ mative Operation des Rechts ruft erneut die nichtnormative und daher gewaltsame Spaltung zwischen Recht und Nichtrecht auf den Plan, die zwangsläufig im Zuge der Setzung des Rechts und daher durch das Recht selbst gesetzt worden ist. Die Naturalisierung des Rechtssubjekts durch die rechtliche Bestimmung seines Eigenwillens als natürliches Leben steht also in einem konstitutiven Bezug zu einer zweiten, grundlegenderen Naturalisierung, die ihr als strukturelle Voraussetzung zugrunde liegt, nämlich der Naturalisierung des Nichtrechts, die notwendig im Akt der Selbstdifferenzierung des Rechts gegenüber seinem Anderen impliziert ist.

192

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

Diese Naturalisierung betrifft die außerrechtliche Position derer, die keine Rechtssubjekte sind und als aus dem Recht Ausgeschlossene zu einem Leben außerhalb von Rechtsordnungen gezwungen werden. Durch seine Veräußerlichung gegenüber den aus dem Recht Ausgeschlossenen konsti­ tuiert nämlich das Recht selbst diejenigen, die es aus dem Innenbereich seiner Normativität ausschließt, als Natur. Allerdings gerade nicht als Natur im Sinne des natürlichen Lebens, das im subjektiven Eigenwillen innerrechtlich zur Geltung gebracht und berechtigt wird, sondern im Sin­ ne des natürlichen Lebens, das außerrechtlich auf Abstand gehalten wird, weil es kein Teil der Rechtsordnung, sondern Teil des Nichtrechts ist und gegenüber dem sich das Recht als ausschließende Gewalt abgrenzen muss. Das zeigt, dass der biopolitische Begriff des natürlichen Lebens, den Menke seiner Rechtskritik zugrunde legt, einer weiteren Differenzierung bedarf. Denn Menke unterscheidet im Rahmen seiner Theorie nicht hinreichend zwischen diesen beiden heterogenen Bedeutungsebenen in­ nerhalb des Begriffs der Naturalisierung. In Menkes Rechtsphilosophie fehlt vielmehr die Reflexion der biopolitischen Naturalisierung der Aus­ geschlossenen, die bereits mit der rechtlichen Grundunterscheidung von Recht und Nichtrecht einhergeht, in der bestimmte Menschen und Grup­ pen als Nichtrecht markiert und so aus dem Recht exkludiert werden. Diese Dimension biopolitischer Ausschlüsse muss aber gerade deswegen rechtskritisch eingeholt werden, weil das bürgerliche Recht selbst Akteur dieser Ausschlüsse ist, und zwar, wie in den nächsten Schritten demons­ triert wird, indem es anhand spezifisch biopolitischer Kriterien zwischen Recht und Nichtrecht unterscheidet.61 Beide Naturalisierungsdimensionen

61 Auf diesen Punkt hat bereits Agamben hingewiesen. Das natürliche Leben, auf das die Ausgeschlossenen im Sinne des Nichtrechts reduziert werden, gibt es nicht unabhängig von der rechtlichen Bestimmung des Nichtrechts als des ra­ dikalen Gegensatzes der rechtlichen Normativität. In diesem Sinne beschreibt auch Agamben das nackte Leben des homo sacer: „Das nackte Leben, in das sie verwandelt worden sind, ist indes kein natürliches extrapolitisches Faktum, welches das Recht nur feststellen oder anerkennen muss; es ist vielmehr im dargelegten Sinn eine Schwelle, auf der das Recht jedesmal ins Faktische und das Faktum ins Rechtliche übergeht und wo die Ebenen dazu tendieren, ununter­ scheidbar zu werden“ (Agamben 2002, 180). Dabei unterstreicht der von Agam­ ben herausgestellte Schwellencharakter der Beziehung zwischen Recht und Fak­ tum, d.h. in Menkes Terminologie zwischen Recht und Nichtrecht bzw. Recht und Natur, Menkes These der Instabilität der Grenze zwischen der normativen Unterscheidung von Recht und Unrecht einerseits und der nichtnormativen Unterscheidung von Recht und Nichtrecht andererseits: Die Normativität des Rechts droht immer in die nichtnormative Gewalt des Rechts gegenüber dem

193

Kapitel 3

sind dabei in Menkes rechtskritischer Systematik immanent angelegt: Das Recht naturalisiert im Inneren seines Geltungsbereichs das Wollen der Rechtssubjekte, die durch die subjektiven Rechte ermächtigt werden. Gleichzeitig naturalisiert es aber auch in einem gewaltsamen Akt nach außen hin, d.h. in der rechtsexternen Beziehung zu seinem Außen, das Leben derer, die aus dem Recht ausgeschlossen werden, indem es sie zum nichtrechtlichen Gegensatz des Rechts, d.h. zu etwas Natürlichem macht. Menke setzt also mit seiner Kritik der normalisierenden Herrschaftsmechanismen, die mit der Praxis der subjektiven Rechte innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verbunden sind, aus einem biopolitischen Blick­ winkel gleichsam einen Schritt zu spät an. Denn die Normalisierungsge­ sellschaft entsteht ja erst, wie Menke präzise aufzeigt, als Effekt der Selbst­ reflexion des modernen Rechts, d.h. in Reaktion auf die grundlegendere Dialektik von Normativität und Gewalt, die Menke als Paradox des Rechts bezeichnet. In den folgenden Kapiteln soll daher in Erweiterung von Men­ kes Ansatz die biopolitische Struktur dieses rechtlichen Paradoxons unter modernen Bedingungen herausgearbeitet werden. Dabei steht die Frage im Vordergrund, wie sich die nichtrechtliche Position der Ausgeschlosse­ nen im Rahmen einer biopolitischen Rechtskritik theoretisch angemessen zur Geltung bringen lässt. Dadurch wird Menkes Naturalisierungsbegriff in seiner Beschränkung auf die rechtsinterne Ebene der Legalisierung des Eigenwillens innerhalb der Normalisierungsgesellschaft aufgebrochen und auf seine rechtsexternen Wirkungen und externalisierenden Ausschlüsse hin geöffnet. Im Fokus der Untersuchung stehen dann nicht mehr die nor­ malisierenden Operationen innerhalb des Rechts, sondern die Exklusion aus dem Recht. Das bedeutet zusammengefasst: Bereits aus der internen Perspektive des Rechtssubjekts lässt sich der Bedingungscharakter und damit die Selektivi­ tät und Partikularität der rechtlichen Normalisierung ableiten. Indem das Rechtssubjekt durch die subjektiven Rechte als natürliches Leben konstitu­ iert wird, wird das natürliche Leben selbst zugleich zum biopolitischen Kriterium der Teilhabe an der Normalisierungsgesellschaft gemacht. Da­ mit wird jedoch gleichzeitig, so lautete das Argument, sein spezifisches Nichtrecht umzuschlagen, da ihr Verhältnis zueinander nicht statisch und klar definiert, sondern fluide und prekär ist. Jede Rechtskritik muss diese latente Aus­ schlussgewalt des Rechts thematisieren. Der radikale Grenzfall dieser rechtlichen Gewalt ist nach Agamben das Lager: „Das Lager ist der Ort dieser absoluten Unmöglichkeit, zwischen Faktum und Recht, zwischen Norm und Anwendung, zwischen Ausnahme und Regel zu entscheiden, und es ist der Ort, wo dennoch unablässig darüber entschieden wird“ (Agamben 2002, 182f.).

194

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

Ausschlusspotenzial angezeigt, denn wer sein Wollen und Handeln nicht in die Form des natürlichen Eigenwillens bringt, der kann nach Menke per definitionem auch kein Subjekt der subjektiven Rechte und damit kein sozialer Teilnehmer der bürgerlichen Gesellschaft werden. So verstanden, bildet die Natur dasjenige Element, das durch die subjektiven Rechte als deren normativer Kern berechtigt wird. Das natürliche Leben kehrt jedoch, so lautet das Ergebnis der vorange­ gangenen Reflexionen, auf einer weiteren, im Vergleich dazu grundlegen­ deren rechtlichen Ebene in einer radikal veränderten Bedeutungsdimensi­ on wieder, und zwar im Kontext der rechtskonstitutiven Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht, auf deren Selbstreflexion die moderne Praxis der subjektiven Rechte und die mit ihr verbundenen sozialen Prak­ tiken und Herrschaftsformen der Normalisierungsgesellschaft wiederum beruhen. Auf dieser Bedeutungsebene ist mit dem natürlichen Leben aber gerade nicht die Natur als normativer Bezugspunkt der Legalisierung des Natürlichen gemeint, sondern umgekehrt die Natur im Sinne des vom Recht abgegrenzten Nichtrechts. Hier bezieht sich also das natürliche Le­ ben auf all diejenigen, die im Raum des Nichtrechts, also außerhalb einer bestehenden Rechtsordnung, existieren. Aus der inneren Perspektive des Rechts sind diese Leben in dem Sinne natürlich, dass sie nicht zur Rechts­ ordnung gehören und als natürliche Leben, d.h. als Natur im Sinne des Nichtrechts, aus dem Bereich des Rechts ausgeschlossen sind. Obwohl die­ se nichtrechtliche Bedeutungsebene des Naturbegriffs rechtsphilosophisch eine fundamentale Rolle für Menkes Ansatz spielt, bezieht Menke sie nicht explizit in seine Problematisierung des biopolitischen Charakters subjekti­ ver Rechte ein, sondern blendet sie in diesem Zusammenhang aus. Das natürliche Leben des Rechtssubjekts ist daher nicht dasselbe wie das natürliche Leben der Ausgeschlossenen, auch wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag, weil auch das natürliche Leben des Rechtssubjekts, wie gesehen, als Selektionsmechanismus des Ein- und Ausschlusses ins Recht funktioniert. Denn das natürliche Leben, als das der Eigenwille des Rechtssubjekts durch das Recht notwendig bestimmt ist, stellt ja genau die Bedingung dar, die erfüllt sein muss, um ein Rechtssubjekt werden zu können. Wer durch das Recht nicht als ein solches natürliches Leben kon­ stituiert wird, so Menkes Argumentation, der kann folglich kein Subjekt der subjektiven Rechte werden. Um also ein rechtlich anerkannter Teil der Normalisierungsgesellschaft zu sein, muss das Individuum diskursiv als ein natürliches Leben im Sinne des subjektiven Eigenwillens konstituiert sein. Nur als natürliches Leben wird das Individuum zum Rechtssubjekt.

195

Kapitel 3

Das genaue Gegenteil ist hingegen in Bezug auf das natürliche Leben der Ausgeschlossenen der Fall. Denn der Ausgeschlossene ist gerade als na­ türliches Leben nicht in der Lage, ein Rechtssubjekt zu werden, und zwar genau deswegen: weil er aus der Sicht des Rechts ein natürliches Leben ist, nämlich im Sinne eines nichtrechtlichen Lebens. Er ist jedoch gleichzeitig nur deshalb ein natürliches Leben im Sinne des Nichtrechts, weil die Rechtsordnung selbst ihn als ein solches nichtrechtliches Leben bestimmt, indem sie sich als normative Ordnung in radikaler Differenz zu seinem na­ türlichen, weil aus dem Recht ausgeschlossenen Leben konstituiert. Ge­ genüber dem Ausgeschlossenen wirkt sich die Rechtsordnung also per definitionem stets als eine aktiv ausschließende Macht aus, unabhängig davon, ob der konkrete Ausschluss durch eine explizite Entscheidung direkt vom Staat ausgeht oder indirekt als strukturelles Merkmal staatlicher und nicht­ staatlicher Politik unbewusst reproduziert wird. In Bezug auf den Ausge­ schlossenen verhält sich das Recht daher niemals nur passiv, denn durch die Selbstveräußerlichung des Rechts gegenüber dem Nichtrecht produ­ ziert die Rechtsordnung selbst erst ihr konstitutives Außen und damit die nichtrechtliche Position der rechtlich Ausgeschlossenen. Während Menke selbst im Laufe seiner rechtstheoretischen Überlegun­ gen nicht die rechtskritische Frage nach den aus der Normalisierungsge­ sellschaft Ausgeschlossenen stellt, soll es im Folgenden in kritischer Erwei­ terung von Menkes Ansatz primär um die Prozeduren biopolitischer Aus­ schließung gehen. Bereits Foucault selbst hat sich in seinen biopolitischen Arbeiten explizit die Frage gestellt, in welcher Beziehung die Normalisie­ rungsgesellschaft zu ihrer Außenseite steht und wie sie ihre Beziehung zu den biopolitisch Ausgeschlossenen ausgestaltet. Deshalb möchte ich mich im nächsten Kapitel mit Foucaults diesbezüglichen Ausführungen beschäftigen, die sich in erster Linie um die Rolle des Rassismus in biopo­ litischen Gesellschaften drehen. Foucaults Erläuterung der biopolitischen Funktion des Rassismus für moderne Normalisierungsgesellschaften dient dann als begriffliche Basis für die Einführung von Judith Butlers poststruk­ turalistischer Perspektive, welche auf Foucaults Theorie, speziell auf dessen Reflexionen zur Bedeutung des Rassismus, aufbaut und diese konstruktiv weiterdenkt. 3.4.2 Foucaults Analyse des Rassismus in der Normalisierungsgesellschaft In Foucaults Genealogie hat die Normalisierungsgesellschaft, wie bereits oben zitiert, einen biopolitischen Ursprung: „Eine Normalisierungsgesell­

196

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

schaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttech­ nologie“ (Foucault 1983, 139).62 Foucault charakterisiert die Biopolitik in ihrem grundsätzlichen Unterschied zur souveränen Macht in seiner berühmten Formulierung in Der Wille zum Wissen folgendermaßen: „Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen, wur­ de abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1983, 134). Die Biopolitik formiert sich demnach als „die Macht zum Leben“ (ebd.) und befasst sich primär mit „dem lebendigen Men­ schen, dem Menschen als Lebewesen, und letztendlich, wenn Sie so wol­ len, dem Gattungs-Menschen“ (Foucault 2014, 91). In der Vorlesung vom 17. März 1976, die seine Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft am Collège de France abschließt, reformuliert Foucault diese Beschreibung der Biopolitik noch einmal in einem stärker rechtstheoretisch geprägten Vokabular: „Und ich denke, dass eine der nachhaltigsten Transformationen des politischen Rechts im 19. Jahrhundert darin bestand, dieses alte Recht der Souveränität – sterben zu machen oder leben zu lassen – zwar nicht unbedingt zu ersetzen, aber durch ein anderes, neues Recht zu ergänzen, durch ein Recht, das ersteres nicht beseitigt, sondern in es eindringt, es durchdringt, verändert und das ein Recht oder vielmehr eine genau umgekehrte Macht ist: die Macht, leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘. Das Recht der Souveränität besteht demgemäß darin, sterben zu machen oder leben zu lassen. Danach installiert sich dieses neue Recht: das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen“ (Foucault 2014, 89f.). Damit verdeutlicht Foucault die wichtige Einsicht, dass seinem Verständ­ nis zufolge die Souveränitätsmacht durch die Einführung der Biopolitik nicht einfach verdrängt oder abgelöst wird, sondern dass die Biopolitik als

62 Unter der Normalisierungsgesellschaft versteht Foucault vornehmlich die Ver­ flechtung zweier unterschiedlicher Regierungsrationalitäten, nämlich zum einen der auf das Individuum gerichteten Disziplinierung und zum anderen der auf die Bevölkerung gerichteten Regulierung: „Die Normalisierungsgesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich entsprechend einer orthogonalen Verknüpfung die Norm der Disziplin und die Norm der Regulierung miteinander verbinden“ (Foucault 2014, 102f.). Das Scharnier, das die Mikroebene der Disziplin mit der Makroebene der Regulierung zusammenfügt, bildet dabei laut Foucault die Norm: „Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden lässt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will“ (Foucault 2014, 102).

197

Kapitel 3

ein neuer Machttypus in eine produktive Koexistenz mit der alten Macht­ form der Souveränität tritt. Foucault beschreibt die Spezifik der Souveräni­ tätsmacht vor allem als „das Recht über Leben und Tod“ (Foucault 1983, 131), merkt aber direkt die diesem Recht zugrundeliegende Asymmetrie an: „Der Souverän übt sein Recht über das Leben nur aus, indem er sein Recht zum Töten ausspielt – oder zurückhält. Er offenbart seine Macht über das Leben nur durch den Tod, den zu verlangen er imstande ist. Das sogenannte Recht ‚über Leben und Tod‘ ist in Wirklichkeit das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen“ (Foucault 1983, 132). Die souveräne Macht richtet sich in ihrem Bezug auf Leben und Tod also in erster Linie auf den Tod und die Produktion des Todes und ist somit asymmetrisch verfasst. Im Vergleich dazu ist die Biopolitik als „positive Le­ bensmacht“ (ebd.) auf den ersten Blick eine genau gegenteilig strukturierte Machtform, „die das Leben in ihre Hand nimmt, um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren“ (Foucault 1983, 132f.).63 Foucault beschreibt die Biopolitik ja immer wieder erneut als einen Machttyp, in dem es immer weniger um das souveräne Recht über den Tod geht, sondern dessen Funktion nun vorrangig „in dem Recht liegt, zugunsten des Lebens zu intervenieren“ (Foucault 2014, 97). Deshalb wird durch den Staat im Rahmen der Biopo­ litik auch auf rechtlicher Ebene etwas radikal Neues eingeführt, das aus der Sicht des souveränen Rechts auf den Tod nicht nur sonderbar oder ungewöhnlich, sondern in dessen Heuristik schlichtweg nicht intelligibel ist, nämlich das Recht auf Leben. „Das ‚Recht‘ auf das Leben, auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Befriedigung der Bedürfnisse, das ‚Recht‘ auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann – jenseits aller Unterdrückungen und ‚Entfremdungen‘, dieses für das klassische Rechtssystem so unverständliche ‚Recht‘ war die politische Antwort auf all die neuen Machtprozeduren, die ihrerseits auch nicht mehr auf

63 Auf diesen zentralen Aspekt der Biopolitik als positive Lebensmacht beziehen sich auch Helene Gerhards und Kathrin Braun ausdrücklich. In ihrer konzeptu­ ellen Einordnung der Biopolitik wird „die innere biopolitische Logik der Stei­ gerung und Optimierung ihrer Gegenstände betont. Diese müssen nicht ‚das Leben an sich‘ zum Ziel haben, sondern können sich im umfassenden Sinne auf menschliche Lebensprozesse, Weisen der Lebensführung und deren Entwicklun­ gen auf makrosozialer Ebene beziehen“ (Gerhards/Braun 2019b, 9).

198

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

dem traditionellen Recht der Souveränität beruhen“ (Foucault 1983, 140). Das Recht auf Leben ist dem vormodernen Staat einerseits gerade in seiner spezifisch modernen Form als ein subjektives Recht fremd. Andererseits wird der Lebendigkeit des Einzelnen und der Gattung im Recht auf Leben eine privilegierte Stellung eingeräumt gegenüber der souveränen Macht, die das Leben potenziell dem Tod zuführt. Vordergründig scheint es sich also tatsächlich so zu verhalten, dass sich die souveräne Macht primär um den Tod dreht, während es in der Biopolitik hauptsächlich um das Leben geht. Über diese Betonung der biopolitischen Vereinnahmung des Lebens hinaus bleibt dabei aber oftmals unberücksichtigt, dass Foucault selbst sich im Kontext seiner biopolitischen Studien explizit Gedanken darüber gemacht hat, auf welche Weise und mittels welcher Diskurse sich die Biopolitik auf den Tod bezieht und wie das souveräne Recht über den Tod – das auch unter den Bedingungen der Biopolitik nicht ver­ schwindet, sondern als zentrale staatliche Funktion bestehen bleibt – im Rahmen biopolitischer Gesellschaftsformationen, also in modernen Nor­ malisierungsgesellschaften, ausgeübt werden kann. Foucault selbst wirft damit die machttheoretische Frage nach dem Ort und der Rolle des Todes unter den gesellschaftlichen Bedingungen der biopolitischen Macht über das Leben auf. In Der Wille zum Wissen verliert Foucault nicht allzu viele Worte in Bezug auf dieses Thema. Eher beiläufig bemerkt er, dass er für die Unter­ scheidung von souveräner Macht und Biopolitik auch das Beispiel der Todesstrafe hätte auswählen können und vermerkt knapp, dass unter bio­ politischen Voraussetzungen „man statt der Enormität des Verbrechens die Monstrosität und Unverbesserlichkeit des Verbrechers sowie den Schutz der Gesellschaft in den Vordergrund“ (Foucault 1983, 134) stellen muss, um die staatliche Tötung zu rechtfertigen. Kurz davor beschäftigt sich Foucault mit dem Genozid als „Traum der modernen Mächte“ (Foucault 1983, 133) und betont, dass dieser unter biopolitischen Vorzeichen „nicht aufgrund einer Wiederkehr des alten Rechts zum Töten“ zur politischen Möglichkeit wird, „sondern eben weil sich die Macht auf der Ebene des Le­ bens, der Gattung, der Rasse und der Massenphänomene der Bevölkerung abspielt“ (ebd.). Einer Vertiefung dieser Thematik des Todes innerhalb der Biopolitik geht Foucault an dieser Stelle aber nicht nach. Anders verhält es sich demgegenüber in der bereits erwähnten Vorle­ sung vom 17. März 1976 im Rahmen seiner Vorlesungsreihe In Verteidi­ gung der Gesellschaft. Hier widmet sich Foucault ausführlich dem zuvor nur angedeuteten biopolitischen Thema des Rassismus bzw. „des Staatsras­

199

Kapitel 3

sismus“ (Foucault 2014, 88) im modernen Kontext der Normalisierungs­ gesellschaften, indem er die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung entscheidende Frage stellt: „Wie kann diese Macht, die wesentlich die Hervorbringung von Leben zum Ziel hat, sterben lassen? Wie kann man die Macht des Todes, wie kann man die Funktion des Todes in einem rund um die Bio-Macht zentrierten politischen System ausüben? Hier kommt der Rassismus ins Spiel“ (Foucault 2014, 104). Der Rassismus bildet für Foucault das Dispositiv, das es der biopolitischen Macht erlaubt, das souveräne Recht auf den Tod in ihre Systematik des Lebens und der Lebenssteigerung einzuschreiben. „Wenn die Normalisie­ rungsmacht das alte souveräne Recht zu töten ausüben möchte, muss sie sich des Rassismus bedienen“ (Foucault 2014, 106). Denn der Rassismus ermöglicht es einer Normalisierungsgesellschaft, in das Leben der Bevölke­ rung eine biologische Spaltung einzuführen und dadurch die Gesellschaft in ihrer lebendigen Pluralität aufzuteilen und zu zersplittern. „Rasse, Rassismus ist die Bedingung für die Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft. (…) Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktio­ niert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus“ (ebd.). Unter Rassismus werden in dieser Arbeit im Anschluss an die angloame­ rikanische Tradition der Critical Philosophy of Race64 gesellschaftliche Herr­ 64 Zum philosophischen Forschungsfeld der Critical Philosophy of Race vgl. den DZPhil-Schwerpunkt von Kristina Lepold und Marina Martinez Mateo (vgl. Le­ pold/Mateo 2019; für einen ausführlicheren Überblick vgl. Lepold/Mateo 2021). Dieser rassismuskritische Forschungsstrang dreht sich konzeptuell um die gesell­ schaftliche und politische Dynamik der Kategorie race und „verweist (…) auf eine eigene Tradition kritischer Aneignungen und sozialkonstruktivistischer Umdeu­ tungen“ (Lepold/Mateo 2019, 572). Mit race werden dabei sowohl in kritischer Absicht das Fortleben rassistischer Strukturen in modernen Gesellschaften als auch die (bürger-)rechtlichen und sozialen Kämpfe gegen Formen des Rassismus selbst bezeichnet (vgl. Lepold/Mateo 2019, 582). Race ist daher eine Kategorie der Selbst- wie auch der Fremdzuschreibung und dient in beiden Fällen der Kritik rassistischer Verhältnisse, entweder durch das Benennen und Sichtbarma­ chen von strukturellem Rassismus oder durch die aktive Markierung der eige­ nen unterdrückten und rassifizierten gesellschaftlichen Position im Sinne eines kollektiven Empowerments diskriminierter Gruppen. In dieser Perspektive be­ steht das rassismuskritische Engagement gerade darin, rassistische „Verhältnis[se] der Beherrschung, Ausgrenzung oder Invisibilisierung von weniger machtvollen Akteursgruppen“ (Dübgen 2019, 621) nicht länger als gegeben hinzunehmen,

200

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

schaftsverhältnisse verstanden, in denen die eigene soziale (Vor-)Machtstel­ lung dadurch abgesichert wird, dass ein abgewertetes ‚Anderes‘ dem Eige­ nen gegenübergestellt wird. Der Andere wird dabei „gewöhnlich entwe­ der nach phänotypischen Merkmalen, nach geografischen und nationalen Kriterien oder verstärkt auch nach vermeintlich kulturellen Kategorien“ (Dübgen 2019, 621) als fremd, unterlegen und irrational markiert und aus­ gegrenzt. Achille Mbembe zufolge, dessen postkoloniales Denken im wei­ teren Verlauf dieser Arbeit noch ausführlicher vorgestellt wird, „besteht der rassistische Akt in der willkürlichen und grundlegenden Behauptung einer Überlegenheit, die den Vorrang einer Gruppe oder Klasse oder Men­ schenart über andere begründen soll“ (Mbembe 2017, 143). Die Idee der Rasse wird deshalb in rassismuskritischen Wissenschaftsdebatten häufig als ein grundlegendes Element der gesellschaftlichen Klassifizierung anhand der Zuschreibung von Differenzen begriffen65, d.h. als ein Prinzip der Ungleichheit, das „die großen klassifikatorischen Differenzsysteme in der modernen Menschheitsgeschichte strukturiert hat“ (Hall 2018, 57). Stuart Hall zufolge „bildet Rasse das Herzstück eines hierarchischen Systems, das Differenzen produziert“ (ebd.). Damit gehen auf der theoretischen Ebene zwei grundlegende Charakte­ ristika in Bezug auf den Rassenbegriff und das Verständnis des Rassismus einher: Erstens wird Rasse als „ein diskursives Konstrukt“ (Hall 2018, 56) und somit als „kulturelle und historische (…) Tatsache“ (ebd.) kon­ zeptualisiert (vgl. zum Begriff des kulturellen Rassismus als ‚Neo-Rassis­ sondern explizit zu benennen und in Akten kollektiven Widerstands zu durch­ brechen. Dadurch werden alltägliche Handlungsstrukturen und Gewohnheiten gezielt unterbrochen und ausgesetzt, um auf die darin bewusst oder unbewusst reproduzierten rassistischen Elemente und Mechanismen aufmerksam zu ma­ chen. 65 Auch im rassismuskritischen Diskurs des lateinamerikanischen Raums spielt die­ se Idee einer differenziellen Klassifizierung der Gesellschaft eine zentrale Rolle für die begriffliche Bestimmung des Rassismus. So vermerkt der peruanische So­ ziologe Aníbal Quijano in Bezug auf das spanische raza-Konzept bündig: „Raza wurde also zum ersten Hauptkriterium für die Einteilung der Weltbevölkerung in Rangstufen, Stellungen und Rollen in der Machtstruktur der neuen Gesell­ schaft. Sie wurde zum grundlegenden Modus der universellen gesellschaftlichen Klassifizierung der Weltbevölkerung“ (Quijano 2019, 29). Allgemein betrachtet, funktioniert raza also konzeptuell analog zum angloamerikanischen race-Begriff. Mit dem Rassenbegriff wird in beiden Traditionslinien auf die Kontinuität kolo­ nialer Denk- und Handlungsmuster abgestellt: „Die aus post- und dekolonialer Perspektive wirksamste unter den sozialen Klassifikationen der Moderne – ‚Rasse‘ – etabliert sich nach Quijano stets in Konflikten und sozialen Verteilungsprozes­ sen, in denen historische Auseinandersetzungen fortwirken“ (Brunner 2020, 43).

201

Kapitel 3

mus‘: Balibar 1992a; zudem McCarthy 2009). Dieses sozialkonstruktivisti­ sche Verständnis von Rasse, das „üblicherweise als ‚race constructionism‘ bezeichnet wird“ (Lepold/Mateo 2019, 575) lässt sich dabei gegenüber naturalistischen, also „biologistisch-essentialistische[n] Konzeptionen von ‚Rasse‘“ (Lepold/Mateo 2019, 573) abgrenzen, die Rasse „als biologische Kategorie begreif[en], die sich medizinisch vermessen, beschreiben und kategorisieren lässt“ (Dübgen 2019, 620). Demgegenüber wird von „RaceKonstruktivisten“ (ebd.) hervorgehoben, dass Rassismus stets das Produkt gesellschaftlicher Rassifizierungsdiskurse ist und „durch Zuschreibungs­ prozesse innerhalb von sozialen Machtverhältnissen entsteht“ (ebd.). In diesem Sinne bestimmt Hall Rassismus als „ein Bedeutungssystem“ (Hall 2018, 57), d.h. als „eine Art und Weise, die Welt zu strukturieren und bedeutungsvoll zu klassifizieren“ (ebd.). Darin wird die zentrale Einsicht ausgedrückt, dass der Rassismus nicht etwa bestehende Differenzen in einer neutralen Außenwelt registriert, son­ dern sich stets in einer normativ beurteilenden und wertenden Hinsicht auf die Welt bezieht, welche am Leitfaden einer rassistischen Heuristik interpretiert und dadurch erst mit einer rassifizierenden Logik aufgela­ den wird. Dies wird exemplarisch an der rassistischen Kodierung der Hautfarbe und der darin hervorgebrachten Differenz von Weißsein und Schwarzsein deutlich: Die Unterdrückung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe vollzieht sich nur vor dem Hintergrund der vorherigen diskursi­ ven, also bedeutungsvollen Kodierung von Schwarzsein als Zeichen von Unterlegenheit.66 „Damit wird auf den Umstand Bezug genommen, dass 66 So begreift auch Quijano die rassistische Differenzierung zwischen Weißsein und Schwarzsein als einen mentalen, kulturellen und ästhetischen Prozess der ‚Kodifizierung‘: „Mit der Zeit kodifizierten die Kolonialherren die phänotypischen Züge der Kolonisierten als Farbe und übernahmen diese als emblematisches Charakte­ ristikum der rassialisierten Einteilung. (…) Sie (die Schwarzen; S.F.) waren vor allem die bedeutsamste kolonisierte raza, denn die Indios waren nicht Teil dieser kolonialen Gesellschaft. Die Herrschenden nannten sich erst infolgedessen Wei­ ße“ (Quijano 2019, 27). Daraus geht zum einen hervor, dass bereits die Kategorie Farbe kein selbstverständlich gegebenes Faktum darstellt, sondern das historische Ergebnis einer spezifischen kulturellen Hervorbringung ist. Das Sprechen von Weißsein und Schwarzsein ist also seinerseits an das kontingent entstandene Vorhandensein der Kategorie Farbe als spezifisch rassistischem Instrument der gesellschaftlichen Einteilung gebunden. Farbe ist kein deskriptiver Begriff, son­ dern ein normatives Kriterium im Kontext von Rassifizierungsprozessen. Zum anderen wird aus Quijanos Analyse ersichtlich, dass das Weißsein als Selbstzu­ schreibung der Kolonialherren auf reziproke Weise mit der diskriminierenden Markierung der Kolonisierten als Schwarze verbunden ist. Diese Privilegierung der weißen Herren durch die rassistische Konstituierung des radikal Anderen an­

202

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

bedeutsam gemachte oberflächliche Marker wie Hautfarbe immer wieder als Zeichen für tiefe Wesensunterschiede zwischen Menschen interpretiert und zur Begründung von Hierarchien eingesetzt wurden“ (Lepold/Mateo 2019, 572). Die rassistische Klassifizierung von Menschen anhand ihrer Hautfarbe bezieht sich also niemals einfach auf vorhandene „Referenten in der materiellen Wirklichkeit“ (Dübgen 2019, 620f.), sondern muss grund­ sätzlich als Effekt ideologischer Reflexions- und Interpretationsprozesse verstanden werden, welche die „Stabilisierung bestehender Macht- und Eigentumsverhältnisse“ (Dübgen 2019, 621) zum Ziel haben. In Franziska Dübgens programmatischer Formulierung: „‚Weiß‘ gilt hier als Marker struktureller Privilegierung und nicht als Verweis auf eine bestimmte Hautfarbe“ (Dübgen 2019, 621). Zweitens bezeichnen die Begriffe der Rasse und des Rassismus in ers­ ter Linie keine individuellen Haltungen oder Verhaltensweisen, sondern beziehen sich auf die Struktur der Gesellschaft als Ganze: Rasse ist v.a. eine „strukturelle Kategorie“ (Lepold/Mateo 2019, 579). Rassismus „[kann] nicht durch einen individuellen Willensakt und nicht durch eine einfa­ che Kritik an falschen Überzeugungen überwunden werden“ (ebd.). Ras­ sismuskritisches Denken muss sich vielmehr auf die kollektiven Praktiken und Handlungsmuster westlicher Gesellschaften richten, da rassistische Diskurse infolge der kolonialen Geschichte dieser Gesellschaften auch ge­ genwärtig tief in deren sozialen und politischen Strukturen verwurzelt sind, bspw. „in Bezug auf Status, Güterverteilung, Ämter, Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt“ (Dübgen 2019, 621). Dadurch wird der sys­ temische Charakter des Rassismus sichtbar gemacht und zugleich themati­ siert, „wie Rassismus in den normativen Ordnungen der modernen westli­ chen Welt verankert ist“ (Lepold/Mateo 2019, 579). Gerade in Bezug auf ein solches Sichtbarmachen kollektiver Strukturen und Prozesse kommt der politischen Philosophie eine besondere Rolle und Verantwortung zu (vgl. ebd.).67

hand von Schwarzsein funktioniert dabei gewissermaßen analog zur Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik, in deren Rahmen der Herr ebenfalls in konstitutiver, existenzieller Weise auf den Knecht als radikalen Gegensatz angewiesen ist (vgl. Kuch 2013). Beide Subjektpositionen, die weißen Herrschenden und die schwar­ zen Beherrschten, bilden die beiden Pole innerhalb eines umfassenderen relatio­ nalen Beziehungsgeflechts, das zugleich ein asymmetrisches Herrschaftsverhältnis zwischen beiden bedingt. 67 Ein häufig thematisiertes Beispiel für die Reproduktion des kolonialen Rassis­ mus durch gegenwärtige Gesellschaftsstrukturen stellt der universelle Geltungs­ anspruch des Liberalismus als (welt-)politischer Ordnung dar: „Gerade insofern

203

Kapitel 3

Auch Foucault begreift Rassismus vor dem Hintergrund seines diskurs­ analytischen Ansatzes als einen Prozess der diskursiven Aufspaltung und Klassifikation der Gesellschaft in unterschiedlich wertvolle Teile. Foucaults diskurskritisches Denken liegt den gerade angesprochenen Modellen der Race-Konstruktivisten allgemein als ein wichtiger theoretischer Impuls zugrunde. In der Forschung wird Foucault dabei einerseits als Denker rezipiert, dessen machttheoretische und genealogische Methodik sich für die Beschreibung und Kritik rassistischer Diskursmechanismen besonders gut eignet (vgl. Kerner 2009, 20–37; Rasmussen 2011). Gerade Foucaults Thematisierung von diskursiven Ausschließungsmechanismen oder seine Diskussion der selektiven Produktion von gesellschaftlichen Sagbarkeiten und Wahrheiten innerhalb umfassender Diskurssysteme werden bspw. in Arbeiten herangezogen, die sich mit der Intersektionalität von Rassismus, Sexismus und Antifeminismus beschäftigen (vgl. Hark/Villa 2017). Ande­ rerseits werfen Autorinnen wie Ann Laura Stoler (vgl. Stoler 1995) Fou­ cault mit Blick auf sein Gesamtwerk vor, dass er den kolonialen Charakter der Macht in der Moderne fast vollständig ausblendet bzw. „dass seine historischen Genealogien von Machtbeziehungen in der europäischen Mo­ derne Fragen in Bezug auf Kolonialismus, Rassismus und einen liberalen Imperialismus systematisch ignorieren“ (Allen 2019, 259). Auch wenn die Auseinandersetzung mit kolonialen und imperialen Herrschaftsverhältnissen sicherlich eine bedeutsame Leerstelle in Foucaults Werk darstellt und als solche einer grundlegenden post- bzw. dekolonialen Kritik bedarf, möchte ich dafür argumentieren, dass Foucaults philosophi­ sche Perspektive nichtsdestotrotz zentrale Ansatzpunkte und Wegmarken für ein kritisches Verständnis des Rassismus und dessen biopolitischer Funktionsweise in der Moderne liefert. Dafür spricht im Übrigen auch, sich der Liberalismus als universell versteht, reproduziert er unter der Hand alte – oder produziert sogar neue – Formen rassistischer Zuschreibung und Diskriminierung. Dieser Universalismus beruht schließlich, so die Annahme, auf einer ‚westlichen‘ Norm und seine Umsetzung setzt koloniale Strukturen voraus, deren Macht durch ihn verstärkt wird. Ausgrenzungen und Diskriminie­ rungen gründen dann nicht auf expliziter Abwertung, sondern auf dem schein­ bar neutralen Funktionieren dieser Strukturen, die für alle gleichermaßen gelten sollen“ (Lepold/Mateo 2019, 579f.). In einer solchen Lesart wird dann u.a. die universelle Normativität der Menschenrechte kritisch auf ihre eurozentrischen und imperialistischen Implikationen hin befragt, etwa in Form einer westlichen Idee von Entwicklungspolitik (vgl. Dübgen 2014), die dem Globalen Süden als politisches Leitprinzip durch den Globalen Norden (u.a. mittels ökonomischer Zwangsmechanismen) vorgegeben und damit zu einer globalen Hegemonie im Sinne Gramscis gemacht wird.

204

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

dass in der aktuellen Forschung Foucaults Vernunft- und Machtkritik im Allgemeinen sowie dessen Konzept der Biopolitik im Besonderen immer wieder explizit mit dem Begriff des Rassismus zusammengedacht werden (vgl. Braun 2013; Allen 2019; zur deutschsprachigen Debatte vgl. den be­ reits in der Einleitung genannten Sammelband Biopolitik und Rassismus: Stingelin 2003; darin insb. Lemke 2003; Sarasin 2003; Thüring 2003). In ihrer jüngsten Monografie rückt darüber hinaus Judith Butler explizit die hier diskutierten Stellen aus Foucaults Vorlesungsreihe In Verteidigung der Gesellschaft ins Zentrum ihrer Untersuchungen und entwickelt Fou­ caults Beschreibung des Rassismus für eine biopolitische Gesellschafts- und Rechtskritik weiter (vgl. Butler 2020). Butlers Überlegungen werden dem­ entsprechend in den folgenden Kapiteln ausführlich diskutiert. Gerade mit Blick auf diese jüngeren Rezeptionslinien sollte Foucaults Diskurstheorie also nicht einfach mit dem (legitimen) Verweis auf die darin enthaltenen, von Foucault unaufgearbeiteten blinden Flecken abgetan werden, da sei­ ne diskursanalytische und machtkritische Herangehensweise an moderne Gesellschaftsformationen allgemein eine wichtige Weichenstellung für ras­ sismuskritische Zugänge darstellt und zudem „fruchtbare Ressourcen für die postkoloniale Theoriebildung“ (Allen 2019, 258) bereitstellt. Foucault zufolge stellt der Rassismus in biopolitischen Gesellschaften den Tod der einen in den Dienst des Lebens der anderen, so dass die Ver­ nachlässigung oder Tötung bestimmter Subjekte und Gruppen im Namen des Schutzes des Lebens der offiziellen Bevölkerung legitimiert werden kann. Die Normalisierungsgesellschaft zeichnet sich dabei aus biopoliti­ scher Sicht gerade dadurch aus, dass sie die Bevölkerung im Sinne einer biologischen Gesamtheit diskursiv konstruiert und sich den Schutz und die Steigerung ihrer Lebendigkeit anhand der Überwachung und Optimie­ rung „von Prozessen wie das Verhältnis von Geburt- und Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usw.“ (Foucault 2014, 92) zur Aufgabe macht. Aus der Perspektive der rechtlichen Norma­ tivität ist dabei jedes einzelne Individuum innerhalb der Ganzheit einer Bevölkerung mit dem Recht auf Leben ausgestattet, das aufgrund seiner in­ dividuellen Zuschreibung die Form eines subjektiven Rechts annimmt.68 Unter diesen modernen Bedingungen können Tötungsakte vonseiten der souveränen Macht nur noch in ihrer paradoxen Ausrichtung auf die Verbesserung und Regulierung von kollektiven Lebensprozessen gesell­

68 Dieses Recht auf Leben hat darüber hinaus in Artikel 3 der 1948 von den Verein­ ten Nationen beschlossenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte explizit einen menschenrechtlichen und somit fundamentalen Status erhalten.

205

Kapitel 3

schaftlich toleriert werden, da sie sich grundsätzlich im Rahmen einer egalitären Normativität, d.h. einer politischen Gleichberechtigung und normativen Gleichbewertung sowohl des Lebens der Einzelnen als auch des Lebens von gesellschaftlichen Gruppen und Bevölkerungsschichten bewegen müssen. Der Rassismus erfüllt laut Foucault seine legitimieren­ de Funktion mit Blick auf die souveräne Macht über den Tod speziell dadurch, dass er sowohl im Inneren einer bestimmten Bevölkerung als auch im größeren Verhältnis zwischen verschiedenen Völkern und Staaten hierarchische Unterscheidungen anhand biologischer Über- bzw. Unterle­ genheitsvorstellungen einführt. „Im großen und ganzen sichert der Rassismus, denke ich, die Funkti­ on des Todes in der Ökonomie der Bio-Macht gemäß dem Prinzip, dass der Tod der Anderen die biologische Selbst-Stärkung bedeutet, insofern man Mitglied einer Rasse oder Bevölkerung ist, insofern man Element einer einheitlichen und lebendigen Pluralität ist“ (Foucault 2014, 108). Die Souveränitätsmacht, die sich in Foucaults Heuristik charakteristisch im Recht auf den Tod manifestiert, bleibt also auch innerhalb der Norma­ lisierungsgesellschaft erhalten, wird aber gleichzeitig durch die Biopolitik instrumentalisiert und in ihrem politischen Sinn modifiziert. Im Zeichen der modernen Normalisierungsmacht geht es im souveränen Recht über den Tod dann nicht mehr um „die juridische Existenz der Souveränität“ (Foucault 1983, 133), sondern um den biopolitischen Zweck einer biologi­ schen „Reinigung der Rasse“ (Foucault 2014, 108). Die souveräne Macht zu töten wird dem rassistischen Diskurs der Biopolitik untergeordnet und dient von nun an der Verteidigung der eigenen biologischen Gemein­ schaft angesichts äußerer und innerer Gefahren, die das Leben und die Gesundheit dieser rassisch definierten Gemeinschaft auf existentielle Weise bedrohen. Die Vernichtung der biologischen Gefahr „durch Beseitigung der gegnerischen Rasse“ (Foucault 2014, 107) steht dabei sogar in einer direkten Beziehung zur Lebendigkeit der eigenen Rasse. Denn „der Tod des Anderen, der Tod der bösen Rasse, der niederen (oder degenerierten oder anormalen) Rasse wird das Leben im allgemeinen gesünder machen; gesünder und reiner“ (Foucault 2014, 105). Die Biopolitik implementiert also den „Rassismus in die Mechanismen des Staates“ (Foucault 2014, 104) und transformiert dadurch den Bezugs­ modus der souveränen Macht zu töten auf das Leben, d.h. die Weise ihres Zugriffs und den Zweck ihrer Anwendung innerhalb von gesellschaftlichen Lebensprozessen. Damit verschiebt sich aber gleichzeitig auch das

206

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

Objektfeld des Lebens, auf das sich die souveräne Macht in ihren potenzi­ ellen Tötungsakten bezieht, und verändert durch seine Beschlagnahmung durch die Biopolitik seine soziale Bedeutung. Das zeigt Foucault exempla­ risch daran auf, dass die staatliche Praxis der Kriegsführung unter den epis­ temischen und politischen Bedingungen der Biopolitik notwendig durch Formen des Staatsrassismus infiltriert und konstituiert und dadurch biopo­ litisch kanalisiert wird. Die Normalisierungsmacht des modernen Staates bekämpft im Kriegsfall aufgrund der notwendigen Einschreibung der sou­ veränen Tötungsfunktion des Staates in einen rassistischen Diskurs nicht mehr einen politischen Gegner, sondern richtet ihre destruktive Aktivität auf einen biologischen Feind (vgl. Foucault 2014, 107). Foucault unterscheidet dabei die biopolitische Wirkungsweise des Ras­ sismus zunächst von der Idee des Krieges, die er eher auf der Seite der sou­ veränen Macht des Staates einordnet. Nach Foucault liegt der spezifische Unterschied zwischen dem rassistischen Diskurs der Biopolitik und der Idee des Krieges als Schauplatz und Schlachtfeld der souveränen Macht in dem jeweiligen Verhältnis, in dem beide zum Tod bzw. zur Tötung stehen. Foucault beschreibt die kriegerische Beziehung zum Tod als eine direkte Beziehung im Rahmen eines militärischen Überlebenskampfs: „‚Um zu leben, musst du wohl deine Feinde umbringen.‘ (…) ‚wenn Du leben willst, muss der andere sterben‘“ (Foucault 2014, 105). Der biopolitische Rassismus nimmt für Foucault demgegenüber eine indirektere und weniger spektakuläre, deshalb aber nicht weniger brutale und effektive Beziehung zum Tod ein. Dabei suspendiert der Rassismus die souveräne Form der Beziehung zum Tod im Krieg nicht einfach, sondern er „spielt sie auf eine neue Art und Weise aus, die mit der Ausübung der Bio-Macht kompatibel ist“ (ebd.). Auch in der Biopolitik geht es daher um die „Beziehung zwischen meinem Leben und dem Tod des Anderen“ (ebd.), aber nun eben unter den diskursiven Bedingungen des biologischen Rassismus: „Je zahlreicher jene sein werden, die durch uns umkommen, um so reiner wird die Rasse sein, der wir angehören“ (Foucault 2014, 107). Auch in diesem Zusammenhang geht es Foucault also nicht einfach um eine simple zeitliche Aufeinanderfolge von souverä­ ner und biopolitischer Macht, sondern um „[d]as Nebeneinander oder vielmehr das Funktionieren der alten souveränen Macht des Rechts über den Tod durch die Bio-Macht“ (Foucault 2014, 108). Diese Überlegungen liefern dem Vorhaben einer erweiterten biopoliti­ schen Kritik des Rechts entscheidende Impulse: In Auseinandersetzung mit Foucaults Analysen zur Rolle des Rassismus innerhalb der Biopolitik wird sichtbar, dass sich die biopolitische Normalisierungsmacht nicht ein­

207

Kapitel 3

fach nur auf regulierende und disziplinierende Weise auf die innerhalb einer Rechtsordnung lebenden Rechtssubjekte bezieht, sondern darüber hinaus in einem spezifisch rassistischen Machtverhältnis zu denjenigen steht, die nicht Teil der Normalisierungsgesellschaft sind. Die biopoliti­ sche Kritik des Rechts muss also über die (der Normalisierungsgesellschaft immanente) Machtbeziehung des Staates gegenüber den einzelnen Rechts­ subjekten hinaus ein kritisches Verständnis des rassistischen Exklusions­ verhältnisses entwickeln, das die Normalisierungsgesellschaft gegenüber ihrer Außenseite einnimmt und durch das sie bestimmte Individuen und Gruppen auf biopolitische Weise aus dem Recht ausschließt. Der spezifisch biopolitische Charakter dieser Ausschließungen liegt dabei mit Foucault speziell in ihrer rassistischen Form. Darüber hinaus kann der Rassismus auf dieser Basis als der spezifische Mechanismus der Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht vor dem Hintergrund der Biopolitik interpretiert werden. Entscheidend ist dabei, dass sich mit Foucault die Recht-Nichtrecht-Unterscheidung als pa­ radoxe Grundstruktur des Rechts über Menke hinaus in den spezifischen biopolitischen Kontext der Moderne einordnen lässt. Denn das Verhältnis, in dem die Normalisierungsgesellschaft zu ihrer rassifizierten Außenseite steht, gehorcht eben nicht den Gesetzmäßigkeiten der normalisierenden Regulierung einer Bevölkerung innerhalb der normativen Einheit eines Rechtssystems, sondern folgt in seiner exkludierenden Dimension viel­ mehr der Gewaltlogik, die in der Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht, also zwischen einer Rechtsordnung und ihrem Anderen, ange­ legt ist. Das bedeutet, dass biopolitische Gesellschaften in ihren nach in­ nen hin normalisierenden Funktionsmechanismen und Diskursstrukturen gleichzeitig von einer rassistischen Praxis der Abwertung und Entrechtung nach außen hin leben. Im Aufweis dieser konstitutiven Verbindung zwi­ schen der Normalisierungsmacht und dem Rassismus wird die Biopolitik also über Menkes Ansatz hinaus in ihrem gewaltförmigen Ausschlusscha­ rakter erkennbar. Das diskursive Instrument der Ausschließung aus der Normalisierungs­ gesellschaft, so lässt sich demnach von Foucault lernen, ist der Rassismus bzw. die Art und Weise, wie sich die Biopolitik als lebenserhaltende und -steigernde Macht in ihrem Bezug auf die Tötung und Zerstörung des Lebens des Rassismus bedient. Der Rassismus funktioniert unter biopoliti­ schen Gesichtspunkten, wie bereits angedeutet, dadurch, dass er das Leben in verschiedene Wertstufen aufteilt und dadurch biologisch-essentialisti­ sche Spaltungen in das Leben selbst einführt. Die entscheidende Stelle dazu bei Foucault lautet: „Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst

208

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

ein Mittel, um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss“ (Foucault 2014, 104). Und Foucault fügt daraufhin hinzu: „Schon das biologische Kontinuum der menschlichen Gattung, das Auftauchen von Rassen, die Unterscheidung von Rassen, die Hierar­ chie von Rassen und die Bewertung bestimmter Rassen als gut und anderer als minderwertig, all das stellt eine Art und Weise dar, das biologische Feld, das die Macht besetzt, zu fragmentieren; eine Art und Weise, im Innern der Bevölkerung Gruppen gegeneinander aus­ zuspielen und, kurz gesagt, eine Zäsur biologischen Typs in einen Bereich einzuführen, der sich eben als biologischer Bereich darstellt. (…) Die erste Funktion des Rassismus liegt darin, zu fragmentieren und Zäsuren innerhalb des biologischen Kontinuums, an das sich die Bio-Macht wendet, vorzunehmen“ (Foucault 2014, 104f.). Damit unterstreicht Foucault deutlich die rassistische, thanatopolitische Seite der Biopolitik als negatives Pendant zur positiven, produktiven und lebenssteigernden Funktion biopolitischer Diskurse und Gesellschaftsstrukturen. Dabei sollte Foucaults biologistisches Vokabular jedoch nicht essentialistisch als Ausdruck eines unkritischen „‚race naturalism‘“ (Le­ pold/Mateo 2019, 575) ausgelegt werden. Foucault ist sich in der termino­ logischen Beschreibung eines vermachteten biologischen Feldes ausdrück­ lich darüber bewusst, dass „die menschliche genetische Variabilität zwi­ schen den Populationen, die normalerweise mit einer rassischen Kategorie assoziiert werden, nicht signifikant größer [ist] als die innerhalb solcher Populationen selbst“ (Hall 2018, 58).69 Foucault begreift dementsprechend das biologische Feld der menschlichen Gattung in einem antinaturalisti­ schen Sinne als Diskurseffekt eines spezifisch modernen Regimes naturwis­ senschaftlichen Wissens, das historisch konstituiert und diskursiv struktu­ riert und vermachtet ist. Diese thanatopolitische Facette der Biopolitik, die Foucault als rassistische Zäsur innerhalb des biologischen Bereichs des Lebens charakterisiert, ist in der Forschung an verschiedenen Stellen

69 Race-Konstruktivistinnen und -Konstruktivisten wie Michel Foucault oder, an Foucault anknüpfend, Stuart Hall gehen, wie bereits erläutert, von der grundle­ genden Erkenntnis aus, „dass sämtliche Bemühungen um eine wissenschaftliche Grundlegung des Begriffs, alle Versuche, der Rassenidee eine biologische, physio­ logische oder genetische Begründung zu verschaffen, sich als unhaltbar erwiesen haben“ (Hall 2018, 57).

209

Kapitel 3

aufgenommen und in ihrer Bedeutung für die widersprüchlichen und zerstörerischen Aspekte der Biopolitik hervorgehoben worden. So schreibt Bruce Braun in Bezug auf den Charakter der Biopolitik bei Foucault: „But many miss Foucault’s insistence that this (biopolitics; S.F.) was a power not only to ‘make live’ but to ‘let die’, and, moreover, to let die so that others might live better. The key point is that even as Fou­ cault identified biopower’s objective as the vitality of populations, he insisted that it necessarily excluded some individuals, or, perhaps more to the point, included them through their exclusion. As he explained in his lecture of 17 March 1976, investing in life paradoxically entailed killing – or at least abandoning or exposing to risk – some populations in the name of the vitality of valued forms of life” (Braun 2013, 54). Braun arbeitet hier die thanatopolitische Ausschlussdynamik als Kern der Biopolitik heraus, indem er die von Foucault angesprochene rassistische Zäsur als einen Bruch interpretiert, der zwischen unterschiedlich schüt­ zenswerten Menschenleben differenziert, d.h. als „cut that distinguishes between those humans accorded protection and those abandoned“ (ebd.). Der biopolitische Schutz des Lebens der einen erscheint bei Braun, ganz in der Linie Foucaults, als immanent mit der rassistisch legitimierten Vernachlässigung oder Opferung der anderen, nämlich „the racialized mi­ nority, the infirm, the disabled“ (ebd.), verknüpft. Biopolitik wird hier gedeutet als „practice that intervenes in life (and against life) in order to secure life“ (ebd.). Anhand dieser rassismuskritischen Ausführungen lässt sich der Begriff der Biopolitik mit Blick auf seine rechtsphilosophischen Implikationen gegen Menke wesentlich erweitern. Speziell durch die Beschäftigung mit Foucaults Akzentuierung der Biopolitik am Ende von dessen Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft wird ersichtlich, dass Menke mit seiner systematischen Fokussierung der Biopolitik auf die Normalisierung von Rechtssubjekten innerhalb bürgerlicher Rechtsordnungen die begriffliche Radikalität und rechtskritische Sprengkraft von Foucaults Konzept der Biopolitik radikal unterschätzt und reduktionistisch einengt. Denn mit Foucault wird über Menke hinaus deutlich, dass die Biopolitik im Zuge der normalisierenden Regierung und produktiven Förderung des Lebens innerhalb eines abgeschlossenen Rechtssystems zugleich die Grenzen der Normativität dieses Rechtssystems auf nichtnormative, weil gewaltförmige Weise übertreten muss und dadurch das Recht in eine konstitutive Patho­ logie verwickelt.

210

3.4 Biopolitik und die Frage nach den rechtlichen Ausschlüssen

Denn der Regierung des Lebens liegt, wie Foucault herausstellt, auf einer tieferen Ebene die im Verhältnis dazu heterogene Praxis einer biopo­ litischen Klassifikation und Spaltung des Lebens anhand einer rassistischen Diskursivität zugrunde. Die von Menke diagnostizierte Normalisierungs­ macht innerhalb der biopolitischen Gesellschaft stellt mit der Regierung der Bevölkerung anhand „der Disziplinartechnologien einerseits, der Re­ gulierungstechnologien andererseits“ (Foucault 2014, 103) nur die eine Seite des janusköpfigen Charakters der Biopolitik dar.70 Im Anschluss an Foucault wird die Biopolitik dagegen in ihrem konstitutiven Doppelcha­ rakter deutlich: In ihrer Eigenschaft als positive Lebensmacht nimmt die Biopolitik zugleich rassistische Abgrenzungen und Unterteilungen vor, die das Leben in unterschiedlich wertvolle Ebenen und Hierarchien einteilen und den Wert des Lebens anhand ungleicher Kriterien und Bewertungs­ raster distribuieren. Indem die Biopolitik zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, unterscheidet, konstituiert sie das Leben, auf das sie sich bezieht, als einen per definitionem fragmentierten und nach innen

70 Foucaults Formulierungen im Kontext seiner verschiedenen Definitionen der Biopolitik sind nicht einheitlich. Er setzt etwa an einer Stelle aus In Verteidigung der Gesellschaft die neu entstehende Machtform der Biopolitik mit der Regulie­ rungsmacht in eins und setzt sie von der souveränen Macht ab: „Die Souveränität machte sterben und ließ leben. Nun tritt eine Macht in Erscheinung, die ich als Regulierungsmacht bezeichnen würde und die im Gegenteil darin besteht, leben zu machen und sterben zu lassen“ (Foucault 2014, 96). In Der Wille zum Wissen dagegen handelt es sich bei den Disziplinen, die sich auf die einzelnen Körper richten, und den Regulierungen, die auf die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit bezogen sind, um zwei Seiten derselben biopolitischen Macht: „Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat“ (Foucault 1983, 135). Und auch im Laufe seiner Vorlesungen In Verteidigung der Gesellschaft befasst sich die Bio-Macht an anderer Stelle widersprüchlicherweise dann doch mit beidem, „mit den Polen des Körpers auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite“ (Foucault 2014, 103). Diese Inkonsistenzen müssen die vorliegende Untersuchung aber nicht weiter beschäftigen, da die entscheidende Differenz des Biopolitischen nicht die zwi­ schen Disziplinen und Regulierungen ist, da sich beide gleichermaßen auf das Innere einer Bevölkerung innerhalb einer rechtlichen Gemeinschaft beziehen. Mit Menke sind darüber hinaus die Disziplinen als Kehrseite der rechtlichen Regulie­ rung der Bevölkerung identifiziert worden, weshalb im theoretischen Sprachspiel dieser Arbeit sowohl die Disziplinen als auch die Regulierungen, wie gesehen, dem Begriff der Normalisierung zugeordnet und darunter subsumiert werden. Die entscheidendere Differenz im Kontext dieser Arbeit liegt vielmehr in der Un­ terscheidung zwischen interner Regierung und externen Ausschlüssen als die beiden untrennbaren Seiten ein und derselben biopolitischen Macht.

211

Kapitel 3

wie nach außen hin hierarchisierten und begrenzten Bereich. Diese thana­ topolitische Facette der Biopolitik findet dabei jedoch in Menkes Heuristik keinen Platz. Mit Blick auf die rechtskritischen Konsequenzen der bisherigen Unter­ suchung lässt sich daher an dieser Stelle zusammenfassend festhalten: Die in der Setzung des Rechts unvermeidlich mitgetroffene Unterscheidung gegenüber dem Nichtrecht wird in biopolitischen Gesellschaften diskursiv mit rassistischen Elementen aufgeladen, da die rechtliche Demarkationsli­ nie zwischen Innen und Außen in der Moderne entlang rassifizierender Wertaufteilungen innerhalb des relationalen Verhältnisses unterschiedli­ cher sozialer, kultureller und religiöser Gruppen verläuft. Biopolitische Normalisierungsgesellschaften sind somit aus einer rechtsphilosophischen Perspektive einerseits Kontrollgesellschaften, die das Leben der innerhalb einer Rechtsgemeinschaft lebenden Menschen normalisieren, disziplinie­ ren sowie statistisch überwachen und regulieren. Andererseits offenbart sich die Biopolitik jedoch auf ihrer Rückseite selbst als eine, mit Fou­ cault gesprochen, spezifische Todesmacht, also als eine Macht der norma­ tiven Abwertung, der rechtlichen und gesellschaftlichen Ausschließung be­ stimmter Individuen und Gruppen zugunsten des Lebens der eigenen Be­ völkerung. Der von Foucault beschriebene biopolitische Bruch zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, lässt sich rechtsphilosophisch als die durch das Recht selbst gezogene Grenze zwischen Recht und Nicht­ recht interpretieren und darin als biopolitische Unterscheidung zwischen Legalität und Illegalität reformulieren – wie sie aktuell in verschiedensten sogenannten sicherheitspolitischen Kontexten wie dem War on Terror, der Flüchtlings- und Migrationspolitik westlicher Nationalstaaten oder der Asylrechtspolitik innerhalb der Europäischen Union verwendet wird.71 Das bürgerliche Recht rückt aus dieser Sicht also als ein Dispositiv der Ungleichheit, nämlich der biopolitischen Ungleichbewertung des Le­ bens in den rechtskritischen Fokus. Die Einordnung der konstitutiven Differenz von Recht und Natur in den historischen Kontext der Biopolitik lässt die Grenzen des Rechts als egalitäre normative Ordnung und damit auch die Begrenztheit von Menkes Kritik des Rechts in seiner Eigenschaft als normative Ordnung der Gleichheit erkennbar werden. Denn unter den historisch spezifischen Bedingungen der Biopolitik unterscheidet das Recht diskursiv zwischen dem Leben innerhalb eines Rechtssystems und dem Leben außerhalb des Rechts anhand einer rassistischen Axiologie, die 71 Vgl. zum systematischen Grundwiderspruch zwischen Sicherheitsdenken einer­ seits und Freiheitsdenken andererseits Voigt 2012.

212

Zwischenfazit

mit dem biopolitischen Ausschluss bestimmter rassifizierter Lebensformen einhergeht. Der Preis der Normalisierung nach innen ist somit die Exklusion nach außen. Das macht über Menke hinaus eine erweiterte rechtskritische Untersuchung der Dynamik der Ausschlüsse aus dem Recht erforderlich, womit zugleich der Frage nach den Bedingungen der Rechtssubjektivität innerhalb der vorliegenden Analyse eine zentrale Bedeutung erwächst. Wer kann unter biopolitischen Bedingungen ein Rechtssubjekt werden und wer kann demgegenüber kein Teil des Rechtssystems werden und bleibt dementsprechend außerhalb des Rechts? Dieser Frage soll im Fol­ genden, speziell anhand einer Problematisierung des Rechts auf Leben, im Anschluss an Judith Butler nachgegangen werden. Zwischenfazit In den vergangenen Kapiteln wurde Michel Foucaults Perspektive der Biopolitik als Kritik und Erweiterung von Menkes Rechtsphilosophie ein­ geführt und näher erläutert. Dabei habe ich zunächst die grundsätzliche Abhängigkeit des rechtsphilosophischen Theorieprogramms Menkes von Foucaults biopolitischer Heuristik herausgestellt und gezeigt, inwiefern Foucaults Genealogie der biopolitischen Macht Menkes Kritik rechtlicher Normativität mit Bezug auf deren grundlegende Motive als theoretische und argumentative Basis zugrunde liegt. Besonders Menkes relationale Verhältnisbestimmung von Normativität und Macht und die damit ein­ hergehende Kritik der Beziehung von Normativität und Natur beruht auf Foucaults Machtbegriff und dessen Deutung der biopolitischen Beziehung von Politik und Leben in der Moderne. Daran anschließend habe ich die Biopolitik in einem ersten größeren Re­ flexionsschritt in Anknüpfung an Foucaults Verständnis als eigenständige Perspektive des Politischen herausgearbeitet. Gegen Menkes reduktionisti­ sche Lesart, in der die Biopolitik in zu starkem Maße auf ihre rechtlichen Aspekte und Zusammenhänge hin vereinseitigt und dadurch rechtstheore­ tisch überformt wird, habe ich dabei hauptsächlich versucht, die Biopolitik von ihrer Zentrierung auf das Recht konzeptuell abzulösen. Während Menke den biopolitischen Charakter des Rechts in erster Linie mit Blick auf die sozialrechtlich erzeugte Dynamik der gesellschaftlichen Normali­ sierung rekonstruiert, ging es mir im Unterschied dazu in erster Linie darum, den theoretischen Blick zu weiten und die Biopolitik gegenüber Menkes Rechtsdenken dezidiert abzugrenzen. In diesem Zusammenhang habe ich vorgeschlagen, Biopolitik mit Foucault als umfassenderen Rah­

213

Kapitel 3

men des Politischen zu begreifen, in den das bürgerliche Recht seinerseits eingebettet ist. Indem Biopolitik auf diese Weise als eine gegenüber modernen Rechts­ diskursen wesentlich eigenständige Perspektive zur Geltung kommt, ver­ ändert sich zugleich die Bedeutung des Biopolitischen in entscheidender Hinsicht: Biopolitik bezeichnet dann, wie gesehen, nicht nur normalisie­ rende Herrschaftsmechanismen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sondern bezieht sich darüber hinaus v.a. auf die Prozeduren der rechtli­ chen Ausschließung von bestimmten Subjekten und Gruppen aus beste­ henden Rechtssystemen. Deshalb wurde in einem zweiten Reflexionsschritt das Problem der biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht in den Mit­ telpunkt der Analyse gestellt. Dieser biopolitische Ausschlusscharakter des modernen Rechts kommt dabei, so wurde argumentiert, erst in den Blick, wenn die Biopolitik insgesamt als eine vom Recht unabhängige und gleichzeitig mit dem Recht relational verbundene gesellschaftliche Dynamik verstanden wird. Die Betonung der Eigenständigkeit von biopo­ litischen Diskursen gegenüber rechtlichen Operationen ist, so gesehen, die grundlegende Bedingung, um Menkes rechtsphilosophische Engführung der Biopolitik zu erweitern und die darin implizierte Gleichsetzung von Biopolitik und Normalisierung zu überwinden. Die Gegenüberstellung von Foucaults Modell der Biopolitik einerseits und Menkes rechtsphilosophischer Konzeption andererseits hat die vorlie­ gende Analyse damit entscheidend über Menke hinausgeführt. Mit Fou­ cault konnte der rechtskritische Fokus von innen nach außen verschoben werden, d.h. von den rechtsinternen Herrschaftsverhältnissen, in denen das Recht zu den Rechtsubjekten innerhalb der bürgerlichen Rechtsge­ meinschaft steht, hin zu der rechtsexternen Beziehung, die das bürgerliche Recht mit denjenigen verbindet, die von ihm entrechtet und ausgeschlos­ sen werden und die daher außerhalb der Rechtsordnung leben müssen. Dadurch wurde zugleich eine zentrale Leerstelle in Menkes eigener Argu­ mentation geschlossen: Wie erläutert, legt Menke in seiner Kritik des bürgerlichen Rechts in der Moderne ein besonderes Augenmerk auf die naturalisierenden und entpo­ litisierenden Wirkungen der subjektiven Rechte. Diese Entpolitisierungen identifiziert Menke in erster Linie in der Legalisierung des Eigenwillens des Rechtssubjekts, der in den subjektiven Rechten als natürlicher Wille des Einzelnen berechtigt und damit naturalisiert und gegenüber der Poli­ tik immunisiert wird. Diese Naturalisierung des subjektiven Eigenwillens versteht Menke dabei als die normative Reaktion des modernen Rechts auf seinen Gewaltcharakter, genauer: als die Selbstreflexion des bürgerlichen

214

Zwischenfazit

Rechts angesichts des Problems der Rechtsgewalt. Die Gewalt des Rechts, so Menke im Anschluss an Benjamin, besteht darin, dass das Recht in sei­ ner Eigenschaft als normative Ordnung zugleich eine Instanz der Gewalt gegenüber dem Nichtrecht ist, welches es im Akt seiner eigenen Konstitu­ tion notwendig als seinen natürlichen Gegensatz miterzeugt. Darin ist das Recht paradox verfasst, sein Gewaltcharakter macht das Recht zu einem Paradox. Mit der Legalisierung des Eigenwillens reagiert das moderne Recht nachträglich auf das Paradox seiner inhärenten Gewalt, indem es den subjektiven Eigenwillen als Ausdruck vorrechtlicher und somit natür­ licher Ansprüche des Einzelnen begreift und rechtlich ermächtigt. In der Folge konzentriert sich Menke auf die entpolitisierenden Effekte, die mit dieser Naturalisierung des subjektiven Eigenwillens verknüpft sind und die sich zu sozialen Herrschaftsmechanismen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft verselbstständigen. Dabei übersieht Menke jedoch, dass die von ihm beschriebene Selbst­ reflexion des modernen Rechts das Problem des Gewaltverhältnisses zwi­ schen Recht und Nichtrecht letztlich umgeht. Denn in der Selbstreflexion des Rechts durch die Legalisierung des Eigenwillens wird die Natur rein innerrechtlich gedacht, nämlich als individueller Ausdruck des na­ türlichen Willens der Subjekte innerhalb einer Rechtsordnung. Der in den subjektiven Rechten als Tatsache vorausgesetzte natürliche Eigenwil­ le ist also stets der Wille eines mit subjektiven Rechten ausgestatteten Rechtssubjekts. Damit ist aber noch überhaupt nichts in Bezug auf die Natur im außerrechtlichen Sinne ausgesagt, da die Natur in der Figur des subjektiven Eigenwillens gewissermaßen bloß ins einzelne Rechtssubjekt hineinverlegt worden ist. Indem sich Menke in seiner Kritik der subjekti­ ven Rechte primär auf deren innere Naturalisierungslogik konzentriert, folgt er darin gleichzeitig auch deren spezifischer Interpretation der Natur, nämlich dem Begriff der Natur als vorrechtlichem, natürlich bestehendem Anspruch des Einzelnen. Menke lässt sich also in seiner Rechtskritik zu stark von der besonderen Vorstellung des Nichtrechts leiten, die für die Idee der subjektiven Rechte charakteristisch ist. Aus diesem Blickwinkel ist deutlich geworden, dass Menke die Gewalt­ dimension der konstitutiven Unterscheidung von Recht und Nichtrecht im Laufe seiner rechtskritischen Reflexionen immer mehr außer Acht lässt – obwohl diese Unterscheidung den Ausgangpunkt seiner Argumentation darstellt. Denn die Kritik der Legalisierung des Natürlichen richtet sich nur auf die Natur, die rechtsintern ermächtigt wird, und gerade nicht auf die Natur, die – als Nichtrecht – aus dem Recht ausgeschlossen wird. Das hat zur Folge, dass Menke zur Natur im ursprünglichen Sinne der

215

Kapitel 3

gewaltförmigen Entgegensetzung des Nichtrechts durch das Recht – vor dem Hintergrund des bürgerlichen Rechtsregimes – nicht weiter Stellung nimmt und daher auch das Problem der rechtlichen Ausschlüsse ausblen­ det. Die paradoxe Gewaltlogik im Verhältnis von Recht und Nichtrecht bleibt ja, wie Menke selbst herausstreicht, auch unter der Bedingung der Legalisierung des Natürlichen durch die subjektiven Rechte weiterhin be­ stehen. Mit Foucault ist dagegen die der Praxis der subjektiven Rechte voraus­ liegende Grundunterscheidung von Recht und Nichtrecht in den biopoli­ tischen Kontext der Moderne eingeordnet worden. Dabei hat Foucaults biopolitische Heuristik es ermöglicht, einen Schritt hinter den normati­ ven Mechanismus der Selbstreflexion des modernen Rechts (also hinter die Legalisierung des Eigenwillens) zurückzutreten, um zunächst und grundlegender danach zu fragen, auf welche Weise sich das bürgerliche Recht unter den historisch spezifischen Bedingungen der Biopolitik über­ haupt gegenüber dem Nichtrecht absetzt und wie das Recht dabei die Ausschlussbeziehung, in der es zum Nichtrecht steht, konkret ausgestaltet. Wie gesehen, stellt die biopolitische Kontextualisierung dieser fundamen­ talen Ausschlussbeziehung zwischen Recht und Nichtrecht den blinden Fleck in Menkes Rechtskritik dar. Aus dieser erweiterten Perspektive der Biopolitik ist sichtbar geworden, dass Naturalisierung im Kontext des gewaltförmigen Verhältnisses von Recht und Nichtrecht etwas kategorial anderes bedeutet als im Rahmen der Legalisierung des Natürlichen durch die subjektiven Rechte: Naturali­ sierung durch subjektive Rechte bezeichnet den Akt der Berechtigung bzw. Verrechtlichung des subjektiven Eigenwillens, der im Zuge seiner rechtli­ chen Ermächtigung notwendig als etwas Natürliches konstruiert wird. Im Fall der rechtskonstitutiven Grundunterscheidung von Recht und Nicht­ recht meint Naturalisierung dagegen etwas ganz anderes, nämlich die gewaltsame Entgegensetzung des Nichtrechts als das Andere des Rechts durch das Recht, womit zugleich die Ausschließung des Nichtrechts als nichtnormative Natur einhergeht. Hier bedeutet Naturalisierung also die Entrechtung der rechtlich Ausgeschlossenen. Es handelt sich also um zwei völlig unterschiedliche Naturalisierungsverständnisse, die sich in ihrer praktischen Struktur radikal voneinander unterscheiden und gänzlich ver­ schiedenen Logiken folgen. Dieser Doppelcharakter der Natur wird aber in Menkes Heuristik nicht weiter problematisiert. Die Naturalisierung als Berechtigung des Eigenwil­ lens kann jedoch das Gewaltproblem der Naturalisierung als Entrechtung der Ausgeschlossenen nicht lösen, da erstens die gewaltsame Entgegenset­

216

Zwischenfazit

zung (und Entrechtung) des Nichtrechts durch das Recht, wie Menke auf­ zeigt, in jedem normativen Akt der Berechtigung stets wiederholt werden muss und somit als Gewaltproblem bestehen bleibt. Zweitens und grund­ sätzlicher jedoch vermag die Naturalisierung als Berechtigung das Problem der Naturalisierung als Entrechtung gerade deshalb nicht aufzulösen, weil ihr ein kategorial anderer Naturbegriff zugrunde liegt und sie sich daher auch auf eine grundsätzlich andere Dimension des Natürlichen bezieht, nämlich auf die Natur, die innerrechtlich anerkannt und ermächtigt wird, und nicht auf die Natur, die gewaltsam in einen außerrechtlichen Bereich der Rechtlosigkeit ausgeschlossen wird. Deshalb bedarf es in Erweiterung und Korrektur von Menke einer rechtskritischen Perspektive, die explizit die biopolitischen Ausschließun­ gen aus dem Recht reflektiert und aufarbeitet. Den ersten grundlegenden Schritt mit Blick auf eine solche Perspektive der Ausgeschlossenen habe ich in den vorhergehenden Kapiteln im Anschluss an Foucault zu entwi­ ckeln versucht, und zwar indem ich das Gewaltverhältnis von Recht und Nichtrecht mit Foucaults Bestimmung der biopolitischen Funktion des Rassismus in modernen Normalisierungsgesellschaften parallel gelesen ha­ be. Dabei habe ich das Argument entfaltet, dass die gewaltförmige Bezie­ hung von Recht und Nichtrecht unter den diskursiven Bedingungen der Moderne die Form einer rassistischen Zäsur annimmt, die innerhalb der Gesellschaft zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, unter­ scheidet. Aus diesem Blickwinkel tritt das bürgerliche Recht, wie erläutert, als ein Dispositiv der biopolitischen Ungleichbewertung des Lebens in Erscheinung, das anhand einer rassistischen Trennungslogik eine Grenze zwischen den legal innerhalb einer Rechtsordnung lebenden Menschen und denjenigen zieht, deren Leben rassistisch abgewertet und aus der Rechtsordnung ausgeschlossen werden. Darin ist bereits die Unterscheidung zwischen Legalität und Illegalität angeklungen. Moderne Rechtssysteme unterscheiden unter biopolitischen Bedingungen zwischen dem legalen Status von Rechtssubjekten und dem illegalen Status der Ausgeschlossen. Im folgenden Teil möchte ich diesen biopolitischen Ausschlussmechanismen weiter auf die Spur kommen. Das Recht steht den bisherigen Untersuchungen zufolge in einem gewaltförmi­ gen Verhältnis zu seiner rassifizierten Außenseite. Diese außerrechtliche Beziehung des Rechts zu den Exkludierten werde ich den nächsten Kapi­ teln im Anschluss an Judith Butlers Interpretation der Biopolitik weiter erörtern und in den Mittelpunkt der hier vertretenen biopolitischen Kritik des Rechts stellen.

217

Kapitel 4

4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben: Judith Butlers Radikalisierung von Foucaults Rassismusbegriff In ihrem jüngsten Buch Die Macht der Gewaltlosigkeit: Über das Ethische im Politischen (vgl. Butler 2020) diskutiert Judith Butler die gerade erläuterten Überlegungen Foucaults zum Verhältnis von Biopolitik und Rassismus und setzt sie in eine Beziehung zu ihrer philosophischen Konzeption der Betrauerbarkeit (grievability). Butlers poststrukturalistischer Ansatz steht grundsätzlich in der diskurskritischen Tradition Foucaults und wird in der Forschung derzeit als eines der einflussreichsten radikaldemokratischen Theoriemodelle verhandelt (vgl. Butler/Laclau/Žižek 2013; Sievi 2017). Mit dem Begriff der Betrauerbarkeit führt Butler dabei im Vergleich zu Fou­ caults sprachphilosophisch inspiriertem Diskursbegriff72 ein stärker nor­ mativ ausgerichtetes Kriterium zur Kritik moderner Machtformen ein (vgl. Gebhardt 2021). Das Konzept der Betrauerbarkeit fragt nach den „Logiken öffentlicher Affektproduktion (…) und insbesondere nach den diskursiven Mechanismen einer beobachtbaren differenten Distribution von Trauer“ (Gebhardt 2021, 480). Ob der Tod von Menschen öffentlich betrauerbar ist, hängt Butler zufolge von der ungleichen Verteilung affektiver Normen ab, in deren Rahmen ihr Tod erst als ein Verlust wahrgenommen werden kann – oder eben nicht, insofern „ihr Dasein gar nicht als Leben gelesen wurde“ (Gebhardt 2021, 482). In Bezug auf die Nicht-/Betrauerbarkeit von menschlichen Leben geht Butler in normativer Hinsicht also davon aus, dass „Gesellschaften über diskursive Praxen [bestimmen], wer wann wie

72 Foucaults Begriff des Diskurses ist dabei eng mit seinem spezifischen Verständnis der Normen verflochten. Wendy Brown konstatiert in dieser Hinsicht: „Synop­ tisch betrachtet, kann ein ‚Diskurs‘ als eine Ordnung oder eine Gesamtheit von normativen Sprechakten spezifiziert werden, die ein bestimmtes Gebiet und die darin enthaltenen Subjekte konstituieren: in Diskursen sind Normen und Abwei­ chungen von ihnen die Mittel, durch die Subjekte und Objekte in einem beliebi­ gen Gebiet geschaffen, arrangiert, repräsentiert, beurteilt und geführt werden. Wenn sie dominierend werden, bringen Diskurse zwar immer eine Wahrheit in Umlauf und werden zu einer Art von gesundem Menschenverstand, aber Foucaults primäre Betonung bei der theoretischen Beschreibung von Diskursen liegt auf Normen und der Normierung“ (Brown 2015, 137).

218

4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben

und weshalb (nicht) öffentlich betrauert werden kann“ (Gebhardt 2021, 481). Butler zählt allgemein zu den wichtigsten zeitgenössischen US-ameri­ kanischen Vertreterinnen der Kritischen Theorie und des Feminismus und gilt gegenwärtig als eine der weltweit wirkmächtigsten Stimmen in der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Dementsprechend wird ihr Denken auch im internationalen Wissenschaftsdiskurs umfangreich rezipiert (vgl. Lloyd 2007; Chambers/Terrell 2008; Schippers 2014).73 Die von Butler behandelten Themen reichen dabei u.a. „von Fragen der Geschlechtsidentität, der Subjektkonstitution und der menschlichen Psyche über die Probleme sprachlicher und ethischer Gewalt bis hin zu kritischen Reflexionen zum ‚Krieg gegen den Terror‘ und zum Israel-Paläs­ tina-Konflikt“ (Seitz/Schönwälder-Kuntze/Posselt 2018, 7). Ihr Denken hat nicht nur zahlreiche Debatten in den Geistes-, Sozial-, Literatur- und Kul­ turwissenschaften angestoßen, sondern wird darüber hinaus mittlerweile auch in der deutschsprachigen Philosophie (vgl. Hauskeller 2000; Qua­ dflieg 2006; Schönwälder-Kuntze 2010; von Redecker 2011; Distelhorst 2016; Posselt/Schönwälder-Kuntze/Seitz 2018; Wieder 2019; Lorey 2020; Reder 2020) sowie in der Theologie (vgl. Grümme/Werner 2020) ausführ­ lich diskutiert und verarbeitet. Darüber hinaus wird in aktuellen Ansätzen der performativen Rechtstheorie speziell an Butlers Begriff der Performati­ vität konstruktiv angeknüpft (vgl. Müller-Mall 2012, 153–162), während in den Critical Legal Studies darüber nachgedacht wird, wie Butlers Verständ­ nis der Verkörperung von Normen innerhalb sozialer Praktiken im Sinne einer widerständigen Reinterpretation dieser Normen bzw. einer transfor­ mierenden Normaneignung für den Kontext kritischen Rechtsdenkens anschlussfähig gemacht werden kann (vgl. Loizidou 2007, 125). Im Anschluss an die besprochene Abschlussvorlesung Foucaults aus In Verteidigung der Gesellschaft stellt Butler eine systematische Verbindung

73 Mit Blick auf die wichtigsten theoretischen Einflüsse in Bezug auf Butlers Werk halten Sergej Seitz, Tatjana Schönwälder-Kuntze und Gerald Posselt prägnant fest: „Ausgehend von einer intensiven Auseinandersetzung mit Hegel und der französischen Hegel-Rezeption im 20. Jahrhundert in Subjects of Desire (1987) so­ wie der umfassenden Diskussion der feministischen Theorie (de Beauvoir, Iriga­ ray, Kristeva, Wittig, Cixous u.a.) in Das Unbehagen der Geschlechter (1990) reicht das breite Spektrum von Butlers Anleihen, kritischen Bezugnahmen und Lektü­ ren von Nietzsches Genealogie, der Psychoanalyse nach Freud, Klein und Lacan, Foucaults Machtanalyse und Derridas Dekonstruktion über Austins Sprechakt­ theorie, die Ideologietheorie Althussers und Bourdieus Konzeption des Habitus bis hin zu Arendts Denken des Politischen und Levinas‘ Alteritätsethik“ (Seitz/ Schönwälder-Kuntze/Posselt 2018, 8).

219

Kapitel 4

zwischen den rassistischen Klassifikationen der Biopolitik einerseits und der gesellschaftlichen Ungleichverteilung der öffentlichen Betrauerbarkeit von Leben andererseits her: „Diese Evaluation ungleicher Betrauerbarkeit ist Teil der Biopolitik“ (Butler 2020, 139). Damit stellt Butler den Begriff der Biopolitik in den größeren theoretischen Horizont ihres Konzepts des precarious life, das sie seit dem Erscheinen ihres Buches Gefährdetes Leben: Politische Essays (vgl. Butler 2005) an verschiedenen Stellen ihrer zentralen Werke, besonders in Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen (vgl. Butler 2010) und in Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (vgl. Butler 2016), immer wieder aufgenommen und weiter­ entwickelt hat.74 In dieser Linie hat Butler den humanwissenschaftlichen Begriff des Le­ bens mit ihrer sozialphilosophischen Idee der gesellschaftlich ungleich verteilten Betrauerbarkeit von Leben intern verschränkt und dabei expli­ 74 In der folgenden Rekonstruktion werde ich Butlers philosophischen Ansatz ge­ wissermaßen von hinten aufzäumen, da sich Butler besonders in ihren jüngsten Arbeiten mit Foucaults Bestimmung von Biopolitik und Rassismus beschäftigt. Schematisch gesprochen, lässt sich Butlers Denken aus meiner Sicht sozialphilo­ sophisch in drei grobe Phasen einteilen, die freilich nicht als geschlossene und starre Blöcke verstanden werden dürfen, sondern als jeweils verschiedene, sich überlappende Akzentuierungen und Schwerpunktsetzungen: In den 1990er und beginnenden 2000er Jahren setzt sich Butler – neben ihren feministischen Haupt­ werken (vgl. Butler 1991; 1997) – erstens begrifflich v.a. mit dem Hegelschen Konzept der Anerkennung im Sinne einer Dialektik von Angesprochen-Sein und Antworten und des daraus resultierenden Ausgesetztseins des Subjekts gegenüber Formen sprachlicher Verletzung und ethischer Gewalt auseinander (vgl. Butler 1987; 2001a; 2006; 2007). Dabei greift Butler u.a. auf die Theorien John L. Aus­ tins, Theodor W. Adornos oder Emmanuel Levinas‘ zurück. Auf diese erste Phase folgt zweitens eine intensive Ausarbeitung des Begriffs der Vulnerabilität im Zuge ihrer Arbeiten zum gefährdeten Leben (vgl. Butler 2005; 2010). In einer davon ausgehenden dritten Phase in den 2010er Jahren entwickelt Butler die Konzepti­ on der Verwundbarkeit schließlich zur Idee einer ungleichen Betrauerbarkeit weiter, die sie stark mit einer radikaldemokratischen und kollektiven Perspektive des Politischen verknüpft: Butlers neuere Arbeiten drehen sich dementsprechend um Phänomene der politischen Versammlung (vgl. Butler 2016), Bewegungen des Aufstands, Widerstands und Protests (vgl. Butler 2019) und die Kritik von Krieg und Gewalt (vgl. Butler 2020). Dabei ist zu betonen, dass sich einige von Butlers Grundthemen durch alle Werkphasen hindurchziehen, v.a. ihre Beschäf­ tigung mit den Ideen der Gefährdung und der Performativität (vgl. exemplarisch Butler/Athanasiou 2014), die sie, wie im Folgenden gezeigt wird, schon früh in einer biopolitischen Sprache entfaltet. Eine hilfreiche konzeptuelle Systematisie­ rung von Butlers philosophischem Denken gibt Tatjana Schönwälder-Kuntze in ihrem Aufsatz Zwischen Ansprache und Anspruch. Judith Butlers moraltheoretischer Entwurf (vgl. Schönwälder Kuntze 2010).

220

4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben

zit unter biopolitischen Vorzeichen ausbuchstabiert. Ausgehend von der allgemeinen Beobachtung, dass moderne Gesellschaften das Leben von In­ dividuen und Gruppen auf ungleiche Weise bewerten, hat Butler im Laufe des letzten Jahrzehnts entscheidende Beiträge auf dem philosophischen Feld der Biopolitik geliefert, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine zentrale Grundlage für die kritische Erweiterung von Menkes Konzeption des Biopolitischen darstellen und darüber hinaus eine biopolitische Radi­ kalisierung von dessen Rechtskritik erlauben. Aus diesem Grund soll But­ lers biopolitischer Ansatz nun vorgestellt und in den nächsten Schritten in seinen Implikationen und Konsequenzen für eine biopolitische Kritik des modernen Rechts herausgearbeitet werden. In Die Macht der Gewaltlosigkeit greift Butler Foucaults Unterscheidung zwischen biopolitischer und souveräner Macht auf und diskutiert den ambivalenten Charakter, den das Recht auf Leben unter den politischen Bedingungen der jeweiligen Machtform annimmt.75 Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht dabei die umfassendere Frage nach den juridisch-politischen Voraussetzungen, die sowohl im Falle des Einzelnen als auch im Hinblick auf Kollektivitäten und ganze Bevölkerungen erfüllt sein müssen, um überhaupt ein Rechtssubjekt und damit Träger eines Rechts auf Leben werden zu können. In ihrer Problematisierung der Bedingungen von Rechtssubjektivität nimmt Butler dabei zunächst auf Foucaults Argument Bezug, wonach ein Recht auf Leben nur derjenige geltend machen kann, der im voraus überhaupt als ein potenzieller Adressat und Träger von Rechten in Erscheinung getreten ist: „Für unsere Zwecke von Bedeutung ist Foucaults Behauptung, wo­ nach es kein apriorisches Recht auf Leben gibt, sondern dieses erst 75 Ich schließe mich Butler in ihrer Ansicht ausdrücklich an, derzufolge jede theore­ tische Bemühung einer trennscharfen Differenzierung zwischen souveräner und biopolitischer Macht ins Leere läuft und letztlich die Komplexität moderner Machtphänomene zugunsten einer abstrakten Typisierung verfehlt. Jede Syste­ matisierung sollte sich in ihrer Unterscheidung zwischen Souveränität und Bio­ politik über die grundsätzliche Relationalität und unauflösbare Verflochtenheit beider Machtformationen im Klaren sein. Biopolitische und souveräne Macht überlappen einander, lösen sich ab und bedienen sich der Funktionen und Perspektiven der jeweils anderen Machtform: „So leicht lässt sich aber die Staats­ macht von der biopolitischen nicht trennen – Foucault geht darauf in späteren Vorlesungen selbst ein –, und wir sollten skeptisch gegenüber jedem Versuch bleiben, eine klare historische Abfolge zwischen beiden zu konstruieren. Ganz besonders gilt das, wo die Abfolge auf einer progressiven Version der modernen europäischen Geschichte basiert, die im Übrigen die europäischen Kriege der beiden letzten Jahrhunderte außer Acht lässt“ (Butler 2020, 142).

