Biologische und soziale Grundlagen der Sprache: interdisziplinäres Symposium des Wissenschaftsbereiches Germanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 17. - 19. Oktober 1989 [1. Aufl] 9783111353913, 9783484302808

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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Biologische und soziale Grundlagen der Sprache: interdisziplinäres Symposium des Wissenschaftsbereiches Germanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 17. - 19. Oktober 1989 [1. Aufl]
 9783111353913, 9783484302808

Table of contents :
VORWORT
Einführung
SPRACHE, SPRACHFÄHIGKEIT UND SPRACHWANDEL
Probleme der biologischen Erklärung natürlicher Sprache
Über Spezifik und Entstehung der Sprachfähigkeit
Grammatisches und Soziales beim Sprachwandel
SPRACHURSPRUNG UND SPRACHKONVENTION
Das anthropologisch-historische Umfeld für die Herausbildung der Sprachfähigkeit
Einige philosophische Überlegungen zur Einheit von Arbeit, Denken und Sprache
Zur Evolution von Sprachfähigkeit und Sprache
Regeln und Fakten. Zur Auseinandersetzung Chomskys mit Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins
TIERISCHE UND MENSCHLICHE KOMMUNIKATION
Verhaltensbiologische Aspekte der Sprachevolution
Kommunikation und Konflikt - Überlegungen zu einem Aspekt des sprachlichen Evolutionspotentials
Tierisches Kommunikations- und menschliches Sprachvermögen im Vergleich
Situativität und Sprachevolution
SPRACHERWERB, PRÄDISPOSITIONEN UND UNIVERSALIEN
Biologische Faktoren des Spracherwerbs
Prädispositionen zur Sprache
Biologische und funktionale Universalien
SYNTAKTISCHE UND SEMANTISCHE ASPEKTE NATÜRLICHER SPRACHE
Kompositionsprinzipien und grammatische Struktur
Sprechen wir in Sätzen? Über Einheitenbildung im Alltagsdialog
Zum Problem der kohärenten Verben im Deutschen
Kompositionsprinzipien in der Semantischen Form und das Problem der Autonomie der Semantik
Brauchen wir für NPs eine eigene Thetatheorie?
Zur semantischen Struktur von Präfixverben
Infinite Verbprojektionen im Vorfeld deutscher Sätze
FÜR UND WIDER DIE AUTONOMIE DER GRAMMATIK
Zur biologischen Autonomie der Grammatik
Umweltparameter und Satzform
Platos Problem und die Lernbarkeit der Syntax
Zur Autonomie-Hypothese der generativen Grammatik
Ist die Grammatiktheorie noch zu retten?
AUSKLANG
Anstatt eines Schlußwortes

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Linguistische Arbeiten

280

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese

Biologische und soziale Grundlagen der Sprache Interdisziplinäres Symposium des Wissenschaftsbereiches Germanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 17.-19. Oktober 1989

Herausgegeben von Peter Suchsland

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Biologische und soziale Grundlagen der Sprache : interdisziplinäres Symposium des Wissenschaftsbereiches Germanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 17.-19. Oktober 1989 / hrsg. von Peter Suchsland. - Tübingen : Niemeyer, 1992 (Linguistische Arbeiten ; 280) NE: Suchsland, Peter [Hrsg.]; Universität / Wissenschaftsbereich Deutsch; GT ISBN 3-484-30280-1

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist phne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren

INHALT VORWORT Peter Suchsland

VII Einführung

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SPRACHE, SPRACHFÄHIGKEIT UND SPRACHWANDEL Manfred Bierwisch Gabor Györi Wolfgang Ullrich Wurzel

Probleme der biologischen Erklärung natürlicher Sprache Über Spezifik und Entstehung der Sprachrahigkeit Grammatisches und Soziales beim Sprachwandel

7 47 55

SPRACHURSPRUNG UND SPRACHKONVENTION Joachim Herrmann Hans-Günter Eschke Bruno Strecker Gisela Harros

Das anthropologisch-historische Umfeld für die Herausbildung der Sprachfähigkeit Einige philosophische Überlegungen zur Einheit von Arbeit, Denken und Sprache Zur Evolution von Sprachfähigkeit und Sprache Regeln und Fakten. Zur Auseinandersetzung Chomskys mit Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins

69 79 85

93

TIERISCHE UND MENSCHLICHE KOMMUNIKATION Günter Tembrock Wolfdietrich Härtung

Tamila Sessiaschwili Hans-Jürgen Bastion

Verhaltensbiologische Aspekte der Sprachevolution Kommunikation und Konflikt Überlegungen zu einem Aspekt des sprachlichen Evolutionspotentials Tierisches Kommunikations- und menschliches Sprachvermögen im Vergleich Situativität und Sprachevolution

103

117 127 137

VI

SPRACHERWERB, PRÄDISPOSITIONEN UND UNIVERSALIEN Sascha W. Felix Klaus Richter Wolfgang Motsch

Biologische Faktoren des Spracherwerbs Prädispositionen zur Sprache Biologische und funktionale Universalien

143 161 167

SYNTAKTISCHE UND SEMANTISCHE ASPEKTE NATÜRLICHER SPRACHE Arnim von Stechow Rainer Rath Inger Rosengren Anita Steube

Christine Römer StojanSarlov Brigitta Haftka

Kompositionsprinzipien und grammatische Struktur Sprechen wir in Sätzen? Über Einheitenbildung im Alltagsdialog Zum Problem der kohärenten Verben im Deutschen Kompositionsprinzipien in der Semantischen Form und das Problem der Autonomie der Semantik Brauchen wir für NPs eine eigene Thetatheorie? Zur semantischen Struktur von Präfixverben Infinite Verbprojektionen im Vorfeld deutscher Sätze

175 249 265

299 311 317 321

FÜR UND WIDER DIE AUTONOMIE DER GRAMMATIK Gisbert Fanselow Pavel Borissevitch Peter Eisenberg Jürgen Tesak Peter Suchsland

Zur biologischen Autonomie der Grammatik Umweltparameter und Satzform Platos Problem und die Lernbarkeit der Syntax Zur Autonomie-Hypothese der generativen Grammatik Ist die Grammatiktheorie noch zu retten?

335 357 371 379 385

Anstatt eines Schlußwortes

393

AUSKLANG Anita Steube

VORWORT Der vorliegende Band vereinigt die Haupt- und die Korreferate eines Symposiums, das unter dem Titel "Biologische und soziale Grundlagen der Sprache" vom 17. bis zum 19. Oktober 1989 in Jena, am damaligen Wissenschaftsbereich Germanistik der Sektion Sprachwissenschaft, aus dem das heutige Institut für Germanistische Sprachwissenschaft hervorgegangen ist, veranstaltet wurde. Das Symposium fand zu Beginn der großen Wende in der Deutschen Demokratischen Republik statt. Konzipiert worden war es etwa im Herbst 1987, zu einer Zeit, in der, wie Manfred Bierwisch einmal gesagt hat, es durchaus noch etwas Halsbrecherisches hatte, in der DDR nach biologischen Grundlagen der Sprache zu fragen. Die Wende und die mit ihr verbundenen Umbrüche, die raschen Entwicklungen des Jahres 1990 auf die deutsche Einheit hin haben freilich manche ursprüngliche Planungen hinfallig werden lassen. So auch die der Publikation der Symposiumsmaterialien. Zunächst war die Veröffentlichung in der Reihe "Wissenschaftliche Beiträge der Friedrich-Schiller-Universität Jena" vorgesehen. Die nach der Währungsunion sich ergebenden finanziellen Schwierigkeiten unserer Universität machten es jedoch, wie sich etwa anderthalb Jahre nach dem Stattfinden des Symposiums herausstellte, unmöglich, diese Version der Veröffentlichung beizubehalten. Dankenswerterweise haben sich Verlag und Herausgeber der Reihe "Linguistische Arbeiten" sehr schnell dafür entschieden, das Manuskript zur Publikation anzunehmen. Nach reiflichem Überlegen und nach mehreren Gesprächen mit beteiligten und nichtbeteiligten Kollegen habe ich mich entschlossen, das Manuskript im wesentlichen so zu veröffentlichen, wie es im unmittelbaren Anschluß an das Symposium bis zum Februar 1990 entstanden ist (das schließt ein, daß die Arbeiten einiger Beiträger erheblich umfangreicher geworden sind, als es ihre Vorträge auf dem Symposium waren). Vielleicht ist der eine oder andere Beitrag auch im Auge des Autors nicht mehr in allen Punkten aktuell. Aber ich sehe den Wert der Publikation nicht allein in der Neuheit aller ihrer Ideen. Sie dokumentiert gewissermaßen in einer Momentaufnahme des Herbstes 1989, was damals in der Sprachwissenschaft und den angrenzenden Disziplinen in der DDR schon und noch möglich war, sowohl an Öffnung nach außen wie auch an Beharrung auf Überkommenem, und verkörpert in diesem Sinne ein Stück jüngerer und durchaus bei der Gestaltung der Wissenschaftslandschaft der neuen Bundesländer lebhaft nachwirkender Wissenschaftsgeschichte. Erfreulicherweise konnten Beiträge veröffentlicht werden, deren Autoren am Symposium teilzunehmen verhindert waren oder deren Vortrag aus Zeitgründen nicht mehr möglich war. Zum Glück haben nur sehr wenige Referenten ihre gehaltenen oder angekündigten Vorträge nicht eingereicht. Die Anordnung der Beiträge entspricht im wesentlichen der Reihenfolge, in der sie als Vorträge auf dem Symposium gehalten worden sind. Die chronologische Anordnung der Beiträge gibt so ein annäherndes Bild nicht nur vom Inhalt, sondern auch vom Verlauf des Symposiums. Die Beiträge sind zu thematischen Blöcken zusammengefaßt und mit einem passend erscheinenden Zwischentitel versehen worden. Der jeweils erste Beitrag eines solchen Blocks war das Hauptreferat, die folgenden die dazugehörigen Korreferate.