221

Kapitel 4

geschaffen werden muss, um in Anspruch genommen werden zu kön­ nen. Unter Bedingungen der politischen Souveränität etwa existiert ein Recht auf Leben – und auch das Recht auf den eigenen Tod – nur für jene, die bereits als Rechte besitzende Subjekte konstituiert wurden“ (Butler 2020, 141). Damit weist Butler implizit auf die nationalstaatliche Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer politischen Gemeinschaft als Zugangsvoraussetzung zu einem Recht auf Leben hin. Die Etablierung eines Rechts auf Leben setzt voraus, dass das Individuum bereits als potenzielles Subjekt von Rechten konstituiert ist, was zum einen bedeutet, dass es Mitglied einer spezifischen Rechtsgemeinschaft sein muss. Dem Recht auf Leben erwächst seine normative Geltungskraft so gesehen allein auf der Basis seiner Einschrei­ bung in die Struktur einer Rechtsordnung, also innerhalb der Selbstrefe­ rentialität eines (nationalstaatlichen) Rechtssystems. Zum anderen setzt das Recht auf Leben aber auch auf einer allgemeineren Ebene die Vor­ stellung individueller, subjektiver Rechte innerhalb eines Rechtssystems voraus, welche das Recht auf Leben als Individualrecht überhaupt erst rechtsontologisch ermöglicht. Diese Idee wurde bereits im Rekurs auf Menke unter dem Stichwort des Primats der Rechte vor dem Gesetz als eine spezifisch moderne Rechtsvorstellung im Rahmen des Liberalismus herausgestellt. Aus dieser Sicht bedarf das Recht auf Leben der modernen Vorbedingung, dass ein Rechtssystem vom rechtlichen Anspruch des Ein­ zelnen her gedacht wird. Butler übersteigt jedoch noch einmal diese Sichtweise, indem sie kri­ tisch am Begriff des Lebens selbst ansetzt, um sodann von der Seite des Lebens aus nach den Bedingungen zu fragen, unter denen das Leben im Recht erscheinen kann. Dadurch eröffnet Butler zuallererst einen theo­ retischen Horizont, um die biopolitische Kodierung des Lebensbegriffs selbst als eine grundlegende Bedingung von Rechtssubjektivität zu proble­ matisieren. Hierin geht Butler entscheidend über Menkes rechtskritische Gedankenführung hinaus, indem sie das Rechtssubjekt in einen größeren Horizont des Politischen stellt, welchen sie ausdrücklich als einen biopo­ litischen Horizont untersucht und in dem sie die Frage nach der Rela­ tionalität zwischen Recht und Leben dezidiert aus der nichtrechtlichen Perspektive des Lebens aufwirft. Zu diesem Zweck legt Butler innerhalb des Syntagmas eines ‚Rechts auf Leben‘ im Unterschied zu Foucault, der hierbei den Fokus auf das Recht legt, den Schwerpunkt auf den Aspekt des Lebens und schlägt von hier aus eine Neuakzentuierung des von Foucault aufgeworfenen Problems des Rassismus vor. Gleichzeitig entwickelt Butler dabei eine radikalisierte Heuristik des Biopolitischen, die es ihr erlaubt,

222

4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben

Foucaults Verständnis der Biopolitik gewissermaßen über sich selbst hin­ auszutreiben und kritisch zu reformulieren. In ihrem Wortlaut: „Was geschieht, wenn ein Leben gar nicht als lebendig gilt, das heißt gar nicht als Leben zählt? Foucault konnte klar behaupten, dass ein Recht auf Leben nur einem Subjekt zukommt, das bereits als Inhaber von Rechten konstituiert ist, für das Leben zu den notwendigen Rech­ ten zählt. Können wir dann nicht entsprechend behaupten: Damit jemand überhaupt Subjekt mit dem Recht auf Leben werden kann, muss nicht zunächst einmal sein Status als lebendiges Wesen konsti­ tuiert sein? Der Rassismus, sagt Foucault, führt einen Bruch in den Bereich des Lebens ein, der der Kontrolle der Macht unterworfen ist. Diesen Bruch können wir uns vielleicht so vorstellen, dass er nicht nur zwischen überlegenen und unterlegenen Arten in der Idee der Spezies unterscheidet, sondern auch zwischen Lebenden und Nichtle­ benden. Wenn eine nichtlebende Population zerstört wird, ist schließ­ lich nichts Bemerkenswertes geschehen: Es hat gar keine Zerstörung stattgefunden, nur die Beseitigung gewisser Störungen auf dem Weg der Lebenden“ (Butler 2020, 142f.). Während Foucault rassistische Diskurse also als differenzielle Typologien ethnischer Superiorität und Inferiorität konzeptualisiert, begreift Butler den Rassismus auf einer biopolitischen Folie vornehmlich als eine Pra­ xis der Unterscheidung zwischen lebenden und nichtlebenden Leben. Mit Foucault geht Butler also davon aus, dass der Rassismus eine Spaltung in den Bereich des Lebens einführt, um zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, zu differenzieren. Diese genuin biopolitische Dif­ ferenz bestimmt Butler allerdings über Foucault hinaus als eine normative Unterscheidung zwischen demjenigen Leben, das in einem umfassenden anerkennungstheoretischen Sinn als Leben konstituiert ist, und solchem Leben, das innerhalb der anerkennungstheoretischen Raster der bürgerli­ chen Gesellschaft nicht in einem vollen Sinn als verlierbares und damit betrauerbares Leben zählt und daher „schon als eine Form des Todes be­ handelt wird“ (Butler 2016, 258). In diesem Zusammenhang bezieht sich Butler auf den Begriff des sozialen Todes, den Orlando Patterson ursprüng­ lich geprägt hat (vgl. Patterson 1982) und „mit dem er das Leben unter den Bedingungen der Sklaverei beschreibt“ (Butler 2016, 258). Um ein Recht auf Leben beanspruchen und geltend machen zu können, muss der Einzelne im Rahmen der juridisch-politischen Anerkennungsregime einer Gesellschaft sozialontologisch in einem umfänglichen Sinn als Leben, d.h. sein Leben muss als lebendig (living) konstituiert sein.

223

Kapitel 4

Damit geht Butler in systematischer Hinsicht einen entscheidenden Schritt über Foucault hinaus, indem sie gegenüber der Foucaultschen Heu­ ristik ein umfassenderes biopolitisches Vokabular entwickelt, um verste­ hen zu können, auf welche konkrete Weise und mit welchen diskursiven Mitteln der Rassismus unter biopolitischen Bedingungen den Bereich des Lebens mit Blick auf das Recht in ein Innen und ein Außen aufspaltet. Zwar lässt sich der Rassismus, wie in den vorangegangenen Kapiteln ge­ zeigt worden ist, mit Foucault als das biopolitische Instrument der Unter­ scheidung von Recht und Nichtrecht identifizieren. Allerdings, so Butler, liefert Foucault keine genaue Erklärung der Art und Weise, in der die Biopolitik anhand der Diskurse des Rassismus diejenigen Leben, die durch das Recht geschützt werden, von den Leben trennt, die aus dem Recht ausgeschlossen sind: „Foucault identifiziert am Ende seiner Vorlesungen zwar ‚Staatsrassismus‘ als zentrales Instrument der Verwaltung von Leben und Tod von Populationen, aber er sagt nicht, wie genau der Rassismus zur unterschiedlichen relativen Wertung von Leben führt“ (Butler 2020, 146). Diese theoretische Leerstelle möchte Butler füllen, indem sie den biopo­ litischen Begriff des Lebens und ihr Konzept der grievability ineinander verzahnt und dadurch gleichzeitig die wichtige Möglichkeit eröffnet, die biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht aus einer nochmals erweiterten Perspektive des Biopolitischen zu beleuchten. Dabei geht Butler, wie be­ reits bemerkt, in einem ersten Schritt von Foucaults Feststellung aus, dass ein Recht auf Leben allein einem potenziellen Rechtssubjekt zugeordnet werden kann. Der Ausschluss aus dem Recht beruht für Foucault demnach auf dem Fehlen bzw. dem Vorenthalten eines entsprechenden Rechtsstatus des Subjekts: „Am Ende von In Verteidigung der Gesellschaft wendet sich Foucault der Möglichkeit zu, dass prekäre oder im Stich gelassene Popula­ tionen noch gar nicht als Rechte besitzende Subjekte konstituiert sind“ (Butler 2020, 147). Butlers Analyse bleibt bei dieser Feststellung jedoch nicht stehen, son­ dern stellt die grundlegendere Frage nach den ethischen, sozialen und politischen Bedingungen, unter denen der Ausschluss aus dem Recht und damit die gesellschaftliche Prekarisierung von bestimmten Leben norma­ tiv plausibel erscheinen kann. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass zu einem Rechtssubjekt im Sinne eines Rechts auf Leben nur derjenige werden kann, dessen Leben im Vorhinein bereits als ein potenziell betrau­ erbares Leben gesellschaftlich wahrgenommen wird und auf das sich das Recht folglich als ein verlierbares und daher schützenswertes Leben bezie­ hen kann. Dadurch macht Butler die Operationen des Rechts explizit von

224

4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben

nichtrechtlichen Wertungen im umfassenderen Raum gesellschaftlicher und politischer Diskurse abhängig, die das Leben in einem vorrechtlichen Bereich sozialer Dynamiken auf der epistemologischen Basis von „‚rassi­ sche[n]‘ Schemata“ (Butler 2020, 148) vorkonfigurieren und -qualifizieren und somit der nachträglichen Bezugnahme durch das Recht erst zugäng­ lich machen. Mit dem Begriff des rassischen Schemas nimmt Butler dabei explizit Bezug auf Frantz Fanon, dessen antikoloniale Arbeiten sie als konzeptuelle Ergänzung der Perspektive Foucaults heranzieht: „Wenn ein Subjekt unter Bedingungen der Staatsmacht nach Foucault ein Recht auf Leben nur hat, wenn es als Rechtsträger konstituiert ist, hat eine Population unter Bedingungen der Biomacht einen Anspruch auf Leben nur, wo sie potenziell betrauerbar ist. Das ist meine These, mein Vorschlag für eine Ergänzung zu Foucault, wobei Fanon zur Frage herangezogen wird, welche Rolle ‚rassische‘ Schemata in ‚ras­ sischen‘ Vorstellungen vom Lebendigen spielen, welche ‚rassischen‘ Phantasmen die demografischen Wertsetzungen prägen, die wiederum festlegen, wer betrauerbar ist und wer nicht, wessen Leben bewahrt werden soll und wessen Leben ausgelöscht oder dem Tod überlassen werden kann“ (Butler 2020, 148). Der Grund, aus dem Butler an dieser Stelle auf die Figur des rassischen Schemas bzw. des „‚historisch-rassische[n]‘ Schema[s]“ (Butler 2020, 148) rekurriert, besteht also darin, dass sie diesen Schemata eine entscheidende Rolle im Zuge der Konstituierung des Lebens als öffentlich betrauerbar einräumt. Nach Butlers Einsicht wirkt die biopolitische Macht durch das Instrumentarium rassistischer Schemata hindurch so auf das Leben ein, dass dieses niemals als neutrales wahrgenommen werden kann, weil es immer schon durch rassistische Skalierungen vermittelt und gebrochen ist. „Ein Leben kann als solches nur in einem Ordnungsschema gelten, in dem es als Leben ausgewiesen ist“ (Butler 2020, 144). In diesem Zu­ sammenhang unterstreicht Butler nochmals den Unterschied ihrer philo­ sophischen Verständnisweise des Rassismus im Vergleich zu Foucaults ursprünglicher Konzeption: „Meiner Auffassung nach ist die Macht schon in rassistischen Schema­ tisierungen am Werk, die nicht nur durchweg zwischen mehr und minder wertvollen, mehr und minder betrauerbaren Leben unterschei­ den, sondern auch zwischen Leben, die mehr, und solchen, die weni­ ger nachdrücklich überhaupt als Leben zählen“ (ebd.).

225

Kapitel 4

Damit überträgt Butler also die Idee der grievability terminologisch auf den Bereich des Biopolitischen und stellt eine Querverbindung zwischen der sozialen Konstruktion der Betrauerbarkeit des Lebens und der biopoli­ tischen Machtwirkung des Rassismus her. In diesem Kontext stellt Butler fest, „dass Betrauerbarkeit schon im Leben greift und dass sie ein Charak­ teristikum lebendiger Wesen ist, mit dem ihr Wert in einem ausdifferenzierten Wertesystem gekennzeichnet wird, und zwar mit direkten Folgen für die Frage, ob diese Wesen in gerechter Weise gleich behan­ delt werden oder nicht“ (Butler 2020, 80). Butlers argumentative Strategie besteht demnach darin, die immanente Verknüpfung der Betrauerbarkeit des Lebens mit dessen biopolitischem Charakter in der Moderne herauszustellen und damit die biopolitische Struktur des Lebensbegriffs in systematischer Hinsicht von der ungleichen Verteilung der Betrauerbarkeit her zu lesen.76 Dies ermöglicht es ihr einerseits, die spezifische Art und Weise zu konkretisieren, in der der Rassismus unter biopolitischen Gesichtspunkten den Bereich des Lebens differenziell organisiert. Andererseits kann Butler dadurch gleichzeitig die von Foucault eingeführte rassismuskritische Perspektive theoretisch schär­ fen. Da das Leben des Einzelnen wie der Gattung nicht unabhängig von den epistemologischen Schemata des Rassismus als Leben erscheinen kann, steht die Forderung nach der ethischen Wertschätzung menschlicher Le­ ben immer schon notwendig im biopolitischen Horizont der ethisch-poli­ tischen Ungleichbewertung dieser Leben. Um diese inhärente Spannung und Problematik innerhalb des Lebensbegriffs mit Blick auf dessen bio­ politische Implikationen sichtbar zu machen, zeigt Butler auf, dass die ethische Thematik der Betrauerbarkeit des Lebens zugleich immer schon notwendig eine zutiefst politische Frage ist, die ihrerseits eine irreduzible biopolitische Dimension beinhaltet. Denn dass ein Leben verloren werden kann, ist für Butler keine selbst­ verständlich gegebene Tatsache, sondern vielmehr an spezifische anerken­ nungstheoretische und damit politische Vorbedingungen gebunden. Der Verlust eines Lebens beruht, wie Butler bemerkt, bereits selbst auf der sozi­ alontologischen Konzeptualisierung dieses Lebens als eines wertvollen und

76 So vermerkt Butler etwa an einer anderen Stelle: „Betrauerbarkeit bestimmt ganz wesentlich über den Umgang mit lebendigen Geschöpfen und erweist sich als integrale Dimension der Biopolitik und des Nachdenkens über die Gleichheit alles Lebenden“ (Butler 2020, 77).

226

4.1 Biopolitik und das Recht auf Leben

daher verlierbaren Lebens.77 Diese biopolitische Bewertung des Lebens als eines lebendigen Lebens findet nach Butler innerhalb der biopolitischen Dynamik des historisch-rassischen Schemas statt: „Das ‚historisch-rassische‘ Schema, das Feststellungen wie ‚Das ist/war ein Leben‘ oder ‚Das sind/ waren Leben‘ ermöglicht, ist aufs Engste mit der Möglichkeit bestimmter Formen der Bewertung von Leben verbunden“ (Butler 2020, 148). Der ethische Wert eines Lebens, so präzisiert Butler, bezieht sich unter den Voraussetzungen der Biopolitik auf das menschliche Leben nicht in sei­ nen moralischen Qualitäten, sondern auf den Status des Lebens in seiner biologischen Lebendigkeit, d.h. „auf Menschen in ihrem Status als lebendige Wesen“ (Butler 2020, 139). Die biopolitische Aufteilung menschlicher Leben in lebende und nicht­ lebende Anteile vollzieht sich somit stets auf dem Weg einer rassistischen Schematisierung des Lebens, welche die Betrauerbaren von den Unbetrau­ erbaren trennt, die „als schon verloren und damit als nie im vollen Wortsinn lebendig“ (Butler 2020, 79) gelten. Die Weise dieses Vollzugs definiert und konkretisiert Butler über Foucault hinaus als prozesshafte „‚Rassifizierung‘“ (Butler 2020, 147), innerhalb derer sich die normative Abwertung von bestimmten Leben auf der sozialen Ebene der epistemolo­ gischen Wahrnehmungsmuster und normativen Anerkennungsraster einer Gesellschaftsformation manifestiert. Dadurch wird die Wahrnehmbarkeit eines Lebens als lebendig oder nichtlebendig anhand selektiver Vorentschei­ dungen im vorrechtlichen Gefüge ethisch-politischer Subjektivierungspro­ zesse differenziell orientiert und kanalisiert. Butlers theoretischer Beitrag in Bezug auf den Biopolitikbegriff besteht vor diesem Horizont also pri­ mär darin, den von Foucault ins Spiel gebrachten Rassismus mit der Idee eines Schematismus der ungleichen Betrauerbarkeit bzw. einer „Metrik der Betrauerbarkeit“ (Butler 2020, 149) intern zu verschachteln. Damit steht für Butler fest, dass die Kritik rechtlicher Gewalt und der in ihrem Denken damit einhergehende Ansatz einer Ethik der Gewaltlo­ sigkeit notwendig verbunden sind mit der politisch-aktivistischen „Oppo­ sition gegen biopolitische Formen des Rassismus und der Kriegslogik, die regelmäßig unterscheiden zwischen schutzwürdigem und nicht schutz­ würdigem Leben“ (Butler 2020, 83). Bevor die bis hierher rekonstruierten Überlegungen Butlers zur immanenten Verschränkung von grievability

77 In diesem Sinne schreibt Butler: „Und ein dritter Punkt: Ein Leben muss betrau­ erbar sein, das heißt, sein Verlust muss als Verlust benennbar sein, damit Verbote von Gewalt und Vernichtung dieses Leben einschließen und in den Kreis derer aufnehmen können, die vor Gewalt zu schützen sind“ (Butler 2020, 78f.).

227

Kapitel 4

und Biopolitik deutlicher in den Kontext einer biopolitischen Rechtskritik aus der Perspektive der Ausgeschlossenen übertragen werden, soll Butlers biopolitische Konzeption der Betrauerbarkeit des Lebens jedoch im fol­ genden Zwischenschritt noch einmal stärker in den systematischen Kon­ text ihres politisch-philosophischen Werkes im Allgemeinen und in den Horizont ihrer Konzeption des precarious life im Speziellen eingeordnet werden. Dabei liegt ein primäres Augenmerk auf Butlers methodischem Vorgehen, durch das sie ethische sowie anerkennungstheoretische Frage­ stellungen insgesamt in den Horizont des Politischen stellt. Diese Politisie­ rung ist im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit von zentraler Bedeu­ tung, da sie das Vorbild für das primäre Vorhaben dieser Studie darstellt, das bürgerliche Recht über Menkes rechtskritischen Blickwinkel hinaus im umfangreicheren Kontext des Biopolitischen zu verorten und dadurch eine biopolitische Rechtskritik ausgehend von der Perspektive der aus dem Recht Ausgeschlossenen neu zu konzeptualisieren. 4.2 Von ungleich betrauerbaren Leben: Butlers Theorie des precarious life und die Unterscheidung von Leben und Nichtleben Butlers Konzeption der grievability steht im unmittelbaren Zusammen­ hang ihres Nachdenkens über das ‚gefährdete Leben‘ (precarious life). Ihre Theorie des gefährdeten Lebens formuliert Butler dabei bereits in ihrer Aufsatzsammlung Gefährdetes Leben: Politische Essays (Butler 2005) in einer spezifisch biopolitischen Sprache, welche sie im Kontext ihrer darauf­ folgenden Werke immer expliziter entfaltet hat. Insgesamt geht ihr Kon­ zept des gefährdeten Lebens von der fundamentalen Verwundbarkeit und wechselseitigen Abhängigkeit menschlicher Leben und einer damit einher­ gehenden Ethik der Gewaltlosigkeit aus: „‚Gefährdetes Leben‘ nähert sich der Frage einer gewaltfreien Ethik, einer Ethik, die auf einem Verständnis davon aufbaut, wie leicht ein Menschenleben ausgelöscht werden kann“ (Butler 2005, 13). Damit setzt Butler ein grundsätzlich relationales Ver­ ständnis des Sozialen voraus, innerhalb dessen das einzelne Individuum immer schon notwendig in seiner konstitutiven Einbindung in soziale Beziehungen erscheint. In Butlers Heuristik hat das Soziale deshalb einen Vorrang gegenüber dem Individuellen, weil das individuelle Leben nur durch die Vermittlung durch soziale Lebensformen geführt und gelebt werden kann: „Wenn wir über soziale Leben sprechen, dann beziehen wir uns folglich darauf, wie das Soziale das Individuelle durchzieht oder sogar die soziale Form der Individualität hervorbringt“ (Butler 2016, 274).

228

4.2 Von ungleich betrauerbaren Leben

Unter Vulnerabilität versteht Butler deshalb zunächst die sozialontologi­ sche Grundbedingung des Verständnisses von Subjektivität, welche sich sowohl in einer grundlegenden Verletzbarkeit und Interdependenz als auch in einer damit zusammenhängenden Offenheit und Empfänglichkeit des Menschen für seine natürliche, soziale und kulturelle Umwelt äußert (vgl. Butler 2005, 7). Diese Form der Vulnerabilität stellt die Bedingung der Möglichkeit von Subjektivierung dar und liegt damit nicht nur allge­ mein der Bildung und dem Handeln des Subjekts, sondern auch speziell der Verfügung des Rechtssubjekts und dem Zugriff des Rechts auf das Leben notwendig voraus. Butler weist in diesem Zusammenhang die An­ sicht ausdrücklich zurück, „dass wir die Abhängigkeit oder den Zustand der Verwundbarkeit gegenüber sozialen Formen gesetzlich verhindern können“ (Butler 2016, 269), da Vulnerabilität ihrer Auffassung nach „eine der Bedingungen der Sozialität und des politischen Lebens dar[stellt], die sich nicht vertraglich festlegen lassen“ (Butler 2016, 271). Vielmehr beinhaltet die Einsicht in die grundlegende Relationalität des menschlichen Lebens zugleich die Erkenntnis, dass Menschen innerhalb einer irreduziblen Pluralität sozialer Zusammenhänge unabhängig von ihrer Zustimmung miteinander zusammenleben. Diese gesellschaftliche Relationalität wird durch das Subjekt also nicht frei gewählt, sondern liegt den menschlichen Lebensprozessen in den unterschiedlichen sozialen und politischen Formen von nationalen und internationalen Ordnungsstruktu­ ren, aber auch transnationalen und globalen Konstellationen zugrunde. „Mit dem Gefährdetsein ist das Ausgesetztsein sowohl gegenüber de­ nen verbunden, die wir kennen, als auch gegenüber jenen, die uns unbekannt sind, die Abhängigkeit von Menschen, die uns vertraut sind oder die wir kaum kennen oder von denen wir überhaupt nichts wissen“ (Butler 2010, 21). Damit vertritt Butler die Ansicht, dass die Gefährdung als „integrale[r] Aspekt“ (Butler 2010, 20) des Lebens selbst verstanden werden muss, ohne den das Leben folglich nur unvollständig begriffen werden kann. Diese Perspektive der Relationalität ist bei Butler ausdrücklich der individualisti­ schen Auffassung des Menschen entgegengesetzt, die sich in der liberalen Tradition gerade in der Institution der subjektiven Rechte manifestiert. Butler unterstreicht deshalb, „dass Leben, als gefährdetes Leben verstan­ den, eine soziale Ontologie impliziert, die eben jene Form des Individua­ lismus infrage stellt“ (Butler 2010, 26). Da die Erhaltung und die Lebbarkeit eines Lebens demnach von Anfang an von bestimmten gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen

229

Kapitel 4

abhängen, stellt die Gefährdetheit des Lebens für Butler nicht einfach nur eine allgemeine soziale Bedingtheit des Lebens dar, welche auf alle Leben in einem abstrakten Sinn gleichermaßen zutrifft. Zwar ist nach But­ ler jedes Leben aufgrund seines konstitutiv sozialen Charakters in grund­ sätzlicher Weise verwundbar und hängt in seiner individuellen Existenz notwendig von der Existenz aller anderen Leben sowie vom Fortbestand einer kollektiv geteilten natürlichen Umwelt und kulturellen Infrastruktur ab. „Gefährdetes Leben ist eine verallgemeinerte Bedingung und ist doch paradoxerweise der Zustand des Bedingtseins selbst“ (Butler 2010, 30). Jedoch kommt es Butler in der Konzeption des precarious life in erster Linie gerade auf die notwendig politische bzw. immer schon politisierte Dimension der Gefährdetheit menschlicher Leben und damit auf die kon­ krete Ungleichverteilung der (auf einer abstrakt-allgemeinen Ebene egali­ tären) Gefährdung des Lebens in den unterschiedlichen Kontexten der gesellschaftlichen und politischen Realität an. Deshalb unterscheidet But­ ler auf der begrifflichen Ebene zwischen der grundlegenden Gefährdung des Lebens einerseits und deren differenzieller Unterteilung im Feld des Sozialen andererseits, die sie als Prekarität bezeichnet: „‚Prekarität‘ bezeichnet den politisch bedingten Zustand, in dem be­ stimmte Teile der Bevölkerung unter dem Versagen sozialer und öko­ nomischer Unterstützungsnetze mehr leiden und anders von Verlet­ zung, Gewalt und Tod betroffen sind als andere. Prekarität ist somit, wie schon erwähnt, die ungleiche Verteilung von Gefährdetheit“ (But­ ler 2016, 48). Das Konzept der Prekarität wird somit von Butler nicht einfach als Zu­ stand des Prekärseins, sondern vielmehr als politischer Prozess der Prekari­ sierung von bestimmten Gruppen gedacht und als solcher der allgemeinen Bedingung der Gefährdung gegenübergestellt. „Gefährdung und Prekari­ tät sind Konzepte, die sich überschneiden. Leben sind per definitionem gefährdet“ (Butler 2010, 31). Über die grundsätzliche Gefährdung aller Leben hinaus markiert die Idee des precarious life also die Tatsache, dass im Raum des Politischen die Minimierung der Gefährdung der einen Le­ ben in direkter Weise mit der Maximierung der Gefährdung der anderen Leben zusammenhängt (vgl. ebd.). Als gefährdete Leben sind in dieser wesentlich politisierten Heuristik besonders diejenigen anzusehen, die auf­ grund politischer Entscheidungen Formen der sozialen und politischen Prekarisierung und somit der Gefahr von Gewalt und Tod in sehr viel stär­ kerem Maß ausgesetzt sind als andere. Ihre Vernachlässigung und Margi­ nalisierung resultiert für Butler aus gesellschaftlichen Formen struktureller

230

4.2 Von ungleich betrauerbaren Leben

Gewalt und damit verbundenen politischen Vorentscheidungen darüber, auf welche Weise und zu wessen Gunsten bzw. Lasten die Bedrohtheit des Lebens innerhalb einer Gesellschaft aufgeteilt und organisiert wird. Insbesondere in Raster des Krieges beschäftigt sich Butler vor diesem Hintergrund mit der Frage, wie Normen der Anerkennbarkeit die Aner­ kennung von bestimmten Gruppen ermöglichen und vorbereiten, wäh­ rend sie zugleich andere Gruppen von der Möglichkeit der Anerkennung normativ ausschließen, indem sie bereits deren potenzielle Anerkennbar­ keit selbst von vornherein verringern und teilweise verhindern. Dabei funktionieren diese Normen, wie Butler formuliert, auf der Grundlage von epistemologischen Rastern bzw. differenziellen Rahmensetzungen, die den Bereich des Anerkennbaren dadurch konstituieren, dass sie das Spektrum und die Reichweite der Anerkennbarkeit durch biopolitische Machtoperationen begrenzen und abschließen. Anhand der Funktionswei­ se solcher Normen lassen sich der Regierungscharakter und die damit korrespondierenden Machtimplikationen von Normativität, die bereits im Zuge der Rekonstruktion von Menkes Theorie besprochen wurden, noch einmal deutlicher herausarbeiten und mit Blick auf ihre biopolitischen Elemente schärfen. Denn Butler identifiziert die Wirkungsweise der her­ meneutischen Raster, welche der sozialen Praxis der Anerkennung zugrun­ de liegen, als den Prozess der biopolitischen Aufteilung der Gesellschaft, wodurch sie die ethische Problematik der Anerkennung des Lebens in den größeren Horizont der Biopolitik einordnet: „Wenn bestimmte Leben gar nicht als Leben gelten oder von Anfang an aus gewissen epistemologischen Rastern (frames) herausfallen, dann werden diese Leben im vollen Wortsinn niemals gelebt und auch niemals ausgelöscht. Zum einen geht es mir um das epistemologische Problem, das sich aus der Rahmung (framing) ergibt: Die Rahmen oder Raster (frames), mittels welcher wir das Leben anderer als zerstört oder beschädigt (und überhaupt als des Verlustes oder der Beschädi­ gung fähig) wahrnehmen oder eben nicht wahrnehmen, sind politisch mitbestimmt“ (Butler 2010, 9). Ein Leben kann demzufolge immer nur unter der Bedingung von „bereits wirksamen Rahmensetzungen“ (Butler 2010, 54) als ein Leben erscheinen, das wert ist, erhalten und geschützt zu werden. Die Anerkennbarkeit des Lebens als Leben ist dabei an dessen vorhergehende Vermittlung durch spezifische Raster der Wahrnehmbarkeit gebunden, welche es erst als lebendig konstituieren. Die Rahmensetzungen der Anerkennung be­ ruhen demnach laut Butler wiederum auf der vorgängigen Dynamik

231

Kapitel 4

„ganz bestimmter eingebetteter Bewertungsstrukturen“ (Butler 2010, 55), welche innerhalb einer biopolitischen Diskursivität als „stillschweigende Deutungsschema[ta] der Unterteilung in wertvolle und wertlose Leben“ (ebd.) das Leben selbst in seiner Erkennbarkeit und Wahrnehmbarkeit vor­ strukturieren. Diese epistemischen Rahmungen des Lebens sind dabei also nicht gleichbedeutend mit den tatsächlichen Normen der Anerkennung.78 Die unterschiedlichen Normen der Anerkennung rekurrieren vielmehr in ihren differenzierenden Operationen und Mechanismen auf ihnen voraus­ liegende epistemologische Raster und ästhetische Schemata, die bereits über die Wahrnehmbarkeit eines Lebens innerhalb der Gesellschaft ent­ scheiden und darin gleichzeitig biopolitische Ungleichbewertungen ver­ schiedener Leben vornehmen. „Ein Leben muss als Leben intelligibel sein, es muss gewissen Konzep­ tionen des Lebens entsprechen, um anerkennbar zu werden. Wie Nor­ men der Anerkennbarkeit den Weg zur Anerkennung ebnen, so bedin­ gen und erzeugen Schemata der Intelligibilität erst diese Normen der Anerkennbarkeit“ (Butler 2010, 14).

78 Butler unterscheidet an dieser Stelle terminologisch sowie konzeptuell zwischen ‚Anerkennbarkeit‘ und ‚Anerkennung‘, um u.a. aufzuzeigen, inwiefern die nor­ mative Praxis der Anerkennung von unausgesprochenen Bedingungen abhängt, welche die Bühne für einen Streit oder Kampf um Anerkennung erst diskursiv formen und den Begriff des Politischen damit in den Bereich des Sinnlichen im Sinne von Sicht- und Hörbarkeit hinein erweitern. Die Normativität von Aner­ kennungsprozessen beschränkt sich somit nicht auf die Szene von sprachlichen Forderungen, sondern beinhaltet gleichzeitig immer auch die materielle und epistemische Dimension des Körpers und seines sozialen Erscheinens. Diese Per­ spektive hat Butler in Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung (vgl. Butler 2016) weiter vertieft und theoretisch entfaltet. Zum Unterschied zwi­ schen ‚Anerkennung‘ und ‚Anerkennbarkeit‘ schreibt Butler in Raster des Krieges: „Bezeichnet ‚Anerkennung‘ einen Akt oder eine Praxis oder gar ein Aufeinander­ treffen von Subjekten, so steht der Begriff der ‚Anerkennbarkeit‘ für die allgemei­ neren Bedingungen, die ein Subjekt auf die Anerkennung vorbereiten oder ihm die dazu nötige Form vermitteln. Jene allgemeinen Begriffe, Konventionen und Normen ‚handeln‘ dabei selbst in spezifischer Weise, indem sie ein lebendiges Wesen zu einem anerkennbaren Subjekt machen, ein ‚Handeln‘, das seinerseits anfällig für Irrwege und unvorhergesehene Ergebnisse ist. Diese Kategorien, Kon­ ventionen und Normen, die ein Subjekt zum möglichen Subjekt der Anerken­ nung machen und überhaupt erst Anerkennungsfähigkeit herstellen, liegen dem Akt der Anerkennung selbst voraus und ermöglichen ihn allererst. In diesem Sinne geht die Anerkennbarkeit der Anerkennung voraus“ (Butler 2010, 13).

232

4.2 Von ungleich betrauerbaren Leben

Der Normativität von Anerkennungspraktiken liegt somit stets eine grund­ legende Spaltung der Bevölkerung in Leben und Nichtleben, d.h. „in Betrauerbare und Nichtbetrauerbare“ (Butler 2010, 43) durch die Machtef­ fekte biopolitischer Raster zugrunde. Einerseits kann einem bestimmten Leben „Wert nur unter der Bedingung zugeschrieben werden, dass es als Leben wahrnehmbar ist“ (Butler 2010, 55), während andererseits diese Wahrnehmbarkeit des Lebens selbst in der Linie Foucaults mit seiner Einschreibung in den umfassenderen Rahmen biopolitischer Machtforma­ tionen zusammenhängt, „da Werte durch Machtformen definiert und ver­ breitet werden“ (Butler 2016, 257). Daraus ergibt sich ein komplexes Bild, vor dessen Hintergrund Butler die ethische Frage nach dem Wert und der Wertschätzung des Lebens in den größeren Kontext biopolitischer Diskurse zurückstellt, welche die Kriterien und Raster zur differenziellen Bewertung des Lebens liefern und dadurch „die Kritik der biopolitischen Ordnung“ (ebd.), d.h. der „diskursiven Lebens- und Wertordnungen“ (ebd.) im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, erforderlich machen. In dieser Lesart müssen Fragen der Ethik zum einen immer in der aus­ drücklichen Auseinandersetzung mit den Rahmen des Politischen verstan­ den werden, innerhalb derer sie erst formulierbar werden. Zum anderen bedeutet das aber auch in einem grundsätzlichen Sinn, dass sowohl die ethische als auch die politische Beschäftigung mit Fragen des Lebens vor dem spezifischen Hintergrund der Biopolitik problematisiert und ausge­ hend von deren biopolitischer Konfiguration rekonstruiert werden muss. „Die ethische Frage – Wie soll ich leben? – oder auch die politische Frage – Wie sollen wir zusammenleben? – hängt von einer Organisati­ on des Lebens ab, die eine sinnvolle Beschäftigung mit ihr überhaupt möglich macht. Die Frage, was ein lebbares Leben ausmacht, geht daher der, welche Art von Leben ich führen soll, voraus, was bedeutet, dass das, was von manchen das Biopolitische genannt wird, die norma­ tiven Fragen, die wir an das Leben stellen, bedingt“ (Butler 2016, 62). Die Perspektive des precarious life rückt daher die biopolitischen Machtdif­ ferenziale in den Fokus, die das epistemische Feld der Anerkennbarkeit des Lebens anhand stillschweigend akzeptierter demographischer Prämissen über den ungleichen Wert unterschiedlicher Leben regulieren und somit den Anwendungsbereich der Anerkennungsnormen innerhalb einer Ge­ sellschaft von Anfang an selektiv festlegen und ästhetisch kanalisieren. An verschiedenen Stellen ihrer jüngeren Arbeiten beschreibt Butler die biopo­ litische Fundierung und Wirkungsweise von Normen der Anerkennung als „normative Konstruktion des Menschlichen“ (Butler 2016, 54) und

233

Kapitel 4

stellt damit die Begriffe der Menschheit bzw. des Menschlichen als theo­ retische Grundlage für die ethisch-politische Beschäftigung mit der philo­ sophischen Thematik des Lebens infrage. Liberale ethische Ansätze etwa, die normative Begriffe wie Humanität oder Menschenwürde als universale Prinzipien in den Vordergrund stellen, müssen nach Butler durch die kritische Erkenntnis ergänzt werden, „dass Normen des Menschlichen von Machtmodi geformt werden, die bestimmte Versionen des Menschlichen gegenüber anderen normalisieren sollen, indem sie entweder zwischen Menschen unterscheiden oder das Feld des Nichtmenschlichen willkürlich erweitern“ (Butler 2016, 53). In Die Macht der Gewaltlosigkeit geht Butler vor diesem Hintergrund der Frage nach, inwiefern die biopolitische Ungleichverteilung der Betrau­ erbarkeit des Lebens mit der diskursiven Hervorbringung der Kategorie des Menschlichen verknüpft ist und auf welche Weise das Menschliche dadurch selbst durch differenzielle Machtoperationen der Biopolitik kon­ stituiert wird. In diesem Zusammenhang liest Butler die biopolitische Rahmung des Lebens mit dem Ausschlusscharakter der Kategorie des Menschlichen zusammen: „Diese Ungleichverteilung der Betrauerbarkeit könnte ein Rahmen sein, der uns verstehen hilft, weshalb Menschen und andere Geschöpfe in einer Struktur der Ungleichheit – tatsächlich einer Struktur der ge­ waltsamen Verleugnung – so unterschiedliche Positionen einnehmen. Mit der Behauptung, Gleichheit gelte formal für alle Menschen, um­ geht man die fundamentale Frage, wie der Mensch hervorgebracht wird oder vielmehr, wer als anerkennbarer und werthafter Mensch hervorgebracht wird und wer nicht“ (Butler 2020, 79). Das bedeutet, dass Butler zufolge jede egalitaristische Konzeption einer allen Menschen gleichermaßen zukommenden Würde, also einer funda­ mentalen moralischen Gleichheit aller Menschen, nochmals innerhalb einer grundlegenderen ‚Struktur der Ungleichheit‘ verortet ist, die kri­ tisch reflektiert und problematisiert werden muss. Radikaler formuliert, beruht die ethische Anerkennung der Gleichheit aller Menschen auf dem Ausschluss einiger Menschen aus dem anerkennbaren Bereich des Mensch­ lichen und damit aus der Gemeinschaft der Menschheit.79 Denn der Be­

79 Diese Ausschließung aus der Menschheit bringt Ayten Gündoğdu in ihrer Studie Rightlessness in an Age of Rights explizit mit migrantischen Erfahrungen der Ent­ rechtung und den Kämpfen geflüchteter und staatenloser Menschen gegen ihre Rechtlosigkeit und Prekarität in Verbindung, indem sie im Anschluss an Hannah

234

4.2 Von ungleich betrauerbaren Leben

griff der Menschheit bringt stets bestimmte vorherrschende Vorstellungen des Menschlichen in Umlauf, die eine partikulare Auffassung dessen, was menschlich ist, universalisieren und zu einem hegemonialen Paradigma des Menschen erheben. Die Erfahrung einer Entmenschlichung bzw. De­ humanisierung machen dem Soziologen Michel Agier zufolge heutzutage primär illegalisierte Migranten, die durch die diskursiven Wirkungen der Biopolitik als fremd und nichtzugehörig und dadurch weniger menschlich als diejenigen markiert werden, die offiziell zu einer nationalstaatlichen Gemeinschaft gehören: „The stranger in the form of the worker with no security, no papers, no rights, and no fixed address is thus the first of us to experience a lesser humanity, since he or she discovers what it means when the no­ tion of human rights ‘for all’ is called into question, according to the criticism of this ‘rights of man-ism’, which is today widely espoused by ideologues of the rights throughout the world” (Agier 2021, 110). Damit relativiert Agier analog zu Butlers Argumentation die universelle Normativität der Menschenrechte, indem er das den Menschenrechten zugrunde liegende Konzept des Menschen als stratifizierendes Diskursin­ strument identifiziert und dementsprechend in seiner Partikularität und Selektivität herausstellt. In diesem Zusammenhang vermerkt auch Costas Douzinas in rechtskritischer Absicht: „Rights construct humans against the ‘inhuman conditions of humanity’“ (Douzinas 2019, 96; vgl. hierzu außerdem Cheah 2006). In Butlers Augen ist die diskursive Prämisse, eine bestimmte Gruppe sei „paradigmatisch menschlich, (…) dazu gedacht, ein Kriterium einzuführen, nach dem die Menschlichkeit jedes Wesens, das menschlich zu sein scheint, beurteilt werden kann“ (Butler 2016, 52). In Die Macht der Gewaltlosigkeit beschreibt Butler mit deutlichen Worten die Art und Weise, wie das Menschliche erst durch konstitutive Ausschlüsse als soziale Kategorie diskursiv erzeugt wird und sich daher, wie bemerkt, als analytische und normative Grundlage von Ethik und Politik als unzu­ reichend erweist: „Aus diesem Grund können wir unsere Analyse nicht auf den Men­ schen gründen (…). ‚Mensch‘ ist ein historisch variabler Begriff, der differenziell im Kontext ungleich verteilter sozialer und politischer

Arendt die These aufstellt, „that the exclusion of the stateless from a political community in which their action and speech can be taken into account amounts to an expulsion from humanity“ (Gündoğdu 2015, 17).

235

Kapitel 4

Macht artikuliert wird; das Feld des Menschlichen ist durch grundle­ gende Ausschlüsse konstituiert und wird heimgesucht von denen, die in dieser Gleichung nicht zählen“ (Butler 2020, 79f.). Dadurch wird hervorgehoben, wie das theoretische und praktische Feld des Menschlichen gerade in seinem formalen Gleichheitscharakter von einer tiefer liegenden Ungleichheit lebt, die seine obszöne Unterseite bil­ det und als solche die begriffliche Homogenität des Menschlichen wesent­ lich bedingt. „In conclusion, because ‘humanity’ has no fixed meaning, because it excludes some people deemed less than human, it cannot act as the main source of normativity“ (Douzinas 2019, 94). Aus diesem Grund steht der Begriff des Menschlichen auch in der permanenten Gefahr, wie Butler formuliert, von seinen radikal heterogenen, ausgeschlossenen Ele­ menten ‚heimgesucht‘ bzw. ‚verfolgt‘ und dadurch in seiner konzeptuel­ len Geschlossenheit ins Wanken gebracht und aufgebrochen zu werden. Die biopolitische Macht muss daher in der differenziellen Produktion des Menschlichen stets damit rechnen, dass die Ausgeschlossenen gegen ihren biopolitischen Ausschluss aus den intern miteinander verbundenen Anerkennungsfeldern des Menschen und des Lebens, d.h. des Menschlichen und des Lebendigen, kollektiv aufbegehren und Widerstand leisten. Die Möglichkeit, dass die Exkludierten ihre Inklusion ins Menschliche und die darin implizierte Neuverteilung und Reformulierung der diskur­ siven Regeln und Normen der Inklusion ins Menschliche bzw. der men­ schenrechtlichen Repräsentation des Menschlichen einfordern, bedroht daher ständig die strukturelle Kohärenz vorherrschender Idealvorstellun­ gen des Menschlichen und des Lebendigen, denn diejenigen, „die in gewissem Sinne der Preis des Menschlichen, dessen Abfälle und Trüm­ mer ‚sind‘, sind genau diejenigen, die sich manchmal in unerwarteten Allianzen zusammenfinden – im Bemühen um ihren Fortbestand und darum, Formen der Freiheit ausüben zu können“ (Butler 2016, 59), die unter den hegemonialen Diskursbedingungen der Biopolitik noch nicht möglich sind und deshalb erst in solidarischen Akten des gemeinsamen Widerstands politisch erkämpft werden müssen. Dieser Widerstand der Ausgeschlossenen, der am Schluss dieser Arbeit noch näher thematisiert wird, kämpft gegen die biopolitische Verdrän­ gung derer an, die innerhalb der hegemonialen Anerkennungsregime der Biopolitik als nichtmenschlich und nichtlebendig zählen, und zeigt dabei rechtskritisch auf, „that human rights do not ‘belong’ to humans; they construct humans on a spectrum between full humanity, lesser humanity and the inhuman“ (Douzinas 2019, 49). Darin richtet der Widerstand seinen kritischen Fokus zugleich auf die teils offene und bewusste, teils

236

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

uneingestandene oder unbewusste Erweiterung der Heterotopie des Nicht­ betrauerbaren im Zuge der biopolitischen Unterteilung des Sozialen in wertvolle und weniger wertvolle Leben. In Butlers Verständnis hängt die Betrauerbarkeit des Lebens, wie gesehen, bereits innerlich mit der Konsti­ tuierung des Lebens und des Menschen selbst zusammen, denn jedesmal, wenn wir normative Aussagen über das menschliche Leben treffen, „treffen wir noch eine Vorentscheidung darüber, wer in die Kategorie ‚Mensch‘ gehört, wer ihr teilweise zugehört und wer ihr gar nicht zugehört, wer im vollen Sinn lebendig und wer zum Teil tot ist, wer im Verlustfall betrauert wird und wer nicht, weil er praktisch sozial tot ist“ (Butler 2020, 79). Auf der Basis der bis hierher erarbeiteten Systematik Butlers lässt sich ihr biopolitischer Ansatz im Folgenden mit einer rechtskritischen Heu­ ristik stärker verbinden und im Hinblick auf die Erweiterung von Men­ kes Rechtsphilosophie konkretisieren. Anhand von Butlers Überlegungen kann dabei die mit Foucault in die Debatte eingeführte Perspektive des Rassismus in ihrer biopolitischen Bedeutung weiter geschärft und entfaltet werden. Mit Butler lässt sich somit im Kontext einer biopolitischen Kritik des Rechts ausdrücklich die Perspektive der Ausgeschlossenen einnehmen. Vor diesem Hintergrund wird die Biopolitik als umfassenderer politischer Rahmen sowohl für die Praxis als auch die Kritik des bürgerlichen Rechts sichtbar und ermöglicht über Menkes rechtskritisches Instrumentarium hinaus eine umfängliche theoretische Auseinandersetzung mit den biopo­ litischen Ausschlüssen aus dem Recht. Butlers Konzepte des precarious life und der grievability erweisen sich aus dieser Sicht als systematische Schlüsselbegriffe für die Entwicklung einer rechtskritischen Perspektive der Ausgeschlossenen einerseits sowie für die Konzeptualisierung eines umfassenden Begriffs des Biopolitischen im Hinblick auf die Dynamiken von Entrechtung und Exklusion andererseits. 4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik 4.3.1 Der Ausschluss der Nichtlebenden aus dem Recht: Die Differenz von Recht und Nichtrecht im Licht von Butlers Biopolitikbegriff Butlers biopolitischer Ansatz trägt Entscheidendes für die rechtskritischen Zwecke dieser Arbeit aus, da er den systematischen Horizont eröffnet und die theoretischen Mittel zur Verfügung stellt, um das bürgerliche Recht

237

Kapitel 4

aus der Perspektive der rechtlich Ausgeschlossenen zu beleuchten und einer biopolitischen Kritik zu unterziehen. Während Menke den rechts­ theoretischen Fokus auf die rechtliche Normalisierung von Rechtssubjek­ ten als einen dem Rechtssystem immanenten Herrschaftseffekt richtet, stellt Butler auf der Grundlage eines umfassenderen Konzepts der Biopolitik die demgegenüber vorgelagerte und daher grundlegendere Frage nach den vor- und außerrechtlichen – und gerade deshalb rechtlich nicht weniger relevanten – Bedingungen, um überhaupt ein Rechtssubjekt werden zu können. Damit rückt sie auf Foucault aufbauend und diesen gleichzeitig fortschreibend die Ausschlüsse aus dem Recht in den Mittelpunkt des Vorhabens einer biopolitischen Rechtskritik. Ihr Biopolitikverständnis for­ muliert Butler dabei zusammenfassend so: „Unter Biopolitik verstehe ich die Mächte, die das Leben organisieren, auch diejenigen, die Leben im Rahmen eines umfassenden Bevölke­ rungsmanagements durch staatliche und nichtstaatliche Maßnahmen selektiv der Prekarität ausliefern und gleichzeitig Maßstäbe zur unglei­ chen Bewertung des Lebens selbst aufstellen“ (Butler 2016, 252). Und an anderer Stelle bemerkt sie im Hinblick auf die spezifisch rechtli­ chen Folgen und Implikationen der biopolitischen Macht: „Der Fall der Todesstrafe richtet unsere Aufmerksamkeit zwar auf die Macht über Leben und Tod, aber diese Macht ist möglicherweise nicht einfach oder ausschließlich souverän, da diese Macht, die andauernd demographische Unterscheidungen zieht zwischen denjenigen, die ein Recht auf Staatsbürgerschaft haben und denjenigen, deren Rechte auf unbestimmte Zeit aufgehoben werden, eine spezifische biopolitische Wirkungsweise des Rassismus impliziert“ (Butler 2014, 60). Aus diesem Blickwinkel folgt die differenzielle Zuschreibung und der potenzielle Vorenthalt von Rechten einem biopolitischen Schema, welches anhand der ungleichen sozialen Bewertung von Leben eine Scheidelinie zwischen Rechtssubjekten und Rechtlosen zieht. Im Anschluss an Fou­ cault lässt sich dabei, wie aufgezeigt, zunächst dafür argumentieren, dass die rechtliche Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht unter den historischen Bedingungen der Biopolitik mit rassistischen Elementen nor­ mativ aufgeladen wird und sich diskursiv in der rassistischen Differenz zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, manifestiert. Diese rassistische Aufteilung des Lebens ordnet Foucault im Kontext seiner bio­ politischen Studien explizit dem Modell der modernen Normalisierungs­ gesellschaft zu und identifiziert damit den modernen Rassismus in seiner

238

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

biopolitischen Dynamik als eine segregierende und exkludierende Macht­ struktur, die intrinsisch mit der Normalisierungsgesellschaft und ihrer so­ zialen sowie rechtlichen Normativität verbunden ist. Nach Foucault liegt der Rassismus also den unterschiedlichen Techni­ ken der Regierung des Lebens und der Regulierung der Bevölkerung, in denen sich die von Menke herausgearbeitete Normalisierungsmacht der subjektiven Rechte materialisiert, als grundlegenderes biopolitisches Fundament zugrunde, auf dessen biopolitische Ausschlussmechanismen die normativen Operationen und Mechanismen subjektiver Rechte dem­ entsprechend noch einmal zurückgeführt werden müssen und von dem die gesellschaftliche Dynamik und Wirksamkeit dieser Rechte wesentlich abhängt. Über diese grundsätzlichen Feststellungen hinaus entwickelt But­ ler in konstruktiver Erweiterung von Foucaults Idee einen theoretischen Rahmen, der es ihr erlaubt näher zu erläutern, inwiefern und mit wel­ chen konkreten Mitteln der Rassismus seine biopolitischen Wirkungen im Raum des Sozialen erzeugt. Butler zufolge besteht die biopolitische Funktionsweise des Rassismus nämlich nicht einfach darin, das Leben von außen in unterschiedlich wert­ volle Abstufungen zu unterteilen und die wertvollen von den wertlosen Leben innerhalb der Gesellschaft zu trennen. Die biopolitische Aufteilung des Lebens ist vielmehr bereits dem modernen Begriff des Lebens selbst in­ härent. Obwohl Foucault hierbei ursprünglich den entscheidenden Impuls gegeben hat, indem er die biopolitische Unterscheidung zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, als das rassistische Fundament und die exkludierende Rückseite moderner Normalisierungsgesellschaften in den Fokus rückt, bleiben seine Ausführungen in diesem speziellen Punkt im Vergleich zu Butler zu abstrakt. Denn trotz seines Hinweises, dass die biopolitische Macht differenzielle Bewertungsmuster etabliert, die das Leben in den sozialen Kategorien rassischer Über- und Unterlegenheit auf selektive Weise abstufen, bleibt der Prozess der Auf- bzw. Abwertung des Lebens in Foucaults Heuristik dem Begriff des Lebens auf merkwürdige Art äußerlich. Das zeigt sich besonders darin, dass Foucault, wie erläutert, davon spricht, dass es dem Rassismus darum geht, „eine Zäsur biologi­ schen Typs in einen Bereich einzuführen“ bzw. „zu fragmentieren und Zäsuren innerhalb des biologischen Kontinuums, an das sich die Bio-Macht wendet, vorzunehmen“ (Foucault 2014, 105). Diese Formulierungen suggerieren, dass die verschiedenen rassistischen Diskurse und Praktiken, die Foucault im Zusammenhang der Normalisie­ rungsgesellschaft beschreibt, auf äußerliche Weise in einen vorgängigen Bereich des Lebens eingreifen und diesen gewissermaßen nachträglich zu­

239

Kapitel 4

richten und transformieren, indem sie ihn an rassistischen Vorstellungen über den ungleichen Wert unterschiedlicher Leben ausrichten und anpas­ sen. Diese Lesart rassistischer Dynamiken setzt den Bereich des Lebens jedoch auf naive Art als ein neutrales diskursives Feld voraus, was sich, wie gesehen, auch darin niederschlägt, dass Foucault im Kontext seiner Untersuchungen keine konkreten Mechanismen oder tatsächlichen Instru­ mente vorschlägt, durch die der Rassismus das soziale Feld des Lebens anhand relativer Wertordnungen normativ zerteilt und dadurch Leben und Tod auf der Basis biopolitischer Ungleichbewertungen gesellschaftlich distribuiert. Demgegenüber hebt Butler hervor, dass das Leben unter den modernen Bedingungen der Biopolitik niemals unabhängig von den rassistischen Schemata der biopolitischen Macht verstanden werden kann, in die es immer schon eingeschrieben ist. Die biopolitische Schematisierung des Lebens ist dem Leben selbst innerlich, weil ein Leben in seiner sozialen Wahrnehmbarkeit und Erkennbarkeit auf konstitutive Weise an rassisti­ sche Schemata gebunden ist, innerhalb derer es erst als Leben erscheinen kann. Ein Leben wird also erst dadurch als Leben konstituiert, dass es in den biopolitischen Rastern und rassistischen Schemata repräsentiert wird. Das bedeutet, dass das Leben der biopolitischen Macht nicht vorhergeht, sondern immer schon in die soziale Operativität und Produktivität biopo­ litischer Diskurse eingebunden ist und daher auch nur im sozialontologi­ schen Kontext seiner biopolitischen Schematisierung eine gesellschaftliche Gestalt annehmen kann. Die biopolitische Ungleichbewertung des Lebens, die Foucault auf die Agenda einer kritischen Machttheorie gesetzt hat, ist nach Butler also von Anfang an und immer schon im Inneren des Lebens selbst wirksam. Die Biopolitik ist kein Element, das von außen auf das Leben kommt, und auch keine Praxis, die nachträglich auf das Leben angewendet wird, son­ dern der Machtkontext, in dem sich entscheidet, welches Leben überhaupt als Leben zählt und welches Leben nicht als lebendig (an-)erkennbar ist (vgl. Butler 2016, 252). Kurz: Die Biopolitik ist das grundlegende Disposi­ tiv der Subjektivierung im Rahmen der Normalisierungsgesellschaft, in der es um das Problem geht, dass nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, „dass jeder lebende Mensch den Status eines Subjekts hat, welches Rechte und Schutz verdient, in Freiheit lebt und sich politisch zugehörig fühlt“ (ebd.). Aus diesem Grund kann Butler auf überzeugende Weise die sozialphi­ losophische These aufstellen, dass die Konzepte des Lebens und der Be­ trauerbarkeit (grievability) unter biopolitischen Bedingungen begrifflich

240

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

intern miteinander verknüpft sind. Die biopolitische Normativität, die in der rassistischen Ungleichbewertung des Lebens zum Ausdruck kommt, ist untrennbar mit einer Metrik der Betrauerbarkeit verschachtelt, die immer schon im Inneren des Lebens operiert und somit die soziale Konzeption des Lebens normativ vorkonnotiert und auf der Grundlage rassistischer Wahrnehmungsmuster hierarchisiert und qualifiziert. Unter biopolitischen Gesichtspunkten kennzeichnet die ungleich verteilte Be­ trauerbarkeit das Konzept des Lebens als dessen konstitutives und substan­ zielles Charakteristikum und hat daher einen direkten Einfluss darauf, welches Leben von Bedeutung ist und dementsprechend gesellschaftlich unterstützt und rechtlich gesichert wird. Ein Leben zu führen geht deshalb immer damit einher, im Rahmen eines biopolitischen Feldes verortet zu sein, innerhalb dessen nicht nur ein Unterschied gemacht wird zwischen Leben, die mehr oder weniger wertvoll oder betrauerbar sind, sondern die darüber hinaus und auf dieser Grundlage in einem spezifisch biopoliti­ schen Sinn mehr oder weniger ausdrücklich als Leben zählen (vgl. Butler 2020, 112). Das Leben eines Menschen ist somit stets untrennbar mit der Frage nach seiner Betrauerbarkeit verstrickt, welche wiederum durch die biopolitischen Kriterien des Rassismus eingerahmt wird. Wenn das Leben demnach immer schon strukturell mit biopolitischen Bewertungsrastern verflochten ist, ja wenn man von einem Leben außer­ halb seiner Kontextualisierung in Metriken der Betrauerbarkeit gar nicht sinnvoll sprechen kann, dann hat diese konstitutive Eingebundenheit des Lebens in Formen der Biopolitik unmittelbare Auswirkungen sowohl auf die Vorstellung eines Rechts auf Leben als eines speziellen subjektiven Rechts als auch auf die Form subjektiver Rechte im allgemeinen sowie auf das bürgerliche Recht als eines auf subjektiven Rechten aufbauenden Rechtssystems. Denn im Rahmen der Biopolitik, so führt Butler vor Au­ gen, bezieht sich das Recht niemals auf das Leben als solches, weil es das Leben als solches, d.h. als neutralen, universalen Begriff oder statisches Phänomen gar nicht gibt. Das Recht bezieht sich unter biopolitischen Vor­ aussetzungen vielmehr auf das Leben unter der notwendigen Bedingung seiner vorgängigen Aufspaltung in lebende und nichtlebende Anteile. Aus diesem Grund argumentiert Butler in Weiterentwicklung von Foucault, dass zu einem Subjekt von Rechten nur derjenige werden kann, der bereits auf einer vorrechtlichen Ebene als ein Leben, d.h. als lebendiges Wesen in einem umfänglichen anerkennungstheoretischen Sinn konstituiert ist. Dies wird besonders mit Blick auf das Recht auf Leben deutlich. Das Recht auf Leben kann, wie Butlers Heuristik sichtbar macht, nur denje­ nigen Subjekten zukommen, deren Leben als lebendige Leben, d.h. als

241

Kapitel 4

betrauerbare und wertzuschätzende Leben wahrnehmbar und anerkenn­ bar sind. Die Menschen, deren „Leben unter den gegenwärtig den Wert von Lebewesen bestimmenden Bedingungen ein Nichtleben wird“ (Butler 2016, 256), sind damit auch aus dem Status eines Rechtssubjekts mit einem Recht auf Leben ausgeschlossen, da ihre Leben nicht als leben­ dig gelten und somit als Nichtleben für das Recht unsichtbar bleiben. Wenn sich die rechtskonstitutive Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht, wie gesehen, mit Foucault als die rassistische Unterscheidung zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, reformulieren lässt, kann das Paradox des Rechts, das in der gewaltförmigen Beziehung von Recht und Nichtrecht zum Ausdruck kommt, mit Judith Butler biopoli­ tisch radikalisiert werden: Die rechtliche Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht, so lässt sich auf der Grundlage von Butlers Theorie formu­ lieren, manifestiert sich unter biopolitischen Bedingungen in der Unter­ scheidung zwischen Leben und Nichtleben, zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen. Im Anschluss an Butler kann also die biopolitische Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, in der Foucault zufolge die moder­ ne Praxis des Rassismus Ausdruck findet, als die grundlegende Spaltung rekonstruiert werden, welche das Feld des Lebens selbst in lebende und nichtlebende Leben unterteilt und fragmentiert. Im Rekurs auf das Leben operiert das Recht also notwendig durch die Diskursivität rassistischer Schemata hindurch und reproduziert deren biopolitische Ungleichbewer­ tungen des Lebens, auf deren sozialontologischer Grundlage sich die ver­ schiedenen Rechtsdiskurse erst entfalten. Denn die Bedingung, um ein Rechtssubjekt zu werden, ist zirkelhaft an die vorrechtliche Bestimmung des Subjekts als menschliches und lebendiges Leben geknüpft (vgl. im Folgenden Faets 2018). Um sein Leben rechtlich zu schützen, muss das Individuum, mit Foucault gesprochen, bereits als Rechtssubjekt adressier­ bar sein, doch genau diese juridische Adressierbarkeit setzt nach Butler paradoxerweise wiederum voraus, dass der Einzelne im nichtrechtlichen Raum der Gesellschaft als ein menschliches und daher betrauerbares Le­ ben erscheinen kann. Die Extension rechtlicher Normen entscheidet sich, so gesehen, im Rah­ men einer außerrechtlichen Praxis der Biopolitik, die auf rassistische Art und Weise diejenigen Menschen, die als ein Leben im vollen Sinn aner­ kannt sind, von denjenigen trennt, die auf den Status eines Nichtlebens herabgewertet werden. In dieser Lesart schränkt die biopolitische Normati­ vität rassistischer Schemata den Regierungsanspruch rechtlicher Normen anhand ungleicher Vorannahmen über den Wert menschlicher Leben von

242

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

vornherein ein und begrenzt damit gleichzeitig den Wirkungskreis der Normalisierungsmacht subjektiver Rechte auf diejenigen Subjekte, die als lebendige Leben wahrnehmbar und erkennbar sind. Diese ungleichen Be­ wertungen des menschlichen Lebens vollziehen sich dabei in den dem Recht vorausliegenden sozialen Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft und treffen unaufhörlich Vorentscheidungen darüber, wer ein Rechtssub­ jekt werden kann und wem dieser Status vorenthalten wird. Von hier aus lässt sich zunächst der Begriff der Normalisierung und das damit verbundene Konzept der Legalisierung des Natürlichen bei Menke kritisch in den Blick nehmen. Die Normalisierung des Individuums zum Rechtssubjekt spielt sich, so lässt sich von Butler lernen, immer vor dem grundsätzlicheren Hintergrund einer dem Recht zugrundeliegenden Pra­ xis biopolitischer Ausschlüsse ab. Diese biopolitische Praxis bildet den funktionalen und ontologischen Grund der Normativität moderner, sub­ jektiver Rechte. Nach Menke besteht die normative Struktur subjektiver Rechte in der Legalisierung des Natürlichen. Diese Operation bezieht sich als Verrechtlichungspraxis auf einen gesellschaftlichen Raum, der durch die beschriebene biopolitische Aufteilung des sozialen Feldes des Lebens anhand von Selektionsprozessen und Exklusionseffekten vorstrukturiert ist. Gerade insofern sich das moderne Recht, wie Menke zeigt, primär äu­ ßerlich, von außen regulierend, auf biopolitische Gesellschaftszusammenhänge bezieht und dadurch das Gegebene nur noch normalisiert, schrei­ ben sich die dem Recht vorgängigen biopolitischen Ungleichheiten und Ausschlüsse im Medium der Verrechtlichung nachträglich in die normative Ordnung des Rechts wieder ein und bleiben als Ausschlüsse unangetastet und unreflektiert. Das moderne, bürgerliche Recht reproduziert also in seinem elementaren normativen Mechanismus seine eigene Pathologie in Form der biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht. Durch diesen Repro­ duktions- bzw. Wiedereinschreibungsprozess, der aufgrund der Äußerlich­ keit von Normalisierungsdiskursen die Ausschlussmechanismen der bür­ gerlichen Gesellschaft unverändert lässt, werden bestehende Exklusionen im Nachhinein legitimiert und zum konstitutiven Bestandteil der legalen Ordnung gemacht. Die Biopolitik liegt also in dieser Sichtweise der rechtlichen Normativi­ tät in einer Weise voraus, die dem von Butler herausgearbeiteten Verhält­ nis zwischen Normen der Anerkennung einerseits und epistemischen Ras­ tern der Wahrnehmbarkeit und Anerkennbarkeit andererseits analog ist. Denn auch Normen der Anerkennung werden in ihrer normativen Reich­ weite und ihrer gesellschaftlichen Anwendung und Wirksamkeit durch epistemologische Rahmungen in ganz bestimmte Richtungen gelenkt und

243

Kapitel 4

kanalisiert, welche auf der Grundlage biopolitischer Machtdifferenziale die Anerkennbarkeit unterschiedlicher Leben ungleich verteilen. In analoger Weise verhält sich das Leben als Referenzpunkt für das Recht. In seiner normalisierenden Bezugnahme auf das Leben ist das Recht immer schon in die biopolitische Strukturierung und Segmentierung des Lebens in un­ gleich wertvolle Teile und damit in die Prozesse der Invisibilisierung und Exklusion des Nichtlebens aus dem Recht involviert. Das bedeutet, dass die normative Ordnung des Rechts als System der Gleichheit nochmals in den grundlegenderen Kontext der biopolitischen Ungleichheit und Un­ gleichbewertung zurückgestellt und eingeordnet werden muss. Den Ver­ rechtlichungsdiskursen der subjektiven Rechte liegen aus dieser Perspekti­ ve die biopolitischen Praktiken der Entrechtung und des Ausschlusses des Nichtlebens als Bedingung der Verrechtlichung des Lebens zugrunde. 4.3.2 Zur Relationalität von Biopolitik und Recht: Biopolitische Entrechtungen und die Illegalisierung des Natürlichen Liest man das Paradox des Rechts, also das nichtnormative Verhältnis von Recht und Natur, jedoch mit Butler als die Unterscheidung zwischen Leben und Nichtleben, so lässt sich die Naturalisierung durch das Recht darüber hinaus auch in ihrer biopolitisch radikalisierten Bedeutungsebene weiter untermauern und spezifizieren. Weiter oben war bereits die Rede davon, dass Menke den Begriff der Naturalisierung stets auf die Rechtssub­ jekte innerhalb einer Rechtsordnung bezieht und im Konzept der Legali­ sierung des Eigenwillens als die Naturalisierung des Wollens der Rechts­ subjekte begreift. Da sich das Recht aber zugleich gegenüber der Natur als seinem konstitutiven Außen abgrenzt und damit das Nichtrecht im Zuge der Setzung seiner eigenen Normativität notwendig als seinen nicht­ normativen Gegensatz mit hervorbringt, richtet sich die Naturalisierung des Rechts nicht nur nach innen (auf die Ermächtigung des naturalisierten Eigenwillens der Rechtssubjekte durch die rechtliche Selbstreflexion in der Form der subjektiven Rechte), sondern darüber hinaus und davon wesentlich unterschieden auch nach außen – auf diejenigen Leben, die aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen sind. Diesen Aspekt der Naturalisierung denkt Menke jedoch in seinen biopo­ litischen Implikationen nicht zu Ende, obwohl dieser doch als die rechts­ konstitutive Unterscheidung von Recht und Natur der Selbstreflexion des modernen Rechts und der damit verknüpften Naturalisierung des Subjekts der subjektiven Rechte vorhergeht und zugrunde liegt. Im Anschluss an

244

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

Butler wird dagegen sichtbar, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht, in der sich das moderne Recht erst konstituiert, unter den historischen Vorzeichen der Biopolitik so verstanden werden muss, dass das Recht selbst in seiner Veräußerlichung gegenüber dem Nicht­ recht zugleich zwischen Leben und Nichtleben unterscheidet und daher immanent mit der biopolitischen Ungleichbewertung des Lebens zusam­ menhängt. Die biopolitische Aufteilung des Lebens ist der Normativität des modernen Rechts und der subjektiven Rechte also nicht äußerlich, sondern inhärent. Denn das Paradox des Rechts unter seinen biopoliti­ schen Voraussetzungen zu untersuchen bedeutet, zu verstehen, dass sich die Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht in der Moderne in der Differenz von Leben und Nichtleben widerspiegelt. Dies zeigt sich paradigmatisch anhand der grundsätzlichen Ambivalenz des Rechts auf Leben, deren präzise Analyse Judith Butler in Die Macht der Gewaltlosigkeit vorgelegt hat. Dort zeigt Butler, dass das Recht auf Leben zwar auf einer abstrakten Betrachtungsebene der Rechtstheorie eine uni­ versale Struktur besitzt. Sobald man es allerdings im konkreten Rahmen seiner politischen Kontextualisierung untersucht, wird deutlich, dass ein Recht auf Leben nur den Subjekten zukommt, die bereits vorrechtlich als ein Leben konstituiert sind. Die Tatsache, dass sie vorrechtlich als Leben konstituiert sind und nicht vielmehr zu Nichtleben werden, kann aber umgekehrt nicht unabhängig von der rechtlichen Unterscheidung zwi­ schen Recht und Nichtrecht begriffen werden. Denn dass das Recht in der Zuerkennung des Rechts auf Leben der Gesetzmäßigkeit einer vorrechtli­ chen Aufteilung der Gesellschaft in Leben und Nichtleben folgt, zeigt, dass sich gerade im Fall des Rechts auf Leben rechtliche und nichtrechtliche Bedingungen, um ein Rechtssubjekt zu werden, gegenseitig überschneiden und auf untrennbare Weise miteinander vermischen – und dadurch ten­ denziell die Unterscheidung zwischen rechtlichen und nichtrechtlichen Bedingungen aufheben. Insofern das Recht auf Leben nämlich nur solchen Subjekten zukommt, die sozialontologisch als betrauerbare Leben wahrnehmbar sind, muss man davon sprechen, dass das Recht unmittelbar und aktiv an der bio­ politischen Trennung der Leben von den Nichtleben innerhalb einer Ge­ sellschaft beteiligt ist und demnach nicht einfach nur eine biopolitisch aufgeteilte Gesellschaftsstruktur reproduziert, die ihm eigentlich äußerlich und vorgängig ist. Wenn eine notwendige Bedingung dafür, ein Subjekt mit einem Recht auf Leben zu werden, darin besteht, zuallererst auf einer vorrechtlichen sozialontologischen Ebene als ein Leben anerkannt zu wer­ den, dann hat das zur Folge, dass die Unterscheidung zwischen Recht

245

Kapitel 4

und Nichtrecht speziell in der von Menke suggerierten strikten Trennung schlicht und einfach nicht aufrechterhalten werden kann und entgegen Menkes Rechtsphilosophie einen hybrideren und fragileren Charakter auf­ weist. Die Biopolitik liegt den Normen des Rechts also nicht einfach nur als ein übergreifender Rahmen des Politischen voraus, sondern die Kontext­ ualisierung des Rechts in den Rahmen der Biopolitik führt vor Augen, dass die biopolitische Normativität das Recht immer schon infiltriert hat, dass es also keine saubere Trennlinie zwischen nichtrechtlichen Praktiken der Biopolitik und rechtlichen Diskursen gibt. Die Biopolitik bildet auch nicht einfach nur ein inneres, strukturelles Merkmal des Rechts. Vielmehr macht die Perspektive der Biopolitik in grundsätzlicherer Weise deutlich, dass die binäre Logik von Recht und Nichtrecht selbst, innerhalb derer auf einer theoretischen Ebene oberflächlich zwischen Biopolitik und Recht im Sinne von zwei voneinander getrennten und heterogenen Sphären differenziert werden kann, unter biopolitischen Gesichtspunkten weiter differenziert und auf eine andere Art und Weise konzeptualisiert werden muss. Das bedeutet nicht, dass die Differenz von Recht und Nichtrecht als sol­ che überwunden oder gar aufgegeben werden kann. Die Unterscheidung zwischen Recht und Natur bleibt vielmehr eine für das Recht unvermeidli­ che und konstitutive Differenzierung, die mit seiner Setzung untrennbar verbunden ist. In der bis hierher mit Foucault und Butler herausgearbei­ teten biopolitischen Heuristik wird jedoch sichtbar, dass das Verhältnis von Recht und Nichtrecht im Vergleich zu Menkes Konzeption neu und anders gedacht werden muss, um die Dynamiken der Entrechtung und des Ausschlusses aus dem Recht besser verstehen zu können. Dabei lässt sich auf der Grundlage der vorausgehenden Analysen schematisch festhalten: Sowohl Menkes Herangehensweise als auch der biopolitische Ansatz, der in dieser Arbeit in Erweiterung von Menke entwickelt wird, gehen von der grundlegenden Unterscheidung von Norm und Natur aus und entwerfen einen theoretischen Begriffsapparat, um die Differenz von Recht und Nichtrecht zu denken. Dabei begreift Menkes Ansatz Recht und Nichtrecht primär in ihrer Differenz voneinander. Das Recht erscheint bei Menke in radikaler Abgrenzung zum Nichtrecht als geschlossenes System, dessen Normativität sich gegenüber der nichtnormativen Natur nur mit Gewalt durchsetzen kann. Die Perspektive der Biopolitik setzt darüber hi­ naus von der entgegengesetzten Seite her an und denkt Recht und Nicht­ recht in ihrer gegenseitigen Verbindung und relationalen Verschränkung. Der „Begriff der Biopolitik zeigt auf, dass die scheinbar stabile Grenze

246

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

zwischen Natur und Politik, (…) weniger Ausgangspunkt als Effekt politi­ schen Handelns ist“ (Lemke 2008, 80) und sich somit immer wieder neu verschiebt und teilweise verflüssigt. Die biopolitische Analyse des Rechts auf Leben verdeutlicht dabei, dass zwischen Recht und Nichtrecht dyna­ mische und sich wechselseitig bestimmende Relationen bestehen, die in Menkes Perspektive der systemischen Geschlossenheit der Normativität des Rechts vernachlässigt werden. Die wechselseitige Bestimmung von Norm und Natur kommt also in beiden Theoriesträngen zum Tragen, aber sie wird aus entgegengesetzten Richtungen konzeptuell gefasst und beleuchtet. Menkes Fokussierung auf die strukturelle Blindheit der rechtlichen Normativität in Bezug auf die nichtnormative Natur und die damit verbundene Gegenüberstellung von Recht und Nichtrecht liefert zwar den Anknüpfungspunkt dafür, um die modernen Verrechtlichungsdiskurse der subjektiven Rechte als Naturali­ sierungspraktiken begreifen zu können. Denn nur auf der Basis eines oppositionellen Verständnisses von Norm und Natur wird die von Menke herausgestellte Verrechtlichung als Übersetzungsprozess vom Nichtrechtli­ chen ins Rechtliche erforderlich und dadurch in ihrer naturalisierenden Dimension kritisierbar. Gleichwohl muss jedoch die damit verbundene Luhmannianische Heu­ ristik geschlossener Systeme bei Menke aus biopolitischer Sicht wiederum einer Kritik unterzogen werden. Denn in der Perspektive der Biopolitik wird ersichtlich, dass Recht und Nichtrecht entschieden relationaler ver­ standen werden müssen als es bei Menke der Fall ist. Im Recht auf Leben wird die Relationalität von Recht und Nichtrecht auf paradigmatische Weise sichtbar, da das Subjekt unter biopolitischen Gesichtspunkten ein Recht auf Leben nur beanspruchen kann, insofern sein Leben sozialon­ tologisch als lebendig anerkannt wird. Die biopolitische Bewertung des Lebens als eines lebendigen Lebens wird hier zum einen als vorrechtliche Bedingung von Rechtssubjektivität erkennbar, zum anderen wird aber zugleich umgekehrt sichtbar, dass bereits dieser vorrechtliche Status der Lebendigkeit eines Lebens paradoxerweise immer schon in die immanente Struktur des Rechtssubjekts eingetragen und in ihrem Inneren wirksam ist, weil das Recht im Akt der Zuerkennung von Rechten – und besonders eines Rechts auf Leben – auf performative Weise bereits notwendig darüber mitentscheidet, wer ein Leben und wer ein Nichtleben ist, wer also Träger von Rechten werden kann und wessen Leben aufgrund seines Status als Nichtleben rechtlos bleibt. Das Recht bestimmt also unter biopolitischen Bedingungen in seiner Abgrenzung gegenüber dem Nichtrecht das Nichtrecht selbst gleichzeitig

247

Kapitel 4

als Nichtleben. Darin besteht die spezifische biopolitische Implikation des Paradoxons des Rechts. Der biopolitische Ausschluss des Nichtlebens aus dem Recht liegt demnach darin begründet, dass das Nichtleben durch die rechtliche Normativität gerade deshalb nicht als lebendig und daher nicht als potenziell berechtigt anerkannt werden kann, weil es als Nichtleben aus der Sicht des Rechts als nichtrechtlich erscheint, ja weil es damit Teil des Nichtrechts ist. In Raster des Krieges wählt Butler eine Formulierung, welche die rechtliche Entscheidung über die differenzielle Verteilung des Status von Leben und Nichtleben im Kontext einer biopolitischen Relatio­ nalität von Recht und Nichtrecht sehr klar veranschaulicht. „Wer hier Entscheidungen fällt oder Schutzrechte zuerkennt, tut dies im Kontext gesellschaftlicher und politischer Normen, die den Rah­ men des Entscheidungsprozesses bilden, und er entscheidet in Bezug auf gemutmaßte Kontexte, innerhalb welcher die Zuerkennung von Rechten anerkannt werden kann. Anders gesagt sind Entscheidungen soziale Praktiken, und die Zuerkennung von Rechten ist genau dort möglich, wo Diskursbedingungen gegeben sind oder, sofern sie noch nicht institutionalisiert sind, dennoch in Anspruch genommen wer­ den können“ (Butler 2010, 28). Dem lässt sich hinzufügen, dass diese Diskursbedingungen unmittelbar und aktiv durch das Recht mitgeprägt werden. Diese Dynamik zwischen Recht und Nichtrecht wird jedoch erst im Rahmen des hier vorgeschlage­ nen biopolitischen Ansatzes über Menke hinaus sichtbar. Während Menke aufgrund der allgemeinen methodischen Voreinstellung seiner Rechtskri­ tik, wie beschrieben, die Relationalität zwischen Recht und Nichtrecht zugunsten der Betonung ihrer Differenz zu stark ausblendet, setzt die biopolitische Heuristik im Rahmen dieser Arbeit genau an dieser Relatio­ nalität an, die zwar im Anschluss an Menke Norm und Natur voneinander unterscheidet, aber im Unterschied zu Menke stärker in ihrer wechselseiti­ gen Verwiesenheit und Verklammerung begreift. Vor diesem Hintergrund lässt sich die These stark machen, dass der theoretische Ansatz der Biopolitik einen umfassenderen Begriff des Politi­ schen vertritt, der über Menkes Konzept des Rechts als geschlossenes Sys­ tem dadurch hinausgeht, dass er die Unterscheidung zwischen Norm und Natur zwar als Differenz und damit als Gegensatz und Polarität begreift, diese Differenz aber gleichzeitig und grundlegender als ein relationales Beziehungsgeflecht und einen dynamischen wechselseitigen Prozess zwi­ schen Recht und Nichtrecht konzeptualisiert. Diese relationale Prozedura­ lität ist zwar in Menkes Verständnis der Verrechtlichung der Natur impli­

248

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

zit angelegt, bleibt aber aufgrund seines tendenziell systemtheoretischen Verständnisses des Rechts systematisch insgesamt unscharf. Die Biopolitik lässt sich mit Foucault und Butler über Menke hinaus als das verbinden­ de Scharnier zwischen rechtlichen und nichtrechtlichen Praktiken und Diskursen im Sinn einer grundsätzlichen Relationalität von Norm und Natur ausbuchstabieren, womit zur Geltung gebracht wird, dass im Rah­ men biopolitischer Gesellschaftsstrukturen Recht und Nichtrecht nicht einfach in einem oppositionellen Ausschließungsverhältnis zueinander ste­ hen, sondern eher in einer relationalen Unterschiedenheit verstanden wer­ den müssen. Auf dieser Folie lassen sich die biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht ausdrücklich in den Rahmen einer biopolitischen Rechtskritik in­ tegrieren und damit gleichzeitig Menkes rechtskritisches Vokabular erwei­ tern. Während Menkes Analyse den Schwerpunkt auf die Naturalisierung des subjektiven Eigenwillens des Rechtssubjekts legt und in der Figur der Legalisierung des Natürlichen zum Gegenstand seiner rechtskritischen Untersuchung macht, tritt die Perspektive der Biopolitik einen Schritt dahinter zurück und verschiebt den Fokus zunächst auf die grundlegen­ dere rechtskonstitutive Selbstveräußerlichung des Rechts gegenüber der außerrechtlichen Natur, welche bereits mit Menke selbst als die ursprüng­ liche Naturalisierung durch das Recht rekonstruiert werden kann. Auf der Basis der historisch-kritischen Einordnung dieser grundsätzlichen Un­ terscheidung von Recht und Nichtrecht am Ursprung des Rechts selbst in den spezifischen Horizont der Biopolitik lässt sich das von Menke propa­ gierte Modell der Rechtskritik transformieren und über die rechtsinterne Perspektive des Rechtssubjekts hinaus auf das biopolitische Ausschlussver­ hältnis des Rechts gegenüber dem Nichtrecht ausdehnen. Dabei ist deutlich geworden, dass Menkes Begriff der Naturalisierung zwar die grundlegende rechtliche Unterscheidung von Norm und Natur zum Ausgangspunkt nimmt und davon ausgehend die Naturalisierung des Rechtssubjekts als den biopolitischen Normalisierungseffekt subjekti­ ver Rechte erläutert, darin jedoch zugleich gewissermaßen systematisch halbiert bleibt, da sich der Begriff der Naturalisierung bei Menke allein auf Rechtssubjekte innerhalb einer Rechtsordnung bezieht und somit als bürgerliche Naturalisierung, d.h. als die Naturalisierung von Bürgern eines politischen Gemeinwesens mit entsprechenden Rechten, bezeichnet wer­ den kann. Das Subjekt bei Menke wird insofern naturalisiert, als es berechtigt wird. Im Kontext der Biopolitik verhält es sich demgegenüber exakt umge­ kehrt: Die biopolitisch Ausgeschlossenen werden insofern naturalisiert, als sie

249

Kapitel 4

entrechtet und rechtlos gemacht werden. Darin sind die rechtlich Ausgeschlos­ senen die Subjekte der biopolitischen Naturalisierung, welche nicht auf die Bürger einer Rechtsgemeinschaft zielt, sondern sich auf die nichtrecht­ liche Außenseite des Rechts richtet, indem sie das Nichtrecht abgrenzt und gegenüber dem Recht als Natur hervorbringt und gleichzeitig aus­ schließt. Da das Nichtrecht aber durch das Recht selbst als Nichtrecht produziert wird, ist das Recht folglich auch der Akteur der biopolitischen Naturalisierung. Diese nichtnormative Gewaltbeziehung zwischen Recht und Nichtrecht konnte mit Foucault und Butler als die rassistische Unter­ scheidung zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, rekon­ struiert werden, in der das Recht selbst auf biopolitische Weise zwischen Leben und Nichtleben differenziert, d.h. einerseits zwischen menschlichen Leben, die rechtlich anerkannt und geschützt werden, und andererseits prekären, gefährdeten Leben, die in den Bereich des Nichtmenschlichen eingeschlossen werden und rechtlich unsichtbar bleiben. Die Naturalisierung durch Rechte wird in ihrer biopolitischen Bedeu­ tung, so lautet ein zentrales Ergebnis der bisherigen Untersuchung, termi­ nologisch durch Menkes Begriff der Legalisierung des Natürlichen nicht vollständig ausgeschöpft und systematisch abgedeckt. Denn die Legali­ sierung des Natürlichen selbst beruht ihrerseits auf dem biopolitischen Ausschluss des gefährdeten Lebens, d.h. auf der rechtlichen Gefährdung und potenziellen Zerstörung des Nichtlebens.80 Mit Blick auf die biopoli­ 80 Dass rechtliche Operationen auf einer fundamentaleren Exklusionslogik beru­ hen, welche dem Recht selbst bereits zugrunde liegt und anhand außerrechtli­ cher Kriterien darüber entscheidet, wann und wie das Recht überhaupt zur Anwendung kommt, lässt sich bereits von Luhmann lernen, dem Menke das Vokabular der Unterscheidung von Recht/Unrecht bzw. Recht/Nichtrecht mit­ verdankt. Luhmann hält nämlich ausdrücklich fest, dass die rechtliche Praxis von einer vorgängigen Selektion abhängt, in der vorrechtlich über das Vorhandensein oder Fehlen von Rechtsbeziehungen entschieden wird, also über die Frage, wer Eingang ins Rechtssystem findet und wem ein potenzieller Rechtsstatus verwei­ gert wird: „Ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht überhaupt zum Zuge kommt und ob sie nach rechtssysteminternen Programmen behandelt wird, hängt dann in erster Linie von einer vorgängigen Filterung durch Inklusion/Exklusion ab; und dies nicht nur in dem Sinne, dass Ausgeschlossene auch vom Recht ausge­ schlossen sind, sondern auch in dem Sinne, dass andere und insbesondere die Politik, Bürokratie und Polizei, vom Militär ganz zu schweigen, nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie sich ans Recht halten wollen oder nicht“ (Luh­ mann 1998, 632; zitiert in: Lemke 2003, 169). Thomas Lemke spricht mit Bezug auf diese Stelle bei Luhmann von einer ‚Me­ ta-Differenz‘, welche die rechtsinternen Unterscheidungen durcheinanderbringt

250

4.3 Mit Butler über Menke hinaus: Biopolitik als Erweiterung der Rechtskritik

tisch Ausgeschlossenen muss daher begrifflich in kritischer Erweiterung von Menkes Rechtsphilosophie von einer grundlegenden Illegalisierung des Natürlichen gesprochen werden, um die bei Menke vernachlässigte Dimen­ sion der biopolitischen Naturalisierung, d.h. der biopolitischen Ausschlüs­ se aus dem Recht rechtskritisch zur Geltung bringen zu können. Die durch das Recht Illegalisierten werden dadurch aus rechtlichen Rastern exkludiert, dass das Recht sie als natürlichen Gegensatz seiner Normativi­ tät konstruiert und dadurch in ein nichtnormatives Gewaltverhältnis zu ihnen tritt. Dabei ist die Einsicht zentral, dass sich die Illegalisierung des Na­ türlichen auf ein kategorial anderes Natürliches bezieht als die Legalisierung des Natürlichen. Obwohl es sich in beiden Fällen um etwas Natürliches handelt, wird mit dem Naturbegriff an beiden Stellen etwas grundsätzlich Verschiedenes markiert: Das Natürliche der Illegalisierung ist deshalb natürlich, weil es in der Setzung des Rechts durch das Recht als Natur hervorgebracht und als Natur im gleichen Zuge aus dem Recht ausgeschlossen wird. Das Natür­ liche der Legalisierung ist dagegen natürlich, weil es als Natur im Recht zur Geltung gebracht, d.h. durch die Normativität des Rechts berechtigt wird. Während das Natürliche der Legalisierung die Bedingung dafür ist, im Recht erscheinen zu können, ist das Natürliche der Illegalisierung die Bedingung, welche die Anerkennung als Rechtssubjekt verhindert und den Ausschluss aus dem Recht ermöglicht. Was auf den ersten Blick para­ dox erscheinen mag, wird im Rahmen der biopolitischen Analysen der vorangehenden Kapitel verständlich: Das Natürliche wird im einen Fall in die Rechtsordnung eingeschlossen und rechtlich anerkannt, weil es etwas Natürliches ist; das Natürliche wird jedoch auch im anderen Fall aus der Rechtsordnung ausgeschlossen und entrechtet, weil es etwas Natürliches ist. Das zeigt, dass der Begriff der Naturalisierung innerlich ausdifferenziert werden muss, weil das eine Natürliche nicht das andere Natürliche ist. Damit bezieht sich die Illegalisierung des Natürlichen konzeptuell auf eine andere Ebene des Rechtsbegriffs als die Legalisierung des Natürlichen. Während die Legalisierung des Natürlichen den Eigenwillen als inneren Kern der rechtlichen Normativität betrifft, bezieht sich die Illegalisierung und damit letztlich die Luhmannsche Logik der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems durchkreuzt: „Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass zu­ mindest in einigen Weltregionen der Unterscheidung Inklusion und Exklusion die Bedeutung einer Meta-Differenz zukommt, welche die Logik funktionaler Differenzierung kolonisiert und die Mechanismen rechtlicher Regulierung kon­ terkariert“ (Lemke 2003, 169). Es überrascht daher, dass Menke trotz seiner Be­ zugnahme auf Luhmann diese Dimension rechtlicher Exklusion vernachlässigt.