VIII

Peter Suchsland

Einige Autoren haben sich dankenswerterweise der Mühe unterzogen, den Dialog mit den Korreferenten aufzunehmen und fortzuführen, so daß in der Publikation noch etwas von dem Charakter eines anregenden Gesprächs, den unser Symposium hatte, nachklingt. Ich danke allen Beiträgem für ihre Mitwirkung an dieser Publikation, ich danke dem Max Niemeyer Verlag und den Herausgebern der Reihe "Linguistische Arbeiten" für ihre rasche Bereitschaft, die Publikation zu übernehmen. Dem Universitätsverlag Jena GmbH und der SatzStudio Sommer GmbH Jena danke ich für die Mühe, die sie sich mit der Herstellung des reproduktionsreifen, schreibtechnisch bisweilen komplizierten Manuskripts gemacht haben. Der Leitung der Friedrich-Schiller-Universität bin ich zu Dank dafür verpflichtet, daß sie schließlich doch noch die Herstellung dieses Manuskripts finanziell so großzügig getragen hat. Unseren Autoren wünsche ich eine gute Aufnahme der Publikation, den Lesern wenigstens einen Teil jenes geistigen Vergnügens, das wir einander und der Zuhörerschaft unseres Symposiums bereiten konnten. Möge die Edition dazu beitragen, daß wir unser gemeinsames Nachdenken über Sprache im breiteren Kreis verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen fortsetzen.

Jena, im August 1991

Peter Suchsland

Peter Suchsland Einführung Sprachkenntnis, ihr Wesen, ihr Ursprung und ihre Verwendung - so sei in Anspielung auf eines der großen Bücher von Noam Chomsky gesagt - waren die Themen der Referate, Diskussionen und vieler Gespräche am Rande des Symposiums, das mit dem vorliegenden Band dokumentiert wird. Der Mensch ist ein bio-psycho-soziales Wesen, ein Wesen mit höchst komplexen inneren und äußeren Eigenschaften, und die Sprache ist eines der bedeutendsten Charakteristika vielleicht überhaupt das wichtigste Charakteristikum - des Menschen, und ganz offensichtlich eines, das - wie der Mensch selbst - biologische, psychologische und sozial^ Dimensionen hat. Über viele Jahre hinweg herrschte in der Sprachwissenschaft der DDR die Auffassung von der Sprache als einer sozial determinierten Erscheinung vor. Das war, wenn man von der Dogmatisierung absieht, sicher eine richtige Auffassung, aber sie enthielt doch nur die halbe Wahrheit. Die Entwicklung der Linguistik außerhalb der DDR verwies uns darauf, daß wir die Einsicht von der Sprache als einer biologisch fundierten Erscheinung stärker zu Geltung zu bringen hatten. Natürlich wäre diese Einsicht allein auch nur die halbe Wahrheit gewesen. Das Symposium stellte sich daher das Ziel, dem Verhältnis, den Beziehungen zwischen den natürlichen und den gesellschaftlichen Bedingtheiten der Sprache ein Stück weiter auf die Spur zu kommen. Die Erkenntnisse, die auf dem Weg zu einem solchen Ziel gewonnen werden können, sind Ergebnisse wie Voraussetzungen der Grundlagenforschung mehrerer Zweige der Humanwissenschaften: Sie betreffen unsere Vorstellungen vom Menschen, die ja nicht als ein unveränderbares und unverrückbares Standbild begriffen werden dürfen. An diesen Erkenntnissen sind aber auch - oder sollten es wenigstens sein - mehrere Wissenschaftsdisziplinen interessiert, die pädagogisch- oder therapeutisch-praktische Aufgaben zu bewältigen haben. Offensichtlich übt das Thema zur Zeit eine gewisse Faszination auf Vertreter verschiedenster Disziplinen aus. Die mit dem Thema verbundenen Fragen sind offenbar nicht eine private Marotte einzelner linguistischer oder nichtlinguistischer Kollegen. Der Zeitgeist - um eines der "brisanten" Wörter aus dem Opus von Gisela Harras zu verwenden - scheint sie hervorzubringen und umzutreiben. Solche Fragen spielten auf der 11. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft im Februar 1989 in Osnabrück eine zentrale Rolle. Dort gab es ein Podiumsgespräch mit streitbaren Partnern aus verschiedenen Disziplinen, und es gab in der jüngeren Vergangenheit auch andernorts Veranstaltungen zu dieser Problematik. Ein Indiz für diese Faszination scheint, daß sich auch eine so große Zahl von Vertretern unterschiedlicher Disziplinen auf dem Symposium in Jena zusammengefunden hatte, um gemeinsam über biologische und soziale Grundlagen nachzudenken und die Gedanken auszutauschen. Die in der DDR und auch anderswo auffindbaren, teilweise kanonisierten, Antworten waren - wie angedeutet - nie so recht befriedigend. Selbstverständlich war nicht zu erwarten, daß wir innerhalb eines dreitägigen Symposiums auf diese Fragen die nunmehr rund-

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Peter Suchsland

um überlegenen Antworten finden könnten. Es war aber schon ein Erfolg, daß wir im Verlauf dieser Tagung manche Frage genauer formuliert haben und damit einer guten Antwort darauf schon ein Stück näher gekommen sind. Auf die Fragen selber wird sogleich zurückzukommen sein. Zunächst jedoch noch ein paar Bemerkungen zur Geschichte dieses Unternehmens. Am Anfang der achtziger Jahre kamen Hans Hiebsch und ich auf die Idee, eine Gesprächsrunde mit sachkundigen und interessierten Kollegen unterschiedlicher Disziplinen, die theoretisch und praktisch mehr oder weniger eng mit dem facettenreichen Phänomen der menschlichen Sprache befaßt sind, nach Jena einzuladen. Wir wollten das informell, als einen eher spontanen Meinungsaustausch inszenieren. Wahrscheinlich gerade deswegen, wegen der Absicht zur Spontaneität (und der darin steckenden Kontradiktion) kam das Unternehmen damals nicht zustande. Vor nunmehr fast fünf Jahren erörterte ich das Projekt von neuem, diesmal mit Manfred Bierwisch. Er machte mir Mut, nicht zuletzt durch die Zustimmung zu meiner Meinung, daß in der Wissenschaft und speziell in der Linguistik der DDR das Problem des Verhältnisses von Biologischem und Sozialem in der Sprache nicht nur nicht erledigt ist, sondern weithin entschieden zu einseitig betrachtet wird. Die Resonanz auf meine Einladung zum Symposium, das nun nicht mehr so informell blieb, sondern in die Universitätsplanung installiert wurde, überraschte mich freudig. Von acht Kollegen, die ich zu Hauptreferaten eingeladen hatte, reagierte nur einer mit Schweigen, sieben mit sofortiger Bereitschaft zur Mitwirkung. In mehreren Briefen, nicht nur von Hauptreferenten, wurde das Vorhaben begrüßt. Allerdings gab es auch eine skeptische Stimme, die ich nicht verschweigen will. Tilman Höhle meinte, er könne zu den von mir aufgeworfenen Fragen selbst nichts beitragen. Er verband damit den großen Zweifel, "daß irgendjemand dazu etwas wirklich Weiterführendes sagen kann". Was er selbst sagen könne, laufe "schlicht auf die Forderung hinaus, daß die Sprachwissenschaftler ihre Forschung stärker an der Notwendigkeit orientieren sollten, die sprachlichen Lernbarkeitsprobleme zu beachten und einer Lösung zuzuführen" (Tilman Höhle, p.c.). Diese Skepsis mag nicht ganz unberechtigt sein, und die Forderung an die Linguisten ist zweifellos sehr wohl begründet - ich betrachte sie als eine Herausforderung nicht nur an das Symposium. Mit der Einladung hatte ich folgende Fragen verbunden: In welchem Maße ist die Fähigkeit des Menschen zum Erwerb einer beliebigen natürlichen Sprache biologisch, in welchem Maße ist sie sozial determiniert? In welchem Umfang ist der Prozeß des Erwerbs einer bestimmten natürlichen Sprache (der Muttersprache) von biologischen, in welchem Umfang von sozialen Bedingungen gesteuert? Wie könnte die berühmte Frage nach dem Ursprung der Sprache mit unseren heutigen natur- und sozialgeschichtlichen Kenntnissen beantwortet werden? Worin besteht der essentielle Unterschied zwischen tierischem Kommunikations- und menschlichem Sprachvermögen?