251

Kapitel 4

des Natürlichen auf die ursprünglichere, rechtskonstitutive Differenz von Recht und Nichtrecht, deren Gewaltdynamik zwar den Ausgangspunkt von Menkes rechtskritischer Systematik bildet, die aber von Menke nichts­ destotrotz nicht in ihrem biopolitischen Charakter problematisiert wird. Da er die Recht-Nichtrecht-Unterscheidung als Paradox des Rechts weder historisch noch systematisch in den zugrunde liegenden biopolitischen Horizont seiner Reflexionen einordnet, bleibt folglich auch die Perspekti­ ve der biopolitisch Ausgeschlossenen in Menkes Rechtskritik außen vor. Demgegenüber wurden mit Foucault und Butler die biopolitischen Im­ plikationen der Recht-Nichtrecht-Differenz unter den Bedingungen mo­ derner Normalisierungsgesellschaften explizit herausgestellt und dabei ge­ zeigt, wie die biopolitischen Ausschließungen aus dem Recht im Rahmen einer biopolitischen Rechtskritik gedacht werden können. Durch ihren biopolitischen Ausschluss aus dem Recht werden die Aus­ geschlossenen aus dem Bereich der Legalität exkludiert und damit zu Illegalen gemacht. Dieser Status der Illegalität, der das Produkt der darge­ legten und über Menke hinaus erweiterten biopolitischen Ausschließungs­ struktur der subjektiven Rechte ist, betrifft in der aktuellen politischen Realität v.a. die sogenannten Sans-Papiers, undokumentierte Migranten und Flüchtlinge, Vertriebene und Staatenlose. Diese Gruppen sind gerade dadurch marginalisiert, dass sie keine Rechtssubjekte sind und keiner sie schützenden Rechtsgemeinschaft angehören. Gleichzeitig sind sie jedoch ein integraler Bestandteil globaler politischer Dynamiken und müssen als solcher innerhalb einer umfassenden Rechtskritik abgebildet werden. Gerade diese globalen Gruppen werden jedoch in Menkes rechtskritischer Heuristik nur am Rande thematisiert und können mit den theoretischen Mitteln seiner Rechtsphilosophie, wie erläutert, nur sehr bedingt und sys­ tematisch unzureichend untersucht werden. Als paradigmatische Vertreter des gefährdeten Lebens müssen sie jedoch konstitutiver Teil einer zeitge­ nössischen Rechtskritik sein, wie bspw. Costas Douzinas mit Blick auf den paradoxen Charakter der Menschenrechte herausstellt: „In the new world order, the rights claims of the excluded are fore­ closed by political, legal and military means. Economic migrants, refugees, prisoners of the war on terror, the sans-papiers, inhabitants of African camps – these ‘one-use humans’ are the indispensable precondition of human rights but, at the same time, the living, or rather dying, proof of their impossibility“ (Douzinas 2019, 102). Im Gegensatz zu Menkes Ansatz lassen sich diese exkludierten Gruppen im Rahmen des in dieser Arbeit entwickelten umfassenderen Verständnis­

252

Zwischenfazit

ses der Biopolitik als precarious life in einem rechtskritischen Sinn begrifflich zur Geltung bringen und in ihrem biopolitischen Ausschluss systema­ tisch beleuchten. Die Figur der biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht ist, so gesehen, nicht nur der blinde Fleck des liberalen, bürgerlichen Rechts, sondern auch die strukturelle Leerstelle von Menkes Theorie der subjektiven Rechte. Die biopolitische Logik des liberalen Rechts und der subjektiven Rechte erfordert damit über Menkes Kritik der Rechte hinaus eine kritische Theorie des Rechts aus der Perspektive der Ausgeschlosse­ nen. Eine solche Theorie kann dabei die begrifflich erweiterte Konzeption der Biopolitik, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln im Anschluss an Foucault und Butler konzeptualisiert worden ist, zu ihrem theoretischen Ausgangspunkt nehmen. Zwischenfazit Butlers biopolitischer Ansatz hat die rechtskritische Analyse von einem auf das Rechtssubjekt zentrierten Denken hin zur Perspektive der biopo­ litisch Ausgeschlossenen geführt. Gleichzeitig hat Butlers Interpretation der Biopolitik Foucaults Überlegungen zum Problem des Rassismus inner­ halb moderner Normalisierungsgesellschaften konkreter gemacht. Denn vor dem Hintergrund von Butlers poststrukturalistischem Denkmodell ist noch einmal deutlicher geworden, wie der in der bürgerlichen Gesellschaft wirksame Rassismus mit Blick auf die biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht gedacht werden kann. Der entscheidende Schritt besteht hierbei darin, die von Butler diagnostizierte Unterscheidung zwischen Leben und Nichtleben als biopolitischen Ausdruck des grundlegenden Gewaltverhält­ nisses von Recht und Nichtrecht zu begreifen, welches sich in den mo­ dernen Rechtsdiskursen der bürgerlichen Gesellschaft stets reproduziert. Mit Foucault wurde bereits die rassistische Dimension der konstitutiven Unterscheidung von Recht und Natur herausgearbeitet, indem gezeigt wurde, inwiefern die Recht-Nichtrecht-Differenz unter den diskursiven Bedingungen der Biopolitik eine rassistische Gestalt annimmt und anhand rassifizierter Kategorien funktioniert. Diese rassistische Form der RechtNichtrecht-Unterscheidung wurde dabei im Laufe der vorangegangenen Untersuchungen im Anschluss an Butler biopolitisch radikalisiert: Butler rekonstruiert den modernen Rassismus in Ergänzung zu Foucault als eine biopolitische Praxis, in der diejenigen Menschen, deren Leben in vollem Sinn als lebendig wahrgenommen werden und daher gesellschaftliche Unterstützung und politischen Schutz erfahren, von denjenigen Men­

253

Kapitel 4

schen unterschieden werden, die sozialontologisch nicht als wertvolle und betrauerbare Leben anerkannt werden und deren Leben innerhalb der ras­ sistischen Raster der bürgerlichen Gesellschaft abgewertet und entmensch­ licht werden. Der Rassismus spaltet also, mit Butlers Worten, die Bevöl­ kerung in Bereiche des Lebens und des Nichtlebens auf, d.h. er trennt diejenigen, deren Leben innerhalb der rassistischen Wahrnehmungssche­ mata einer Gesellschaft als betrauerbar und damit tatsächlich als Leben qualifiziert werden, von denjenigen ab, die diskursiv als Nichtleben konsti­ tuiert und damit dem sozialen Tod überlassen werden. Auf dieser Basis konnte mit Butler die Relationalität zwischen den bio­ politischen Ungleichbewertungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und den rechtlichen Mechanismen der Ausschließung und Entrechtung stärker in den Blick genommen werden, die bereits im Zuge der Diskussi­ on von Foucaults diskursanalytischem Theoriemodell thematisiert wurde. Anhand von Butlers Reflexionen in Bezug auf den ambivalenten Charakter des Rechts auf Leben lässt sich die Biopolitik als eigenständige Perspektive des Politischen nochmals unterstreichen. Denn im Fall des Rechts auf Le­ ben ist sichtbar geworden, auf welche Weise die rechtliche Normativität – entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis als eigengesetzliche, autonome Ordnung – in nichtrechtliche, gesellschaftliche Diskurse involviert ist, von denen sie intern beeinflusst wird und durch deren Wirksamkeit sich schon auf einer vorrechtlichen Ebene entscheidet, wer überhaupt ein Rechtssub­ jekt werden kann. In der Zuerkennung des Rechts auf Leben, so wurde argumentiert, folgt das Recht einerseits performativ der Logik einer nichtrechtlichen Aufspal­ tung des sozialen Feldes des Lebens in ungleiche Anteile, nämlich der bio­ politischen Unterteilung der Gesellschaft in Leben und Nichtleben. Laut Butlers Einsicht kann sich die Rechtsordnung in der Zuschreibung eines Rechts auf Leben per definitionem nur an diejenigen wenden, deren Leben in einem umfassenden Sinn als betrauerbar und schützenswert zählen. Der normative Akt der Berechtigung bezieht sich also stets selektiv immer nur auf Subjekte, deren Leben gesellschaftlich überhaupt als Leben sichtbar sind und die daher als lebendige Lebewesen vor dem Recht erscheinen kön­ nen, und blendet demgegenüber die Nichtlebenden aus. Insofern dabei jedoch nur diejenigen Subjekte zu Trägern des Rechts auf Leben werden können, deren Leben bereits im Vorhinein auf einer sozialontologischen Ebene als lebendig gelten, markiert das Recht anderer­ seits selbst aktiv all diejenigen, die bereits gesellschaftlich als Nichtleben konstituiert sind und daher auch nicht als Subjekte eines Rechts auf Le­ ben adressiert werden können, notwendig als nichtrechtlich und schließt

254

Zwischenfazit

sie dadurch in außerrechtliche Bereiche der Rechtlosigkeit aus. Im Zuge der selektiven Berechtigung der als lebendig geltenden Subjekte schreibt das Recht somit gewissermaßen automatisch diejenigen, die unter den herrschenden biopolitischen Diskursbedingungen zu einem Nichtleben werden, in den rechtlosen Bereich des Nichtrechts ein. Aus diesem Grund reproduziert das moderne Recht die rassistische Grenzziehung zwischen Leben und Nichtleben und schreibt sie selbst auf biopolitische Weise fort. Mit Butler lässt sich also der Doppelcharakter der rechtlichen Naturali­ sierung, der bereits im Anschluss an Foucault diskutiert worden ist, in seiner biopolitischen Bedeutung weiterdenken und erhärten: Mit Foucault ist deutlich geworden, dass sich die vom bürgerlichen Recht ausgehende Naturalisierung in zwei unterschiedliche Dimensionen aufspaltet, nämlich einerseits in die Berechtigung der Rechtssubjekte nach innen und anderer­ seits in die Entrechtung der biopolitisch Ausgeschlossenen nach außen. Angesichts dieser ambivalenten Dynamik der rechtlichen Naturalisierung lässt sich Menkes rechtskritisches Modell im Anschluss an Butlers Begriff der Biopolitik in systematischer Hinsicht übersteigen und terminologisch erweitern: In der bis hierhin entwickelten Perspektive einer biopolitischen Rechtskritik wird sichtbar, dass die Legalisierung des Natürlichen bei Menke konzeptuell durch den Begriff der Illegalisierung des Natürlichen ergänzt werden muss, welcher mit Foucault und Butler erarbeitet worden ist. Denn erst die konzeptuelle Einführung der Illegalisierung des Natürli­ chen ermöglicht eine biopolitische Weitung des rechtskritischen Blicks, um die entrechtende und ausschließende Wirkungsweise der rechtlichen Naturalisierung einzubeziehen und zu thematisieren, die bei Menke auf der Strecke bleibt. Das Konzept der Illegalisierung bezieht sich dabei, wie gesehen, auf die Exklusion des gefährdeten Lebens, also auf den gesellschaftlichen, poli­ tischen und rechtlichen Ausschluss von Menschen, die im Sinne der nicht­ rechtlichen Natur außerhalb des Rechts gestellt und dementsprechend rechtlos gemacht werden. In den vorhergehenden Kapiteln wurde die biopolitische Struktur einer solchen Illegalisierung des Natürlichen im Kontext von Butlers Theoriemodell näher untersucht und reflektiert: Da­ durch, dass das Recht sie zu Illegalen macht, werden die Ausgeschlossenen nicht einfach nur ihres Rechtsstatus beraubt. Im Zuge ihrer Illegalisierung wird vielmehr ihre soziale Stigmatisierung als Nichtlebende rechtlich ze­ mentiert, wodurch die Ausgeschlossenen in biopolitische Diskurse der Entmenschlichung und Kategorien der Unbetrauerbarkeit eingeschlossen werden. Die Reflexion dieser entrechtenden Seite der rechtlichen Natu­ ralisierung geht in entscheidender Weise über Menkes Fokus auf deren

255

Kapitel 4

berechtigende Funktion hinaus und setzt die Problematisierung der bio­ politischen Exklusionen aus dem Recht auf die Agenda einer kritischen Analyse rechtlicher Normativität. Diese biopolitische Perspektive der Ausgeschlossenen habe ich im vor­ ausgehenden Teil mit Foucault und Butler in grundlegenden Umrissen zu skizzieren und in kritischer Erweiterung von Menkes rechtskritischer Heuristik darzustellen versucht. In Teil III möchte ich diese Perspektive nun weiter schärfen und im Dialog mit ausgewählten biopolitischen Auto­ rinnen und Autoren in einige aktuelle Bezüge und Kontexte einordnen, die in der gegenwärtigen Forschung mit Blick auf die biopolitische Kritik rechtlicher Ausschlüsse diskutiert werden. Dabei werde ich u.a. den Begriff der Illegalisierung des Natürlichen erneut aufgreifen und weiter konturie­ ren. Zu diesem Zweck soll in den nun folgenden Kapiteln gleichsam als Brücke in den nächsten Abschnitt in einem kurzen historischen Exkurs zu den philosophiegeschichtlichen Wurzeln der Idee zurückgegangen wer­ den, wonach die bürgerliche Gesellschaft selbst aus ihrer inneren Dynamik heraus notwendig eine Klasse von radikal Ausgeschlossenen hervorbringt. Dieser Schritt führt zurück zu Hegel.

256

TEIL III Biopolitische Konturierungen: Historische und aktuelle Dimensionen biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht

Kapitel 5

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel 5.1.1 Der Ausschluss des Pöbels als Problem der Hegelschen Rechtsphilosophie Einer der ersten philosophiegeschichtlichen Orte, an dem die politische Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer internen Verflechtung mit der sozialen Erzeugung eines Kollektivs von gesellschaftlich Ausge­ schlossenen hervortritt, markiert, so möchte ich vorschlagen, der Begriff des Pöbels, den G.W.F. Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (vgl. Hegel 1986/1821) einführt. Am Pöbel zeigt sich die Aporie der politischen Ökonomie der kapitalistischen Gesellschaft, die zeitgleich mit dem Beginn der industriellen Revolution notwendig eine Klasse von ökonomisch radikal Ausgeschlossenen produziert, welcher infolge ihrer sozialen Marginalisierung die Teilhabe am sozioökonomischen Reproduk­ tionskreislauf der kapitalistischen Gesellschaft verschlossen ist. Leitend ist dabei für den Kontext dieser Arbeit die Frage, inwiefern sich aus der kriti­ schen Zuspitzung von Hegels Pöbelgedanken bereits ein rechtskritisches Argument gewinnen lässt, das die im Vorherigen mit Foucault und But­ ler entwickelte Perspektive der biopolitisch Ausgeschlossenen vorzeichnet und damit im Sinne eines Vorläufermodells anschlussfähig an die exklu­ dierende Dimension der biopolitischen Naturalisierung ist. Ich möchte daher im Folgenden den Hegelschen Begriff des Pöbels als ein Paradigma der biopolitisch Ausgeschlossenen begreifen. Dabei möchte ich die These vertreten, dass der Pöbel durch seine ökonomische Margina­ lisierung gleichzeitig aus der bürgerlichen Rechtsordnung ausgeschlossen wird. Am Pöbel wird exemplarisch deutlich, inwiefern der Eigenwille des Rechtssubjekts mit der ökonomischen Figur des Privateigentums verbun­ den ist. Dadurch wird jedoch, so soll gezeigt werden, die Inanspruchnah­ me der subjektiven Rechte an die ökonomische Vorbedingung des Eigen­ tums geknüpft, was wiederum dem Gleichheitsanspruch des Rechts ent­ gegensteht und das bürgerliche Rechtskonzept in eine Aporie verstrickt. Dieser Aporie, die Daniel Loick als „[d]ie größte Gefahr der bürgerlichen Gesellschaft“ (Loick 2016, 67) bezeichnet, möchte ich in den folgenden Kapiteln nachgehen.

259

Kapitel 5

Den für die bürgerliche Gesellschaft problematischen Charakter des Pöbels hat dabei zwar, wie ich zunächst nachzeichnen werde, bereits He­ gel selbst ursprünglich erkannt, jedoch im Rahmen seiner rechtsphiloso­ phischen Argumentation gleichzeitig nicht auflösen können, wie Frank Ruda in seiner Dissertationsschrift eindrücklich herausgestellt hat (vgl. Ruda 2011).81 Für die Erweiterung der Rechtskritik Menkes erscheint die Auseinandersetzung mit der Figur des Pöbels besonders deshalb relevant, weil mit seiner Entstehung eine Klasse von biopolitisch Ausgeschlossenen erzeugt wird, deren Unterdrückung mit Menkes herrschaftskritischen Be­ griffen der Ausbeutung und der Normalisierung nicht mehr adäquat abge­ bildet werden kann: Weder kann der Pöbel kapitalistisch ausgebeutet wer­ den, noch kann er sozialrechtlich normalisiert werden, da ihm aufgrund seiner ökonomischen und rechtlichen Ausschließung die aktive Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft versperrt ist, welche ihrerseits die Vorbe­ dingung für die privatrechtliche Ausbeutung und soziale Normalisierung des Subjekts darstellt. Da sich das Recht, wie ich zeigen werde, mit Blick auf den biopoli­ tischen Ausschluss des Pöbels nicht nochmals selbst reflektieren kann, möchte ich insgesamt dafür argumentieren, dass der Pöbel als Leerstelle des bürgerlichen Rechts den spezifischen Ort einer alternativen Reflexion des Rechts bildet: Anhand der rechtskritischen Problematisierung des Pö­ bels lassen sich über Menkes Verständnis der Herrschaftsmechanismen des bürgerlichen Rechts hinaus die biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht in den Blick nehmen, die in Menkes rechtskritischer Konzeption unter­ belichtet bleiben. Denn der Pöbel steht beispielhaft für ein politisches Subjekt, das aus dem Bereich der Rechtssubjektivität radikal exkludiert ist. Dazu möchte ich mich nun zunächst Hegels eigenen Ausführungen zuwenden. Hegel verhandelt die Problematik des Pöbels in den Grundlinien nur in einigen wenigen Paragraphen, insbesondere in § 240, 244 und 245. Als Sammelbegriff für all diejenigen, die infolge von dauerhafter Arbeitslosig­ keit und Armut unfähig dazu sind, eigenständig Sorge für ihren Lebensun­ terhalt zu tragen, und damit in existenzieller Abhängigkeit von der Frem­

81 So weist Ruda in seiner systematischen Abhandlung der Hegelschen Thematik des Pöbels im ausdrücklichen Anschluss an Menke darauf hin, dass sich „im gesamten Hegel’schen Denken kein Problem finden lässt, das Hegel erstens in dieser Art und Weise ungelöst lässt, da es ihm zweitens unmöglich ist, mit den Mitteln seiner eigenen Konzeption eine Antwort darauf zu finden“ (Ruda 2011, 102).

260

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

derhaltung staatlicher Fürsorgetechniken und öffentlicher Wohltätigkeit leben, markiert der Pöbel die niedrigste Milieustufe in der sozialen Hie­ rarchie der bürgerlichen Gesellschaft; in Hegels Worten: „[d]ie niedrigste Weise der Subsistenz, die des Pöbels“ (Hegel 1986, 389). Mit dem Pöbel ist somit die Masse der absolut Prekarisierten an den Rändern und Peripheri­ en der Gesellschaft gemeint, die nicht einmal ihre Selbsterhaltung aktiv durch eigene Arbeit gewährleisten können, sondern durch sozialstaatliche Interventionen und karitative Maßnahmen äußerlich am Leben erhalten werden müssen. Da er keiner Lohnarbeit nachgeht, kann der Pöbel folglich auch nicht zum Ziel der von Menke rekonstruierten bürgerlichen Herrschaftsform der ökonomischen Ausbeutung werden, die ja ihrerseits die privatrechtli­ che Ermächtigung des Subjekts zu einem freien Eigentümer und (relativ) autonomen Marktteilnehmer voraussetzt. Der Pöbel wird vielmehr in sei­ ner sozialen Existenz radikal heteronom bestimmt, weil er weder über Arbeit noch über Eigentum und daher auch über keinerlei ökonomische Autonomie oder Relevanz für die gesellschaftlichen Reproduktionsprozes­ se verfügt. Er kann buchstäblich nicht ausgebeutet werden, weil er aus dem kapitalistischen System der bürgerlichen Gesellschaft radikal heraus­ gefallen ist und somit noch die sozialen Bedingungen kapitalistischer Aus­ beutung selbst unterbietet. Hegel konstatiert in diesem Zusammenhang: „Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesell­ schaft notwendige reguliert – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen –, bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt“ (ebd.). Die Erzeugung der extremen Armut des Pöbels begreift Hegel dabei in einem inneren Zusammenhang mit dem „Luxus und [der] Verschwen­ dungssucht der gewerbetreibenden Klassen“ (Hegel 1986, 395) der bürger­ lichen Gesellschaft, von denen der Pöbel ausgeschlossen wird. Die gesell­ schaftliche Hervorbringung des Pöbels im Zuge der kapitalistischen Dyna­ mik führt damit die bürgerliche Gesellschaft in einen Selbstwiderspruch, denn die Existenz des Pöbels steht Hegel zufolge in einem unvereinbaren Verhältnis zur Normativität der bürgerlichen Gesellschaft. Die normative Grundbestimmung bzw. mit Hegel: „das Prinzip der bürgerlichen Gesell­ schaft“ (Hegel 1986, 390) als freiheitlicher Gesellschaftsordnung besteht nämlich darin, dass die Subsistenzsicherung der Einzelnen durch deren ei­

261

Kapitel 5

gene Tätigkeit und Arbeit vermittelt sein muss. Hegel selbst spricht davon, dass „die bürgerliche Gesellschaft schuldig ist, die Individuen zu ernähren“ (Hegel 1986, 387). In dieser Linie bemerkt auch Slavoj Žižek, der in seinem Werk Weniger als nichts das Hegelsche Thema des Pöbels kommen­ tiert, dass sich „das moderne Grundaxiom“ bürgerlicher Gesellschaften dadurch auszeichnet, dass „Freiheit und Autonomie auf der Arbeit der Selbstvermittlung beruhen“ (Žižek 2014a, 597). Darin wird zugleich das mit Menke verdeutlichte bürgerliche Pro­ gramm sichtbar, die Verwirklichung der Freiheit durch die (privatrecht­ liche) Institution des Privateigentums zu gewährleisten. Diese proprietä­ re Realisierung der Freiheit durch die bürgerliche Eigentumsordnung erzeugt jedoch selbst in der Gestalt des Pöbels systematisch ihr eigenes Paradox, da der Pöbel in seiner radikalen Unfreiheit und Heteronomie kein zufälliger und vermeidbarer Kollateraleffekt der bürgerlichen Ver­ wirklichung der Freiheit ist, sondern vielmehr die „notwendige Begleiter­ scheinung der bürgerlichen Gesellschaft“ (Loick 2016, 68) darstellt. „The ‘rabble’ is precisely the people excluded from a society of alleged freedom and equality“ (Douzinas 2019, 162). Bereits Hegels eigene Therapievorschläge zeugen dabei von der Einsicht in den dauerhaften und irreversiblen Problemcharakter des Pöbels mit Blick auf die bürgerliche Normativität (vgl. dazu ausführlicher: Ruda 2011, 37–61). Auf der einen Seite unterminiert die äußerliche Verwaltung des Pöbels durch die Mittel der öffentlichen Versorgung die Freiheit des subjektiven Eigenwillens, da die Formen karitativer Fürsorge und Mildtä­ tigkeit sowie „polizeiliche[r] Vorsorge“ (Hegel 1986, 393) den Pöbel gesell­ schaftlich abhängig und damit unfrei machen. Hegel selbst bemerkt dazu: „Wird der reicheren Klasse die direkte Last aufgelegt, oder es wären in anderem öffentlichen Eigentum (reichen Hospitälern, Stiftungen, Klöstern) die direkten Mittel vorhanden, die der Armut zugehende Masse auf dem Stande ihrer ordentlichen Lebensweise zu erhalten, so würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre wäre“ (Hegel 1986, 390). Auf der anderen Seite kann auch die Möglichkeit der Auslagerung des Pöbels in die Kolonien das Problem nicht auflösen, die Hegel im Übrigen durch eine aus heutiger Sicht höchst problematische Naturalisierung des

262

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

Kolonialismus und des transatlantischen Imperialismus einführt.82 Denn „sobald sich die Kolonien zu neuen, eigenständigen bürgerlichen Gesell­ schaften entwickeln, reproduziert sich hier dasselbe Problem“ (Loick 2016, 68). Außerdem transformiert die koloniale Auslagerung des Pöbels nicht

82 So schreibt Hegel in § 246 der bürgerlichen Gesellschaft ein inneres Prinzip der territorialen Selbsterweiterung aufgrund ihrer ökonomischen Dynamik zu. Die Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft erfordert nach Hegel die globale Expan­ sion und Erschließung neuer Absatzmärkte: „Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinausgetrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluss hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen“ (Hegel 1986, 391). Und im Zusatz zu § 248 befürwortet Hegel noch deutlicher die Einrichtung von Kolonien im Problemzusammenhang des Pöbels: „Die bürgerliche Gesellschaft wird dazu getrieben, Kolonien anzulegen. Die Zunahme der Bevölkerung hat schon für sich diese Wirkung; besonders aber entsteht eine Menge, die die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht durch ihre Arbeit gewinnen kann, wenn die Produktion das Bedürfnis der Konsumtion übersteigt“ (Hegel 1986, 392). Auffällig ist, dass Hegel die koloniale Unterwerfung und Versklavung nichteuro­ päischer Menschen und Völker mit der Beurteilung der „Freilassung der Sklaven als der größte Vorteil für den Herrn“ (Hegel 1986, 393) paradoxerweise verein­ baren kann. Die Bemerkungen Hegels zur Kolonisation gehen dabei insgesamt mit rassistischen Äußerungen über fremde Völker und Kulturen einher. In He­ gels Sicht „[sind] die Ägypter, die Inder, in sich verdumpft und in den fürchter­ lichsten und schmählichsten Aberglauben versunken“ (Hegel 1986, 392). Susan Buck-Morss vermerkt in diesem Zusammenhang kritisch: „Dass Hegel die afrika­ nischen Kulturen der Vorgeschichte zuordnete, ist ebenso berühmt-berüchtigt wie jene Passagen, in denen er die Schwarzen selbst für die Sklaverei in der Neu­ en Welt verantwortlich macht“ (Buck-Morss 2011, 99). Hegel bezeichnet in rassis­ tischer Weise „das ganze Afrika südlich der Sahara als ‚Kinderland‘ der ‚Wildheit und Unbändigkeit‘ (…), das aufgrund der Mängel des afrikanischen Geistes keine Bedeutung für die Weltgeschichte habe erlangen können“ (Buck-Morss 2011, 100). Zum Spannungsverhältnis und den ambivalenten Verbindungslinien zwi­ schen Hegels Philosophie und dem Kolonialismus vgl. ausführlich Buck-Morss‘ Studie Hegel und Haiti (vgl. Buck-Morss 2011), in der Buck-Morss Hegels Dia­ lektik von Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes ausgehend vom historischen Kontext der Haitianischen Revolution liest. Buck-Morss stellt dabei die überzeugende These auf, dass Hegel zur Ausarbeitung seiner Herr-KnechtDialektik unter dem Eindruck der Haitianischen Revolution inspiriert wurde, deren Zeitzeuge er war und deren damalige Berichterstattung er aufmerksam mitverfolgte (vgl. Buck-Morss 2011, 72–106). Hegel entwickelt seine Dialektik von Herr und Knecht Buck-Morss zufolge am Vorbild der revolutionären Befrei­ ungskämpfe der schwarzen Sklaven gegen die weißen Herren auf Haiti, deren realer Aufstand tatsächlich ein Kampf um Leben und Tod war.

263

Kapitel 5

das Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft selbst, als dessen Folge der Pöbel ja erst entsteht. Damit stellt der Pöbel ein paradigmatisches Beispiel für die biopoliti­ sche Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft dar. Er ist gewissermaßen das biopolitische Subjekt par excellence, weil sein Leben durch staatliche Apparate und gesellschaftliche Akteure nurmehr verwaltet und reguliert werden kann und es seiner Lebensform an jeder politischen Qualifizierung und gesellschaftlichen Selbstbestimmung mangelt. Diese grundlegende Problematik des Pöbels ist innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unauf­ lösbar. Denn die Emergenz des Pöbels als einer mit der normativen Ord­ nung der bürgerlichen Gesellschaft inkommensurablen sozialen Gruppe geht notwendig mit der sozioökonomischen Dynamik derselben bürgerli­ chen Gesellschaft einher. Die Herausforderung der bürgerlichen Gesellschaft durch den Pöbel verschärft sich jedoch erst dadurch zu deren Aporie im eigentlichen Sinne, dass seine gesellschaftliche Exklusion beim Pöbel eine innere Haltung her­ beiführt, die Hegel als eine „mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung“ und als „innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung“ (Hegel 1986, 389) kennzeichnet. Mit der Ausprägung dieser geistigen Verweigerungshaltung durch den Pöbel geraten dabei aus nor­ mativer Perspektive die zuvor einander klar entgegengesetzten Polaritäten von Recht und Unrecht in eine Schieflage und schlagen gewissermaßen in­ einander um. Hegel beschreibt diese Konfusion der rechtlichen Kategorien der Gerechtigkeit folgendermaßen: „Somit entsteht im Pöbel das Böse, dass er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht. Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird“ (Hegel 1986, 390). Da dem Pöbel also durch die bürgerliche Gesellschaft das Recht vorenthal­ ten wird, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu bestreiten, sieht er sich selbst dafür folglich auch nicht mehr in der Pflicht und bildet das Bewusstsein aus, ein Recht auf seine gesellschaftliche Erhaltung zu haben, ohne selbst dafür zu arbeiten (vgl. auch Loick 2016, 67f.). Dieses Recht beansprucht er dabei auf der Grundlage, dass die bürgerliche Ge­ sellschaft den normativen Anspruch vertritt, die sozialen, ökonomischen, politischen und rechtlichen Mittel bereitzustellen, um die autonome Le­ bensführung und die Bedürfnisbefriedigung der Subjekte in Freiheit und

264

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

Würde zu garantieren, was die Bereitstellung von Möglichkeiten für die Einzelnen einschließt, selbstständig „für ihre Subsistenz zu sorgen“ (He­ gel 1986, 387). Sobald die Gesellschaft aber hinter diesen normativen Anspruch zurückfällt, lösen sich auch die korrespondierenden Pflichten der Subjekte gegenüber der Gesellschaft in komplementärer Weise auf (vgl. dazu auch Žižek 2014a, 596), „insofern jeder Mensch von ihr (der bürgerlichen Gesellschaft; S.F.) das Recht hat, die Subsistenz zu verlangen“ (Hegel 1986, 387), die ihrerseits jedoch eigenständig erarbeitet sein muss. An dieser Stelle seiner Analyse gerät Hegel in seiner Argumentation ins Stocken und er beschränkt sich in der Folge auf das Eingeständnis, dass die soziale Frage der Armut „eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende“ (Hegel 1986, 390) sei. Einen philosophischen Lösungsvorschlag bleibt Hegel also in Bezug auf das biopolitische Problem des Pöbels schuldig. 5.1.2 Über den Pöbel als biopolitischen Ort der Kritik des bürgerlichen Rechts Im Anschluss an die vorherige Hegel-Lektüre kann das rechtskritische Potenzial der Figur des Pöbels ausgelotet und auf den Begriff gebracht werden. Aus Sicht der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Pöbel ins­ gesamt als ein irrationaler Exzess und als eine soziale Pathologie der kapitalistischen Ökonomie, er ist mit Rudas Worten „das Exkrementale, das Ausgeschiedene, das Entbundene der bürgerlichen Gesellschaft“ (Ruda 2011, 65f.). Damit stellt der Pöbel aber gleichzeitig den systematischen Ort dar, „an dem Hegels Theorie über sich selbst hinaustreibt“ (Loick 2016, 69), denn sein gesellschaftlicher Ausschluss resultiert aus der öko­ nomischen Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft selbst, die ihrerseits mit dem normativen Anspruch auftritt, eine soziale Ordnung der Freiheit und Gleichheit zu sein. Die soziale Entstehung des Pöbels stellt also die normative Grundstruktur der Gesellschaft radikal in Frage. Aus diesem Grund erscheint auch seine Empörung aus normativer Sicht berechtigt und nimmt, wie Ruda erläutert, die Form einer immanenten Kritik der bürgerlichen Gesellschaft an: „Der Pöbel empört sich über die exzessiven widernatürlichen Effekte der ökonomischen Bewegung der Gesellschaft, da in und an ihnen deutlich wird, dass der Rechtsanspruch auf Subsistenz aller Einzelnen sich nur aufrechterhalten lässt unter der rückwirkend sichtbar werden­

265

Kapitel 5

den Voraussetzung der konstanten ‚Entrechtung‘ großer Massen ver­ armter Einzelner“ (Ruda 2011, 66). Am Fall des Pöbels wird damit eine zentrale Leerstelle im Begriff des bür­ gerlichen Rechts erkennbar, deren Ausschlusscharakter in Menkes Rechts­ kritik unproblematisiert bleibt. In der Entrechtung des Pöbels zeigt sich nämlich, dass die Normativität des bürgerlichen Rechts die rechtliche Gleichheit, d.h. die Gleichbehandlung der Subjekte durch das Recht, de facto an die Ungleichheit des Eigentums rückbindet, wodurch der Besitz von Eigentum – effektiv anstelle des rechtlichen Gleichheitsgrundsatzes – über die Berechtigung des Eigenwillens, d.h. über die normative Er­ mächtigung zu einem Rechtssubjekt entscheidet. Das abstrakt-formelle Gleichheitsprinzip des bürgerlichen Rechts führt in der Hervorbringung des Pöbels zur tatsächlichen Einrichtung inegalitärer Sozialstrukturen. Die rechtliche Freiheit des subjektiven Eigenwillens steht demnach in einer internen Abhängigkeitsbeziehung zur Institution des Privateigentums und damit zum Vorhandensein einer außerrechtlichen, weil ökonomischen Voraussetzung von Rechtssubjektivität. Das bedeutet, dass die bürgerliche Idee der Rechtssubjektivität an die ökonomische Bedingung von konkre­ tem Besitz und Eigentum geknüpft ist und folglich die Eigentumslosen aus dem Recht ausschließt. Den freien Eigenwillen, der in den subjektiven Rechten zur Geltung kommt, gibt es also nur vermittelt durch das Privatei­ gentum und damit auf Kosten der Eigentumslosen. Dieses Argument steht dabei in einer Linie mit dem rechtskritischen Projekt Judith Butlers, welches sie in einem Gespräch unter dem Titel Politik, Körper, Vulnerabilität als das „Anliegen, die Verschiebung von einem abstrakten zu einem konkreten Rechtsverständnis weiterzutreiben“ (Butler 2018, 313), beschreibt. Diese Zielsetzung möchte Butler in erster Linie dadurch erreichen, dass sie „konkrete Rechte als verkörperte Dimen­ sionen menschlichen Lebens“ (ebd.) begreift, um sich ausdrücklich von dem Rechtsbegriff „im klassischen liberalen Rahmen“ (ebd.) abzugrenzen, der von den sozioökonomischen, kulturellen sowie materiellen Bedingun­ gen der tatsächlichen Inanspruchnahme von Rechten innerhalb der Gesell­ schaft abstrahiert. Stattdessen zielt Butlers rechtskritisches Programm „in einem marxistischen Kontext“ (ebd.) darauf ab, die historisch-faktischen Bezüge und Praktiken sowie außerrechtlichen Instanzen aufzuzeigen und kritisch zu diskutieren, „durch die das Recht seine Referenz im sozialen Leben“ (Loick 2017a, 166) einer Gesellschaft herstellt. Mit der Konzentration auf die spezifische Verkörperung von Rechten rückt Butler den menschlichen Körper als einen konkreten Ort der Mate­ rialisierung subjektiver Rechte in den Vordergrund und schließt damit

266

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

an Foucaults Sichtweise des Rechts an. Denn bereits Foucault versteht die „Unterwerfung der Kräfte und der Körper“ durch „[d]ie wirklichen und körperlichen Disziplinen“ (Foucault 1977, 285) als die konkrete gesellschaftliche Grundlage der „formellen und rechtlichen Freiheiten“ (ebd.) in der bürgerlichen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund bezeich­ net Foucault die Disziplinen „als eine Art Gegenrecht“, insofern sie im Unterschied zur „symmetrische[n] Rechtsform“ (Biebricher 2020, 211) die Aufgabe erfüllen, „unübersteigbare Asymmetrien einzuführen und Gegenseitigkeiten auszuschließen“ (ebd.). Diese Dimension der Unterwer­ fung des Körpers durch die biopolitische Macht, die bei Foucault und Butler als zentrale Voraussetzung und Basis der Funktionsweise subjektiver Rechte lesbar wird, bleibt in Menkes Ansatz unterbelichtet, obwohl die körperliche Unterwerfung, die, wie Menke selbst beschreibt, in der Diszi­ plinierung und Normalisierung des Individuums zur Geltung kommt, das Rechtssubjekt erst hervorbringt. Natürlich ist Butler dabei bewusst, dass das Recht aufgrund seines universellen Charakters abstrakt verfasst sein muss. Gerade deshalb ist es jedoch ihrer Ansicht zufolge speziell im Rahmen einer Kritik des Rechts notwendig, nach den Widersprüchen, Asymmetrien und Brüchen zu fragen, die im Verhältnis von abstrakten Rechtsansprüchen und deren konkreten Manifestationen in der Gesellschaft auftreten. Am Beispiel des Pöbels wird auf dieser theoretischen Grundlage dann „die Kluft zwischen der Ausübung abstrakter Rechte und der konkreten Materialisierung der Freiheit, die einem körperliche Selbstbestimmung ermöglicht“ (Butler 2018, 313), sichtbar. Denn am Pöbel wird deutlich, inwiefern der privat­ rechtliche Schutz des Eigentums gleichzeitig mit einer umfassenderen ge­ sellschaftlichen Dynamik verbunden ist, in der das Eigentum über seinen rechtlichen Charakter hinaus bspw. in seine ökonomischen, kulturellen und psychologischen Dimensionen eingeschrieben wird, welche wiede­ rum auf die rechtliche Institution des Privateigentums zurück- und damit in diesen rechtlichen Bereich selbst hineinwirken. Zwar fragt auch Menke mit Marx nach dem dialektischen Umschlag von Rechtsansprüchen in soziale Herrschaftsverhältnisse. Aber er tut dies erstens aus einer entgegengesetzten Richtung und zweitens ausschließlich in Bezug auf rechtsfähige Subjekte. Zum ersten Punkt: Im Unterschied zu Butler fragt Menke primär aus einer rechtsinternen Perspektive nach so­ zialen Herrschaftsstrukturen und beleuchtet damit gesellschaftliche Macht­ verhältnisse aus der Perspektive ihrer Herkunft aus rechtlichen Mechanis­ men. Diese spezifische Fragehaltung vernachlässigt es jedoch zu sehr in umgekehrter Richtung zu problematisieren, inwiefern das Recht in sei­

267

Kapitel 5

nem Bezug zum gesellschaftlichen Leben in vorrechtliche Diskurse und Prozesse eingebunden ist und somit von seiner außerrechtlichen Umwelt mitgeprägt wird. Während in Menkes notwendig rechtszentrierter Lesart das Recht meistens als Akteur thematisiert wird, nimmt Butler die kon­ kreten und gesellschaftlich ungleichen Verkörperungen von Rechtsansprü­ chen in den Blick, indem sie einen biopolitisch erweiterten Standpunkt einnimmt und dadurch auf die dem Recht vorausliegenden biopolitischen Bewertungsraster fokussiert, die den Bereich des sozialen Lebens in unter­ schiedliche Wertabstufungen aufteilen und damit rechtliche Ausschlüsse sozialontologisch rechtfertigen. Zweitens interessiert sich Menke in seinem Fokus auf den Status des Rechtssubjekts dafür, wie der Eigentümer durch sein Eigentum, d.h. durch die Inanspruchnahme seiner Rechte, einer außerrechtlichen Herrschaft unterworfen wird, die paradoxerweise in der rechtlichen Dynamik ange­ legt ist. Diese Kritik muss aber mit Blick auf die Ausschließung des Pö­ bels aus dem Recht weitergetrieben und radikalisiert werden. Um den Ausschluss des Pöbels rechtskritisch zu thematisieren, braucht es daher die Einführung der mit Butler und Foucault erarbeiteten Perspektive der Bio­ politik bzw. der biopolitischen Naturalisierung. Denn Menke kann erstens aufgrund seiner Konzentration auf das Rechtssubjekt den Prozess nicht adäquat denken, innerhalb dessen der Pöbel durch seinen ökonomischen Ausschluss auch rechtlich ausgeschlossen wird. Zweitens stellt Menke das Recht und die Ökonomie, wie bereits argumentiert, zu stark im Sinne zweier abgetrennter Sphären einander gegenüber, wohingegen der in die­ ser Arbeit vertretene biopolitische Ansatz von einer grundlegenderen rela­ tionalen Verbindung beider Bereiche ausgeht und dementsprechend stär­ ker als Menke die Kontinuität zwischen ökonomischen und rechtlichen Exklusionen in den Blick nehmen kann. Um zu verstehen, wie die ökonomische Prekarisierung des Pöbels zum Verlust seiner Rechte führt, ist also in Anlehnung an Butlers Vorschlag eine konzeptuelle Umstellung von einer abstrakten zu einer biopolitisch grundierten Rechtsauffassung erforderlich. In einer solchen Umstellung wird dann auch deutlich, dass Menke, ähnlich wie in der Tradition des Li­ beralismus, die gesellschaftlichen Diskurse des Rechts und der Ökonomie zu idealistisch als zwei neutrale, separate Ebenen denkt. Der biopolitische Ausschluss des Pöbels kann daher in Menkes Heuristik nicht angemessen erklärt werden, weil die internen Wechselwirkungen und Überlagerungen zwischen ökonomischen und rechtlichen Prozessen zu wenig reflektiert werden. Das wird etwa daran ersichtlich, dass die immanenten Machtab­ stufungen des Rechtsbegriffs und damit die Interdependenzen von recht­

268

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

licher und ökonomischer Ermächtigung, die im Zentrum einer biopoliti­ schen Rechtskritik stehen, bei Menke nur am Schluss des Anmerkungsteils Erwähnung finden. Im Anschluss an Nietzsche hält Menke fest: „Das zeigt, dass der Machtbegriff der Rechte quantitative Abstufungen zulässt und damit eine prekäre intersubjektive Balance: ‚Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf: dagegen hören, wenn wir sehr viel mächtiger geworden sind, die Rechte Anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zuge­ standen‘“ (Menke 2015, 470). Menke liefert jedoch für diese rechtskritisch zentrale Beobachtung aus den soeben genannten Gründen kein theoretisches Interpretationsmodell. Da­ bei beschreibt die zitierte Passage beispielhaft den spezifischen Status des Pöbels, dessen prekäre Situation eine rechtskritische Vertiefung verdient: Aus seiner ökonomischen Ohnmacht resultiert seine rechtliche Ausschlie­ ßung. Weil er über kein Eigentum verfügt, kann der Pöbel in der bürger­ lichen Gesellschaft auch keine subjektiven Rechte in Anspruch nehmen. Diese Verbindungslinie bringt Menke nicht angemessen zur Geltung, auch wenn er mit Marx „die proprietäre Logik des bürgerlichen Rechtssubjekts“ (Menke 2015, 176) herausarbeitet und kritisiert. Dabei müsste angesichts dieser Diagnose gerade die Kritik der besitzindividualistischen Verfassung des Rechtssubjekts zu einer kritischen Untersuchung der sozial prekären und rechtlich widersprüchlichen Position derer überleiten, die keinen Be­ sitz haben und deshalb ausgeschlossen werden. Der Pöbel führt also paradigmatisch die biopolitische Ausschlussdimen­ sion der subjektiven Rechte vor Augen und liefert dadurch zugleich einen wichtigen rechtskritischen Impuls über Menke hinaus. Anhand des Pöbels wird ersichtlich, dass Menkes rechtskritische Beschreibungsformen der bürgerlichen Herrschaft im Vokabular der Ausbeutung und Normalisie­ rung unvollständig bleiben. Denn, wie gesehen, kann der Pöbel weder ausgebeutet werden, noch kann er zum Ziel der Normalisierung werden, da Menke, wie oben erläutert, die Normalisierung als ‚Herrschaft durch Teilhabe‘ definiert.83 In beiden Fällen ist die bürgerliche Herrschaft an die individuelle Ausübung der Freiheit durch das Subjekt gebunden. Zugleich

83 So konstatiert Menke bspw.: „Herrschaft durch Teilhabe wird ausgeübt in der asymmetrischen Relation der Mitgliedschaft, zwischen den einzelnen und dem Allgemeinen; indem die soziale Einrichtung die einzelnen zur Teilhabe berech­ tigt, gewinnt sie die Macht, deren Bedingungen zu definieren. Herrschaft durch Teilhabe ist Herrschaft-in – institutionelle Herrschaft“ (Menke 2015, 290).

269

Kapitel 5

tritt hier auch Menkes reduktionistischer Begriff der Biopolitik noch ein­ mal deutlicher hervor, mittels dessen er die bürgerliche Herrschaft, wie oben beschrieben, als ‚Beherrschung durch Berechtigung‘ konzeptualisiert und darin ausdrücklich an Foucaults Verständnis der Normalisierung an­ schließt. Die Unterdrückung des Pöbels in Form seines rechtlichen Ausschlusses wird allerdings in dieser Herrschaftsdefinition nicht adäquat abgedeckt, da der Pöbel ja gerade nicht mehr an der bürgerlichen Gesellschaft teilha­ ben kann, weil er aus den ökonomischen und rechtlichen Zusammenhän­ gen herausgefallen ist.84 Menkes rechtskritische Analyse bleibt damit trotz ihrer Fokussierung auf die Dialektik des Rechts auf ein korporatives Ver­ ständnis der Gesellschaft beschränkt85, in welchem die Gesellschaft als eine organische Totalität konzeptualisiert wird und dabei die Frage nach ihrem konstitutiven Außen in den Hintergrund tritt. In einer solchen korporati­ ven Perspektive treten dann einerseits primär die rechtlichen Herrschaftseffekte im Binnenbereich der Gesellschaft zutage. Andererseits geraten dabei aber die gesellschaftlichen Ausschlüsse und Externalisierungen aus dem Blick. Der Pöbel stellt nicht den Fall einer Beherrschung durch Berechti­ gung, sondern einer Beherrschung bzw. besser: einer Unterdrückung durch Entrechtung dar. Er gehört also nicht zum sozialen Feld der normalisierten Rechtssubjekte, sondern bildet den ausgeschlossenen Bereich derer, die nicht mehr normalisiert werden können, der Nicht-Normalisierbaren. Die Erzeugung des Pöbels durch die bürgerliche Gesellschaft kann, so gesehen, also als rechtskritisches Gegenargument zu Menkes oben bereits

84 In diesem Sinne beschreibt auch Thomas Lemke in Anlehnung an eine These Luhmanns den Ausschluss aus der „globalisierten Weltökonomie“ (Lemke 2003, 169) als den Ausschluss aus Ausbeutungs- und Normalisierungszusammenhän­ gen. Lemke bezeichnet es als „eine Verharmlosung, im Fall der Exkludierten von Ausbeutung oder Repression zu sprechen, und zwar deshalb – so Luhmann –, weil es sich um etwas viel Gravierendes handele, da man nichts finde, ‚was auszu­ beuten oder zu unterdrücken wäre‘“ (ebd.). Damit stellt Lemkes Kritik begrifflich auf genau dieselbe gesellschaftliche Struktur ab, die in dieser Arbeit unter dem Begriff des Pöbels herausgearbeitet wird, nämlich auf die soziale Existenz derer, „die selbst noch von den Mechanismen traditioneller Ungleichheitsproduktion ausgeschlossen sind“ (Lemke 2003, 170) und die daher „auf ihre Körperlichkeit [reduziert]“ (ebd.) werden, wie etwa im Bereich der Prostitution und Sexarbeit (vgl. ebd.). 85 Vgl. zur Unterscheidung zwischen einem korporativen und einem dialektischen Gesellschaftsbegriff Žižek 2014a, 593. Žižek ordnet hier die Problematik des Pöbels in den Kontext von „Hegels grundlegendem ontologischen Thema der Beziehung von Allgemeinheit und Besonderheit“ (ebd.) ein.

270

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

kritisierter These gelesen werden, wonach in der bürgerlichen Gesellschaft jeder normalisiert ist (vgl. Menke 2015, 293). Am Pöbel wird vielmehr die partikularistische und selektive Funktionsweise der subjektiven Rechte deutlich, welche die rechtliche Freiheit des Eigenwillens an den Besitz von Privateigentum bindet und dadurch eine Klasse von ökonomisch und des­ halb auch rechtlich ausgeschlossenen Menschen hervorbringt. Diese rechts­ kritische Facette bringt Daniel Loick nochmal klar auf den Punkt: „Hegel muss also selbst eingestehen, dass die Idee, Freiheit durch das Institut des Privateigentums zu realisieren, zumindest nicht für alle funktionieren kann. Die Eigentumsordnung produziert freie Subjekte nur, indem sie zugleich auch unfreie produziert“ (Loick 2016, 68f.). 5.1.3 Der Pöbel als Punkt der Unmöglichkeit einer rechtlichen Selbstreflexion Diese rechtskritische Analyse des Hegelschen Begriffs des Pöbels lässt sich zudem weiter in den historischen Kontext der damaligen Epoche der Industrialisierung einordnen. Auf der Basis dieser Einordnung kann der spezifische Charakter der Ausschließung des Pöbels noch einmal rechts­ kritisch geschärft und konkretisiert werden. Der Pöbel entsteht in der von Marx beschriebenen Zeit der „ursprünglichen Akkumulation“ (Marx 1962, 741). Unter diesem Begriff versteht Marx im Kapital die im 16. Jahr­ hundert einsetzenden politischen und gesetzlichen Enteignungsprozesse, durch die die feudalen Ökonomien und traditionalen Assoziationen zer­ schlagen und die dadurch entstehenden Massen von expropriierten Bau­ ern und Leibeigenen, von ihren vormaligen Lebensgrundlagen gewaltsam getrennt, zur Landflucht gezwungen werden. Im Rahmen der ursprüngli­ chen Akkumulation, die Karl Polanyi als den geschichtlichen Prozess der ‚Great Transformation‘ bezeichnet hat (vgl. Polanyi 2014), werden somit die an ihre Scholle gebundenen Bauern des feudalen Zeitalters „durch das junge bürgerliche Recht“ (Loick 2017a, 169) in die Arbeiter des industriel­ len Zeitalters umgewandelt. Dadurch wird der Proletarier als modernes Subjekt der kapitalistischen Ausbeutung gesellschaftlich überhaupt erst geschaffen, weshalb Marx die ursprüngliche Akkumulation auch nicht als „das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise“, sondern als „ihr[en] Ausgangspunkt“ (Marx 1962, 741) begreift. „Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Ak­ kumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalis­ tenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große

271

Kapitel 5

Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmit­ teln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses“ (Marx 1962, 744). Diese staatlich forcierte Proletarisierung der Massen und die damit voran­ getriebene Urbanisierung und Industrialisierung der Städte werden Loick zufolge „vorwiegend mit Hilfe von Gesetzen verfolgt: Steuerpolitiken und lega­ le Enteignungen von Gemeineigentum und Kirchengütern vernichten alle alternativen Subökonomien und Allmenden, so genannte Enclo­ sure Acts zwingen Menschenmassen zur Abwanderung in die Städte, ein steuerpolitisch und militärisch konsolidierter Staatsapparat wird zur umfassenden Kolonisierung befähigt“ (Loick 2017a, 168f.). In Reaktion auf diese politökonomischen Umwälzungen entwickeln sich dann besonders im 19. Jahrhundert die politischen Kämpfe der sozialis­ tisch mobilisierten Arbeiterbewegung im Zusammenhang des Pauperis­ mus und der sozialen Frage (vgl. Conze 1954). In diesen Kämpfen um seine gesellschaftliche und ökonomische Anerkennung richtet sich das Proletariat gegen die sozial ungleich verteilten Voraussetzungen der durch das Bürgertum rein besitzindividualistisch verstandenen Freiheit, indem es die von Menke beschriebenen sozialen Rechte „gegen den vorherrschen­ den bürgerlichen Privatrechtsliberalismus“ (Menke 2015, 222) einfordert. In den sozialen Rechten geht es dementsprechend, wie oben mit Menke ausführlich gezeigt wurde, um die Freiheit als die rechtlich garantierte Fä­ higkeit zur Teilhabe an der Gesellschaft, was sich im inhaltlichen Charak­ ter dieser Rechte etwa als „Rechte auf Arbeit und Bildung, auf Altersvor­ sorge und Krankenversicherung“ (Menke 2018b, 102) widerspiegelt. Dass diese „‚sozialistischen Grundrechte‘“ (ebd.) trotz ihres emanzipatorischen Sinns in einem funktionalen Verhältnis zur kapitalistischen Ausbeutung stehen, die sie eigentlich bekämpfen, stellt Menke in der Kritik der Rechte im Rahmen der kritischen Rekonstruktion des Sozialrechts als normalisie­ rende Herrschaftsform prägnant heraus: „Die soziale Teilhabe, die das Sozialrecht sichert, hat aber auch noch eine fundamentalere, produktive Funktion für die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse; sie erst erklärt, weshalb das Sozialrecht mit ihrer Entstehung gleichursprünglich ist (und nicht erst später deren Legitimationsdefizite kompensiert). Denn nach der Auflösung aller

272

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

sittlichen Vergemeinschaftungsformen – der Great Transformation (Po­ lanyi), die die bürgerliche Herrschaft hervorbringt – bedarf es speziel­ ler, künstlicher oder technischer Mechanismen der Gewährleistung so­ zialer Teilhabe durch die neue Instanz des Staates, um die Arbeitskraft hervorzubringen, durch deren Ausbeutung und Zwang der Kapitalis­ mus seine Erfolge erzielt. Die produktive Leistung der Sozialpolitik besteht in der ‚Proletarisierung‘ (Claus Offe)“ (Menke 2015, 294). In der Figur der Sozialrechte erkennt das bürgerliche Recht demnach ei­ nerseits die emanzipatorischen Ziele der sozialistischen Arbeiterbewegung an, indem es deren Kämpfe in die Form sozialer Anspruchsrechte über­ setzt. Andererseits wird das Proletariat in diesem Akt der Verrechtlichung seiner normativen und politischen Ansprüche gleichzeitig der Normalisie­ rung unterworfen, die mit der Institutionalisierung der Sozialrechte in der spezifischen Form subjektiver Rechte einhergeht. Nimmt man jedoch in diesem Kontext das in Hegels Rechtsphilosophie aufgeworfene Problem des Pöbels in den Blick, so lassen sich auch hier die verschiedenen Bedeutungsebenen des Biopolitischen rekonstruieren und über Menkes Kritik des Sozialrechts hinaus in rechts- und sozialkritischer Hinsicht akzentuieren. Zum einen ist bereits deutlich geworden, dass die sozialen Rechte spezifisch biopolitische Rechte darstellen und allein in einem biopolitischen Zusammenhang verstanden werden können: In den sozialen Rechten geht es um die Ermöglichung der individuellen Teilhabe an sozialen Lebensprozessen. Zum anderen muss aber demgegenüber genau­ so betont werden, dass die ursprüngliche Akkumulation, in deren Kontext die Forderungen nach sozialen Rechten entstehen, eine gesellschaftlich marginalisierte Klasse von nicht-normalisierbaren Subjekten hervorbringt, die noch außerhalb dieser politisch erkämpften und sozialrechtlich kodi­ fizierten Ansprüche stehen und damit biopolitisch ausgeschlossen und entsubjektiviert werden (vgl. Brossat 2012). In diesem Sinne verkörpert der Pöbel gewissermaßen paradigmatisch die von Jacques Rancière beschriebe­ ne Gestalt „eines Anteils der Anteillosen“ (Rancière 2016, 41). Versteht man die ursprüngliche Akkumulation mit Loick als „die Pro­ duktion rechtsfähiger Subjekte“ (Loick 2017a, 170) mithilfe disziplinieren­ der und normalisierender Maßnahmen durch staatliche und nichtstaatli­ che Akteure, so wird sichtbar, dass die ursprüngliche Akkumulation den Pöbel gewissermaßen als ein Abfallprodukt dieser Prozesse der Proletari­ sierung selbst miterzeugt. „Was sichtbar gemacht wird sind nicht nur die Anteillosen selbst, sondern die Tatsache, dass es strukturell keine Ordnung geben kann, an der nicht Anteillose einen Anteil hätten“ (Mateo 2018, 308). Als inkommensurabler Rest, der in den Ausbeutungszusammenhän­

273

Kapitel 5

gen der kapitalistischen Arbeits- und Produktionskreisläufe nicht verwertet und nutzbar gemacht werden kann, stellt der Pöbel die konstitutive Aus­ nahme der bürgerlichen Gesellschaft und damit zugleich die normative Leerstelle des bürgerlichen Rechts dar (vgl. Žižek 2014b). Alain Badiou hat in einem jüngeren Text mit dem Titel Vierundzwanzig Anmerkungen über die Verwendung des Wortes ‚Volk‘ eine minoritäre Definition der Konzeption des Volkes formuliert, die sich auf den paradoxen Status des Pöbels über­ tragen lässt. Badiou unterscheidet in seiner kommunistischen Heuristik das „‚einfache Volk‘“ von der Subjektposition „des ‚souveränen Volkes‘, so wie der Staat es konstituiert“ (Badiou 2017, 14) und bestimmt in der Folge das ‚einfache Volk‘ als das soziale Element, „was das offizielle, dem Staat wohlgefällige Volk für inexistent hält“ (ebd.). Genauso lässt sich auch der Hegelsche Pöbel interpretieren, insofern er aus dem Bereich der gesellschaftlichen Repräsentation exkludiert und da­ mit politisch stimmlos gemacht wird. Da er nicht als Mitglied der bürgerli­ chen Gesellschaft anerkannt und durch seine ökonomische Unsichtbarkeit sukzessive aus dem Recht ausgeschlossen wird, ist er zu einem Leben außerhalb der Grenzen der bürgerlichen Rechts- und Gesellschaftsordnung gezwungen, mit Badiou: zu einem Leben „an den Rändern der sozialen, wirtschaftlichen und staatlichen Objektivität“ (ebd.). Diese ausgeschlosse­ ne Position des Pöbels kommt, wie gesehen, in einer korporativ ausge­ richteten und daher primär am Rechtssubjekt ansetzenden Theorie nicht ausreichend in den Blick, weshalb es für das Projekt einer umfassenden Rechtskritik notwendig ist, in Abgrenzung von Menkes Begriff der Nor­ malisierung die sozialkritische Perspektive einer auf rechtliche Ausschlüsse hin gedachten Biopolitik einzubeziehen. Denn erst aus einem solchen radikalisierten Blickwinkel können die rechtlichen Prozesse der Subjektivierung in Form der ursprünglichen Ak­ kumulation im Hinblick auf die ihnen zugrundeliegenden Ausschlüsse und Entsubjektivierungen überstiegen und kritisch hinterfragt werden. In Juridismus liest Daniel Loick die ursprüngliche Akkumulation bei Marx mit Foucaults Studie Überwachen und Strafen zusammen und deutet die biopolitischen Untersuchungen der Disziplinarmacht, die Foucault dort mit Blick auf Einschließungsanstalten und Kontrollinstitutionen wie dem Gefängnis- und Strafsystem, aber auch dem Schul- und Fabrikwesen oder der militärischen Kaserne vornimmt, „als die detaillierteste Beschreibung der ursprünglichen Akkumulation“ (Loick 2017a, 170). Foucault charakterisiert in Überwachen und Strafen tatsächlich den Pro­ zess der gesellschaftlichen Ausbildung der Disziplinen als „die dunkle Kehrseite“ (Foucault 1977, 285) des „formell egalitären rechtlichen Rah­

274

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

mens“ (Foucault 1977, 284) der bürgerlichen Gesellschaft. Dabei denkt Foucault die Disziplinen gegen die idealistisch-formalistische Rechtsauffassung des Liberalismus als „die wirklichen Machtmechanismen im Gegen­ satz zu ihrem formellen Rahmen“ (Foucault 1977, 285), deren Dynamiken im Sinne einer sozialen Fundierung und konkreten Verankerung abstrak­ ter Rechte „an den Rechtsstrukturen der Gesellschaft von unten her (…) arbeiten“ (ebd.). Auf dieser Basis lässt sich die ursprüngliche Akkumulation tatsächlich als ein sozioökonomisches Regime der Subjektivierung begreifen, durch das das moderne Rechtssubjekt als Träger von subjektiven Rechten erst hervorgebracht wird: „Damit eine Rechtsperson zustande kommen kann, ist für Marx und Foucault eine Formung und Programmierung menschli­ cher Lebensformen nötig, die bis in die Affektstruktur, den Habitus und die Physiognomie reichen“ (Loick 2017a, 171). Während jedoch die ge­ sellschaftlichen Machtmechanismen der Normalisierung und Disziplinie­ rung die „für die bürgerliche Rechtsgesellschaft notwendigen Fähigkeiten, Kenntnisse und Verhaltensweisen“ (Loick 2017a, 170) in Bezug auf das Rechtssubjekt herstellen, wird gewissermaßen auf der Unterseite dieser Mechanismen zugleich eine „‚inexistente‘ Masse“ (Badiou 2017, 14) von rechtsunfähigen Subjekten erzeugt, die aus dem Anerkennungsbereich der Rechte ausgeschlossen werden und somit das Andere des Rechts, d.h. dessen konstitutives Außen darstellen.86 Auch nach Loick ist der Pöbel 86 Am Ende von Homo sacer diskutiert Giorgio Agamben die Mehrdeutigkeit des po­ litischen Begriffs des Volkes, der sich Agamben zufolge durch eine fundamentale biopolitische Spaltung auszeichnet: „Jede Interpretation der politischen Bedeu­ tung des Wortes ‚Volk‘ muss von der bemerkenswerten Tatsache ausgehen, dass es in den modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, Enterbten und Ausgeschlossenen bezeichnet. Dasselbe Wort benennt mithin sowohl das konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die, wenn nicht rechtlich, so doch faktisch, von der Politik ausgeschlossen ist“ (Agamben 2002, 186). Bereits im Begriff des Volkes lässt sich, so gesehen, die Erzeugung und gleichzeitige Aus­ schließung des Pöbels im Sinne eines „fundamentalen biopolitischen Bruch[s]“ (Agamben 2002, 187) im Herzen der bürgerlichen Gesellschaft nachweisen: Die Hervorbringung und Stabilisierung der bürgerlichen Rechtsgemeinschaft als De­ mos, d.h. als kollektives politisches Subjekt im Sinne des sich selbst bestimmen­ den ‚Volkes‘, bedarf der gleichzeitigen Produktion der „Untermenge ‚volk‘ als fragmentarische Vielfältigkeit von bedürftigen und ausgeschlossenen Körpern; hier eine Einschließung, die keinen Rest duldet, dort eine Ausschließung, die keine Hoffnung kennt; am einen Ende der Gesamtstaat (stato totale) der souverä­ nen und integrierten Bürger, am anderen Ende die Bannmeile – Cour des Miracles oder Lager – der Miserablen, der Unterdrückten und Besiegten“ (ebd.). Die Dynamik, die Agamben hier beschreibt, entspricht exakt der Ausschlussdynamik,

275

Kapitel 5

nicht mehr als ein Rechtssubjekt – auch nicht als marginalisiertes, virtuelles oder potenzielles Rechtssubjekt – zu verstehen, sondern als der radikale Gegenbegriff zur bürgerlichen Konzeption der Rechtssubjektivität selbst: „Der Pöbel ist somit der systematische Antipode zur freien Rechtsper­ son: Während diese durch Inbesitznahme eines Gegenstandes ihren freien Willen realisiert, führt die Besitzlosigkeit beim Pöbel zum Ver­ lust der subjektiven Eigenständigkeit und somit zu einer Art mentaler Perversion“ (Loick 2016, 68). Auf dieser Grundlage kann abschließend Menkes grundlegende Charak­ terisierung des bürgerlichen Rechts als selbstreflexives Recht nochmals kritisch in den Blick genommen werden. Zwar rekonstruiert Menke auf schlüssige Weise die Selbstreflexion des Rechts als den Prozess der rechtli­ chen Modernisierung und operativen Anpassung der rechtlichen Normati­ vität an die regulativen Herausforderungen biopolitischer Gesellschaftsformationen. Die in den vorangegangenen Kapiteln u.a. mit Hegel entwickel­ te Perspektive des Pöbels lässt es jedoch als äußerst fraglich erscheinen, in­ wiefern das bürgerliche Recht seinem selbstreflexiven Anspruch überhaupt gerecht werden kann – und ob dementsprechend rechtstheoretisch an der Realisierbarkeit des modernen Ideals einer rechtlichen Selbstreflexion, also einer vom Recht selbst ausgehenden, internen Reflexion seiner Normativi­ tät festgehalten werden sollte. Denn auf der Basis der vorigen Analysen wird deutlich, dass vielmehr die spezifische Position des Pöbels (als biopolitisch ausgeschlossenes Sub­ jekt) als der systematische Ort für die Reflexion des bürgerlichen Rechts verstanden werden kann. Das Recht kann sich, wie oben herausgestellt wurde, im Hinblick auf die Leerstelle des Pöbels gerade nicht nochmals selbst reflektieren, weil die ökonomisch-rechtliche Ausschließung des Pö­ bels im Zuge der ursprünglichen Akkumulation im Rahmen der bürgerli­ chen Gesellschaft der Produktion rechtsfähiger Subjekte vorausliegt und diese erst ermöglicht (vgl. Muhle 2013b). Um normativ zu funktionieren, muss die bürgerliche Rechtsordnung also den Pöbel ausblenden, den sie aber zugleich notwendig hervorbringt. Das bürgerliche Recht erscheint in dieser Perspektive demnach zugleich als ein Regime der Entsubjektivie­

durch die der Pöbel aus der bürgerlichen Gesellschaft exkludiert wird. Agambens Deutung des subalternen ‚volkes‘ kann somit als eine unmittelbare Version des Hegelschen Pöbelgedankens gelesen werden. Zur weiteren Problematisierung des Begriffs des Volkes in Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes vgl. Agam­ ben 2016, 37–87.

276

5.1 Philosophiegeschichtliche Spuren: Ein Blick zurück zu Hegel

rung. Dass das Recht anstelle der zu stark idealisierenden Vorstellung seiner autonomen Selbstreflexion stattdessen vom außerrechtlichen Stand­ punkt der Entrechteten reflektiert werden muss, unterstreicht dabei auch Judith Butler mit Blick auf das Konzept der staatlichen Repräsentation im Anschluss an Marx: „Wenn die Vernunft im Staat verkörpert sein soll, dann gilt jeder An­ griff auf den Staat als Angriff auf die Vernunft selbst. Repräsentiert je­ doch der Staat die Menschen nicht, die zu repräsentieren er behauptet, dann verwickelt er sich aktiv in einen Widerspruch und büßt seinen Status einer Verkörperung der Vernunft ein. Entrechtet der Staat die Armen und reproduziert aktiv Klassenhierarchien, dann entlarvt die Kritik an seiner Ungerechtigkeit den Widerspruch, der hinter seinem Vernunftanspruch steht. Aufzuzeigen, dass sich der Staat, der sich als Inkarnation der Vernunft verteidigt, in einen Widerspruch verwickelt hat, ist für Marx die Aufgabe einer verweltlichten oder, wie er auch sagt, einer ‚kritische(n) Philosophie‘“ (Butler 2019, 82). Mit dieser Form der Kritik greift Butler die Idee der „‚rücksichtslose[n] Kritik alles Bestehenden‘“ (Butler 2019, 78) beim frühen Marx auf und entwickelt diesen Begriff auf eine Weise weiter, die sich aufgrund des Ansatzes an der Entrechtung von Menschen als anschlussfähig an den hier entfalteten Begriff des Pöbels erweist. Mit Menke lässt sich zwar aufzeigen, inwiefern die selbstreflexive Dynamik des Rechts selbst auf dialektische Art und Weise biopolitische Machtstrukturen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hervorbringt, nämlich im Medium der Legalisierung des Na­ türlichen. Aber schon hier lässt sich das kritische Argument anführen, dass sich eine Rechtsordnung, die in der normativen Figur der subjektiven Rechte zur Biopolitisierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und damit in ihren eigenen Widerspruch führt, nicht normativ selbst reflektieren kann. Da sie paradox verfasst ist, erzeugt die Normativität des Rechts vielmehr selbst ihre eigene Mangelstruktur in Gestalt ihrer biopolitischen Effekte im sozialen Raum, für die sie jedoch notwendig blind ist. Diese rechtliche Blind­ heit gegenüber dem eigenen biopolitischen Mangel (in den Formen der Ausbeutung und Normalisierung) entwickelt Menke bereits selbst, hält aber trotzdem an der systematischen Affirmation des grundsätzlich selbst­ reflexiven Charakters des modernen Rechts fest, indem er argumentiert, dass das bürgerliche Recht nur eine falsche Art der historischen Durchfüh­ rung der rechtlichen Selbstreflexion sei (vgl. Menke 2015, 164–168). In der Einbeziehung des Pöbels lässt sich das Argument der Unmöglichkeit einer

277

Kapitel 5

rechtlichen Selbstreflexion jedoch nochmal weiterentwickeln und gegen Menkes Position zuspitzen: Mit der Entrechtung des Pöbels schafft das bürgerliche Recht seine eigene Aporie, zu der es sich nicht noch einmal reflexiv verhalten kann. Denn der Pöbel kann als ausgeschlossene Klasse der Rechtlosen und von der bürgerlichen Rechtsgesellschaft selbst hervorgebrachten Entrechteten, die „kein Recht auf das Ansehen hat, das in den Augen des Staates das offizielle Volk genießt“ (Badiou 2017, 15), nicht wiederum in die norma­ tiven, egalitären Begriffe des Rechts zurückübersetzt und damit reflexiv aufgefangen und inkludiert werden. Das Recht muss den Ausschluss, d.h. die biopolitische Naturalisierung des Pöbels, wie gesehen, vielmehr not­ wendig ausblenden. Am Fall des Pöbels lässt sich nicht mehr einsichtig machen, wie eine Selbstreflexion des Rechts sowohl theoretisch als auch praktisch möglich sein soll, da das Recht unmöglich mit seinen eigenen Mitteln vor sich selbst Rechenschaft über seine konstitutive Leerstelle in Form gewaltförmiger Ausschließungen ablegen kann. Es ist vielmehr, wie anhand des Pöbels sichtbar wird, auf seine Kontextualisierung innerhalb der spezifischen Strukturen des Politischen angewiesen, um die biopoli­ tischen Entrechtungs- und Ausschlussdynamiken kritisch einzubeziehen und damit die politische Verortung des Rechts im sozialen Gefüge der Gesellschaft zu hinterfragen. Dies ist die Aufgabe einer Kritischen Theorie des Rechts aus der Instanz der Biopolitik. Der Hegelsche Begriff des Pöbels stellt somit aus philosophiegeschichtli­ cher Sicht ein paradigmatisches Beispiel für die exkludierende Dynamik der biopolitischen Naturalisierung dar, die mit der Normativität der sub­ jektiven Rechte innerlich verknüpft ist und die rein rechtsintern nicht eingeholt werden kann. Aufgrund seines biopolitischen Ausschlusses re­ präsentiert der Pöbel damit ein entrechtetes Subjekt par excellence, das der Illegalisierung des Natürlichen unterworfen wird und das somit (in einer Paraphrasierung Foucaults) unterhalb der Verrechtlichungslogik der sub­ jektiven Rechte angesiedelt ist und die Institution der Rechtssubjektivität von unten her stützt. Ausgehend von dieser Problematisierung des Pöbels wird also ersichtlich, dass eine Kritik des bürgerlichen Rechts das kritische Instrumentarium der Biopolitik notwendig in ihren theoretischen Begriffsapparat integrieren muss, um zu vermeiden, dass sie die Exklusionen und Entrechtungen aus dem Blick verliert.

278

5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft

5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft: Illegalisierte Flüchtlinge als globale Erscheinungsform des Pöbels Dieser kurze Blick zurück zu Hegel lässt sich als philosophiegeschicht­ licher Impuls verstehen, um über aktuell wirkmächtige Erscheinungsfor­ men des Pöbels nachzudenken und sie für das Vorhaben einer biopoliti­ schen Kritik des Rechts fruchtbar zu machen. Dabei gehe ich von der grundlegenden These aus, dass der Pöbel heute eine globale Gestalt ange­ nommen hat, und zwar in der paradigmatischen Figur des illegalisierten Flüchtlings, dessen rechtloser Status auf seine aktive Entrechtung durch die biopolitische Macht des Juridischen zurückgeführt werden muss. Die­ ser These möchte ich mich im Folgenden in Umrissen zuwenden, indem ich „die für die europäische Migrationspolitik zentrale Unterscheidung zwischen illegaler und legaler Migration“ (Schulze Wessel 2017, 171) pro­ blematisiere und die damit verbundene Einschließung des illegalisierten Flüchtlings in den „externalisierten Grenzraum“ (Schulze Wessel 2017, 162) rekonstruiere. Diese Unterscheidung lässt sich, wie ich zeigen möch­ te, als eine spezifisch biopolitische Zäsur reformulieren, durch die illegali­ sierte Flüchtlinge aus dem Recht ausgeschlossen werden. Zu diesem Zweck beziehe ich mich im Folgenden auf einige soziologi­ sche Argumente Julia Schulze Wessels und rechtstheoretische Überlegun­ gen Sonja Buckels. Ich beschränke mich dabei schlaglichtartig auf einige zentrale Einsichten dieser beiden Autorinnen, die für meine eigene Ar­ gumentation jeweils von Bedeutung sind, da ich mich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht in angemessener Breite mit den zahlreichen Ansätzen beschäftigen kann, die im Laufe der letzten Jahrzehnte im inter­ disziplinären Forschungsfeld der migration studies, der border studies und der Grenzregimeforschung zur genannten Flüchtlingsthematik vorgelegt worden sind. Neben den vielen unterschiedlichen Einführungsbänden (vgl. exemplarisch Schwenken 2018) sei daher für den deutschsprachigen Diskurs exemplarisch zum einen auf die 2021 zum ersten Mal erschiene­ ne Zeitschrift für Migrationsforschung hingewiesen (vgl. darin besonders Faist 2021; Hess/Schmidt-Sembdner 2021; Lutz/Amelina 2021; Niederber­ ger 2021), die die Sichtbarkeit und Relevanz des Themenkomplexes von Migration und Flucht als aktuelles Forschungsfeld weiter erhöht.87 Zum

87 Derzeit werden in der deutschsprachigen Forschungsdebatte bspw. der theore­ tische Zusammenhang, aber auch die blinden Flecken und Spannungslinien zwischen Migrationsforschung und politischer Theorie bzw. Philosophie immer

279

Kapitel 5

anderen möchte ich auf die erste Ausgabe 2021 der Zeitschrift für Prak­ tische Philosophie verweisen, die u.a. den von Florian Grosser und An­ dreas Oberprantacher herausgegebenen Schwerpunkt Politische Theorien der Grenze umfasst, der sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem migrationspolitischen Themenbereich der Grenze und aktueller Grenzre­ gime beschäftigt (vgl. darin besonders Ehrmann 2021; Gebhardt 2021; Gündoğdu 2021; Kuster/Tsianos 2021). In der internationalen Diskussionslandschaft der letzten zwanzig Jahre sind darüber hinaus verschiedene Ansätze entstanden, die sich in kriti­ scher Weise besonders grundlegend mit der Ausschließung von Migranten und Flüchtlingen aus liberalen Rechtssystemen befassen und zu diesem Zweck ausdrücklich auf den konzeptuellen Rahmen der Biopolitik Bezug nehmen. Neben Didier Fassin, dessen Theorie im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch näher diskutiert wird, sind in diesem Zusammenhang beson­ ders prominent Ayten Gündoğdus Monografie Rightlessness in Age of Rights (vgl. Gündoğdu 2015) sowie Michel Agiers soziologische und anthropo­ logische Arbeiten hervorzuheben (vgl. Agier 2008; 2016), in denen er die dynamischen Beziehungen zwischen Nationalstaaten, internationalen Grenzregimen und global Flüchtenden sowie die damit einhergehenden Ausschlussmechanismen kritisch beleuchtet. Aktuell beschäftigt sich Agier vor diesem Horizont stark mit der Politisierung des normativen Konzepts der Gastfreundschaft (vgl. Agier 2021), das bspw. in der poststrukturalis­ tischen Forschung von Jacques Derrida bereits unter demokratietheoreti­ schen Vorzeichen thematisiert worden ist (vgl. Derrida 2000; 2001). Im Zuge der Globalisierung erleben wir gegenwärtig eine weltweite Zunahme transnationaler Wanderungsbewegungen und Migrationsströme von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung, Klimaschäden und Umweltkatastrophen sind und sich in der Hoffnung auf rechtlichen Schutz und politische Sicherheit auf den Weg vom Globalen in den Globalen Norden machen. Die Reaktion von­ seiten der Zielländer besteht jedoch in weiten Teilen in einer verstärkten Errichtung und Befestigung von Mauern und Grenzzäunen und in einer Verschärfung restriktiver Grenzregime und abwehrender Migrationspoliti­

stärker diskutiert, wofür die am 9. und 10. März 2021 online nachgeholte Dresde­ ner Sektionstagung der DVPW zum Thema „Migration – Herausforderung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis“ beispielhaft steht. Für einen Tagungsbe­ richt vgl.: https://www.theorieblog.de/index.php/2021/08/zum-verhaeltnis-von-po litischer-theorie-und-migration-ein-tagungsbericht-zur-ersten-dresdener-dvpw-the oriesektions-tagung-2021/ (zugegriffen am 30. August 2021).

280

5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft

ken wie der Ex- und Deterritorialisierung von internationalen Grenzräu­ men, welche zugleich aktuelle Grenzen (welt-)gesellschaftlicher Solidarität markieren (vgl. Lessenich 2019, 96–110) und im Widerspruch zu Prakti­ ken globaler Gastfreundschaft stehen (vgl. Agier 2021). Die US-amerikani­ sche Philosophin und Politikwissenschaftlerin Wendy Brown spricht in diesem Zusammenhang von einer neuen weltweiten Abschottung und einem global erstarkenden Verlangen nach „neuen Mauern, die das Ange­ sicht der Erde zerschneiden“ (Brown 2018, 26) und als Orte der Gewalt die Schließungen moderner, demokratischer Staaten und Rechtssysteme gegenüber einem Außen vorantreiben und zementieren. Diese Selbstabschließungsprozesse liberaler Rechtsordnungen stürzen das moderne Recht dabei, so die These, in eine grundlegende Krise, denn die vollständige Exklusion von Menschen aus Rechtssystemen durch die Aufhebung ihrer fundamentalen Rechte und die Durchtrennung der Rechtsbeziehungen zwischen Zielstaaten und Flüchtlingen im Rahmen des aktuellen Migrationsmanagements ist mit dem normativen Programm demokratischer Gesellschaften und der mit ihnen verbundenen freiheitli­ chen, liberalen Rechtsordnungen in grundsätzlicher Weise unvereinbar. Vor diesem Hintergrund wirft der Migrationsdiskurs auf globaler Ebene grundlegende ethische Probleme und normative Herausforderungen des Rechts auf, insbesondere mit Blick auf dessen modernen Gleichheits- und Gerechtigkeitsanspruch. Die undokumentiert wandernden Menschen, so möchte ich im Fol­ genden argumentieren, führen als Figuren illegaler Migration (welche aufgrund ihrer Wanderung aus dem Recht ausgeschlossen werden) die Grenzen des Rechts selbst vor Augen.88 Damit machen sie eine radikale Kritik des Rechts angesichts des globalen Phänomens des illegalisierten Flüchtlings erforderlich, welches in Menkes Heuristik der Legalisierung des Natürlichen nicht angemessen in den Blick kommt. Der illegalisierte Flüchtling ist vielmehr zum modernen Stellvertreter dessen geworden, was Hegel als Pöbel bezeichnet hat. Um seinem rechtlosen Status auf der theoretischen Ebene Rechnung zu tragen, muss das hier vorgeschlagene Konzept der Illegalisierung des Natürlichen über Menke hinaus begrifflich weiter geschärft werden. Ein zentrales Anliegen besteht in diesem Zusam­

88 Einen aufschlussreichen Überblick zur aktuellen interdisziplinären Debatte zur Begrenztheit des Rechts angesichts gegenwärtiger Migrations- und Grenzpoliti­ ken gibt der von Maximilian Pichl und Timo Tohidipur herausgegebene Sam­ melband An den Grenzen Europas und des Rechts (vgl. Pichl/Tohidipur 2019).

281

Kapitel 5

menhang insgesamt darin, stets den postkolonialen Kontext mitzudenken und kritisch einzubeziehen, in dem diese Themen notwendig stehen. Der Sozialtheoretikerin Julia Schulze Wessel zufolge sind im Rahmen des europäischen Migrationsmanagements seit den 2000er-Jahren die Aus­ handlungskämpfe um rechtliche Inklusion und Exklusion immer stärker bereits in die Herkunfts- und Transitstaaten der Flüchtenden verlagert worden. Durch migrationspolitische Strategien und Techniken wie die unterschiedlichen internationalen Rückübernahmeabkommen zwischen EU-Staaten bzw. der EU und anderen Drittstaaten, aber auch die Visapoli­ tik der EU oder die Einschränkung des Zugangs zum Asylrecht im Zuge von Sammelabschiebungen durch die protosouveräne europäische Grenz­ schutzagentur Frontex sind zentrale Grenzkontrollfunktionen aus den nationalstaatlichen Geltungs- und Zuständigkeitsbereichen europäischer Rechtssysteme auf nichteuropäische Drittstaaten abgeschoben und externa­ lisiert worden. Dadurch wird ein „externalisierte[r] Grenzraum eröffnet“ (Schulze Wessel 2017, 162), in dem die rechtlichen „Verbindungen zu den undokumentierten Migranten abgebrochen und das Recht von dieser spe­ zifischen Gruppe getrennt [werden]“ (Schulze Wessel 2017, 169), weshalb die Autorin präzisierend „in erster Linie von einer Externalisierung der Schließfunktion der Grenze“ (Schulze Wessel 2017, 179) spricht. Dieser externalisierte Grenzraum wird von den undokumentierten Mig­ ranten bewohnt, nur sie können diesen fragmentierten Grenzraum über­ haupt betreten, denn er funktioniert nach einer politischen Selektionslo­ gik.89 Der Schlüssel für diese selektive Logik ist Schulze Wessel zufolge die rechtliche Unterscheidung zwischen „illegaler und legaler, undoku­ mentierter und dokumentierter Migration“ (Schulze Wessel 2017, 176), die jedoch durch die beschriebenen Externalisierungsmaßnahmen der Grenzkontroll- und Grenzschließungsfunktionen „vor die Territorien der Europäischen Union geschoben“ (Schulze Wessel 2017, 174) wird. Diese

89 In diesem Sinne beschreibt auch Francesca Falk in ihrer gestischen Geschichte der Grenze die dialektische Dynamik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit mit Blick auf die Selektionslogik heutiger Grenzregime: „Die für Nichtbetroffene oft unsichtbaren Grenzen innerhalb Europas, welche Legalisierte von Illegalisier­ ten trennt, zeigt, dass Grenzpotenz nicht nur auf Evidenz im Sinne der Erzeu­ gung von Anschaulichkeit beruht, sondern auch auf Strategien der Unsichtbar­ machung und des Blickentzugs. Denn die undurchdringbarste Grenze ist oft jene, die nicht als Grenze wahrnehmbar wird. (…) Auch die Sans-Papiers selbst sind oft gezwungen, sich möglichst unsichtbar zu machen. Doch für die Sans-Pa­ pier und die Verteidigung ihrer Interessen ist zuweilen eine Sichtbarkeitspolitik wichtig“ (Falk 2011, 132).