Einführung

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Ist Sprache bzw. Grammatik ein relativ eigenständiger Modul der kognitiven Leistungsfähigkeit des Menschen, der mit anderen Modulen (mit welchen?) interagiert, oder muß Sprache auf andere (vielleicht generellere?) kognitive Dispositionen des Menschen zurückgeführt werden? Läßt sich die menschliche Fähigkeit zum Erwerb einer beliebigen Sprache heute schon aus genetischer Sicht dingfest machen? Wie soll diese universelle Fähigkeit in einer linguistischen Theorie charakterisiert werden? Kann sie überhaupt in einer solchen Theorie charakterisiert werden? In welchem Verhältnis stehen diese universelle Fähigkeit und die Kompetenz bezüglich einer bestimmten natürlichen Sprache (speziell der Muttersprache)? Können wir Theorien der Universalgrammatik mit explanativer Adäquatheit entwickeln, ohne Theorien von Einzelgrammatiken mit deskriptiver Adäquatheit zu konstruieren? Inwieweit lassen sich mentale Systeme wie interne Grammatiken auf ein hirnphysiologisches Substrat zurückführen? Was kann die Linguistik aus pathologischen (etwa aphasischen) Befunden über die Struktur der internen Grammatik lernen? Welche Perspektive hat eine Zusammenarbeit von Linguisten mit Philosophen, Psychologen, Verhaltensforschern, Medizinern, Genetikern und anderen bei der Bewältigung solcher Fragen? Selbstverständlich ist diese Liste provisorisch und offen. Selbstverständlich gehören andere Probleme zum Thema und wurden dementsprechend auf dem Symposium erörtert. Wie gesagt: Das Echo auf meine ersten Briefe war lebhaft und ermutigend. Ohne Umschweife kamen meiner Bitte um ein Hauptreferat nach: Manfred Bierwisch, Gisbert Fanselow, Sascha W. Felix, Joachim Herrmann, Friedhard Klix, Arnim von Stechow und Günter Tembrock. Zwei von ihnen, Friedhard Klix und Joachim Herrmann, konnten allerdings am Symposium nicht teilnehmen. Von Joachim Herrmann lag immerhin ein Papier vor, das wir vortragen und in die Debatte einbeziehen konnten. Dankenswerterweise folgten auch zahlreiche andere Kollegen meiner Einladung und übernahmen ein Korreferat oder fanden sich als interessierte und diskutierende Teilnehmer ein. Unter ihnen waren - wie der vorliegende Band ausweist - die Linguisten in der Mehrzahl, aber auch Philosophen, Logiker, Psychologen, Biologen und Mediziner waren erschienen. Es war allein schon erfreulich, daß sich Linguisten, Mediziner, Sozial- und Naturwissenschaftler der Jenenserer Universität in einem Hörsaal zusammenfanden - das ist leider durchaus keine Selbstverständlichkeit im normalen und alltäglichen Verlauf der Dinge. Es war noch erfreulicher, daß sich dazu auch Kollegen von der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, der Ernst-Moritz-ArndtUniversität Greifswald, der Humboldt-Universität Berlin, der Universität Leipzig, der MartinLuther-Universität Halle und der Technischen Universität Dresden gesellten. Besonders erfreulich aber war es, daß aus der damals noch kleineren Bundesrepublik Deutschland und aus dem Ausland Kollegen mitwirkten: von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, von der Freien Universität Berlin, von der Universität Freiburg im Breisgau, von der Universität Konstanz, von der Universität Lund, vom Institut für deutsche Sprache

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Peter Suchsland

Mannheim, von der Universität Passau, von der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, von der Staatlichen Georgischen Universität Tbilissi und von der Kyrill- und Methodi-Universität in Veliko Tirnovo. An dieser Stelle sei mir ein ganz persönliches Wort gestattet: Es war mir eine große Freude, daß ich unter den Teilnehmern gute Freunde und Bekannte aus der Vergangenheit und aus der jüngeren Zeit zusammenführen durfte, aus Tbilissi, Berlin, Leipzig und Veliko Tirnovo, aus Lund, Mannheim, Saarbrücken und Westberlin. Wir hatten, was die Interdisziplinarität des Kreises angeht, eine ganz gute Zusammensetzung. Leider gingen über die erwähnten Einbußen hinaus nicht alle Wünsche in Erfüllung. Mehrere nichtreferierende Kollegen aus linguistischen wie aus nichtlinguistischen Disziplinen mußten wegen vordringlicher Verpflichtungen absagen. Das war besonders dann bedauerlich, wenn dadurch ein Feld aus unserem Mosaik von Disziplinen ausfiel wie etwa die Psychiatrie oder die Humangenetik. Trotz aller dieser Schwierigkeiten kamen wir auf dem Symposium in ein fruchtbares Gespräch, in einen nützlichen und teilweise sehr kontroversen Disput über fachliche Grenzen hinaus. Es wurde deutlich, daß Interdisziplinarität von disziplinärer Tiefe lebt, daß wir bis an jene disziplinären Grenzen vorstoßen müssen, die es uns ermöglichen, sinnvolle Fragen an andere Disziplinen zu stellen, und schließlich, daß wir uns darum bemühen sollten, das in unserer jeweiligen Disziplin Erreichbare dem verständlich zu machen, auf den wir mit unseren Fragen zugehen wollen. Das Symposium verlief in diesem Geiste, es fiel, glaube ich, nicht in einen linguistischen, einen verhaltensbiologischen, einen philosophischen Teil usw. auseinander, auch wenn die Gewichte durchaus verschieden gelegt worden waren. Einer großen Zahl von Wissenschaftlern und Angestellten aus dem Bereich der Sprachwissenschaft unserer Universität müßte ich hier einzeln danken, die sich teils über ihre reguläre Arbeitszeit hinaus um die Vorbereitung der Veranstaltung bemüht hatten. Namentlich danken kann ich hier nur wenigen: Heike Endermann, Petra Oberhauser und Gotthard Schreiter, Heike Schramm, Christa Passon und Jürgen Härtung.

SPRACHE, SPRACHFÄHIGKEIT UND SPRACHWANDEL

Manfred Bierwisch Probleme der biologischen Erklärung natürlicher Sprache 1. Sprache und Sprachfahigkeit Die Erörterung des Zusammenhangs von Sprache und Biologie erfordert zunächst einige vorläufige Festlegungen oder Annahmen: (A 1)

Natürliche Sprachen oder Dialekte (wie z.B. Japanisch, Englisch, Bairisch, Niederdeutsch) sind soziale Institutionen spezieller Art, die von den Mitgliedern der entsprechenden Großgruppen getragen und tradiert werden.

Von sekundären Phänomenen abgesehen, bestehen diese Institutionen in nichts anderem als bestimmten Kenntnis- und Wissensstrukturen, die entsprechenden Verhaltensfonnen der Mitglieder der jeweiligen Sprachgemeinschaft zugrunde liegen. Auch und gerade als individuelle Wissensstrukturen, die im Sozialisationsprozeß ausgebildet werden, unterliegen sie systematischen und akzidentiellen Bedingungen, die unterschiedliche Aspekte des Lebensprozesses der Gemeinschaft determinieren. (A 2)

Die menschliche Sprachfähigkeit ist der Teil oder Aspekt der organismischen Ausstattung, der es dem Individuum ermöglicht, an den in (A 1) genannten Institutionen teilzuhaben, also die entsprechenden Wissensstrukturen auszubilden und verhaltenswirksam werden zu lassen.

Sprachfahigkeit ist demnach eine biologische Gegebenheit, wenn Biologie als Beschreibung und Erklärung der Struktur und des Verhaltens von Organismen aufgefaßt wird.1 Etwas spezieller können dabei die Bedingungen des Erwerbs oder der Ausbildung der Kenntnisstruktur und die Prozesse oder Mechanismen, durch die sie in verschiedenen Verhaltensmodalitäten wirksam wird, unterschieden werden. Beide Aspekte müssen eine physiologische Grundlage haben, ihre Unterscheidung ist kompliziert, und ich werde sie im weiteren nur soweit zu trennen versuchen, wie dies für die Erörterung der biologischen Grundlagen sprachlichen Wissens erforderlich ist. Die provisorischen Festlegungen erlauben die Formulierung von zwei Thesen, die ich im weiteren erläutern, begründen und spezifizieren will: (T 1) (T 2)

Wesentliche Aspekte natürlicher Sprachen als Kenntnissysteme (bzw. soziale Institutionen) sind durch ihre biologische Grundlage, d.h. die Struktur der Sprachfahigkeit, bedingt und zu erklären. Die Sprachfähigkeit als biologische Gegebenheit ist weder durch die Struktur noch die Funktion der durch sie ermöglichten Kenntnissysteme bzw. sozialen Institutionen bedingt und erklärbar.

Die damit behauptete Asymmetrie im Bedingungs- und Erklärungszusammenhang ist als kausale Determination und entsprechende theoretische Begründungsanforderung zu verstehen, nicht als heuristische Verfahrensweise. In der Tat müssen alle Versuche theoretischer Erklärung nicht nur bei konkreten, also jeweils einzelsprachlich geprägten Daten und Fakten Die mit (A 1) und (A 2) angedeutete Unterscheidung entspricht, wie leicht zu sehen ist, im wesentlichen der von de Saussure mit den Termini Langue und (FacuM de) Langage getroffenen Unterscheidung.

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Manfred Bierwisch

ansetzen; sie gewinnen auch aus der Analyse einzelsprachlicher Kenntnissysteme (vorläufig) ihre wichtigsten Einsichten und Orientierungen. Von den beiden Thesen ist vor allem die erste interessant und produktiv, insofern sie nicht nur darauf zielt, die Struktur der Sprachfähigkeit als organismische Ausstattung explizit zu machen und aus ihr Eigenschaften der Einzelsprachen abzuleiten, sondern damit zugleich den Rahmen und den Charakter anderer, also insbesondere historisch-kultureller und individuellbiographischer Faktoren in der Sprachkenntnis abzustecken. Strittig dürfte (T 1) nur bezüglich der Spezifik der biologischen Grundlagen und der durch sie bedingten Eigenschaften der sprachlichen Kenntnissysteme sein. Einsichten, Überlegungen und Folgerungen dazu werden vor allem in den Abschnitten 2 bis 6 erörtert. Die zweite These ist eigentlich nur insofern interessant, als sie die Möglichkeit und den Sinn teleologischer oder funktionaler Erklärungen der Sprachfähigkeit bestreitet, also Erklärungen, die die Sprachfähigkeit und durch sie bedingte Eigenschaften aus Bedürfnissen oder Funktionen der Kommunikation, der Arbeit, der Sozialstruktur, des Denkens oder verschiedener Kombinationen solcher Faktoren ableiten. Ich werde einige Probleme und Paradoxien solcher Erklärungen in den Abschnitten 7 und 8 diskutieren.