282

5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft

Externalisierungspolitik geht notwendig damit einher, dass die Grenzen des Rechts „nicht mehr an Orte, sondern an Personen gebunden“ (Schulze Wessel 2017, 136) werden. Das Kriterium für den rechtlichen Ein- und Ausschluss, für die rechtliche Unterscheidung zwischen Innen und Außen und damit für die Trennung des Flüchtlings vom Recht macht sich nicht am geografischen Standort, sondern am „rechtlichen Status“ (Schulze Wes­ sel 2017, 186) bzw. an „der legalen Präsenz“ (Schulze Wessel 2017, 177) der Person fest. Illegal sind in der Selektionslogik der EU-Migrationspoli­ tik also Personen bzw. Subjekte. Genau diese Personalisierung der Unterscheidung zwischen Illegalität und Legalität macht den undokumentierten Migranten zu einer „eigen­ ständige[n] Figur innerhalb der Gruppe der Migranten“ (Schulze Wessel 2017, 178), sein Ausschluss aus dem Recht und seine Verortung im ex­ ternalisierten Grenzraum macht sein Spezifikum aus. Damit bildet die rechtlich getroffene Unterscheidung zwischen illegaler und legaler Mig­ ration das entscheidende Instrument zur Exklusion der Flüchtlinge aus dem Recht, denn deren Zugang zum Recht entscheidet sich exakt ent­ lang dieser juridischen Differenzierung. Biopolitische Rechtsordnungen unterscheiden, mit den Worten Michel Agiers, „between those who are acknowledged to have rights (‘refugees’) and those who are not (‘illegal immigrants’) and who, because of this very word, ‘illegal’, remain defined as being outside the domain of rights in general” (Agier 2021, 83). Ent­ scheidend dabei ist, dass diese Aufteilung zwischen ‚illegal‘ und ‚legal‘ auf neokolonialen Wegen bzw. mithilfe postkolonialer Mittel stattfindet. Denn die europäische Externalisierungspolitik im Rahmen des aktuellen Grenzmanagements führt dazu, dass nichteuropäische Staaten mit der speziell aus Europa stammenden Unterscheidung zwischen illegaler und legaler Migration zugleich auch die Logik des europäischen Grenzregimes und der EU-Migrationspolitik im allgemeinen sukzessive übernehmen. Die Differenz zwischen illegalen und legalen Wanderungen wird dem­ nach im Kontext von internationalen Kooperationen und Mobilitätspart­ nerschaften zwischen der EU und Drittstaaten als spezifisches Kernelement der europäischen Migrationspolitik in nichteuropäische Rechtssysteme ein­ geschrieben und dadurch als hegemoniales Modell der globalen migrati­ onspolitischen Praxis im Rahmen drittstaatlicher Rechtsordnungen imple­ mentiert. Diese imperiale Einflussnahme Europas auf die Rechtssysteme nichteuropäischer Länder stellt ein paradigmatisches Verhältnis postkolo­ nialer Herrschaft dar, das als solches identifiziert und dekonstruiert wer­ den muss. So „[hat] die europäische Kooperation mit den afrikanischen Staaten dazu geführt, dass in den Transit- und Herkunftsstaaten der Straf­

283

Kapitel 5

tatbestand der illegalen Migration geschaffen worden ist“ (Schulze Wessel 2017, 173). Dieser neokoloniale Eingriff Europas in das Strafrecht afrika­ nischer Rechtsordnungen weitet nicht nur die Kontroll- und Selektions­ funktionen europäischer Grenzen in die Territorien und Rechtsbereiche afrikanischer Staaten hinein aus, sondern konstituiert dabei gleichzeitig den undokumentierten Migranten aus Afrika als ein postkoloniales Ras­ sensubjekt, welches in einem Grenzraum verortet ist, aus dem sich die Zielländer im Hinblick auf die Kontroll- und Schließungsmechanismen der Grenzen vollständig zurückgezogen haben und daher in keiner ein­ klagbaren Rechtsbeziehung mit dem Flüchtling mehr stehen. Dem illegalen Flüchtling ist es somit so gut wie unmöglich seine Rech­ te geltend zu machen, da Europa mit der Externalisierung seiner Grenz­ funktionen im offenen Widerspruch zu elementaren flüchtlingsrechtlichen Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention wie dem RefoulementVerbot jede juridische Verbindung zu den undokumentiert Wandernden strategisch aufgelöst und den dadurch illegalisierten Flüchtling vom Recht abgetrennt hat. „Durch die enge Zusammenarbeit zwischen europäischen und afrikanischen Ländern wird diese Figur des ‚Illegalen‘ bereits auf dem afrikanischen Kontinent hervorgebracht“ (Schulze Wessel 2017, 176). Bereits die afrikanische Rechtslage des undokumentierten Migranten, d.h. sein Rechtsstatus im afrikanischen Herkunftsland, steht also in einem neo­ kolonialen Zusammenhang und wird mithilfe europäischer Diskursregeln bestimmt, die im Rahmen des postkolonialen Nord-Süd-Gefälles über den Rechtsvorenthalt entscheiden, indem sie vorschreiben, dass die spezifische Gruppe der undokumentierten Migranten „bereits mit dem Aufbruch au­ ßerhalb des Rechts gestellt“ und dadurch bereits in ihrem Heimatland zu Opfern „eine[r] Auslagerung aus den rechtlichen Verfahren“ (Schulze Wessel 2017, 182) gemacht wird. Im Anschluss an die neo-materialistische Rechtstheoretikerin und Poli­ tikwissenschaftlerin Sonja Buckel lässt sich diese aus migrationspolitischer Sicht zentrale Aufteilung zwischen illegaler und legaler Migration als die spezifisch biopolitische Zäsur rekonstruieren, die über die rechtliche Kategorie der Staatsbürgerschaft zwischen den zu den Rechtssystemen in­ nerhalb der EU zugehörigen Unionsbürgern (im Sinne der in die rechtli­ che Diskursgesellschaft inkludierten Rechtssubjekte) einerseits und der in die externalisierten Grenzräume zurückgewiesenen migrantischen NichtBevölkerung andererseits unterscheidet und dabei die illegalen Flüchtlinge vollständig aus der Rechtsform exkludiert. Wie oben ausgeführt, besteht die primäre biopolitische Funktion des Rassismus Foucault zufolge darin, in das gesellschaftliche Feld des Lebens „eine Zäsur einzuführen: die Zäsur

284

5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft

zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss“ (Foucault 2014, 104). In der Tradition Foucaults lässt sich die Trennlinie zwischen Illegalität und Legalität in Anknüpfung an Buckel als „[d]ie biopolitische Zäsur des Sicherheitsdispositivs“ (Buckel 2013, 60) der EU-Migrationspolitik be­ schreiben, die „zwischen der rechtlich abgesicherten imperialen Lebens­ weise der Unionsbürger*innen und der prekären, postkolonialen Lebens­ weise der sogenannten Drittstaatsangehörigen [verläuft]“ (ebd.). Analog zu Schulze Wessel spricht Buckel dabei von migrationspolitischen Prozedu­ ren der Kontrolle und Ausschließung, die im Rahmen des Sicherheitsdis­ positivs des europäischen Grenzregimes „die biopolitische Zäsur von den nationalen Grenzen an die EU-Außengrenzen verschieb[en]“ (Buckel 2013, 82). Im Zuge dieser Prozesse des bordering und re-bordering konstituiert sich „ein neues ‚Außen‘ und rekonfiguriert die biopolitische Zäsur und Fragmentierung der Bevölkerung. Die migrantische Nicht-Bevölkerung entstammt diesem konstruierten Außen, das jenseits der spanischen, grie­ chischen, italienischen und maltesischen Grenze beginnt“ (Buckel 2013, 334). Auch Buckel zufolge sind „die kennzeichnenden Migrationsgestalten der aktuellen Epoche die illegalisierten Migrant*innen (…). Sie sind faktisch ebenso rechtlos wie diejenigen, die bereits vor den Grenzen Europas, auf dem Mittelmeer etwa, oder in den unterschiedlichsten Lagern innerhalb und außerhalb der EU trotz der universalen normativen Geltung von Menschenrech­ ten entrechtet werden“ (Buckel 2013, 69). Dieser biopolitische Charakter der im europäischen Rechtsdiskurs getroffenen und in drittstaatliche Rechtskontexte externalisierten Unterscheidung zwischen illegaler und legaler Migration kann vor dem Hintergrund der bereits mit Foucault und Butler erarbeiteten biopolitischen Heuristik noch einmal speziell in den Blick genommen und konzeptuell geschärft werden. Denn auf der in dieser Arbeit entfalteten biopolitischen Folie wird über die Kritikansätze von Schulze Wessel und Buckel hinaus sichtbar, dass in der rechtlichen Unterscheidung zwischen Illegalität und Legalität eine noch grundlegendere Differenzierung aktualisiert und perpetuiert wird, und zwar in Gestalt der immer bereits mitgetroffenen rassistischen Unter­ scheidung zwischen ethnischer Über- und Unterlegenheit, zwischen wert­ vollen und minderwertigen bzw. wertlosen Leben, zwischen lebendigen und weniger lebendigen Leben. Mit anderen Worten: Die Rekonstruktion der juridischen Unterschei­ dung zwischen ‚illegal‘ und ‚legal‘ als spezifisch biopolitische Zäsur zwi­

285

Kapitel 5

schen Innen und Außen führt vor Augen, dass das Recht in der Illegalisie­ rung undokumentierter Migranten auf eine fundamentale, den rechtlichen Operationen zugrundeliegende vorrechtliche Unterscheidung rekurriert, die auf biopolitische Weise das Feld des menschlichen Lebens aufspaltet, hier­ archisiert und die verschiedenen Leben dabei anhand einer inegalitären Normativität ungleich bewertet. Butler macht auf dieser Basis das Argu­ ment stark, dass illegalisierten Flüchtlingen gerade deshalb ihre Rechte vorenthalten werden können, weil ihre Leben im gegenwärtigen Rahmen postkolonialer Anerkennungsregime rassistisch abgewertet werden und da­ her sozialontologisch nicht ausdrücklich als Leben zählen. Während Schulze Wessel und Buckel ihre Untersuchungen in Analogie zu Foucaults Argumentation in erster Linie auf die rechtliche Dimension im Rahmen der Unterscheidung zwischen Illegalität und Legalität fokus­ sieren, geht Butler einen Schritt über diese juridische Heuristik hinaus, indem sie einen biopolitischen Interpretationsansatz entwickelt, mit des­ sen begrifflichen Mitteln die rechtliche Operation der Illegalisierung von Flüchtlingen und damit die Exklusion undokumentierter Migranten aus dem Recht selbst noch einmal als solche ethisch problematisiert und poli­ tisch hinterfragt und in ihren größeren gesellschaftlichen Zusammenhän­ gen kritisch betrachtet werden kann. Denn laut Butler beruht die rechtli­ che Aufteilung zwischen illegaler und legaler Migration und damit die differenzielle Zuschreibung und der selektive Vorenthalt von Rechten auf der vorgängigen biopolitischen Trennung der als betrauerbar und schüt­ zenswert konstituierten Leben von den unbetrauerbaren und unsichtbaren und daher immer schon verlorenen Leben. Mit den Worten Mareike Geb­ hardts: „bio- and necropolitics intersect in Europe’s migration regime to decide whose deaths are grievable“ (Gebhardt 2020, 121). Menschliche Leben werden nach Butler, die hierin, wie gesehen, Fanon folgt, innerhalb von rassistischen Schemata erst als Leben konstituiert, so dass sich das Recht immer nur auf denjenigen Teil der Bevölkerung beziehen kann, dessen Leben als lebendig und wertvoll wahrgenommen und anerkannt wird, welches vom weniger lebendigen Leben der migran­ tischen Nichtbevölkerung außerhalb der Rechtgemeinschaft getrennt ist. Damit wird die Adressatenschaft potenzieller Rechtssubjekte, die mit un­ terschiedlichen Rechten ausgestattet sind, bereits in einer vorrechtlichen Dimension auf diejenigen Menschen begrenzt, deren Leben im vorhinein auf gesellschaftlicher Ebene als potenziell betrauerbare Leben wahrgenom­ men werden und auf die allein sich das Recht folglich überhaupt als verlierbare und daher schützenswerte Leben beziehen kann. Indem die rassistischen Schemata auf diese Weise in Rechtsdiskurse hineinwirken,

286

5.2 Über eine aktuelle Figur der biopolitischen Ausschließung aus der Weltgesellschaft

tragen sie die außerrechtlich konstituierte biopolitische Zäsur zwischen Leben und Nichtleben in das Recht hinein, welche dann innerrechtlich in der Unterscheidung zwischen illegaler und legaler Migration reproduziert wird. Auf diese (post-)kolonialen Praktiken des Rechtsvorenthalts und der daraus hervorgehenden Situation faktischer Rechtlosigkeit muss eine kriti­ sche Rechtstheorie und erst recht eine damit verbundene Kritik des bür­ gerlichen Rechts reagieren können. Das Konzept der Illegalisierung des Natürlichen ist dazu insofern in der Lage, als es einen begrifflichen Rah­ men bereitstellt, um die beschriebene Entrechtung von Flüchtlingen und Migranten theoretisch einzuordnen und deren biopolitische Voraussetzun­ gen nachzuvollziehen. Durch ihre Einschließung in den externalisierten Grenzraum werden Flüchtlinge nämlich biopolitisch naturalisiert, da sie in den heteronomen Bereich des Nichtrechts eingeschlossen, d.h. zum nichtnormativen Gegensatz und konstitutiven Außen des Rechts gemacht werden, zu dem keine Rechtsbeziehung mehr aufrechterhalten wird. Die Flüchtlinge werden also durch ihre von der herrschenden Rechtsordnung ausgehende Illegalisierung automatisch außerhalb der Grenzen der Rechts­ gemeinschaft gestellt. Als rechtlich Ausgeschlossene können sie unmög­ lich die in subjektiven Rechten legalisierte Natur im Sinn vorrechtlicher Ansprüche des Einzelnen verkörpern und damit zu einem potenziellen Rechtssubjekt werden, weil sie durch ihre rechtliche Illegalisierung immer schon zur Natur im Sinn der radikalen, nichtrechtlichen Außenseite des Rechts gemacht worden sind. Der illegale Status undokumentierter Mig­ ranten konstituiert diese damit aus der Sicht des Rechts gewissermaßen als natürliches Leben im Sinne Giorgio Agambens, nämlich als „das nackte Leben, das im Niemandsland zwischen dem Haus und dem Staat wohnt“ (Agamben 2002, 100), auch wenn das nicht bedeutet, dass die Flüchtlinge dadurch vollkommen handlungsunfähig werden, wie es bei Agamben im­ pliziert ist (vgl. Butler 2016, 106–108). Im Akt der Illegalisierung undokumentierter Migranten erzeugen mo­ derne Rechtsysteme demnach, so lässt sich zusammenfassen, den spezifischen Status und die prekäre Situation der illegalisierten, also rechtlich exkludierten Flüchtlinge, deren marginalisierte Subjektposition sich als eine moderne, globalisierte Form des Pöbels interpretieren lässt, dessen Entrechtung durch die bürgerliche Gesellschaft bereits Hegel konstatiert hat. Dabei hängt die rechtliche Praxis der Illegalisierung von einer mit der rechtlichen Normativität inkommensurablen vorrechtlichen Zäsur zwischen schützenswerten Leben und unbetrauerbaren Nichtleben zusam­ men. Diese biopolitische Zäsur wird mit der rechtlichen Unterscheidung

287

Kapitel 5

zwischen Legalität und Illegalität in die normativen Koordinaten der bür­ gerlichen Rechtsordnung selbst und den darauf beruhenden rechtlichen Operationen eingeschrieben. Wenn dementsprechend „die auf den Zu­ stand der Rechtlosigkeit zurückgeworfenen oder fast zurückgeworfenen Menschen nichtsdestotrotz ein Recht geltend machen und ausüben, und zwar gerade unter Bedingungen, unter denen dieses weder durch geltendes Recht begründet noch von bestehenden staatlichen oder internationalen Mächten anerkannt ist“ (Butler 2019, 107), so markieren diese Menschen auf kollektive Weise die Grenzen des Rechts selbst und verweisen dadurch gleichzeitig auf die Notwendigkeit des außerrechtlichen Widerstands ge­ gen die biopolitischen Strukturen moderner Rechtssysteme, die beständig neue Formen des Pöbels hervorbringen. Indem sie die Rechte, die ihnen durch das europäische Grenzregime vorenthalten werden, performativ ausüben, protestieren die illegalisierten Flüchtlinge gegen ihren Ausschluss aus dem Recht und rebellieren gegen postkoloniale Formen rechtlicher Gewalt, durch die sie in den nichtrecht­ lichen Raum außerhalb der europäischen Rechtsgrenzen eingeschlossen und gegen ihren Willen in einen rechtlosen Zustand versetzt werden. Wenn sich demnach geflüchtete Menschen unter den Bedingungen ihrer Entrechtung gegen ihre Exklusion aus nationalstaatlichen Rechtsordnun­ gen und einer menschenrechtlich begründeten globalen Rechtsgemein­ schaft wehren, so kämpfen sie damit gleichzeitig und grundsätzlicher darum, in den sozialontologischen Bereich des Menschlichen inkludiert zu werden, der im gegenwärtigen Kontext der EU-Migrationspolitik mittels biopolitischer Prozeduren der Selektion und Ausschließung migrantischen Lebens regiert wird. „Today immigrants, refugees, the unemployed and the poor are outside the pale of humanity because they are economically redundant“ (Douzinas 2019, 47). Der Kampf darum, aus dem externalisier­ ten Grenzraum heraustreten zu können, ist daher zugleich der Kampf darum, nicht mehr als eine Form des sozialen Todes wahrgenommen (vgl. Patterson 1982), sondern als ein Leben anerkannt zu werden, das besonders gefährdet ist und deshalb eines besonderen Schutzes bedarf (vgl. Butler 2005). Zwischenfazit Anhand der Hegelschen Figur des Pöbels ist im Verlauf der vergangenen Kapitel ein prominenter philosophiegeschichtlicher Vorläufer dessen ana­ lysiert worden, was im Rahmen dieser Arbeit mit Foucault und Butler als

288

Zwischenfazit

biopolitische Naturalisierung und Exklusion herausgearbeitet worden ist. Der Pöbel steht paradigmatisch für eine gesellschaftliche Klasse von bio­ politisch Ausgeschlossenen, welche aus den kapitalistischen Wirtschaftsprozessen ebenso wie aus den rechtlichen Diskursen der bürgerlichen Gesellschaft exkludiert wird. Am Pöbel wird, wie erläutert, deutlich, dass der abstrakte Gleichheitsanspruch der subjektiven Rechte in Wirklichkeit an die konkrete Ungleichheit der gesellschaftlichen Verteilung des Eigen­ tums gebunden ist, wodurch die Eigentumslosen nicht nur ökonomisch, sondern zugleich auch rechtlich ausgeschlossen werden. Im Laufe der vorangegangenen Untersuchungen ist dabei sichtbar geworden, dass das gesellschaftspolitische Problem des Pöbels die von Menke beschriebenen bürgerlichen Herrschaftsformen der Ausbeutung und Normalisierung un­ terläuft und genau deswegen Menkes rechtsphilosophische Heuristik zu­ gleich übersteigt: Der Pöbel kann als entrechtete und von den elementaren sozialen Reproduktionsprozessen abgeschnittene Klasse weder wirtschaftlich ausge­ beutet noch gesellschaftlich normalisiert werden, da er durch die sozioöko­ nomische und politische Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft selbst radikal entsubjektiviert und marginalisiert wird. Wie gesehen, unterbietet der Pöbel sogar noch die sozialen Bedingungen, um in den kapitalisti­ schen Ausbeutungszusammenhängen wenigstens auf einer niedrigen und prekären Stufe überhaupt verwertet werden zu können, da er als ein überflüssiges Abfallprodukt im Zuge der ursprünglichen Akkumulation hervorgebracht wird. So gesehen bildet der Pöbel die aporetische Leerstelle der Normativität des bürgerlichen Rechts: Er wird durch die bürgerliche Gesellschaft permanent als anonyme Masse von Ausgeschlossenen notwen­ dig miterzeugt, deren Ausschließung jedoch unvereinbar mit den norma­ tiven Koordinaten der bürgerlichen Rechtsordnung ist und gleichzeitig innerhalb dieser Koordinaten als Paradox unauflösbar bleibt. Als inkom­ mensurabler Rest der bürgerlichen Normativität kann die Existenz des Pöbels nicht nochmals durch das Recht reflektiert werden, sondern muss als konstitutiver Überschuss ausgeblendet werden. An dieser Inkommensurabilität und Widerspenstigkeit des Pöbels schei­ tert also der selbstreflexive Anspruch des bürgerlichen Rechts: Der Pöbel ist innerhalb des Rechts nicht nochmals rationalisierbar. Genau das macht ihn aber, wie argumentiert wurde, zum Ort einer alternativen Reflexion des Rechts in Form der Infragestellung und Kritik rechtlicher Ausschlüsse. Indem er als nicht-normalisierbares Subjekt den Punkt der Unmöglichkeit einer Selbstreflexion des Rechts markiert, ermöglicht der Pöbel zugleich eine radikalere Reflexion des Rechts im Modus der Kritik, nämlich der

289

Kapitel 5

grundlegenderen Kritik des Rechts als Dispositiv biopolitischer Ausschlüs­ se. Dadurch wird der Pöbel zum theoretischen Gegenbegriff im Verhältnis zum bürgerlichen Rechtssubjekt des Eigenwillens, das Menke beschreibt. Die Problematisierung des Pöbels als hartnäckiger und widersprüchlicher Effekt der Ausschließungsstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft führt über Menkes Begriff der Legalisierung des Eigenwillens von Rechtssubjek­ ten hinaus, indem sie beispielhaft die mit Foucault und Butler herausge­ stellte Dynamik der Illegalisierung der Ausgeschlossenen verdeutlicht. Im Verhältnis zum Pöbel verwandelt sich damit der Herrschaftscharakter des Rechts von einer Beherrschung durch Berechtigung hin zu einer Beherrschung durch Entrechtung. Diese Dimension rechtlicher Herrschaft und Unterdrückung ist in Menkes Heuristik jedoch nicht angemessen ra­ tionalisierbar. Es bedarf vielmehr der hier vorgeschlagenen biopolitischen Perspektive rechtlicher Ausschlüsse, um die illegalisierenden Funktions­ mechanismen des Rechts in den Blick zu bekommen. Ausgehend von dieser Diagnose ist es dann, wie erläutert, nur noch ein kleiner Schritt hin zu aktuellen Erscheinungsformen des Pöbels. Dabei habe ich die These aufgestellt, dass der Pöbel heute eine globale Gestalt angenommen hat, und zwar in der zeitgenössischen Figur undokumentierter Migranten und illegalisierter Flüchtlinge, deren fundamentale Rechte aufgehoben werden und die im Rahmen gegenwärtiger Grenzregime außerhalb des Rechts gestellt und als Rechtlose in Lager eingesperrt werden. Diese geflüchteten Menschen, die durch die Asyl- und Migrationspolitik herrschender Rechtssysteme entrechtet und zu Illegalen gemacht werden, stellen heut­ zutage eine paradigmatische Gestalt des Pöbels im Sinne eines radikal ausgeschlossenen, prekarisierten Subjekts dar, welches außerhalb von na­ tionalstaatlichen Gesellschaftssystemen und Rechtsordnungen zu leben ge­ zwungen ist. In diesem Zusammenhang habe ich zunächst aufgezeigt, inwiefern die politische Ausgrenzung und rechtliche Exklusion undokumentierter Mig­ ranten grundsätzlich mit der zentralen rechtlichen Unterscheidung zwi­ schen illegaler und legaler Migration zusammenhängt. Wie gesehen, findet diese Trennung zwischen illegalen und legalen Subjekten heutzutage im post- und neokolonialen Kontext globaler Strukturen statt, in deren Rah­ men die Grenzkontroll- und besonders die Grenzschließungsfunktionen europäischer Rechtsordnungen in drittstaatliche Rechtssysteme des Globa­ len Südens externalisiert werden. Dadurch werden nicht nur europäische Rechtsvorstellungen und Selektionsmaßstäbe in Ländern des Globalen Südens etabliert, sondern gleichzeitig ein imperialer bzw. neokolonialer Herrschaftsanspruch des Globalen Nordens über die gesellschaftlichen

290

Zwischenfazit

und politischen Systeme von Entwicklungsländern untermauert und ze­ mentiert, wodurch zugleich die rassistische Dimension der Illegalisierung des Natürlichen unterstrichen wird, die bereits im Kontext von Foucault diskutiert worden ist. Vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit entwickelten biopolitischen Perspektive habe ich die rechtliche Unterscheidung zwischen illegaler und legaler Migration als den spezifisch juridischen Ausdruck einer tieferlie­ genden biopolitischen Spaltung der Gesellschaft gelesen. Mit Butler und Foucault gesprochen: als Zäsur zwischen Innen und Außen, zwischen den lebendigen, betrauerbaren und wertvollen Leben der einen und den nicht­ lebendigen und daher als unbetrauerbar und wertlos betrachteten Leben der anderen. Wie gesehen, steht diese biopolitische Zäsur heute in einem globalen Kontext und lässt sich daher im besprochenen migrationspoliti­ schen Rahmen als die Trennung der eigenen, nationalstaatlichen und mit Rechten ausgestatteten Bevölkerung von der migrantischen, rassifizierten und vom Recht ausgeschlossenen Nicht-Bevölkerung reformulieren. Die­ se biopolitischen Aufteilungen und Exklusionen sollen in den folgenden Kapiteln weiter untersucht und exemplifiziert werden. Zu diesem Zweck möchte ich in den nächsten Reflexionsschritten zwei zentrale Ansätze der aktuellen biopolitischen Wissenschaftsdebatte diskutieren, nämlich zum einen die postkoloniale Position Achille Mbembes und zum anderen die soziologisch-sozialphilosophische Weiterentwicklung der Biopolitik bei Didier Fassin. Beide Positionen, so möchte ich zeigen, tragen auf jeweils unterschiedliche Weise etwas Neues in Bezug auf die Perspektive biopoliti­ scher Ausschließungen aus dem Recht bei und schärfen dadurch die hier vertretene Heuristik einer biopolitischen Kritik des modernen Rechts.

291

Kapitel 6

6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik Die in dieser Arbeit entwickelte biopolitische Perspektive der rechtlich Ausgeschlossenen nimmt das Faktum ernst, dass aktuelle Ausschlüsse aus dem Recht notwendig in einem globalen Zusammenhang stehen. Wäh­ rend Menkes Kritik der Rechte methodisch in erster Linie an der Politik subjektiver Rechte im bürgerlichen Verfassungsrahmen einzelner Natio­ nalstaaten ansetzt (vgl. Menke 2015, 317), zeichnen sich die im Rahmen dieser Studie in den Blick genommenen rechtlichen Exklusionsdynamiken demgegenüber durch ihre irreduzible globale Dimension aus, was gerade im Fall des Flüchtlings- und Migrationsdiskurses offen zutage liegt. Recht­ liche Praktiken von Ein- und Ausschluss, ob nun im nationalstaatlichen oder aber im internationalen Raum, sind im Kontext eines transnationalen Rechtspluralismus verortet (vgl. Buckel/Christensen/Fischer-Lescano 2020) und müssen dementsprechend stets im Zusammenwirken heterogener, teils miteinander in Konkurrenz, teils im Widerspruch stehender soziokul­ tureller Interpretationen und Konzeptualisierungen von Rechtssystemen begriffen werden. In der aktuellen rechtsphilosophischen Forschung ist an unterschied­ lichen Stellen und im Ausgang von verschiedenen Theorieansätzen auf die globale Dynamik gegenwärtiger Rechtsprozesse hingewiesen worden, u.a. von postkolonialer (vgl. Spivak 2008b; Pichl 2012; vgl. überblick­ haft Bönnemann/Pichl 2020) und antiimperialer Seite (vgl. überblickhaft Saage-Maaß/Terwindt 2020), aus neo-materialistischer (vgl. Buckel 2013) und menschenrechtlicher Perspektive (vgl. Kaleck 2018; Martinsen 2019) oder ausgehend von einer transnationalen Rechtskonzeption (vgl. FischerLescano 2013, 2018; Hanschmann/Wihl 2020). Diese vielfältige Debatten­ lage kann im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend abgebildet werden. Stattdessen soll paradigmatisch anhand der Lektüre eines der einflussreichsten postkolonialen Gegenwartsautoren die globale Dimension aktu­ eller rechtlicher Ausschlüsse diskutiert und speziell mit Blick auf ihre (post-)kolonialen Implikationen erarbeitet werden. Der Fokus liegt dabei auf dem spezifischen Beitrag der hier vorgeschlagenen biopolitischen Per­ spektive zur Einordnung und Kritik von globalen Exklusionen aus Rechts­ systemen, der im Folgenden in Auseinandersetzung mit dem ersten der

292

6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik

beiden zu diskutierenden biopolitischen Autoren ausgelotet werden soll, nämlich dem in Südafrika und in den USA lehrenden postkolonialen Denker Achille Mbembe, speziell mit dessen viel diskutierter Monografie Politik der Feindschaft (vgl. Mbembe 2017). Mbembes Ansatz zählt zu den derzeit wirkmächtigsten Ansätzen im Kontext der postkolonialen Tradition. Der Postkolonialismus zeichnet sich dabei als Forschungstradition v.a. durch die breite Vielfalt und Hetero­ genität der Ansätze und Theorien aus, die aus ganz unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftspolitischen Kontexten heraus die Kontinui­ täten und Vermächtnisse kolonialer Machtverhältnisse als Bestandteile unserer globalisierten Gegenwart kritisieren und dadurch Phänomene (welt-)gesellschaftlicher Unterdrückung und Ungleichheit als Folge und Aktualisierung kolonialer und imperialer Herrschaft diskutieren (vgl. zur Einführung Kerner 2012; Varela/Dhawan 2020). Zu den Ursprüngen post­ kolonialer Theoriebildung zählen v.a. Edward Saids klassisch gewordene Orientalismusstudien zur diskursiven Konstruktion des Orients als des radikal Anderen des Westens (vgl. Said 2009)90 sowie Gayatri Chakravorty Spivaks marxistisch-feministische Reflexionen über die postkoloniale Un­ terdrückung und Zerstörung der Sprechfähigkeit und Intelligibilität der Subalternen (vgl. Spivak 2008a) und Homi K. Bhabhas antiessentialistische Verortung der Kultur, in der Bhabha den hybriden, nichteinheitlichen Charakter kultureller Identität und die postkolonialen Bruchstellen kultu­ reller Differenz als möglichen Ort von Subversion und Widerstand thema­ tisiert (vgl. Bhabha 2000).91 90 In seinem Hauptwerk Orientalismus dekonstruiert Said unter Bezugnahme auf Foucaults Diskuranalyse und Gramscis Hegemonietheorie die Idee Europas als zentrales Element postkolonialer Herrschaft, welche den Orient als ihr kulturell rückständiges Gegenüber diskursiv hervorbringt und der als überlegen imaginier­ ten europäischen Kultur unterordnet: „Denn es ist die Hegemonie – oder besser die Auswirkung der kulturellen Hegemonie –, die dem Orientalismus seine Beständigkeit und Stärke verleiht, über die ich bislang gesprochen habe. Der Orientalismus ist nie weit von dem entfernt, was Denys Hay als die Idee Europas bezeichnet hat, mit der ‚wir‘ Europäer uns von all ‚jenen‘ Anderen abgrenzten, und in der Tat könnte man argumentieren, dass gerade das nach innen und außen wirksame Leitmotiv des Hegemonialen das Hauptmerkmal der europä­ ischen Kultur bildet: die Vorstellung einer allen anderen Völkern und Kulturen überlegenen europäischen Identität“ (Said 2009, 16). Der Orient erscheint so als kontingentes Produkt seiner wissenschaftlichen und narrativen Orientalisierung durch die westliche Imperialmacht, die hierin einem dichotomen Differenzdenken verhaftet bleibt. 91 Die skizzierte postkoloniale Theorietradition wird in der Forschungsliteratur oft von der Debatte zur Kolonisierung Süd- und Mittelamerikas unterschieden und

293

Kapitel 6

Neben dem Schriftsteller Aimé Césaire, einem der Mitbegründer und Hauptvertreter der literarischen Bewegung der Négritude, gehört besonders der auf Martinique geborene Psychiater und antikoloniale Denker Frantz Fanon zu Mbembes wichtigsten Referenzautoren. In seinen Arbeiten setzt sich Fanon neben der Thematisierung der antikolonialen Befreiungskämp­ fe und der radikalen Überwindung des kolonialen Rassismus stark mit den psychischen Dimensionen der kolonialen Erfahrung auseinander, und zwar auf Seiten der Kolonisierten ebenso wie der Kolonisierenden (vgl. Fanon 1981). Deren Verhältnis analysiert Fanon als umfassende Konstella­ tion einer reziproken, neurotischen Herrschaftsbeziehung, die v.a. über die Zuweisung und Internalisierung von Unter- und Überlegenheit anhand der jeweiligen Hautfarbe funktioniert (vgl. Fanon 2013). Mit der Bezugnahme auf ein zentrales Werk der postkolonialen For­ schung im Rahmen einer rechtskritischen Studie ist dabei zugleich ein theoriepolitisches Statement mit Blick auf die aktuelle Wissenschaftspraxis verbunden. Denn gerade im Fall der neueren deutschsprachigen Dis­ kussionsbeiträge fällt auf, dass in den rechtskritischen Konzeptionen der aktuellen Kritischen Theoriebildung die Rezeption post- bzw. dekolonia­ ler Ansätze noch immer eine zu stark untergeordnete Rolle spielt, und zwar auch bei Autorinnen und Autoren, die sich der kritischen Relevanz postkolonialer Forschung ausdrücklich bewusst sind (vgl. exemplarisch

abgegrenzt, die ihrerseits stark auf das Konzept der Dekolonisierung abstellt. Diese dekoloniale Debatte teilt jedoch zahlreiche entscheidende Motive mit der postkolonialen Theorie: Auch die dekoloniale Theorie zielt auf die Thematisie­ rung der „Kolonialität als konstitutives Moment der Moderne“ (Kerner 2012, 91) und rückt die Notwendigkeit einer Dekolonisierung und Provinzialisierung Europas als (post-)kolonialer bzw. globaler Hegemonie ins Zentrum. Zu den wichtigsten dekolonialen Autoren gehören u.a. Walter D. Mignolo, der in seinen Werken intensiv über Möglichkeiten epistemischen Ungehorsams nachgedacht hat (vgl. Mignolo 2012), Aníbal Quijano, dessen soziologisches Denken sich der Kolonialität und dem Eurozentrismus der Macht und deren Verflechtung mit dem Rassenbegriff (raza) widmet (vgl. Quijano 2019), sowie Enrique Dussel, der umfassend zum Begriff der Befreiung gearbeitet hat (vgl. Dussel 2000). Gerade Dussel steht paradigmatisch für ein Charakteristikum des lateinamerikanischen Diskurses, nämlich dessen immanente Verbindung mit der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die sich vor dem Horizont der Option für die Armen und der Politisierung theologischer Diskurse stark mit gesellschaftlichen Unterdrü­ ckungs- und Ungleichheitsstrukturen beschäftigt, die aus der Kolonialzeit in die Gegenwart hinein tradiert wurden (vgl. dazu beispielhaft Sobrino 2008). Dussel selbst versteht sich dabei sowohl als Befreiungstheologe als auch als Befreiungs­ philosoph (vgl. Dussel 1989).

294

6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik

Loick 2017a).92 Auch im Fall von Menkes Kritik der Rechte bleibt eine tiefergehende Auseinandersetzung mit postkolonialen Forschungssträngen aus. Obwohl bspw. im US-amerikanischen Kontext der jüngeren Vergan­ genheit verschiedene Verknüpfungsvorschläge von Kritischer Theorie und Postkolonialismus vorgelegt worden sind (vgl. McCarthy 2015; Allen 2019; dazu überblickhaft Dübgen 2017), steht die systematische Beschäftigung mit den immanenten Zusammenhängen und Verbindungslinien zwischen postkolonialer und Kritischer Theorie gerade in einem rechtsphilosophi­ schen Zusammenhang in vielerlei Hinsicht noch aus.93 Demgegenüber soll im Kontext des hier verfolgten Ansatzes die konsti­ tutive Bedeutung postkolonialen Denkens für das Projekt einer Rechtskri­ tik im Allgemeinen sowie für das Vorhaben einer biopolitischen Kritik rechtlicher Ausschlüsse im Speziellen hervorgehoben und gewürdigt wer­ den. Besonders angesichts aktueller globaler Herausforderungen durch den Klimawandel oder die Krise des Menschenrechtsregimes im Hinblick auf transnationale Migrations- und Fluchtbewegungen können zeitgenös­ sische Rechtskritiken, so die hier vertretene methodische Prämisse, ohne substanzielle Bezüge zur postkolonialen Theoriebildung keine umfassende und realistische Glaubwürdigkeit mehr beanspruchen. In Deutschland be­ ginnen Forscherinnen und Forscher allmählich mehr darüber zu diskutie­ ren, inwieweit sich auf konstruktive Weise Verbindungen zwischen der

92 In seiner 2017 erschienenen kritischen Rechtstheorie geht Daniel Loick nur an sehr vereinzelten Stellen näher auf das rechtskritische Denken postkolonialer Autorinnen und Autoren ein. Zur Einordnung muss jedoch differenzierend bemerkt werden, dass sich Loick gerade in jüngeren Arbeiten mit der Rolle rassismuskritischer, subalterner und dekolonialer Perspektiven für Fragen der praktischen Philosophie intensiv auseinandersetzt (vgl. Loick 2019; 2020a; vgl. speziell zur Rechtsphilosophie Loick 2021). Trotzdem bleibt aber insgesamt zu konstatieren, dass in vielen rechtskritischen und -philosophischen Entwürfen im Umfeld der Kritischen Theoriebildung die substanzielle Beschäftigung mit postund dekolonialer Forschung tendenziell noch immer einen blinden Fleck bildet. 93 Dem korrespondiert darüber hinaus die allgemeinere Diagnose, dass im deutsch­ sprachigen (praktisch-)philosophischen Diskurs die kritische Thematisierung von Rassismus bzw. Race weitestgehend eine Leerstelle darstellt (vgl. Lepold/Mateo 2019, 581). Neuerdings kommt die Debatte aber mehr in Bewegung, bspw. durch Tagungen und Workshops, die den Themenbereich des Rassismus und der Ver­ strickung der Philosophie in koloniale und rassistische Diskurse von einer rand­ ständigen Position stärker in die Mitte der Debatte rücken. Vgl. dazu beispielhaft die von Franziska Dübgen, Kristina Lepold und Marina Martinez Mateo organi­ sierte Tagung, die im Oktober 2022 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster unter dem Titel „Philosophie und Rassismus“ stattfand: https://philosop hieundrassismus.weebly.com/about.html (zugegriffen am 30. August 2021).

295

Kapitel 6

Kritischen Theorie Frankfurter Prägung einerseits und dem Postkolonia­ lismus andererseits herstellen lassen. Dabei geht es dann bspw. um die Frage, wie die Normen und Werte der Aufklärung dekolonisiert werden können, ohne diese dabei zugleich vollständig zu verabschieden. Das Prob­ lem, das sich dabei stellt, besteht darin, dass eine Kritik der Aufklärung oftmals dieselben Normen und Argumente in Anspruch nehmen muss, die sie gleichzeitig kritisiert, so dass diese Normen in einem Akt der ‚affirmativen Sabotage‘ gegen sich selbst und ihre rassistischen und kolonialen Befrachtungen gewendet werden müssen (vgl. Dhawan 2019, 197f.), „weil die okzidentale Grundlage des Denkens und der Moderne einerseits unver­ meidbar und andererseits begrenzt und gefährlich ist“ (Mignolo 2012, 67). Zu diesen kolonialen Befrachtungen gehören dann u.a. auch ein metho­ discher Nationalismus und Eurozentrismus, gegen die eine ausdrücklich globale Ausrichtung der Theorieperspektive in Stellung gebracht wird (vgl. Kerner 2018, 618ff.). Eine solche globale Erweiterung richtet sich dann u.a. auch kritisch gegen verschiedene Ansätze der liberalen Tradition, die mög­ lichst universale Prinzipien, Normen und Grundsätze der Gerechtigkeit zu begründen versuchen und hierfür methodisch am Nationalstaat ansetzen (vgl. überblickhaft Broszies/Hahn 2016; im Einzelnen Rawls 1975; 2002; Habermas 1998; Höffe 1999; Benhabib 2008).94 Der kritische Einspruch

94 Allerdings wird auch innerhalb der deliberativen Tradition darüber nachgedacht, wie eine Politik demokratischer Selbstbestimmung außerhalb eines methodi­ schen Nationalismus und den damit verbundenen Problemen und Ausschlüssen konzeptualisiert und gestaltet werden kann. Svenja Ahlhaus hat in ihrer kürz­ lich erschienen Monografie Die Grenzen des Demos zur demokratietheoretisch brisanten Frage gearbeitet, wie demokratische Partizipation sinnvoll gedacht werden kann angesichts der steigenden Anzahl von Menschen, die in Ländern und Regionen leben, ohne Teil der dortigen politischen Gemeinschaften zu sein (vgl. Ahlhaus 2020). Unter dem Stichwort der postsouveränen Mitgliedschaftspolitik vertritt Ahlhaus überzeugend die These, dass in Zeiten der Globalisierung neben den Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens auch Nichtmitglieder bzw. Nichtbürger an Mitgliedschaftsentscheidungen aktiv beteiligt werden soll­ ten, da sie oftmals unabhängig von ihrer (fehlenden) Zugehörigkeit von diesen Entscheidungen betroffen sind. Durch das Einbeziehen von Menschen, die nicht Teil des nationalstaatlich definierten Demos sind, wird der Tatsache Rechnung getragen, dass sich politische Ordnungen in einer globalisierten Welt nicht mehr allein als politisch, gesellschaftlich und territorial abgeschlossene Gemeinschaften verstehen können, sondern das Konzept des Demos auf diejenigen hin erweitern müssen, die außen vor bleiben und ausgeschlossen werden. Diese Argumentati­ on weist dabei eine theoretische Verwandtschaft zu früheren Ideen über die politische Erweiterung des Demos auf, etwa in Form des All-Affected-Principle im Rahmen der Diskussion zur demokratischen Repräsentation zukünftiger Ge­

296

6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik

gegen solche deliberativen oder kosmopolitischen Modelle lautet, dass die abstrakt-universalistische und nationalstaatlich orientierte Begründungslo­ gik dieser Theorien in zu hohem Maße blind für rassistische und euro­ zentrische Diskursstrukturen sind und dementsprechend den (post-)kolo­ nialen Machtasymmetrien in einer globalisierten Welt nicht angemessen Rechnung tragen. Hinzu kommt die Feststellung, dass der methodische In­ dividualismus als Grundlage vieler liberaler Theorieansätze den relationa­ len Charakter des Menschen und der Gesellschaft zu stark ausblendet und dementsprechend aus den Augen verliert, „inwiefern rassistisch fundierte Handlungsmuster unsere Lebenswelt konstituieren“ (Dübgen 2019, 622). Die kollektive Dimension rassistischer Praktiken, so die These, kommt in einer individualisierten Heuristik nur unzureichend in den Blick (vgl. ebd.).95 Außerdem lässt sich an Versuche einer Dekolonisierung bestehen­ der Institutionen wie der Polizei denken, die in historischer Perspektive die kolonialen Ursprünge der Polizei aufarbeiten und auf dieser Basis den strukturellen Rassismus innerhalb der Polizei und daraus resultierende Praktiken des racial profiling und der Polizeigewalt gegen rassistisch stig­ matisierte Minderheiten kritisieren (vgl. Loick 2018; darin speziell Fassin 2018b; Foucault 2018; Hadden 2018). Darüber hinaus sind in den vergangenen Jahren in Deutschland ver­ schiedene Beiträge entstanden, die sich explizit mit der Verbindung von postkolonialer Theorie und Rechtsphilosophie beschäftigen, wobei die in diesem Kontext vertretenen Ansätze aus Traditionen stammen, die mit der Kritischen Theorie verwandt sind. So setzt sich u.a. Sonja Buckel aus neo-materialistischer und hegemonietheoretischer Perspektive mit den Wi­ dersprüchen, Aporien und Ausschließungsmechanismen der europäischen Migrationskontrolle sowie den postkolonialen Implikationen aktueller eu­ ropäischer Grenzpolitik auseinander (vgl. Buckel 2013, 169–226), während nerationen (vgl. Goodin 2007), dem zufolge auch Menschen, die im Hier und Jetzt nicht unmittelbar an der demokratischen Repräsentation beteiligt werden können (etwa weil sie noch nicht geboren sind), nichtsdestotrotz stellvertretend repräsentiert werden müssen, da sie in der Zukunft von den Folgen gegenwärti­ ger politischer Entscheidungen betroffen sein werden. 95 In der Forschung wird in Bezug auf diese Ausblendung rassistischer Strukturen und Verhaltensweisen im Rahmen liberaler Theorien und Prinzipien kritisch von „‚race-blindness‘“ (Lepold/Mateo 2019, 580; vgl. Mills 1997, 77) gesprochen, die mit der von Charles W. Mills herausgearbeiteten „‚white ignorance‘“ (Lepold/Ma­ teo 2019, 577; vgl. Mills 1997, 18) korreliert, welche u.a. in dem Vorrecht weißer Menschen besteht, die rassistische Aufteilung der Gesellschaft als weiße Person nicht wahrnehmen zu müssen und den (ideologischen) rassenblinden Blick auf die Gesellschaft zu normalisieren.

297

Kapitel 6

Karina Theurer und Wolfgang Kaleck in der Tradition einer postkolonia­ len Kritik der Menschenrechte nach Möglichkeiten einer Dekolonisierung des globalen Menschenrechtsregimes fragen (vgl. Theurer/Kaleck 2020a). Im Zusammenhang ihrer Kritik der Idee der Strafe und des Strafrechts bezieht darüber hinaus Franziska Dübgen ausdrücklich postkoloniale Per­ spektiven sowie Impulse aus der Ubuntu-Philosophie ein, die auf die Pro­ blematisierung der Kategorie Race im Rahmen strafrechtlicher Praktiken abstellen (vgl. Dübgen 2016, 147–165).96 In der internationalen Debatte schließlich hat u.a. die in Berkeley lehrende Kritische Theoretikerin Sa­ mera Esmeir intensiv zu den Verflechtungen rechtsphilosophischer und postkolonialer Diskurselemente gearbeitet und sich dabei besonders mit der juridischen Konstitution des Menschlichen im Zuge des Kolonialismus und den damit verbundenen entmenschlichenden Dimensionen (post-)ko­ lonialer Rechtsdiskurse auseinandergesetzt (vgl. Esmeir 2006; 2012; 2015). Damit tragen Esmeirs Arbeiten entscheidend zur postkolonialen Neuaus­ richtung der Kritischen Theorie bei. Die postkoloniale Arbeit des in Kamerun geborenen Kultur- und Sozi­ alwissenschaftlers Achille Mbembe eignet sich für den Kontext einer bio­ politischen Kritik des modernen Rechts besonders deswegen, weil Mbem­ be selbst ausdrücklich an den Begriff der Biopolitik anschließt und ihn für den postkolonialen Diskurs weiterentwickelt. Mbembe hat in diesem Zusammenhang zwar keine direkten Beiträge rein zur Rechtsphilosophie veröffentlicht, aber die Kritik moderner Rechtsvorstellungen spielt an vie­ len Stellen seiner wichtigsten Studien eine große Rolle (vgl. exemplarisch Mbembe 2014; 2017). Besonders in seinem Werk Politik der Feindschaft hat sich Mbembe mit der Bedeutung des Rechts in Bezug auf die Geschichte und Gegenwart (post-)kolonialer Unterdrückung auseinandergesetzt. Dort ordnet er seine rechtskritischen Argumentationslinien in starkem Maße in die kritische Analyse postkolonialer Herrschaftsverhältnisse ein und bindet sie an diese zurück. Eine zentrale Rolle in den Arbeiten Mbembes spielt dabei das Konzept der Nekropolitik, das er bereits in seinen in der politisch-philosophischen Forschung breit diskutierten Aufsätzen On the Postcolony (Mbembe 2001) und Necropolitics (Mbembe 2003) entwickelt hat.

96 Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hat Dübgen die philosophische Konzep­ tion der Gerechtigkeit in den Horizont einer transnational und postkolonial gedachten Politik der Solidarität eingebettet und theoretisch weitergedacht (vgl. Dübgen 2014).

298

6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik

Im Begriff der Nekropolitik radikalisiert Mbembe nochmals Foucaults Konzeption der Biopolitik, besonders im Hinblick auf die darin enthaltene rassismuskritische Dimension. Nekropolitik bezeichnet Mbembe zufolge in Erweiterung von Foucault eine Macht- und Souveränitätskonzeption, in der Politik immer mehr als Form des Krieges und Terrors verstanden und auf die Vernichtung politischer Feinde gerichtet wird (vgl. Faets/Weber 2021, 335). Mit dem Konzept der Nekropolitik verschiebt Mbembe also noch einmal stärker den Fokus innerhalb des Analyserahmens der Biopoli­ tik von der Dimension des Lebens hin zur Dimension des Todes, „from the management of life to the management of death“ (Gebhardt 2020, 121). Das Plantagensystem kolonialer Sklavenhaltergesellschaften etwa bil­ det Mbembe zufolge in seiner Eigenschaft als „ein rechtsfreier Raum“ (Mbembe 2017, 40) einen paradigmatischen Ort der Tötung menschlichen Lebens im Rahmen nekropolitischer Machtformationen. Mit dieser post­ kolonialen Kontextualisierung des Biopolitischen leistet Mbembe „[e]ine entscheidende Dezentrierung der Biopolitikdebatte“, und zwar „indem er auf die transkontinentale Wirkmächtigkeit der Plantage und der Kolonie als verräumlichtem Rohmaterial souveräner Macht verweist, in der die Grenzen zwischen Leben und Tod verschwimmen“ (Pieper/Atzert/Karaka­ yali/Tsianos 2011a, 15). Mbembe verfolgt das Projekt einer postkolonial untermauerten Rechts­ kritik dabei im breiteren Kontext seiner Untersuchungen zur epistemi­ schen und diskursiven Gewalt kolonialer Machtverhältnisse, welche beson­ ders in Form rassistischer Differenzkonstruktionen bis in die globalisierte Gegenwart hinein reproduziert wird (vgl. Kerner 2012, 56).97 Insbesondere betont Mbembe hierbei, dass die scheinbare Fortschrittsgeschichte westli­ cher Demokratien und der damit verbundenen liberalen Rechtskonzeptio­ nen gleichzeitig mit der europäischen Konstruktion Afrikas als radikal Anderem im Rahmen kolonialer Unterwerfungs- und Entrechtungsprakti­ ken verknüpft war (vgl. einführend Faets/Weber 2021). Diese Formen des Othering beschreibt Mbembe als die diskursive Konstruktion eines spezifischen Rassensubjekts, die operativ zwischen unterschiedlichen Formen der Subjektivierung und Entsubjektivierung oszilliert: „Auf ein Rassensubjekt reduziert zu werden heißt sodann, noch stär­ ker in die Position des Anderen zu gelangen. Der Andere ist derje­ 97 Im deutschsprachigen Raum hat Claudia Brunner kürzlich den Begriff der episte­ mischen Gewalt im Hinblick auf koloniale Wissens- und Herrschaftsregime in der Moderne grundlegend analysiert und die damit verbundene aktuelle Debat­ tenlage in umfassender Weise systematisiert (vgl. Brunner 2020).

299

Kapitel 6

nige, der dem Anderen immer wieder beweisen muss, dass er ein Mitmensch ist und es verdient, als solcher behandelt zu werden; dass er, wie Fanon unablässig wiederholt, ‚ein Mensch wie die anderen‘, ‚ein Mensch unter anderen Menschen‘ ist, dass er wie wir und einer von uns sei. Der Andere zu sein heißt, sich stets in einer instabilen Position zu fühlen“ (Mbembe 2017, 147). Auf dieser kritischen Basis argumentiert Mbembe, dass das eindimen­ sionale Narrativ einer mit der fortschreitenden Moderne gleichzeitig zu­ nehmenden Verrechtlichung aus einem postkolonialen Blickwinkel aus­ drücklich infrage gestellt werden muss. Denn dem universalen Anspruch (menschen-)rechtlicher Normativität steht laut Mbembe die koloniale Im­ plementierung globaler Feindschaftsverhältnisse und Hassbeziehungen ge­ genüber, mittels derer die afrikanischen Kulturen innerhalb einer rassisch stigmatisierenden Hierarchie klassifiziert und auf einer minderwertigen Ebene des Menschlichen eingeordnet wurden (vgl. zur dekolonialen Kritik des Universalismus aus transnational-feministischer Perspektive exempla­ risch Khader 2019). „Man gibt vor, der republikanische Universalismus sei blind für die Rasse, schließt aber die Nichtweißen in ihre angebli­ che Herkunft ein und vermehrt unablässig die in Wirklichkeit rassifizierten Kategorien“ (Mbembe 2014, 23). Mbembe zufolge liegt damit dem gewaltförmigen Ausschluss Afrikas aus dem normativ-egalitären Bereich des Rechts der radikalere Ausschluss der afrikanischen Bevölkerung aus der Menschheit zugrunde. Diese exkludierenden Dynamiken des Rechts nimmt Mbembe in seiner Kritik der schwarzen Vernunft anhand einer kri­ tisch-genealogischen Analyse der Figur des ‚Negers‘ als dem spezifischen Rassensubjekt moderner westlicher Demokratien in den Blick (vgl. Mbem­ be 2014, 27–77; 81–110).98

98 Charles W. Mills hat in seinem aufsehenerregenden Werk The Racial Contract die philosophisch und geistesgeschichtlich wirkmächtige Tradition des Gesell­ schaftsvertrags prominent auf die ihr zugrunde liegenden rassistischen Denk- und Wissensstrukturen hin untersucht, die sozialontologisch zwischen Weißsein und Schwarzsein differenzieren. Das scheinbar rassenlose Sozialvertragsdenken der kontraktualistischen Tradition beruht Mills zufolge auf einer stillschweigenden Bejahung der tatsächlichen Rassifizierung des Sozialen, durch welche bestehende rassistische Machtverhältnisse, Asymmetrien und Hierarchien auf der theoreti­ schen Ebene unsichtbar gemacht und damit reproduziert und legitimiert werden. Demgegenüber hebt Mills die Gewaltstrukturen und Klassifizierungsmuster des von ihm sogenannten Racial Contract kritisch ins Bewusstsein, auf deren Basis die Leugnung rassistischer Ungleichheit und Herrschaft erst plausibel erscheinen kann. „Es ist ein Privileg und Zeichen von Whiteness, rassistische Verhältnisse

300

6.1 Achille Mbembe als postkolonialer Denker der Biopolitik

Mbembe geht dabei ähnlich wie Butler von einem grundsätzlich relatio­ nalen Verständnis des Sozialen aus, das er ausdrücklich auf die globale Ebene überträgt. In Opposition zu den kolonialen Praktiken und Strategi­ en des Rassismus, der ihm zufolge immer neue Differenzen setzt und darin die biologische oder kulturelle Andersheit zwischen den Menschen betont, entfaltet Mbembe in seinen Schriften (u.a. in Aufnahme von Gedanken Hannah Arendts) die Idee des Gemeinsamen im Sinne „einer menschli­ chen Gemeinschaft, einer einzigen Menschheit, einer wesenhaften Ähn­ lichkeit und Nähe zwischen den Menschen“ (Mbembe 2014, 315). Dabei wird er von der utopischen Frage angetrieben, „wie man frei von Rassen und Rassenherrschaft leben kann“ (Mbembe 2014, 314). Während der Ras­ sismus die Menschheit in verschiedene Menschenarten unterteilt, denen er einen jeweils unterschiedlichen Wert zuspricht, macht Mbembe gegen die koloniale Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden bzw. zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ die Vorstellung stark, dass das Verhältnis zu uns selbst immer schon über das Verhältnis zu anderen vermittelt ist (vgl. Mbembe 2014, 324). Ausgehend von dieser relationalen Idee entwickelt Mbembe sein antikoloniales Projekt einer „kommenden Welt“ (Mbembe 2014, 322), die ihm zufolge von den Prinzipien der ra­ dikalen Gleichheit aller Menschen und „der fundamentalen Einheit des Menschengeschlechts“ (ebd.) getragen wird. Immer wieder betont Mbembe dabei sein Grundmotiv, dass es nur eine Welt gibt, die allen Menschen gemeinsam ist und die sich daher alle miteinander teilen müssen (vgl. exemplarisch Mbembe 2014, 326). Dies tut er explizit vor dem aktuellen Hintergrund der Globalisierung, indem er von einem „unumkehrbaren Prozess der Verquickung und Verschachte­ lung der Kulturen, Völker und Nationen“ (Mbembe 2014, 330) ausgeht. In Politik der Feindschaft stellt Mbembe mit Nachdruck klar, dass es im gegenwärtigen globalen Zeitalter kein einzelnes kulturelles oder geografisches Zentrum mehr geben kann (vgl. Mbembe 2017, 116), da man in der heutigen global vernetzten Weltgesellschaft „‚Welt‘ im Plural deklinieren“ (Mbembe 2017, 116f.) muss. Und da die vielen unterschiedlichen Teile, Regionen und Kulturen immer mehr zu einer wesentlich pluralen und globalisierten Weltgesellschaft zusammenwachsen, gibt es Mbembe zufol­

auszublenden“ (Dübgen 2019, 622). Damit stellt Mills den fundamentalen Stel­ lenwert der Kategorie der Rasse (Race) für die politische Philosophie des Kontrak­ tualismus heraus, mit deren Hilfe die weiße Vorherrschaft (white supremacy) in einer globalen Dimension hergestellt wurde und bis heute reproduziert wird (vgl. Mills 1997).

301

Kapitel 6

ge in der heutigen Welt auch „kein ‚außen‘, kein ‚anderswo‘, kein ‚nah‘, die man einem ‚innen‘, einem ‚hier‘ oder einem ‚fern‘ gegenüberstellen könnte“ (Mbembe 2017, 77). Mit dieser Betonung der Pluralität und Relationalität einer global zu­ sammenrückenden Menschheit unterscheidet Mbembe sein Theoriemo­ dell bewusst von nationalstaatlichen und partikularistischen Herangehens­ weisen, in denen zwischen einem Innen und einem Außen differenziert und das normative Prinzip der Gleichheit oftmals nur auf das Innere der eigenen Rechtsgemeinschaft hin gedacht wird. Mit Blick auf aktuelle Kriege und den globalen Terrorismus spricht Mbembe hierbei von der „Schaffung einer von Beziehungen freien Welt“ (Mbembe 2017, 76), in der die Pluralität der menschlichen Beziehungen immer stärker negiert und durch eine „Beziehung ohne Begehren“ (Mbembe 2017, 65), bspw. im Kon­ text heutiger Identitätspolitik, Xenophobie oder Islamfeindlichkeit, ersetzt wird. 6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts Dem visionären und utopischen Projekt einer vielfältigen und interkul­ turell immer stärker verflochtenen Weltgesellschaft geht daher Mbembe zufolge notwendig die fundamentale Kritik und der Abbau rassistischer Gewaltstrukturen und postkolonialer Denkmuster voraus. Denn der von ihm hervorgehobenen globalen Relationalität steht infolge der jahrhun­ dertelangen kolonialen Aufteilung der Welt in Zentren und Peripherien und der damit einhergehenden imperialen Unterwerfung des Globalen Südens durch den Globalen Norden aktuell eine politische Praxis der Feindschaft und der Trennung entgegen, die Mbembe in ihren nekropo­ litischen Dimensionen in einer teils drastischen Sprache herausarbeitet. Die Ökonomie und Politik der Feindschaft bezeichnet Mbembe dabei als „den Nerv der liberalen Demokratien“ (Mbembe 2017, 121), womit er sämtliche Spielarten von Fortschrittsmodellen innerhalb der Demokratie­ theorie einer grundlegenden Kritik unterzieht und verabschiedet. Dem Modell der modernen liberalen Demokratie unterstellt er vielmehr eine grundsätzliche Komplizenschaft mit verschiedenen Formen von (post-)ko­ lonialem Rassismus, da die Demokratie historisch betrachtet zu keinem Zeitpunkt unvereinbar mit der Praxis der Sklaverei, des Rassismus und der kolonialen Unterdrückung großer Teile der Menschheit gewesen sei: „Letztlich gibt es liberale Demokratien also gar nicht ohne diesen Zusatz an Servilem und Rassischem, an Kolonialem und Imperialen. Charakteris­

302

6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts

tisch für die liberale Demokratie ist gerade diese schon am Anfang erfol­ gende Spaltung“ (Mbembe 2017, 121). Die demokratische Politik gründet sich demnach von Beginn an, so argumentiert Mbembe, auf einer konstitutiven Spaltung zwischen Mitglie­ dern und Nicht-Mitgliedern eines demokratischen Gemeinwesens. Diese Spaltung verändert zwar über die Epochen hinweg ihren jeweiligen Inhalt und ihre Adressaten – der Form nach bleibt sie Mbembe zufolge nichtsdes­ totrotz eine (rassistische) Trennlinie zwischen uns und den Anderen: „Da die eigentlich erforderliche Spaltung der Gesellschaft in Herren und Sklaven sich aufgelöst hat, sind die liberalen Demokratien unserer Zeit für ihr Überleben angewiesen auf die Spaltung in Gleiche und Nichtgleiche oder auch in Freunde bzw. ‚Verbündete‘ und Feinde der Zivilisation. Ohne Feinde haben sie Schwierigkeiten, sich allein aufrecht zu halten“ (Mbembe 2017, 100). Den Gedanken einer Gleichartigkeit der Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft sieht Mbembe also von vornherein an exkludierende Figuren der Aufteilung und Abtrennung gebunden. Gleichheit innerhalb einer po­ litischen Gemeinschaft setzt in dieser Logik die Abschließung gegenüber dem Ungleichen voraus. Aus diesem Grund bestimmt Mbembe die mo­ dernen Demokratien als „Gemeinschaften von Gleichartigen und daher (…) auf Trennung ausgerichtete Kreise“ (Mbembe 2017, 81). Während das von Mbembe imaginierte Gemeinsame der globalen Weltgesellschaft ein Verhältnis umfassender und gemeinschaftlich geteilter Partizipation aller an einer einzigen Welt beinhaltet (vgl. Mbembe 2017, 77f.), wird politische Zugehörigkeit im Rahmen gegenwärtiger Demokratien entlang der nekropolitischen Aufspaltung der Weltbevölkerung in Freunde und Feinde, „Einheimische und Fremde“ (Mbembe 2017, 119) jeweils selektiv zugeteilt oder vorenthalten. Asylsuchende und Migranten erscheinen als Eindringlinge, „die eigentlich nicht hier sein sollten“ (Mbembe 2017, 116). Dadurch wird die biopolitische Unterscheidung zwischen Innen und Au­ ßen in ihren rassistischen Elementen radikalisiert und in ein politisches Vokabular der offenen Feindschaft und der Bekämpfung des Anderen übersetzt, welcher, wie Mbembe in kritischer Auseinandersetzung mit Carl Schmitt herausstellt, als ein gegenüber der Demokratie existenziell bedrohlicher Feind konstruiert wird (vgl. Mbembe 2017, 93f.). Mbembe bezeichnet diese nekropolitische Dimension im Herzen liberal-demokrati­ scher Politik als „Terror der Demokratien“, den er „vor allem im kolonia­ len und postkolonialen Kontext“ verortet (Mbembe 2017, 124).

303

Kapitel 6

Mit der Einführung dieser nekropolitischen Perspektive unterfüttert Mbembe die im Anschluss an Foucault und Butler erarbeitete biopoliti­ sche Heuristik durch historisch-kritische Analysen der Zerstörung rassifizierter Lebensformen im Rahmen kolonialer Gewaltregime und denkt da­ rin die von Foucault diskutierte biopolitische Zäsur der Bevölkerung mit Blick auf das postkoloniale Paradigma systematisch weiter (vgl. Mbembe 2017, 132). Dies ist gerade insofern innovativ, als Foucault selbst seine Analysen zur Verhältnisbestimmung von Biopolitik und Rassismus nie­ mals in Bezug auf deren spezifische Implikationen und Potenziale für ein mögliches postkoloniales Untersuchungsprogramm konkretisiert hat (vgl. Stoler 1995, vii-ix). Dabei nimmt Mbembe Foucaults Formulierung ernst, derzufolge der biopolitische Rassismus zwischen denen unterscheidet, die leben, und denen, die sterben müssen, indem er in gleichzeitiger Erweite­ rung von Foucault die fundamentale Verbindung von Rassismus und Ko­ lonialismus, primär im Anschluss an das Denken Frantz Fanons, als heuris­ tische Brücke für ein aktuelles Verständnis des Biopolitischen hervorhebt. Denn Mbembe zufolge kann der moderne Rassismus philosophisch nicht unabhängig von seiner historischen Verflechtung mit den Diskursen des Kolonialismus und des Imperialismus auf den Begriff gebracht werden, so dass die Kritik rassistischer Gesellschaftsstrukturen, gerade auch mit Blick auf die Diskurse des modernen Rechts, konstitutiv auf einen postkolonial geschärften Blickwinkel angewiesen ist. Die vielfältigen Formen kolonialer Gewalt und Zerstörung, etwa in Ge­ stalt von Massakern, Vertreibungen und Deportationen, Einsperrungen in Lagern, Ausrottungskriegen und Völkermorden, identifiziert Mbembe vor dem Horizont seines postkolonialen Theoriansatzes als Ausdrucksformen nekropolitischer Machtausübung, „zu deren Kennzeichen die Produktion von Tod in großem Maßstab gehört“ (Mbembe 2017, 66). Die biopoliti­ sche Unterscheidung zwischen den wertvollen, öffentlich betrauerbaren und den wertlosen, unbetrauerbaren Leben, in der Butler die sozialonto­ logische Grundlage für die Zuerkennung bzw. den Vorenthalt von Rech­ ten ausmacht, thematisiert Mbembe damit auf einer explizit globalen Ebene als die Unterteilung der modernen Welt in (ethnisch) überlegene und zivilisierte Völker einerseits und unterlegene und rassifizierte, als nutzlos, schädlich und überflüssig betrachtete Völker andererseits (vgl. Mbembe 2017, 137). Die biopolitische Zäsur zwischen Leben und Nicht­ leben rekonstruiert Mbembe somit ausdrücklich als die Aufspaltung der Weltgesellschaft in kolonisierende und kolonisierte Völker. Gleichzeitig weist er darin noch stärker als Butler auf die nekropolitischen Elemente und Extremformen der biopolitischen Macht in Gestalt der organisierten

304

6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts

und kriegerischen Auslöschung sowie öffentlich akzeptierten Tötung von minderwertig oder nichtlebendig betrachteten menschlichen Leben hin, indem er auf radikale Weise die historischen wie aktuellen Vernichtungs­ dimensionen des demokratischen Terrors in Bezug auf diskriminierte und marginalisierte Gruppen untersucht. Dieser Terror besteht für Mbembe primär darin, dass die im Rahmen von modernen Demokratien produzierten Konflikte, Ungleichheiten und Formen der Gewalt in „ferne oder ausgelagerte, rassisch stigmatisierte Or­ te“ (Mbembe 2017, 66) der globalen Welt externalisiert werden, deren Bewohner zuvor rassistisch markiert und abgewertet und auf diese Weise aus dem Bereich der Menschheit im Sinne einer aus gleichberechtigten Anteilen zusammengesetzten menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen worden sind. Dabei unterstreicht Mbembe noch einmal mit besonderem Nachdruck die bereits in Foucaults Formulierungen enthaltene Dimensi­ on einer unter biopolitischen Vorzeichen modifizierten, aber dennoch unvermindert wirksamen Tötungsfunktion der souveränen Macht, indem er die koloniale Praxis der gezielten Tötung und Zerstörung menschli­ cher Leben etwa im Kontext von Eroberungskriegen und ethnischen Säuberungen als Folge und elementare Äußerungsform nekropolitischer Machtstrukturen interpretiert. Die innere Dynamik dieser Nekropolitik artikuliert Mbembe in teils sehr eindrücklichen und drastischen Formulie­ rungen, was anhand der folgenden Passage beispielhaft deutlich wird: „In diesen mehr oder weniger mobilen Formen der Verwaltung des Terrors besteht Souveränität in der Fähigkeit, massenhaft Menschen zu fabrizieren, deren Hauptmerkmal darin besteht, dass sie am Rande des Lebens oder auf dem äußeren Rand des Lebens leben – Menschen, für die Leben eine beständige Auseinandersetzung mit dem Tod bedeutet“ (Mbembe 2017, 73). Hierbei wird gleichzeitig sichtbar, dass Mbembe in der Systematisierung seiner Idee der Nekropolitik einen biopolitischen Lebens- bzw. Todesbe­ griff verwendet, der konzeptuell auf einer Linie mit dem in Anschluss an Foucault und Butler entwickelten Verständnis der Biopolitik als sozialon­ tologischer Ungleichbewertung menschlicher Leben liegt. So formuliert Mbembe seine gesellschaftskritischen Beschreibungen der rassifizierten, den nekropolitischen Zerstörungsmechanismen ausgelieferten Lebensfor­ men mithilfe eines biopolitischen Vokabulars, das strukturanalog zu But­ lers und Foucaults Theorieansätzen auf die diskursive Abwertung und Entmenschlichung bestimmter Leben fokussiert. Das marginalisierte Le­

305

Kapitel 6

ben, das zum Gegenstand nekropolitischer Maßnahmen und Operationen gemacht wird, erläutert Mbembe dabei folgendermaßen: „Ein überflüssiges Leben also, dessen Preis so niedrig ist, dass dieses Leben keinerlei Marktwert und erst recht keinen eigenen menschli­ chen Wert besitzt; jene Art von Leben, dessen Wert außerhalb der Ökonomie liegt und dessen Äquivalent allein in der Art von Tod liegt, den man ihm zufügen kann. In aller Regel handelt es sich um einen Tod, auf den zu reagieren niemand sich verpflichtet fühlt. Niemand empfindet gegenüber dieser Art von Leben oder dieser Art von Tod irgendein Gefühl der Verantwortung oder der Gerechtigkeit“ (ebd.). In diesem von Mbembe beschriebenen überflüssigen und entmenschlich­ ten Leben klingt erneut die Dimension der Entrechtung und Prekarisie­ rung des Pöbels an.99 Die beschriebenen postkolonialen Formen nekro­ politischer Gewalt untersucht Mbembe dabei zwar mit einem primären Fokus auf Afrika und die koloniale Unterwerfung und genozidale Ver­ nichtung afrikanischer Völker. Dabei ist jedoch wichtig zu betonen, dass Mbembe mit Blick auf die gegenwärtige Struktur des Rassismus vom „Schwarzwerden der Welt“ (Mbembe 2014, 23) spricht. Damit ist gemeint, dass die Kategorie der Rasse in aktuellen Gesellschaften nicht mehr not­ wendig an biologisch-essentialistische Signifikanten wie die Hautfarbe gebunden ist, sondern im Sinne eines „‚Rassismus ohne Rassen‘“ (ebd.) immer mehr auf kulturelle und religiöse Differenzen bezogen wird. Da­ durch werden neue und erweiterte Formen rassistischer Diskriminierung erzeugt: Schwarzsein wird als Kategorie rassistischer Stigmatisierung ten­ denziell von biologischen Merkmalen losgelöst und diskursiv auf „die ganze subalterne Menschheit“ (ebd.) angewendet, wodurch, wie bereits 99 Tatsächlich kennzeichnet Mbembe diejenigen, deren Leben für den globalen ka­ pitalistischen Verwertungsprozess bedeutungslos und überflüssig geworden sind, auf eine Weise, die der Begriffsstruktur des Pöbels analog ist: „Es gibt nun keine Arbeitenden als solche mehr. Es gibt nur noch Arbeitsnomaden. Während es ges­ tern noch die Tragödie des Subjekts war, vom Kapital ausgebeutet zu werden, ist es heute die Tragödie der Vielen, nicht mehr ausgebeutet werden zu können und einer ‚überflüssigen Menschheit‘ zugewiesen zu werden, die aufgegeben und vom Kapital für sein Funktionieren kaum noch gebraucht wird“ (Mbembe 2014, 16). Indem er mit seiner Formulierung das Subjekt von ‚den Vielen‘ abgrenzt, unter­ streicht Mbembe noch einmal den entsubjektivierenden Charakter der Macht, welche „unter der Ägide des Neoliberalismus“ (Mbembe 2014, 15) eine anonyme Masse von undokumentierten Arbeitsmigranten und -nomaden hervorbringt, die vom gesicherten Status des (Rechts-)Subjekts abgetrennt und als Illegalisierte entrechtet werden.

306

6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts

zitiert, „die in Wirklichkeit rassifizierten Kategorien“ (ebd.) gleichzeitig verschleiert werden. Vor diesem Hintergrund spiegelt sich die nekropolitische Zerstörungs­ kraft der liberalen Demokratie aktuell in der Gefährdung, Vernachlässi­ gung, Entrechtung und Tötung von Vertriebenen und Geflüchteten, ras­ sistisch Ausgegrenzten und Verfolgten unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe wider, und zwar dezidiert in einem globalen Maßstab. Mbembe richtet seine postkoloniale Kritik deshalb in erster Linie auf die nekropoli­ tische Wirksamkeit „des Staatsapparats, der mit allen Mitteln Klandestine und Illegale produziert; der den Abschaum an den Rändern der Städte ablädt wie einen Haufen unbrauchbarer Objekte; der die Zahl der Sans-Pa­ piers unablässig vervielfacht“ (Mbembe 2017, 110). Die „Zugewanderten“ (Mbembe 2017, 106), Fremden, Migranten und Ausländer repräsentieren heute die neuen schwarzen Rassensubjekte. Als solche fallen diese Grup­ pen der nekropolitischen Rationalität heutiger Grenzregime zum Opfer, deren Gewalt u.a. darin zum Ausdruck kommt, dass Menschen ohne Pa­ piere oftmals in Herkunftsländer abgeschoben werden, in denen ihnen tödliche Gefahren drohen, aber auch darin, dass das Ertrinken von Flücht­ lingen im Mittelmeer bspw. von Frontex absichtlich nicht verhindert wird (vgl. Gebhardt 2020, 129–134). Bei der nekropolitischen Gewalt aktueller Migrations- und Grenzpolitiken „geht es daher weniger darum, die Men­ schen zu unterdrücken und zu disziplinieren, als darum, entweder massen­ haft oder in kleinen Dosen zu töten“ (Mbembe 2017, 69). Diesen letalen Aspekt der nekropolitischen Macht nicht zu beschönigen oder abzumil­ dern, sondern als aktuelle politische Praxis der Vernichtung und Tötung von Menschen zu benennen und anzuprangern, gehört wesentlich zum kritischen Grundanliegen von Mbembes postkolonialem Ansatz und ist für das Verständnis seiner Theorie unerlässlich (vgl. dazu Gebhardt 2021). In diesem Rahmen betont Mbembe ausdrücklich, dass der von gegen­ wärtigen Demokratien ausgehende Terror mit dem strukturellen Rückbau und der systematischen Aushöhlung rechtlicher Institutionen einhergeht (vgl. Faets/Weber 2021, 340f.), und zwar speziell im Hinblick auf den politischen Umgang mit den verschiedenen Figuren des von ihm charakte­ risierten modernen Rassensubjekts. In seiner Kritik des Rechts legt Mbem­ be dementsprechend seinen Schwerpunkt auf die Reflexion des Verhält­ nisses von Rechtsstrukturen und Nekropolitik. So hält er dem bis heute oftmals hegemonialen Narrativ eines historisch immer umfangreicheren Inklusionsprozesses von ehemals rechtlosen Subjekten und Gruppen in den Bereich des Rechts (bspw. bezüglich des Wahlrechts für Arbeiter, Frauen oder People of Color im Rahmen von Bürgerrechtsbewegungen) die

307

Kapitel 6

gleichzeitige und massive Exklusion von unterschiedlichen Gruppen oder ganzen Völkern aus dem Recht sowie das Vorenthalten eines Rechtsstatus gegenüber subalternen Bevölkerungen bis zum heutigen Zeitpunkt entge­ gen. Solche Strategien der Verweigerung und des Vorenthalts von Rechten sind dabei nach Mbembe nicht nur in den meisten Fällen rassistisch moti­ viert, sondern entstehen darüber hinaus aus dem nekropolitischen Streben nach dem physischen Tod des Anderen und einem damit verknüpften „signifikanten Wiederanstieg der akzeptablen Formen und Niveaus der Gewalt, die man gegen die Schwachen, gegen Feinde und gegen Eindring­ linge (all jene, die unseres Erachtens nicht zu uns gehören) einsetzen darf (oder sollte)“ (Mbembe 2017, 102). Nekropolitische Dispositive zeichnen sich also dadurch aus, dass sie die Subalternen zu politischen Feinden stilisieren, um ihnen auf dieser feind­ schaftlichen Basis „alle erworbenen Rechte zu nehmen“ (Mbembe 2017, 109) und auf antagonistische Weise den Rechtsstatus eines Mitbürgers abzusprechen. Mit seiner nekropolitischen Rechtskritik setzt sich Mbem­ be demnach scharf gegenüber dem auch noch bei Menke vorausgesetz­ ten egalitären Rechtsbegriff ab. Die Kritik der rechtlichen Dialektik von Beherrschung und Berechtigung, die Menke mit Blick auf die ideologi­ schen Implikationen und pathologischen Elemente der naturalisierenden Legalisierungsdynamik subjektiver Rechte herausarbeitet, geht ja von der Annahme eines tatsächlich existierenden universalen Gleichheitsprinzips aus, das im Inneren des modernen Rechts wirksam ist und das daher als Kontrastfolie für die rechtlich hervorgebrachten Herrschaftseffekte und Ungleichheitsstrukturen in der bürgerlichen Gesellschaft dienen kann. Mbembes nekropolitische Perspektive unterscheidet sich jedoch von dieser Herangehensweise grundsätzlich dadurch, dass sie bereits das Vorhanden­ sein und Funktionieren eines solchen juridischen Egalitarismus radikal infrage stellt und stattdessen die Phänomene kolonialer und postkolonia­ ler Unterdrückung, Gewaltanwendung, Zerstörung und Tötung in den Blick nimmt, die dem universellen Anspruch der modernen rechtlichen Normativität fundamental widersprechen und laut Mbembe die westliche Idee des auf Universalität und politische Partizipation hin angelegten de­ mokratischen Rechtsstaats in eine grundlegende Krise stürzen. Selbstverständlich ist sich auch Menke darüber im Klaren, dass sich De­ mokratien als politische Ordnungssysteme stets gegenüber einem konstitu­ tiven Außen gründen, dessen Ausschließung sie nicht nochmals reflektieren können. Dies spiegelt sich schließlich in Menkes Recht-Nichtrecht-Un­ terscheidung wider. Doch im Unterschied zu Menke begreift Mbembe die­ ses konstitutive Paradox der Demokratie nicht allein als ein begrifflich not­

308

6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts

wendiges und somit in gewisser Weise neutrales Strukturproblem demo­ kratischer Staaten in Gestalt der gewaltförmigen Ausschließung des radikal Nichtdemokratischen. Mbembe zufolge ist die politische Abschließung moderner Demokratien gegenüber ihrer Außenseite als eines radikal Ande­ ren in einer nekropolitischen Hinsicht vielmehr mit dem bewussten politi­ schen Willen und einer leidenschaftlichen Absicht zur Bekämpfung und Vernichtung der innerhalb von kolonialen und neokolonialen Diskursen konstruierten Feinde der Demokratie verbunden. Dieses Feindschaftsband betrachtet Mbembe dabei nicht einfach als einen Kollateraleffekt im Zuge der Gründung eines politischen Gemeinwesens, sondern als das politische Produkt psychischer Investitionen in ein kulturell und gesellschaftlich ge­ teiltes Feindbild, das aktiv durch rassistische (Ent-)Subjektivierungsweisen und Anerkennungsregime aufrechterhalten werden muss. Die Feindschaft der Demokratie gegenüber ihren Rassensubjekten bedarf also einer fortlau­ fenden kollektiven Anstrengung und affektiven Mobilisierung. „Der Rassismus bildet in hohem Maße die Triebkraft hinter dem ne­ kropolitischen Prinzip, insofern damit organisierte Zerstörung auf der Grundlage einer Opferökonomie gemeint ist, die eine allgemeine Ent­ wertung des Lebens und eine Gewöhnung an den Verlust voraussetzt“ (Mbembe 2017, 74). Anhand dieser nekropolitischen Ökonomie der Entwertung und Vernich­ tung rassifizierten menschlichen Lebens demonstriert Mbembe paradigma­ tisch die Inkohärenz und Widersprüchlichkeit des universellen liberalen Rechtsbegriffs, indem er argumentiert, dass die Universalität rechtlicher Normen seit Beginn der Kolonialzeit nur innerhalb der nach außen hin einerseits abgeschlossenen und andererseits imperial expandierenden und unterwerfenden Metropolen Anwendung finden konnte. Die Universalität des Rechts beruht also paradoxerweise auf der Partikularisierung und Frag­ mentierung seines eigenen Geltungsbereichs und ist aus diesem Grund nicht nur mit der Illegalisierung subalterner Rassensubjekte vereinbar, sondern steht nach Mbembe in einem konstitutiven Abhängigkeitsverhält­ nis zur rassistischen Ausschließung und Tötung ebendieser Rassensubjekte im Kontext der Nekropolitik. Damit verweist Mbembe auf die fundamentale Kolonialität der biopoli­ tischen Macht (vgl. Hardt/Negri 2010, 89–94) und deren nekropolitische Einbettung in zivilgesellschaftliche und staatliche Zerstörungskräfte und dechiffriert auf dieser Basis zugleich den liberalen Rechtsbegriff in seiner (post-)kolonialen Struktur. Diese Kolonialität der Biopolitik, auf deren Grundlage Mbembe seine Konzeption der Nekropolitik erst entwickelt

309

Kapitel 6

und die ihm zufolge immer schon die modernen Diskurse des Rechts und der Demokratie infiltriert und darum auf genuine Weise auszeichnet, exemplifiziert er bspw. anhand der begrifflichen Gespaltenheit des moder­ nen Rechts und dessen integralen kolonialen Abstufungen gemäß rassisti­ scher Bewertungsschemata, anhand derer die jeweiligen Adressaten eines innerlich pluralisierten und heterogenen Rechtskonzepts unterteilt und voneinander getrennt werden: „Im Blick auf das Problem, das uns hier beschäftigt, nämlich den Terror der Demokratien vor allem im kolonialen und postkolonialen Kontext, lohnt es, im Gedächtnis zu behalten, dass im europäischen Denken ursprünglich mehrere Formen von Recht unterschieden wur­ den. Als Attribut des Handelns verstanden, wurde Recht unterteilt in ein Recht der Überlegenen und ein Recht zwischen Gleichgestellten; in ein naturgegebenes und ein von Menschen geschaffenes Recht (zu dem wiederum das ius civile und das ius gentium gehörten), in ein universelles und ein partikulares Recht“ (Mbembe 2017, 124). Entgegen der offiziell vertretenen Universalität liberaler oder naturrechtli­ cher Rechtsverständnisse und erst recht im Widerspruch zur Konzeption universell geltender Menschenrechte spiegelt sich die nekropolitische Auf­ teilung der globalen Welt in ethnisch vermeintlich über- und unterlegene Völker im Herzen des westlichen Rechtsdenkens wider. Diese These steht dabei im Einklang mit aktuellen Ansätzen der dekolonialen Rechtskritik, in denen die vielfältigen Formen kolonialer Gewalt in ihren sozialen, po­ litischen, kulturellen und epistemischen Dimensionen beleuchtet und in ihrer immanenten Verbindung mit kolonialen und postkolonialen Rechts­ praktiken kritisch reflektiert werden (vgl. exemplarisch für den deutschen Kontext Hanschmann 2012).100 Vor diesem Horizont wird auch in der dekolonialen Rechtskritik hervorgehoben, dass etwa in der deutschen Ko­ lonialgeschichte „ein auf rassistischer Exklusion basierendes rechtspluralis­ tisches System eingeführt“ (Theurer/Kaleck 2020b, 14) wurde, innerhalb dessen zwischen verschiedenen und voneinander getrennten Rechtsfor­ men unterschieden wurde: „Einerseits gab es Recht, das für der deutschen Hoheitsgewalt unterworfene ‚weiße‘ Menschen galt, und andererseits gab es Recht, das für der deutschen Hoheitsgewalt unterworfene ‚nichtweiße‘ Menschen galt“ (ebd.). Dadurch konnten gewaltsam entrechtende und ausschließende Rechtspraktiken, die an der Normativität des Rechts ge­ messen eigentlich als Unrecht hätten gelten müssen, „formell legitimiert 100 Für diesen Literaturhinweis danke ich ausdrücklich Franziska Dübgen.

310

6.2 Mbembes Konzeption der Nekropolitik und die Kritik des Rechts

und als Unrecht ‚unsichtbar‘“ (Theurer/Kaleck 2020b, 12) gemacht wer­ den. Mbembe entschlüsselt somit den modernen Rechtsbegriff im Hinblick auf seinen postkolonialen Ungleichheitscharakter und dekonstruiert auf radikale Weise den Gleichheitsanspruch der rechtlichen Normativität, in­ dem er kritisch aufzeigt, inwiefern das moderne rechtliche Gleichheits­ ideal von Beginn an auf das kulturelle Phantasma eines rassisch und zivilisatorisch dominanten Europas als des primären weltgeschichtlichen Subjekts begrenzt war und an die Unterordnung und Tötung des rassisch identifizierten Anderen gebunden wurde. Rechtliche Diskurse erscheinen also auch in Mbembes nekropolitischer Heuristik in ihrer fundamentalen Rückbindung an umfassendere gesellschaftliche Kräfte, die das Leben von Menschen innerhalb wie außerhalb einer Rechtsgemeinschaft auf biopoli­ tische Weise ungleich qualifizieren und dadurch die Zuerkennung von Rechten selektiv verteilen und Rechtssubjektivität differenziell staffeln. Indem demokratische Rechtsstaaten im Rahmen rassistischer Dispositive zwischen Gleichen und Nichtgleichen unterscheiden, produzieren sie Ent­ rechtungen nach außen hin und schaffen in historischer wie auch in ak­ tueller Hinsicht aktiv illegalisierte und dadurch aus der metropolitanen Rechtsgemeinschaft ausgeschlossene Subjektpositionen, „die auf die eine oder andere Weise als Fremde oder Ausländer oder als unerwünschte, überflüssige Menschengruppe galten, die man am liebsten hätte loswerden wollen und die deshalb ‚in irgendeiner Form ganz oder halb entrechtet‘ waren“ (Mbembe 2017, 81). Mbembes postkoloniale Perspektive trägt also Entscheidendes für das theoretische Programm einer biopolitischen Rechtskritik aus, indem sie die modernen Prozesse wachsender Be- bzw. Verrechtlichung und Demo­ kratisierung durch die Einführung des Begriffs der Nekropolitik in ihre konstitutiven Bezüge zu der sich parallel dazu manifestierenden Dynamik eines „kolonialen Trennungsprojekts“ (Mbembe 2017, 90) zurückstellt und kritisch einordnet. Die liberalen Rechtssysteme westlicher Demokratien implizieren laut Mbembe von Anfang an aufgrund ihrer verleugneten (post-)kolonialen Struktur den diskursiven Ausschluss und die nekropoliti­ sche Zerstörung und Tötung des rassifizierten Lebens der, wie Mbembe in Anlehnung an Frantz Fanon und Hannah Arendt formuliert, „neuen ‚Ver­ dammten dieser Erde‘ (…), denen das Recht auf Rechte verwehrt bleibt“ (Mbembe 2014, 323). Die emanzipatorische Politik der subjektiven Rechte ist daher, so die abschließende Schlussfolgerung, immer schon konstitutiv mit repressiven, destruktiven und rassistischen Formen demokratischen Terrors innerhalb einer postkolonialen episteme verknüpft, durch die sich

311

Kapitel 6

die Gemeinschaft der Rechtsmitglieder gegenüber dem Bereich des Exter­ nen und Fremden gewaltsam abschottet, gegen ihre eigenen systemimma­ nenten Widersprüche und Aporien immunisiert und im Kontext einer nekropolitischen Rationalität das Leben der einen an den Tod der anderen bindet.

312

Kapitel 7

7.1 Biopolitik als moralische Ökonomie: Zum biopolitischen Ansatz Didier Fassins Der zweite biopolitische Autor, dessen Denken im Rahmen der vorliegen­ den biopolitischen Rechtskritik vorgestellt werden soll, ist Didier Fassin. Der französische, derzeit in Paris und Princeton lehrende Anthropologe und Soziologe zählt mittlerweile zu den wichtigsten systematischen Auto­ ren in der gegenwärtigen biopolitischen Debatte. Fassin hat sich in seinem Werk an unterschiedlichen Stellen mit Foucaults Begriff der Biopolitik auseinandergesetzt, bspw. im Kontext der westlichen Politik des Huma­ nitarismus (vgl. Fassin 2011) oder der aktuellen Migrationspolitik (vgl. Fassin 2009; 2019), besonders eindringlich und programmatisch jedoch in seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2016, die ein Jahr später in einer Monografie unter dem Titel Das Leben. Eine kritische Gebrauchs­ anweisung (vgl. Fassin 2017) erschienen sind und denen ich mich im Fol­ genden hauptsächlich zuwenden möchte. Dort greift Fassin ausdrücklich Foucaults „glänzende, allerdings nie weiter ausgearbeitete Idee“ (Fassin 2017, 39) der Biopolitik konstruktiv auf, entwickelt sie aber gleichzeitig in kritischer Absicht zu einer „Politik des Lebens“ (Fassin 2017, 136) weiter, um sie für sein Projekt einer kritischen Beschreibung der prekarisierten Lebensformen heutiger Flüchtlinge und illegalisierter Migranten fruchtbar zu machen und gegen die damit verbundene gesellschaftliche Ungleich­ heit in Anschlag zu bringen. Fassins soziologisches Leitthema einer Kritik der „Ungleichheit der Menschenleben“ (Fassin 2017, 40) steht ihm zufolge im Geist der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und weist bereits auf den ersten Blick zentrale konzeptuelle Schnittflächen mit der biopoli­ tischen Perspektive der Ungleichbewertung menschlicher Leben auf, die ich in dieser Arbeit bisher besonders im Rekurs auf Foucault und Butler in rechtskritischer Absicht gegen Menke stark gemacht und in den unmit­ telbar vorangegangenen Kapiteln mit Achille Mbembe in postkolonialer Hinsicht weiter geschärft habe. Im Folgenden geht es mir primär darum zu zeigen, inwieweit sich eine an den juridischen, politischen und gesellschaftlichen Ausschlüssen anset­ zende biopolitische Kritik des bürgerlichen Rechts im Dialog mit Fassins soziologischer bzw. sozialphilosophischer Konzeption des Biopolitischen

313

Kapitel 7

als einer Politik des Lebens konzeptuell untermauern und mit Blick auf den biopolitischen Charakter der diskutierten Ausschlüsse weiterdenken lässt. Dabei folge ich der Grundannahme, dass die ethische Ungleichbe­ wertung der verschiedenen Leben im Allgemeinen und die rassistische Abwertung migrantischer Leben im Besonderen durch die analytische Ein­ beziehung von Fassins Argumentation noch einmal aus einem neuen und vielversprechenden Blickwinkel reflektiert und dadurch neue theoretische Impulse für diese Arbeit gewonnen werden können. Dabei spielen, so möchte ich zeigen, speziell die von Fassin entwickelten Konzepte der ‚mo­ ralischen Ökonomie‘ und der ‚Biolegitimität‘ eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang möchte ich die These vertreten, dass beson­ ders die ethische Dimension der moralischen (Ungleich-)Bewertung des Lebens als grundlegendes Element der hier entfalteten biopolitischen Heu­ ristik im Anschluss an Fassin begrifflich noch präziser auf den Punkt gebracht werden kann. Methodisch geht es dabei allerdings nicht so sehr um die Ebene einer moralphilosophischen Problematisierung der wech­ selseitig aufeinander bezogenen und voneinander abhängigen Auf- und Abwertungen unterschiedlicher Menschenleben, sondern in erster Linie um das (sozial-)kritische Verstehen der diskursiven Funktionsweise der zur Debatte stehenden Bewertungsdynamiken selbst. Wie genau, d.h. mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen wird diese biopolitische Normativität in den Augen Fassins gesellschaftlich etabliert und wie kön­ nen ihre praktischen Auswirkungen im Sozialen besonders in Gestalt der diskursiven Spaltung der Gesellschaft in normativ ungleiche Teile im Re­ kurs auf den biopolitischen Lebensbegriff bei Fassin näher erklärt werden? Fassin nähert sich dem für seine Überlegungen grundlegenden Prob­ lem der biopolitischen Ungleichheit unterschiedlicher Menschenleben in modernen Gesellschaften durch die Einführung seiner Konzeption einer normativ und gesamtgesellschaftlich wirksamen „moralischen Ökonomie“ (Fassin 2017, 17), die den grundlegenden analytischen Begriff seiner Unter­ suchungen darstellt und die er folgendermaßen bestimmt: „Unter moralischer Ökonomie verstehe ich die Produktion, Zirkulati­ on, Aneignung und Leugnung von Werten, aber auch von Affekten im Zusammenhang mit einem Gegenstand, einem Problem oder, weiter gefasst, einem sozialen Phänomen – im vorliegenden Fall dem Leben“ (Fassin 2017, 17). Zwei Seiten später stellt Fassin klar, dass es ihm bei der theoretischen Konzeptualisierung der moralischen Ökonomie vor allem auf die „sozialen Logiken und Machtverhältnisse“ (Fassin 2017, 19) ankommt, in die der

314

7.1 Biopolitik als moralische Ökonomie: Zum biopolitischen Ansatz Didier Fassins

praktische Umgang mit menschlichen Leben sowie deren normative Ent­ wertung und soziale Ablehnung eingebettet sind, und führt dementspre­ chend begrifflich weiter aus: „Die moralische Ökonomie, die ich mir vorstelle, ist nicht die mora­ lische Ökonomie einer Gruppe oder eines Gebiets, sondern die mo­ ralische Ökonomie dessen, was in einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt sinnvoll ist. In dieser Hinsicht ist das Leben, dessen Auslöschung Adorno beklagt hat, vielleicht noch nie zuvor Gegenstand so heterogener und widersprüchlicher moralischer Besetzungen gewesen. Einer so verstandenen moralischen Ökonomie des Lebens ist dieses Buch gewidmet“ (ebd.). Seine Idee einer kritischen Reflexion der Politik des Lebens, „die auf der Ungleichbewertung dieser Leben beruht“ (Fassin 2017, 173), setzt metho­ disch an diesem Konzept einer moralischen Ökonomie an, das Fassin als zentrales biopolitisches Differenzierungselement innerhalb moderner, bürgerlicher Gesellschaften begreift. Die moralische Ökonomie wird von Fassin als eine Art Sedimentierung kultureller Vorstellungen darüber auf­ gefasst, welche Leben in einer Gesellschaft wieviel zählen. Dabei stellt er sich die Frage, welche Leben infolge ihrer sozialontologischen Abwer­ tung aus dem Rahmen der sozioökonomischen und rassistischen Rang­ ordnungen, die durch die moralische Ökonomie gesellschaftlich etabliert werden, ausgeschlossen werden und deshalb epistemologisch „irgendwie aus der Ingroup der guten Menschen herausgefallen sind“ (Hughes 1962, 3; zitiert in: Fassin 2017, 179). Das entscheidende Charakteristikum der moralischen Ökonomie besteht also in der spezifischen Rolle, die Fassin ihr als ungleiches Wertmaß in Bezug auf die normative Dynamik der sozia­ len Ungleichbewertung von Menschen in biopolitischen Gesellschaftsformationen einräumt. Denn Fassin unterscheidet in seiner Analyse begrifflich zwischen der moralischen und der politischen Ökonomie einer Gesellschaft und setzt dabei die Ebene der ethischen Ungleichbewertung verschiedener Leben von den politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Umgangsweisen mit den in einer Gesellschaft lebenden Menschen ab. Fassin zufolge liegt die ethische Bewertung von Menschenleben, also die Dynamik der mo­ ralischen Ökonomie, der diskursiven Konstruktion ihres jeweiligen gesell­ schaftspolitischen Status und sozioökonomischen Werts zugrunde, die sich im Kontext der politischen Ökonomie vollzieht. Fassin verfolgt hierbei die argumentative Strategie, der moralischen Ökonomie einen sozialontologi­ schen Vorrang vor der Art und Weise des konkreten juridisch-politischen

315

Kapitel 7

Umgangs mit Menschenleben zuzusprechen, um auf der theoretischen Ebene gewissermaßen einen möglichst unmittelbaren und direkten Zu­ gang zu den kulturell eingeprägten und reproduzierten Vorurteilen und Stigmatisierungen im Hinblick auf bestimmte prekarisierte, diskriminierte und rassifizierte Lebensformen zu gewinnen. Diese kulturell verankerten Ungleichheitsmuster versucht Fassin in ihrer Funktion als normative Marker zu entziffern, die die sozialen und diskursi­ ven Bedingungen aufstellen, unter denen gesellschaftlich festgelegt wird, welchem Leben in der bürgerlichen Gesellschaft welcher Wert zuerkannt und attribuiert wird. Der Akzent liegt in Fassins Überlegungen also nicht zuerst auf den politischen Dispositiven und gesellschaftlichen Verhältnis­ sen, in denen sich ganz unterschiedliche Ungleichheiten manifestieren, sondern dem vorausliegend zunächst auf der Dimension einer ethischen Einteilung der Gesellschaft durch eine biopolitische Normativität, die den Wert bestimmter Leben im Vergleich zum Leben anderer auf einer niedri­ geren moralischen Stufe im Rahmen der ungleichen Werthaftigkeit des Lebens im allgemeinen einordnet. Mit anderen Worten: „setzt die politische Ökonomie (…) eine moralische Ökonomie vor­ aus. Um Individuen oder Gruppen ausschließen oder ausbeuten zu können, muss man sein Handeln gegenüber anderen und sich selbst gegenüber rechtfertigen. Die Abwertung der betroffenen Individuen oder Gruppen dient als Rechtfertigung der Behandlung, die ihnen zuteilwird“ (Fassin 2017, 175). Der Begriff der moralischen Ökonomie erlaubt es Fassin somit, die ethi­ sche Wertschätzung menschlicher Leben in ihrer ambivalenten Dimension zu problematisieren, welche in der Essentialisierung und Naturalisierung immanenter moralischer Abstufungen in Bezug auf die Werthaftigkeit un­ terschiedlicher Lebensformen besteht und dementsprechend im sozial un­ gleich verteilten Wert konkreter Menschenleben ihren gesellschaftlichen und politischen Widerhall findet. Fassin formuliert in diesem Kontext programmatisch: „Der sozialen Differenzierung liegt eine moralische Hierarchie zugrun­ de. Als wie wertvoll Menschen gelten – wofür in den Gesellschaften der Gegenwart ihr Einkommen stellvertretend sein könnte –, sagt in hohem Maße voraus, wie sie behandelt werden, was sich wiederum da­ rauf auswirkt, wie gut und wie lang sie leben werden. (…) Doch alles erklärt die politische Ökonomie nicht, und die moralische Ökonomie könnte sogar ein noch grundlegenderes Differenzierungselement dar­ stellen“ (Fassin 2017, 177f.).

316

7.1 Biopolitik als moralische Ökonomie: Zum biopolitischen Ansatz Didier Fassins

Fassin leitet also nicht das moralische Ansehen der Menschen aus ihren sozialen und politischen Kontexten her, sondern erklärt umgekehrt den gesellschaftlichen und politischen Status der Menschen durch ihre vorgän­ gige ethische Einordnung innerhalb einer moralischen Werthierarchie. Indem er mit dieser Herangehensweise den Schwerpunkt auf die ethische Dynamik der moralischen Ungleichbewertung in Bezug auf unterschied­ liche Leben legt und erst in einem darauffolgenden Schritt nach deren Konsequenzen im Raum des Sozialen und Politischen fragt, verschiebt Fassin den Fokus auf plausible Weise von den sozialen und politischen Diskurssystemen, in denen biopolitische Ungleichgewichtungen im Um­ gang mit Menschenleben erkennbar werden, auf die kulturellen und ethi­ schen Vorverständnisse im Feld einer moralischen Ökonomie, die diesen ungleichen Umgang normativ rechtfertigen. Fassin stellt sich diese Legiti­ mationsfunktion der moralischen Ökonomie dabei analog zu den rassisti­ schen Schemata vor, die Butler im Rekurs auf Fanon für ihre Konzeption des gefährdeten Lebens herausgearbeitet und anschlussfähig gemacht hat, nämlich als kulturell hegemoniale Wahrnehmungsmuster bzw. epistemi­ sche Raster, die den Wert des Lebens unterschiedlicher Menschen auf der Basis essentialistischer, rassistischer, sexistischer, kulturalistischer und nicht zuletzt klassenspezifischer Deutungsrahmen normativ unterteilen und hierarchisieren. Auf dieser Grundlage kann Fassin am Ende seiner Untersuchung die biopolitische Ungleichbewertung von bereits vor ihrer Verhaftung ökonomisch benachteiligten Strafgefangenen mit schwarzer Hautfarbe in den USA folgendermaßen beschreiben: „Das Verbrechen, das sie begangen haben, scheint moralisch an ih­ nen haften geblieben zu sein, sodass sich der Wert, den wir ihnen beimessen, verringert, und die Behandlung, die man als angemessen für sie betrachtet, folgt derselben Abwärtsspirale. (…) Es liegt nicht nur an dem Glauben, sie hätten eine verwerfliche Tat verübt, dass sie es verdient haben könnten, misshandelt zu werden. Es liegt auch und vielleicht sogar mehr noch daran, wer sie überhaupt sind und für was sie stehen“ (Fassin 2017, 179f.). Wofür man in einer Gesellschaft steht und wer man ist, kann jedoch weder individuell noch kollektiv unabhängig von den ethischen Wertmaßstäben epistemisch erkannt und normativ beurteilt werden, welche innerhalb der moralischen Ökonomie einer Gesellschaft wirksam sind. Die sozialontolo­ gische Bestimmung dessen, was und wer man ist, entscheidet sich Fassin zufolge vielmehr notwendig unter der Bedingung einer kulturell hegemo­ nialen Normativität, die ihre subjektivierende, ja subjektkonstitutive Rolle

317

Kapitel 7

gerade darin entfaltet, dass sie auf einer nicht- bzw. außerrechtlichen Ebe­ ne ontologische Hierarchien in den Begriff des Lebens selbst einführt. In der politischen Konsequenz bedeutet das, dass die rechtliche Behandlung schwarzer Gefangener in den USA in Form ihrer polizeilichen und straf­ rechtlichen Misshandlung von der vorrechtlichen Entscheidung abhängt, welcher Wert ihren Leben im Rahmen der zur Debatte stehenden morali­ schen Ökonomie zugesprochen oder aberkannt wird. In dieser Heuristik „werden arme schwarze Gefangene weniger wegen des Unrechts, das sie begangen haben, herabgesetzt und empfindet man weniger aus die­ sem Grund Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid, dem sie ausgesetzt sind, als deshalb, weil sie schwarz und arm sind. Allgemeiner gesagt, reichen bei manchen Individuen ihre Hautfarbe, ihre soziale Klasse, ihre sexuelle Orientierung, ihr Geschlecht und ihre Religion oftmals schon als Erklärung aus, warum sie auf diese Weise behandelt werden“ (Fassin 2017, 180). Der rechtliche Umgang mit Gefangenen ist nach Fassin also konstitutiv an deren gesellschaftliche und kulturelle Stigmatisierung und Rassifizierung rückgebunden, die im breiteren Kontext vorrechtlicher, sozialer Praktiken in der bürgerlichen Gesellschaft stattfindet und in die normative Praxis des Rechts eindringt. Damit widerspricht Fassin Menkes zentraler metho­ discher wie systematischer Annahme, derzufolge „alles rechtliche Identifizieren das Identifizieren als Rechtliches [ist]“ (Menke 2015, 117), dass sich das Recht also aus strukturellen Gründen ausschließlich in seinen system­ internen rechtlichen Kategorien auf seinen Gegenstand beziehen kann und diesen daher stets verrechtlichen muss. Für Menke gilt: „Im Prozess des Rechts gibt es nur Rechtliches“ (Menke 2015, 116). Dem steht Fassins Argumentation entgegen, denn Fassin zeigt überzeu­ gend auf, dass und inwiefern die Praxis des Rechts trotz seiner von Menke im Anschluss an Luhmann betonten operativen Geschlossenheit durch außerrechtliche, biopolitische Kategorien, Mechanismen und Bewertungs­ maßstäbe infiltriert und gesteuert wird, die mit dem egalitären Programm des bürgerlichen Rechts nicht in Einklang gebracht werden können. In Fassins Sichtweise müssen das Recht und die mit ihm verbundenen Un­ gleichheiten demnach im größeren Zusammenhang der Politik des Lebens analysiert werden. Rechtliche Praktiken müssen Fassin zufolge auch in ihrer jeweils internen Funktionsdynamik stets vor dem Hintergrund ihrer sozialontologischen Einbettung in biopolitische Diskurse betrachtet wer­ den, wodurch die Frage nach dem rechtlichen Status von Menschen struk­ turell mit der Frage nach der gesellschaftlichen Bewertung ihres Lebens im

318

7.1 Biopolitik als moralische Ökonomie: Zum biopolitischen Ansatz Didier Fassins

Rahmen einer moralischen Ökonomie verschränkt wird. Die Politik des Lebens im Sinne der biopolitischen Ungleichbewertung von Menschenle­ ben übersteigt in Fassins Augen damit notwendig die Dimension von „Gesetze[n] und politische[n] Maßnahmen“ (Fassin 2017, 174) und „be­ zieht die ganze Gesellschaft ein“ (ebd.). Im Anschluss an Fassin lässt sich also zum einen die mit Foucault und Butler vorgeschlagene Konzeptuali­ sierung der Biopolitik als größerer Rahmen des Politischen unterstreichen; zum anderen lässt sich die Dezentrierung der von Menke zu stark verab­ solutierten rechtsinternen Perspektive und ihrer Äußerlichkeit gegenüber dem Nichtrecht aus der Instanz einer gesamtgesellschaftlich verstandenen Biopolitik theoretisch weiter untermauern. Fassin modifiziert mit seiner argumentativen Strategie nach eigener An­ gabe Foucaults Konzeption der Biopolitik, indem er sie gewissermaßen von innen her politisiert und auf eine alternative Fragestellung hin aus­ richtet. Foucaults theoretisches Interesse liegt im Rahmen seiner biopo­ litischen Analysen Fassin zufolge eher auf der deskriptiven Ebene der diskursanalytischen und genealogischen Untersuchung von Umbrüchen und Transformationen in Bezug auf die Funktionsweise der Macht und ihrer Gegenstandsbereiche und Anwendungsfelder. Foucault, so stellt Fas­ sin durchaus kritisch fest, geht es um die Beschreibung der Umwandlungs­ prozesse und Neuentstehung von „Machttechnologien“ (Fassin 2017, 135) wie etwa der Gouvernementalität, deren Rekonstruktion Foucault sich „auf Kosten der Handlungsgegenstände“ (ebd.) widmet. In dieser Hinsicht spricht Fassin sogar von der „Nichtberücksichtigung des Lebens“ (Fassin 2017, 140) bzw. dem „Verschwinden der Politik“ (Fassin 2017, 140f.) in Bezug auf Foucaults biopolitisches Denken. Demgegenüber beansprucht Fassin, „eine andere Frage [zu] stellen, die biopolitisch par excellence zu sein scheint, die Foucault aber kaum erörtert: Was macht die Politik mit den Leben?“ (Fassin 2017, 135). In der Konzeptualisierung einer Politik des Lebens distanziert sich Fas­ sin also von dem Foucaultschen Ansatz, indem er zwar von Foucaults Idee der Biopolitik ausgeht, die daraus hervorgehende analytische Perspek­ tive jedoch zugleich in deutlich stärkerem Maß als Foucault normativ und gesellschaftstheoretisch ausrichtet und dadurch gesellschaftskritisch konnotiert. Fassin formuliert in diesem Zusammenhang programmatisch: „Insgesamt geht es bei der Biopolitik um die Rahmenbedingungen der Regierung der Menschen, wohingegen die Politik des Lebens ihren Inhalt betrifft; erstere interessiert sich für die allgemeinen Techniken und Prinzipien, die gegenüber den Bevölkerungen zur Anwendung kommen, während letztere ihr Augenmerk auf die Unterschiedlichkeit

319

Kapitel 7

des Umgangs mit den Leben und darauf legt, was diese für den unglei­ chen Wert von Menschen bedeutet“ (Fassin 2017, 144). In Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung entwickelt Fassin diese Heuristik der Politik des Lebens in der sozialphilosophischen sowie sozio­ logischen und ethnographischen Auseinandersetzung mit „eine[r] für die Gegenwart besonders signifikante[n] Lebensform (…), nämlich die der Zwangsnomaden, ob man sie nun Flüchtlinge oder Migranten nennt, Asylsuchende oder Ausländer ohne gültige Papiere“ (Fassin 2017, 45). Im Folgenden möchte ich anhand einiger zentraler Textpassagen den Stel­ lenwert von Fassins Überlegungen zu dieser prekarisierten Lebensform ge­ flüchteter Menschen herausarbeiten und auf die biopolitische Perspektive zurückspiegeln, die im Zentrum dieser Arbeit steht. 7.2 Die Lebensform des Flüchtlings in der Perspektive von Fassin Fassins Problematisierung der heutigen Lebensform geflüchteter Men­ schen stellt einen paradigmatischen Fall dar, um die theoretische Stoß­ richtung und rechtskritische Relevanz seiner biopolitischen Konzeption der Politik des Lebens herauszustellen (vgl. zum Begriff der Lebensform aus der Perspektive der Kritischen Theorie Jaeggi 2014; aus einer bio­ politischen Perspektive Agamben 2012, 125–195; 2015, 195–234). Denn Fassin beschreibt die Figur des Flüchtlings dadurch, dass er sie sowohl im Verhältnis zum Recht als auch zur biopolitischen Macht ethischer Ungleichbewertungen, also zur moralischen Ökonomie einer Gesellschaft, bestimmt. Es geht Fassin also um die begriffliche Bestimmung des Flücht­ lings angesichts zweier unterschiedlicher Herrschaftsverhältnisse, in deren Spannungsfeld sich dieser befindet. Die Pointe besteht dabei darin, dass der Flüchtling durch diese Herangehensweise einerseits durch seine dop­ pelte Beziehung zu zwei konzeptuell getrennt voneinander beschreibbaren Machtstrukturen definiert wird; andererseits wird dadurch jedoch zugleich das ambivalente Verhältnis deutlich, das zwischen diesen beiden Machtfor­ men selbst herrscht. Das Recht, so soll mit Fassin gezeigt werden, entscheidet zwar über die Zuerkennung und die Verweigerung eines rechtlichen Status gegenüber Geflüchteten, aber dieser Status hat nur eine bedingte Auswirkung auf die tatsächliche Lebensform dieser Menschen. Die Institution des Rechts erscheint bei Fassin vielmehr in ihrer konstitutiven Einbindung in die so­ zialen Dynamiken der moralischen Ökonomie, so dass rechtliche Entschei­ dungen, auch wenn sie für die juridische Illegalisierung und die daraus fol­

320

7.2 Die Lebensform des Flüchtlings in der Perspektive von Fassin

gende gesellschaftliche Prekarisierung von geflüchteten Menschen formal verantwortlich sind, nichtsdestotrotz einen bloß sekundären Stellenwert für die konkrete, prekäre Lebensform der Flüchtlinge besitzen. Deren „so­ zialen Tod“ (Fassin 2017, 174) führt Fassin vielmehr auf ihr Verortetsein innerhalb einer biopolitischen Matrix zurück, in deren Rahmen das Recht nur einen einzelnen gesellschaftlichen Teilbereich neben anderen Dimen­ sionen des Sozialen darstellt, zu denen Fassin u.a. „Rassendiskriminierung, räumliche Segregation, ökonomische Ungleichheit und schließlich Ableh­ nung“ (ebd.) zählt. Die Lebensform des Flüchtlings beschreibt Fassin auf dieser Basis als eine soziale Situation, die sozusagen auf der prekären Schwelle zwischen einer rechtlich hervorgebrachten Illegalität und einer drohenden, aber noch nicht erfolgten Abschiebung steht: „Dabei handelt es sich um die Lebensform umherirrender Fremder, die ihr Heimatland verlassen haben, weil schon ihre physische Exis­ tenz in Gefahr war, und die von den Ländern, in denen sie Zuflucht gefunden haben, im Ungewissen gelassen werden, da sie keinen recht­ lichen Status besitzen, ihre Anwesenheit aber noch toleriert wird“ (Fassin 2017, 70). In diesem Zusammenhang lässt sich Fassin jedoch erst gar nicht auf begriffliche Differenzierungen im Detail ein, bspw. zwischen Asylsuchenden, Migranten ohne Papiere oder illegalisierten Flüchtlingen. Stattdessen geht es ihm primär darum, die Erfahrungen herauszustellen, die all diese Men­ schen unabhängig von ihrem rechtlichen Status und der unterschiedlichen Bezeichnung ihrer rechtlichen Lage gemeinsam haben. Denn die juridische Frage ihres rechtlichen Status, d.h. ihrer Einordnung in eine rechtlich definierte Kategorie, ist nicht einfach nur eine innerrechtliche Angelegen­ heit, sondern gleichzeitig Teil eines größeren gesellschaftlichen Kampfes, in dessen Rahmen die rechtliche Lage von Menschen zum Gegenstand eines politischen Streits wird. In diesem Zusammenhang bemerkt Fassin zur juridischen Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und Migranten in Frankreich: „Diese Unterscheidung hat formale Bedeutung, und es tobt ein heftiger Kampf um ihre Benennung, da Politiker zur Verwendung des Terminus ‚Migranten‘ neigen, um ihnen ihren Rechtsanspruch auf Schutz im Rahmen des Völkerrechts abzusprechen, während Aktivis­ ten darauf bestehen, sie ‚Flüchtlinge‘ zu nennen, um ihren Anspruch auf ein solches Recht zu unterstreichen“ (Fassin 2017, 71).

321

Kapitel 7

Und mit Blick auf die terminologische Differenz zwischen Asylsuchenden und illegalen Ausländern im Kontext Südafrikas schreibt Fassin weiter: „Auch zwischen diesen beiden Benennungen besteht ein rechtlicher Unterschied, da denjenigen, denen Asyl und eine Aufenthaltserlaubnis gewährt wird, im Prinzip ein gewisser Schutz und gewisse Rechte sicher sind, die diejenigen, die nicht im Besitz solcher Papiere sind, nicht genießen“ (ebd.). Damit betont Fassin einerseits, dass der Rechtsstatus von Flüchtlingen so­ wie die juridischen Kriterien seiner Festlegung grundsätzlich politisch um­ kämpfte Fragen sind, in deren Kontext eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Macht- und Interessenskonflikten ausgetragen werden. Andererseits wird dadurch die Bedeutung der rechtlichen Benennung mit Blick auf die praktische Lebenssituation von geflüchteten Menschen zugleich relativiert. Fassin ordnet den Stellenwert der rechtlichen Repräsentation von Geflüchteten durch einen Rechtstatus nämlich den „gemeinsamen menschlichen Erfahrungen“ (Fassin 2017, 78) unter, die diese Menschen unabhängig von ihrem rechtlich definierten Zustand in den sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Kontexten der Gesellschaft machen, in der sie – legal oder illegal – leben. Denn er ist davon überzeugt, dass der Vorenthalt und die Gewährung von Rechten konstitutiv auf den biopolitischen Dy­ namiken der ungleichen Wertschätzung von Menschenleben im Rahmen einer Politik des Lebens beruhen, welche den Raum der gesamten Gesell­ schaft umspannt. Diese sozialen Praktiken der biopolitischen Ungleichbe­ wertung des Lebens sind Fassin zufolge im konfliktiven und heterogenen Bereich des Politischen verortet und lassen sich somit in keinem Fall allein auf die spezifische normative Praxis und Sprache des Rechts einschränken. Mit anderen Worten: Das Recht kann in der Repräsentation geflüchteter Menschen durch einen Rechtsstatus deren soziale Lage und Realität nie­ mals vollständig zur Geltung bringen. Die Repräsentation der sozialen Si­ tuation, in der Menschen sich aufgrund ihrer Vertreibung und Flucht be­ finden, durch einen ihr zugeordneten Rechtsstatus verfehlt gerade im Akt der rechtlichen Repräsentation vielmehr notwendig die sozialen Erfahrun­ gen, die in der Repräsentation zum Ausdruck gebracht werden sollen. Denn die pluralen Erfahrungen Geflüchteter lassen sich überhaupt nicht in einen klar definierten rechtlichen Zustand übersetzen. Die vielfältigen und komplexen sozialen Dynamiken, denen die Lebensform des Flücht­ lings unterworfen ist, können schlicht und ergreifend nicht in die Form eines statischen Zustands gebracht werden. Ihre Verrechtlichung verkennt somit den konstitutiv prozeduralen Charakter der sozialen Situation des

322

7.2 Die Lebensform des Flüchtlings in der Perspektive von Fassin

Flüchtlings, die sich eher durch permanente Bewegung und ständigen Wandel, durch den unsteten Wechsel von Ankunft und Aufbruch sowie die Unsicherheit der Wanderungen und die Unvorhersehbarkeit des Auf­ enthalts auszeichnet als durch das Vorhandensein oder das Fehlen eines rechtlich festgeschriebenen Status. Das zeigt Fassin paradigmatisch an der Lebensform des Flüchtlings auf: Die Erfahrungen, die geflüchtete Menschen in der sozialen Wirklichkeit der Gesellschaften ihrer Aufnahmeländer machen, sind nach Fassin zu einem großen Teil unabhängig von den wechselnden rechtlichen Benen­ nungen und den unterschiedlichen juridischen Kategorien, unter deren Bedingungen diese Menschen leben. Die Lebensform des Flüchtlings än­ dert sich paradoxerweise gerade nicht analog zu den von Land zu Land unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen rechtlichen Auffassungen in Bezug auf dessen Rechtsstatus. Das bedeutet, dass die Einordnung der Erfahrungen und Lebenssituationen von geflüchteten Menschen in rechtliche Kategorien stets zu spät kommt und eine soziale Realität nach­ träglich zu regulieren versucht, deren Dynamik sich in relativer Unabhän­ gigkeit von rechtlichen Regeln bereits entwickelt hat und sich fortlaufend weiterentwickelt und transformiert. In seiner konkreten Vielschichtigkeit, so lässt sich beispielhaft an der Lebensform des Flüchtlings verdeutlichen, entzieht sich das Soziale dem Rechtlichen also permanent und widersetzt sich dem Prozess seiner rechtlichen Formalisierung. Dies gilt umso mehr angesichts der weltgesellschaftlichen Dimension dieser sozialen Dynami­ ken in Zeiten der Globalisierung. So schreibt Fassin etwa mit Blick auf die Situation von Flüchtlingen im heutigen Südafrika: „Auch wenn die Legaldefinition der Antragsteller angeblich zwischen Asylsuchenden und Migranten ohne gültige Papiere unterscheidet, geht der eine Zustand häufig in den anderen über, besonders wenn die Aufenthaltserlaubnis nicht erneuert wurde, und ihre tatsächliche Lage ähnelt sich sehr. Sie teilen dieselben Nöte, erfahren am Arbeitsplatz und bei der Unterbringung dieselbe Diskriminierung, ja sie erleben so­ gar dieselben Drangsalierungen durch die Polizei und ihnen begegnet dieselbe Feindseligkeit von Seiten der Einheimischen“ (Fassin 2017, 68). Diese Passage kann paradigmatisch für den konzeptuellen Unterschied zwischen einer rechtsimmanenten und einer biopolitischen Perspektive stehen: Während es aus juridischer Sicht um die Festschreibung eines bestimmten Rechtsstatus geht, auf dessen Basis unterschiedliche Rechtsan­ sprüche geltend gemacht werden können, verlagert Fassin den Fokus in

323

Kapitel 7

einer biopolitischen Blickrichtung auf die Transitivität und Instabilität die­ ser rechtlichen Zustände. Rechtliche Kategorien sind ihm zufolge „höchst durchlässig“ (Fassin 2017, 71), weil die sie tragenden rechtlichen Diskurse im breiteren Feld einer Politik des Lebens verankert sind. Diese Durchläs­ sigkeit exemplifiziert Fassin an verschiedenen Stellen seiner Studie anhand einer Reihe ethnographischer Beispiele. So hat etwa ein aus Eritrea stam­ mender Mann in Frankreich eine größere Chance, einen Flüchtlingsstatus zu erhalten, als ein Mann aus Mali. Unabhängig von dieser ungleichen Chancenverteilung werden jedoch beide an der Überfahrt nach England gehindert werden, sobald sie im Dschungel von Calais angelangt sind (vgl. ebd.). Der ihnen jeweils zugewiesene oder vorenthaltene rechtliche Status ist also sowohl in Bezug auf die juristisch-formale Möglichkeit ihrer Wei­ terwanderung nach England als auch mit Blick auf ihre gesellschaftliche Unerwünschtheit oder Akzeptanz von keiner entscheidenden Bedeutung. Vielmehr ist es ihre marginalisierte Position innerhalb der moralischen Ökonomien der gegenwärtigen europäischen Gesellschaften, durch die ihre Aussichten auf einen Rechtsstatus als Flüchtling ungleich verteilt und in den meisten Fällen schließlich zunichte gemacht und ihr gesellschaftlicher und rechtlicher Ausschluss aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe rassistisch legitimiert wird. Als ein weiteres Beispiel führt Fassin die prekären Lebensbedingungen von Frauen aus Mosambik oder dem Kongo an, die er 2013 in den sogenannten „Dark Buildings“ (Fassin 2017, 68) von Johannesburg über mehrere Monate begleitet hat. Diese Dark Buildings stehen im zentralen Geschäftsbezirk Johannesburgs und sind ehemalige Banken- und Unter­ nehmenssitze, die aus der Zeit der Apartheid stammen und von den wei­ ßen Eliten verlassen worden sind, in deren Besitz sie sich oftmals noch befinden (vgl. Fassin 2017, 66). Diese mittlerweile verfallenen Gebäude stehen leer und sind von „Zehntausende[n] von Asylsuchenden und Mig­ ranten ohne gültige Papiere“ (ebd.) widerrechtlich besetzt worden. Die illegalen Besetzer sind den gewalttätigen Übergriffen von kriminellen Ban­ den ausgesetzt, welche von ihnen Mietzahlungen erpressen, und müssen oftmals Bestechungs- und Schmiergeldzahlungen an korrupte Polizeibe­ amten leisten, die ihnen im Zuge von Razzien mit ihrer Festnahme oder Abschiebung drohen (vgl. Fassin 2017, 69f.). Unabhängig davon, ob sie im Besitz gültiger Papiere sind und somit über einen einigermaßen gesicherten Rechtstatus verfügen oder nicht, droht den Frauen aus Mosambik und dem Kongo „mit hoher Wahrschein­ lichkeit“ (Fassin 2017, 72) ihre illegale Unterbringung in den Dark Buil­ dings und sie werden „schneller anhand ihres Aussehens und ihres Ak­

324

7.2 Die Lebensform des Flüchtlings in der Perspektive von Fassin

zents identifiziert als anhand ihrer Papiere“ (ebd.). Anhand der prekarisier­ ten Lebenssituation dieser Frauen ebenso wie am Beispiel der rechtlich dokumentierten und undokumentierten Männer im Dschungel von Calais wird nach Fassin deutlich, dass all diese Menschen dieselbe Lebensform teilen, und zwar unabhängig von ihrer Inklusion in oder Exklusion aus Ka­ tegorien des Rechts. Ihre Erfahrungen von Diskriminierung, Gefährdung, Ausgrenzung und Vertreibung werden durch den Wechsel von einem rechtlichen Status in den anderen oder vom Zustand der Legalität in den der Illegalität nicht grundsätzlich verändert. Ihre soziale Lage wird höchs­ tens sekundär von ihrer jeweiligen Einordnung in einen rechtlichen Status beeinflusst, so dass sie, wie gesehen, im Raum des Sozialen paradoxerweise ihre Rechtlosigkeit erfahren können, ohne aus der Perspektive des Rechts tatsächlich entrechtet worden zu sein. In diesem Zusammenhang fasst Fassin programmatisch zusammen: „Juristische und administrative Kategorien sind von daher sowohl wichtig als auch unbedeutend: Sie definieren einen Status oder das Fehlen eines Status, was potenziell erhebliche Auswirkungen auf das Recht hat, Schutz zu genießen oder schlicht und einfach nicht ausge­ wiesen zu werden, aber sie bewirken keine großen Unterschiede in Bezug auf die Art und Weise, wie die Betroffenen im Alltag von den Staatsbeamten und der allgemeinen Öffentlichkeit tatsächlich betrach­ tet und behandelt werden. Diese Männer und Frauen wissen nämlich manchmal selbst nicht, was ihr Status oder fehlender Status ist“ (ebd.). Fassin leugnet also nicht einfach die Rolle des rechtlichen Status für die Lebensrealität von Flüchtlingen und Migranten etwa mit Blick auf deren potenzielle Inhaftierung oder Abschiebung. Er zeigt jedoch mithilfe seines Konzepts der Politik des Lebens auf, inwiefern die rechtlichen Kategorien und Benennungen u.a. des Flüchtlings, des Asylsuchenden oder des Mig­ ranten ohne gültige Papiere in den umfassenderen Raum gesellschaftlicher Strukturen eingebettet sind, in denen sie einerseits konstituiert werden, von denen sie aber andererseits in ihrer tatsächlichen Wirkungsweise und Relevanz oft unterwandert und ausgehöhlt werden. Dieser gesellschaftliche Raum, so argumentiert Fassin, indem er Foucault fortschreibt, wird nämlich durch biopolitische Unterscheidungen strukturiert, auf deren Ba­ sis dem Leben der einzelnen Menschen ein unterschiedlicher Wert beige­ messen und so die ungleiche Werthaftigkeit der verschiedenen menschli­ chen Leben etabliert wird. Das Vorhandensein oder Fehlen eines bestimm­ ten Rechtsstatus wird vor diesem Hintergrund in seiner theoretischen wie praktischen Bedeutung relativiert und infrage gestellt, denn auch Migran­

325

Kapitel 7

ten, die rechtlich dokumentiert sind und über einen gültigen Rechtsstatus verfügen, werden sowohl durch den Staat als auch von der Öffentlichkeit oftmals so behandelt, als hätten sie ebendiesen Status und die mit ihm verbundenen Rechte gerade nicht. Auf welche Weise mit geflüchteten Menschen umgegangen wird, ent­ scheidet sich damit sowohl diesseits als auch jenseits ihrer rechtlichen Ka­ tegorisierung, d.h. Migranten mit gültigen Papieren machen die Erfahrung ihrer Rechtlosigkeit in der sozialen Wirklichkeit häufig, bevor sie selbst sich Klarheit über ihre rechtliche Lage verschafft oder andere die Berech­ tigung ihrer potenziellen Rechtsansprüche überprüft haben. Geflüchtete Menschen, die sich eigentlich unter legalen Bedingungen an einem Ort aufhalten, sind oftmals unabhängig von der rechtlichen Erlaubnis ihrer An­ wesenheit unterschiedlichen Formen von Polizeigewalt, Schikanen durch Staatsbehörden und Pogromen durch Einheimische ausgesetzt und wer­ den somit als Illegale behandelt. Ähnlich legt auch Schulze Wessel dar, dass „[b]ei den Rückführungen alle pauschal als ‚Illegale‘ behandelt [wer­ den]“ (Schulze Wessel 2017, 155), unabhängig davon, ob ihr Status juri­ disch tatsächlich als illegal erachtet wird. Menschen, die zugewandert sind und unter legalen Voraussetzungen in einem Land leben, „sehen sich einer vergleichbaren Ungewissheit in Bezug auf ihren Status und einer vergleichbaren Verletzlichkeit in Bezug auf ihre Lage gegenüber“ (Fassin 2017, 73) wie Menschen, die sich auf der Suche nach einem Zufluchtsort illegal in einem Land aufhalten. Diese ambivalente Kluft zwischen „Gesetz und Gesetzespraxis“ (Fassin 2017, 60) und die damit verbundene Instabilität von normativen Ansprüchen, die eigentlich rechtlich verbürgt sind und garantiert werden, kann das Recht selbst nicht adäquat abbilden, weil diese Lücke im Recht (vgl. Menke 2015, 111ff.) durch eine Politik des Lebens hervorgerufen wird, die sich in den vielfältigen Räumen der bürgerlichen Gesellschaft entfaltet und das Recht in den größeren sozialen Rahmen biopolitischer Dynamiken stellt. Foucaults Einsicht, dass die Biopolitik im Verhältnis zur bürgerlichen Rechtsordnung als größerer Rahmen des Politischen fungiert, lässt sich mit Fassin also erhärten und gegen Menkes vereinseitigende Darstellung in Anschlag bringen, in der das Biopolitische tendenziell zu einem recht­ lichen Effekt bzw. einer juridischen Funktion gemacht wird. Demgegen­ über erscheint das Recht bei Fassin in seiner konstitutiven Einbettung in biopolitische Sozialstrukturen und kollektive gesellschaftliche Handlungs­ muster. Seine Normativität ist in eine umfassendere Politik des Lebens integriert. Fassin untermauert und konkretisiert diese biopolitische Inter­ pretation im Laufe seiner Argumentation dadurch, dass er den Begriff des

326

7.3 Vom politischen zum biologischen Leben: Fassins Konzept der Biolegitimität

Lebens von innen heraus problematisiert und mit Blick auf die prekäre politische Situation von Flüchtlingen und Migranten untersucht. Dadurch gewinnt Fassin ein vertieftes Verständnis in Bezug auf die Vorstellung des gefährdeten Lebens, durch das Butlers Konzeption sinnvoll ergänzt wer­ den kann. Konkret geht es Fassin darum herauszuarbeiten, mit welchen diskursiven Mitteln und Operationen die Gefährdung menschlicher Leben etwa im Rahmen humanitärer Flüchtlingspolitik gesellschaftlich konstru­ iert und darin ungleich bewertet wird und in welche Bestandteile das Leben selbst dabei unterteilt wird. Diesen Argumentationsfiguren möchte ich mich abschließend zuwenden. 7.3 Vom politischen zum biologischen Leben: Fassins Konzept der Biolegitimität Mithilfe von Fassins Konzeption einer gesamtgesellschaftlich wirksamen moralischen Ökonomie, auf deren Basis die biopolitischen Strukturen, Probleme und Widersprüche der Politik des Lebens sichtbar werden, lässt sich Butlers Idee des gefährdeten Lebens noch einmal konzeptuell erwei­ tern und präzisieren. Fassin selbst verfolgt in seiner Analyse das Ziel, „die Vorstellung von der ‚Gefährdetheit des Lebens‘ wiederaufzugreifen, die für Judith Butler ‚auf einem Verständnis davon aufbaut, wie leicht ein Menschenleben‘ im Kontext von Gewalt und Krieg ‚ausgelöscht werden kann‘“ (Fassin 2017, 75). Allerdings schärft Fassin gleichzeitig den analyti­ schen Blick dadurch, dass er kritisch danach fragt, um welche konkreten Aspekte und Bedeutungsebenen des Lebens es genau geht, wenn ein Leben im Kontext politischer Entscheidungen und Ungleichgewichtungen einer höheren Gefährdung ausgesetzt wird als andere Leben. Damit geht er zugleich über Foucaults Lebensbegriff hinaus, der Fassin zufolge systema­ tisch zu unscharf bleibt: „In Foucaults verschiedenen Versionen von Biopolitik steht Leben nämlich abwechselnd und unterschiedslos für biologische Prozesse, so­ ziale Körper und die menschliche Spezies. Für seine Analyse ist Leben weder als lebende Materie aus Zellen oder Genen noch als gelebte Erfahrung von Individuen oder Gruppen zentral“ (Fassin 2017, 139). Dagegen unterscheidet Fassin verschiedene Dimensionen innerhalb des modernen Lebensbegriffs und problematisiert ihren jeweils ungleichen konzeptuellen Stellenwert. Zu diesem Zweck führt er in kritischer Fort­ schreibung der Foucaultschen Biopolitik das Konzept der sogenannten Biolegitimität ein, das ihm als zentrales Beispiel zur Veranschaulichung

327

Kapitel 7

der biopolitischen Vereinnahmung des Rechts durch außerrechtliche Be­ wertungsschemata dient. Die Konzeption der Biolegitimität gewinnt Fas­ sin dabei in der Auseinandersetzung mit aktuellen asyl- und migrations­ politischen Maßnahmen und Strategien und damit im Rekurs auf die biopolitische Rolle der Figur des Flüchtlings im globalen Kontext welt­ politischer Konstellationen. Die Biolegitimität steht bei Fassin paradigma­ tisch für einen biopolitischen Ausschlussmechanismus, der innerhalb der Struktur moderner Rechte wirksam ist und die Zuteilung von Rechten dif­ ferenziell organisiert und reguliert. Die spezifische Differenz, auf die sich die Biolegitimität dabei bezieht, bildet die Unterscheidung zwischen der physisch-biologischen und der politisch-sozialen Dimension des Lebens. In diesem Zusammenhang arbeitet Fassin einen grundsätzlichen „Wan­ del bei der moralischen Bewertung von Asylsuchenden und Migranten oh­ ne gültige Papiere“ (Fassin 2017, 103) heraus, den er u.a. anhand der politi­ schen Debatten über Asyl- und Einwanderungspolitik in Frankreich und sozialen Gerechtigkeitsfragen im Rahmen des öffentlichen Gesundheitswe­ sens in Südafrika nachweist (vgl. Fassin 2017, 127). Fassin zufolge hat in den letzten Jahrzehnten eine grundlegende politische Transformation in Bezug darauf stattgefunden, unter welchen Voraussetzungen menschliche Leben als besonders gefährdet und bedroht wahrgenommen werden und welcher Schutz ihnen dabei politisch jeweils zuteilwird. Dieser Transfor­ mationsprozess drückt sich für Fassin in der „Verlagerung vom Leben als einem sozialen Phänomen zum natürlichen Leben“ (Fassin 2017, 104) aus. Paradigmatisch für diese Verlagerung steht dabei nach Fassin der Entwick­ lungsprozess des Humanitarismus. Fassin rekonstruiert an unterschiedlichen soziologischen Beispielen, inwiefern das Geltendmachen von sogenannten humanitären Gründen in den vergangenen Jahrzehnten zur aussichtsreichsten und vielverspre­ chendsten Strategie für Flüchtlinge und Staatenlose geworden ist, um sich für eine Aufenthaltserlaubnis oder gar eine Arbeitserlaubnis oder den Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung zu qualifizieren. Dabei grenzt Fassin den Humanitarismus zunächst konzeptuell scharf gegenüber der Asylpolitik ab: „Was die Bedrohung anbelangt, ist Asyl eine Reaktion auf eine politische Gefahr, wohingegen Humanitarismus eine gefährliche Krankheit voraussetzt“ (Fassin 2017, 102f.). Es ist also ein kategorialer Unterschied, ob Flüchtlinge Asyl beantragen oder humanitäre Gründe geltend machen, um einen gültigen Rechtsstatus zu erhalten und damit in den Genuss staatlichen Schutzes zu kommen. Sobald sich nämlich Migranten auf humanitäre Gründe berufen, handelt es sich rechtlich gese­ hen nicht mehr um ein Asylverfahren. Wer humanitäre Gründe geltend

328

7.3 Vom politischen zum biologischen Leben: Fassins Konzept der Biolegitimität

macht, muss nachweisen, dass er oder sie an einer lebensbedrohlichen Krankheit leidet, während Asylsuchende demgegenüber auf ihre politische Verfolgung verweisen. Die Geltendmachung humanitärer Gründe erscheint aus Sicht staatli­ cher Behörden im Vergleich zur Stellung eines Asylantrags auf den ersten Blick als das neutralere und nachvollziehbarere (und damit gerechtere) Verfahren zur Regularisierung von Geflüchteten, da das Kriterium für die Bewilligung oder Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis im biologischen Nachweis einer lebensgefährlichen Erkrankung besteht. Die medizinische Diagnose einer „Krankheit [scheint] objektiv bzw. wertfrei zu sein: Sie steckt in den Zellen und Organen. Verfolgung setzt dagegen verschiedene Seiten und Werturteile voraus: Es geht dabei um Beweggründe und Ideo­ logien“ (Fassin 2017, 103). Die Entscheidung, die biologische Bedrohung des Lebens höher zu bewerten und als dringender einzuschätzen als dessen Gefährdung durch politische Verfolgung und Unterdrückung, ist jedoch selbst bereits ein politischer Akt, durch den eine spezifisch biopolitische Ungleichgewichtung in Bezug auf die Bewertungskriterien der Schutzwür­ digkeit des Lebens vorgenommen wird. Dass die aktuelle humanitäre Politik der physischen Gefährdung des Lebens durch Krankheit einen normativen Vorrang vor politischen Fluchtgründen einräumt, zeigt also, dass der Humanitarismus einer biopolitischen Logik folgt und entgegen seiner scheinbaren Unparteilichkeit aufgrund problematischer normativer Vorannahmen einzelnen (nämlich biologischen) Dimensionen des Lebens den Vorzug gegenüber anderen (nämlich politischen) gibt. Das Konzept der Biolegitimität markiert genau diese Dynamik, näm­ lich „dass Leben als biologisches Leben oder als politisches Leben wert­ geschätzt werden kann und dass die Legitimität des Ersteren sich zuneh­ mend gegenüber der des Letzteren durchgesetzt hat“ (Fassin 2017, 127). Diese normative Akzentverschiebung zeigt Fassin etwa daran auf, dass in Frankreich bereits im Jahr 2005 „[d]ie Aussicht auf Regularisierung (…) bei einer lebensbedrohlichen Krankheit sieben Mal höher [war] als bei Verfolgung“ (Fassin 2017, 100). Als ein konkretes Fallbeispiel, anhand dessen diese Dynamik der Biolegitimität ersichtlich wird, führt Fassin das Phänomen der sogenannten biologischen Staatsbürgerschaft an (vgl. Petry­ na 2002). Damit ist grundsätzlich gemeint, dass die Inanspruchnahme von Rechten im Allgemeinen und der Anspruch auf Staatsbürgerschaft im Besonderen an das Vorhandensein bestimmter physisch-biologischer Kriterien geknüpft wird (vgl. Novas/Rose 2005). Im Nachgang des SuperGAUs von Tschernobyl bspw. können die armen Teile der ukrainischen Bevölkerung ihre sozialen Rechte „nur mittels ihrer biologischen Verfas­

329

Kapitel 7

sung wahrnehmen (…) und nur dann vollwertige ukrainische Staatsbür­ ger werden, wenn sie gesundheitliche Auswirkungen nachweisen können“ (Fassin 2017, 111). Die gesundheitliche Schädigung durch die Nuklearka­ tastrophe ist hier also zur biopolitischen Voraussetzung von rechtlicher In­ klusion, gesellschaftlicher Zugehörigkeit und politischer Mitbestimmung geworden. Auch die Ausrichtung der französischen Einwanderungspolitik an der Geltendmachung humanitärer Gründe folgt dem Schema der biologischen Staatsbürgerschaft und damit der spezifischen Logik der Biolegitimität. Dass Migranten in Frankreich die größte Chance auf den Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis haben, wenn sie eine ernsthafte Erkrankung nach­ weisen können, bedeutet nämlich, dass ihr Leben in den Augen der französischen Behörden, besonders des Französischen Amts zum Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen (vgl. Fassin 2017, 102), auf den physi­ schen Aspekt seiner biologischen Anfälligkeit für Krankheiten reduziert worden ist (vgl. Fassin 2017, 112). Ähnlich verhält es sich im Fall der Be­ kämpfung der Aids-Epidemie in Südafrika zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Hier stellt Fassin ausführlich dar, wie die medizinische Eindämmung von Aids durch den Einsatz antiretroviraler Medikamente andere Themen der sozialen Ungleichheit im öffentlichen Diskurs Südafrikas mehr und mehr überlagert hat. Die Stärkung des öffentlichen Gesundheitssystems, so Fas­ sin, wurde von den gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsträ­ gern gegenüber nicht weniger dringlichen Gerechtigkeitsfragen priorisiert. Sozialpolitische Herausforderungen wie die Verarmung der Landbevölke­ rung, fehlender bezahlbarer Wohnraum, wachsende Ungerechtigkeiten in der Einkommensverteilung oder das rassistische Erbe der Apartheidsregie­ rung wurden durch den gesundheitspolitischen Fokus auf medizinische Behandlungsmöglichkeiten von Aids immer mehr an den Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit gedrängt. Die von Fassin angeführten Fallstudien zeigen also beispielhaft die ent­ politisierenden Mechanismen der Biolegitimität im politischen Kontext moderner Nationalstaaten auf. Diese Entpolitisierung macht sich in erster Linie darin geltend, dass die öffentliche Wahrnehmung der Gefährdung eines Lebens auf biologische Eigenschaften und ärztlich dokumentierbare Lebensprozesse enggeführt wird, indem etwa das Urteil über die Rechtmä­ ßigkeit des rechtlichen bzw. politischen Schutzes von Migranten an das Vorliegen medizinischer Atteste gekoppelt wird. Vor diesem Hintergrund sind humanitäre Politikansätze gerade dadurch gekennzeichnet, „dass der Schwerpunkt von den Rechten auf die Bedürfnisse verlagert wurde, das heißt vom sozialen und politischen Leben – der Sklaven, die befreit wer­

330

7.3 Vom politischen zum biologischen Leben: Fassins Konzept der Biolegitimität

den müssen – auf das physische und biologische Leben der Opfer, die ge­ rettet werden müssen“ (Fassin 2017, 115f.).101 Genau diese Verschiebungen lassen sich an den soziologischen und ethnographischen Untersuchungen belegen, die Fassin in Frankreich und Südafrika angestellt hat. Er vermerkt dazu programmatisch: „In Frankreich schenkt man der Bedrohung des physischen Lebens des erkrankten Migranten anscheinend mehr Vertrauen als der Gefähr­

101 In einem Aufsatz unter dem Titel Second-Generation Rights as Biopolitical Rights (vgl. Cheah 2014) bezeichnet Pheng Cheah die sogenannten „Second-Generati­ on human rights“ (Cheah 2014, 215) als spezifisch biopolitische Rechte, gerade insofern diese sich auf menschliche Bedürfnisse beziehen (vgl. Cheah 2014, 219). Während unter den Menschenrechten der ersten Generation die bürgerlichen und politischen Freiheitsrechte im Sinne von negativen Abwehrrechten der Ein­ zelnen gegenüber dem Staat verstanden werden, sind mit den Menschrechten der zweiten Generation die verschiedenen ökonomischen, sozialen und kultu­ rellen Rechte (ESCR) gemeint. Diese Rechte formulieren positive Pflichten, die der Staat den Individuen schuldet, um deren grundlegende Bedürfnisse zu erfüllen und zu sichern. Dadurch geraten die Menschenrechte der zweiten Generation jedoch, so Cheahs rechtskritische Diagnose, in einen Widerspruch zur Grundidee der Menschen­ rechte. Denn die Menschenrechte beruhen Cheah zufolge auf dem rationalis­ tischen Verständnis des Menschen als eines von Natur aus souveränen Indivi­ duums (vgl. Cheah 2014, 217), das dementsprechend über unveräußerliche (Natur-)Rechte verfügt. „In other words, human rights are the sovereign self-de­ termination of reason, expressed in, embodied by, and exercised by humanity as a collective subject“ (Cheah 2014, 218). Ökonomische, soziale und kulturelle Rechte verstehen den Menschen jedoch nicht als eine souveräne und autonome Rechtsperson bzw. autarke Vernunftinstanz, sondern als ein Bedürfniswesen, das in relationaler Weise auf andere angewiesen und von anderen abhängig ist. ESCR begreifen den Menschen dementsprechend laut Cheah in biopolitischen Kategorien, nämlich als Teil einer Gesamtbevölkerung, die im Feld einer politi­ schen Ökonomie situiert ist und deren biologische Bedürfnisse und natürliche Lebensprozesse durch biopolitische Mechanismen und Regierungstechniken re­ guliert werden müssen (vgl. Cheah 2014, 226f.). Wie bereits im früheren Kontext der Problematisierung von Foucaults Genealo­ gie des Homo oeconomicus thematisiert wurde, stellt die Biopolitik die juridische Kategorie des souveränen Rechtssubjekts dadurch infrage, dass sie den Men­ schen als Teil eines politisch-ökonomischen Feldes konstituiert, in dem es um die Regierung und Normalisierung von natürlichen Körpern und Populationen geht. Cheahs Überlegungen zum biopolitischen Status der ESCR unterstreichen diese These, indem sie zeigen, inwiefern innerhalb des Menschenrechtsdiskurses selbst biopolitische Vorstellungen wirksam sind, welche die juridische Form des souveränen Rechtssubjekts infrage stellen und stattdessen auf die menschlichen Bedürfnisse als Gegenstand biopolitischer Interventionen fokussieren.

331

Kapitel 7

dung des politischen Lebens des Asylsuchenden. In Südafrika scheint man die Gefahren für das biologische Leben des Aids-Patienten als un­ erträglicher zu empfinden als die Aussicht, dass es im sozialen Leben der Armen zu Ungerechtigkeiten kommt“ (Fassin 2017, 111). Darüber hinaus wird aber auch erkennbar, inwiefern diese Entpolitisie­ rungen dazu führen, dass öffentliche Aufmerksamkeitsökonomien auf biopolitische Weise gesteuert und in ganz bestimmte Richtungen kanali­ siert werden, wodurch unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen die Möglichkeit staatlichen Schutzes aktiv vorenthalten wird. Die humanitäre Behandlung von Flüchtlingen offenbart sich vor dem Hintergrund der Biolegitimität zugleich als ein biopolitischer Selektionsmechanismus, der Asylsuchende dadurch benachteiligt, dass er die Kriterien für die Aufnah­ me von geflüchteten Menschen biologisiert und dadurch naturalisiert. Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Terror oder politischer Verfol­ gung sind, werden durch den Humanitarismus somit diskursiv als weni­ ger schutzwürdig konstruiert, wodurch die soziale und politische Bedro­ hung ihrer Leben vernachlässigt und dadurch gleichzeitig verstärkt wird. Indem die sozialen und politischen Dimensionen der Gefährdung dieser Menschen in den öffentlichen Diskursen keine Berücksichtigung finden, werden diese Menschen politisch unsichtbar gemacht und rechtlich aus­ geschlossen. Die biopolitische Kodierung humanitärer Hilfsmaßnahmen führt also dazu, dass eine wachsende Gruppe von Menschen geschaffen wird, deren Leben einer immer stärker werdenden Gefährdung ausgesetzt sind und deren politische und rechtliche Situation somit immer prekärer wird. Damit wird im Anschluss an Fassins Konzept der Biolegitimität deut­ lich, dass nicht nur einzelne Leben, wie Butler herausarbeitet, in öffentlichen Debatten als mehr oder weniger betrauerbar und lebendig gelten, sondern dass sich bereits in der Immanenz des Lebensbegriffs selbst verschiedene Bedeutungsschichten unterscheiden lassen, deren jeweiliger normativer Stellenwert in politischen Programmen und gesellschaftlichen Diskursen ungleich bewertet wird und die strategisch gegeneinander aus­ gespielt werden. Durch die Abwertung der sozialen und politischen Ebe­ nen des Lebens zugunsten seiner natürlichen und damit scheinbar unpo­ litischen Dimension wird eine biopolitische Heuristik etabliert, in deren Rahmen die Betrauerbarkeit des Lebens anhand der epistemologischen Gesetzmäßigkeit der Biolegitimität ungleich verteilt wird. Die Vorstellung der Betrauerbarkeit des Lebens erscheint vor diesem Hintergrund gewisser­ maßen als integral biopolitisch bestimmt, da die Möglichkeit öffentlicher Trauer über den Verlust eines Lebens immanent damit zusammenhängt,

332

7.3 Vom politischen zum biologischen Leben: Fassins Konzept der Biolegitimität

ob es sich um eine biologisch-medizinische oder politische Gefährdung dieses Lebens handelte. Welches Leben betrauert werden kann, ist immer auch davon abhängig, welche spezifische Dimension dieses Lebens als gefährdet angesehen wird und welche Form von Gefährdung überhaupt als solche anerkannt wird. Die Biolegitimität spielt hierbei sozusagen die Rolle eines biopolitischen Ungleichheitsmarkers. Am Ende seines Kapitels über die Ethik des Lebens befasst sich Fassin damit, „was bei dieser ethischen Verlagerung hin zu dem, was ich Biolegiti­ mität genannt habe, gewonnen wird und was verlorengeht, was ins Blickfeld kommt und was uns sprachlos macht: Diese Fragen habe ich angesprochen. Und ich ziehe daraus den Schluss, dass biologische Staatsangehörigkeit die Bedeutung der sozialen Rechte verringert, dass die zunehmende Anerkennung des physischen Lebens häufig mit einem Rückgang der Bedeutung des politischen Lebens einhergeht, dass die Legitimität des geretteten Lebens tendenziell die Dringlich­ keit des Rufs nach sozialer Gerechtigkeit verringert (…)“ (Fassin 2017, 128f.). Die Biolegitimität funktioniert demnach als eine biopolitische Rahmung des Blickfelds, durch die gesellschaftlich eingeschränkt wird, welche Art von Gefährdung zum politischen Handeln mobilisiert, wann die Bedro­ hung eines Lebens öffentlich geteilte Gefühle des Mitleids und der Ver­ antwortung hervorruft und unter welchen Bedingungen auf die Prekari­ sierung menschlicher Leben durch „nationales und internationales Enga­ gement“ (Fassin 2017, 109) reagiert wird. Diese normativen Vorverständ­ nisse in Bezug darauf, welches Leben als gefährdet anerkannt wird und welches Leben demgegenüber unsichtbar und stimmlos bleibt, werden außerrechtlich produziert. Sie sind abhängig von gesellschaftlichen Voran­ nahmen über den ungleichen Wert unterschiedlicher Leben, die im Kon­ text der jeweils hegemonialen moralischen Ökonomien einer Gesellschaft entstehen und reproduziert werden. Ob Geflüchtete also ihre sozialen und politischen Rechte ausüben können und ob ihnen staatlicher Schutz durch einen Rechtsstatus zuerkannt oder aber verweigert wird, entscheidet sich unter den Bedingungen der Biolegitimität nicht anhand rechtlicher Kriterien, sondern hängt von der außerrechtlichen Rechtfertigung ihrer Fluchtgründe ab, die sich auf der normativen Grundlage eines auf seine angeblich natürlichen Eigenschaften hin konzentrierten Lebensbegriffs ab­ spielt. Durch diese biologisierende Akzentsetzung im aktuellen Rahmen der Migrations- und Flüchtlingspolitik werden Menschen, die vor Krieg, Hun­

333

Kapitel 7

gersnöten, klimawandelbedingten Naturkatastrophen oder politischer Ver­ folgung fliehen, sehr viel häufiger aus dem Recht ausgeschlossen als Mig­ ranten und Flüchtlinge, deren Leben von einer lebensgefährlichen Krank­ heit bedroht wird. Denn um rechtlich anerkannt und ins Recht inkludiert zu werden ist es erforderlich, dass das eigene Leben innerhalb der biopo­ litisch geprägten Bewertungsschemata, die im öffentlichen Diskurs der Gesellschaft des jeweiligen Aufnahmelandes vorherrschen, als biologisch gefährdet wahrgenommen werden und damit überhaupt als potenzieller Adressat rechtlicher Kategorien in Erscheinung treten kann. Nach Fassin ist es im globalen Rahmen der humanitären Flüchtlingspolitik, wie gese­ hen, deutlich einfacher, „moralische Gefühle für Leben zu wecken, die durch eine tödliche Krankheit bedroht sind, als für Leben, die Gewalt oder Ungerechtigkeit ausgesetzt sind“ (Fassin 2017, 128). Die Bedeutung von Rechten, so lässt sich mit Blick auf Fassins Proble­ matisierung des Humanitarismus zusammenfassen, wird durch biopoliti­ sche Diskursformationen und Gesellschaftspraktiken geschwächt und in­ frage gestellt, welche dem Recht vorausliegen und in die es gesellschaftlich eingebettet ist. Denn über die Legitimität der Inanspruchnahme von Rech­ ten, so die Pointe im Anschluss an Fassins Ausführungen, wird außerhalb rechtlicher Rechtfertigungsmuster entschieden, nämlich im vorrechtlichen Bereich biopolitischer Wertungen und Grenzziehungen in Bezug darauf, unter welchen Bedingungen ein Leben als ein verlierbares und damit schützenswertes Leben zählt und als solches vor dem Recht erscheinen kann. Die spezifische Politik des Lebens, die sich in der Konzeption der Biolegitimität niederschlägt, lässt sich somit als biopolitischer Ausschluss­ mechanismus begreifen, durch den prekarisierte Menschen, deren soziale und politische Lage zuvor entpolitisiert und unsichtbar gemacht worden ist, aus rechtlichen Kategorien exkludiert werden. Zwischenfazit Mit Achille Mbembe und Didier Fassin sind zwei weitere zentrale Denk­ modelle im Kontext der gegenwärtigen biopolitischen Forschungsland­ schaft neben Judith Butler vorgestellt worden. Die Diskussion der theore­ tischen Konzepte Mbembes und Fassins hat dabei die Perspektive einer biopolitischen Rechtskritik an verschiedenen Stellen nochmals erweitert und weiter auf den Begriff gebracht. Im Anschluss an Mbembes postkolo­ nialen Ansatz ist zunächst sichtbar geworden, dass die koloniale Kategorie der Rasse eine weitere zentrale Bedingung moderner Rechtssubjektivität

334

Zwischenfazit

darstellt, die bei Menke allerdings keine Erwähnung findet. Das Recht pro­ duziert auf rassistische Weise Illegale, indem es rassisch stigmatisierte Men­ schen auf den marginalisierten und rechtlosen Status eines Rassensubjekts reduziert, das gegenüber dem privilegierten Bereich des Rechtssubjekts abgetrennt und dadurch gleichzeitig entmenschlicht und aus der mensch­ lichen Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Mbembes radikalisierende Les­ art von Foucaults Konzept der Biopolitik als Nekropolitik dekonstruiert dabei gleichzeitig, wie gesehen, auf radikale Weise den liberalen Gleich­ heitsanspruch bürgerlicher Rechtssysteme und unterstreicht stattdessen die rassistische Tötungsdimension demokratischer Staaten. Denn in Mbembes nekropolitischer Sichtweise wird das moderne Recht als ein Dispositiv erkennbar, dessen Strukturen und Mechanismen das Leben der rassifizierten Anderen nicht nur gesellschaftlich abwerten und ausgrenzen, sondern aktiv vernichten und töten. Mit Mbembe erscheint das bürgerliche Recht in seinem konstitutiven postkolonialen Kontext, der bei Menke nicht mitgedacht wird. Die bürger­ lichen Rechtssysteme der westlichen Demokratien stehen Mbembe zufolge im größeren Zusammenhang einer imperialen Aufteilung der Welt in ethnisch und kulturell vermeintlich unterlegene und überlegene Völker. Dabei rekonstruiert Mbembe diese Hierarchisierung der Menschheit in Zentren und Peripherien als ein groß angelegtes koloniales Trennungspro­ jekt, dessen rassistische Gewaltdynamik untrennbar mit der Geschichte der Moderne verflochten ist. Dieser geopolitischen Aufteilung der Welt korrespondiert rechtstheoretisch die rassistisch legitimierte Spaltung und Fragmentierung des modernen, liberalen Rechtsbegriffs. Gegen rechtliche Universalitätsansprüche in der Moderne argumentiert Mbembe mit Nach­ druck, dass die Ideen der liberalen Demokratie, der egalitären, bürgerli­ chen Rechtsordnung und der individuellen, subjektiven Rechte immer schon durch eine konstitutive Spaltung gekennzeichnet sind und niemals gleichermaßen und für alle galten. Mbembe zufolge wurde in Demokra­ tien schon immer zwischen Gleichen und Nichtgleichen differenziert, zwischen Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft und Nicht-Mitgliedern. In diesem Zusammenhang erscheinen bei Mbembe die illegalisierten Flücht­ lingen und Sans-Papiers als die modernen Rassensubjekte heutiger Demo­ kratien, die als das Andere der Demokratie konstruiert und deren Leben aus dem Recht ausgeschlossen und oftmals dem Tod überlassen werden. Die biopolitische Zäsur zwischen Innen und Außen, zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ wird mit Mbembe somit als die koloniale Unterscheidung zwischen kolonisierenden und kolonisierten Völkern lesbar, wobei die Gewalt-, Ungleichheits- und Herrschaftsstrukturen der kolonialen Unter­

335

Kapitel 7

werfung auch die heutigen Demokratien bis in die globalisierte Gegenwart hinein kontinuierlich prägen. Denn Mbembe zufolge grenzen sich auch die westlichen Demokratien als globale Metropolen gegenüber dem radi­ kal Anderen und Ungleichen nach wie vor anhand rassistischer, postkolo­ nialer Kategorien von Schwarzsein und Weißsein ab. Eine zeitgenössische Rechtskritik muss daher einerseits die – auch noch bei Menke implizit vertretene – ‚Farbenblindheit‘ des Liberalismus überwinden und die ras­ sistischen Strukturen und Denkmuster demokratischer Politik kritisch herausarbeiten. Andererseits muss sie die koloniale Aufteilung der Welt in verschiedene Zonen problematisieren, in denen die Menschen in ver­ schiedene Menschenarten eingeteilt und klassifiziert werden und in denen dementsprechend für bestimmte Menschen jeweils unterschiedliches und teilweise gar kein Recht gilt. Die postkoloniale Kritik der nekropolitischen Auslöschung und Tötung derer, die nicht zu ‚uns‘ gehören, die fremd sind und durch den demokratischen Terror als unsere Feinde markiert werden, deren Leben als wertlos und überflüssig erachtet werden und denen gegen­ über ‚wir‘ uns überlegen fühlen, bildet somit einen integralen Bestandteil der hier vertretenen Kritik biopolitischer Ausschlüsse aus Rechtssystemen. Darüber hinaus ist die Biopolitik mit Fassin nochmals als eigenständige Perspektive des Politischen gegenüber den Diskursen des Rechts hervor­ gehoben worden. Fassins Deutung der Biopolitik als moralische Ökono­ mie unterstreicht im Anschluss an Foucault die Einbettung des Rechts in umfassendere biopolitische Gesellschaftszusammenhänge. Unter einer moralischen Ökonomie versteht Fassin dabei, wie erläutert, die normative Matrix und das imaginäre Grundgerüst moderner Gesellschaften im Sinne von kulturell hegemonialen Wertvorstellungen über die fundamentale Un­ gleichheit menschlicher Leben. Die Wirkmächtigkeit dieser epistemisch und kulturell verfestigten Deutungsschemata liegt den sozialen Kräfteverhältnissen und politischen Prozessen einer Gesellschaft gewissermaßen als biopolitisches Strukturprinzip zugrunde und sichert die diskursive Kon­ struktion der ethischen Ungleichwertigkeit des Lebens ideologisch ab. Auch die biopolitische Klassifizierung und Hierarchisierung menschlicher Leben innerhalb bürgerlicher Rechtsdiskurse beruht daher Fassin zufolge auf der ethischen Aufteilung und Spaltung der Gesellschaft anhand vor­ rechtlich wirksamer, kultureller Rahmensetzungen und Wahrnehmungs­ muster in Bezug auf den ungleichen Wert von Menschen. Diese gesamtgesellschaftliche Dimension der biopolitischen Ungleichbe­ wertung unterschiedlicher Leben bezeichnet Fassin, wie bemerkt, als Poli­ tik des Lebens. Mit dem Konzept einer Politik des Lebens richtet Fassin den diskursanalytischen bzw. machttheoretischen Begriff der Biopolitik

336

Zwischenfazit

bei Foucault noch einmal stärker normativ und gesellschaftskritisch aus und fokussiert seine Analyse auf die moralische Abwertung und Stigmati­ sierung von Menschen anhand biopolitischer Denk- und Handlungsmus­ ter. Ausgehend von diesem politisierten Begriffsapparat tragen speziell Fassins Überlegungen zur Lebensform geflüchteter Menschen weitere Ein­ sichten in Bezug auf die Problematisierung illegalisierter Flüchtlinge als paradigmatischer Figur biopolitischer Ausschlüsse bei. Wie gesehen, setzt Fassin jenseits juridischer Kategorien an den gemeinsamen sozialen Erfah­ rungen von Asylsuchenden, Sans-Papiers oder illegalisierten Flüchtlingen an und arbeitet u.a. heraus, dass diese Menschen unabhängig davon, ob sie rechtlich dokumentiert oder undokumentiert sind, oftmals auf der Ba­ sis von Ausländerfeindlichkeit, Rassenvorurteilen und strukturellem Ras­ sismus von der Öffentlichkeit als Rechtslose behandelt werden. Migranten und Flüchtlinge machen demnach im Raum der Gesellschaft die Erfah­ rung ihrer Rechtlosigkeit, auch wenn sie eigentlich über gültige Papiere und einen Rechtsstatus verfügen. Durch diese Beobachtung wird die Konzeption der Biopolitik als über­ greifende Perspektive des Politischen ausgeweitet, denn sie zeigt, dass die biopolitische Dimension der Entrechtung nicht aus einer rechtsinternen Perspektive allein angemessen erfasst werden kann. Vielmehr wird aus dem nichtrechtlichen Blickwinkel der Erfahrungen der Ausgeschlossenen deutlich, dass Praktiken der Illegalisierung keine rein innerrechtlichen Angelegenheiten sind, sondern aus dem komplexen Zusammenspiel hete­ rogener Elemente hervorgehen: Solche entrechtenden Praktiken setzen sich u.a. aus der gesellschaftlichen Ungleichbehandlung, rassistischen Dis­ kriminierung, räumlichen Abtrennung und ökonomischen Prekarisierung zusammen und sind nicht allein über den Aufweis rechtlicher Benennun­ gen und Kategorisierungen beschreibbar. Da die Illegalisierung von Men­ schen im Kontext dieser relationalen Strukturen des Sozialen geschieht, muss die Kritik der Illegalisierung ebendieses relationale Beziehungsge­ schehen in seiner Gesamtheit in den Blick rücken und damit einen primär rechtszentrierten Fokus übersteigen. Gleichzeitig wird dadurch der bei Menke zentrale Stellenwert von Rechten in Bezug auf gesellschaftliche Herrschaftsdiskurse zugunsten eines breiten, sozialkritischen Verständnis­ ses der Biopolitik relativiert. Schließlich wurde Butlers Begriff des precarious life mithilfe von Fas­ sins Konzept der Biolegitimität weiterentwickelt und biopolitisch vertieft. Denn im Rahmen der Biolegitimität geht es nicht nur um die Frage, wel­ ches Leben als lebendig und welches als sozial tot angesehen wird, sondern darum, welche spezifischen Dimensionen des Lebens selbst als gefährdet

337

Kapitel 7

wahrgenommen werden. Während Butler also eher danach fragt, welches Leben gefährdet wird, untersucht Fassin, welche Form der Gefährdung überhaupt als solche öffentlich thematisiert und anerkannt wird. Grob gesagt, begreift Butler Asylsuchende, Migranten und Flüchtlinge v.a. des­ halb als gefährdet, weil das Leben dieser Bevölkerungsgruppen in den rassistischen Schemata der Gesellschaft als weniger lebendig und betrauer­ bar betrachtet wird. Mit Fassin lässt sich dieses Argument dahingehend präzisieren, dass die Vulnerabilität von bestimmten Teilen dieser Gruppe durch die Vorrangstellung biologisch-medizinischer Bedrohungen gegen­ über sozialen und politischen Gefahren auf biopolitische Weise erhöht wird. Indem die Biolegitimität also konzeptuell nicht an den einzelnen Leben als solchen, sondern an den immanenten Bedeutungsebenen des Lebens selbst ansetzt, spitzt sie Butlers Begriff des precarious life zu und schärft dadurch nochmals den biopolitischen Lebensbegriff. Wie gesehen, wird der Diskurs des Humanitarismus von hier aus in seinen entpolitisie­ renden Wirkungen erkennbar: Humanitäre Politik kanalisiert auf biopoli­ tische Weise die Betrauerbarkeit von Menschen und begrenzt moralische Gefühle der Verantwortung gegenüber dem gefährdeten Leben, indem sie die lebensbedrohliche Krankheit gegenüber der sozialen Ausgrenzung und politischen Verfolgung als den ‚natürlicheren‘ Anlass für politischen Handlungsbedarf konstruiert und somit auf eine diskriminierende Art zwischen Asylsuchenden und ‚humanitären‘ Flüchtlingen differenziert. Nachdem in den Teilen II und III die theoretische Perspektive einer biopolitischen Kritik rechtlicher Ausschlüsse in Erweiterung von Men­ kes rechtskritischem Ansatz in ihren Grundzügen ausgeführt worden ist, möchte ich mich nun im vierten und letzten Teil dieser Arbeit mit der Fra­ ge auseinandersetzen, auf welche Weise der Widerstand der biopolitisch Ausgeschlossenen gegen ihre Entrechtung und Illegalisierung gedacht wer­ den kann. Begreift man nämlich, wie in den vorherigen Teilen ausführlich dargelegt wurde, die modernen Diskurse des bürgerlichen Rechts in ihrer konstitutiven biopolitischen Ausschließungsstruktur und problematisiert von hier aus den Ungleichheitscharakter und die Gewaltimplikationen aktueller Rechtssysteme mit Blick auf die Entwertung und Exklusion rassifizierter Lebensformen, so stellt sich mit Nachdruck die Frage, wie die solchermaßen Ausgeschlossenen Widerstand gegen ihre Entrechtung und Ausschließung leisten können. Wie können diejenigen, deren Leben für das Recht unsichtbar und nichtlebendig sind, gegen ein rechtliches Regime ankämpfen, das u.a. in der Gestalt heutiger Grenzanlagen und Flüchtlingslager aktiv gesellschaftliche und politische Bedingungen schafft, unter denen bereits ihr biologisches Überleben auf dem Spiel steht? Der

338

Zwischenfazit

Weg hin zu einem solchen Verständnis des Widerstands der biopolitisch Ausgeschlossenen führt dabei über die Dekonstruktion von Menkes Dar­ stellung des, wie er im Anschluss an Nietzsche formuliert, Aufstands der Sklaven gegen die Herrschaft der Herren. Im Folgenden möchte ich deshalb zunächst zeigen, aus welchen Gründen Menkes Lesart des Wider­ stands der aufständischen Sklaven für die Beantwortung der Frage nach dem Widerstand derer, die biopolitisch ausgeschlossen werden, nicht zu überzeugen vermag. In einem abschließenden Analyseschritt soll dann noch einmal im Dialog mit Judith Butler – und im Ausblick mit Frantz Fanon – skizziert werden, wie der Widerstand der Ausgeschlossenen gegen die entrechtende und ausschließende Gewalt des bürgerlichen Rechts aus der Position ihrer eigenen Rechtlosigkeit konzeptualisiert werden kann.

339

TEIL IV Widerstand

Kapitel 8

8.1 Das Recht auf Berücksichtigung: Menkes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche Wie bereits im Verlauf dieser Arbeit ausführlich dargelegt worden ist, be­ schäftigt sich Menke mit der Kritik des bürgerlichen Rechts fast ausschließ­ lich aus der Innenperspektive der bürgerlichen Rechtsordnung, er kriti­ siert die entpolitisierenden und naturalisierenden Effekte der subjektiven Rechte mit Blick auf die durch diese Rechte ermächtigten Rechtssubjekte. Vor dem Hintergrund der so beschriebenen grundsätzlichen Krise der sub­ jektiven Rechte, die Menke in überzeugender Weise entfaltet, schlägt er im abschließenden vierten Teil seiner Rechtskritik nicht weniger als „ein neues Recht“ (Menke 2015, 381) vor. Dieses neue Recht bezeichnet Menke als „das Recht der Gegenrechte“ (ebd.), das er dadurch einführt, dass er „in einer sehr eigenwilligen genealogischen Lektüre Nietzsches zu rekon­ struieren [versucht], wie es überhaupt zur Forderung subjektiver Rechte gekommen sei“ (Buckel 2018, 136). Das revolutionäre Subjekt, das die subjektiven Rechte einfordert, ist in Menkes Deutung von Nietzsche „der aufständische Sklave“ (Menke 2015, 347), der sich gegen die Herrschaft seines Herrn auflehnt. Damit liest Menke den von Nietzsche in der Genea­ logie der Moral (vgl. Nietzsche 2013/1887) analysierten Sklavenaufstand als die Strukturbeschreibung der bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts und bestimmt den aufständischen Sklaven bei Nietzsche als die moderne Gestalt „des Subjekts der bürgerlichen Revolution“ (Menke 2015, 346). Während der positive Vorschlag am Ende von Menkes Kritik der Rechte in der Konzeption der Gegenrechte besteht, kommt es dagegen in der Analyserichtung der vorliegenden Arbeit primär auf die Perspektive der biopolitisch Ausgeschlossenen an. Im Bisherigen habe ich bereits dafür argumentiert, dass Menke die Frage nach einer solchen Perspektive der Ausgeschlossenen aufgrund des systematischen Zuschnitts seines theoreti­ schen Programms und seiner rechtsphilosophischen Argumente gar nicht explizit stellt. Denn Menke fokussiert seine Untersuchungen auf die bür­ gerliche Naturalisierung des Rechtssubjekts, nicht auf die biopolitische Naturalisierung der Ausgeschlossenen. Nichtsdestotrotz kann ihm dieses Fehlen der Dimension rechtlicher Ausschlüsse zum Vorwurf gemacht wer­

343

Kapitel 8

den, nicht zuletzt weil er selbst, wie gesehen, vor einem biopolitischen Hintergrund argumentiert, den Begriff der Biopolitik dabei aber stark ver­ kürzt und in seinem rechtskritischen Potenzial mit Blick auf die rechtlich Ausgeschlossenen verkennt. Deshalb geht es mir im Folgenden nicht einfach darum zu zeigen, dass sich Menkes Konzeption der Gegenrechte nicht für die kritische Re­ flexion der biopolitischen Exklusionen aus dem bürgerlichen Recht und des Vorenthalts der subjektiven Rechte gegenüber den Rechtlosen und Entrechteten eignet. Denn die Gegenrechte sind ja als Konzept gar nicht explizit dazu gedacht, um rechtliche Ausschlüsse zu reflektieren, sondern stellen in erster Linie den Versuch dar, eine rechtsphilosophische Antwort auf die entpolitisierenden Wirkungen des bürgerlichen Rechts zu geben, die Menke unter dem Stichwort der Legalisierung des Natürlichen analy­ siert. Natürlich stellt diese konzeptuelle Leerstelle, wie gesehen, ein zentra­ les Problem von Menkes rechtskritischer Argumentation dar, weil eine Rechtskritik, die nicht den Exklusionscharakter moderner Rechtsordnun­ gen in Rechnung stellt, notwendig unvollständig bleibt und im Hinblick auf rechtlich hervorgebrachte Entrechtungen nicht zu überzeugen vermag. Im Folgenden möchte ich daher zum einen Menkes Lesart von Nietz­ sches Sklavenrevolte auf den Prüfstand stellen und dabei erläutern, inwie­ fern die Art und Weise, in der Menke Nietzsche interpretiert, problema­ tisch ist und die Sicht auf die biopolitischen Ausschlüsse verstellt. Zum anderen möchte ich im Zuge dieser Kritik an Menke eine alternative Lektüre von Nietzsche entfalten, die im Dialog mit den bereits themati­ sierten biopolitischen Autorinnen und Autoren steht und die Perspektive der biopolitisch Ausgeschlossenen in den analytischen Mittelpunkt stellt. Dabei werde ich die These vertreten, dass die „Subjektgestalt des aufständi­ schen Sklaven oder Knechts“ (ebd.) entgegen Menkes Darstellung nicht das Subjekt ist, das als bürgerliches Subjekt seine subjektiven Rechte revo­ lutionär einfordert, sondern vielmehr das Subjekt, das durch die bürgerli­ che Rechtsgemeinschaft der Herren aus dem Recht exkludiert wird. Das bedeutet jedoch bei genauerem Hinsehen, wie ich zeigen werde, dass dem Status des bürgerlichen Rechtssubjekts im Rahmen von Nietzsches Genea­ logie letztlich nicht die Position des Sklaven entspricht, sondern die des Herrn, der den Sklaven unterdrückt. Im Anschluss an Nietzsche, so lautet das zu entfaltende Argument, lässt sich daher die Struktur des Subjekts der subjektiven Rechte als Korrelat zur Form des Herrenrechts begreifen, das den Sklaven nicht ermächtigt und befreit, sondern biopolitisch abwertet und ausschließt. Kurz: Der Herr, und nicht der Sklave, ist das eigentliche Subjekt der bürgerlichen Revolution, das als bürgerliches Rechtssubjekt

344

8.1 Das Recht auf Berücksichtigung: Menkes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche

die Gleichheit der Rechte beansprucht, indem es diese Rechte den Sklaven als Nichtgleichen vorenthält. Damit kommt die biopolitische Gewalt- und Ausschlussdynamik des bürgerlichen Rechts vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchungen noch einmal klarer zur Geltung. In meiner Gegendarstellung von Nietzsches genealogischer Beschrei­ bung des Sklavenaufstands beziehe ich mich auf dessen Schrift Zur Genea­ logie der Moral, die auch Menkes Deutungsmodell primär zugrunde liegt (zur Einführung in die Genealogie der Moral vgl. Stegmaier 1994; Acampo­ ra 2006. Zur allgemeinen Einführung in Nietzsches Denken vgl. Stegmaier 2020.). In früheren Schriften hat Menke bereits zu Nietzsche als einem Denker ästhetischer Freiheit v.a. unter anthropologischen und ethischen Gesichtspunkten gearbeitet (vgl. exemplarisch Menke 2017, 108–128). In der deutschsprachigen Sozialphilosophie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten prominent u.a. Volker Gerhardt (vgl. Gerhardt 1989; 1992) und Hans Joas (vgl. Joas 2011; 2013, 37–58) sowie in der Tradition der Kritischen Theorie v.a. Martin Saar (vgl. Saar 2007; 2009) und Daniel Loick (vgl. Loick 2017, 185–221) ausführlich mit Nietzsches genealogi­ schem Denken beschäftigt.102 Im Verlauf der folgenden Analysen werde ich dabei an verschiedenen Stellen explizit auf die rechtsphilosophischen Untersuchungen Loicks Bezug nehmen und dessen Nietzsche-Lektüre nä­ her diskutieren. In einer internationalen Perspektive ist Nietzsches philosophischer Ent­ wurf, insbesondere seine Moralkritik, u.a. zum Ausgangspunkt für ver­ schiedene radikaldemokratische und postmoderne Modelle (vgl. Honig 1993; Hatab 1995; Owen 1995) und darüber hinaus auch zum Gegenstand rechtsphilosophischer Verarbeitungen geworden (vgl. Goodrich/Valverde 2005). Als ein zentrales Organ für die internationale Forschungsdebatte zu Nietzsche sind die seit 1973 als Internationales Jahrbuch für die Nietz­ sche-Forschung erscheinenden Nietzsche-Studien zu nennen. Nietzsche steht außerdem als zentraler Referenzautor im Hintergrund von Foucaults dis­ kurskritischer Philosophie, wobei Foucault sich auf Nietzsche insbesonde­ re als genealogischen Denker bezieht (vgl. exemplarisch Foucault 2002). In einer poststrukturalistischen Theorietradition schließlich hat sich Jacques Derrida in seiner späten Seminarreihe über die Todesstrafe mit Nietzsches Reflexionen zum Begriff der Schuld in der Genealogie der Moral auseinan­ dergesetzt (vgl. Derrida 2014, 142–159; dort insb. 148–153). An Derridas

102 Eine nach wie vor ausgezeichnete philosophiegeschichtliche Einordnung und begriffliche Systematisierung von Nietzsches philosophischem Denken bietet Karl Löwiths klassische Studie Von Hegel zu Nietzsche (vgl. Löwith 1995).

345

Kapitel 8

Überlegungen hat wiederum Judith Butler in ihrer Sigmund-Freud-Vorle­ sung über die Todesstrafe konstruktiv angeknüpft (vgl. Butler 2014, 17–30), nachdem sie bereits zu früheren Zeitpunkten wichtige Motive der Philo­ sophie Nietzsches thematisiert hat, bspw. dessen Theorie des schlechten Gewissens (vgl. Butler 2001d). Wie bereits angesprochen, nähert sich Menke der Frage nach dem Subjekt, das revolutionär seine Rechte einfordert, durch die Lektüre von „Nietzsches Untersuchung des Sklavenaufstands in der Moral“ (Menke 2015, 337) im Rahmen von dessen Schrift Zur Genealogie der Moral. Die Kritik, die Menke in Bezug auf den aufständischen Sklaven in Stellung bringt, besteht im Kern darin, dass der Sklave im Akt seiner revolutionä­ ren Befreiung gar nicht wirklich dagegen ankämpft, ein Sklave zu sein. Er wird, so Menkes Prämisse, durch seinen Aufstand nicht zu einem politischen Subjekt, d.h. zu einem freien und gleichen Teilnehmer an der politischen Selbstbestimmung des Gemeinwesens und seiner sozialen Praktiken, der „seine Gleichheit durch die Teilnahme an der gemeinsamen Selbstregierung zu verwirklichen“ (Menke 2015, 364) beansprucht. Dies zeichnet nach Menke vielmehr die, wie er sie nennt, „kommunistische Revolution“ (Menke 2015, 355) aus, die darauf abzielt, „jedem die gleiche Macht zur Teilnahme an der sozialen Praxis und ihrer politischen Selbstre­ gierung [zu] geben“ (ebd.). Wenn Marx den Menschen nämlich als ein soziales Wesen bestimmt, dann bedeutet das, so fasst Menke zusammen, „dass jeder auf ganz verschiedene Weise, aber gleichermaßen ein sozialer Teilnehmer ist“ (Menke 2015, 344). Marx verankert die Gleichheit der Menschen also in ihrer sozialen Na­ tur und widerspricht damit der Deutung der Gleichheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich „als Gleichheit der Rechte“ (Menke 2015, 337). Für Marx liegt die menschliche Gleichheit jenseits der rechtli­ chen Gleichheit, nämlich darin, dass alle Menschen gleichermaßen soziale Wesen sind, also Wesen, die immer schon aktiv an sozialen Praktiken teilhaben (vgl. Menke 2015, 343f.). Deshalb bestimmt Menke die Politik auch als den Prozess der kollektiven Selbstregierung: „Politik heißt Selbst­ regierung“ (Menke 2015, 341), d.h. die gemeinsame Selbstregierung und Gestaltung der sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Menschen miteinander zusammenleben. Genau diese Berechtigung, an der politischen Selbstregierung aktiv par­ tizipieren zu können, fordern die aufständischen Sklaven laut Menke aber gerade nicht ein. Anstelle ihrer aktiven Teilnahme am politischen Prozess, also an der politischen Selbstregierung des Sozialen, fordern sie in Menkes Augen das Recht auf ihre Passivität ein (vgl. Buckel 2018, 136). Während

346

8.1 Das Recht auf Berücksichtigung: Menkes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche

die Herren in Nietzsches Heuristik, auf die sich Menke hier bezieht, über das Recht verfügen, sich ihre eigenen moralischen Werte zu schaffen (vgl. Menke 2015, 347) und sich somit an den von ihnen selbst bestimmten Werten auszurichten, entbehrt der Sklave eines solchen Rechts, da er aus der Position seiner Versklavung und Unfreiheit heraus gerade nicht die Macht hat, seine eigenen Werte zu setzen. Dies macht in Nietzsches Augen die Schwäche des Sklaven aus, dass er nicht die Macht und die (Wil­ lens-)Stärke hat, die es ihm erlauben würde, sich seine eigenen Werte zu schaffen und diese tatsächlich auch gegen den Herrn durchzusetzen (vgl. Nietzsche 2013, 36). Stattdessen ist der Sklave für Nietzsche der schlecht­ hin Ohnmächtige. Bekanntlich lässt Nietzsche den Sklavenaufstand in der Moral mit dem Judentum beginnen und bettet dessen moralischen Auf­ stand konstitutiv in seine eigene antisemitische Heuristik der „jüdischen Umwerthung“ (Nietzsche 2013, 23) der durch die Herren geschaffenen Werte ein.103 Deshalb fordern die Sklaven in ihrem Aufstand nach Menke nicht das Recht auf ihre politische Autonomie, auf aktive Mitbestimmung und Mit­ sprache, sondern sie fordern das Recht auf Berücksichtigung (vgl. Menke 2015, 349), welches ihren Status als wesentlich Passive zur Geltung bringt: „Der Grund des Rechts auf Berücksichtigung – das Recht am Grund aller Rechte – ist das Recht auf Passivität“ (Menke 2015, 353). Der Sklave will

103 Die Passivität des Sklaven, von der Menke spricht, erklärt sich für Nietzsche aus dessen Ohnmacht und des daraus hervorgehenden Ressentiments. Diese Ohnmacht und dieses Ressentiment schreibt Nietzsche in antisemitischer Weise den Juden zu. So formuliert Nietzsche in der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral, die sich mit der Unterscheidung von Gut und Böse bzw. Gut und Schlecht beschäftigt: „Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehal­ ten haben, nämlich ‚die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächti­ gen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für die allein giebt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!“ … Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwerthung gemacht hat…“ (Nietzsche 2013, 23). Diese Umwertung aller Werte (vgl. exemplarisch Nietzsche 2013, 37–41), in deren Rahmen „die Schwäche zum Verdienste um­ gelogen werden [soll]“ (Nietzsche 2013, 37), ist der Beginn des „Sklavenauf­ stand[s] in der Moral“ (Nietzsche 2013, 23), den Nietzsche in eindeutig antise­ mitischer Weise den Juden zurechnet.

347

Kapitel 8

demnach nicht selbst zum Herrn werden, sondern als Sklave berücksich­ tigt werden, d.h. er „beansprucht nicht das Recht, wie der Herr auch Werte zu schaffen und darüber zu urteilen, was für ihn das Gute ist“ (Menke 2015, 348). Was der Sklave damit in seinem Aufstand einfordert, ist „das Recht des Schwachen, den Starken verpflichten zu dürfen, sich für sein Tun dem Schwachen gegenüber zu verantworten“ (ebd.).104 Dieses Recht bestimmt Menke als das Recht des Schwachen, vom Starken in dessen Handeln berücksichtigt zu werden. Das Problem für Menke dabei ist, dass sich die Sklaven durch die Einfor­ derung dieses Rechts auf Berücksichtigung gerade nicht von ihrer Schwä­ che und damit von ihrem Status als Sklaven befreien können. Denn in der Verpflichtung der (aktiven) Mächtigen zur Berücksichtigung der (passiven) Schwachen bleibt der Status der Schwachen als Schwache unverändert, d.h. die rechtliche Berücksichtigung der Ohnmächtigen „schreibt nur ihre

104 Hierin lässt sich durchaus ein kritisches Echo in Bezug auf Rainer Forsts Konzeption des Rechts auf Rechtfertigung wiedererkennen, insofern die Grund­ intuition dieses Rechts nach Forst darin besteht, „nicht mehr unterdrückt, bedrängt oder übergangen werden zu wollen in seinem Anspruch und GrundRecht auf Rechtfertigung“ (Forst 2007, 10). Das Recht auf Rechtfertigung begreift Forst als den zentralen normativen Grundsatz seiner Gerechtigkeitstheorie im Sinne „eines moralischen Grund-Rechts auf Rechtfertigung“ (Forst 2007, 12), welches er zunächst moralphilosophisch begründet und in der Folge macht­ theoretisch ausfaltet und den Konzeptionen der politischen und sozialen Ge­ rechtigkeit (vgl. Forst 2007, 189–211 sowie 270–291) ebenso wie dem Begriff der Menschenrechte zugrunde legt (vgl. Forst 2007, 291–328). Das Recht auf Rechtfertigung ist dabei erstens von Menkes grundlegender Kritik der subjek­ tiven Rechte betroffen: Als individuelles Recht eines jeden Einzelnen ist das Recht auf Rechtfertigung der Struktur nach selbst ein subjektives Recht. Zwei­ tens lässt sich das Recht auf Rechtfertigung unter dem Gesichtspunkt seiner systematischen Rechtfertigungsstruktur mit dem von Menke kritisierten Recht auf Berücksichtigung parallel lesen: Im Recht auf Rechtfertigung, so lässt sich pointiert festhalten, geht es u.a. darum, andere verpflichten zu können, sich für ihr Handeln zu verantworten, also genau um die Berücksichtigungsdynamik, die Menke (mit Nietzsche) im reziproken Verhältnis zwischen dem Schwachen und dem Starken identifiziert. Denn das Recht auf Rechtfertigung beruht auf einem Bild des Menschen als „Rechtfertigungswesen“ (Forst 2007, 9), insofern der Mensch nicht nur mit der Fähigkeit ausgestattet ist, „sich für seine Handlungen und Überzeugungen gegenüber anderen mit Gründen zu rechtfertigen bzw. zu verantworten, sondern er sieht dies in bestimmten Kontexten als Verpflichtung an und setzt voraus, dass andere dies auch tun“ (ebd.). Diese Strukturanalogie zwischen dem Recht auf Berücksichtigung bei Menke und dem Recht auf Rechtfertigung bei Forst kann hier nur angedeutet werden, verdient aber in jedem Fall eine weitergehende Untersuchung.

348

8.1 Das Recht auf Berücksichtigung: Menkes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche

Ohnmacht fort; sie schreibt ihre Ohnmacht fest“ (Menke 2015, 349). Das bedeutet, dass das durch die aufständischen Sklaven erkämpfte Recht auf Berücksichtigung das soziale Herrschaftsverhältnis zwischen Herren und Sklaven gerade nicht auflöst, sondern unangetastet lässt. Die Forderung der Sklaven, von den Starken und Mächtigen, also den Herren, berücksich­ tigt zu werden, kann demnach niemals zur tatsächlichen Befreiung der Sklaven von der Sklaverei führen. Denn wer einfordert, berücksichtigt zu werden, der bestimmt sich im Akt dieser Forderung zugleich als jeman­ den, „der der Berücksichtigung bedarf“ (ebd.). Das Recht auf Berücksichti­ gung ist in Menkes Interpretation, die sich auch hierbei stark an Nietzsche anlehnt, also „ein Recht, das die Position der Schwäche voraussetzt und dadurch verewigt“ (ebd.). Menke liest in diesem Zusammenhang Nietzsches Unterscheidung zwi­ schen Aktivität und Passivität mit der aristotelischen Ontologie von Akt und Potenz zusammen.105 Im Recht der Berücksichtigung geht es nämlich Menke zufolge um „das Recht des Leidenden“ (Menke 2015, 350) im Unterschied zum Handelnden. Damit ist verbunden, dass Menke nach eigenen Angaben die Szene des Sklavenaufstands, die Aufschluss über die 105 Im Gegensatz zu Menkes Konzentration auf Aktivität und Passivität liest Gior­ gio Agamben die aristotelische Ontologie von Akt und Potenz in einer politi­ sierteren Lesart parallel zur Beziehung von konstituierender und konstituierter Gewalt innerhalb der politischen Philosophie: „Während er das authentische Wesen der Potenz beschrieb, hat Aristoteles in Wirklichkeit der abendländi­ schen Philosophie das Paradigma der Souveränität gestiftet. Denn der Struktur der Potenz, die genau über ihr Nicht-sein-Können, mit dem Akt in Beziehung bleibt, entspricht jene des souveränen Banns, der sich auf die Ausnahme an­ wendet, indem er sich abwendet“ (Agamben 2002, 57). Diese Bannbeziehung versteht Agamben in der Folge als das Definiens der Souveränität, in der etwas durch die Erklärung des Ausnahmezustands einzig durch seine Ausschließung eingeschlossen wird (vgl. Agamben 2002, 28). Agamben zufolge funktioniert auch die Unterscheidung von konstituierender und konstituierter Gewalt ana­ log zu dieser Ausnahmebeziehung, insofern nämlich die konstituierte Gewalt „sich selbst als konstituierende Gewalt voraussetzt“ (Agamben 2002, 51) und da­ durch die konstituierende Gewalt einzig durch ihren Ausschluss und ihre Abwesenheit in die positive Gesetzgebung einschließt (vgl. dazu auch Agam­ ben 2015, 267f.). Ausgehend von dieser Politisierung fragt Agamben dann im Unterschied zu Menke nach dem Status der Ausgeschlossenen: „Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht einfach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet gelassen, sondern von ihm verlassen“ (Agamben 2002, 39). Agamben entwickelt also eine alternative und deutlich politischere Deutung der Unterscheidung von Akt und Potenz, die ihn schließlich zum Problem der biopolitischen Ausschlüsse im Zusammenhang der radikalen Entrechtung des Verbannten führt.

349

Kapitel 8

Struktur des revolutionären Subjekts und die Form der von ihm eingefor­ derten Rechte geben soll, in einen „handlungstheoretischen“ (ebd.) Rah­ men einordnet und unter dem Vorzeichen der handlungstheoretischen Differenz von Handeln und Erleiden untersucht. „Ein Leidendes zu sein heißt, passiv zu sein“ (ebd.), so statuiert Menke bündig. Der Sklave steht in diesem Kontext paradigmatisch für die passive Position des Leidenden, sein Recht auf Berücksichtigung ist nach Menke ein Recht darauf, „Lei­ dender zu sein“ (ebd.). Den Herrn verortet Menke dagegen auf der Seite des Handelnden, also desjenigen, der aktiv Werte schafft und dessen Hand­ lungen und Setzungen auf den Sklaven einwirken. Herr und Sklave bilden demnach eine handlungstheoretische Einheit, denn sie stehen in einem korrelativen Wechselverhältnis (vgl. ebd.) in­ nerhalb ein und desselben Handlungszusammenhangs: Was der Herr aktiv schafft und tut, das wirkt sich auf den Sklaven aus, welcher die Handlungen des Herrn wiederum passiv erträgt. Mit Kant bezeichnet Menke dieses soziale Herrschaftsverhältnis zwischen Herren und Sklaven als die „Gemeinschaft des Commerciums“ (Menke 2015, 351), d.h. als eine bloß äußerliche Wechselbeziehung zwischen zwei Elementen, die zwar in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen, darin aber auf rein mechanische Weise miteinander verbunden sind. Die beiden Elemente, Herr und Sklave, sind zwar im Rahmen eines umfassenderen praktischen Zusammenhangs aufeinander bezogen, aber aufgrund der Äußerlichkeit ihrer Beziehung bleiben sie in ihrer sozialen Bestimmung oder Identität unverändert: sie bleiben jeweils Herr und Sklave. Dass sie Herren und Sklaven bleiben ist für Menke ein Zeichen dafür, dass der Sklavenaufstand in seiner Radikalität gewissermaßen nicht weit genug geht. Denn der revoltierende Sklave verneint in der Forderung nach einem Recht auf seine Berücksichtigung als Leidender zu wenig, er „sagt nein zum Leiden“ (Menke 2015, 352), er „sagt aber nicht nein dazu, ein Leidender zu sein“ (ebd.). Damit möchte Menke ausdrücken, dass sich der Sklave in seinem Aufstand zwar gegen die – ungerechten, knechtenden – Handlungen und Befehle des Herrn auflehnt, darin aber keinen Widerstand gegen das gesellschaftliche Verhältnis leistet, das als solches die Beziehung zwischen Herren und Sklaven und damit die ver­ schiedenen Subjektpositionen von Herr und Sklave überhaupt erst ermög­ licht und gesellschaftlich etabliert.106 Die Revolution der Sklaven gegen

106 Dagegen ließe sich allerdings kritisch rückfragen, wie sich die Sklaven anders gegen das gesellschaftliche Herrschaftsverhältnis auflehnen sollen als in der Bekämpfung der Macht der sie beherrschenden Herren. Mit Judith Butler lie­

350

8.1 Das Recht auf Berücksichtigung: Menkes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche

ihre Herren richtet sich, so Menkes Kritik im Anschluss an Nietzsche, bloß gegen die Herren und ihre Gewalt und Ungerechtigkeit, aber nicht auf die dieser Herrschaft und Ungerechtigkeit zugrunde liegende „soziale Form“ (Menke 2015, 353). Die ungleichen Positionen von Herr und Sklave kann es jedoch allein innerhalb eines größeren gesellschaftlichen Verhältnisses geben, das diese beiden Positionen als voneinander Unterschiedene be­ inhaltet und in eine herrschaftsförmige Beziehung zueinander setzt. Darin besteht Menkes handlungstheoretisches Argument, das er mit Aristoteles in Bezug auf Nietzsche entfaltet: So wie „Handeln und Leiden sich wech­ selseitig [ermöglichen]“ (Menke 2015, 350), so bedingen sich auch Herr und Sklave in ihrer sozialen Existenz gegenseitig. Gesellschaftskritisch gewendet heißt das: Das Verhältnis zwischen Her­ ren und Sklaven bleibt gerade als Herrschaftsverhältnis intakt, weil die Subjektposition des Sklaven innerhalb der normativen Struktur des Rechts auf Berücksichtigung erhalten bleibt. Sie bleibt deswegen erhalten, weil die Institution der Sklaverei als solche im Zuge des Sklavenaufstands gar nicht radikal infrage gestellt, geschweige denn abgeschafft worden ist. Denn insofern der Sklavenaufstand in der Forderung der Sklaven nach einem Recht auf Berücksichtigung mündet, setzt er die Sklaverei als Teil eines größeren sozialen Herrschaftsverhältnisses weiterhin voraus, weil das Recht auf Berücksichtigung den Sklaven immer noch als Sklaven adres­ siert. Der Sklavenaufstand ist also für Menke seinem Ergebnis nach nur ein Kampf gegen die Herren, nicht aber gegen die Institution der Herrschaft der Herren gewesen. Das Recht auf Berücksichtigung der Sklaven lässt die gesellschaftliche Konstellation außer Acht, innerhalb derer die Herrschaft der Herren über die Sklaven institutionalisiert ist. In ihrem Befreiungs­ kampf lehnen sich die Sklaven nach Menke bloß gegen ihre besondere Un­ gleichbehandlung durch die Herren auf, nicht jedoch gegen das allgemeine Verhältnis der Ungleichheit, welches die Herrschaftsbeziehung zwischen Herren und Sklaven sozial hervorbringt und sichert. Auch im Recht der

ße sich hier argumentieren, dass im Aufstand der Sklaven gegen die Herren bereits die umfassendere Kritik der sozialen Herrschaftsverhältnisse und der Widerstand gegen die ungerechte Einrichtung der Gesellschaft implizit angelegt ist. Der Sklavenaufstand erscheint dann als ein performativer Akt des Wider­ stands, der sich über den Kampf gegen die konkreten Herrschenden hinaus gleichzeitig auf den Umsturz des umfassenderen Herrschaftssystems richtet. Da der Widerstand der Sklaven gegen das abstrakte Herrschaftsverhältnis, das die reziproken Subjektpositionen von Herren und Sklaven sichert, innerhalb dieses Verhältnisses und damit aus der Situation der Versklavung heraus beginnt, kann er nicht anders als performativ gedacht werden.