2. Sprachfähigkeit als biologische Eigenschaft Ich will zunächst drei Gründe unterschiedlichen Charakters für die biologische Natur der Sprachfähigkeit anführen und dabei zugleich die Annahmen über diese Fähigkeit etwas verdeutlichen. 2.1. Der erste Grund ist die unstrittige Gattungsspezifik der Sprachfähigkeit: Jedes (normale) Mitglied der Spezies erwirbt spontan und ohne systematische Instruktion die in seiner Umgebung gesprochene Sprache. Dieser Prozeß durchläuft ein im wesentlichen endogen gesteuertes Entwicklungsschema und kann nur bedingt durch gezielte Einwirkung beeinflußt werden. Er ist anscheinend, wie andere im Erbgut verankerte physische und psychische Entwicklungsprozesse, an kritische Phasen gebunden.^ Die Sprachfähigkeit ist gattungsspezifisch im strikten Sinn: Sie ist, wie einschlägige Ergebnisse der Primatenforschung zeigen, auf den Menschen eingeschränkt. Sprachverwandte und allgemeine Intelligenzleistungen, die insbesondere bei Schimpansen beobachtet wurden, heben diesen Befund nicht auf, sondern bestätigen ihn vielmehr.3 Der Reifungsaspekt in der Ontogenese der Sprache ist hinsichtlich seiner Spezifik Gegenstand intensiver Erörterung. Während etwa Borer/Wexler (1987) Argumente für einen grammatikspezifischen Reifungsplan diskutieren, nehmen Pinker (1984) und andere eine kontinuierliche, nicht durch Reifungsphasen gegliederte Entwicklung an. Unstrittig ist unbeschadet zahlreicher offener Fragen jedoch die Tatsache, daß die normale, kindliche Sprachentwicklung in bestimmte, endogen determinierte Phasen fällt. Die Ergebnisse der Primatenforschung sind nicht leicht zu bewerten und beeindrucken zunächst durch die beträchtlichen Leistungen, die bei Primaten im Erwerb und Gebrauch von Symbolen erreicht werden konnten (zwischen 100 und 300 Zeichen für Begriffe, die situationsunabhängig gebraucht werden können und auch in der Kommunikation untereinander sinnvoll zur Handlungskoordination einsetzbar sind (Rumbaugh, 1985)). Wesentlich sind zwei Differenzen zur menschlichen Symbolfähigkeit:

Biologische Erklärung von Sprache

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Andererseits sind alle Populationen und Individuen der Spezies Mensch - unabhängig von allgemeinen Intelligenzleistungen - im Besitz der Sprachfähigkeit. Ausnahmen sind (bei Normalsinnigen) nicht nur nicht bekannt, sondern würden auch eine grundlegende Änderung des Konzepts "Mensch" zur Folge haben. Zu vermerken ist dabei, daß die Sprachfähigkeit nicht auf eine bestimmte Sprache oder Sprachfamilie gerichtet ist. Vielmehr kann jedes Individuum in der entsprechenden Phase die Kenntnis jeder beliebigen natürlichen Sprache erwerben, der es im Sozialisationsprozeß exponiert wird. Dies besagt insgesamt, daß die Sprachfähigkeit (wiewohl nicht eine bestimmte Sprache) eine genetisch fixierte Disposition des menschlichen Organismus ist. 2.2. Der zweite Grund ergibt sich aus organisch bedingten pathologischen Störungen der Sprachfähigkeit. Von diesen sind insbesondere die erworbenen Defizite, namentlich die verschiedenen Formen der durch Hirnschäden bedingten Aphasie ausführlich untersucht worden. Zwar betreffen die hierher gehörenden Syndrome vornehmlich die Prozesse und Mechanismen der Sprachverwendung und nicht die Disposition zum Aufbau der Sprachkenntnis. Doch zeigen die Befunde deutlich, daß nicht nur die Prozesse der verschiedenen Sprachverwendungsmodalitäten, sondern auch die sich in ihnen manifestierende Sprachkenntnis an bestimmte zerebrale Strukturen gebunden sind. Architektur und Funktionsweise des Gehirns sind demnach in spezifischer Weise für die Sprachfähigkeit disponiert, bilden ihr physiologisches Korrelat.4 Erstens entwickeln nichtmenschliche Primaten offensichtlich keine syntaktische Kombinatorik, d.h. keine Syntax des Symbolsystcms, sondern bilden Symbolkombinationen, sofern diese auftreten, aufgrund inhaltlicher Sachzusanunenhänge. Parisi (1983) vergleicht diese "vorsyntaktische" Kombinatorik mit dem semantisch gesteuerten Sprachgebrauch von Broca-Aphatikem. Zweitens eignen sich Primaten zwar angebotenen Symbole spontan an, bilden aber nicht von sich aus Symbolsysteme aus, wie Kinder das charakteristischerweise tun. Gegenüber diesen beiden Differenzen, die die Spezifik der menschlichen Sprachfähigkeit - Disposition für systematische, kombinatorische Symbolsysteme - deutlich machen, ist eine dritte Differenz eher peripherer Natur: Primaten sind nicht disponiert für die Vokalisation, die die phonetische Basis der natürlichen Sprache bildet, weshalb alle Primatenstudien sich auf visuelle Symbole stützen. Dieser Unterschied ist untergeordnet, weil extensive Untersuchungen zur Zeichensprache der Taubstummen zeigen, daß diese alle Aspekte der Struktur natürlicher Sprachen aufweisen (Bellugi und Klima, 1979). Obwohl die phonetisch-artikulatorische zweifellos Teil der Disposition zur natürlichen Sprache ist und in deren Evolution zweifellos eine spezifische Rolle spielt, liegt das entscheidende Charakteristikum demnach nicht in der akustischen Modalität des Zeichensystems, sondern in seiner systematischen und kombinatorischen Organisation. Insgesamt darf die Gattungsspezifik der Sprache nicht so verstanden werden, daß der Homo sapiens als Schimpanse mit Sprachfähigkeit angesehen werden könnte. Die Beziehungen und Differenzen sind wesentlich komplizierter und betreffen eine ganze Reihe direkt und indirekt beteiligter Aspekte, wie etwa Premack (1976) deutlich macht Wesentlich ist hier nur, daß die Disposition, die den SpeziGka der natürlichen Sprache zugrunde liegt, eine gattungsspezifische Eigenschaft des Menschen ist Seit den bahnbrechenden Entdeckungen von Broca und Wemicke ist der Kenntnisbestand der Neuropsychologie und der seit etwa zwei Jahrzehnten etablierten Neurolinguistik zu einem verzweigten Forschungsgebiet mit kontroversen Auffassungen und Modellen geworden. Einen neueren Überblick gibt etwa Blumstein (1988). Ungeachtet zahlreicher ungelöster Fragen, die die Repräsentation der Sprachkenntnis und der von ihr kontrollierten Prozesse im Gehirn betreffen, ist die Tatsache, daß es sprachspezifische Himstrukturen und Mechanismen gibt, unstrittig. Offen ist hingegen weitgehend die Klärung der Mechanismen im einzelnen.