351

Kapitel 8

Berücksichtigung bleiben die Sklaven in ihrem Subjektstatus abhängig von der Beherrschung durch die Herren, die zur Berücksichtigung verpflichtet werden sollen. Denn die Notwendigkeit der Berücksichtigung kann es nur dort geben, wo es unterschiedliche Machtgrade in den Beziehungen zwischen den Menschen gibt. 8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung: Zur Dekonstruktion von Menkes Interpretation des Sklavenaufstands Menke knüpft seine handlungstheoretische Deutung des Sklavenaufstands bei Nietzsche, die er im Anschluss an Aristoteles und Kant skizziert, an die Prämisse, dass sich die politische Szene der revolutionären Auflehnung der unterdrückten Sklaven gegen die gesellschaftliche und politische Herr­ schaft ihrer Herren in eine Theorie der menschlichen Urteilskraft über­ führen lässt. Die handlungstheoretischen Positionen von Aktivität und Passivität, die Menke jeweils der Seite des Herrn und der Seite des Sklaven zuordnet, übersetzt er nämlich in der Folge in die erkenntnistheoretischen und ästhetischen Kategorien der passiven sinnlichen Einbildung und Affektion einerseits und des aktiven begrifflichen Urteilens andererseits (vgl. etwa Menke 2015, 375). Weder die bürgerliche noch die kommunistische Revolution können Menkes Ansicht nach die äußerliche Entgegensetzung und damit das ge­ sellschaftliche Herrschaftsverhältnis von Herren und Sklaven überwinden, denn sie stellen nicht den übergreifenden Handlungszusammenhang in­ frage, innerhalb dessen die Positionen von Herr und Sklave überhaupt erst einander gegenübergestellt und aufrechterhalten werden können. Für Menke machen beide Revolutionen auf jeweils eigene Art denselben Feh­ ler: Sie revolutionieren nicht grundsätzlich die Weise, in der das Verhält­ nis zwischen Herren und Sklaven verstanden wird, d.h. sie verändern nicht die Form des Denkens, in der der Unterschied zwischen Herren und Skla­ ven konzeptualisiert und begriffen wird. Um die Sklaverei abzuschaffen, muss Menke zufolge jedoch v.a. das Denken selbst transformiert werden. Das Recht auf Berücksichtigung bleibt, so gesehen, der Institution der Sklaverei im Denken verhaftet. Diesen unaufgelösten Gegensatz will Menke dadurch überwinden, dass er den Sklavenaufstand als die Strukturbeschreibung des menschlichen Erkenntnisurteils liest (vgl. Menke 2015, 370–380). Die Revolte der Skla­ ven möchte Menke nicht erst auf die revolutionäre Veränderung ihrer gesellschaftlichen und politischen Situation beziehen, sondern zunächst

352

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung

und dem vorausliegend auf die Art und Weise ihres Denkens. Nur da­ durch lässt sich ihm zufolge der „Begriff des Herrn“ (Menke 2015, 367) überwinden, nämlich indem die Denkkategorien selbst, in denen Herren und Sklaven bisher äußerlich gegenübergestellt wurden, von innen heraus dekonstruiert werden. Durch die philosophische Übertragung des politi­ schen Sklavenaufstands in erkenntnistheoretische und ästhetische Begriffe, so Menke, lässt sich diese Revolution im Denken als „Emanzipation des Menschen vom Begriff des Sklaven wie des Herrn“ (ebd.) theoretisch um­ setzen. Bereits hier kündigt sich eine entpolitisierende Tendenz in Menkes Denken an, die ich auf den folgenden Seiten problematisieren möchte: „So verstanden will der Aufstand des Sklaven weder die Schwachen rechtlich schützen noch das Herrenrecht auf alle gleich verteilen. Er will vielmehr die Herren und Sklaven zugleich abschaffen; er will ihre Existenz beenden. Der Aufstand der Sklaven ist daher eine anthropolo­ gische Revolution (…)“ (ebd.). Der Sklavenaufstand soll also nach Menke die bloße Denkbarkeit, d.h. die Möglichkeit der geistigen Einteilung und intellektuellen Unterscheidung zwischen Sklaven und Herren, unwiderruflich zum Ende bringen. Die Subjektpositionen von Herr und Sklave sollen als anthropologische Ka­ tegorien vollständig abgeschafft und gewissermaßen undenkbar gemacht werden, was Menke in Anspielung auf die „menschliche Emanzipation“ (ebd.) in Marx‘ Frühschrift Zur Judenfrage als „die Schaffung eines neuen Menschen“ (ebd.) bezeichnet. Dahinter steht bei Menke die Auffassung, dass der Sklavenaufstand so gedeutet werden muss, dass er sich nicht nur auf die gesellschaftspolitische Ungleichheit im intersubjektiven Verhältnis zwischen Herr und Sklave richtet, sondern „den Begriff des Urteilens [revo­ lutioniert]“ (Menke 2015, 370). Denn Menke ist, so lautet Sonja Buckels zutreffende Beobachtung, der Überzeugung, „dass die Revolution zunächst ein Umbruch in der Art zu denken sei, die den Raum des Denkbaren dafür öffnet, dass Veränderung möglich erscheint“ (Buckel 2018, 139). Buckel führt in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Menkes Kon­ zeption der Gegenrechte dessen grundlegende Entscheidung, ein politi­ sches Geschehen in die Form einer ästhetischen Spekulation zu überset­ zen, auf die Nähe von Menkes Denken zu „Adornos Erkenntnistheorie“ (Buckel 2018, 137) zurück und fasst Menkes Argumentation folgenderma­ ßen zusammen: „Würden rechtliche Urteilsakte nämlich nicht beschränkt auf Denken und Vernunft verstanden, sondern als ein ‚Prozess der nachdenkenden Umwandlung sinnlicher Evidenz‘, also Sinnliches und Begriffliches

353

Kapitel 8

vermitteln, so könne das Sinnliche als Antrieb des Urteilens, als Unru­ he, als wesentliches Moment des Urteilens verstanden werden. Das Subjekt sei dann die Szene, in der sich nicht nur der Widerstreit von begrifflich Bestimmtem und sinnlicher Affektion abspielt, sondern auch der Widerstreit von Partizipation und Nichtteilnahme an Politik. Die Prozessierbarmachung dieses Widerstreits seien die ‚Gegenrechte‘, welche die Nichtteilnahme in der Teilnahme ermöglichten. Denn Rechte benötigt fortan nur noch der Passive“ (ebd.). Diese ästhetische Interpretation von Nietzsches Beschreibung des Sklaven­ aufstands beruht, wie Menke selbst anmerkt, auf der Voraussetzung, dass die Deutung des Sklaven als passiv Erleidendem nicht in einem „psycholo­ gischen oder gar moralischen Sinn“ (Menke 2015, 350) verstanden wird, denn nur auf diese Weise kommt laut Menke die handlungstheoretische Ebene (vgl. ebd.) in den Blick, welche Menke, wie gesehen, in der Folge erkenntnistheoretisch ausbuchstabiert. Doch ist es gerade diese Fokussie­ rung auf eine spezifisch erkenntnistheoretische Interpretation des Sklaven­ aufstands, in der die Revolution der Sklaven als ästhetischer Schauplatz für die Verhältnisbestimmung von Sinnlichkeit und begrifflicher Urteilsfähig­ keit gedeutet wird, die Menkes rechtskritisches Denken an dieser Stelle in eine Reihe von grundlegenden Problemen verstrickt. Denn im Zuge seiner handlungstheoretischen Lektüre des Sklavenauf­ stands unterschlägt Menke fast vollständig den antisemitischen Kontext, in den dieser bei Nietzsche eingebettet ist. Wenn Menke nämlich in Be­ zug auf den Sklaven von der „Perspektive des Leidenden“ (ebd.) spricht, so zitiert er die von ihm angegebene Stelle nur unvollständig; denn bei Nietzsche steht das Attribut des Sklaven, Leidender im Gegensatz zum Handelnden zu sein, wie bereits zitiert, nicht allein und für sich, sondern wird von moralisch abwertenden Eigenschaften eingerahmt und ergänzt, die Nietzsche allesamt auf den jüdischen Sklavenaufstand in der Moral bezieht: die Leidenden sind zugleich „die Armen, Ohnmächtigen, Niedri­ gen (…), Entbehrenden, Kranken, Hässlichen“ (Nietzsche 2013, 23). Nietz­ sche verwendet das Attribut des Leidenden also nicht vornehmlich im von Menke propagierten handlungstheoretischen Sinn, sondern primär für einen pejorativen und moralisch herabsetzenden Zweck. Mit Didier Fassin gesprochen: Durch die Bestimmung, ein Leidender zu sein, wird der Sklave bei Nietzsche in eine moralische Ökonomie eingeordnet, d.h. in das ungleiche Schema einer Werthierarchie, in der der Sklave dem Herrn in Bezug auf seinen moralischen und damit menschlichen Wert untergeordnet wird.

354

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung

Nietzsches gesamte Auseinandersetzung mit dem Sklavenaufstand in der Moral, so muss klargestellt werden, ist im übergreifenden Rahmen einer moralischen Ökonomie verortet, in der es darum geht, Formen der von Nietzsche verurteilten ressentimentalen Sklavenmoral auf antisemitische und in der Folge antichristliche und religionskritische Weise den Juden (und Christen) zuzuschreiben. Die Degeneriertheit dieser Sklavenmoral besteht für Nietzsche darin, dass die Schwachen, also zuerst die Juden und dann die Christen (vgl. Loick 2017a, 187), ihre Schwäche sublimieren und durch diese Selbstüberhöhung ihre Schwäche zur Stärke, das Böse zum Guten umdeuten. Dass „die Schwachen ihre eigene Schwäche als nor­ mative Überlegenheit hypostasieren und auf diese Weise Ideale errichten, die gegen das Leben und die dem Leben inhärente Macht gerichtet sind“ (Loick 2017a, 211), bildet für Nietzsche den geschichtsphilosophischen Skandal in der Genese der Moral und den fundamentalen Angriff auf „das Recht, Werthe zu schaffen“ (Nietzsche 2013, 15), das Nietzsche als das Vorrecht der Herren bestimmt. Dieses „Herrenrecht“ (ebd.) wird jedoch von Menke wiederum merk­ würdig neutral beschrieben; für Menke ist das Herrenrecht in erster Linie „das Recht zum eigenen Urteilen über das Gute; ihr Recht, sich durch ihr Urteilen über das Gute selbst zu regieren“ (Menke 2015, 347). Zwar führt Menke in Übereinstimmung mit Nietzsche das Herrenrecht, Werte zu setzen, auf deren bloße Fähigkeit und Macht dazu zurück: „Die Macht der Herren, Werte zu schaffen, schafft zugleich ihr Recht, Werte zu schaffen; (…) Wer die Fähigkeit hat, etwas als sein Gutes zu bestimmen und sich dadurch selbst zu führen, der hat auch das Recht dazu“ (ebd.). Mit diesen Ausführungen reproduziert Menke jedoch unkritisch Nietzsches Naturali­ sierung der Macht der Herren und ihres daraus angeblich resultierenden Rechts, Werte zu schaffen und diese den Sklaven aufzuzwingen (vgl. Nietz­ sche 2013, 62). Diese Naturalisierung lässt sich in der Genealogie der Moral an unzähligen Stellen aufzeigen, an denen Nietzsche die ursprüngliche Stärke und natürliche Überlegenheit der Herren gegenüber den Sklaven verherrlicht. So führt er die Stärke der Herren etwa auf ein ursprüngliches Gefühl zurück: „Die ‚Wohlgeborenen‘ fühlten sich eben als die ‚Glücklichen‘“ (Nietzsche 2013, 28). An anderer Stelle bedient er sich animalischer Bei­ spiele, um die Natürlichkeit des Überlegenheitscharakters der Herren zu unterstreichen: „Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blon­ de Bestie nicht zu verkennen“ (Nietzsche 2013, 31); von dieser Bestie ausgehende Gewaltausbrüche wie „Mord, Niederbrennung, Schändung,

355

Kapitel 8

Folterung“ (Nietzsche 2013, 30) sind für Nietzsche nichts weiter als not­ wendige, zu ihrer animalischen Natur gehörende Verhaltensweisen; „es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildnis zurück“ (Nietz­ sche 2013, 31). Und wenn die Lämmer, die zur Beute von Raubvögeln werden, die Raubvögel dafür zur Verantwortung ziehen, so „liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen“ (Nietzsche 2013, 34), da es schlicht und ergreifend in ihrer Natur verankert ist. Die Auffassung der Schwachen, „es stehe dem Starken frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein“ (Nietzsche 2013, 36), ist für Nietzsche bloßer Ausdruck des Ressentiments der Schwachen und ihres Versuchs, ihre Schwäche in etwas Gutes umzumünzen und den Her­ ren ihre Überlegenheit zum Vorwurf zu machen. Menke zieht aus den Stellen, in denen es um den Gegensatz von Herren und Sklaven geht und in denen die Schwachen, also die Juden, in eindeu­ tiger Weise antisemitisch abgewertet und moralisch diskreditiert werden, in erster Linie die handlungstheoretische Konsequenz, dass der Schwache gegenüber dem Starken das Recht auf Berücksichtigung einfordert (vgl. Menke 2015, 348), und blendet dabei den größeren Kontext der morali­ schen Ökonomie aus, in dessen Rahmen bei Nietzsche die moralische Qualität der Herren gegenüber den Sklaven gleichermaßen naturalisiert und hierarchisch übergeordnet wird. In diesem Zusammenhang betrachtet Menke den Gegensatz von Herren und Sklaven primär aus dem Blickwin­ kel des Sklaven, der sich selbst befreien will, dabei jedoch, so Menkes Kritik, zu der Forderung eines Rechts gelangt, das ihn nur noch stärker und dauerhafter an seinen Sklavenstatus bindet. Untersucht man das Herr­ schaftsverhältnis von Herr und Sklave dagegen aus der Perspektive des Herrn und fragt in diesem Zuge, wodurch der Herr eigentlich zum Herrn wird, so kommt stärker die moralische Ökonomie der Ungleichheit in den Blick, die der Herrschaftsbeziehung von Herren und Sklaven bei Nietzsche zugrunde liegt und der ich im Folgenden Kontur verleihen möchte. Da­ durch wird zugleich der Horizont für eine biopolitische Relektüre des Sklavenaufstands eröffnet, die Menkes Interpretationsansatz explizit entge­ gengesetzt ist. Fragt man nach dem Status des Herrn, so kommt unmittelbar in den Blick, dass dieser sich stets in Distinktion zum Sklaven definiert. Bereits zu Beginn der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral stellt Nietzsche klar, woraus sich die Herrschaft des Herrn erklären lässt, nämlich aus des­ sen sogenanntem „Pathos der Distanz“ (Nietzsche 2013, 15). Aus diesem Pathos ist, so vermerkt Nietzsche, „das Recht, Werthe zu schaffen, (…) erst

356

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung

genommen“ (ebd.). Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt beschreibt Nietz­ sche deutlich, wie sich dieses Pathos von seiner affektiven und psychischen Seite her für den Herrn anfühlt, und zwar als „das dauernde und domini­ rende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren und herrschenden Art im Verhältniss zu einer niederen Art, zu seinem ‚Unten‘ – das ist der Ursprung des Gegensatzes ‚gut‘ und ‚schlecht‘“ (ebd.). Der Herr versteht sich also nur dadurch als Herr, dass er sich zugleich im Gegensatz zum Sklaven, d.h. in der gleichzeitigen Unterordnung des Sklaven unter seine Herrschaft, begreift. Der affektive und epistemische Konstitutionsprozess, durch den sich der Herr gegenüber dem Sklaven als Herr setzt, ist somit strukturanalog zur Setzung des Rechts zu lesen, dessen konstitutive Ge­ walt, wie gesehen, ja darin besteht, dass sich das Recht als normative Ord­ nung nur in der nichtnormativen Selbstveräußerlichung gegenüber dem Nichtrecht setzen kann, welches es dadurch gleichzeitig überhaupt erst als Nichtrecht mitsetzt und als solches aus der Rechtsordnung ausschließt. Der Herr konstituiert sich also nicht nur differenztheoretisch stets in Abgrenzung zum Sklaven, sondern die Subjektposition des Herrn ist kon­ stitutiv damit verknüpft, den Sklaven zu unterwerfen und sich infolgedes­ sen über den Sklaven zu erheben. Die Subjektivität des Herrn, so lässt sich in Anknüpfung an Fassins Vokabular formulieren, ist bei Nietzsche von Beginn an in den Rahmen einer moralischen Ökonomie der ungleichen Werteverteilung eingebettet, außerhalb oder jenseits derer sie überhaupt nicht kohärent gedacht werden kann. Dies wird etwa dadurch unterstri­ chen, dass Nietzsche die Praxis des Wertens bzw. des Unterteilens – von Gegenständen und Menschen – in unterschiedliche Wertstufen als eine anthropologische Konstante essentialisiert: „Vielleicht drückt noch unser Wort ‚Mensch‘ (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das ‚abschätzende Thier an sich‘“ (Nietzsche 2013, 62). Von noch entscheidenderer Bedeutung für ein angemessenes Verständnis der Subjektivität des Herrn ist allerdings die folgende Passage: „Der ‚freie‘ Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Wil­ lens, hat in diesem Besitz auch sein Werthmaass: von sich aus nach den Andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er; und eben so nothwendig als er die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen (die welche versprechen dürfen) ehrt, (…) eben so nothwendig wird er seinen Fusstritt für die schmächtigen Windhunde bereit halten, welche versprechen, ohne es zu dürfen, und seine Zuchtruthe für den Lügner, der sein Wort bricht, im Augenblick schon, wo er es im Munde hat“ (Nietzsche 2013, 50).

357

Kapitel 8

Den Herrn, der durch seine Willensstärke frei wird, kann Nietzsche also nur dadurch denken, dass er ihn durch die ungleiche und unterordnen­ de Beziehung zum Sklaven charakterisiert, welcher vom Herrn verachtet wird. Hierin spiegelt sich der begrifflichen Struktur nach Achille Mbembes postkoloniale These wider, derzufolge „die Demokratien immer schon Ge­ meinschaften von Gleichartigen und daher (…) auf Trennung ausgerichte­ te Kreise [waren]“ (Mbembe 2017, 81). Innerhalb der egalitären Normati­ vität der Demokratie, so wurde bereits zuvor mit Mbembe herausgearbei­ tet, werden die Menschen im Widerspruch zum universalen und egalitären Anspruch demokratischer Politikansätze „in Gleiche und Nichtgleiche oder auch in Freunde bzw. ‚Verbündete‘ und Feinde der Zivilisation“ (Mbembe 2017, 100) eingeteilt. Genau eine solche Logik der Aufteilung von Menschen in ungleich wertvolle Gruppen schildert Nietzsche in der soeben zitierten Passage: Während das Ehrgefühl unter den Herren ein Band der Gleichheit stiftet, beruht diese Gleichheit notwendig auf der Verachtung und Unterwerfung der Sklaven, die dadurch zu Nichtgleichen gemacht werden.107

107 Auf den folgenden Seiten verschränke ich Nietzsches Rede von Herren und Sklaven mit einigen postkolonialen Überlegungen Mbembes zur rassistischen Struktur kolonialer Sklavenhaltergesellschaften. Dabei bin ich mir darüber be­ wusst, dass Nietzsche die Begriffe von Herrn und Sklave nicht eins zu eins auf den „transatlantischen Sklavenhandel und d[ie] kolonialen Praktiken der Versklavung in der ‚Neuen Welt‘“ (Därmann 2019, 49) bezieht: „Mit der Figur des Sklaven hatte Nietzsche jedoch weder die Versklavten der französischen Kolonien noch auch die Sklaven in Europa im Auge“ (Därmann 2019, 57). Trotzdem erscheint in meinen Augen der kritische Anschluss von Nietzsches genealogischen Aussagen über das Verhältnis von Herren und Sklaven an den historischen Kontext der kolonialen Sklaverei, deren Zeitgenosse Nietzsche im Übrigen war, vor dem folgenden Hintergrund plausibel: Nicht nur ist Nietzsche insgesamt ein „Befürworter der Sklaverei“ (Därmann 2019, 59), der von einer „offensive[n] Rechtfertigung der Sklaverei als unerlässliche Voraussetzung der Kultur“ (Därmann 2019, 50; vgl. zur Legitimierung der Sklaverei bei Nietzsche Losurdo 2012, 380–394) ausgeht; vielmehr lässt sich in einer rassismuskritischen Stoßrichtung die begründete Frage aufwerfen, inwieweit Nietzsche bewusst „die Haitianische Revolution ebenso unvernehmlich [macht] wie die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien“ (Därmann 2019, 61). Zwar spricht Nietzsche in seinen genealogischen Analysen von Sklaven „in jenem unspezifischen Sinn, den auch Rousseau, Marat und die Bürger Frankreichs geltend gemacht hatten“ (Därmann 2019, 57; vgl. dazu Buck-Morss 2011, 52–55), doch lässt sich dagegen berechtigterweise mit Därmann die Suggestivfrage stellen, inwiefern „man von der Sklaverei der ‚Alten Welt‘ sprechen [konnte], ohne die der Gegenwart im Blick zu haben“ (Därmann 2019, 58).

358

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung

Dem korrespondiert, wie Daniel Loick dieselbe Textstelle in Bezug auf die darin enthaltenen Implikationen für den Gleichheitsanspruch des bür­ gerlichen Rechts interpretiert. Loick vermerkt in diesem Zusammenhang: „Rechtliche Gleichheit ist für Nietzsche notwendigerweise Ausdruck einer Hybris, welche die Gleichheit mit den einen überheblich durch die Ver­ achtung der anderen erkauft: Gleichheit ist Gleichheit innerhalb einer Ver­ achtungsgemeinschaft“ (Loick 2017a, 205f.). Die egalitäre Normativität des bürgerlichen Rechts, so destilliert Loick in kritischer Auseinandersetzung mit Nietzsche heraus, ist in sich selbst gespalten, so dass die rechtliche Gleichheit immer nur für einen Teil der Gesellschaft, nämlich die Her­ ren, gilt. Diese rechtskritische Diagnose lässt sich dabei in systematischer Hinsicht mit Mbembes rassismuskritischer Analyse des „demokratische[n] Sklavenstaat[s]“ (Mbembe 2017, 37) zusammenlesen: „Der demokratische Sklavenstaat ist also durch eine Zweiteilung ge­ kennzeichnet. In ihm bestehen zwei Ordnungen – eine Gemeinschaft der Gleichen, in der zumindest theoretisch der Gleichheitsgrundsatz herrscht, und eine ebenfalls gesetzlich etablierte Gruppe von Nichtglei­ chen oder Menschen ohne Teilhabe. Die Menschen ohne Teilhabe

Die Beobachtung, dass Nietzsche die kolonialen Formen der Sklaverei in sei­ ner Genealogie ignoriert und dadurch, wie Därmann schreibt, ‚unvernehmlich‘ macht, lässt sich auf der Basis der skizzierten Überlegungen als Hinweis darauf deuten, dass seine philosophischen Reflexionen in Bezug auf das Recht der Herren gegenüber den Sklaven im größeren Zusammenhang einer Apologie der kolonialen Sklaverei gelesen werden können. Nietzsches Schweigen in Bezug auf die praktische Sklaverei im Zuge der kolonialen Expansion Europas zeugt, so lautet von hier aus meine Hypothese, von der systematischen Involvierung seiner Theorie in die rassistische Rechtfertigung der realen Versklavung schwar­ zer Menschen. Dass Nietzsche beim Gebrauch des Topos des Sklaven den trans­ atlantischen Sklavenhandel ausblendet, kann auf dieser Folie als Zeichen für seine Komplizenschaft mit dem zeitgenössischen kolonialen Rassendenken und seiner Akzeptanz der „millionenfache[n] Ausbeutung der Sklavenarbeiter in den Kolonien als Teil der gegebenen Weltordnung“ (Buck-Morss 2011, 41) ge­ wertet werden. Vor diesem argumentativen Hintergrund erscheint es mir daher im Folgenden plausibel und gerechtfertigt, Nietzsches Begriff des Herrenrechts und seine genealogischen Einlassungen zum Status der aufständischen Sklaven in den historisch-diskursiven Kontext des Kolonialismus zu stellen und mit der kolonialen Realität der Versklavung schwarzer Menschen in Beziehung zu set­ zen. Vgl. weiterhin zu einer historischen Kontextualisierung von Nietzsches Äu­ ßerungen zur Sklaverei in Zurückweisung metaphorisierender Lesarten Brenn­ an 2011; Bernasconi 2017. Beide Autoren ordnen Nietzsches Befürwortung der Sklaverei kritisch vor dem historischen Hintergrund der Berliner Konferenz 1884–85 ein (vgl. Därmann 2019, 50).

359

Kapitel 8

verfügen grundsätzlich nicht über das Recht, Rechte zu haben. Für sie gilt das Gesetz der Ungleichheit“ (ebd.). Im rassistisch fundierten Partikularismus solcher (post-)kolonialen Gleich­ heitsgemeinschaften, welche Loick und Mbembe jeweils in der gewalt­ samen Abgrenzung gegenüber der rechtlosen Gruppe der Nichtgleichen beleuchten, kommt der Struktur nach das von Nietzsche beschriebene und zugleich verherrlichte Gemeinschafts- und Ehrgefühl der Herren zum Ausdruck. Die Herren, so führt Nietzsche aus, konstituieren sich dadurch als Herren, dass sie die Sklaven von der gleichen Teilhabe am politischen Gemeinwesen ausschließen. Ihre Herrschaft beruht auf der moralischen Herabwürdigung, gesellschaftlichen Unterwerfung und, wie Loick und Mbembe ihrerseits jeweils mit Blick auf den (post-)kolonialen Kontext be­ tonen, politischen Entrechtung der Sklaven. Laut Nietzsche wird die Aus­ schließung der Sklaven aus der Rechtsgemeinschaft der Herren durch ein Gefühl der Verachtung und Erhabenheit getragen. Dieses Überlegenheits­ gefühl wird dabei von Nietzsche zumeist als das subjektive Selbstverständ­ nis des Herrn dargestellt, das zu dessen anthropologischer Bestimmung zu gehören scheint. Im Anschluss an Mbembes postkoloniale Position lässt sich dieses Verachtungsgefühl jedoch vor dem epistemischen Horizont einer kolonia­ len Vernunft kritisch reformulieren und als eine spezifische Form des kolonialen Rassismus interpretieren. Dies trägt nicht nur den Stellen in Nietzsches Genealogie der Moral Rechnung, an denen Nietzsche auf rassis­ tische Weise den „Neger (…) als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen“ (Nietzsche 2013, 59) darstellt und „ihm so Zeitgenossenschaft [verweigert]“ (Därmann 2019, 55). Darüber hinaus lässt sich vielmehr mit Därmann die These vertreten, dass Nietzsche durch solche Formen des „othering“ (Därmann 2019, 56) die „Versklavung afrikanischer Menschen durch Europäer“ (Därmann 2019, 61) aktiv unsichtbar macht, insofern gerade eine solche gezielte Dethematisierung als Ausdruck von Rassismus angesehen werden kann, welche erst vor dem Hintergrund einer kolonia­ len episteme plausibel erscheint. Dem entsprechen nicht zuletzt Nietzsches glorifizierende Kommentare zu den sogenannten „vornehmen Rassen“ (Nietzsche 2013, 31), zu denen afrikanische Menschen ausdrücklich nicht dazugezählt werden. Kontextualisiert man die Ungleichheit der Sklaven bei Nietzsche innerhalb der von Mbembe thematisierten historischen und erkenntnistheoretischen Zusammenhänge des Kolonialismus, lässt sich mit Mbembes Worten festhalten:

360

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung

„Diese Ungleichheit und das Recht, das sie bestimmt und begründet, stützen sich ihrerseits auf das Rassenvorurteil. Das Rassenvorurteil und das dazugehörige Recht erlauben es, eine gleichsam unüberbrück­ bare Distanz zwischen der Gemeinschaft der Gleichen und den für sie Anderen aufrecht zu erhalten. Soweit es sich überhaupt um eine Gemeinschaft handelt, kann der demokratische Sklavenstaat nur eine Gemeinschaft der Trennung sein“ (Mbembe 2017, 37). Auch heutige Demokratien und liberale Rechtsordnungen, so konstatiert Mbembe von hier aus, verstehen sich als ‚Gemeinschaften der Gleichen‘, während sie tatsächlich auf einer tieferen Ebene rassistische ‚Gemeinschaf­ ten der Trennung‘ sind. Die von Mbembe dabei erläuterte ‚unüberbrück­ bare Distanz‘ zwischen den kolonialen Trennungsgemeinschaften und ihrem radikal Anderen lässt sich auf dieser Grundlage als das ‚Pathos der Distanz‘ interpretieren (vgl. zu Nietzsches Pathosformel der Distanz Därmann 2019, 62–64), durch das sich in Nietzsches Augen die Herren in ihrer Entgegensetzung zu den Sklaven konstituieren. Unter der Bedin­ gung eines solchen rassistisch verfassten und in den nekropolitischen Prak­ tiken kolonialer Unterwerfung, Versklavung und Zerstörung verankerten Distanzgefühls lässt sich das Herrenrecht, Werte zu schaffen, mit Blick auf die Herrschaftsstrukturen des von Mbembe beschriebenen kolonialen Sklavenstaates konzeptuell weiterdenken und darüber hinaus in die histo­ rische Diskursivität des Kolonialismus einordnen. Auf dieser Basis kann Menkes Genealogie des Sklavenaufstands, welche in der Forderung der Sklaven mündet, von den Herren berücksichtigt zu werden, einer ersten grundsätzlichen Kritik unterzogen werden: Wie gesehen, unterschlägt Menke in viel zu starkem Maße die morali­ sche Ökonomie, mit deren antisemitischer bzw. rassistischer Logik der Sklavenaufstand bei Nietzsche immanent verbunden ist, und entwickelt stattdessen seine handlungstheoretisch ansetzende Nietzsche-Interpretation. Dadurch verliert Menke aber gerade die politischen Implikationen des Skla­ venaufstands mit Blick auf das Vorhaben einer Kritik des bürgerlichen Rechts zugunsten erkenntnistheoretischer und ästhetischer Reflexionen in Bezug auf den rechtlichen Urteilsakt aus den Augen. Dies findet darin Aus­ druck, dass Menke das Herrenrecht, wie bereits erläutert, fast vollkommen unabhängig von der moralischen Ökonomie beschreibt, in deren Logik der Ungleichbewertung von Herren und Sklaven dieses jedoch wesentlich eingebettet ist. Insgesamt bleibt der spezifische Status des Herrenrechts bei Menke merkwürdig unterbelichtet. Indem er seine Analyse sehr schnell auf den widersprüchlichen Charakter des Rechts auf Berücksichtigung der Sklaven fokussiert, gerät bei Menke die damit korrespondierende Proble­

361

Kapitel 8

matisierung der gewaltförmigen Struktur des Herrenrechts und dessen naturalistischer Darstellung bei Nietzsche aus dem Blick. Denn das Herrenrecht, Werte zu schaffen, ist mit einer nichtnormati­ ven Gewalt gegenüber dem Sklaven verbunden, die ihm inhärent ist, von Menke aber nicht explizit entfaltet wird. Zwar konstatiert Menke den Gewaltcharakter des Herrenrechts am Rande, wenn er festhält, „dass kein anderer das Recht hat, den Herrn zu hindern, weil zwischen beiden gar kein normatives Verhältnis, kein Verhältnis von Recht und Pflicht, besteht“ (Menke 2015, 348). Aber mit dieser Aussage bezieht sich Menke bloß negativ auf das Nichtvorhandensein einer egalitären Rechtsbeziehung zwischen Herrn und Sklave. Fragt man dagegen positiv danach, wie das konkrete Verhältnis von Herrn und Sklave gesellschaftlich und politisch gestaltet ist, wird deutlich, dass die Behauptung des Herrn, in gar keiner normativen oder rechtlichen Beziehung zum Sklaven zu stehen, tatsäch­ lich erst auf der Grundlage der moralischen Ökonomie ermöglicht wird, in deren Rahmen beide zwar auf eine inegalitäre, aber dennoch relationale Weise miteinander verbunden sind, nämlich durch eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi 2019, 20). Die Leugnung des Herrn, mit dem Sklaven in irgendeiner normativen oder rechtlichen Beziehung zu stehen, ist so gesehen nur möglich, weil der Herr unter den Bedingungen einer moralischen Ökonomie der Ungleichheit den Sklaven bereits normativ abgewertet und entrechtet hat. Indem er die normative Beziehung der Gleichheit mit dem Sklaven in Abrede stellt, setzt der Herr trotzdem bereits eine relationale Beziehung mit dem Sklaven voraus, da er sich im Akt der Abwertung und Entrechtung notwendig schon auf ihn bezogen hat. Dieses Gewaltverhältnis und folglich auch das Herrenrecht, Werte zu schaffen, beruht also darauf, dass Herr und Sklave in ein und densel­ ben Handlungszusammenhang einer moralischen Ökonomie eingebettet sind, innerhalb dessen der Herr den Sklaven moralisch unterordnet, ge­ sellschaftlich unterwirft, politisch unterdrückt und rechtlich ausschließt. Das soziale Verhältnis von Herrn und Sklave wird also, entgegen Menkes Darstellung, nicht erst im Moment der rechtlichen Forderung des Sklaven nach Berücksichtigung „intersubjektiv und relational verstanden“ (Menke 2015, 348), sondern bereits das Herrenrecht selbst basiert in seiner Un­ gleichheitsstruktur auf einer Relationalität, die normativ verfasst ist. Nur besteht diese Normativität eben darin, die Subjektpositionen von Herren und Sklaven dadurch zueinander in Beziehung zu setzen, dass sie deren jeweiligen moralischen und menschlichen Wert im Rahmen einer Öko­ nomie der Ungleichheit differenziell verteilt und den rechtlichen Status

362

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung

des Herrn dem rechtlosen Status des Sklaven hierarchisch überordnet. Da­ durch wird das Herrenrecht radikal von der Subjektposition des Sklaven getrennt, welcher gerade durch diese Trennung erst entrechtet wird. Das Herrenrecht, so lautet das Ergebnis der bisherigen Überlegungen, besitzt also eine spezifisch biopolitische Struktur, und zwar exakt in dem Sinne, in dem im bisherigen Verlauf der Begriff der Biopolitik entwickelt worden ist, nämlich als gesellschaftliche und politische Ungleichbewer­ tung des Lebens von Menschen und des daraus resultierenden rechtlichen und politischen Ausschlusses der Rechtlosen. Das Vorrecht des Herrn be­ steht somit gegen Menke nicht einfach darin, eigenmächtig „seine Macht des Urteilens auszuüben“ (ebd.). Der erkenntnistheoretisch bzw. ästhetisch konzeptualisierte Begriff des Urteilens kann vielmehr der biopolitischen Struktur des Herrenrechts überhaupt nicht gerecht werden. Denn das Her­ renrecht bei Nietzsche ist nicht in erster Linie ein Recht auf ungestörtes, freies Urteilen, sondern das Recht, den Sklaven moralisch zu verurteilen. Das Recht der Bewertung nach selbst gesetzten Maßstäben bei Menke ist nicht das gleiche wie das Recht der Ab- bzw. Entwertung des Sklaven bei Nietzsche. Doch genau in dieser normativen Abwertung des Sklaven be­ steht die Pointe von Nietzsches Konzeption des Herrenrechts, wie anhand vieler Passagen aus der Genealogie der Moral deutlich wird. Zu Beginn der zweiten Abhandlung über die Genese der Schuld und des schlechten Ge­ wissens beschreibt Nietzsche bspw. das befriedigende Gefühl des Gläubi­ gers, der es genießt, seinen in Verzug geratenen Schuldner leiden zu sehen. Dieses Befriedigungsgefühl ist dabei analog zu dem für die Subjektivität des Herrn konstitutiven Verachtungsgefühl zu lesen, denn es handelt sich, so Nietzsche, um „das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust ‚de faire le mal pour le plaisir de le fair‘, der Genuss in der Vergewaltigung: als welcher Genuss um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht und leicht ihm als köstlichster Bissen, ja als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann“ (Nietzsche 2013, 55f.). An dieser Stelle wird unmissverständlich deutlich, dass das Herrenrecht bei Nietzsche konstitutiv im biopolitischen Zusammenhang einer morali­ schen Ökonomie steht; das ‚Wohlgefühl‘ des Gläubigers ergibt sich hier daraus, dass der Schuldner als jemand leidet, der ‚in der Ordnung der Gesellschaft‘ auf einer niedrigeren Stufe angesiedelt ist. Hier wird also exakt die von Fassin in den Blick genommene Dynamik einer moralischen

363

Kapitel 8

Ökonomie beschrieben und dadurch unterstrichen, dass der Genuss am Leiden des Schuldners aufseiten des Gläubigers, also des Herrn, dadurch verstärkt wird, dass der Gläubiger sich durch die Misshandlung und Qual des Schuldners in einen höheren gesellschaftlichen ‚Rang‘ versetzt fühlen kann. Der Verachtungscharakter dieses Gefühls wird von Nietzsche dabei folgendermaßen zugespitzt: „Vermittelst der ‚Strafe‘ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil: endlich kommt auch er ein Mal zu dem erheben­ den Gefühle, ein Wesen als ein ‚Unter-sich‘ verachten und misshan­ deln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die ‚Obrigkeit‘ übergegangen ist, es verach­ tet und misshandelt zu sehen. Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit“ (Nietzsche 2013, 56).108

108 In der Tradition Nietzsches haben verschiedene Autorinnen und Autoren da­ rauf beharrt, dass auch in den modernen ethisch-rationalen Diskursen des Rechts und der Moral die Lust an der Grausamkeit als exzessiver, inkommen­ surabler Überschuss und heimliches Motiv der Bestrafung erhalten bleibt. Der grausame Wunsch, den Anderen leiden zu sehen, verfolgt implizit sämtliche moralisch-rechtlichen Praktiken und Interpretationen der Strafe trotz aller bürgerlich-liberalen, rationalistischen oder moralphilosophischen Begründungs­ strukturen, in denen die Strafe etwa auf übergeordnete Zwecke wie die kom­ pensatorische Wiedergutmachung, die Entschädigung des Opfers, die morali­ sche Besserung des Täters, dessen Resozialisierung oder den allgemeinen Schutz der Gesellschaft hin ausgerichtet wird. So stellt Didier Fassin in Der Wille zum Strafen kritisch fest: „Doch selbst bei den als besonders zivilisiert geltenden Formen der Rechtsprechung bleibt jener dunkle Anteil des Genießens eines her­ beigeführten Leids bestehen. Mit einer Paraphrase von Georges Bataille kann man diesbezüglich von einem ‚verfemten Teil‘ der Strafe sprechen, um das zu bezeichnen, was stets über das hinausgeht, was es eigentlich sein soll. Und es ist dieser häufig verborgene und verleugnete verfemte Teil, dem weder die Rechtfertigungen noch die Deutungen der Strafe vollständig Rechnung tragen“ (Fassin 2018a, 119). In diesem Sinne erläutert Jacques Derrida in seiner Seminarreihe zur Todesstra­ fe die Äquivalenzstruktur von Nietzsches ‚Anrecht auf Grausamkeit‘ mit Blick auf die Grausamkeit der Todesstrafe: „In place of some equivalent, something or someone, one grants in return, as payment, the pleasure of doing violence (Genuss in der Vergewaltigung), (…) the enjoying (le jouir) that has to do with exercising power (Gewalt), and here even with exercising one’s sovereignty over the debtor – man or woman” (Derrida 2014, 155f.). Und auch Judith Butler widmet sich dem Thema der Grausamkeit als innerer Struktur der bürgerlichen Rechtspraxis: „Für Nietzsche wie auch für Derrida, der ihm hierin folgt, üben rechtliche Strafpraktiken – ganz entgegen ihren vorgeblichen Zwecken – eine

364

8.2 Eine biopolitische Gegendarstellung

Auch wenn diese Passage äußerst drastisch erscheinen mag, bringt sie dennoch den grundsätzlicheren Punkt auf paradigmatische Weise zum Ausdruck, um den es hier in der kritischen Entgegensetzung zu Menkes Deutungsvorschlag geht: Das Leiden, auf das sich Menke im Rahmen seiner aristotelisch inspirierten Handlungstheorie bezieht und das er mit Nietzsche der Subjektposition des Sklaven zuordnet, meint bei Nietzsche gerade nicht einfach nur in einem unbestimmten Sinn das passive Erlei­ den von irgendetwas Äußerem, welches dem Handeln des Herrn als dem neutralen Vermögen der Aktivität formal gegenübergestellt werden kann. Diese handlungstheoretische Version des Sklavenaufstands lässt vielmehr die Wirkungsweise der moralischen Ökonomie zu stark außer Acht, durch welche die Subjektpositionen von Herrn und Sklave in die biopolitische Dynamik einer normativen Abwertung des Sklaven durch die normative Selbstaufwertung des Herrn integriert werden. Erneut liefert die postko­ loniale Theorie, wie schon an früheren Stellen, das entscheidende Stich­ wort für die biopolitische Interpretation des Sklavenaufstands, welche hier als Gegenvorschlag zu Menkes handlungstheoretischem Interpretati­ onsrahmen in Anschlag gebracht werden soll. Der moralischen Ökonomie einer ungleichen Werthaftigkeit zwischen Herren und Sklaven bei Nietzsche lässt sich nämlich interpretatorisch eher dadurch Rechnung tragen, dass die Formen und Praktiken der Verachtung und Misshandlung des Sklaven durch den Herrn – die der Sklave nicht deshalb erdulden muss, weil er nun mal passiv ist, sondern weil er durch den Herrn gewaltsam unterworfen und zum Sklaven gemacht worden ist – in den theoretischen Kontext der Kritik (post-)kolonialer Strukturen des Rassismus übertragen und vor diesem Horizont reformuliert werden. Mit Mbembe und Loick ist bereits dafür argumentiert worden, dass sich die von Nietzsche analysierte Herrschaftsbeziehung zwischen Herren und Sklaven vor dem politischen Hintergrund einer kolonialen Gemeinschaft der Gleichen bzw. Gleichartigen thematisieren und rekonzeptualisieren lässt, deren Gleichheitscharakter an den radikalen Ausschluss des rassifizierten Anderen gebunden ist. Das im Kontext dieser moralischen Ökono­ mie transportierte und gesellschaftlich immer wieder reproduzierte Erha­ benheitsgefühl der Herren, den Sklaven moralisch und menschlich über­ legen zu sein, lässt sich in einer postkolonialen Heuristik als das bereits beschriebene koloniale „Rassenvorurteil“ (Mbembe 2017, 37) spezifizieren, das Mbembe zufolge die Legitimationsgrundlage für rechtliche und außer­ heimliche sadistische Funktion aus: Der Sadismus ist sowohl im Recht als auch in der Moralität am Werk“ (Butler 2014, 26).

365

Kapitel 8

rechtliche Ungleichbewertungen bildet, in Mbembes Formulierung: für das „Gesetz der Ungleichheit“ (ebd.) und der darauf basierenden rassisti­ schen Über- und Unterordnungen innerhalb der Sklavenhaltergesellschaf­ ten. Dies lässt sich mit Frantz Fanon untermauern, der in Schwarze Haut, weiße Masken schreibt: „Die Inferiorisierung aufseiten der Eingeborenen entspricht der europäischen Superiorisierung. Haben wir den Mut, es auszusprechen: Es ist der Rassist, der den Minderwertigen schafft“ (Fanon 2016, 80). Im Anschluss an Mbembe und Fanon lässt sich somit die systematische Struktur des Herrenrechts mit Blick auf den postkolonialen Theorieho­ rizont kritisch weiterdenken: Die biopolitische Wirkungsweise des Her­ renrechts besteht auf einer postkolonialen Folie in der rassistischen Infe­ riorisierung, durch die der Eingeborene, also der Sklave, erst in seiner rassischen Unterlegenheit durch den Kolonialherrn konstruiert wird. Das Recht des Herrn, Werte zu schaffen, ist tatsächlich dessen Vorrecht, wel­ ches allein dem Herrn einen moralischen und menschlichen Wert bei­ misst, indem es den Sklaven normativ entwertet und aus dem Recht ausschließt. Rassismuskritisch gewendet: „Es ist der Blick des Weißen, der dem Schwarzen das ‚Neger-Sein‘ aufdrückt. (…) Die Identität des Schwarzen ist nur seine, insofern sie ihm vom Anderen übergestülpt wird“ (Bedorf 2010, 29). Mit Därmann gesprochen, schreibt Nietzsches Konzeption des Herrenrechts und die damit verbundene Darstellung des Sklaven das koloniale Rassendenken dadurch auf affirmative Weise fort, dass die tatsächliche koloniale Praxis des transatlantischen Sklavenhandels in Nietzsches genealogischen Untersuchungen zum antiken Aufstand jüdi­ scher Sklaven „wie ausgelöscht und spurenlos gemacht“ (Därmann 2019, 55) wird. Durch Nietzsches typologisch-genealogische Rede von Herren und Sklaven, so Därmanns Argument, wird der Begriff des Sklaven ge­ wissermaßen von seinem historisch-faktischen Kontext abgelöst und die koloniale Versklavung schwarzer Menschen auf diese Weise unsichtbar gemacht. Das von Nietzsche beschriebene Herrenrecht, so meine daran anschließende Hypothese, lässt sich somit vor dem Hintergrund der kon­ kreten Rechtsgemeinschaften kolonialer Sklavenhaltergesellschaften weiter reflektieren und historisieren, welche Mbembe als Gemeinschaften der Trennung charakterisiert, die bloß ideologisch vorgeben, Gemeinschaften der Gleichen zu sein, in denen jeder gleichermaßen am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. Im Kontext solcher kolonialen und postkolonialen Rechtsgemeinschaf­ ten, so ist deutlich geworden, ist jedoch nicht jeder Mensch auf egalitäre

366

8.3 Das bürgerliche Rechtssubjekt im Spiegel von Nietzsches Herrenrecht

Weise als ein gleichberechtigtes Rechtsmitglied repräsentiert, weil durch diese Gemeinschaften eine fundamentale biopolitische Spaltung verläuft, und zwar zwischen den Kolonisierenden bzw. Kolonialherren, die mit Rechten ausgestattet sind, und den Sklaven, die von den Herren entrech­ tet worden sind. „Rechtssubjektivität als Anrecht auf Grausamkeit ist ein Eigentum und Privileg von Weißen“ (Loick 2021, 357). Insofern das Her­ renrecht laut Nietzsche notwendig mit dem Verachtungsgefühl des Herrn gegenüber dem Sklaven einhergeht, lässt sich die von den Herren behaup­ tete Gleichheit auf der Folie der bisherigen Überlegungen als überhebli­ cher Ausdruck des kolonialen Rassenprinzips rekonstruieren und als Folge der Aufteilung der Kolonialgesellschaften in über- und unterlegene Teile anhand rassistischer Sozialstrukturen und Denkmuster dechiffrieren. Das Herrenrecht hat demnach die Form eines Vorrechts, eines „Privilegium[s], (…) das nicht alle haben“ (Loick 2021, 356), was sich im konstitutiven strukturellen Rassismus der Kolonialgesellschaften widerspiegelt, welcher nach Mbembe bis in die normative Struktur heutiger demokratischer Rechtsordnungen hinein wesentlich fortwirkt. Diese postkoloniale Argu­ mentation lässt sich von hier aus zur weitergehenden These ausfalten, derzufolge Nietzsches Herrenrecht gerade in seinem biopolitischen Cha­ rakter strukturanalog zu der Form der subjektiven Rechte zu lesen ist. Die These lautet deshalb, dass der Herr, der über das Recht verfügt, Werte zu schaffen, stellvertretend für das bürgerliche Rechtssubjekt steht; dass also der Herr bei Nietzsche niemand anderes ist als das moderne Subjekt der subjektiven Rechte selbst. Diese These lässt sich bereits im Rekurs auf Nietzsches Primärtext untermauern, soll darüber hinaus aber im Folgen­ den im konstruktiven Anschluss an Daniel Loick demonstriert werden. 8.3 Das bürgerliche Rechtssubjekt im Spiegel von Nietzsches Herrenrecht In Juridismus vertritt Daniel Loick genau diese These, nämlich dass der bei Nietzsche beschriebene Herr prototypisch das bürgerliche Rechtssubjekt verkörpert. Dabei geht er von der Prämisse aus, dass „[sich] [d]ie Genealo­ gie der Moral als eine Nahaufnahme des Prozesses der Organisation der psychosozialen Ökonomie des Menschen durch das Recht lesen [lässt]“ (Loick 2017a, 188). Diese Annahme wird in Loicks Augen vor allem dadurch plausibilisiert, dass sich Nietzsches Ausführungen in Bezug auf die „Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf“ (Nietzsche 2013, 48), also dessen genealogische Rekonstruktion des Prozesses der Vergesellschaftung des Menschen, unmittelbar an die „rechtsanthropolo­

367

Kapitel 8

gischen und -ethnologischen Arbeiten des Bremer Rechtswissenschaftlers Albrecht Hermann Post“ (Loick 2017a, 189) anlehnen. Dem entspricht, dass Nietzsche der ressentimentalen Sklavenmoral der Juden das Modell der römischen Rechtssubjektivität als wesentlich überlegene Subjektivie­ rungsform gegenüberstellt (vgl. Loick 2017a, 187) und dabei gleichzeitig dem römischen Recht eine fundamentale Rolle „für die Entwicklung der europäisch geprägten Subjektivität“ (Loick 2017a, 188) zuspricht. Wenn Nietzsche also zu Beginn der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral nach „der Herkunft der Verantwortlichkeit“ (Nietzsche 2013, 48) fragt, dann geht es ihm, so Loick, um den historischen Prozess einer spezi­ fisch rechtlichen Subjektivierung, durch den die einzelnen Individuen aus ihren tradierten, also etwa familialen oder standesspezifischen, Bindungen und vormodernen Handlungskontexten losgelöst werden, und zwar mit dem Ziel, Proletarier für den kapitalistischen Arbeitsmarkt zu erzeugen (vgl. Loick 2017a, 190). Dieser Prozess ist von Marx, wie oben bereits ausgeführt, als die ursprüngliche Akkumulation analysiert und mit Loick als „die Produktion rechtsfähiger Subjekte“ (Loick 2017a, 170) charakteri­ siert worden. Nietzsche zufolge geht dieser moderne Subjektivierungspro­ zess der Individualisierung vom römischen Rechtskonzept aus, welches über seinen antiken Ursprung hinaus „eine faktische Durchdringung der lebensweltlichen Wirklichkeit und der realen Praktiken der Menschen durch das Privatrecht erzeugt hat, die eine fundamentale juridische Imprä­ gnierung ihrer Subjektstruktur plausibel erscheinen lässt“ (Loick 2017a, 188). Die Kategorie der Verantwortlichkeit bezieht sich somit bei Nietzsche, so Loicks Argument, auf die Subjektivität des bürgerlichen Rechtssubjekts in der Moderne. Die Individualisierung des Einzelnen zu einer autonomen Rechtsperson „vollzieht sich (…) mittels der juristischen Konstruktion einer individuellen Zurechnung straf- oder haftbaren Verhaltens“ (Loick 2017a, 190). Dadurch wird die Verantwortung für individuelle Handlun­ gen dem einzelnen Subjekt im Sinne einer individuellen „‚Vorwerfbarkeit‘“ (ebd.) zugerechnet und damit durch einen rechtlichen Akt über­ haupt erst gesellschaftlich hervorgebracht. Das Subjekt und nicht mehr die Gemeinschaft, aus der es stammt, ist nun für sein Verhalten moralisch und rechtlich verantwortlich. Zu einem verantwortlichen Individuum zu wer­ den bedeutet vor diesem Hintergrund also zu einem autonomen Subjekt im Sinn des römischen Rechts zu werden. In Loicks Worten: „Seinen sub­ jektiven Niederschlag findet dieses römische Rechtsregime im Konstrukt der ‚Verantwortlichkeit‘ (…)“ (Loick 2017a, 191). Dem korrespondiert, was Nietzsche im Abschnitt über den Begriff der Verantwortlichkeit selbst

368

8.3 Das bürgerliche Rechtssubjekt im Spiegel von Nietzsches Herrenrecht

feststellt. Am Ende des römisch-rechtlichen Subjektivierungsprozesses, durch den der Einzelne zu einem versprechenden Tier, d.h. zu einem verantwortlichen Subjekt (um-)geformt worden ist, steht die Geburt des, wie Nietzsche schreibt, „souveraine[n] Individuum[s], das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittli­ che Individuum (…), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf“ (Nietzsche 2013, 49). Dieses souveräne Individuum, so beeilt sich Nietzsche hinzuzufügen, fühlt sich aufgrund der Freiheit seines Willens und seines „Macht- und FreiheitsBewusstsein[s]“ (ebd.) all denjenigen überlegen, die nicht die Fähigkeit gewonnen haben, versprechen zu dürfen (vgl. ebd.). Deshalb bezeichnet Nietzsche dieses (eigen-)verantwortlich gewordene Subjekt folgerichtig auch als „Herr[n] des freien Willens“ (ebd.). Entscheidend ist aber im hier vorliegenden Zusammenhang vor allem, dass Nietzsche nur einige Zeilen später die Eigenschaft der Verantwortlichkeit, die, wie gesehen, das moderne Rechtssubjekt auszeichnet, mit dem Begriff des Privilegs in Verbindung bringt: „Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verant­ wortlichkeit, das Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tie­ fe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt“ (Nietzsche 2013, 50). Zwar besteht dieser Instinkt nach Nietzsche im „Gewissen“ (ebd.) des Einzelnen und bekanntlich ist es Nietzsches erklärtes Anliegen, die Entste­ hung des schlechten Gewissens und der damit verknüpften moralischen Semantik von Schuld und Verschuldung einer schonungslosen genealo­ gischen Kritik zu unterziehen (vgl. Nietzsche 2013, 53). Aber der recht­ liche Prozess seines Verantwortlichmachens ermächtigt das Individuum zugleich maßgeblich, indem er ihm den Status eines Rechtssubjekts, d.h. in Nietzsches Worten: eines souveränen Individuums verleiht. Unter Sou­ veränität versteht Nietzsche daher, so Loick, die dem Subjekt „in der Versprechensbefugnis, das heißt in der Geschäftsfähigkeit, zugestandene Privatautonomie“ (Loick 2017a, 197), auf deren Basis das römische Rechts­ subjekt „im Rahmen des Legalen willkürlich, das heißt ‚wie ein Souverän‘“ (ebd.) handeln darf. Vor diesem Hintergrund erinnert Loick zu Recht daran, „dass das subjektive Recht, das in der Moderne zum Durchbruch

369

Kapitel 8

findet, seine Wurzeln bereits im römischen ius als Verfügungsgewalt über andere (…) hat“ (ebd.). Das souveräne Individuum in Nietzsches Genealogie der Moral ist also nicht etwa „ein Synonym des ‚Übermenschen‘ oder (…) eine exzellenze­ thische Auszeichnung einer seltenen oder transgressiven Subjektivität“ (Loick 2017a, 205), sondern repräsentiert im exakten Sinn das moderne Rechtssubjekt im Rahmen der bürgerlichen Rechtsordnung. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass der normative Status der bürgerlichen Rechts­ person mit Nietzsche als ein Privileg des durch seine (privat-)rechtliche Ermächtigung souverän gewordenen Subjekts lesbar wird. Denn Nietzsche knüpft die Genese des bürgerlichen Rechtssubjekts, die er anhand des Konzepts der Verantwortlichkeit rekonstruiert und im Begriff des souverä­ nen Individuums einsichtig macht, an die gleiche affektive und soziale Dynamik von Verachtung und Superiorität, deren Ungleichheitscharakter bereits oben im Kontext der psychischen Struktur des Herrn und der moralischen Ökonomie von Herrn und Sklave herausgearbeitet wurde. Daher ist es auch kein Zufall, dass Nietzsche das moderne Rechtssubjekt mithilfe von Attributen kennzeichnet, die eindeutig der Erhabenheitsse­ mantik des Herrn entstammen. So besitzt das souveräne Individuum „ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, was da endlich er­ rungen und in ihm leibhaft geworden ist“ (Nietzsche 2013, 49): Der Träger subjektiver Rechte bildet Nietzsche zufolge nämlich ein Bewusstsein da­ von aus, „welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich selbst gut sagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt“ (ebd.). Auch das bereits oben erläu­ terte ‚Wohlgefühl‘ des Gläubigers, das sich infolge der Verachtung und Misshandlung des Schuldners einstellt, wird von Nietzsche im immanen­ ten Zusammenhang der römischen Rechtssubjektivität ins Spiel gebracht. Das ökonomisch-rechtliche (Herrschafts-)Verhältnis von Gläubiger und Schuldner setzt, so beobachtet Nietzsche zutreffend, in rechtsontologischer Hinsicht die Existenz der gegenüber der „ältere[n] Menschheit“ (Nietzsche 2013, 54) überlegenen „römischere[n] Rechtsauffassung“ (Nietzsche 2013, 55) voraus. Dieser Analyse des Verantwortlichkeitskonzepts steht die Art und Weise gegenüber, in der Menke diesen Begriff verwendet. Denn Menke zufolge „proklamiert der Sklave das gänzlich andere Recht, den anderen für das, was er tut, verantwortlich zu machen: das ‚Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein…‘ – das Recht der Lämmer, der Schwachen oder Sklaven, dem Herren das, was er im Vollzug seiner selbstgeschaffenen Werte tut, als seine freie, selbstgewählte Handlung

370

8.3 Das bürgerliche Rechtssubjekt im Spiegel von Nietzsches Herrenrecht

zuzurechnen, für die er sich verantworten und rechtfertigen muss und die sich ihm deshalb auch als ‚böse‘ vorwerfen lässt“ (Menke 2015, 347f.). In dieser Heuristik ist es demnach der Sklave, der den Herrn verantwort­ lich für dessen Handlungen macht, indem er das Recht erkämpft, von diesem berücksichtigt zu werden. Dagegen lässt sich jedoch auf der bis hierher erarbeiteten Grundlage einwenden, dass es bei Nietzsche gar nicht in erster Linie darum geht, dass der Sklave seinen Herrn für etwas verant­ wortlich machen will, um es ihm dann in Form einer Schuld vorwerfen zu können. Das Vorhaben des Sklaven, den Herrn für seine Handlungen verantwortlich zu machen, setzt vielmehr auf einer grundlegenderen, so­ zialontologischen Ebene bereits die normative Struktur der römischen Rechtsordnung voraus. Erst hierin besteht Nietzsches eigentliche Pointe: Denn das römische Recht, so lässt sich mit Nietzsche schlussfolgern, eta­ bliert überhaupt erst den normativen Status des modernen Rechtssubjekts als einer eigenverantwortlichen, individualisierten Einzelperson, die auch ihrem eigenen juridischen Selbstverständnis nach aus ihren organischen, verwandtschaftlichen Bindungen in Bezug auf ihre rechtliche Haftbarkeit herausgelöst worden und dadurch zugleich autonom geworden ist. Im Zu­ ge dieser Subjektivierung schafft das Recht jedoch erst die Bedingung der Möglichkeit, dass die kulturelle Vorstellung einer individuell zurechenba­ ren Verantwortung und Strafbarkeit mit Blick auf die eigenen Handlun­ gen überhaupt in der bürgerlichen Gesellschaft zirkulieren und dement­ sprechend die Subjektstruktur der einzelnen Rechtspersonen beeinflussen und durchdringen kann. Nicht der Sklave ist also der Akteur dieses Haftbar- und Verantwort­ lichmachens, sondern die Institution des modernen, bürgerlichen Recht selbst, welche Nietzsche im Anschluss an Post auf die römische Rechtskon­ zeption in der Antike zurückführt. Die Kategorie der Verantwortlichkeit bezieht Nietzsche bloß in einem polemischen und abwertenden, ja spötti­ schen Sinn auf den Sklaven, der im Versuch, dem Herrn vorzuwerfen, Herr zu sein, bloß sein Ressentiment bzw. seine „Affekte Rache und Hass“ (Nietzsche 2013, 36) offenbart. Wenn Menke also den Verantwortlichkeits­ begriff in erster Linie auf den Sklaven anwendet, der das Recht auf Berück­ sichtigung einfordert, dann blendet er damit die auf den vorherigen Seiten geschilderte Textlage viel zu stark aus. In der Kategorie der Verantwortlich­ keit geht es Nietzsche nämlich, wie gesehen, gerade nicht primär um die Kritik des (Verhaltens des) Sklaven, sondern um die Charakterisierung des modernen, bürgerlichen Rechts selbst. Nicht die Subjektposition des Skla­ ven steht also in Nietzsches genealogischer Kritik der Verantwortlichkeit

371

Kapitel 8

im Zentrum, sondern vielmehr die Form der Rechtssubjektivität in der Moderne. Denn, so lässt sich mit Nietzsche und Loick diagnostizieren, der Status des modernen Rechtssubjekts selbst hat die Struktur eines Privilegs, eines Vorrechts der souveränen Individuen, welches Nietzsches Beobach­ tung zufolge in Begleitung eines Überlegenheits- und Verachtungsgefühls denjenigen vorenthalten wird, die durch das bürgerliche Recht nicht zu versprechenden Tieren herangezüchtet, d.h. nicht zu rechtsfähigen, verant­ wortlich gewordenen Subjekten geformt worden sind, also, in Nietzsches Diktion, den Sklaven.109 Auf der Basis der bisherigen Interpretation von Nietzsche wird demnach deutlich, dass im Status des bürgerlichen Rechtssubjekts entgegen Menkes handlungstheoretischer Darstellung des Sklavenaufstands die biopolitische Struktur des von Nietzsche beschriebenen Herrenrechts zum Ausdruck kommt. Die affektive Überheblichkeit des ‚souveränen Individuums‘, das in Nietzsches Genealogie für das bürgerliche Rechtssubjekt steht, ist das (rassistische) Überlegenheitsgefühl der Herren gegenüber den Sklaven. So wie der Herr seinen Status und sein Recht als Herr dadurch hervor­ bringt, dass er den Sklaven unterwirft und diesen aus dem Geltungs- und Machtbereich des Herrenrechts ausschließt, so begründet sich auch die bürgerliche Rechtsordnung als Gemeinschaft von normativ Gleichgestell­ ten dadurch, dass sie im Akt ihrer Konstitution aktiv all jene Figuren und Subjektformen auf rassistische Weise aus dem Recht ausschließt, die aus rechtlicher Sicht als ungleich, unsichtbar, wertlos oder weniger lebendig als die offizielle Bevölkerung gelten. In der Verachtung der ‚souveränen Individuen‘ des bürgerlichen Rechts gegenüber all denen, die durch das Recht nicht zu verantwortlichen Subjekten ermächtigt und normalisiert worden sind, spiegelt sich die Gewalt der Herren, die aus ihrem (kolonia­ 109 In ähnlicher Weise stellt auch Walter Benjamin in seiner Kritik der Gewalt auf den Privilegcharakter des Rechts ab: „Auch scheint es, dass Sorel an eine nicht nur kulturhistorische, sondern metaphysische Wahrheit rührt, wenn er vermutet, dass in den Anfängen alles Recht ‚Vor’recht der Könige oder der Großen, kurz der Mächtigen gewesen sei“ (Benjamin 1991, 198). Mit dieser Ak­ zentuierung einer ursprünglichen Privilegstruktur des Rechts streicht Benjamin in plausibler Weise erneut die Dimension der Gewalt und der Ungleichheit heraus, die das Recht in seiner begrifflichen Struktur notwendig beinhaltet: „Denn unter dem Gesichtspunkt der Gewalt, welche das Recht allein garantie­ ren kann, gibt es keine Gleichheit, sondern bestenfalls gleich große Gewalten“ (ebd.). Der Stichhaltigkeit dieser These eines Privilegcharakters innerhalb von Rechtsstrukturen tut es dabei keinen Abbruch, dass Benjamins metaphysische Ausdrucksweise unter den zeitgenössischen Bedingungen eines nachmetaphysi­ schen Denkens anachronistisch anmutet.

372

8.3 Das bürgerliche Rechtssubjekt im Spiegel von Nietzsches Herrenrecht

len) Überlegenheitsbewusstsein heraus die Sklaven aus der Privilegstruk­ tur des Herrenrechts ausschließen. Auf der Grundlage dieser alternativen Lektüre Nietzsches tritt somit der biopolitische Ausschlusscharakter des bürgerlichen Rechts klar zutage. Denn mit Nietzsche, so wurde gezeigt, lässt sich die Genese der Institution der modernen Rechtssubjektivität in ihrer konstitutiven Verflechtung mit der Hervorbringung von Subjekten rekonstruieren, die, in Anlehnung an Nietzsches Wortlaut, als Sklaven aus den rechtlichen Kategorien ausgeschlossen und entsubjektiviert werden. In dieser biopolitischen Deutung von Nietzsche tritt also gegen Men­ ke genau das hervor, was im Verlauf dieser Arbeit schon im Anschluss zunächst an Foucault und dann noch einmal stärker an Butler sichtbar geworden ist, nämlich dass die Produktion des modernen Subjekts der subjektiven Rechte notwendig auf der gleichzeitigen Erzeugung einer Klas­ se von Menschen beruht, die rechtlich exkludiert werden und denen ihr Rechtsstatus durch das Recht vorenthalten wird. Dabei wurde mit But­ ler bereits ausführlich herausgearbeitet, dass die Ausgeschlossenen keine Rechtssubjekte werden können, da ihre Leben bereits auf einer vorrechtli­ chen Ebene für das Recht unsichtbar sind und ihnen daher auch keine Rechte zuerkannt werden können. An diesem Prozess der biopolitischen Selektion und Exklusion derer, deren Leben nicht als lebendig gelten, ist das Recht, wie gesehen, auf performative Weise beteiligt, etwa wenn es in der differenziellen Zuteilung des Rechts auf Leben aktiv darüber mitentscheidet, wessen Leben rechtlich geschützt wird und wessen Leben kein Anrecht auf rechtlichen Schutz hat und damit auch nicht als rechtlich schützenswertes Leben zählt. Diese kritische Sicht auf die biopolitischen Ausschlussmechanismen des modernen, bürgerlichen Rechts lässt sich ausgehend von Nietzsches genealogischer Rekonstruktion des Privilegcharakters der bürgerlichen Rechtssubjektivität und der damit einhergehenden Affektökonomie von Verachtung bzw. Überlegenheit nochmals bestätigen und unterstreichen, allerdings unter der Voraussetzung, dass die naturalistische Darstellung der Schwäche und Passivität des Sklaven bei Nietzsche kritisch reflektiert und dekonstruiert wird: Der Sklave ist eben nicht wie bei Nietzsche, dem Menke hier zu unkritisch folgt, als derjenige zu definieren, der von Natur aus passiv ist, sondern als derjenige, der erst in der gewaltsamen Unterwerfung durch den Herrn passiv gemacht und politisch geschwächt wird. Seine Schwäche ist das gesellschaftliche Produkt seiner politischen Unterdrückung durch die Herrschaft des Herrn. In gleicher Weise ist der prekäre Status der Rechtlosen im Verhältnis zum bürgerlichen Recht zu verstehen: Ihre Illegalisierung und Exklusion aus rechtlichen Kategorien

373

Kapitel 8

ist das Ergebnis der biopolitischen Struktur des bürgerlichen Rechts. Das moderne Rechtssubjekt als Träger subjektiver Rechte gibt es nur um den Preis der Entrechtung von Menschen, die in den externen Zonen des Nichtrechts existieren und deren Leben und Existenzen in den Augen des Rechts illegal sind. Zwischenfazit In den vorausgegangenen Kapiteln habe ich einen Gegenentwurf zu Men­ kes Lektüre des Sklavenaufstands bei Nietzsche vorgelegt, indem ich Nietz­ sches genealogische Analysen stärker vom Recht des Herrn anstatt von der Position des Sklaven her gelesen habe, um den Status des Sklaven ausge­ hend von der Struktur des Herrenrechts zu verstehen und gegen Menkes Interpretationsvorschlag neu zu durchdenken. Dabei habe ich zu zeigen versucht, dass die Struktur des bürgerlichen Rechtssubjekts im Rahmen von Nietzsches Ausführungen der Position des Herrenrechts entspricht und mit diesem zusammengelesen werden muss, insofern Nietzsche die Entstehung des Rechtssubjekts in der Moderne als einen Prozess der Disziplinierung und Individualisierung begreift, in dem das Subjekt ein Überlegenheitsgefühl entwickelt und lernt, sich wie ein Herr überheblich gegenüber denjenigen abzugrenzen, denen ihr Rechtsstatus vorenthalten wird. Dieses Überlegenheitsgefühl bei Nietzsche wurde darüber hinaus als Ausdruck kolonialer Rassenvorurteile rekonstruiert, auf deren Basis in kolonialen und postkolonialen Rechtsgemeinschaften der Ausschluss des radikal Anderen legitimiert wird. In der Privilegstruktur des Herren­ rechts beschreibt Nietzsche daher, so die im Bisherigen vertretene These, nichts anderes als den biopolitischen Ausschlusscharakter des bürgerlichen Rechts selbst, was dadurch unterstrichen wird, dass Nietzsche sich in beiden Fällen – im Fall des Herrenrechts wie auch im Fall der Genese des modernen, bürgerlichen Rechtsubjekts – ein- und derselben Semantik der Erhabenheit und Verachtung gegenüber den jeweils Ausgeschlossenen bedient. In der Auseinandersetzung mit Nietzsche ist somit das moderne, bürgerliche Recht noch einmal deutlich in seinen biopolitischen Dimen­ sionen zur Geltung gekommen. Damit ist eine grundsätzliche Kritik an der Art und Weise verbunden, in der Menke die Subjektgestalt des Sklaven versteht. Indem sie das Recht auf ihre Berücksichtigung durch die Herren einfordern, reproduzieren die aufständischen Sklaven nämlich laut Menke nur ihren Status als Leidende und machen die Herren durch eine ressentimentale Geste der Schuldzu­

374

Zwischenfazit

schreibung für ihre Unterdrückung verantwortlich. Gegen diese Lesart, in der die Sklaven gewissermaßen selbst die Schuld für ihre Unterdrückung tragen, habe ich eine Gegendeutung des Begriffs der Verantwortlichkeit bei Nietzsche in Stellung gebracht. In diesem Zusammenhang habe ich die Kategorie der Verantwortlichkeit gegen Menke als das kennzeichnende Merkmal des souveränen Individuums, d.h. des bürgerlichen Rechtssub­ jekts, herausgearbeitet. Verantwortlichkeit ist, so gesehen, keine Kategorie in Bezug auf die Schwachen, die die Starken für ihre Stärke und Überlegenheit verantwort­ lich machen, sondern im Gegenteil ein Privileg der Starken, nämlich der Rechtssubjekte, die durch das bürgerliche Recht erst zur Verantwort­ lichkeit ermächtigt werden. Wer verantwortlich ist, muss nicht mehr be­ rücksichtigt werden, da er souverän geworden ist und sich qua seiner Souveränität all denen überlegen weiß, die nicht verantwortlich geworden sind und daher von ihm verachtet und unterworfen werden. Als souverä­ nes Individuum berücksichtigt das moderne Rechtssubjekt, so lässt sich im Anschluss an Nietzsche weiterdenken, gerade diejenigen nicht, die als Rechtlose erst noch berücksichtigt werden müssten und schließt sie dadurch als Nichtgleiche aus der Gemeinschaft der gleichen Rechtsmit­ glieder aus. In dieser Lesart kommt über Menke hinaus die moralische Ökonomie der Ungleichheit deutlich in den Blick, in deren Dynamik die Subjektpositionen von Herrn und Sklave eingebettet sind und in deren Rahmen die Sklaven in ihren rechtlosen und ohnmächtigen Status durch die Gewalt der Herren eingeschlossen werden. Die bisherigen Überlegungen haben damit vor Augen geführt, dass die Sklaven in Menkes Deutungsmodell gerade nicht als diejenigen Subjekte zur Geltung kommen können, als die Menke sie eigentlich verstehen will, nämlich als die revolutionären Subjekte, die sich gemeinsam gegen ihre Unterdrückung erheben und im Zuge ihres Aufstands ihre Rechte gegen die Entrechtung durch ihre Herren erkämpfen. Denn in Menkes Lesart des Sklavenaufstands erscheinen die Sklaven, wie gezeigt, als diejenigen, die ihr Recht auf Berücksichtigung einfordern und genau darin die Be­ freiung aus ihrer Ohnmacht verfehlen. In Menkes Interpretation nimmt die Selbstbefreiung der Sklaven aus ihrer Rechtlosigkeit also eine selbst­ widersprüchliche Form an. Das bedeutet aber, dass die Frage nach dem (gelingenden) Widerstand der Sklaven bei Menke ungeklärt bleibt. Der Aufstand der Sklaven muss daher neu und anders gedacht werden als bei Menke. Der Frage danach, wie der Widerstand der rechtlich Ausgeschlos­ senen in seinen Grundzügen angemessen gedacht werden kann, ist deshalb das abschließende Kapitel dieser Arbeit gewidmet.

375

Kapitel 9

9.1 Zur Notwendigkeit des Widerstands: Menkes Deutung der Haitianischen Revolution Wie im Fall der Illegalisierung des Natürlichen ist nicht nur die Möglich­ keit, sondern darüber hinaus auch die Notwendigkeit, die kritische Di­ mension des Widerstands rechtstheoretisch zu denken, in Menkes Rechts­ philosophie einerseits implizit angelegt, aber andererseits nicht explizit entwickelt. Im Folgenden geht es mir deshalb darum, diese von Menke nicht weiter ausgeführte Perspektive des Widerstands explizit zu machen und begrifflich zu durchdenken. Dabei werde ich mich erneut auf ver­ schiedene Überlegungen Judith Butlers stützen, in deren Anschluss der Be­ griff des Widerstands in Bezug auf eine biopolitische Kritik des Rechts aus der Perspektive der Entrechteten und Rechtlosen entfaltet und verarbeitet werden kann. Während Menke in Kritik der Rechte an der holistischen Vorstellung fest­ hält, „dass in der bürgerlichen Gesellschaft jeder Rechtsperson ist (…), dass es hier keine soziale Beziehung geben kann, die nicht dieser Bedingung genügte“ (Menke 2015, 273), deutet er in seinem Aufsatz Die Kritik des Rechts und das Recht der Kritik (Menke 2018) das Gegenteil an (vgl. im Folgenden Faets 2018). Dort beschreibt er, wie die rechtliche Normativität in Form der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht von der rechts­ konstitutiven Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht durchkreuzt und heimgesucht wird: „Der Angelpunkt dieses Umschlags ist die skizzierte Doppelung der normativen Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht durch die nichtnormative Unterscheidung von Recht und Nichtrecht. Beide ge­ hen Hand in Hand. Deshalb überlagern und überlappen sich die bei­ den Unterscheidungen faktisch – in der Wirklichkeit des Rechts –, so dass zwischen dem, was als Unrecht verurteilt und bestraft wird, und dem, was als Nichtrecht abgegrenzt und behandelt wird, nicht abschließend entschieden werden kann. (…) Es kommt zu Entdifferenzierungen in beiden Richtungen: In der ersten wird das Unrecht wie das Nichtrecht behandelt: der Verbrecher wird zum Feind, das Recht wird zum Ausnahmezustand. In der zweiten Richtung wird das Nichtrecht wie das Unrecht behandelt: der Rechtsfreie wird zum

376

9.1 Zur Notwendigkeit des Widerstands: Menkes Deutung der Haitianischen Revolution

Verbrecher, das Recht wird zum Erziehungssystem“ (Menke 2018a, 157). Dem korrespondiert Menkes Feststellung in Kritik der Rechte, dass ange­ sichts der rechtlichen Unbestimmtheit des Nichtrechts „die Existenz oder Präsenz des rechtlichen Entscheidens ungesichert“ (Menke 2015, 117f.) ist. Dass das Nichtrecht aus der Sicht des Rechts unbestimmt sein muss, gerade weil es sich um das Nichtrecht handelt, ist bereits im ersten Teil dieser Arbeit rekonstruiert und erklärt worden. Daher sei an dieser Stelle nur kurz daran erinnert, dass das Recht nach Menke keine unmittelba­ re, positive Erfahrung des Nichtrechts machen kann, sondern nur eine negative Erfahrung im Sinne der rechtlichen „Erfahrung der Grenze der Erfahrung: in der Identifizierung von oder als etwas, das es weder als rechtliches identifizieren kann noch als nichtrechtliches; das gerade darin nichtrechtlich ist, dass es weder rechtlich noch nichtrechtlich bestimmt ist“ (Menke 2015, 117). Gerade weil die Abgrenzung des Rechts gegenüber dem Nichtrecht einen ungesicherten Charakter hat, droht auch die norma­ tive Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht in die nichtnormative Praxis der Gewalt umzuschlagen. Die rechtliche Grenze zum Nichtrecht ist deswegen ungesichert, weil das Nichtrecht als Nichtrecht dem Recht notwendig unverfügbar bleibt. Und genau deswegen droht die rechtliche Praxis auch permanent in einen Widerspruch mit ihrer eigenen Normativi­ tät zu geraten, nämlich indem sie sich in die nichtnormative Gewalt der Bekämpfung des außerhalb der Rechtsordnung stehenden Feindes verwan­ delt. Mit Achille Mbembe ausgedrückt: Die bürgerliche Gesellschaft läuft dauerhaft Gefahr eine „Gesellschaft der Feindschaft“ (Mbembe 2017, 233) zu werden. Denn das bürgerliche Recht steht auf einer Schwelle, auf der die Unterscheidungen zwischen rechtsinternen und -externen Elementen, d.h. zwischen dem rechtlichen und dem nichtrechtlichen Raum verflüssigt werden und beide Dimensionen ineinander umschlagen. „Mit anderen Worten, das Recht kann nicht durch das Recht geschützt werden. Es kann nur fortbestehen dank des Nichtrechts“ (Mbembe 2017, 65). Um seinen Regierungsanspruch auf Dauer zu stellen, d.h. die Kontinuität seiner Nor­ mativität zu garantieren, ist das Recht nach Mbembe dazu gezwungen, „dem Recht selbst Gewalt anzutun oder verfassungsmäßig abzusichern, was bislang nur als Ausnahme oder schlicht als Unrecht galt“ (ebd.). Die von Menke erwähnte Entdifferenzierung rechtlicher Normen im Rahmen der tatsächlichen Rechtspraxis demonstriert somit, dass das Recht in der rechtskonstitutiven Setzung des Nichtrechts gleichzeitig einen nichtnor­ mativen Zwischenraum etabliert, in dessen Rahmen die Differenz von

377

Kapitel 9

Recht und Nichtrecht hybridisiert und potenziell aufgelöst wird. Das Recht besitzt also keine endgültige Macht über seine Differenz zum Nichtrecht; es kann vielmehr stets in nichtrechtliche Gewalt umschlagen – vor dieser Möglichkeit kann es sich nicht abschließend schützen. Für Menke bedeutet das vor allem, dass „gegen das rechtliche Verfah­ ren sich immer die nichtrechtliche Welt bemerkbar machen [kann], die sich ihrer rechtlichen Stellvertretung widersetzt: als Durcheinander, Gere­ de, Zerstreuung, Eigensinn, Störung, Ablehnung, Gewalt“ (Menke 2015, 116f.). Hierin klingt, wenn auch eher indirekt bzw. negativ, die Dimen­ sion des außerrechtlichen Widerstands, d.h. des gesellschaftlichen Wider­ stands gegen das Recht an. Auf den Widerstand, der sich gegen die norma­ tive Geltung einer herrschenden Rechtsordnung richtet, kann das Recht in Menkes Heuristik jedoch nur mit Gewalt und Repression reagieren. Das hat unmittelbar mit dem Begriff des Rechts selbst zu tun. Denn die wider­ ständige Auflehnung gegen ein bestehendes Rechtssystem stellt aus der Perspektive des Rechts nicht einfach nur ein Unrecht dar und widersetzt sich dementsprechend den normativen Mitteln der rechtlichen Unterschei­ dung zwischen Recht und Unrecht, d.h. zwischen legitimen und illegiti­ men Verhaltensweisen im Rahmen einer rechtlichen Ordnung. Der radika­ le Widerstand, der sich gegen die Herrschaft des Rechts selbst wendet, ist vielmehr Teil des Nichtrechts und deshalb für das Recht als nichtrechtlicher Widerstand notwendig unerfahrbar. Die Legitimität des außer- und gegen­ rechtlichen Widerstands ist für das Recht radikal nicht-intelligibel und unvernehmbar, mit Jacques Rancière gesprochen: er hat keine verständlich und sinnvoll „artikulierte Stimme“, sondern kann rechtlich „nur als Lärm wahrgenommen“ (Rancière 2016, 34) werden. Der Widerstand in seiner radikalen Form, d.h. insofern er auf die grundsätzliche Infragestellung eines Rechtssystems oder sogar dessen vollständige oder partielle Abschaf­ fung abzielt, hat aus rechtlicher Perspektive buchstäblich weder Sinn noch Bedeutung. Die rechtsphilosophische Frage des Widerstands ist im bisherigen Ver­ lauf dieses Kapitels bloß aus der (negativen) Perspektive seiner rechtlichen Unerfahrbarkeit gestellt worden, aus der wiederum die Gewaltreaktion des Rechts resultiert. Das Thema des Widerstands lässt sich jedoch im Anschluss an Menke auch aus dem entgegengesetzten Blickwinkel derer beleuchten, die ausgehend von ihrer ausgeschlossenen und damit nicht­ rechtlichen Position aktiv Widerstand leisten, um für ihre Rechte, ihre Einbeziehung ins Recht oder sogar die Neusetzung des Rechts zu kämp­ fen. In Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel, einer 2018 erschienenen Aufsatzsammlung, nimmt Menke Bezug auf die Sklavenaufstände wäh­

378

9.1 Zur Notwendigkeit des Widerstands: Menkes Deutung der Haitianischen Revolution

rend der Haitianischen Revolution. Dort beschäftigt sich Menke mit der Dialektik von Freiheit und Herrschaft anhand von Hegels Begriff der zwei­ ten Natur. Diese Dialektik besteht allgemein gesprochen darin, dass sich der Mensch aus seiner ihn determinierenden und damit unfrei machen­ den Naturexistenz nur durch seine Sozialisierung und Vergesellschaftung befreien kann. Durch ihre gesellschaftliche Institutionalisierung verselbst­ ständigt sich die sozial gewonnene Freiheit jedoch wiederum gegenüber dem Prozess ihrer Entstehung und verkehrt sich in sozialen Zwang, in die „Knechtung durch die Macht sozialer Formen und Normen“ (Menke 2018c, 122). Der Mensch kann sich also „die Befreiung aus seiner natürli­ chen Existenz nur so erarbeiten, dass er sich der Notwendigkeit der sozia­ len Existenz (…) unterwirft“ (Menke 2018c, 120). Obwohl oder gerade weil die Gesellschaft also das Medium der Freiheit ist, wird die Freiheit durch ihre Einschreibung in die bürgerliche Gesell­ schaft gleichzeitig Teil der Ordnung des Sozialen, durch welche die freien Subjekte notwendig begrenzt, eingehegt und diszipliniert werden. Die im Prozess der Befreiung erkämpfte soziale Freiheit schlägt also paradoxerwei­ se durch sich selbst, d.h. dadurch, dass sie sozial ist, in Unfreiheit um. Dieses Paradox der Befreiung entspricht strukturell Foucaults Begriff des assujettissement, also seinem dialektischen Verständnis der Subjektivierung, das im Zuge dieser Arbeit bereits verhandelt worden ist. Im Gewinn seiner sozialen Freiheit wird das Subjekt also erneut einer Herrschaft, der Herrschaft des Sozialen, unterworfen. Diese dialektische Dynamik des Sozialen beschreibt Menke im Anschluss an Hegels Konzept der zweiten Natur, denn die Rede von der zweiten Natur bei Hegel erklärt, wie aus der sozialen Form der Freiheit eine neue Gestalt der Unfreiheit entsteht: „Das soziale Medium der Freiheit schlägt in einen Mechanismus der Knechtschaft um, weil die sozialen Regeln, durch die das Selbst von der Determinationsmacht seiner natürlichen Antriebe frei wird, sich zu quasi- oder zweitnatürlichen Mechanismen verselbständigen“ (Menke 2018c, 122f.). In der Macht gesellschaftlicher Normen wird also die Unfreiheit der ersten Natur in anderer Gestalt reproduziert, wodurch die gesellschaftliche Freiheit des Subjekts gleichzeitig auch das Medium seiner Unterwerfung unter die zweite, soziale Natur darstellt. Von hier aus gelangt Menke schließlich zur „dialektische[n] Grundbestimmung des Sozialen: der sozialen Existenz des Subjekts“ (Menke 2018c, 121). In seinem „Exkurs zu Haiti“ (Menke 2018c, 70) bezieht Menke diese grundlegende Argumentation auf die historische Situation der Revolution der Sklaven auf Haiti und deutet in diesem Zusammenhang einen Gedan­ ken an, der einen entscheidenden Anstoß für ein rechtskritisches Verständ­

379

Kapitel 9

nis des Widerstands der rechtlich Ausgeschlossenen aus Menkes eigener Heuristik heraus liefern kann.110 Nach Hegel, so erläutert Menke, ist die Sklaverei ein soziales Verhältnis im Naturzustand und widerspricht daher radikal der Verfassung des Menschen im durch allgemeine Rechtsverhält­ nisse geregelten Gesellschaftszustand. „Die Existenz des Menschen als Na­ turwesen ermöglicht das Verhältnis der Sklaverei zwischen Menschen“ (Menke 2018c, 64). Damit ist klar, dass die Sklaverei mit der sozialen Existenz des Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft, also mit der durch das Recht hervorgebrachten bzw. verwirklichten persönlichen Freiheit des Menschen absolut unvereinbar ist, denn „[d]er Standpunkt des Rechts ist der Standpunkt, auf dem der Wille frei ist“ (Menke 2018c, 65). Vor diesem Hintergrund, so argumentiert Menke zunächst, erscheint die Revolution der Sklaven auf Haiti bloß „als was sie sich (…) verstan­ den hat: nichts als die Konsequenz der bürgerlichen Revolution“ (Menke 2018c, 71) in Frankreich. Liest man die Haitianische Revolution auf diese Weise, so „hat [sie] die Form der praktischen Verwirklichung eines schon gewonnen normativen Status“ (Menke 2018c, 72): Die Sklaven auf Haiti beanspruchen nur den rechtlichen Status, auf den sie sich durch die fran­ zösische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 rechtmäßig

110 Ich beschränke mich im Folgenden auf die Diskussion von Menkes kurzen Pas­ sagen zur Deutung der Haitianischen Revolution, da ich der Ansicht bin, dass sie in Bezug auf eine rechtskritische Reflexion des Widerstandsbegriffs fruchtbar gemacht werden können. Gleichwohl muss hierbei jedoch kritisch angemerkt werden, dass Menke in seiner Auseinandersetzung mit der Revolution auf Haiti die breite und vielfältige Forschungsdebatte weitestgehend ignoriert, die aktu­ ell zur Haitianischen Revolution u.a. aus den Perspektiven der postkolonialen Theorie sowie unterschiedlicher kritischer Ansätze „aus der radikalen Schwar­ zen Tradition“ (Ehrmann 2021, 419) geführt wird (vgl. exemplarisch Hardt/ Negri 2003, 129–131; Nesbitt 2008; Buck-Morss 2011; Girard 2011; Joseph 2012; Ehrmann 2015; 2023). Menke bezieht sich in seinen Ausführungen angesichts dieser Forschungslage neben Joachim Ritter nur an einer Stelle auf Buck-Morss. Über diese fehlende Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand hinaus ist Menkes Argumentation zudem durch eine systematische Blindstelle gekenn­ zeichnet: In der Debatte wird die Haitianische Revolution nämlich als „eine grundsätzliche Derassifizierung des Rechts und der Gesellschaft“ (Ehrmann 2015, 36) gelesen. Dieser rassismuskritische Aspekt wird in Menkes Ausführun­ gen jedoch nicht thematisiert. Jenseits dieser problematischen Dimensionen möchte ich in diesem Kapitel jedoch aufzeigen, inwiefern Menkes Überlegun­ gen trotzdem etwas Substanzielles zum Verständnis des Widerstands der Ausge­ schlossenen beitragen können. Am Schluss dieser Arbeit werde ich außerdem selbst einige ausblickhafte Reflexionen zur rassismuskritischen Dimension des außerrechtlichen Widerstands anstellen.

380

9.1 Zur Notwendigkeit des Widerstands: Menkes Deutung der Haitianischen Revolution

berufen können. Sie treten, so gesehen, für die Anerkennung der Rechte ein, die sie schon haben. Doch genau so sollten die haitianischen Befrei­ ungskämpfe, so betont Menke nachdrücklich, nicht gelesen werden. Dabei geht Menke erneut vom Paradox der Befreiung aus, welches einer­ seits besagt, dass der Mensch als Naturwesen sich nicht selbst und aus eigener Kraft aus der Unfreiheit seiner Naturexistenz hat befreien können, weil er dafür schon hätte frei sein müssen. Andererseits kann die Befrei­ ung jedoch nicht anders denn als Selbstbefreiung geschehen, denn eine Befreiung, die von außen erwirkt oder geschenkt wird, ist keine wirkliche Befreiung, weil sie sich dann nämlich in Abhängigkeit von etwas anderem und äußerem vollziehen würde, auf das sie bezogen und von dem sie abhängig bliebe. Derjenige, der sich befreit, muss vielmehr das Subjekt sei­ ner eigenen Befreiung sein, damit man von wirklicher Befreiung sprechen kann. Menke nennt dieses Paradox der Befreiung auch „die Unfähigkeit des Menschen, die Befreiung aus dem Naturzustand als seine eigene Tat getan zu haben (obwohl sie doch irgendwie geschehen sein muss: also die Unfähigkeit des Menschen, sich selbst zu begreifen)“ (ebd.). An der Revolution der sich von ihrer Unterdrückung befreienden Sklaven auf Haiti offenbaren sich nach Menke „die Aporien, in die sich der Versuch verstrickt, die Selbstbefreiung des Sklaven als die Befreiung aus der natürlichen Existenz in ihrer Machbarkeit zu begreifen. Ja, sie zeigen überdies noch, dass diese Apo­ rie der Machbarkeit der Befreiung aus der Natur sich auch noch im Inneren der Kämpfe geltend macht, die innerhalb des Sozialen für die Freiheit ausgefochten werden“ (ebd.). Das bedeutet, dass die bürgerliche Gesellschaft dauerhaft vom Einbruch der Natur bedroht ist und dieser Bedrohung auch konstitutiv ausgesetzt bleibt. Mit Natur sind dabei alle Formen nichtrechtlicher Gewalt gemeint, die der normativen Ordnung des bürgerlichen Rechts fundamental entge­ genstehen bzw. sein Außen bilden und die deshalb aus der Perspektive des Rechts nichts anderes als ein Teil der Natur sein können, die es abzugren­ zen, zu bekämpfen und zu unterdrücken gilt. Die Sklaverei steht hier nur paradigmatisch für diese (aus rechtlicher Perspektive) natürlichen Formen der Gewalt, von denen sich das Recht in jeder normativen Operation radikal unterscheiden und vor denen es sich und die bürgerliche Rechts­ gemeinschaft schützen muss, um sich als normative Ordnung geltend zu machen und diese normative Geltung über die Zeit hinweg zu behaupten. Vor dem Hintergrund der Unverfügbarkeit des Nichtrechts für das Recht, von der weiter oben die Rede war, lässt sich aus Menkes Interpreta­

381

Kapitel 9

tion der Haitianischen Revolution eine zentrale rechtskritische Erkenntnis mit Blick auf die Bedeutung des Widerstands für eine kritische Rechtstheo­ rie gewinnen. Denn Menke beschließt seine skizzenhaften Ausführungen zur Befreiung auf Haiti mit einer Passage, die analog zu der oben zitierten Stelle aus seinem Aufsatz gelesen werden muss, derzufolge das bürgerli­ che Recht keine abschließende Macht über seine Differenz gegenüber dem Nichtrecht haben kann und deshalb strukturell immer schon auf der Schwelle zum Ausnahmezustand und zum potenziellen Ausbruch der natürlichen, nichtnormativen Gewalt steht. In der gewaltsamen Selbstbe­ freiung der Sklaven auf Haiti wird für Menke nämlich sichtbar, „dass der Kampf um die Befreiung innerhalb des Sozialen und der Kampf um die Befreiung aus der Naturexistenz einander überlagern und ineinander übergehen. Jeder Kampf um das gleiche Recht ist immer schon (oder immer noch) ein Kampf um das Recht überhaupt; in keinem Kampf um Befreiung kann der Status des Subjekts einfach nur vorausgesetzt werden, immer muss er erst noch und wieder gegen die natürliche Existenz erkämpft werden“ (Menke 2018c, 72f.). Entscheidend hierbei ist, die ‚natürliche Existenz‘ nicht einfach als die (imaginierte) Naturexistenz des Menschen vor dem Eintritt in den Gesell­ schaftszustand misszuverstehen. Denn damit würde das Denken in den ideologischen Grenzen der vertragstheoretischen Fiktion eines ursprüngli­ chen Naturzustands gefangen bleiben, der sich vom Kultur- und Rechtszu­ stand als dessen Gegensatz unterscheiden lässt. Es geht hier aber nicht um die chronologische Ablösung des Natur- durch den Rechtszustand, denn diese Ablösung hat es als ein solches historisches Ereignis niemals gegeben. Mit dem Begriff der ‚natürlichen Existenz’ verweist Menke viel­ mehr auf den stets drohenden Rückfall der bürgerlichen Rechtsordnung hinter ihren eigenen normativen Anspruch und damit in die gewaltförmi­ ge Behandlung (von Teilen) der sozialen Wirklichkeit als Nichtrecht. Un­ ter diese nichtrechtliche Gewalt des Rechts fällt natürlich die vom Recht ausgehende Praxis der Illegalisierung und Entrechtung von Geflüchteten und deren Einschließung in rechtsfreie Räume und Lager. Auch wenn Menke selbst diese Konsequenz mit Blick auf den Wider­ standsbegriff nicht explizit zieht, lassen sich aus seinen Überlegungen zur Haitianischen Revolution grundlegende philosophische Einsichten zur Notwendigkeit ableiten, die Dimension des nichtrechtlichen Wider­ stands in einem rechtstheoretischen wie auch rechtskritischen Rahmen zu konzeptualisieren. Dabei geht es zunächst um die Erkenntnis, dass das bürgerliche Recht notwendig und daher dauerhaft auf einem ungesicher­

382

9.1 Zur Notwendigkeit des Widerstands: Menkes Deutung der Haitianischen Revolution

ten Fundament steht. Sich als normative Ordnung ein für alle Mal und damit endgültig gegenüber dem Nichtrecht durchzusetzen, bleibt dem Recht grundsätzlich unverfügbar. Da der Prozess der Differenzierung vom Nichtrecht so gesehen also mit jeder einzelnen rechtlichen Operation auf dem Prüfstand steht und gegen die Gefahr der Entdifferenzierung erneut errungen werden muss, befindet sich das Recht in einem unabschließba­ ren Konstitutions- und Erneuerungsprozess, in einem Prozess, in dem das Recht permanent infrage gestellt wird. Dass dem Recht und seiner Normativität die ursprüngliche Gewalt sei­ ner Einsetzung zugrunde liegt, hat demnach zur Folge, dass, wie Menke mit Blick auf die Haitianischen Sklaven schreibt, in jedem innergesell­ schaftlichen Konflikt oder Streit um eine bestimmte soziale Position auf einer grundlegenderen Ebene zugleich der Status und damit die Zugehö­ rigkeit der streitenden Subjekte zu ebenjener Gesellschaft selbst zur Debat­ te stehen. In jedem einzelnen Konflikt um einen bestimmten politischen oder rechtlichen Status wird gleichzeitig und grundsätzlicher die Teilhabe der Subjekte an der Rechtsgemeinschaft selbst implizit verhandelt, in de­ ren normativem und gesellschaftlichen Rahmen diese einzelnen Konflikte überhaupt erst stattfinden. Das heißt aber darüber hinaus, dass die sozial erkämpfte und etablierte Freiheit im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft gleichwohl niemals ge­ sichert ist, sondern immer potenziell auf dem Spiel steht. Die gesellschaftlich errungene Freiheit kann innerhalb der sie garantierenden Gesellschaft auch wieder verloren werden. Denn dem freien Subjekt kann seine Zuge­ hörigkeit zur politischen Gemeinschaft und damit seine gesellschaftlich und politisch hergestellte Freiheit durch diese Gemeinschaft selbst wieder entzogen oder vorenthalten werden. Deshalb ist im Anschluss an Menke mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass jeder Kampf um die Befreiung aus einer partikularen Form der Unterdrückung immer schon ein Kampf um die Befreiung von Unterdrückung überhaupt ist; dass also jeder Kampf um eine einzelne Befreiung gleichzeitig der grundlegendere Kampf darum ist, überhaupt um die Befreiung kämpfen zu können. Deshalb steht für Menke in den einzelnen Kämpfen um Anerkennung immer erneut der ‚Status des Subjekts‘ als solcher auf dem Spiel, d.h. die (soziale) Fähigkeit des Menschen, an der Gesellschaft aktiv teilzuhaben und als freier und somit handlungsfähiger Akteur an der politischen Selbstregierung der Gemein­ schaft partizipieren zu können. Aus diesem Grund ist der Kampf um rechtliche Gleichberechtigung, wie Menke andeutet, stets auch der erneute Kampf um ‚das Recht überhaupt‘. Denn in jedem partikularen Kampf um rechtliche Anerkennung wird

383

Kapitel 9

zugleich die Form des Rechts als Ganze durch die Kämpfenden zum politi­ schen Thema gemacht. Dadurch verwandelt sich jeder einzelne Kampf um Anerkennung, der sich ja immer auf eine spezifische Dimension der Aner­ kennung innerhalb eines spezifischen historischen, sozialen und kulturellen Rahmens beschränkt und konzentriert, in einen gleichzeitigen Kampf um die bestehende Form der Anerkennung, d.h. um die Bedingungen ihrer Möglichkeit und die Transformation ihrer herrschenden Gesetze, kurz: um die epistemischen und normativen Voraussetzungen der Anerkennbarkeit selbst. Unabhängig davon, ob und inwiefern die aufständischen Sklaven auf Haiti in ihrem revolutionären Befreiungskampf bloß nachträglich einen normativen Status öffentlich zur Geltung bringen, der ihnen als Rechts­ titel in abstrakter Weise durch die Erklärung der Menschen- und Bürger­ rechte von 1789 schon längst zukommt, richtet sich ihr Kampf nichtsdes­ totrotz und vielleicht entscheidender auf die Normativität des Rechts im allgemeinen. Der Kampf, um innerhalb einer normativen Ordnung einen abstrakt darin enthaltenen oder garantierten normativen Status zu bean­ spruchen, ist niemals rein auf die Durchsetzung dieses einzelnen Status reduzierbar, weil dessen Durchsetzung die normative Ordnung als Ganze (wie geringfügig auch immer) verändert und infrage stellt. Die revoltieren­ den Sklaven auf Haiti können also nicht um ihr gleiches Recht innerhalb des bestehenden Rechtssystems kämpfen, ohne im selben Moment die herrschende normative Struktur und politische Gestalt der Rechtsordnung als solche radikal zur Disposition zu stellen. Das Subjekt, das Anerkennung einfordert, kämpft somit nicht bloß um die Anerkennung der einen oder der anderen Eigenschaft, des einen oder anderen Attributs. Das kämpfende Subjekt setzt im Kampf um eine parti­ kulare Form der Anerkennung vielmehr immer schon seine Anerkennbar­ keit als Subjekt, d.h. als freier Teilnehmer der bürgerlichen Gesellschaft, aufs Spiel. Deshalb lässt sich aus Menkes eigenem rechtsphilosophischen Ansatz bereits das Argument entwickeln, demzufolge der in Kritik der Rechte rekonstruierte rechtliche Status des Eigenwillens, d.h. der normati­ ve Status des bürgerlichen Rechtssubjekts als Subjekt des Eigenwillens, in grundsätzlicher Weise einen ungesicherten und instabilen Charakter aufweist. Denn der Eigenwille des bürgerlichen Rechtssubjekts, dessen entpolitisierende Konsequenzen Menke rein aus der Innenperspektive des bürgerlichen Rechtssubjekts einer fundamentalen Kritik unterzieht, muss im Rahmen der umfassenderen Dynamik des Politischen begriffen wer­ den, in welchem der Status der Rechtssubjektivität verortet ist. Mit ande­ ren Worten: Bereits aus Menkes eigenem Ansatz heraus wird – wenn auch

384

9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung

sehr abstrakt – deutlich, dass der Status des bürgerlichen Rechtssubjekts prekär ist, dass nicht jeder ein Rechtssubjekt werden kann, dass es zum Vorenthalt des Rechtsstatus durch das Recht kommen kann und dass eine kritische Rechtstheorie daher auch diejenigen Subjekte miterfassen muss, denen ihre Rechte entzogen werden – kurz: dass es einer rechtskritischen und politischen Sprache bedarf, um die Formen des außerrechtlichen Wi­ derstands beschreiben zu können, derer sich diejenigen bedienen, die aus dem Recht ausgeschlossen sind. 9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung: Butlers Kritik an der rechtlichen Kontrolle des öffentlichen Erscheinungsraums Menke selbst hat jedoch weder in Kritik der Rechte noch an anderer Stel­ le ein solches Vokabular des Widerstands ausdrücklich entwickelt. Seine rechtskritische Analyse bleibt zu stark der rechtsimmanenten Perspektive des Rechtssubjekts verhaftet, so dass die Frage des Widerstands bei ihm letztlich systematisch ungestellt bleibt. Auch wenn Menke am Ende seiner Kritik der Rechte das neue Recht der Gegenrechte einführt, bleibt bei ihm die entscheidende Frage unbeantwortet, „wer dieses neue Recht erkämp­ fen soll“ (Buckel 2018, 139). Zudem: „Wo sind die realen sozialen Kräfte und Bewegungen, die sich eine solche Forderung auf die Fahnen schrei­ ben oder schreiben könnten?“ (ebd.). Ich folge Sonja Buckels Kritik an Menke, in deren Kontext sie die Frage aufwirft, wer „die ‚Sklaven‘, denen Menke die Bejahung der Passivität in den Mund legt“ (Buckel 2018, 138) überhaupt sein sollen. Buckel kommt zu dem Schluss, dass Menke in der Beschreibung der Sklaven eigentlich „die bürgerliche Klasse“ (ebd.) meint, also die Subjekte der subjektiven Rechte und gerade nicht diejenigen, die ihre Rechte erst noch einfordern müssen. Dieser These stimme ich ausdrücklich zu, weil bei Menke tatsächlich äußerst unklar bleibt, was für denjenigen, der aufständisch für die Zuer­ kennung seiner ihm bisher vorenthaltenen Rechte eintritt, mit der Berück­ sichtigung seiner Passivität gewonnen sein soll. Das Recht auf Passivität, d.h. auf die Möglichkeit, nicht am politischen Prozess aktiv teilnehmen zu müssen, ergibt stattdessen nur vor dem Hintergrund eines bereits gesicher­ ten Rechtsstatus, also allein in der Heuristik des bürgerlichen Rechtsub­ jekts, einen Sinn. Es folgt selbst noch der optionalen Logik der subjektiven Rechte. Der Sklave hingegen tritt aber gerade für die Möglichkeit ein, überhaupt ein aktiver Teil des politischen Prozesses werden zu können, dessen Handeln rechtlich geschützt und abgesichert ist. „Das Konzept der

385

Kapitel 9

Gegenrechte als Rechte auf Passivität in der Teilnahme könnte seinem Ur­ sprung nach selbst noch ein immanent bürgerlicher ‚Traum‘ sein“ (Buckel 2018, 139). Denn in diesem Rechtskonzept ist die Teilnahme stets schon vorausgesetzt, um die der Sklave jedoch erst noch kämpfen muss.111 Obwohl Menke also anhand der Subjektposition des revoltierenden Sklaven die Frage beantworten will, wie die Form der Rechte „im Augen­ blick ihrer revolutionären Forderung“ (Menke 2015, 337) im Unterschied zu „ihrer nachrevolutionär etablierten Gestalt“ (ebd.) in Form der subjekti­ ven Rechte begriffen wird, argumentiert er in Wirklichkeit bereits aus der Perspektive des Subjekts der subjektiven Rechte. Der Sklave, der revolutio­ när seine Rechte einfordert, ist bei Menke immer schon zum bürgerlichen Rechtssubjekt geworden, so dass Menke das genaue Gegenteil von dem tut, was er anstrebt, nämlich die Differenz zwischen dem revoltierenden Sklaven in der Revolution und dem bürgerlichen Rechtssubjekt nach der Revolution zu entfalten, um ausgehend von dieser Differenz aufzuzeigen, inwiefern die bürgerliche Gestalt subjektiver Rechte ihrem revolutionären und emanzipatorischen Ursprung widerspricht. Die Kritik an Menke läuft in dieser Hinsicht auf das Argument hinaus, dass Menke in der Problema­ tisierung des aufständischen Sklaven bei Nietzsche unausgesprochen die Perspektive des bürgerlichen Rechtssubjekts einnimmt und also gar nicht wirklich den Blickwinkel des sich selbst aus der Rechtlosigkeit befreienden Sklaven beschreibt. Wie aber könnte dann eine Sprache im Ansatz aussehen, die tatsächlich vom biopolitischen Ausschluss der Rechtlosen ausgeht und deren außer­ rechtlichen Widerstand zum Ausdruck bringt? Wie lässt sich der Aufstand der entrechteten Sklaven gegen Menke aus der Perspektive derer denken, die keine Rechte haben und gegen ihre Rechtlosigkeit Widerstand leisten? Auf welche Weise lässt sich dieser Widerstand der durch das Recht biopoli­ tisch Ausgeschlossenen konzeptualisieren, ohne dabei in eine Perspektive zurückzufallen, in der das Rechtssubjekt bereits unkritisch vorausgesetzt wird? Buckel zeigt sich überrascht, „dass sich Menke nicht mit dem Versuch der Theorien radikaler Volkssouveränität auseinandersetzt, die subjektiven Rechte als immanentes Moment der demokratischen Selbstge­ setzgebung zu bestimmen, die sich niemals durch die Deutungshoheit der Staatsapparate verselbständigen dürfen“ (ebd.). Einer solchen Perspektive radikaldemokratisch verstandener Volkssouveränität möchte ich mich nun

111 Dieser Kritik entspricht außerdem Buckels philologische Beobachtung, dass „[d]ie Verwendung des ‚Sklaven‘-Begriffs von Rousseau bis zu Nietzsche hin üb­ lich [war], wenn eigentlich das Bürgertum gemeint war“ (Buckel 2018, 138f.).

386

9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung

zum Abschluss dieser Arbeit zuwenden, und zwar speziell den Überlegun­ gen, die Judith Butler u.a. in Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung vorgelegt hat, denn dort befasst sich Butler mit genau der Frage, wie das Recht und der Widerstand derer zu denken seien, die infolge ihrer Entrechtung keine Rechte haben, auf die sie sich in ihrem Widerstand berufen können (vgl. zur Tradition der radikalen Demokratie­ theorie einführend Comtesse/Flügel-Martinsen/Martinsen/Nonhoff 2019). Der Begriff des Widerstands hat in der politischen Philosophie lange Zeit, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle gespielt, da der Fokus der philosophischen Reflexion etwa in der diskursethischen Tradition von Jürgen Habermas oder im Rahmen von John Rawls‘ politischem Libera­ lismus hauptsächlich auf der Identifizierung und abstrakten Begründung eindeutiger Prinzipien und universaler Normen anhand verallgemeinerba­ rer, vernünftiger Argumente lag (vgl. Reder 2020, 269f.). In den letzten zwanzig Jahren hat sich diese Situation jedoch grundlegend dahingehend verändert, dass der Konzeption des Widerstands sowohl in Deutschland (vgl. Ladwig 2006; Reder 2020; Därmann 2020; 2021) als auch im inter­ nationalen Raum eine immer stärkere Aufmerksamkeit zuteil wird (vgl. Caygill 2013; Douzinas 2014a; 2014b). Angesichts weltweiter Krisenphänomene im Kontext der Globalisie­ rung, wie bspw. der sogenannten Flüchtlingskrise, der Finanzkrise oder der Klimakrise, gewinnt der Topos des Widerstands derzeit gerade auch in der gesellschaftlichen Debatte eine wachsende Bedeutung, z.B. mit Blick auf die gegenwärtige Formierung unterschiedlicher Protestbewegungen wie Occupy, Extinction Rebellion oder Black Lives Matter. Daher wird Wi­ derstand im Rahmen der aktuellen interdisziplinären Forschung oftmals als ein spezifisch globales, über nationalstaatliche Grenzen hinausreichen­ des Phänomen verarbeitet, etwa unter transnationalen Gesichtspunkten in der politischen Theorie (vgl. als zwei exemplarische Schwerpunkthefte hierzu Celikates/Höntzsch 2019; Niesen 2019), unter bildungsphilosophi­ schen Aspekten (vgl. Schellhammer/Goerdeler 2020) oder mit Blick auf die (Re-)Politisierung von Grenzen und Staatsbürgerschaft im Zuge migranti­ scher Proteste (vgl. Celikates 2019). Philosophisch betrachtet, wird Wider­ stand in der Debatte begrifflich von verwandten Konzepten abgegrenzt, etwa von einem gemäßigteren Verständnis des zivilen Ungehorsams, auf das im 20. Jahrhundert u.a. Jürgen Habermas (vgl. Habermas 1985) und Hannah Arendt (vgl. Arendt 2017; vgl. speziell dazu Celikates 2017) Bezug genommen haben, oder vom weitreichenderen Begriff der Revolution (vgl. Hindrichs 2017; vgl. speziell dazu Menke 2019).

387

Kapitel 9

Konzeptuell lassen sich für den Zusammenhang der vorliegenden Ar­ beit dabei neben anderen, heterogenen Teilsträngen der Widerstandsde­ batte zwei wirkmächtige Traditionslinien unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Ansätze, die in ihrer Systematik an die Diskursanalyse und Machtkritik Michel Foucaults und deren poststrukturalistische Weiterent­ wicklung bei Judith Butler anschließen (vgl. Hauskeller 2000; Butler 2001b; Quadflieg 2006; Hechler/Philipps 2008; Cornelissen 2018; Siisiäi­ nen 2019). Auf der anderen Seite lassen sich Theorien verorten, die v.a. in der Tradition von Marx über Widerstand nachdenken. In diesem Zusammenhang ist zum einen der hegemonietheoretische Ansatz Anto­ nio Gramscis hervorzuheben (vgl. Gramsci 1991–2002), der wirkungsge­ schichtlich v.a. in einer radikaldemokratischen und poststrukturalistischen Tradition verarbeitet worden ist, besonders prominent durch Ernesto La­ clau und Chantal Mouffe (vgl. Laclau/Mouffe 1985). Zum anderen sei mit Blick auf die aktuellere Debatte auf die einflussreichen marxistischen Ar­ beiten verwiesen, die Michael Hardt und Antonio Negri in den vergange­ nen Jahrzehnten gemeinsam verfasst haben (vgl. Hardt/Negri 2003; 2004; für einen Überblick vgl. Hardt/Negri 2010, 79–95 sowie 253–262). Im Kon­ text der Critical Legal Studies setzt sich zudem der Rechtsphilosoph Costas Douzinas in vielen seiner Werke in einer marxistischen Tradition mit der philosophischen Reflexion des Rechts auf Widerstand (vgl. Douzinas 2019, 153–195) und den Paradoxien der Menschenrechte (vgl. Douzinas 2000) auseinander. In ihren jüngeren Arbeiten hat sich Butler verstärkt mit dem Wider­ standsbegriff beschäftigt und ihn u.a. vor dem Hintergrund ihrer Konzep­ tionen von Gefährdung, Kritik und Gewaltlosigkeit philosophisch verar­ beitet (vgl. Butler 2016; 2019; 2020). Butler nimmt ihren Ausgang von der Feststellung, dass jede Rechtsordnung in ihrer „Selbstkonstitution auf die Regulierung des öffentlichen Erscheinungsraumes angewiesen ist“ (Butler 2016, 115). Das Recht instituiert sich selbst und seinen Geltungsanspruch als normative Ordnung innerhalb der Gesellschaft dadurch, dass es den öffentlichen Raum kontrolliert und festlegt, wer unter welchen Bedingun­ gen öffentlich in Erscheinung treten kann. Darin besteht seine normative und gesellschaftliche Macht und zugleich die Gewalt seiner Einsetzung. Indem das Recht nämlich verbindlich festlegt und deklariert, was von nun an als Recht und was als Unrecht gilt, erhebt es einen exklusiven Machtan­ spruch auf die Regulierung der öffentlichen Sphäre und damit zugleich auf die Entscheidungsmacht, unter welchen Bedingungen und mit wel­ chen Konsequenzen Menschen in der Öffentlichkeit erscheinen können. In der Kontrolle des öffentlichen Erscheinungsraums sichert das Recht also

388

9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung

die selbstreferenziellen Voraussetzungen seiner Legitimität. Denn, so kon­ statiert Butler mit Blick auf Benjamins Ausführungen zur rechtsetzenden Gewalt, die Geltung der rechtlichen Normativität wird letztlich durch Ge­ walt getragen: „Die Rechtfertigung des Rechts setzt vielmehr immer schon das Recht selbst voraus“ (Butler 2020, 158), was bedeutet, dass sich das Recht gegen nicht- oder widerrechtliche Versuche seiner Infragestellung stets nur dadurch verteidigen kann, dass es auf sich selbst verweist und seine Normativität mit Gewalt durchsetzt.112 Das Recht sichert also sich selbst und seine normative Geltungskraft dadurch ab, dass es einen alleinigen und damit universalen Anspruch auf die Öffentlichkeit, d.h. auf die normative Gestaltung und politische Regierung des öffentlichen Raums einer Gesellschaft, erhebt. Jedes Rechts­ system ist somit an die Hegemonialisierung „eines bestimmten Regimes der Erscheinung“ (Butler 2016, 106) gebunden, durch die es die Normen und Regeln der Erscheinung und damit zugleich auch die Struktur der unterschiedlichen Formen festlegt, in denen man als gesellschaftlicher Teilnehmer auf legale und sozial intelligible Weise öffentlich sichtbar wer­ den kann. Vor diesem Hintergrund konstatiert Butler, dass die öffentliche Sphäre erst durch konstitutive Ausschlüsse erzeugt wird, nämlich durch die „Beschränkung und Zuteilung mit Blick darauf, wer erscheinen darf – wer also effektiv ein Subjekt des Erscheinens werden darf“, worin sich eine Macht artikuliert, „die sowohl durch Ausschluss als auch durch differenzielle Zuteilung wirkt“ (Butler 2016, 116). In seinem Anspruch auf die Öffentlichkeit greift das Recht demnach nicht einfach auf eine im voraus bereits gegebene oder etablierte öffentliche Sphäre zu, sondern erschafft und begründet allererst den öffentlichen Erscheinungsraum, in dessen Rahmen die Bedingungen der rechtlichen Praxis und Herrschaft dann rückwirkend legitimiert und nachträglich beglaubigt werden können. Der Erscheinungsraum ist demnach von Beginn an vermachtet, weil er im Akt seiner Einsetzung notwendig auch die Grenzen der Erscheinung bestimmt und dadurch „eine Zone des Unerfassbaren schafft“ (Butler 2016, 214). Hierin stimmt Butler mit Menke überein: Die Rechtsgemein­ schaft konstituiert sich selbst als legale Ordnung, d.h. als öffentlicher

112 Hierin lehnt sich Butler ausdrücklich an Benjamins Rechtsgewaltkritik an. Dort hält Benjamin die Einsicht fest, dass „der Maßstab, den das positive Recht für die Rechtmäßigkeit der Gewalt aufstellt, nur nach seinem Sinn analysiert [werden kann]“ (Benjamin 1991, 181). Damit ist ausgesagt, dass der normative Maßstab zur Beurteilung des Rechts bereits dem Recht selbst entstammt, denn dieser Maßstab gehorcht ‚seinem Sinn‘, d.h. dem Sinn des Rechts selbst.

389

Kapitel 9

Raum, in dem man legal erscheinen kann, notwendig in Abgrenzung zu einem extralegalen, nichtrechtlichen Bereich, durch dessen radikalen Ausschluss die öffentliche Sphäre der Rechtsgeltung erst definiert wird (vgl. Butler, 2016, 109; auch 240). Das Recht sichert seine Referenz im Sozialen also dadurch, dass es von seiner „Macht der Einschränkung“ Gebrauch macht, „zu definieren, zu produzieren und zu kontrollieren, was die öf­ fentliche Sphäre ist und wer zur öffentlichen Versammlung zugelassen wird“ (Butler 2016, 225). Die Fähigkeit, in der Öffentlichkeit zu erschei­ nen, stellt somit einerseits den normativen Gehalt verschiedener subjekti­ ver Rechte dar, etwa des Rechts der Bewegungs- und Versammlungsfrei­ heit, aber auch der Meinungsfreiheit. Andererseits verdeutlicht Butler, dass all diese subjektiven Rechte in ihrer rechtlichen Struktur und praktischen Ausübung zugleich einer spezifisch rechtlichen Macht unterworfen sind, die ihrem öffentlichen Gebrauch Grenzen zieht und die legitimen Formen und Möglichkeiten des öffentlichen Erscheinens beschränkt, indem sie illegitime Formen selektiert, was auch Menke anhand der Normalisierung als Effekt sozialrechtlicher Herrschaft andeutet. Stärker als Menke arbeitet Butler jedoch auch die exkludierenden und entrechtenden Implikationen dieser rechtlichen Macht zur Hervorbrin­ gung des Erscheinungsraums und seiner öffentlichen Regulierung und Kontrolle heraus. Das tut sie, indem sie u.a. darauf hinweist, dass es keinen öffentlichen Raum ohne die gleichzeitige Instituierung eines Gefängnis­ systems oder Polizeiapparats geben kann, durch den all diejenigen aus der Öffentlichkeit ausgesondert und von ihr abgeschirmt und getrennt werden, die die öffentlichen Normen und Bedingungen der Erscheinung unterlaufen, radikal ablehnen oder – jeweils aus rechtlicher Sicht – uner­ laubt infrage stellen. „Das Gefängnis ist also der Grenzfall der öffentlichen Sphäre und die Versammlungsfreiheit wird von der Möglichkeit der Inhaf­ tierung heimgesucht“ (Butler 2016, 224). Die legale Ordnung beinhaltet also notwendig die Kriminalisierung und darüber hinaus die potenzielle Illegalisierung von Teilen der Öffentlichkeit, wodurch „ein gewaltsamer Übergang vom öffentlichen Raum ins Gefängnis geschaffen wird“ (Butler 2016, 240). Die rechtliche Erlaubnis, als Subjekt in der Öffentlichkeit zu erscheinen, kann nur dadurch gewährleistet werden, dass bestimmten Sub­ jekten dieses öffentliche Erscheinen durch das Recht gleichzeitig verboten wird. Indem das Recht jedoch das öffentliche Erscheinen von bestimmten Subjekten zum Rechtsbruch erklärt und damit unter Strafe stellt, so lässt sich bereits von Menke lernen, ereignet sich potenziell zugleich etwas ungleich problematischeres als nur die Kriminalisierung von bestimmten

390

9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung

Subjekten zu Verbrechern: Denn im Verbot des öffentlichen Erscheinens tendiert das Recht immer wieder dazu, die Subjekte nicht nur rechtlich einzuschränken und zu bestrafen, sondern aus dem Recht auszuschließen und in den rechtlich ungeschützten Bereich des Nichtrechts einzuschlie­ ßen. Dadurch werden sie illegalisiert, d.h. ihres rechtlichen Status beraubt und von Verbrechern zu Feinden des Rechts, zu radikalen Außenseitern und Abweichlern, erklärt. Darin schlägt, wie Menke zeigt, das normative Urteil des Rechts in nichtnormative Gewalt um: Während der Verbrecher als Unrecht immer noch innerhalb der rechtlichen Normativität steht, be­ sitzt der Illegalisierte als Nichtrecht nicht einmal mehr einen Rechtsstatus und steht daher nicht länger in einer Rechtsbeziehung zur herrschenden Ordnung. Die Grenze zwischen diesen beiden unterschiedlichen Zustän­ den ist dabei oft unklar und wird dementsprechend in der rechtlichen Praxis und Wirklichkeit häufig verwischt; der Übergang vom Gesetzlosen zum Rechtlosen, vom Verbrecher zum Feind ist fließend, so dass illegali­ sierte Flüchtlinge paradoxerweise oft versuchen, in eine Rechtsbeziehung mit einer staatlichen Ordnung zu treten, indem sie deren Gesetze brechen. Denn in beiden Fällen, im Fall des Verbrechers wie im Fall des Feindes, werden zwar Subjekte aus dem Erscheinungsraum ausgeschlossen, durch dessen Regulierung das Recht seinen normativen Geltungsanspruch be­ hauptet. Aber sowohl die Bedingungen, unter denen ihr Ausschluss statt­ findet, als auch die Formen, in denen er sich gesellschaftlich manifestiert, sind Teil einer größeren politischen Dynamik, in der ihr rechtlicher Status oftmals umkämpft und höchst strittig ist. Ob jemand als Verbrecher sank­ tioniert, also innerhalb eines Rechtssystems verurteilt wird, oder aber als politischer Feind durch nichtrechtliche Gewalt unterdrückt und außerhalb der Rechtsordnung selbst gestellt wird, ist eine rechtlich entscheidende Frage, die jedoch gleichwohl niemals allein durch das Recht selbst ent­ schieden werden kann. Denn das Recht hat, wie Menke richtig bemerkt, die Grenzziehung zwischen der rechtsimmanenten Unterscheidung von Recht und Unrecht einerseits und seiner radikalen und gewaltsamen Ab­ grenzung gegenüber seinem externen, nichtrechtlichen Gegensatz anderer­ seits nicht selbst in der Hand. Die kategorial verschiedenen Differenzen von Recht und Unrecht sowie Recht und Nichtrecht verschwimmen vielmehr andauernd ineinander, so dass bestimmte Menschen nicht nur – als Unrecht – kriminalisiert, son­ dern auch – als Nichtrecht – illegalisiert und exkludiert werden. Die Be­ dingungen und Dauer ihrer Inhaftierung bspw. unterliegen dann tenden­ ziell nicht mehr rechtlichen Regeln und öffentlicher Kontrolle, sondern polizeilicher oder behördlicher Willkür, individueller Gewaltanwendung

391

Kapitel 9

oder Ausnahmeregelungen und Notstandsgesetzen, die oftmals bloß sou­ verän erlassen und nicht demokratisch legitimiert werden. Die Entrech­ tung von Flüchtlingen durch deren Internierung in Lager auf unbegrenzte Zeit ist ein weiteres Beispiel für das Ununterscheidbarwerden von recht­ licher Behandlung und nichtrechtlichem Ausschluss. Wie Menke bereits anhand der Sklavenbefreiung auf Haiti verdeutlicht, bleibt dem Recht sei­ ne Abgrenzung gegenüber Formen nichtrechtlicher Gewalt unverfügbar, so dass die Gewalt stets inmitten der rechtlichen Normativität ausbrechen kann. Diese Situationen nichtrechtlicher Gewalt hat Giorgio Agamben im Be­ griff des Ausnahmezustands wegweisend beschrieben. Die Rechtsordnung bezieht sich Agamben zufolge auf den rechtlichen Feind nicht mehr mit den normativen Mitteln des Rechts selbst. Der Feind des Rechts wird viel­ mehr in die Rechtsordnung, so eine treffende Formulierung Agambens, „in der Form der Ausnahme eingeschlossen“ (Agamben 2002, 34), d.h. der Feind steht in einem Bezug zum Recht einzig und allein unter der Bedingung der vollständigen Aufhebung aller normativen Beziehungen zum Recht. Hier folgt Menke klar Agamben, wenn er davon ausgeht, dass derjenige, der zum Teil des Nichtrechts wird, indem er aus dem Recht aus­ geschlossen wird, nur noch in einer nichtnormativen, d.h. gewaltförmigen Beziehung zum Recht stehen kann. Genau darin besteht Agambens Definition der souveränen Macht, gegenüber der alle Menschen sich potenziell in der Position des homo sacer befinden (vgl. Agamben 2002, 94): „Die äußerste Form der Beziehung, die etwas einzig durch seine Ausschließung einschließt, nennen wir Ausnahme-Beziehung“ (Agamben 2002, 28). In die­ ser Situation schlägt die Normativität des Rechts tatsächlich in nichtrecht­ liche Gewalt um und macht ihren Adressaten zum radikalen Außenseiter des Rechts. Betrachtet man diese rechtliche Ausschlussdynamik jedoch aus der bio­ politisch erweiterten Perspektive, die bis hierhin erarbeitet wurde, so ver­ ändert sich das Bild und die Struktur dieser Ausschließungen – und damit auch ihre theoretische Bewertung – grundlegend. Denn Butler weigert sich, diese Verhältnisbestimmung zwischen dem Recht und dem Ausge­ schlossenen in der radikalen und gewissermaßen fatalistischen Version Agambens zu übernehmen, an die sich auch Menke in der Beschreibung der Beziehung von Recht und Nichtrecht anlehnt. Insbesondere widersetzt sich Butler der Sichtweise, dass der rechtlich Ausgeschlossene vollständig zum nackten Leben wird, das Agamben in der Figur des homo sacer be­ schreibt. Sie besteht gegen Agamben (und darin auch implizit gegen Men­ ke) darauf, dass der rechtlich Ausgeschlossene nicht einfach zum Teil des

392

9.2 Das Recht als Regime der Erscheinung

Nichtrechts wird und betont stattdessen nachdrücklich, dass „selbst das rechtlose Leben immer noch der Sphäre des Politischen zugehört“ (Butler 2016, 109). Wem der Status eines Rechtssubjekts abgesprochen und wes­ sen Leben folglich aus dem Bereich des politischen Handelns und dem öffentlichen Erscheinungsraum ausgeschlossen wird, der wird für Butler gerade in dieser Exklusion und seiner Entrechtung zum Trotz nicht einfach radikal entpolitisiert und politisch handlungsunfähig gemacht. Obwohl er tatsächlich rechtlich exkludiert wird, kann er dadurch Butler zufolge dennoch nicht vollständig zum Teil des Nichtrechts gemacht werden. Vielmehr will Butler „der Exklusion selbst als politisches Problem, als Teil der Politik selbst Rechnung tragen“ (Butler 2016, 108). Darin geht sie in rechtskritischer Hinsicht klar über Menke hinaus, insofern sie im Gegensatz zu Menke die rechtlichen Ausschließungen in ihre Analyse des Rechts explizit miteinbezieht. Menke hat zwar ein – meist implizites – Verständnis für die Tatsache, dass das Recht selbst manche Subjekte auf nichtrechtliche, gewalttätige Weise behandelt, indem es sie ausschließt, aber nach Butler „reicht es nicht, zu sagen, dass jene Wesen, sobald sie einmal ausgeschlossen sind, politisch keine Präsenz beziehungsweise keine ‚Realität‘ besitzen, dass sie keinen gesellschaftlichen oder politischen Rang haben oder verstoßen und auf das bloße Sein reduziert werden“ (ebd.). Die reine Konzentration auf ihr Ausgeschlossensein zementiert ihren rechtlo­ sen Status und verliert die Perspektive des Widerstands aus den Augen. Im Übergang von Menkes rechtsphilosophischem Ansatz zu Butlers bio­ politischer Heuristik ereignet sich somit eine zentrale Verschiebung der Perspektive, in der das Problem des Rechts betrachtet wird. Da Menke ausdrücklich aus der immanenten Perspektive des Rechts argumentiert, können die Entrechteten und Rechtlosen außerhalb der Rechtsordnung in seiner Theorie nur als Nichtrecht, d.h. als nicht-intelligi­ bler Gegensatz der rechtlichen Normativität, erscheinen. Der Widerstand der aus dem Recht Ausgeschlossenen kann in Menkes rechtsinterner Sicht­ weise, die auf der Gegenüberstellung von Recht und Nichtrecht beruht, nur schwer konzeptuell erfasst geschweige denn in seiner rechtskritischen Funktion entfaltet werden. Den außerrechtlichen Widerstand auf diese Weise auszublenden erscheint vor diesem Hintergrund als eine theoreti­ sche Notwendigkeit, um die begriffliche Kohärenz eines in sich schlüssi­ gen rechtstheoretischen Modells zu wahren. Aber dieser Schein offenbart sich auf den zweiten Blick als trügerisch. Denn Butlers weiterführende Einsicht besteht darin, dass diese rechtsinterne Perspektive, in deren Rah­ men der Widerstand nicht anders als negativ, d.h. nichtrechtlich und nichtnormativ, begriffen werden kann, immer schon die Machtperspekti­

393

Kapitel 9

ve des Rechts eingenommen hat und damit eine vorgängige normative Wertung zugunsten der Rechtmäßigkeit eines Rechtssystems und seines Regierungsanspruchs vollzogen hat. Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund von Butlers erweitertem, biopolitischen Blick auf das Recht wird sichtbar, dass Menkes Theorie­ ansatz immer schon implizit die Legitimität der rechtlichen Herrschaft anerkannt haben muss, obwohl seine Argumentationsstrategie auf die Kritik ebendieser Herrschaft gerichtet ist. Denn die rechtlose Position der Ausgeschlossenen, die Widerstand gegen ihre Rechtlosigkeit leisten, erscheint nur von innen, aus der internen Sicht des Rechts als bloß nicht­ rechtlich. Von außen betrachtet, also in einer Perspektive, die das Recht in den größeren Zusammenhang der Biopolitik einordnet, wird dagegen deutlich, dass Menke die normative Geltungskraft, d.h. gleichzeitig den Machtanspruch des Rechts und „die Position eines bestimmten Regimes der Erscheinung“ (Butler 2016, 106) stillschweigend akzeptiert, indem er die vom Recht ausgehende Unterteilung in Recht und Nichtrecht und die damit verbundenen Grenzziehungen zum rechtlichen Außen als gegeben voraussetzt und übernimmt. Diese Unterteilung erscheint aber nur im Binnenbereich des Rechts legitim. Dieser Binnenbereich der rechtlichen Normativität beruht jedoch, wie im Laufe dieser Arbeit entfaltet wurde, auf biopolitischen Ausschlüs­ sen aus dem Recht. Subjektive Rechte besitzen, wie gesehen, eine biopoli­ tische Struktur, indem sie ungleiche Bewertungsmuster des Lebens produ­ zieren und darin zwischen Leben unterscheiden, die als lebendig gelten und im Recht erscheinen können, und Leben, die nicht dem Feld des Le­ benden zugehören, die unbetrauerbar sind und rechtlich nicht registriert werden können. Vor dem Horizont von Butlers sozialphilosophischem Ansatz lassen sich diese biopolitischen Implikationen und Voraussetzun­ gen des bürgerlichen Rechts über Menke hinaus in ihrem illegitimen Charakter reflektieren. Der außerrechtliche Widerstand wird also genau in dem Moment gerechtfertigt und plausibilisiert, in dem die herrschende Rechtsordnung durch die Kritik ihres biopolitischen Charakters in ihrer Konsistenz ins Wanken gebracht und die scheinbare Notwendigkeit der Art und Weise, in der das Recht Ausschlüsse aus der öffentlichen Sphäre vornimmt und dadurch das Nichtrecht setzt, in ihrer tatsächlichen Kontin­ genz erkennbar wird.

394

9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen

9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen Wer wie Menke die – begrifflich notwendige – Veräußerlichung des Rechts gegenüber dem Nichtrecht rein rechtlich betrachtet, der ist nicht nur dazu gezwungen, so das Argument im Anschluss an Butler, den recht­ lichen Ausschluss der Rechtlosen ins Nichtrecht naturalistisch zu rechtfer­ tigen, sondern er muss gleichzeitig „damit implizit die herrschenden Arten der Festlegung der Grenzen des Politischen als richtig an[erkennen]“ (But­ ler 2016, 106). Wer also behauptet, die Ausgeschlossenen seien durch ihren Ausschluss vollständig zu einer nichtrechtlichen Position entsubjektiviert worden, der affirmiert dadurch die rechtliche Operation ihrer Ausschlie­ ßung selbst, denn er teilt durch diese Behauptung automatisch die episte­ mologische Position des Rechts und schließt sich dessen nichtnormativer Sicht auf das Nichtrecht an. Letztlich fällt er also in genau die Logik des „Mythos des Gegebenen“ (vgl. exemplarisch Menke 2015, 204–207) zurück, die Menke auf die kritische Agenda seines rechtsphilosophischen Programms gesetzt hat. Das normative bzw. ethische Problem eines sol­ chen Vorgehens ist offensichtlich: „Solch eine Sichtweise vernachlässigt und entwertet jene Formen des politischen Handelns, die gerade in den als vor- oder außerpolitisch erachteten Bereichen entstehen, welche in die Erscheinungssphäre wie von außen – als ihr Äußeres – einbrechen und so die Unterscheidung zwischen innen und außen durchkreuzen“ (Butler 2016, 107). Um das zu vermeiden bedarf es einer biopolitischen Erweiterung der Per­ spektive. Wie gesehen, besteht die biopolitische Wirkungsweise des bür­ gerlichen Rechts v.a. darin, eine Klasse von Entrechteten zu konstituieren, deren Leben biopolitisch entwertet und deren Existenzen radikal von der egalitären Rechtsgemeinschaft abgetrennt werden. In Butlers Vokabular der rechtlichen Kontrolle des öffentlichen Erscheinungsraums, mit dem sie sich an Hannah Arendts politische Theorie anlehnt, aber zugleich auch kritisch von dieser absetzt (vgl. exemplarisch Butler 2016, 68; 103), wird diesen gefährdeten Leben das Recht zu erscheinen entzogen oder vorent­ halten: „Was wir manchmal als ‚Recht‘ zu erscheinen bezeichnen, wird stillschweigend von Ordnungsschemata gestützt, nach denen nur be­ stimmte Subjekte überhaupt dafür in Frage kommen, dieses Recht auch auszuüben. Wie ‚universell‘ das Recht zu erscheinen auch zu sein behauptet – sein Universalismus wird von differenziellen Macht­

395

Kapitel 9

formen untergraben, die darüber entscheiden, wer erscheinen kann und wer nicht. Für diejenigen, die als ‚untauglich‘ erachtet werden, hat das Bemühen um die Bildung von Allianzen oberste Priorität und dazu gehört auch eine plurale und performative Postulierung der Tauglichkeit, die bis dahin nicht existierte“ (Butler 2016, 70). Der universale Geltungsanspruch des Rechts zu erscheinen wird demnach durch biopolitische Machtstrukturen konterkariert, die diesem Recht in­ newohnen und seine tatsächliche Ausübung von biopolitischen Bedingun­ gen abhängig machen, die das öffentliche Erscheinen von vornherein auf eine bestimmte, konforme Gruppe von Menschen begrenzen, die den Nor­ men des Erscheinens entsprechen. Die Rechtsgemeinschaft derer, die dazu berechtigt sind, frei in der Öffentlichkeit zu erscheinen und sich aktiv am politischen Prozess zu beteiligen, muss also dauerhaft diejenigen auf Abstand halten, denen diese Berechtigung rechtlich vorenthalten wird. Indem die Ausgeschlossenen jedoch in der Bildung solidarischer Allianzen darauf bestehen, ebenfalls Subjekte des Erscheinens werden zu können, sich also ebenfalls als ‚tauglich‘ zu erweisen, ein Rechtssubjekt zu werden, tun sie zugleich entscheidend mehr als nur dafür zu kämpfen, vor dem bestehenden Recht erscheinen zu können und von den herrschenden Ras­ tern der rechtlichen Macht wahrgenommen und anerkannt zu werden: „Diese Art der pluralen Performativität strebt nicht einfach danach, den zuvor Unberücksichtigten und aktiv Gefährdeten einen Platz in einer bestehenden Erscheinungssphäre zu geben. Sie versucht viel­ mehr, einen Spalt in der Erscheinungssphäre zu erzeugen und den Wi­ derspruch offenzulegen, mit dem deren Universalitätsanspruch postu­ liert und entkräftet wird. Es kann keinen Eintritt in die Erscheinungs­ sphäre ohne eine Kritik an den differenziellen Machtstrukturen geben, die diese Sphäre konstituieren, und ohne eine kritische Allianz, in der sich die Unberücksichtigten, die Untauglichen – die Gefährdeten – verbünden, um neue Erscheinungsformen zu etablieren, die jene Machtstrukturen zu überwinden versuchen“ (ebd.). Diese Passage ermöglicht einen alternativen Blickwinkel auf den Sklaven­ aufstand, den Menke mit Nietzsche beschreibt und in dessen Rahmen die Sklaven für ihre Rechte kämpfen. Betrachtet man den aufständischen Sklaven vor dem Hintergrund von Butlers Ausführungen zur performati­ ven Inbesitznahme des Erscheinungsraums durch die kritische Versamm­ lungspraxis derjenigen, die dazu in der herrschenden Ordnung nicht berechtigt sind, so ergibt sich im Vergleich zu Menkes Version des Skla­ venaufstands ein anderes Bild. Folgt man Butler, so kämpfen die Sklaven

396

9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen

nicht einfach nur für das Recht auf Berücksichtigung innerhalb eines Erscheinungsraums, der ihnen dieses Recht bis dahin vorenthalten hat, sondern ihr Kampf richtet sich auf die grundlegende Revolutionierung und Verschiebung dieses Raums selbst, auf die Neukonstituierung der politischen Normen und Spielregeln des Erscheinens. Sie kämpfen „für eine Neubestimmung dessen, was als Öffentlichkeit und was als politischer Raum gilt“ (Butler 2016, 102). Im Akt ihres Widerstands zeigen die aufständischen Sklaven, dass ihr Ausschluss aus der Öffentlichkeit und ihre damit einhergehende Recht­ losigkeit als „abgesonderte oder verleugnete Bedingung für die Sphäre der Erscheinung fungiert“ (Butler 2016, 117), dass sie also mit anderen Worten von der Rechtsordnung, die sie ausschließt, „zur strukturierenden Abwesenheit“ (ebd.) gemacht werden, „welche die öffentliche Sphäre be­ herrscht und ermöglicht“ (ebd.). Diese Situation der Illegalisierung, hier im theoretischen Sprachmodell des Sklavenaufstands beschrieben, betrifft heute v.a. undokumentierte Migranten, die unterhalb des Radars der offiziellen Staatsmacht leben und ständig der Gefahr von Polizeikontrollen und einer anschließenden Inhaftierung oder Deportation ausgesetzt sind, und Flüchtlinge, die unbefristet in Sammellager interniert werden und zu denen die einsperrende Staatsmacht bestehende Rechtsbeziehungen abbricht. Indem diese illegalisierten Menschen öffentlich Einspruch gegen ihren illegalen Status erheben und sich widerständig gegen ihre Entrech­ tung und Abschiebung durch die herrschende Rechtsordnung zur Wehr setzen, markieren sie auf performative Weise die Grenzen des Rechts und die Illegitimität der herrschenden Rechtsordnung, die sich in der souveränen „Auflösung der als unverbrüchlich geltenden Rechtsbeziehung zwischen dem Nicht-Mitglied und der demokratischen Ordnung“ (Schulze Wessel 2017, 193) offenbart. In diesen „migrantischen Formen des Widerstands“ (Butler 2019, 109) demonstrieren die Entrechteten nämlich dadurch die Begrenztheit des rechtlichen Regimes, dass sie körperlich in der öffentlichen Sphäre erschei­ nen, obwohl sie kein Recht dazu haben und ihr Erscheinen unerlaubt ist. Indem sie jedoch trotzdem öffentlich erscheinen und indem „die Recht­ mäßigkeit des Staates genau durch das öffentliche Erscheinen in Frage gestellt wird“ (Butler 2016, 112), machen die aufständischen Migranten und Flüchtlinge die Grenzen des politischen Raums gerade dadurch sicht­ bar, dass sie diese Grenzen selbst verkörpern. Sie zeigen sich öffentlich als „Repräsentanten der Grenzen des Rechts, des Rechtsvorenthalts“ (Schulze Wessel 2017, 155). Durch ihr körperliches Erscheinen werden sie dabei zu Grenzverletzern im Sinne Schulze Wessels, denn in ihrem verkörperten

397

Kapitel 9

Widerstand treten sie zugleich aus dem prekären Bereich des Nichtleben­ digen heraus und weisen die herrschenden Grenzen des rechtlich regulier­ ten Regimes der Erscheinung als illegitim zurück. Diese Sichtweise richtet sich gegen rationalistische Verständnisse des Politischen, die bspw. in deliberativen und diskursethischen Ansätzen im Anschluss an Habermas, aber auch in der gerechtigkeitstheoretischen und kontraktualistischen Tradition von Rawls vertreten werden und in denen Politik vornehmlich als das vernunftgeleitete Geben und Nehmen von Gründen zwischen gleichberechtigten, rationalen Diskurspartnern konzep­ tualisiert wird. „Das Subjekt wird dabei zumeist (…) als ein vorgegebe­ nes, rationales und autonomes Individuum begriffen, das zu Zwecken des Eigeninteresses mit anderen Verbindungen eingeht, wodurch sich ein politisches Gemeinwesen konstituiert“ (Seitz/Schönwälder-Kuntze/Posselt 2018, 10). Gegen solche logozentrischen Konzeptionen des Politischen bezieht Butler ausdrücklich Stellung, indem sie das Argument stark macht, „dass politische Forderungen von Körpern aufgestellt werden, während sie erscheinen und handeln, während sie sich widersetzen und unter Bedin­ gungen fortbestehen, unter denen allein diese Tatsache den Staat schon zu delegitimieren droht“ (Butler 2016, 113). Dabei geht Butler von der kritischen Annahme aus, dass die rationalistische Konzeptualisierung von Politik als einer primär sprachlichen Praxis des argumentativen Austauschs zwischen autonomen und vernünftigen Individuen gerade diejenigen au­ ßer Acht lässt, die aus öffentlichen Diskursen ausgeschlossen werden und deren Subjektposition von den herrschenden Diskurspraktiken nicht als solche anerkannt wird, weil sie z.B. über keinen gesicherten Rechtsstatus verfügen oder weil ihre Leben im epistemischen Rahmen der jeweiligen Diskursgemeinschaft nicht als lebendig gelten und unsichtbar sind. Wenn sich diese illegalisierten Menschen körperlich versammeln und öffentlich erscheinen, so stellen sie Butler zufolge im Akt ihres öffentlich sichtbaren Versammelns politische Forderungen auf und bringen perfor­ mativ ihren kollektiv artikulierten Anspruch zum Ausdruck, ebenfalls im öffentlichen Raum erscheinen zu dürfen und ihre politische Stimme gel­ tend zu machen. Durch ihren Widerstand stellen die Ausgeschlossenen somit die Legitimität der ausschließenden Ordnung dadurch infrage, dass sie von einer „ganz bestimmten Performativität des Körpers“ (Butler 2016, 112) Gebrauch machen, die sich durch staatliche Institutionen und gelten­ de gesellschaftliche Diskursregeln nicht abschließend kontrollieren lässt. Das unerlaubte Erscheinen des Körpers im Rahmen einer öffentlichen Versammlung wird also als ein Mittel des Widerstands begriffen, durch das diejenigen ihre politische Stimme gegen ein rechtliches Regime erheben

398

9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen

können, welches ihnen ihre Stimme vorenthält und sie dauerhaft stimmlos zu machen versucht. „Gemeinsam üben sie die performative Kraft aus, Anspruch auf die Öffentlichkeit in einer Weise zu erheben, die noch nicht gesetzlich festgeschrieben ist und sich nie vollständig gesetzlich festschrei­ ben lässt“ (Butler 2016, 102). Mit dieser Betonung der performativen Kraft des Körpers und der darauf aufbauenden körperlichen Dimension des Politischen ist bei But­ ler ein grundsätzlicher Einspruch gegen individualistische und abstrakte Rechtsverständnisse verknüpft, die davon ausgehen, dass subjektive Rech­ te einzelnen Personen zugehören und von individuellen Rechtssubjekten ausgeübt werden (vgl. Butler 2019, 109). Wenn im Rahmen einer gemein­ samen Aktion „Körper erscheinen und agieren, machen sie von einem Recht außerhalb des Regimes, gegen das Regime und ihm zum Trotz Gebrauch“ (Butler 2016, 112). Dieses Recht wird demnach nicht durch die positive Rechtsordnung garantiert, sondern durch den gemeinsamen Widerstand performativ hervorgebracht. Das bedeutet, dass es dieses Recht nicht unabhängig von der kollektiven politischen Aktion gibt, durch die es in der öffentlichen Sphäre inszeniert wird (vgl. Schönherr-Mann 2018). Indem Körper auf der Straße es öffentlich in Anspruch nehmen, wird das Recht vielmehr allererst hergestellt und ins Leben gerufen. In dieser Akzentuierung des performativen Charakters von Rechten vertritt Butler ein kollektives Verständnis der Rechte, welches „das individualistische Vorurteil (…), das den Rechtsbegriff nach wie vor prägt“ (Butler 2019, 116) außer Kraft zu setzen versucht. Das zentrale Charakteristikum eines solchen kollektiven Deutungsansat­ zes besteht dabei in dem Argument, dass die gesellschaftliche Ausübung einer rechtlich erlaubten Handlung nicht vom Recht auf diese Ausübung getrennt werden kann, was umgekehrt einschließt, dass die tatsächliche Handlung im Sozialen nicht dem abstrakten Recht auf diese Handlung vorhergeht, sondern dass das Recht stattdessen in der konkreten Hand­ lung performativ beansprucht und untermauert wird. Damit unterstreicht Butler, dass die Geltendmachung subjektiver Rechte stets eine kollektive Praxis ist, die nur gemeinsam, im Verbund mit anderen vollzogen werden kann. Daraus zieht Butler den Schluss, dass subjektive Rechte entgegen dem liberalen Anschein weder das Eigentum eines rechtlich ermächtigten Individuums noch der Besitz einer rechtlich konstruierten Gruppe sein können, sondern dass diese Rechte in einem konstitutiven Sinn relational verfasst sind und ihren „Ursprung in den sozialen Beziehungen“ (Butler 2019, 121) einer Gesellschaft haben. Die freie Inanspruchnahme von Rech­ ten setzt nämlich voraus, dass deren Ausübung von der breiten Öffent-

399

Kapitel 9

lichkeit akzeptiert wird. Zur Veranschaulichung dieser Relationalität der Rechte führt Butler verschiedene Beispiele an. In Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung behan­ delt sie u.a. die Frage, was es bedeutet, frei und vor gewaltsamen Über­ griffen geschützt die eigene Sexualität zum Ausdruck zu bringen, auch wenn diese Sexualität nicht den heteronormativen Gendervorstellungen westlicher Gesellschaften entspricht. Sofern „es kein lokales Gesetz gibt, das diese Ausübung schützt“ (Butler 2016, 78), sondern bspw. unter Strafe stellt, wird das Geltendmachen und Ausleben der eigenen Sexualität zu einem performativen Akt. „Die Sexualität geht dem Recht gewissermaßen nicht voraus; die Ausübung der Sexualität ist eine Ausübung des Rechts, genau das zu tun“ (Butler 2016, 79). Wenn man dieses Recht also unter der Bedingung zur Geltung bringt, dass man es nicht hat, weil es z.B. durch die staatliche Gewalt vorenthalten wird, so erhebt man gleichzeitig auf performative Weise Anspruch auf dieses Recht und widersetzt sich darin aktiv der staatlichen Kriminalisierung oder Illegalisierung der eigenen Se­ xualität. Die Ausübung verbotener sexueller Handlungen geht also Butler zufolge notwendig mit der performativen Forderung nach der rechtlichen Aufhebung dieses Verbots einher. Der Erfolg dieser performativen Inszenierung von Rechten und der mit ihnen verbundenen sozialen Praktiken hängt dabei davon ab, dass die unerlaubte Artikulation solcher Rechtsansprüche durch kollektive Netz­ werke und kooperative Bündnisse gestützt und „über verschiedene Kanäle hinweg – sequenziell und solidarisch – als eine plurale Form der Rede“ (Butler 2019, 109) zur Sprache gebracht bzw. öffentlich zur Schau gestellt wird. Diese kollektiven Formen politischer Solidarität sind von entschei­ dender Bedeutung, denn sie sind die praktische Voraussetzung dafür, dass im gemeinsamen öffentlichen Handeln zugleich die Rechtmäßigkeit die­ ses Handelns machtvoll behauptet und erfolgreich eingefordert werden kann.113 Dies geschieht nämlich dadurch, dass sich die widerständigen

113 Nachdem Solidarität in der praktischen Philosophie des 20. Jahrhunderts gegen­ über universalen Konzepten wie dem der Gerechtigkeit größtenteils unterbe­ lichtet wurde, wird der Begriff in der Forschungsdebatte der letzten 20 Jahre im­ mer stärker als normativer Schlüsselbegriff diskutiert (vgl. exemplarisch Bayertz 1999; Scholz 2008; Lessenich 2019; Reder/Stüber 2020). Dabei wird politische Solidarität konzeptuell gegenüber anderen Formen der Solidarität abgegrenzt, wie bspw. der sozialen Solidarität, in der es stark um den inneren Zusammen­ halt bzw. das soziale Band innerhalb bestehender Gemeinschaften geht. Politi­ sche Solidarität ist demgegenüber stärker als politischer Kampfbegriff, bspw. im Kontext verschiedener Widerstandsgruppen und sozialer Bewegungen, zu ver­

400

9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen

Körper auf der Straße „eines bereits etablierten und von der bestehenden Macht durchdrungenen Raumes [bemächtigen] und versuchen, die Bezie­ hungen zwischen dem öffentlichen Raum, dem öffentlichen Platz und dem bestehenden Regime zu durchtrennen“ (Butler 2016, 115). Dieser performative Charakter der Inanspruchnahme von Rechten wird dabei im Fall des Rechts auf Versammlungsfreiheit besonders deutlich, dem Butler ihre spezielle Aufmerksamkeit widmet. Das subjektive Recht auf Versammlungsfreiheit kann nämlich kein Indi­ viduum allein ausüben, sondern „[z]eitgleiches und vielfaches Erscheinen von Körpern ist erforderlich, um das Recht zu verwirklichen und deutlich zu machen, worin dieses Recht besteht“ (Butler 2019, 120f.). Besonders wenn sich Menschen unerlaubt in der Öffentlichkeit versammeln, machen sie also gemeinsam von einem Recht Gebrauch, das durch die herrschende Rechtsordnung nicht gewährleistet wird und durch das sie sich der Krimi­ nalisierung ihres Versammlungsakts öffentlich wirksam entgegenstellen. Aber auch wenn die Versammlung gesetzlich erlaubt ist, gilt, dass das Versammlungsrecht dem faktischen Stattfinden einer Versammlung nicht abstrakt vorhergeht, sondern sich nur in der konkreten Handlung einer tatsächlichen Versammlung verwirklicht. Das Recht auf Versammlungs­ freiheit ist also von den sozialen Beziehungen abhängig, die seiner juridi­ schen Kodifizierung vorgelagert sind. Als subjektives Recht entsteht es erst aus diesen relationalen Bindungen und wird von ihnen gesellschaftlich getragen. Dies wird gerade beim Thema der Versammlungsfreiheit para­ digmatisch deutlich, denn die rechtliche „Handlung, das Geltendmachen des Rechts, wird nicht von einer vorab bestehenden Gruppe ausgeführt. Das Geltendmachen ist Teil des Gruppenbildungsprozesses“ (Butler 2019, 116).

stehen und hat aufgrund ihrer Verwurzelung in revolutionären Praktiken und der sozialistischen Tradition primär einen oppositionellen und gesellschaftskritischen Charakter. Sie richtet sich gegen Formen gesellschaftlicher Herrschaft und Unterdrückung und ist darin unmittelbar mit dem Begriff des Widerstands verbunden, denn sie zielt auf die widerständige Transformation des Sozialen: „In diesem Sinne ist Solidarität zwangsläufig Kampfsolidarität: Soll sie etwas verändern, so wird sie Widerstände zu überwinden haben“ (Lessenich 2019, 105). Deshalb fokussiert die Perspektive der politischen Solidarität auf die Aus­ schlüsse aus bestehenden Gemeinschaften. Es geht ihr um den Aufweis und die Kritik von Grenzen der Solidarität, von Prozessen der Entsolidarisierung und Exklusion (vgl. zur konzeptuellen Verschränkung der politischen Solidarität mit dem Begriff des Exodus Faets 2020).

401

Kapitel 9

In Anknüpfung an die bisherigen Ausführungen lässt sich zusammen­ fassend festhalten: Rebellierende Migranten und Flüchtlinge, die aus der Position ihrer Entrechtung Widerstand gegen ihre biopolitische Ausschlie­ ßung aus Gesellschafts- und Rechtssystemen leisten, beanspruchen ihr Recht zu erscheinen auf performative Weise, indem sie sich zu solidari­ schen Allianzen zusammenschließen und auf widerständige Weise körper­ lich in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten. Die performative Aus­ übung ihrer Rechte angesichts der staatlichen Aberkennung dieser Rechte ist also das Ergebnis „solidarischen Handelns“ (Butler 2019, 112) und richtet sich gegen die öffentliche Akzeptanz ihres rechtlosen Zustands. In ihrem pluralen, kollektiven Handeln bringen die Aufständischen somit politische und rechtliche Ansprüche zur Geltung, welche gleichzeitig die Legitimität der herrschenden öffentlichen Ordnung infrage stellen. Ihr Widerstand beginnt dabei nicht erst in der sprachlichen Artikulation po­ litischer Forderungen, sondern drückt sich bereits in ihrem unerlaubten körperlichen Erscheinen aus, denn gerade dieses „Beharren des Körpers in seinem Ausgesetztsein“ (Butler 2016, 112) stellt einen gegenhegemonialen Machtanspruch auf den öffentlichen Raum und begehrt darin gegen die Bedingung der Rechtlosigkeit auf. Durch ihren verkörperten Widerstand versuchen die Entrechteten demnach, „bestimmten Rechtsregimen die Begründungsbasis abzusprechen“ (Butler 2020, 169) und dadurch die bio­ politischen Rechtsrahmen, durch die sie prekarisiert und ausgeschlossen werden, zu delegitimieren. Diesen außerrechtlichen Widerstand durch das öffentliche körperliche Erscheinen kriminalisierter oder illegalisierter Menschen begreift Butler dabei als die performative Ausübung des Rechts, Rechte zu haben, das sie konzeptuell durch eine performative Lesart dieses Rechts bei Arendt gewinnt: „Mit Hannah Arendt können wir sagen, dass das Ausgeschlossen­ sein aus dem Erscheinungsraum, der Ausschluss von der Teilnahme an der Pluralität, die den Erscheinungsraum entstehen lässt, bedeutet, des Rechts beraubt zu werden, Rechte zu haben“ (Butler 2016, 82; vgl. zur aktuellen Debatte über das Recht, Rechte zu haben DeGooyer/Hunt/Maxwell/Moyn 2018). Gleichzeitig akzentuiert Butler das Recht, Rechte zu haben, im Rah­ men ihrer poststrukturalistischen Konzeption im Unterschied zu Arendt primär im Ausgang von der Dimension der Körperlichkeit und betont die Notwendigkeit seiner Verkörperung durch die Ausgeschlossenen. Dieses Recht wird von denjenigen beansprucht, die entrechtet sind oder rechtlos gemacht werden und die in der Einforderung dieses Rechts auf widerstän­ dige Weise „aus Zonen des Verschwindens auftauchen“ (Butler 2016, 112)

402

9.3 Biopolitische Ausschlüsse aus dem Recht und der Widerstand der Ausgeschlossenen

und in einem öffentlichen Kampf „die Bedeutung der existierenden Räu­ me zurückfordern und neu bestimmen“ (Butler 2016, 116). Das bedeutet, dass sich die biopolitisch Ausgeschlossenen dadurch von ihrem Ausgeschlossensein befreien, dass sie den politischen Raum zurück­ erobern und die herrschende Zuteilung von Rechten radikal zurückwei­ sen. Dies geschieht bspw. in „Aufstände[n] von Geflüchteten oder Ver­ sammlungen von Menschen in prekären Lebensumständen“ (Butler 2019, 121). Im Rahmen solcher außerrechtlichen Widerstandsformen verfolgen die Aufständischen das gemeinsame Ziel, die Geltung und Herrschaft ei­ nes rechtlichen Regimes anzugreifen und zu überwinden, welches sie als nichtlebendige Subjekte konstituiert und in einen rechtlosen Raum des sozialen Todes einsperrt. Gegen die bestehende Rechtsgewalt, die ihren Ausdruck in der Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht findet und sich, wie gesehen, in der biopolitischen Differenz zwischen Leben und Nichtleben gesellschaftlich rekonfiguriert, machen die Aufständischen demnach in der performativen Behauptung ihres Rechts, Rechte zu haben, potenziell eine gegenhegemoniale rechtsgründende Gewalt geltend, indem sie die Neugründung der öffentlichen Sphäre anstreben und versuchen, selbst die Macht und Kontrolle über den Erscheinungsraum zu überneh­ men: „Denn eine gewaltfreie Bewegung kann, wenn sie Macht gewinnt, zu einer Autorität werden, die ihrerseits Rechtsgewalt ausübt, und eine gewaltsame Herrschaftsinstanz kann, wenn sie sich auflöst, einen Rechtsrahmen aufgeben“ (Butler 2020, 177). Diese alternative Rechtsgewalt, die im Widerstand der Rechtlosen perfor­ mativ hervorgebracht wird, lässt sich dabei – mit einer Formulierung Menkes, die hierin gewissermaßen zweckentfremdet und gegen ihn selbst gewendet wird – als die „Gewalt der Befreiung“ (Menke 2015, 407) begrei­ fen, durch die Menke „die Gewalt des neuen Rechts“ (ebd.) kennzeichnet und mit der er seine Kritik der Rechte enden lässt. Allerdings beschreibt die Gewalt der Befreiung im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit dann gerade nicht mehr die Struktur der von Menke entwickelten Gegenrech­ te, sondern meint das radikale Befreiungspotenzial des außerrechtlichen Widerstands der biopolitisch Ausgeschlossenen, die sich in widerrechtli­ chen Akten der Performativität körperlich versammeln und auf der Basis der kollektiven und solidarischen Inanspruchnahme ihrer vorenthaltenen Rechte öffentlich auftreten und für ihre Rechte kämpfen. Wenn hier also überhaupt von der Gewalt eines neuen Rechts gesprochen werden kann, dann handelt es sich bei diesem neuen Recht folglich um das neu zu grün­

403

Kapitel 9

dende Recht, das im gegenhegemonialen Widerstand der Ausgeschlosse­ nen auf kritische Weise gegen die ausschließende Gewalt des alten Rechts potenziell erkämpft und etabliert wird.

404

Schluss

Am Ende des letzten Kapitels von Schwarze Haut, weiße Masken, das mit dem Titel Der Neger und die Anerkennung überschrieben ist, beschäftigt sich Frantz Fanon mit dem Befreiungskampf der schwarzen Sklaven gegen ihre weißen Herren, indem er Hegels Dialektik von Herr und Knecht vom kolonialen Herrschaftsverhältnis zwischen den schwarzen Kolonisierten und den weißen Kolonisierenden her begreift (vgl. Fanon 2013, 183–188). Fanon interpretiert diesen Befreiungskampf, den er in einer rassismuskriti­ schen Fortschreibung Hegels als einen Kampf um Anerkennung zwischen dem Schwarzen und dem Weißen liest, in einer Art und Weise, die Men­ kes Blick auf den Sklavenaufstand entgegengesetzt ist und gleichzeitig Butlers Sicht auf den Widerstand der Ausgeschlossenen weiterzudenken erlaubt. Dabei lässt sich im Anschluss an Fanon besonders die rassismus­ kritische Dimension der hier vertretenen Kritik biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht abschließend noch einmal systematisch schärfen. Fanon be­ ginnt seine Deutung des Befreiungskampfs mit der paradoxen Feststellung, dass es zwischen dem Herrn und dem Sklaven zu gar keinem solchen Kampf gekommen ist: „Zwischen dem Weißen und dem Schwarzen gibt es keinen offenen Kampf“ (Fanon 2013, 183). Denn: „Historisch ist der Ne­ ger, in der Unwesentlichkeit der Knechtschaft versunken, von dem Herrn befreit worden. Er hat für die Freiheit nicht gekämpft“ (Fanon 2013, 185). Da er für seine Befreiung nicht aktiv gekämpft hat, sondern vom Herrn freigesprochen worden ist, die Freiheit vom Herrn also nur passiv empfan­ gen hat, so Fanon, ist der Schwarze auch nicht frei geworden, sondern vielmehr Sklave geblieben. „Der Neger ist kein Herr geworden“ (ebd.). Denn, so lautete bereits Menkes Argument, jeder Akt der Befreiung ist der Form nach ein Akt der Selbstbefreiung, da sich eine äußerlich erwirkte Be­ freiung notwendig in Abhängigkeit von einer äußeren Einwirkung ereig­ net, der sie sich verdankt und von der sie daher dauerhaft abhängig bleibt. Dem entspricht Fanons Diagnose: „Die Umwälzung hat den Schwarzen von außen erreicht. Der Schwarze ist agiert worden. (…) Die Umwälzung hat den Neger nicht differenziert“ (ebd.). Sofern der Schwarze also seine Befreiung nicht selbst gegen den Herrn erkämpft und damit zum Subjekt seiner eigenen Befreiung wird, kann er sich auch nicht von der Sklaverei befreien und ist gezwungen, seine Freiheit passiv vom Herrn in Empfang zu nehmen, worin er jedoch gleichzeitig nur seine Ohnmacht und Ab­

405

Schluss

hängigkeit vom Herrn reproduziert und das asymmetrische Herrschaftsverhältnis akzeptiert und affirmiert, durch das er vom Herrn unterworfen und gefangen gehalten wird. Sowohl Menke als auch Fanon gehen also übereinstimmend vom Schei­ tern des Befreiungskampfs der Sklaven aus, aber sie begründen dieses Scheitern auf völlig unterschiedliche, ja gegensätzliche Weise. Während nämlich in Menkes Interpretation des Sklavenaufstands, wie gesehen, sug­ geriert wird, dass der Sklave gerade in der Einforderung des Rechts auf Berücksichtigung durch den Herrn seinen passiven Status als Leidender fortschreibt und dadurch die Befreiung aus seiner Ohnmacht verfehlt, versteht Fanon das Scheitern der Befreiung des Sklaven als das Ergebnis der Tat des Herrn, d.h. als das aktive Tun des Weißen. In Fanons Deutung des schwarzen Befreiungskampfs hat der Sklave deshalb nicht für seine Freiheit gekämpft, nicht etwa weil ihm die Kraft oder der Mut dazu fehlte, sondern weil der Herr den Kampf bereits von vornherein verhindert hat: „Als Sklave ist der Neger auf dem Kampfplatz erschienen, auf dem sich die Herren befanden. Gleich jenen Domestiken, denen man einmal im Jahr erlaubt, im Salon zu tanzen, sucht der Neger nach einem Halt. (…) Der Neger ist ein Sklave, dem man gestattet hat, als Herr aufzutreten. Der Weiße ist ein Herr, der seinen Sklaven gestattet hat, an seiner Tafel zu speisen“ (ebd.). Das Scheitern des Befreiungskampfs hat demnach etwas mit der Struktur des Kampfplatzes zu tun, auf dem er stattfindet. Der Schwarze hat, so lässt sich im Anschluss an Fanon formulieren, den Kampfplatz der Weißen nicht zu seinem eigenen Kampfplatz gemacht, d.h. er hat ihn sich nicht angeeignet, damit er darauf als Schwarzer erscheinen kann. Es geht hier also, mit Butlers Worten, um ein bestimmtes Regime der Erscheinung, in dessen Rahmen sich der Kampf erst ereignen kann – oder aber eben nicht ereignen kann. Die Machtgeste des Herrn besteht vor diesem Hintergrund nicht erst darin, den schwarzen Befreiungskampf gewaltsam niederzuschla­ gen, sondern – grundsätzlicher – darin, einem möglichen Befreiungskampf erst gar keinen Raum zu bieten. Der weiße Herr kommt dem gewaltsamen Ausbruch des schwarzen Befreiungskampfes dadurch zuvor, dass er dem schwarzen Sklaven seine Freiheit schenkt und im Akt dieser scheinbaren Befreiung seine Rolle als Herr, d.h. die Überlegenheit seiner weißen Sub­ jektposition gegenüber dem Schwarzen, performativ inszeniert und zur Schau stellt und damit rückwirkend bestätigt und zementiert. Die List des weißen Herrn besteht also darin, dem schwarzen Sklaven von Anfang an

406

Schluss

den Rahmen zu verweigern und die Voraussetzungen zu entziehen, um sich in einem Befreiungskampf gegen den weißen Herrn aufzulehnen: „Der Weiße als Herr sagt zum Neger: ‚Nun bekommst du deine Frei­ heit.‘ Aber der Neger kennt den Preis der Freiheit nicht, denn er hat nicht um sie gekämpft. Von Zeit zu Zeit kämpft er für die Freiheit und die Gerechtigkeit, aber immer handelt es sich um die weiße Freiheit und die weiße Gerechtigkeit, um Werte also, die Herren ausgeschwitzt haben“ (Fanon 2013, 186). Daraus geht hervor, dass die Befreiung des Sklaven durch den Herrn in Wirklichkeit eine zweite Unterwerfung ist, die den Schwarzen in seine un­ tergeordnete Subjektposition einsperrt und ihm seinen Subjektstatus vor­ enthält. Denn indem er den schwarzen Sklaven befreit, behält der Herr die Kontrolle über den Erscheinungsraum, in dessen Rahmen das Herrschaftsverhältnis zwischen dem Schwarzen und dem Weißen eingebettet ist bzw. in dem die Herrschaft des Weißen über den Schwarzen ermöglicht wird. Indem er dem Schwarzen gestattet, als scheinbar Gleicher vor dem Herrn zu erscheinen, mit Fanon: ‚als Herr aufzutreten‘, bleibt in Wirklichkeit der Weiße der Herr, denn er bleibt das Subjekt, das über die Bedingungen der Erscheinung entscheidet und die Erlaubnis zu erscheinen erteilt. Dadurch, dass er dem Sklaven in einer eigenmächtigen Handlung seine Freiheit ge­ währt, sorgt der Herr dafür, dass das herrschende Regime der Erscheinung in seinen asymmetrischen und stigmatisierenden Elementen tatsächlich unverändert und die rassistische Ungleichheit zwischen Schwarzsein und Weißsein erhalten bleibt. Das zeigt, dass sich der schwarze Sklave nur dadurch von der weißen Herrschaft befreien kann, dass er den Erscheinungsraum des Herrn, also den ‚Kampfplatz, auf dem sich die Herren befinden‘, als Ganzen negiert und in seiner Legitimität radikal infrage stellt. Im Rahmen des Erschei­ nungsraums der Weißen kann der Schwarze, wie Fanon treffend formu­ liert, nämlich stets nur „um die weiße Freiheit und die weiße Gerechtig­ keit“ (ebd.) kämpfen, d.h. um Kategorien, die exklusiv für die Weißen und auf die Weißen hin geschaffen wurden und daher einen inhärenten rassistischen Charakter besitzen. Anders ausgedrückt: Der Schwarze kann unmöglich gegen die Wirksamkeit der Vorstellung der Rasse, d.h. gegen sein Schwarzsein als rassistisches Prinzip der Unterlegenheit und Minder­ wertigkeit, Widerstand leisten, solange er gezwungen wird sich in einem weißen Erscheinungsraum aufzuhalten. Denn der weiße Erscheinungsraum zeichnet sich, wie Fanon eindrücklich herausarbeitet, gerade dadurch aus, dass in ihm die tatsächlich vorhandene Rassifizierung der zwischen­

407

Schluss

menschlichen Beziehungen und die damit verbundenen rassistischen Sub­ jektivierungsweisen und Unterdrückungsstrukturen geleugnet werden. So­ bald der Schwarze nämlich unter den Bedingungen der weißen Kontrolle über den Erscheinungsraum gegen seine rassistische Unterwerfung und Beherrschung ankämpft, „sagt der Weiße zu ihm: ‚Mein Bruder, es besteht kein Unterschied zwischen uns.‘ Doch der Neger weiß, dass ein Unterschied besteht. Er wünscht ihn. Er möchte, dass der Weiße ihm einmal sagt: ‚Dreckiger Neger‘. Dann hätte er seine einzige Chance – es ‚ihnen zu zeigen…‘“ (ebd.). Die vermeintliche Befreiung des Sklaven durch den Herrn dient, so gese­ hen, dem heimlichen Zweck, die rassistische Struktur des Herrschaftsverhältnisses, das zwischen beiden herrscht, zu verdecken oder abzustreiten und damit die Logik der Rasse als Strukturprinzip des weißen Erschei­ nungsraums unsichtbar zu machen. Auf diese Weise verunmöglicht der Weiße, wie gesehen, das Stattfinden des schwarzen Befreiungskampfs: „Eines Tages hat der weiße Herr den Negersklaven kampflos anerkannt“ (Fanon 2013, 183). Der spezifische Ort dieser Szene, in welcher der Herr den Sklaven ein zweites Mal unterwirft, indem er ihn kampflos anerkennt, ist der weiße Erscheinungsraum. Liest man an dieser Stelle Fanon mit Butler zusammen, so wird deutlich, dass der Schwarze sich nur dadurch von der weißen Vorherrschaft befreien kann, dass er den weißen Erschei­ nungsraum als konstitutiven Rahmen der Szene seiner kampflosen Aner­ kennung außer Kraft setzt und damit zuallererst die notwendigen Voraus­ setzungen für den Befreiungskampf schafft. „Der ehemalige Sklave will, dass man ihm sein Menschsein abspricht, er wünscht sich einen Kampf, eine Schlägerei“ (Fanon 2013, 186). Der Widerstand des Schwarzen, so lässt sich resümieren, zielt also darauf ab, die Kontrolle über den Erscheinungsraum aus den Händen der Wei­ ßen zurückzuerobern und dadurch der weißen Herrschaft über die öffentliche Sphäre auf performative Weise ein gegenhegemoniales Regime der Erscheinung entgegenzustellen. Dem Schwarzen geht es damit in seinem Widerstand überhaupt nicht darum, in den vorhandenen weißen Erschei­ nungsraum inkludiert und durch den Weißen berücksichtigt zu werden, denn sobald der Schwarze um Zutritt zum weißen Erscheinungsraum bittet – mit Howard Caygill: „by requesting admittance“ (Caygill 2013, 210) –, hat er sich bereits den herrschenden, vom Weißen diktierten Regeln der Erscheinung unterworfen. Indem er einen eigenen Machtanspruch auf den öffentlichen Raum der Erscheinung stellt und diesen als politischen Raum

408

Schluss

zurückfordert und in Besitz zu nehmen versucht, weist der Schwarze seine Befreiung durch den Herrn auf radikale Weise zurück, insofern er dem Weißen bereits die Macht abspricht, den Sklaven überhaupt befreien zu können. Das bedeutet, dass der Schwarze im Akt seines Widerstands die Mög­ lichkeit einer neuen, radikal veränderten Ordnung des politischen Raums eröffnet, in der die herrschenden „Aufteilungen des Sinnlichen“ (Ranciè­ re 2016, 41) in ihrer vermeintlichen Unveränderlichkeit aufgebrochen und entnaturalisiert werden. Der Widerstand des Schwarzen, so Fanons entscheidender Hinweis, beginnt dabei dadurch, dass der Schwarze ge­ genüber dem Weißen sein „Anderssein bewahr[t]“ (Fanon 2013, 187). Dadurch nimmt der Schwarze ein antagonistisches Verhältnis gegenüber dem Herrn ein, „[e]in Anderssein des Bruchs, des Gefechts, des Kampfs“ (ebd.), wodurch er die herrschenden Bedingungen der Erscheinung auf performative Weise transformiert. Denn im kämpferischen Bejahen des Antagonismus zwischen Herr und Sklave und dem damit verbundenen Benennen der weißen Dominanz macht der Schwarze die rassistischen Differenzierungen zwischen Schwarzsein und Weißsein sichtbar und stellt sich ihrer Invisibilisierung durch den Weißen aktiv entgegen. Durch sei­ nen Widerstand zeigt der Schwarze auf, dass das Recht zu erscheinen in Wirklichkeit ein weißes Vorrecht ist und auf der „Normalisierung von Weißsein“ (Ehrmann 2015, 36) innerhalb eines weißen Erscheinungs­ raums beruht, in dem die rassistische Hierarchisierung und Klassifizierung der Menschen verschleiert und die Subjektgestalt des Schwarzen mundtot gemacht wird. Der Schwarze überwindet also dadurch die Grenzen der Erscheinung, dass er die vermeintlich neutrale und universale Struktur des öffentlichen Erscheinungsraums radikal infrage stellt und „Weißsein (…) als privilegierte[n] Signifikant[en] (…) entlarvt“ (ebd.). Indem er sich somit den Gesetzen des weißen Erscheinungsraums voll­ ständig verweigert, ruft der Schwarze den politischen Raum potenziell in einer neuen – von ihm selbst bestimmten und gegen den Herrn er­ kämpften – Gestalt ins Leben und wird darin zum widerständigen Subjekt seiner Befreiung. Er bringt sein Recht zur Neugründung der politischen Ordnung also performativ zur Geltung und übt darin auf kritische Weise eine gegenhegemoniale Form der Rechtsgewalt aus. In keinem Fall han­ delt es sich dabei jedoch einfach um einen umgekehrten Rassismus oder Essentialismus. Denn im Herausstreichen seines ‚Andersseins‘ bzw. seiner rassistisch auferlegten VerAnderung gegenüber dem Weißen schreibt der Schwarze gerade nicht die biologistische Epistemologie fort, die den wei­ ßen Erscheinungsraum beherrscht, sondern er bringt die „Kategorie des

409

Schluss

Schwarzseins jenseits einer rassistischen Logik“ (ebd.) auf widerständige und revolutionäre Weise neu hervor. Indem er nämlich im Akt seines Wi­ derstands die Kategorie des Schwarzseins von der rassistischen Zuschrei­ bung durch den Weißen radikal abtrennt und damit aus ihrer episte­ mischen Verankerung innerhalb des hegemonialen weißen Deutungsrah­ mens herauslöst, „wird Schwarzsein hier als eine selbst gewählte politische Identität“ (Ehrmann 2015, 35) durch den Schwarzen selbst neu konstitu­ iert. Mit Jeanette Ehrmanns Worten: „Universalität wird von der kompro­ mittierenden Gleichsetzung mit Weißsein gelöst, während die Schwarze Erfahrung als alternative Universalie formuliert wird – nicht ausgehend von rassistischen Zuschreibungen, sondern von erlebtem Unrecht“ (Ehr­ mann 2015, 36). Schwarzsein wird in diesem Kontext somit ausdrücklich antirassistisch und antiessentialistisch konzeptualisiert und als Quelle des Widerstands und Ausdruck einer politischen Gegensubjektivierung gegen abstrakte Formen des Universalismus und des Humanismus verstanden, welche die konkreten rassistischen Strukturen des Rechts und der Gesell­ schaft ausblenden und dadurch gleichzeitig reproduzieren und stützen. * Im September 2021 wurden weltweit Bilder eines Flüchtlingscamps öffentlich, das von haitianischen Geflüchteten unter der internationalen Brücke nahe der texanischen Stadt Del Rio errichtet worden war, die von Mexi­ ko über den Rio Grande in die USA führt (vgl. dw.com 2021a). Seit dem 9. September waren insgesamt 30.000 Haitianer (vgl. dw.com 2021b) auf der Flucht „vor Armut, Bandenkriminalität und Naturkatastrophen“ (ebd.) in ihrem Heimatland auf dem Weg „über Süd- und Mittelameri­ ka“ (ebd.) in der US-Grenzstadt angekommen. Nach der Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 herrschte in Haiti politisches und wirtschaftliches Chaos (vgl. dw.com 2021a). Erst im Au­ gust hatte es erneut ein starkes Erdbeben gegeben, infolgedessen mehr als 2.000 Menschen starben (vgl. sueddeutsche.de 2021). Die haitianischen Migranten hatten unter der Brücke mit ihren verbliebenen Habseligkeiten provisorische Zelte aufgeschlagen, u.a. mit Ästen, Tüchern und Regen­ schirmen. Innerhalb des Zeltlagers herrschten bei mehr als 40 Grad im Schatten menschenunwürdige Bedingungen (vgl. dw.com 2021a). „Nach­ dem die Bilder des Migrantencamps öffentlich wurden“ (ebd.), wurde das Gebiet um das Lager herum von Beamten der US-amerikanischen Grenzschutzbehörde (vgl. zeit.de 2021b) und eigens dafür entsandten Hei­ matschutzbeamten (vgl. zeit.de 2021a) abgeriegelt und die Grenzbrücke

410

Schluss

durch „Straßensperren und Wagen der State Trooper blockier[t]“ (dw.com 2021a). Auf den Grenzstraßen patrouillierten „Soldaten der Nationalgarde (…) in geländegängigen Wagen“ (ebd.). Auf diese Weise war unter der Brücke, „die Ciudad Acuna in Mexiko und Del Rio in Texas verbindet“ (dw.com 2021b), innerhalb kurzer Zeit ein politisches und rechtliches „Niemandsland“ (dw.com 2021a) entstanden. Dieses Niemandsland ist dabei durch eine geradezu tragische Symbol­ kraft gekennzeichnet, welche die biopolitische Ausschlussdynamik, deren konzeptuelle Erarbeitung und begriffliche Durchdringung im Zentrum der vorliegenden Arbeit stand, auf paradigmatische Weise vor Augen führt. Denn die Bilder, die in den Medien kursierten, zeigten geflüchtete Menschen, die dazu verdammt worden waren, buchstäblich zwischen ver­ schiedenen Rechtsordnungen zu leben. Das provisorische Lager, in dem die Haitianer behelfsmäßig campierten, war tatsächlich nichts anderes als ein nichtrechtlicher Raum ihrer gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Exklusion, dessen spezifische räumliche Lage im Übrigen den biopolitischen Ausschließungscharakter der gesamten Situation vor Ort auf besonders dramatische, ja perfide Weise zum Ausdruck brachte. Denn das Lager, in dem die geflüchteten Haitianer vorübergehend Zuflucht gesucht hatten, lag genau unter der internationalen Grenzbrücke, welche die unterschiedlichen Staatsordnungen und Territorien der USA und Me­ xikos miteinander verbindet. Die haitianischen Flüchtlinge und Migranten waren also gezwungen, sich in einem Bereich unterhalb der offiziellen Verkehrsstrecke zwischen zwei bestehenden Rechtssystemen und deren jeweiligen Geltungsbereichen und damit unter- bzw. außerhalb von deren öffentlichen Erscheinungssphären aufzuhalten. Trotz der rigiden behördlichen, polizeilichen und militärischen Abrie­ gelung und Kontrolle des öffentlichen Erscheinungsraums in besagter Grenzregion konnte jedoch die mediale Berichterstattung und damit das Öffentlichwerden der gesamten Situation nicht verhindert werden, was letztlich bedeutet, dass die intendierte Ausschließung der haitianischen Geflüchteten aus dem – globalen – Raum öffentlicher Erscheinung zum Scheitern verurteilt war. Vielmehr waren die Existenz des Lagers und die körperliche Anwesenheit der geflüchteten Menschen ein Stachel im Fleisch derer, die diese Realität unsichtbar zu machen versuchten. Beson­ ders heftige Kritik an der US-Regierung lösten Videos und Fotos von Gewalteskalationen durch berittene Grenzpolizisten der U.S. Border Patrol aus, die für einen öffentlichen Aufschrei und landesweite Empörung sorg­ ten (vgl. tagesschau.de 2021b): Tausende haitianische Männer, Frauen und Kinder hatten nämlich angesichts der abgesperrten Grenzbrücke versucht,

411

Schluss

„mit niedrigem Wasserstand im Rio Grande von Mexiko nach Texas zu laufen“ (zeit.de 2021b). Auf den Videos und Fotos sind US-amerikanische Grenzschutzbeamte auf Pferden zu sehen, die „peitschenähnliche Gegen­ stände umher schwangen, die Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas später als lange Zügel bezeichnete“ (ebd.). Außerdem ist zu sehen, wie die texanischen Grenzpolizisten bei ihrem Einsatz die Geflüchteten gewalttä­ tig „umhertreiben und mit ihren Händen aufzugreifen versuchen“ (ebd.), um sie auf diese Weise gewaltsam zur Umkehr zu zwingen. „‚Dies ist ein Schandfleck für unser Land‘, schrieb die Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez auf Twitter“ (ebd.). Nachdem der US‑Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas zunächst „die Polizeiaktionen bei einem Besuch in Südtexas heruntergespielt“ (ta­ gesschau.de 2021b) und „auf einer Pressekonferenz“ (ebd.) davon gespro­ chen hatte, dass er auf den Videos und Fotos angeblich „nichts offensichtlich Falsches“ (ebd.) habe erkennen können, schwenkte er in Reaktion auf den öffentlichen Druck nur einen Tag später um und „zeigte sich bestürzt“ (ebd.) angesichts der brutalen Formen der Polizeigewalt. Auch das Weiße Haus brachte sein Entsetzen über das Vorgehen der Polizei zum Ausdruck, „US-Präsident Joe Biden nannte den Einsatz skandalös und kün­ digte Konsequenzen an“ (dw.com 2021b) und US-Vizepräsidentin Kama­ la Harris verurteilte den Einsatz „mit scharfen Worten“ (tagesschau.de 2021b). Diese offizielle Rhetorik moralischer Entrüstung und Skandalisie­ rung kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der zur Debat­ te stehende Polizeieinsatz in Wirklichkeit Teil einer von den USA aktiv betriebenen und mit der Präsidentschaft Donald Trumps nochmals ver­ stärkten restriktiven und abwehrenden Einwanderungspolitik ist, in deren umfassenderem Kontext er verortet werden muss. Die Brutalität der USGrenzpolizisten gegenüber den haitianischen Geflüchteten bringt nur auf besonders augenfällige Weise den biopolitischen Ausschlusscharakter des bestehenden US-amerikanischen Grenzregimes im Ganzen zum Ausdruck. Denn die politische Reaktion der US-Regierung auf die prekäre Lage der Geflüchteten in Del Rio bestand tatsächlich in der eilig durchgeführten Massenabschiebung und Deportation der Haitianer: Innerhalb weniger Tage wurden „[r]und 2000 Menschen (…) mit 17 Abschiebeflügen zurück nach Haiti“ (dw.com 2021b) ausgewiesen. „Tausende wurden darüber hi­ naus in andere Unterkünfte entlang der Grenze verlegt, um von dort eine Entscheidung über ihren Status zu treffen“ (ebd.). Die beschriebenen Ereignisse am Rio Grande stehen exemplarisch für eine politische Rationalität, deren nekropolitische Gewalt sich ebenso in der brutalen Vorgehensweise einzelner Polizeibeamter an der US-ameri­

412

Schluss

kanischen Grenze zu Mexiko wie auf der Makroebene des staatlichen Regierungshandelns angesichts der Präsenz der haitianischen Geflüchteten widerspiegelt. Immer wieder ertrinken Menschen im Rio Grande bei dem Versuch, über die Grenze von Mexiko in die USA zu gelangen, wie im Juni 2019, als sich erneut tragische Bilder in den weltweiten Medien verbreite­ ten: „Die Fotos zeigen einen 25-jährigen Mann aus El Salvador und sein knapp zweijähriges Kind. Beide liegen mit dem Gesicht nach unten im Wasser des Rio Grande zwischen Mexiko und den USA. Die Leichen wurden (…) in Matamaros im mexikanischen Bundesstaat Tamaulip­ as gefunden. Wie aus mexikanischen Gerichtsunterlagen hervorgeht, hatten sich Óscar R. und seine Frau Tania A. (…) entschieden, auf ihrer Flucht in die USA den Rio Grande am Grenzort Matamaros zu überqueren, was als äußerst gefährlich gilt. Der Vater trug seine kleine Tochter Valeria demnach auf dem Rücken und hatte sie in seinem T-Shirt festgezurrt, um sie auf diese Weise zu sichern. Die starke Strö­ mung riss die beiden jedoch fort – sie erstranken vor den Augen der 21-jährigen Ehefrau und Mutter“ (dw.com 2019). Im gleichen Zeitraum fanden US-Behörden weitere Leichen am Rio Gran­ de. „Bei den vier Opfern auf US-amerikanischem Boden in der Nähe der texanischen Stadt McAllen soll es sich um eine junge Mutter, zwei Babys und einen kleinen Jungen handeln. Sie seien offenbar verdurstet“ (ebd.). Hier bewahrheitet sich auf dramatische Weise Gayatri Chakravorty Spivaks Aussage, derzufolge die Exkludierten und Subalternen unter den Bedin­ gungen extremer Gewalt nur noch durch ihr Sterben und durch ihren Tod sprechen können: „the subaltern speaks through dying“ (Wade/Spivak 2021).114 Diese erschütternden Beispiele legen neben vielen weiteren bekannten und unbekannten Fällen Zeugnis von der nekropolitischen Struktur der Grenzregime ab, denen diese Menschen zum Opfer gefallen sind und „in denen der Lebensanspruch bestimmter Personen verneint wird“ (But­ ler 2020, 149). Eine altbekannte Strategie dieser Grenzregime besteht in diesem Zusammenhang darin, die eigenen systemischen Strukturen und Praktiken der Negation des Lebens bestimmter Menschen dem Handeln dieser Menschen selbst zuzurechnen und sich dadurch von der eigenen politischen Verantwortung freizusprechen: Im Rahmen seines Aufenthalts in Del Rio wandte sich Alejandro Mayorkas an die Haitianer und beton­ 114 Für den Hinweis auf dieses Zitat danke ich ausdrücklich Nicki K. Weber.

413

Schluss

te, dass die US-Grenzen nicht offen seien (vgl. zeit.de 2021b). In diesem Zuge sprach er eine Warnung aus, die sich über die haitianischen Geflüchteten hinaus ausdrücklich auch an andere potenzielle Flüchtlinge und Migranten in der Zukunft richtete (vgl. zeit.de 2021a): „‚Wenn Sie illegal in die Vereinigten Staaten kommen, werden Sie zurückgeschickt. Ihre Reise wird nicht gelingen und Sie werden Ihr Leben und das Leben Ihrer Familie gefährden‘“ (ebd.). Tatsächlich lenkte Mayorkas mit dieser Aussage davon ab, dass die Gefährdung ihres Lebens gerade nicht von den Geflüchteten selbst, sondern in Wirklichkeit von der nekropolitischen Ge­ waltdynamik der Grenzregime produziert wurde, die die externalisierten bzw. illegalisierten Grenzräume beherrscht und regiert, in denen die Ge­ flüchteten infolge ihrer biopolitischen Ausschließung gezwungen waren sich aufzuhalten. Vor dem Hintergrund der im Verlauf der vorliegenden Arbeit entwickelten rechtskritischen Heuristik lässt sich dementsprechend dafür argumentieren, dass die gefährdenden und menschenunwürdigen Bedingungen, denen die Geflüchteten ausgesetzt waren, das Ergebnis eines inhärent nekropolitischen Migrations- und Grenzmanagements sind, in dessen Rahmen eine Politik des Todes durch bestehende Rechtsordnungen mit Vehemenz vorangetrieben wird. In kritischer Erweiterung von Menkes rechtskritischem Ansatz habe ich in dieser Arbeit die These vertreten, dass eine Kritik des bürgerlichen Rechts über den Aufweis und die Dekonstruktion der naturalisierenden und entpolitisierenden Wirkungen der subjektiven Rechte hinaus die vom Recht ausgehenden biopolitischen Ausschließungen und Entrechtungen explizit in den Blick nehmen muss. Dabei habe ich Menkes rechtsinterne Perspektive auf die innerrechtlichen Herrschaftsmechanismen in Bezug auf das bürgerliche Rechtssubjekt gewissermaßen nach außen gekehrt und den Blick auf die außerrechtlichen Ausschlüsse bzw. biopolitischen Exklu­ sionen von Menschen aus aktuellen Rechtssystemen gerichtet. Im Mittel­ punkt stand hierbei die in modernen Rechtsdiskursen wirksame Dynamik der biopolitischen Ungleichbewertung von menschlichen Leben, deren begriffliche und theoretische Grundlagen ich im Anschluss an Michel Fou­ cault und Judith Butler herausgearbeitet und ausgehend von einer philoso­ phiehistorischen Betrachtung des Pöbelbegriffs bei Hegel im Dialog mit Achille Mbembe und Didier Fassin weiter vertieft habe. Dabei habe ich die These formuliert, dass das von Menke im Anschluss an Benjamin zum theoretischen Ausgangspunkt genommene Paradox des Rechts in Form der notwendigen Gewalt des Rechts gegenüber dem von ihm selbst hervorgebrachten Nichtrecht einer biopolitischen Relektüre und Kontextualisierung unterzogen werden muss. In diesem Zusammen­

414

Schluss

hang habe ich das Argument entfaltet, dass die von Menke durchgeführte Kritik der Legalisierung des Natürlichen als Grundstruktur der subjektiven Rechte das Problem der biopolitischen Ausschlüsse aus dem Recht nicht aufzulösen imstande ist, da der in der Legalisierung enthaltene Naturbe­ griff bzw. das darin implizierte Naturalisierungsverständnis etwas katego­ rial anderes meint als im Kontext der gewaltförmigen Entgegensetzung des Rechts gegenüber dem Nichtrecht. Während Natur im Kontext der Legalisierung des Natürlichen den Eigenwillen des rRechtssubjekts meint, der berechtigt wird, bezeichnet Natur im Zusammenhang der für die nor­ mative Ordnung des Rechts konstitutiven Unterscheidung von Recht und Nichtrecht den Akt der Entrechtung der aus dem Recht Ausgeschlossenen bzw. die rechtliche Ausschließung des radikal Anderen des Rechts. Diese exkludierende Dimension des Naturalisierungsbegriffs, die im Zentrum meiner biopolitischen Untersuchungen stand, gerät in Menkes rechtszen­ trierter Heuristik zu stark aus dem Blick und stellt deren blinden Fleck dar. Diese Leerstelle in Menkes Theorieansatz habe ich im Verlauf meiner Argumentation dadurch konzeptuell zu schließen versucht, dass ich das bürgerliche Recht in den größeren Bezugsrahmen seiner biopolitischen Kontexte eingeordnet und in diesem Zuge die Biopolitik als eine gegen­ über den modernen Rechtsdiskursen eigenständige Perspektive des Poli­ tischen herausgearbeitet habe. Über das Konzept der Legalisierung des Natürlichen hinaus, so mein Vorschlag, macht der von mir in dieser Ar­ beit entwickelte Ansatz einer Rechtskritik aus der Instanz der Biopolitik die inegalitären und ausschließenden Mechanismen und Elemente einer Illegalisierung des Natürlichen im Sinne der fundamentalen rechtlichen Exklusion des Nichtrechts sichtbar. Diese biopolitischen Dynamiken einer Illegalisierung des Natürlichen habe ich anhand der kritischen Fortschreibung und Weiterentwicklung von Foucaults Reflexionen über die Rolle des Rassismus in modernen Normalisierungsgesellschaften analysiert, welche Judith Butler in ihrer jüngeren Beschäftigung mit dem Begriff der Biopolitik vorgelegt hat. Da­ bei habe ich die rechtliche Grundunterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht zunächst mit Foucaults Bestimmung des biopolitischen Rassis­ mus zusammengelesen und als biopolitische Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss, rekonstruiert. Daraufhin habe ich Butlers sozialphilosophische Interpretation dieser von Foucault beschriebe­ nen rassistischen Spaltung der Bevölkerung diskutiert und in diesem Zu­ sammenhang gezeigt, inwiefern die rechtliche Unterscheidung zwischen Recht und Nichtrecht ausgehend von Butlers Theorie des precarious life als die biopolitische Differenzierung zwischen Leben und Nichtleben re­

415

Schluss

konzeptualisiert werden kann. Anhand von Butlers Konzeption einer ge­ sellschaftlich ungleich verteilten Betrauerbarkeit von Menschenleben habe ich dabei zu zeigen versucht, auf welche Weise moderne Rechtsdiskurse in sozialen Strukturen der biopolitischen Ungleichbewertung menschli­ chen Lebens verwurzelt sind und deren vorrechtliche Dynamiken der Ungleichheit innerrechtlich fortschreiben. Im Zuge der Problematisierung des Rechts auf Leben ist exemplarisch deutlich geworden, dass die norma­ tive Ordnung des Rechts auf relationale Weise mit den außerrechtlichen Bewertungsrastern und Deutungsschemata der Biopolitik im Sinne einer gesamtgesellschaftlich wirksamen Rationalitätsform verschränkt ist und nicht unabhängig von der grundlegenden biopolitischen Vermachtung des Sozialen gedacht werden kann. Ob ein Leben überhaupt rechtlich wahrnehmbar ist und daher als ein schutzwürdiges Leben vor dem Recht in Erscheinung treten kann, so habe ich mit Butler argumentiert, ist von vorrechtlichen biopolitischen Normen abhängig, die zwischen lebendigen und weniger lebendigen Leben differenzieren und auf dieser Basis darüber entscheiden, ob das Leben eines Menschen tatsächlich als Leben konstitu­ iert wird oder „einfach ausgelöscht werden [kann], weil es gar nicht als Leben betrachtet wird, nie ein Leben gewesen ist, der Norm von Leben im ‚rassischen‘ Schema nicht entspricht, also nicht als betrauerbares Leben zählt, als Leben, das der Erhaltung wert ist“ (Butler 2020, 149). Vor diesem theoretischen Hintergrund habe ich die Perspektive der Biopolitik als eine entscheidende konzeptuelle Erweiterung nicht nur von Menkes Rechtskritik im speziellen, sondern mit Blick auf die kritische Analyse aktueller Ausschlüsse aus modernen Rechtssystemen im allgemei­ nen fruchtbar gemacht. In einem weiteren Reflexionsschritt habe ich dar­ aufhin die Idee des Pöbels bei Hegel aufgegriffen. In diesem Rahmen habe ich Hegels Pöbelbegriff als philosophiegeschichtliche Folie für die kritische Analyse biopolitischer Ausschlüsse aus dem Recht im Kontext heutiger Gesellschaften herangezogen und dabei mit Blick auf die globali­ sierte Weltgesellschaft aktualisiert. Die radikale Ausschließung des Pöbels, die bereits Hegel im Zusammenhang seiner rechtsphilosophischen Über­ legungen zur bürgerlichen Gesellschaft konstatiert, lässt sich, so meine These, auf zeitgenössische Praktiken der Illegalisierung und Exklusion von Flüchtlingen und Migranten aus dem Recht übertragen und begrifflich an die Kritik globaler Figuren der Rechtlosigkeit und der Entrechtung von Geflüchteten anschlussfähig machen. Geflüchtete Menschen, die heu­ te durch die herrschenden Grenzregime in Zonen des Nichtrechts einge­ sperrt werden, können als paradigmatische Gestalten eines globalen Pöbels verstanden werden, dessen biopolitischer Ausschluss aus der Weltgesell­

416

Schluss

schaft von hier aus als solcher benannt, kritisiert und bekämpft werden kann. In der Auseinandersetzung mit Achille Mbembe und Didier Fassin ha­ be ich die hier vertretene Perspektive einer biopolitischen Rechtskritik darüber hinaus aus dem Blickwinkel postkolonialer und soziologischer Ar­ gumentationsfiguren weiter konturiert. Mit Mbembe konnten die bereits im Anschluss an Foucault herausgestellten rassistischen Implikationen bio­ politischer Ausschlüsse aus Rechtssystemen vor dem Hintergrund einer postkolonialen Heuristik problematisiert und Biopolitik in diesem Zuge zu Nekropolitik zugespitzt werden. Heutige globale Strukturen reprodu­ zieren notwendig die ihnen historisch und systematisch zugrunde liegen­ den kolonialen Herrschaftsverhältnisse und Machtstrukturen und sind dementsprechend in fundamentaler Hinsicht durch strukturelle Rassismen gekennzeichnet. Dabei ist sichtbar geworden, dass gesellschaftliche und rechtliche Ausschlüsse von Geflüchteten und Migranten auf der postkolo­ nialen Degradierung dieser Menschen auf den Status von Rassensubjekten beruhen. Die Entrechtung dieser Subjekte, so eine zentrale Einsicht im Anschluss an Mbembe, geht also Hand in Hand mit deren Rassifizierung und Entmenschlichung, d.h. mit deren Ausschließung aus der Menschheit auf der Grundlage rassistischer Vorstellungen über den ungleichen Wert von Menschen. Gleichzeitig führt Mbembe dabei vor Augen, dass Biopoli­ tik im hier vertretenen Sinn einer sozialen, politischen und rechtlichen Ungleichbewertung von Menschenleben heute immer stärker in Gestalt einer Politik des Todes auftritt und damit die Schwelle zur Nekropolitik überschritten hat, in deren Rahmen die biopolitisch Ausgeschlossenen dis­ kursiv als das radikal Andere der rechtlichen Normativität konstruiert und dadurch entsubjektiviert werden. Auf der Grundlage dieser Rassifizierung des Lebens der Anderen wird schließlich deren nekropolitische Tötung legitimiert. Wie bereits ausgeführt, können die Ereignisse am Rio Grande als pa­ radigmatischer Ausdruck einer solchen rassistischen Politik des Todes verstanden werden, deren postkoloniale Implikationen im Zuge ihrer medialen Rezeption im Übrigen nicht verborgen geblieben sind: „Inter­ netnutzer fühlten sich durch die Bilder an Zeiten erinnert, in denen berittene Polizisten oder Gefängniswärter in den USA mit Peitschen ge­ gen Schwarze vorgingen“ (tagesschau.de 2021c). Tatsächlich lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Arbeit dafür argumentieren, dass sich in den Szenen der Polizeigewalt am Rio Grande Mechanismen eines strukturellen Rassismus geltend machen, in denen koloniale Praktiken reproduziert werden, die aus einer Zeit stammen, als die Vereinigten Staa­

417

Schluss

ten eine Sklavenhaltergesellschaft waren, in der Rassentrennung herrschte (vgl. ebd.). Die Übergriffe der texanischen Grenzpolizisten gegenüber den haitianischen Geflüchteten ähneln, so gesehen, nicht zufällig den Gewalt­ exzessen weißer Vorarbeiter, Plantagenaufseher, „Nachtwachen, Milizen – und Sklavenpatrouillen“ (Hadden 2018, 77) in den vergangenen Jahrhun­ derten, sondern sind tief in der kolonialen Gewaltgeschichte der USA ver­ ankert. Als besonders symbolträchtig und drastisch nimmt sich in diesem Zusammenhang aus, dass auf den Bildern und Videos weiße Polizisten mit Cowboyhüten auf Pferden zu sehen sind, die schwarze Geflüchtete unter dem gewaltsamen Einsatz ihrer Zügel wie Tiere zusammentreiben – eine Praxis, die tatsächlich an den historischen Kontext der Viehtreiberei in den USA erinnert. An dieser Stelle lässt sich die soziologische Perspektive Fassins auf produktive Weise ins Spiel bringen, in deren Rahmen Fassin darauf auf­ merksam macht, dass Biopolitik in den Gesellschaften der Gegenwart in der Gestalt einer moralischen Ökonomie funktioniert, in der das Leben von Menschen moralisch unterschiedlich besetzt und dementsprechend auf ungleiche Weise bewertet und geschützt wird. Diese biopolitischen Formen der Ungleichbewertung von Menschenleben bezeichnet Fassin, wie gesehen, als Politik des Lebens. Die moralische Abwertung bestimmter Menschen im biopolitischen Kontext einer solchen Politik des Lebens untersucht Fassin dabei mit einem besonderen Fokus auf die prekarisierte Lebensform heutiger Flüchtlinge und Migranten. Vor diesem Hintergrund lassen sich die beschriebenen Vorfälle am Rio Grande in den Bezugsrah­ men von Fassins Konzept einer Politik des Lebens einordnen und von hier aus kritisch beleuchten. Die Brutalität des Polizeieinsatzes muss dem­ nach als Teil der biopolitischen Dynamik einer kollektiv und gesamtge­ sellschaftlich wirksamen Politik des Lebens begriffen werden, in der es darum geht, bestimmten Menschen ihren Wert abzusprechen und diese aus der eigenen Rechtsgemeinschaft auszuschließen. Die Tatsache, dass die haitianischen Geflüchteten von den berittenen Grenzschutzbeamten buch­ stäblich wie Vieh behandelt und gewaltsam umhergetrieben werden, zeugt mit anderen Worten davon, dass das Leben dieser Menschen innerhalb der spezifischen moralischen Ökonomie, die den Ereignissen insgesamt und speziell dem Gewaltverhalten der Grenzschutzbeamten zugrunde liegt, radikal abgewertet und gewissermaßen auf einen animalischen Status re­ duziert worden ist. Die Gewaltstruktur des US-Grenzregimes lässt sich weiterhin auf der Fo­ lie der von mir vorgeschlagenen biopolitischen Relektüre des Herrenrechts in Nietzsches Genealogie der Moral reflektieren. Aus dieser Perspektive er­

418

Schluss

scheint die Massenabschiebung der Haitianer durch die US-Regierung als paradigmatischer Ausdruck der biopolitischen Privilegstruktur des bürger­ lichen Rechts und der subjektiven Rechte, die ich anhand einer konzep­ tuellen Zusammenführung von Nietzsche, Mbembe und Loick herausge­ arbeitet habe. Die restriktive Einwanderungspolitik der USA, die in den beschriebenen Ereignissen am Rio Grande deutlich zur Geltung kommt, kann als exemplarisches Beispiel für die in der Auseinandersetzung mit Nietzsche entwickelte These angesehen werden, derzufolge sich moder­ ne Rechtsgemeinschaften durch eine Haltung der eigenen Überlegenheit gegenüber ihrem rassisch definierten Anderen abgrenzen und auf diese Weise diejenigen Subjekte, die als Nichtgleiche markiert werden, aus der eigenen partikularen Gleichheitsgemeinschaft ausschließen. In der Polizei­ gewalt der texanischen Grenzschutzbeamten artikuliert sich, so gesehen, auf besonders eindeutige und handgreifliche Weise die im kritischen An­ schluss an Nietzsche diskutierte Verachtung gegenüber den rassifizierten Anderen, welche die öffentlichen Affektstrukturen innerhalb der US-ame­ rikanischen Gesellschaft in erheblichem Ausmaß prägt und das politische Handeln der US-Regierung anleitet und legitimiert. Hier wird ein biopoli­ tischer Mechanismus sichtbar, durch den sich eine egalitäre Rechtsgemein­ schaft, mit Nietzsches Worten: eine Gemeinschaft ‚souveräner Individu­ en‘, nach außen hin abschließt und den Nichtgleichen das Vorrecht der Rechtssubjektivität aktiv und gewaltsam vorenthält. Von Butler und Fanon lässt sich abschließend lernen, dass der Wider­ stand gegen die vielfältigen Formen der biopolitischen Ausschließung von Menschen aus aktuellen Rechtssystemen nicht einfach in der Forderung bestehen kann, die biopolitisch Ausgeschlossenen bloß auf umfängliche­ re oder effizientere Weise in den politischen Raum zu inkludieren und rechtlich zu berücksichtigen. Obwohl diese Forderung selbstverständlich berechtigt, notwendig und an vielen Stellen praktisch sowie strategisch unverzichtbar ist, verkennt sie doch den systematischen Charakter der, wie Butler mit Bezug auf Fanon formuliert, historisch-rassischen Schema­ ta innerhalb der rechtlich kontrollierten Erscheinungsräume heutiger Ge­ sellschaften. Sie verkennt mithin, dass es unter der Bedingung der gegen­ wärtig bestehenden Erscheinungsräume zu keiner Berücksichtigung der biopolitisch Ausgeschlossenen kommen kann, da diese Räume überhaupt erst durch deren radikale Ausschließung konstituiert wurden. Aus diesem Grund muss sowohl die theoretische Perspektive als auch die soziale und politische Praxis des Widerstands die Erkenntnis ernst nehmen, dass der in dieser Arbeit untersuchte biopolitische Rassismus kein arbiträres Merk­ mal herrschender Regime der Erscheinung darstellt, sondern fundamental

419

Schluss

in die sozialen Strukturen und politischen Herrschaftsordnungen bürger­ licher Gesellschaften eingeschrieben ist. Durch den Widerstand müssen daher, mit Loick gesprochen, „die hegemonialen politischen Institutionen und die damit korrespondierenden Rechtskonzepte selbst grundlegend in Frage gestellt werden“ (Loick 2021, 358). Dies lässt sich wiederum exemplarisch an den Ereignissen am Rio Grande beobachten. Während nämlich das körperliche Erscheinen der Haitianer an der US-Grenze als Ausdruck der globalen Entgrenzung gegen­ wärtiger Erscheinungsräume im Rahmen weltgesellschaftlicher Strukturen betrachtet werden kann, bestand die politische Reaktion vonseiten der USA, wie beschrieben, im Versuch einer umso stärkeren und brutaleren „Vergrenzung“ (Mbembe 2018) des politischen Raums, in dem die haitia­ nischen Geflüchteten erschienen und für die globale Öffentlichkeit sicht­ bar geworden waren. Dabei war dieser Versuch von Anfang an gerade deshalb zum Scheitern verurteilt, weil die Aufteilung und Kontrolle öf­ fentlicher Erscheinungsräume unter den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Globalisierung schlicht und ergreifend nicht mehr in der Macht einzelner Rechtsregime und Nationalstaaten liegt. Die körperliche Präsenz und Bewegung der Haitianer, ihr widerständiges Beharren unter der Brücke und ihr widerrechtliches Überschreiten der Grenze stellt den Machtanspruch der US-Regierung auf die Regulierung des öffentlichen Erscheinungsraums vielmehr radikal infrage. Hier wird deutlich, dass der Widerstand gegen biopolitische Prekarisierungen, Gefährdungen und Aus­ schlüsse nicht zwangsläufig die heroische oder spektakuläre Gestalt eines konzertierten Aufstands oder einer Revolution annehmen muss, da bereits das unerlaubte körperliche Erscheinen der haitianischen Geflüchteten an der Grenze zu den USA einen performativen Anspruch auf den Schutz und den Erhalt ihres Lebens machtvoll artikuliert. Im verbotenen Überqueren der US-Grenze übten die Haitianer also ihr Recht zu erscheinen und sich frei zu bewegen tatsächlich auf performative Weise aus, und zwar indem sie die herrschenden Bedingungen und Gren­ zen der Erscheinung in ihrem körperlichen Handeln zurückwiesen. Dass es sich dabei tatsächlich um eine widerständige Praxis handelte, wird gera­ de auch durch die repressive und gewaltförmige Reaktion vonseiten des US-Grenzregimes in Gestalt der Massenabschiebungen unterstrichen, mit denen die US-Regierung die Ankunft der Haitianer in Del Rio beantwor­ tete. Diese postkolonialen Praktiken der Gewalt der US-amerikanischen Regierung und Polizei verdeutlichen, dass das herrschende US-amerika­ nische Rechtsregime tatsächlich auf der Entrechtung und biopolitischen Ausschließung der Haitianer beruht und diese daher zwangsläufig zum

420

Schluss

Verschwinden bringen musste. Die plurale körperliche Versammlung der haitianischen Geflüchteten unter der Grenzbrücke konnte durch das dort vorherrschende Grenzregime nicht akzeptiert werden, da exakt ihr kollek­ tives Erscheinen, d.h. ihr Auftauchen aus den ausgeschlossenen Zonen des Nichtrechts und des Nichtlebens, notwendig mit der radikalen Delegi­ timierung dieses Regimes einherging. Inzwischen „wurden mit Bulldozern die letzten Spuren des Lagers be­ seitigt“ (dw.com 2021b), das von den haitianischen Menschen unter der Brücke provisorisch errichtet worden war. Mit der vollständigen Auflösung des Flüchtlingslagers und der Massenabschiebung der haitianischen Flüchtlinge und Migranten verfolgt die US-Regierung das Ziel, die in die Krise geratenen Grenzen der Erscheinung wiederherzustellen, die Kon­ trolle über den öffentlichen Erscheinungsraum wiederzuerlangen und da­ durch die Kohärenz des eigenen Regimes der Erscheinung zu sichern. Mit Fanon gesprochen, ist damit gleichzeitig die Inkraftsetzung eines weißen Erscheinungsraums verbunden, der buchstäblich auf der biopolitischen Exklusion schwarzer Subjekte beruht, nämlich auf der Abschiebung der geflüchteten haitianischen Männer, Frauen und Kinder, die sich durch ihre körperliche Versammlung im globalen Raum öffentlicher Erscheinung auf antagonistische Weise den nekropolitischen Mechanismen des US-Grenz­ regimes entgegengestellt haben. Wenn wir die Szenen am Rio Grande durch die Brille Fanons betrachten, so können wir lernen, dass sich der Widerstand gegen die prekarisierende, ausschließende und tötende Gewalt gegenwärtiger biopolitischer Rechtsregime auf die rücksichtslose Kritik (vgl. Butler 2019), Transformation und Neubestimmung des politischen Raums als Ganzem richten muss. Denn erst die grundlegende Negation des weißen Erscheinungsraums macht die Entstehung eines radikal verän­ derten politischen Raums möglich. Im Akt des gegenhegemonialen Widerstands der Ausgeschlossenen hat sich dabei, wie Fanon ausdrücklich hervorhebt, die potenzielle Neugrün­ dung der politischen Ordnung immer schon ereignet. Die Konstitution eines neuen politischen Raums vollzieht sich notwendig in der Destitution der Vorherrschaft des weißen Regimes der Erscheinung (vgl. Faets 2020), in dem das Recht zu erscheinen zu einem weißen Vorrecht gemacht wird. Das körperliche Erscheinen der Haitianer am Rio Grande hat, mit anderen Worten, die biopolitischen Regeln des weißen Erscheinungsraums gerade dadurch außer Kraft gesetzt, dass ihr Erscheinen in diesem Raum nicht vorgesehen war, sich aber dennoch ereignet hat. Durch ihr widerständiges Heraustreten aus den Zonen des Nichtrechts und des Nichtlebens und ihr unerlaubtes Auftreten im öffentlichen Erscheinungsraum haben sie sich

421

Schluss

auf performative Weise zu Subjekten des Widerstands gegen die eigene Unvernehmbarkeit gemacht. Um die vielfältigen Formen des Widerstands gegen die biopolitischen Vergrenzungen moderner Rechtsregime weltweit zu stärken und globale Praktiken der „Entunterwerfung“ (Foucault 1992, 15) zu unterstützen, bedarf es in Zukunft sowohl auf der Ebene der Kri­ tischen Theorie als auch der widerständigen Praxis einer grundlegenden Dekolonisierung und Derassifizierung des Politischen und des Rechts. So­ zialphilosophie, politische Philosophie und Rechtsphilosophie sollten sich hierbei inhaltlich und systematisch stärker als zuvor auf die zahlreichen aktuellen und interdisziplinären Debatten in der post- und dekolonialen Theorie, der kritischen Migrationsforschung, der Schwarzen kritischen Theorie und der Critical Philosophy of Race einlassen, um nur einige der wichtigsten Strömungen und Anknüpfungspunkte in diesem Kontext zu nennen. Die vorliegende Kritik des Rechts aus der Perspektive der Biopolitik versteht sich als ein Beitrag im Rahmen dieser Agenda.

422

Literatur

Acampora, Christa Davis (Hg.) (2006): Nietzsche’s On the Genealogy of Morals. Critical Essays, Lanham/Boulder/New York/Toronto/Oxford: Rowman and Lit­ tlefield Publishers. Adorno, Theodor W. (20152): Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin: diaphanes. Agamben, Giorgio (2012): Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform, Frank­ furt a.M.: Fischer. Agamben, Giorgio (2015): The Use of Bodies, Stanford: Stanford University Press. Agamben, Giorgio (2016): Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, Frank­ furt a.M.: Fischer. Agamben, Giorgio (20177): Ausnahmezustand, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Agier, Michel (2008): On the Margins of the World. The Refugee Experience Today, Cambridge, UK/Malden, MA: Polity Press. Agier, Michel (2016): Borderlands. Towards an Anthropology of the Cosmopolitan Condition, Cambridge, UK/Malden, MA: Polity Press. Agier, Michel (2021): The Stranger as my Guest. A Critical Anthropology of Hospi­ tality, Cambridge, UK/Medford, MA: Polity Press. Ahlhaus, Svenja (2020): Die Grenzen des Demos. Mitgliedschaftspolitik aus post­ souveräner Perspektive, Frankfurt a.M.: Campus. Allen, Amy (2019): Das Ende des Fortschritts. Zur Dekolonisierung der normati­ ven Grundlagen der kritischen Theorie, Frankfurt a.M.: Campus. Anderson, Joel (2009): „Autonomielücken als soziale Pathologie. Ideologiekri­ tik jenseits des Paternalismus“, in: Rainer Forst/Martin Hartmann/Rahel Jaeg­ gi/Martin Saar (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 433–454. Arendt, Hannah (2011): „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grund­ legende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp, S. 394–411. Arendt, Hannah (2017): „Ziviler Ungehorsam“, in: Andreas Braune (Hg.), Ziviler Ungehorsam. Texte von Thoreau bis Occupy, Stuttgart: Reclam, S. 129–158. Badiou, Alain (2017): Vierundzwanzig Anmerkungen über die Verwendung des Wortes ‚Volk‘, in: Alain Badiou/Pierre Bourdieu/Judith Butler/Georges Didi-Hu­ berman/Sadri Khiari/Jacques Rancière (Hg.), Was ist ein Volk?, Hamburg: LAI­ KA, S. 9–17.

423

Literatur Balibar, Étienne (1992a): „Gibt es einen ‚Neo-Rassismus?‘“, in: Étienne Balibar/Im­ manuel Wallerstein (Hg.), Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Ham­ burg2: Argument, S. 23–39. Balibar, Étienne (1992b): Die Grenzen der Demokratie. Hamburg: Argument. Bayertz, Kurt (1999): „Four Uses of ‚Solidarity‘“, in: Kurt Bayertz (Hg.), Solidarity, Dordrecht/Boston/London: Kluwer Academic Publishers, S. 3–29. Becka, Michelle (2020): „Kritik und Solidarität. Zu einem sozialethischen Ver­ ständnis von Kritik“, in: Michelle Becka/Bernhard Emunds/Johannes Eurich/Gi­ sela Kubon-Gilke/Torsten Meireis/Matthias Möhring-Hesse (Hg.), Sozialethik als Kritik, Baden-Baden: Nomos, S. 19–55. Becka, Michelle/Emunds, Bernhard/Eurich, Johannes/Kubon-Gilke, Gisela/Meireis, Torsten/Möhring-Hesse, Matthias (Hg.) (2020): Sozialethik als Kritik, Baden-Ba­ den: Nomos. Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin: Suhrkamp. Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (Hg.) (2010): Das Politische und die Politik, Berlin: Suhrkamp. Benhabib, Seyla (2008): Die Rechte der Anderen. Ausländer, Migranten, Bürger, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1991): „Zur Kritik der Gewalt“, in: Walter Benjamin, Gesam­ melte Schriften II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 179–204. Bernasconi, Robert (2017): „Nietzsche as a Philosopher of Racialized Breeding“, in: Naomi Zack (Hg.), The Oxford Handbook of Philosophy and Race, New York: Oxford University Press, S. 54–64. Bertani, Mauro (2003): „Zur Genealogie der Biomacht“, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 228–260. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg. Biebricher, Thomas (2012): „Foucault, Gouvernementalität und Staatstheorie“, TranState Working Papers 164, Universität Bremen, Collaborative Research Center 597: Transformations of the State, Bremen. Biebricher, Thomas (2020): „Macht und Recht: Foucault“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, Tübin­ gen3: Mohr Siebeck, S. 207–225. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976): „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 42–65. Bonditti, Philippe/Bigo, Didier/Gros, Frédéric (Hg.) (2017): Foucault and the Mod­ ern International. Silences and Legacies for the Study of World Politics, New York: Palgrave Macmillan. Bönnemann, Maxim/Pichl, Maximilian (2020): „Postkoloniale Rechtstheorie“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, Tübingen3: Mohr Siebeck, S. 359–377.

424

Literatur Braun, Kathrin (2000): Menschenwürde und Biomedizin. Zum philosophischen Diskurs der Bioethik, Frankfurt a.M.: Campus. Braun, Bruce (2013): „Power over Life: Biosecurity as Biopolitics”, in: Andrew Dobson/Kezia Barker/ Sarah L. Taylor (Hg.), Biosecurity. The Socio-Politics of Invasive Species and Infectious Diseases, Abingdon/New York, NY: Routledge, S. 45–59. Brennan, Timothy (2011): „Borrowed Light. Nietzsche and the Colonies“, in: Volker Langbehn/Mohammad Salama (Hg.), German Colonialism. Race, the Holocaust, and Postwar Germany, New York: Columbia University Press, S. 3– 28. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2000): Gouverne­ mentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brossat, Alain (2012): Plebs invicta, Berlin: August. Broszies, Christoph/Hahn, Henning (Hg.) (20163): Globale Gerechtigkeit. Schlüs­ seltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Berlin: Suhrkamp. Brown, Wendy (1995): States of Injury. Power and Freedom in Late Modernity, Princeton: Princeton University Press. Brown, Wendy/Halley, Janet E. (Hg.) (2002): Left Legalism/Left Critique, Durham: Duke University Press. Brown, Wendy (2011): „Die Paradoxien der Rechte ertragen“, in: Christoph Men­ ke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundle­ gende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp, S. 454– 473. Brown, Wendy (2015): Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin: Suhrkamp. Brown, Wendy (2018): Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, Berlin: Suhrkamp. Brunkhorst, Hauke (1994): Demokratie und Differenz. Egalitärer Individualismus, Frankfurt a.M.: Fischer. Brunkhorst, Hauke (2014): Critical Theory of Legal Revolutions. Evolutionary Perspectives, New York/London/New Delhi/Sydney: Bloomsbury. Brunner, Claudia (2020): Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolo­ nialen Moderne, Bielefeld: transcript. Buckel, Sonja (2007): Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, Weilerswist: Velbrück. Buckel, Sonja (2013): ‚Welcome to Europe’ – Die Grenzen des europäischen Mi­ grationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das ‚Staatsprojekt Europa‘, Bielefeld: transcript. Buckel, Sonja (2018): „Die Bürde der subjektiven Rechte. Eine Auseinandersetzung mit der Rechtsphilosophie Christoph Menkes“, in: Andreas Fischer-Lescano/ Hannah Franzki/Johan Horst (Hg.): Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 125–141.

425

Literatur Buckel, Sonja (2020): „Neo-Materialistische Rechtstheorie“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, Tübin­ gen3: Mohr Siebeck, S. 189–207. Buckel, Sonja/Christensen, Ralph/Fischer-Lescano, Andreas (Hg.) (20203): Neue Theorien des Rechts, Tübingen: Mohr Siebeck. Buck-Morss, Susan (2011): Hegel und Haiti. Berlin: Suhrkamp. Butler, Judith (1987): Subjects of Desire. Hegelian Reflections in 20th-century France, New York: Columbia University Press. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Ge­ schlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2001a): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2001b): „Subjektivation, Widerstand. Bedeutungsverschiebung. Zwischen Freud und Foucault“, in: Judith Butler, Psyche der Macht. Das Sub­ jekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 81–101. Butler, Judith (2001c): „Einleitung“, in: Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7–35. Butler, Judith (2001d): „Zirkel des Schlechten Gewissens. Nietzsche und Freud“, in: Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 63–81. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhr­ kamp. Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M.: Campus. Butler, Judith (2013): Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus, Frankfurt a.M.: Campus. Butler, Judith/Laclau, Ernesto/Žižek, Slavoj (2013): Kontingenz, Hegemonie, Uni­ versalität. Aktuelle Dialoge zur Linken, Wien/Berlin: Turia + Kant. Butler, Judith (2014): Politik des Todestriebes. Der Fall Todesstrafe. Sigmund Freud Vorlesung 2014, Wien/Berlin: Turia + Kant. Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Das Perfor­ mative im Politischen, Zürich: diaphanes. Butler, Judith (2016): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versamm­ lung, Berlin: Suhrkamp. Butler, Judith (2019): Rücksichtslose Kritik. Körper, Rede, Aufstand, Konstanz: Konstanz University Press. Butler, Judith (2020): Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politi­ schen, Berlin: Suhrkamp.

426

Literatur Canguilhem, Georges (1974): Das Normale und das Pathologische, München: Han­ ser. Caygill, Howard (2013): On Resistance. A Philosophy of Defiance, London: Bloomsbury. Celikates, Robin (2017): „‚Veränderungen an sich sind immer das Ergebnis von Handlungen außerrechtlicher Natur‘ – Subjektive Rechte, ziviler Ungehorsam und Demokratie nach Arendt“, in: RphZ 1/2017, S. 31–44. Celikates, Robin (2019): „Constituent Power Beyond Exceptionalism: Irregular Migration, Disobedience, and (Re-)Constitution“, in: Journal of International Political Theory 15/1, S. 67–81. Celikates, Robin/Höntzsch, Frauke (Hg.) (2019): Themenschwerpunkt Widerstand, transnational, ZPTh 10/1. Chambers, Samuel A./Carver, Terrell (2008): Judith Butler and Political Theory. Troubling Politics, London/New York: Routledge. Cheah, Pheng (2006): Inhuman Conditions. On Cosmopolitanism and Human Rights, Cambridge, MA: Harvard University Press. Cheah, Pheng (2014): „Second-Generation Rights as Biopolitical Rights”, in: Costas Douzinas/Conor Gearty (Hg.), The Meanings of Rights. The Philosophy and Social Theory of Human Rights, Cambridge, UK: Cambridge University Press, S. 215–232. Colliot-Thélène, Catherine (2011): Demokratie ohne Volk, Hamburg: Hamburger Edition. Comtesse, Dagmar/Flügel-Martinsen, Oliver/Martinsen, Franziska/Nonhoff, Martin (Hg.) (2019): Radikale Demokratietheorie. Ein Handbuch, Berlin: Suhrkamp. Conze, Werner (1954): „Vom ‚Pöbel‘ zum ‚Proletariat‘. Sozialgeschichtliche Vor­ aussetzungen für den Sozialismus in Deutschland“, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41/4, S. 333–364. Cornelissen, Lars (2018): „On the Subject of Neoliberalism. Rethinking Resistance in the Critique of Neoliberal Rationality”, in: Constellations 25/1, S. 133–146. Därmann, Iris (2019): „Missverhältnisse. Nietzsche und die Sklaverei“, in: Nietz­ sche-Studien 48/1, S. 49–67. Därmann, Iris (2020): Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philoso­ phie, Berlin: Matthes & Seitz. Därmann, Iris (2021): Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi, Berlin: Matthes & Seitz. Dedek, Helge (2018): „Zur ‚Legalisierung des Natürlichen‘. Subjektives Recht und Gewalt“, in: Andreas Fischer-Lescano/Hannah Franzki/Johan Horst (Hg.): Ge­ genrechte. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 81–107. DeGooyer, Stephanie/Hunt, Alastair/Maxwell, Lida/Moyn, Samuel (2018): The Right to Have Rights, London/New York: Verso. Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frank­ furt a.M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (2000): Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

427

Literatur Derrida, Jacques (2001): Von der Gastfreundschaft, Wien: Passagen Verlag. Derrida, Jacques (2014): The Death Penalty. Volume I, Chicago/London: The Uni­ versity of Chicago Press. Deutscher, Penelope (2017): Foucault’s Futures. A Critique of Reproductive Rea­ son, New York: Columbia University Press. Dhawan, Nikita (2019): „Die affirmative Sabotage der Aufklärung. Die postkolonia­ le Zwickmühle“, in: ZfP 66/2, S. 183–198. Distelhorst, Lars (2016): Staat, Politik, Ethik. Zum Staatsverständnis Judith Butlers, Baden-Baden: Nomos. Douzinas, Costas (2000): The End of Human Rights, Oxford: Hart. Douzinas, Costas (2014a): „Philosophy and the Right to Resistance“, in: Costas Douzinas/Conor Gearty (Hg.), The Meanings of Rights. The Philosophy and Social Theory of Human Rights, Cambridge, UK: Cambridge University Press, S. 85–105. Douzinas, Costas (2014b): Philosophie und Widerstand in der Krise. Griechenland und die Zukunft Europas, Hamburg: Laika. Douzinas, Costas/Gearty, Conor (Hg.) (2014): The Meanings of Rights. The Philos­ ophy and Social Theory of Human Rights, Cambridge, UK: Cambridge Univer­ sity Press. Douzinas, Costas (2019): The Radical Philosophy of Rights, Abingdon, Oxon/New York, NY: Routledge. Dübgen, Franziska (2014): Was ist gerecht? Kennzeichen einer transnationalen solidarischen Politik, Frankfurt a.M./New York: Campus. Dübgen, Franziska (2016): Theorien der Strafe zur Einführung, Hamburg: Junius. Dübgen, Franziska (2017): „Fortschritt im Widerstreit – Dekolonisierung als Kri­ tik?“, in: DZPhil 65/1, S. 163–173. Dübgen, Franziska (2019): „Blinde Flecken der Politischen Philosophie? Impulse der Critical Philosophy of Race für die Analyse von Normativität, Politik und Recht“, in: DZPhil 67/4, S. 619–633. Dussel, Enrique (1989): Philosophie der Befreiung, Berlin: Argument. Dussel, Enrique (2000): „Ethische Prinzipien und Ökonomie aus der Perspektive der Ethik der Befreiung“, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philoso­ phieren 6, S. 17–29. dw.com (2019): „Erschütterndes Foto von ertrunkenen Flüchtlingen“, 26.06.2019, https://www.dw.com/de/erschütterndes-foto-von-ertrunkenen-flüchtlingen/a-493 59014, zugegriffen am 20.10.2021. dw.com (2020): „Moria: 12.000 Menschen und ein Corona-Fall“, 02.09.2020, https:/ /www.dw.com/de/moria-12000-menschen-und-ein-corona-fall/a-54794015, zugegriffen am 20.10.2021. dw.com (2021a): „Unterwegs im amerikanischen Grenzland: Die Flüchtlinge von Del Rio“, 21.09.2021, https://www.dw.com/de/unterwegs-im-amerikanischen-gr enzland-die-flüchtlinge-von-del-rio/a-59247070, zugegriffen am 20.10.2021.

428

Literatur dw.com (2021b): „Lager in US-Grenzort Del Rio komplett geräumt“, 24.09.2021, https://www.dw.com/de/lager-in-us-grenzort-del-rio-komplett-geräumt/a-59304 447, zugegriffen am 20.10.2021. Ehrmann, Jeanette (2015): „Konstitution der Rassismuskritik. Haiti und die Revo­ lution der Menschenrechte“, in: zfmr 1, S. 26–40. Ehrmann, Jeanette (2021): „Schwarzes Mittelmeer, weißes Europa. Kolonialität, Rassismus und die Grenzen der Demokratie“, in: Zeitschrift für Praktische Phi­ losophie 8/1, S. 419–466. Ehrmann, Jeanette (2023): Tropen der Freiheit. Die Haitianische Revolution und die Dekolonisierung des Politischen, Suhrkamp: im Erscheinen. Esmeir, Samera (2006): „On Making Dehumanization Possible“, in: Paper for Mod­ ern Language Association 121/5, S. 1544–1551. Esmeir, Samera (2012): Juridical Humanity. A Colonial History, Stanford: Stanford University Press. Esmeir, Samera (2015): „On the Coloniality of Modern Law“, in: Critical Analysis of Law 2/1, S. 19–41. Esposito, Roberto (2004): Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin: diaphanes. Esposito, Roberto (2008): Bios. Biopolitics and Philosophy, Minneapolis: Universi­ ty of Minnesota Press. Esposito, Roberto (2010): Person und menschliches Leben, Zürich/Berlin: diapha­ nes. Esposito, Roberto (2013): Terms of the Political. Community, Immunity, Biopoli­ tics, Fordham University Press. etiasvisa.com (2021): „EU kündigt neue FRONTEX-Verordnung zur Stärkung der Sicherheit an“, 17.06.2021, https://www.etiasvisa.com/de/aktuelles/eu-kundigt-fr ontex-verordnung, zugegriffen am 20.10.2021. Faets, Simon (2018): „Recht und Biopolitik: Zur Pathologie des modernen Rechts“, in: RphZ 4/2018, S. 386–399. Faets, Simon (2020): „Von der Solidarität zur Befreiung – Ansätze einer Ethik der Befreiung im Anschluss an den Exodus“, in: Josef Becker/Sebastian Kistler/Max Niehoff (Hg.), Grenzgänge der Ethik, Forum Sozialethik 22, Münster: Aschen­ dorff, S. 51–68. Faets, Simon/Weber, Nicki K. (2021): „Achille Mbembe: Postkoloniale Konstel­ lationen moderner Demokratien“, in: Hubertus Buchstein/Kerstin Pohl/Rieke Trimçev (Hg.), Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart, Frank­ furt a.M.10: Wochenschau Verlag, S. 333–344. Faist, Thomas (2021): „Die transnationalisierte soziale Frage: Migration und soziale Ungleichheit“, in: ZMF 1/1, S. 9–35. Falk, Francesca (2011): Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenzen kommt, München: Wilhelm Fink. Fanon, Frantz (1981): Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fanon, Frantz (2013): Schwarze Haut, weiße Masken, Wien/Berlin: Turia + Kant.

429

Literatur Fassin, Didier (2009): „Another Politics of Life is Possible“, in: Theory, Culture & Society 26/5, S. 44–60. Fassin, Didier (2011): Humanitarian Reason. A Moral History of the Present, Berkeley: University of California Press. Fassin, Didier (2017): Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung, Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2016. Berlin: Suhrkamp. Fassin, Didier (2018a): Der Wille zum Strafen, Berlin: Suhrkamp. Fassin, Didier (2018b): „Die Politik des Ermessensspielraums: Der ‚graue Scheck‘ und der Polizeistaat“, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 135–165. Fassin, Didier (Hg.) (2019): Deepening Divides. How Territorial Borders and Social Boundaries Delineate Our World, London: Pluto Press. Finkelde, Dominik/Inthorn Julia/Reder, Michael (Hg.) (2013): Normiertes Leben. Biopolitik und die Funktionalisierung ethischer Diskurse, Frankfurt a.M.: Cam­ pus. Fischer-Lescano, Andreas (2013): Rechtskraft, Berlin: August. Fischer-Lescano, Andreas (2018): „Subjektlose Rechte“, in: Andreas FischerLescano/Hannah Franzki/Johan Horst (Hg.), Gegenrechte. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 377–421. Fischer-Lescano, Andreas/Franzki, Hannah/Horst, Johan (Hg.) (2018): Gegenrech­ te. Recht jenseits des Subjekts, Tübingen: Mohr Siebeck. Flügel-Martinsen, Oliver/Martinsen, Franziska (Hg.) (2015): Demokratietheorie und Staatskritik aus Frankreich. Neuere Diskurse und Perspektiven, Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Folkers, Andreas/Lemke, Thomas (Hg.) (2014): Biopolitik. Ein Reader, Berlin: Suhrkamp. Folkers, Andreas (2018): Das Sicherheitsdispositiv der Resilienz. Katastrophische Risiken und die Biopolitik vitaler Systeme, Frankfurt a.M.: Campus. Forst, Rainer (2007): Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivisti­ schen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Forst, Rainer/Hartmann, Martin/Jaeggi, Rahel/Saar, Martin (Hg.) (2009): Sozialphi­ losophie und Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Forst, Rainer (2015): Normativität und Macht. Zur Analyse sozialer Rechtferti­ gungsordnungen, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel (1973): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München: Hanser. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frank­ furt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin: Merve.

430

Literatur Foucault, Michel (2002): „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits, Band II: 1970–1975, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 166–191. Foucault, Michel (2003): „Die Geburt der Sozialmedizin (Vortrag)“, in: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits, Band III: 1976–1979, Frank­ furt a.M.: Suhrkamp, S. 272–298. Foucault, Michel (2005): „Was ist Aufklärung?“, in: Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et Ecrits, Band IV: 1980–1988, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 687–707. Foucault, Michel (2006a): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2006b): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouverne­ mentalität II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2014): „In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung vom 17. März 1976“, in: Andreas Folkers/Thomas Lemke (Hg.), Biopolitik. Ein Reader, Berlin: Suhrkamp, S. 88–115. Foucault, Michel (2015): Die Strafgesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1972–1973, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel (2018): „Leben und etwas mehr als nur leben: Zur (Vor-)Ge­ schichte der Polizei“, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 39–51. Foucault, Michel (20195): Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Freyenhagen, Fabian (2015): „Honneth on Social Pathologies. A Critique”, in: Critical Horizons: Journal of Social and Critical Theory 16/2, S. 131–152. Gebhardt, Mareike (2020): „To Make Live and Let Die: On Sovereignty and Vul­ nerability in the EU Migration Regime“, in: Redescriptions: Political Thought, Conceptual History and Feminist Theory 23/2, S. 120–137. Gebhardt, Mareike (2021): „Die Regierung der Anderen. Von der mediterranen Todeslandschaft des europäischen Grenzregimes“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 8/1, S. 467–498. Gehring, Petra (2006): Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a.M.: Campus. Gehring, Petra (2010): Theorien des Todes zur Einführung, Hamburg: Junius. Gerhards, Helene/Braun, Kathrin (Hg.) (2019a): Biopolitiken. Regierungen des Lebens heute, Wiesbaden: Springer. Gerhards, Helene/Braun, Kathrin (2019b): „Leben, Zeit, Regierung – Eine sozial­ theoretische und konstruktivistische Neubestimmung des Konzepts Biopolitik“, in: Helene Gerhards/Kathrin Braun (Hg.), Biopolitiken. Regierungen des Le­ bens heute, Wiesbaden: Springer, S. 3–43. Gerhardt, Volker (1989): „Die Moral des Immoralismus. Nietzsches Beitrag zu einer Grundlegung der Ethik“, in: Günther Abel/Jörg Salaquarda (Hg.), Krisis der Metaphysik, Berlin/New York: de Gruyter, S. 411–447.

431

Literatur Gerhardt, Volker (1992): „Selbstbegründung. Nietzsches Moral der Individualität“, in: Nietzsche-Studien 21, S. 28–49. Geuss, Raymond (2013): Privatheit. Eine Genealogie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Girard, Philippe R. (2011): The Slaves Who Defeated Napoléon. Toussaint Louver­ ture and the Haitian War of Independence, 1801–1804, Tuscaloosa: University of Alabama Press. Golder, Ben (2015): Foucault and the Politics of Rights, Stanford: Stanford Univer­ sity Press. Goodin, Robert E. (2007): „Enfranchising all Affected Interests, and its Alterna­ tives“, in: Philosophy and Public Affairs 35, S. 40–68. Goodrich, Peter/Valverde, Mariana (Hg.) (2005): Nietzsche and Legal Theory. HalfWritten Laws, London/New York: Routledge. Gorgoglione, Ruggiero (2016): Paradoxien der Biopolitik. Politische Philosophie und Gesellschaftstheorie in Italien, Bielefeld: transcript. Graefe, Stefanie (2008): Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe, Frankfurt a.M./New York: Campus. Gramsci, Antonio (1991–2002): Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Ham­ burg/Berlin: Argument. Grümme, Bernhard/Werner, Gunda (Hg.) (2020): Judith Butler und die Theologie. Herausforderung und Rezeption, Bielefeld: transcript. Gündoğdu, Ayten (2015): Rightlessness in an Age of Rights. Hannah Arendt and the Contemporary Struggles of Migrants, Oxford/New York: Oxford University Press. Gündoğdu, Ayten (2021): „Grenzen der Menschenrechte. Territoriale Souveränität und die prekäre Rechtspersönlichkeit von Migrant*innen“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 8/1, S. 569–604. Habermas, Jürgen (1985): „Ziviler Ungehorsam. Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“, in: Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 79–99. Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (2011): „Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie“, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revo­ lution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp, S. 442–454. Hadden, Sally E. (2018): „Sklavenpatrouillen und die Polizei: Eine verwobene Geschichte der Rassenkontrolle“, in: Daniel Loick (Hg.), Kritik der Polizei, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 77–95. Hall, Stuart (2018): Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation, Berlin: Suhrkamp.

432

Literatur Hanschmann, Felix (2012): „Die Suspendierung des Konstitutionalismus im Herz der Finsternis. Recht, Rechtswissenschaft und koloniale Expansion des Deut­ schen Reiches“, in: Kritische Justiz 45/2, S. 144–162. Hanschmann, Felix/Wihl, Tim (2020): „Theorien transnationaler Rechtsprozesse“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theo­ rien des Rechts, Tübingen3: Mohr Siebeck, S. 323–341. Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York: Campus. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2003): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M.: Campus. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2004): Multitude. Krieg und Demokratie im Em­ pire, Frankfurt a.M./New York: Campus. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2010): Common Wealth. Das Ende des Eigen­ tums, Frankfurt a.M.: Campus. Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (2017): Unterscheiden und Herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart, Bielefeld: transcript. Hatab, Lawrence J. (1995): A Nietzschean Defense of Democracy. An Experiment in Postmodern Politics, Chicago: Open Court. Hauskeller, Christine (2000): Das paradoxe Subjekt. Widerstand und Unterwer­ fung bei Judith Butler und Michel Foucault, Tübingen: edition diskord. Hechler, Daniel/Philipps, Axel (2008): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht, Bielefeld: transcript. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhän­ digen Notizen und den mündlichen Zusätzen, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke, Bd. 7. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heidegger, Martin (2006): Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Hess, Sabine/Schmidt-Sembdner (2021): „Perspektiven der ethnographischen Grenzregimeforschung: Grenze als Konfliktzone“, in: ZMF 1/1, S. 197–215. Hilgendorf, Eric/Zabel, Benno (Hg.) (2021): Die Idee subjektiver Rechte, Ber­ lin/Boston: De Gruyter. Hindrichs, Gunnar (2017): Philosophie der Revolution, Berlin: Suhrkamp. Höffe, Otfried (1999): Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München: C.H. Beck. Honig, Bonnie (1993): Political Theory and the Displacement of Politics, Ithaca: Cornell University Press. Honneth, Axel (1994): Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphiloso­ phie, Frankfurt a.M.: Fischer. Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.) (2003): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

433

Literatur Honneth, Axel (2007): Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Honneth, Axel (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin: Suhrkamp. Horkheimer, Max (2007): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a.M.: Fischer Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (2012): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer. hrw.org (2021): „Frontex Failing to Protect People at EU Borders. Stronger Safe­ guards Vital as Border Agency Expands“, 23.06.2021, https://www.hrw.org/ news/2021/06/23/frontex-failing-protect-people-eu-borders, zugegriffen am 20.10.2021. Hughes, Everett (1962): „Good People and Dirty Work”, in: Social Problems 10/1, S. 3–11. Hunt, Alan/Wickham, Gary (1994): Foucault and Law. Towards a Sociology of Law as Governance, London/Boulder: Pluto Press. Illouz, Eva (2018): Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Berlin: Suhrkamp. Jaeggi, Rahel (2009): „Was ist Ideologiekritik“, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 266–299. Jaeggi, Rahel (2014): Kritik von Lebensformen, Berlin: Suhrkamp. Jaeggi, Rahel (20192): Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a.M.: Campus. Joas, Hans (2011): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschen­ rechte, Berlin: Suhrkamp. Joas, Hans (20136): Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Joseph, Celucien L. (2012): „‚The Haitian Turn‘. An Appraisal of Recent Literary and Historiographical Works on the Haitian Revolution“, in: The Journal of Pan African Studies 5/6, S. 37–55. Kaleck, Wolfgang (2018): „Kämpfe um das Recht. Menschenrechte zwischen Ni­ hilismus und Utopie“, in: Forschungsjournal soziale Bewegungen 31/1, S. 110– 117. Kant, Immanuel (1997): „Die Metaphysik der Sitten“, in: Immanuel Kant. Werk­ ausgabe in 12 Bänden, Bd. VIII. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kauffmann, Clemens/Sigwart, Hans-Jörg (Hg.) (2011): Biopolitik im liberalen Staat, Baden-Baden: Nomos. Kerner, Ina (2009): Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt a.M.: Campus. Kerner, Ina (2012): Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg: Junius. Kerner, Ina (2018): „Postcolonial Theories as Global Critical Theories”, in: Constel­ lations 25/4, S. 614–628.

434

Literatur Khader, Serene J. (2019): Decolonizing Universalism. Toward a Transnational Fem­ inist Ethic, New York: Oxford University Press. Khurana, Thomas (2017): „‚Recht auf Rechte‘ – Zur Naturalisierung und Politisie­ rung subjektiver Rechte nach Arendt“, in: RphZ 1/2017, S. 15–31. Krach, Sebastian (2021): „Kritik der Biopolitik. Überlegungen zur biopolitischen Gouvernementalität in Zeiten des Coronavirus und die Möglichkeit ihrer Kri­ tik“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 8/1, S. 149–180. Kuch, Hannes (2013): Herr und Knecht. Anerkennung und symbolische Macht im Anschluss an Hegel, Frankfurt a.M./New York: Campus. Kuster, Brigitta/Tsianos, Vassilis S. (2021): „Die verkörperte Identität der Migration und die Biometrie der Grenze“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 8/1, S. 513–546. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1985): Hegemony and Socialist Strategy. To­ wards a Radical Democratic Politics, London/New York: Verso. Laclau, Ernesto (2005): On Populist Reason, London/New York: Verso. Ladeur, Karl-Heinz (1978): Rechtssubjekt und Rechtstruktur. Versuch über die Funktionsweise der Rechtssubjektivität, Lahn-Giessen: Focus. Ladwig, Bernd (2006): „Regelverletzungen im demokratischen Rechtsstaat. Begriffliche und normative Bemerkungen zu Protest, zivilem Ungehorsam und Wi­ derstand“, in: Klaus Roth/Bernd Ladwig, Recht auf Widerstand? Ideengeschicht­ liche und philosophische Perspektiven. Studien zu Grund- und Menschenrech­ ten/12, Potsdam: Universitätsverlag Potsdam, S. 55–85. Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg/Berlin: Argument. Lemke, Thomas (2003): „Rechtssubjekt oder Biomasse? Reflexionen zum Verhält­ nis von Rassismus und Exklusion“, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 160–184. Lemke, Thomas (2004): „Die Regel der Ausnahme. Giorgio Agamben über Biopoli­ tik und Souveränität“, in: DZPhil 52/6, S. 943–964. Lemke, Thomas (2007): Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lemke, Thomas (2008): „Eine Analytik der Biopolitik. Überlegungen zu Geschich­ te und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs“, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1, S. 72–89. Lemke, Thomas (2011a): Foucault, Governmentality, and Critique, Boulder: Paradigm Publishers. Lemke, Thomas (2011b): „Critique and Experience in Foucault”, in: Theory, Cul­ ture & Society 28/4, S. 26–48. Lemke, Thomas (20132): Biopolitik zur Einführung, Hamburg: Junius. Lepold, Kristina/Mateo, Marina Martinez (2019): „Schwerpunkt: Critical Philoso­ phy of Race”, in: DZPhil 67/4, S. 572–588. Lepold, Kristina/Mateo, Marina Martinez (Hg.) (2021): Critical Philosophy of Race. Ein Reader, Berlin: Suhrkamp.

435

Literatur Lessenich, Stephan (2018): Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben, München: Piper. Lessenich, Stephan (2019): Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungspro­ blem, Ditzingen: Reclam. Lloyd, Moya (2007): Judith Butler. From Norms to Politics, Cambridge, UK/ Malden, MA: Polity Press. Loick, Daniel (2012): Kritik der Souveränität, Frankfurt a.M./New York: Campus. Loick, Daniel (2013): „Abhängigkeitserklärung. Recht und Subjektivität“, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin: Suhr­ kamp, S. 296–321. Loick, Daniel (2016): Der Missbrauch des Eigentums, Berlin: August. Loick, Daniel (2017a): Juridismus. Konturen einer kritischen Theorie des Rechts, Berlin: Suhrkamp. Loick, Daniel (2017b): „Subjektive Rechte und subjektive Bedürfnisse – Mensch­ lichkeit und Recht bei Marx, Weil und Esposito“, in: RphZ 1/2017, S. 44–54. Loick, Daniel (Hg.) (2018): Kritik der Polizei, Frankfurt a.M./New York: Campus. Loick, Daniel (2019): „Rechtskritik und Abolitionismus. Die Rechtstheorie der Black Panthers“, in: Juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft 3, S. 384–395. Loick, Daniel (2020a): „Subalterne Sozialität. Zur normativen Struktur von GegenGemeinschaften“, in: Michael Reder/Alexander Filipović/Dominik Finkelde/Jo­ hannes Wallacher (Hg.), Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Perspekti­ ve 4, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, S. 105–134. Loick, Daniel (2020b): „Kommentar zu Moria. Leben in der Todeswelt“, Sein und Streit, 18.10.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/kommentar-zu-mori a-leben-in-der-todeswelt.2162.de.html?dram:article_id=485910, zugegriffen am 25.10.2021. Loick, Daniel (2020c): „Europe’s Necropolitics Sparked the Fire at Moria Camp“, in: ROAR magazine, online, 19.9.2020, https://roarmag.org/essays/europe-necro politics-moria-camp/, Zugriff am 20.10.2021. Loick, Daniel (2021): „Das Anrecht auf Grausamkeit. Recht und Affekt; Moria, abolitionistische Strategien“, in: Kritische Justiz 54/3, S. 348–360. Loizidou, Elena (2007): Judith Butler: Ethics, Law, Politics, Abingdon: RoutledgeCavendish. Lorey, Isabell (2019): „Constituent Power of the Multitude“, in: Journal of Interna­ tional Political Theory 15/1, S. 119–133. Lorey, Isabell (2020): Die Regierung der Prekären, Wien/Berlin: Turia + Kant. Losurdo, Domenico (2012): Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Bd. 1: Die Kritik der Revolution von den jüdischen Propheten bis zum Sozialismus, Hamburg: Argument. Löwith, Karl (1995): Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg: Meiner.

436

Literatur Lucci, Antonio/Schomacher, Esther/Söffner, Jan (2020): Italian Theory, Leipzig: Merve. Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhr­ kamp. Lutz, Helma/Amelina, Anna (2021): „Gender in Migration Studies: From Feminist Legacies to Intersectional, Post- and Decolonial Prospects”, in: ZMF 1/1, S. 55– 75. Macpherson, Crawford B. (1973): Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Maihofer, Andrea (1992): Das Recht bei Marx. Zur dialektischen Struktur von Gerechtigkeit, Menschenrechten und Recht, Baden-Baden: Nomos. Marchart, Oliver (2005): „In the Name of the People. Popular Reason and the Subject of the Political”, in: Diacritics 35/3, S. 3–19. Marchart, Oliver (2010): Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp. Marchart, Oliver/Martinsen, Renate (Hg.) (2019a): Foucault und das Politische. Transdisziplinäre Impulse für die politische Theorie der Gegenwart, Wiesbaden: Springer. Marchart, Oliver/Martinsen, Renate (2019b): „Einleitung. Foucault und die politi­ sche Theorie“, in: Oliver Marchart/Renate Martinsen (Hg.), Foucault und das Politische. Transdisziplinäre Impulse für die politische Theorie der Gegenwart, Wiesbaden: Springer, S. 1–9. Martinsen, Franziska (2019): Grenzen der Menschenrechte. Staatsbürgerschaft, Zu­ gehörigkeit, Partizipation, Bielefeld: transcript. Marx, Karl (1956): „Zur Judenfrage“, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 1, Berlin: Dietz Verlag, S. 347–377. Marx, Karl (1962): Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band: Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 23, Berlin: Dietz Verlag. Marx, Karl (1968): „Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844“, in: Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 40, Berlin: Dietz Verlag, S. 465–588. Mateo, Marina Martinez (2018): Politik der Repräsentation. Zwischen Formierung und Abbildung, Wiesbaden: Springer. Mbembe, Achille (2001): On the Postcolony, Berkeley: University of California Press. Mbembe, Achille (2003): „Necropolitics“, in: Public Culture 15, S. 11–40. Mbembe, Achille (2014): Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin: Suhrkamp. Mbembe, Achille (2017): Politik der Feindschaft, Berlin: Suhrkamp. Mbembe, Achille (2018): „Sicherheit und Migration. Die große Vergrenzung“, taz, 14.07.2018, https://taz.de/Sicherheit-und-Migration/!5517629/, zugegriffen am 20.10.2021.

437

Literatur McCarthy, Thomas (2009): „‚Neo-Rassismus‘. Überlegungen zur rassistischen Ideo­ logie nach dem Niedergang der ‚Rasse‘“, in: Rainer Forst/Martin Hartmann/Ra­ hel Jaeggi/Martin Saar (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 545–567. McCarthy, Thomas (2015): Rassismus, Imperialismus und die Idee menschlicher Entwicklung, Berlin: Suhrkamp. Menke, Christoph (2003): „Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Diszi­ plinierung und ästhetischer Existenz“, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Mi­ chel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 283–300. Menke, Christoph (2004): Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Menke, Christoph (2008a): „Die ‚Aporien der Menschenrechte‘ und das ‚einzige Menschenrecht‘. Zur Einheit von Hannah Arendts Argumentation“, in: Eva Ge­ ulen/Kai Kauffmann/Georg Mein (Hg.), Hannah Arendt und Giorgio Agamben. Parallelen, Perspektiven, Kontroversen, München: Wilhelm Fink, S. 131–147. Menke, Christoph (2008b): „Subjektive Rechte. Zur Form der Differenz“, in: MRM – MenschenRechtsMagazin 2, S. 197–204. Menke, Christoph (2008c): „Subjektive Rechte. Zur Paradoxie der Form“, in: Zeit­ schrift für Rechtssoziologie 29/1, S. 81–108. Menke, Christoph (2009): „Das Nichtanerkennbare. Oder warum das moderne Recht keine ‚Sphäre der Anerkennung‘ ist“, in: Rainer Forst/Martin Hart­ mann/Rahel Jaeggi/Martin Saar (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 87–109. Menke, Christoph (2011): Recht und Gewalt, Berlin: August. Menke, Christoph/Raimondi, Francesca (Hg.) (2011): Die Revolution der Men­ schenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Ber­ lin: Suhrkamp. Menke, Christoph/Pollmann Arnd (2012): Philosophie der Menschenrechte zur Einführung, Hamburg: Junius. Menke, Christoph (2013): „Die ‚andre Form‘ der Herrschaft. Marx‘ Kritik des Rechts“, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.), Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, Berlin: Suhrkamp, S. 273–296. Menke, Christoph (2015): Kritik der Rechte, Berlin: Suhrkamp. Menke, Christoph (2017): Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Menke, Christoph/Schmidt, Christian/Zabel, Benno (2017): „‚Ich stehe jetzt vor einer unangenehmen Alternative‘ – Ein Gespräch über die Möglichkeiten, Gren­ zen und Gefahren einer Politisierung der subjektiven Rechte“, in: RphZ 1/2017, S. 54–80. Menke, Christoph (2018a): „Die Kritik des Rechts und das Recht der Kritik“, in: DZPhil 66/2, S. 143–161. Menke, Christoph (2018b): Am Tag der Krise. Kolumnen, Berlin: August.

438

Literatur Menke, Christoph (2018c): Autonomie und Befreiung. Studien zu Hegel, Berlin: Suhrkamp. Menke, Christoph (2019): „Die Macht des Neuen“, in: DZPhil 66/6, S. 861–869. Menke, Christoph (2021): „Verfassung und subjektive Rechte“, in: Eric Hilgen­ dorf/Benno Zabel (Hg.), Die Idee subjektiver Rechte, Berlin/Boston: De Gruy­ ter, S. 125–135. Mezes, Carolin/Opitz, Sven (2020): „Die (un)vorbereitete Pandemie und die Gren­ zen der Preparedness. Zur Biopolitik um COVID-19“, in: Leviathan 48/3, S. 381–406. Mignolo, Walter D. (2012): Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien/Berlin: Turia + Kant. Milan, Stefania/Treré, Emiliano/Masiero, Silvia (Hg.) (2021): COVID-19 from the Margins. Pandemic Invisibilities, Policies and Resistance in the Datafied Society, Amsterdam: Institute of Network Cultures. Mills, Charles W. (1997): The Racial Contract, Ithaca/London: Cornell University Press. Mills, Catherine (2018): Biopolitics, Abingdon: Routledge. Möllers, Christoph (2015a): Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin: Suhrkamp. Möllers, Christoph (2015b): „Jenseits des Eigenwillens“, Süddeutsche Zeitung, 22.12.2015, https://www.sueddeutsche.de/kultur/theorie-des-rechts-jenseits-d es-eigenwillens-1.2793701, zugegriffen am 14.11.2022. Morton, Stephen/Bygrave, Stephen (Hg.) (2008): Foucault in an Age of Terror. Es­ says on Biopolitics and the Defence of Society, New York: Palgrave Macmillan. Mourad, Roger (2003): „After Foucault. A New Form of Right”, in: Philosophy & Social Criticism 29/4, S. 451–481. Muhle, Maria (2013a): Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, München: Wilhelm Fink. Muhle, Maria (2013b): „From the Plebs to the Demos. Two Notions of Political Subjectification”, in: Anneka Esch-van Kan/Stephan Packard/Philipp Schulte (Hg.), Thinking Resistances. Current Perspectives on Politics and Communities in the Arts, Vol. 2: Thinking – Resisting – Reading the Political, Berlin/Zürich: diaphanes, S. 25–41. Muhle, Maria/Thiele, Kathrin (Hg.) (2011): Biopolitische Konstellationen, Berlin: August. Müller-Mall, Sabine (2012): Performative Rechtserzeugung. Eine theoretische An­ näherung, Weilerswist: Velbrück. Negri, Antonio (2011): „Konstituierende Macht“, in: in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karakayali/ Vassilis Tsianos (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 29–63. Nesbitt, Nick (2008): Universal Emancipation. The Haitian Revolution and the Radical Enlightenment, Charlottesville: University of Virginia Press.

439

Literatur Neuhouser, Frederick (2012): Pathologien der Selbstliebe. Freiheit und Anerken­ nung bei Rousseau, Berlin: Suhrkamp. Niederberger, Andreas (2021): „Migrationsethik in der Krise. Einige grundlegende philosophische Überlegungen“, in: ZMF 1/1, S. 97–125. Niesen, Peter (Hg.) (2019): Resistance, Disobedience, or Constituent Power? Emerging Narratives of Transnational Protest. Special Issue: Journal of Interna­ tional Political Theory 15/1. Nietzsche, Friedrich (2013): „Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift“, in: Friedrich Nietzsche. Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. 6. Herausgege­ ben von Claus-Artur Scheier, Hamburg: Meiner, S. 3–167. Novas, Carlos/Rose, Nikolas (2005): „Biological Citizenship“, in: Aihwa Ong/ Stephen J. Collier (Hg.), Global Assemblages. Technology, Politics, and Ethics as Anthropological Problems, Malden: Blackwell, S. 439–446. Opitz, Sven (2012): An der Grenze des Rechts. Inklusion/Exklusion im Zeichen der Sicherheit, Weilerswist: Velbrück. Owen, David (1995): Nietzsche, Politics and Modernity. A Critique of Liberal Reason, London: SAGE Publications. Paschukanis, Eugen (2003): Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Freiburg: Ca ira. Patterson, Orlando (1982): Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cam­ bridge, MA: Harvard University Press. Patton, Paul (2005): „Foucault, Critique and Rights”, in: Critical Horizons 6/1, S. 267–287. Patton, Paul (2007): „Agamben and Foucault on Biopower and Biopolitics”, in: Matthew Calarco/Steven DeCaroli (Hg.), Giorgio Agamben. Sovereignty and Life, Stanford: Stanford University Press, S. 203–218. Patton, Paul (2011): „Bio-Power and Non-Sovereign Rights“, in: Journal of Philoso­ phy: A Cross-Disciplinary Inquiry 6/15, S. 65–71. Petryna, Adriana (2002): Life Exposed. Biological Citizens after Chernobyl, Prince­ ton: Princeton University Press. Pichl, Maximilian (2012): „Die Verrechtlichung der Welt – Ansätze einer postkolo­ nialen Rechtstheorie“, in: Kritische Justiz 45/2, S. 131–143. Pichl, Maximilian/Tohidipur, Timo (Hg.) (2019): An den Grenzen Europas und des Rechts. Interdisziplinäre Perspektiven auf Migration, Grenzen und Recht, Bielefeld: transcript. Pieper, Marianne/Atzert, Thomas/Karakayali, Serhat/Tsianos, Vassilis (2011a): „Bio­ politik in der Debatte – Konturen einer Analytik der Gegenwart mit und nach der biopolitischen Wende“, in: Marianne Pieper/Thomas Atzert/Serhat Karaka­ yali/Vassilis Tsianos (Hg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 7–29. Pieper, Marianne/Atzert, Thomas/Karakayali, Serhat/Tsianos, Vassilis (Hg.) (2011b): Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissen­ schaften.

440

Literatur Polanyi, Karl (201411): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Suhrkamp. Posselt, Gerald/Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Seitz, Sergej (Hg.) (2018): Judith But­ lers Philosophie des Politischen. Kritische Lektüren, Bielefeld: transcript. Poulantzas, Nicos (1972): „Aus Anlaß der marxistischen Rechtstheorie“, in: Nor­ bert Reich (Hg.), Marxistische und sozialistische Rechtstheorie, Frankfurt a.M.: Athenäum Fischer, S. 181–199. Preuß, Ulrich K. (1979): Die Internalisierung des Subjekts. Zur Kritik der Funkti­ onsweise des subjektiven Rechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Quadflieg, Dirk (2006): „Das ‚Begehren‘ des Subjekts. Anmerkungen zum Konzept des Widerstands bei Judith Butler“, in: Reinhard Heil/Andreas Hetzel (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld: transcript, S. 117–123. Quijano, Aníbal (2019): Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinameri­ ka, Wien/Berlin: Turia + Kant. Rabinow, Paul (1999): French DNA. Trouble in Purgatory, Chicago/London: Uni­ versity of Chicago Press. Rabinow, Paul/Rose, Nikolas (2006): „Biopower Today“, in: BioSocieties 1/2, S. 195–217. Raimondi, Francesca (2014): Die Zeit der Demokratie. Politische Freiheit nach Carl Schmitt und Hannah Arendt, Konstanz: Konstanz University Press. Rancière, Jacques (2011): „Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?“, in: Chris­ toph Menke/Francesca Raimondi (Hg.), Die Revolution der Menschenrechte. Grundlegende Texte zu einem neuen Begriff des Politischen, Berlin: Suhrkamp, S. 474–491. Rancière, Jacques (20166): Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rasmussen, Kim Su (2011): „Foucault’s Genealogy of Racism“, in: Theory, Culture & Society 28/5, S. 34–51. Rawls, John (1975): Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rawls, John (2002): Das Recht der Völker, Berlin: De Gruyter. Reder, Michael (2018): „Natur als Bezugspunkt der praktischen Philosophie. Ein Problemaufriss“, in: Michael Reder/Alexander Filipović/Dominik Finkelde/Jo­ hannes Wallacher (Hg.), Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Perspekti­ ve 2, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, S. 15–27. Reder, Michael (2020): „Philosophie des Widerstands“, in: Barbara Schellham­ mer/Berthold Goerdeler (Hg.), Bildung zum Widerstand, Darmstadt: wbg, S. 269–290. Reder, Michael/Stüber, Karolin-Sophie (2020): „Solidarität in der Krise. Für ein Verständnis politischer Solidarität in Corona-Zeiten im Anschluss an H. Arendt“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie 7/2, S. 443–466.

441

Literatur Reder, Michael (2021): „Subjektive Rechte und die Politik der Differenz“, in: Eric Hilgendorf/Benno Zabel (Hg.), Die Idee subjektiver Rechte, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 239–259. Rose, Nikolas (2006): The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power, and Subjectiv­ ity in the Twenty-First Century, Princeton: Princeton University Press. Rose, Jeff (2021): „Biopolitics, Essential Labor, and the Political-Economic Crises of COVID-19“, in: Leisure Sciences 43/1–2, S. 211–217. Rousseau, Jean-Jacques (20086): Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn: Ferdi­ nand Schöningh. Ruda, Frank (2011): Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ‚Grundlinien der Philo­ sophie des Rechts‘, Konstanz: Konstanz University Press. Saage-Maaß, Miriam/Terwindt, Carolijn (2020): „Recht im Kontext imperialer Le­ bensweise“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, Tübingen3: Mohr Siebeck, S. 341–359. Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M.: Campus. Saar, Martin (2009): „Genealogische Kritik“, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 247–266. Saar, Martin (2019): „Ordnung – Praxis – Subjekt. Oder: Was ist Sozialphiloso­ phie?“, in: WestEnd: Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2/2019, S. 161–174. Said, Edward (2009): Orientalismus, Frankfurt a.M.: Fischer. Sarasin, Philipp/Tanner, Jakob (Hg.) (1998): Physiologie und industrielle Gesell­ schaft. Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhun­ dert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sarasin, Philipp (2001): Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765– 1914, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sarasin, Philipp (2003): „Zweierlei Rassismus? Die Selektion des Fremden als Prob­ lem in Michel Foucaults Verbindung von Biopolitik und Rassismus“, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 55–80. Sarasin, Philipp/Berger, Silvia/Hänseler, Marianne/Spörri, Myriam (Hg.) (2007): Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870– 1920, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sarasin, Philipp (2009): Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schellhammer, Barbara/Goerdeler, Berthold (Hg.) (2020): Bildung zum Wider­ stand, Darmstadt: wbg. Schippers, Birgit (2014): The Political Philosophy of Judith Butler, London/New York: Routledge. Schmidt, Christian (2017): „Subjektive Rechte und das leere Zentrum der Demo­ kratie“, in: RphZ 2/2017, S. 190–205. Scholz, Sally J. (2008): Political Solidarity, University Park, PA: The Pennsylvania State University Press.

442

Literatur Schönherr-Mann, Hans-Martin (2018): „Gefährdete oder gefährliche ‚Körper auf der Straße‘. Butlers performative politische Philosophie des Protests“, in: Gerald Posselt/Tatjana Schönwälder-Kuntze/Sergej Seitz (Hg.), Judith Butlers Philoso­ phie des Politischen. Kritische Lektüren, Bielefeld: transcript, S. 233–250. Schönwälder-Kuntze, Tatjana (2010): „Zwischen Ansprache und Anspruch. Judith Butlers moraltheoretischer Entwurf“, in: DZPhil 58/1, S. 83–104. Schubert, Karsten (2018): Freiheit als Kritik. Sozialphilosophie nach Foucault, Bie­ lefeld: transcript. Schulze Wessel, Julia (2017): Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flücht­ lings, Bielefeld: transcript. Schwenken, Helen (2018): Globale Migration zur Einführung, Hamburg: Junius. Seitz, Sergej/Schönwälder-Kuntze, Tatjana/Posselt, Gerald (2018): „Dimension des Politischen. Butler und die politische Philosophie“, in: Gerald Posselt/Tatjana Schönwälder-Kuntze/Sergej Seitz (Hg.), Judith Butlers Philosophie des Politi­ schen. Kritische Lektüren, Bielefeld: transcript, S. 7–23. Sievi, Luzia (2017): Demokratie ohne Grund – kein Grund für Demokratie? Zum Verhältnis von Demokratie und Poststrukturalismus, Bielefeld: transcript. Siisiäinen, Lauri (2019): Foucault, Biopolitics and Resistance, London/New York: Routledge. Sobrino, Jon (20082): Christologie der Befreiung, Ostfildern: Grünewald. Spieker, Manfred (Hg.) (2009): Biopolitik. Probleme des Lebensschutzes in der Demokratie, Paderborn: Ferdinand Schöningh. Spinoza, Baruch de (20182): Theologisch-politischer Traktat, in: Baruch de Spinoza. Sämtliche Werke, Bd. 3. Herausgegeben von Wolfgang Bartuschat, Hamburg: Meiner. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008a): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien/Berlin: Turia + Kant. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008b): Righting Wrongs – Unrecht richten, Zü­ rich/Berlin: diaphanes. Stahl, Titus (2011): „Verdinglichung als Pathologie zweiter Ordnung“, in: Deut­ sche Zeitschrift für Philosophie 59/5, S. 731–746. Stahl, Titus (2013): Immanente Kritik. Elemente einer Theorie sozialer Praktiken, Frankfurt a.M.: Campus. Stegmaier, Werner (1994): Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, Darmstadt: WBG. Stegmaier, Werner (20203): Friedrich Nietzsche zur Einführung, Hamburg: Junius. Stingelin, Martin (Hrsg.) (2003): Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M.: Suhr­ kamp. Stoler, Ann Laura (1995): Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things, Durham/London: Duke University Press. sueddeutsche.de (2020): „Griechische Regierung: Migranten haben Feuer in Moria gelegt“, 10.09.2020, https://www.sueddeutsche.de/politik/moria-feuer-brandstift ung-1.5027699, zugegriffen am 20.10.2021.

443

Literatur sueddeutsche.de (2021): „Endstation Texas“, 21.09.2021, https://www.sueddeutsche .de/politik/usa-texas-migranten-1.5416415, zugegriffen am 20.10.2021. Sylvia, J. J. (2020): „The Biopolitics of Social Distancing”, in: Social Media + Society 6/3. tagesschau.de (2021a): „Umstrittenes Flüchtlingslager auf Samos eröffnet“, 18.09.2021, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/samos-fluechtlingsla ger-107.html, zugegriffen am 20.10.2021. tagesschau.de (2021b): „Kritik an Biden-Regierung wächst“, 21.09.2021, https://ww w.tagesschau.de/ausland/amerika/usa-kritik-berittene-polizei-fluechtlinge-101.h tml, zugegriffen am 20.10.2021. tagesschau.de (2021c): „Berittene US-Polizei löst Empörung aus“, 21.09.2021, https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/berittene-polizei-us-grenze-flue chtlinge-101.html, zugegriffen am 22.10.2021. Teubner, Gunther (Hg.) (1987): Juridification of Social Spheres. A Comparative Analysis in the Areas of Labor, Corporate, Antitrust and Social Welfare Law, Berlin: deGruyter. Theurer, Karina/Kaleck, Wolfgang (Hg.) (2020a): Dekoloniale Rechtskritik und Rechtspraxis, Baden-Baden: Nomos. Theurer, Karina/Kaleck, Wolfgang (2020b): „Dekolonisierung des Rechts – Ambi­ valenzen und Potenzial“, in: Karina Theurer/Wolfgang Kaleck (Hg.), Dekolonia­ le Rechtskritik und Rechtspraxis, Baden-Baden: Nomos, S. 11–59. Thüring, Hubert (2003): „Form und Unform, Wert und Unwert des Lebens bei Nietzsche“, in: Martin Stingelin (Hg.), Biopolitik und Rassismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 27–55. van den Daele, Wolfgang (Hg.) (2005): Biopolitik. Leviathan, Sonderheft 23, Wies­ baden: VS Verlag. Varela, María do Mar Castro/Dhawan, Nikita (20203): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript. Virno, Paolo (2005): Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärti­ gen Lebensformen, Berlin: ID-Verlag. Vogl, Joseph (2015): Der Souveränitätseffekt, Zürich/Berlin: diaphanes. Voigt, Rüdiger (Hg.) (2012): Sicherheit versus Freiheit. Verteidigung der staatli­ chen Ordnung um jeden Preis?, Wiesbaden: Springer. von der Pfordten, Dietmar (2011): Rechtsethik, München: C.H. Beck. von der Pfordten, Dietmar (2016): Menschenwürde, München: C.H. Beck. von Redecker, Eva (2011): Zur Aktualität von Judith Butler. Einleitung in ihr Werk, Wiesbaden: VS Verlag. Wade, Francis/Spivak, Gayatri Chakravorty (2021): „Gayatri Spivak: ‘The Subaltern Speaks Through Dying’. A conversation on the educational empowerment of rural poor in India, and the evolution of Spivak’s thinking about state and citizen“, The Nation, 06.07.2021, https://www.thenation.com/article/culture/int erview-gayatri-chakravorty-spivak, zugegriffen am 25.10.2021.

444

Literatur Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden So­ ziologie, Tübingen: Mohr Siebeck. Wieder, Anna (2019): „Das Versprechen der Norm und ihre Drohung. Performati­ vität und Normativität bei Judith Butler“, in: Zeitschrift für Praktische Philoso­ phie 6/1, S. 215–238. Zabel, Benno (2017): „Das Recht der liberalen Moderne. ‚Plurale‘ Ordnungen zwischen Norm, Natur und Politik“, in: RphZ 2/2017, S. 136–154. zeit.de (2020): „Erste Migranten beziehen provisorisches Lager auf Lesbos“, 13.09.2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-09/moria-gr iechenland-fluechtlingslager-zeltlager-proteste, zugegriffen am 20.10.2021. zeit.de (2021a): „Berittene US-Polizei löst Empörung aus“, 21.09.2021, https://www .zeit.de/politik/ausland/2021-09/texas-berittene-polizei-fluechtlinge-haiti-gewalt, zugegriffen am 20.10.2021. zeit.de (2021b): „Einsatz gegen Migranten – Kritik an US-Beamten auf Pferden“, 21.09.2021, https://www.zeit.de/news/2021-09/20/riesiges-migrantencamp-in-del -rio-usa-schieben-menschen-ab, zugegriffen am 20.10.2021. Žižek, Slavoj (2014a): Weniger als nichts. Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Berlin: Suhrkamp. Žižek, Slavoj (2014b): „Welcome to the ‚spiritual kingdom of animals’”, in: Costas Douzinas/Conor Gearty (Hg.) (2014): The Meanings of Rights. The Philosophy and Social Theory of Human Rights, Cambridge, UK: Cambridge University Press, S. 298–318. Zurn, Christopher (2011): “Social Pathologies as Second-Order Disorders”, in: Danielle Petherbridge (Hg.), Axel Honneth. Critical Essays, Leiden/Boston: Brill, S. 345–370.

445