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Manfred Bierwisch

2.3. Der in gewissem Sinn interessanteste Grund ist der dritte, den Chomsky "Platos Problem" genannt hat. Er ist gekennzeichnet durch die Frage "Wieso wissen wir so viel aufgrund von so unzulänglicher Evidenz?" Auf die Sprachkenntnis bezogen besagt dies, daß im Spracherwerb eine sehr komplexe Wissensstruktur aufgrund sehr lückenhafter Information ausgebildet wird. Daß der Spracherwerb auf lückenhafter Information beruht, wird deutlich, wenn man die Komplexität des resultierenden Wissens ernst nimmt. Einige Beispiele sollen das andeuten. (1)

(a) (b)

Das Brett ist einen Meter lang, Das Brett ist einen Meter kurz.

Das Verstehen dieser Sätze involviert die Kenntnis, daß (Ib) im Vergleich zu (la) inkorrekt ist, daß der Satz aber nichtsdestoweniger einen wohlbestimmten Sinn hat, der etwa durch "Das Brett ist einen Meter lang und das ist kurz" umschrieben werden kann. Explizite Informationen über den Defekt von (Ib) erhält der Lernende normalerweise nicht, er kann sie auch nicht daraus ableiten, daß solche Sätze kaum vorkommen. Vielmehr könnte das nicht seltene Auftreten von Sätzen wie "Heute ist sie siebzehn Jahre jung" auf ihre Korrektheit schließen lassen - ein Schluß, der im Lernprozeß aber gerade nicht zustande kommt.5 (2)

(a) (b)

Wen glaubst du, daß du fürchten mußt? Wer glaubst du, daß dich fürchten muß?

Auch hier gehört zur Sprachkenntnis das Wissen, daß (b) defekt ist im Vergleich zu (a), wiewohl auf ganz andere Weise als in den Beispielen unter (1). Wiederum ist zuverlässige Information über diesen Unterschied im normalen Erfahrungsangebot des Lernenden nicht enthalten.6 (3)

(a) (b)

Walter stand vor Erich, Walter ging vor Erich.

Das Verstehen dieser Sätze involviert die Tatsache, daß "vor" in (3a) eine räumliche, in (3b) entweder eine räumliche oder eine zeitliche Relation wiedergibt. Entscheidend ist dabei, daß die zeitliche Relation sich nicht auf die Person Erich, sondern auf das Ereignis "Erich geht" bezieht, daß (3b) bei zeitlicher Interpretation also als "Walter ging, bevor Erich ging" verstanden werden muß - eine Ergänzung, die automatisch und ohne explizite Information erschlossen werden muß. Diese beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen, daß die erworbene Kenntnis wesentlich reicher ist, als die Oberfläche geäußerter Sätze erkennen läßt, daß sie durch die Eingabeinformation nur unvollständig fundiert ist. Für eine ausführliche Analyse der Zusammenhänge, in die dieses Beispiel gehört, vgl. Bierwisch (1987). Die in (2) illustrierte Erscheinung, die das unterschiedliche Verhalten von Subjekt und Objekt gegenüber Bewegungsoperationen betrifft, ist in der Syntaxforschung der letzten zehn Jahre extensiv studiert worden, für das Deutsche etwa in Stechow/Stemefeld (1987).

Biologische Erklärung von Sprache

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Die Lückenhaftigkeit der Information, die dem Lernenden zur Verfügung steht, besteht vor allem in drei Punkten: (a) Das Sprachangebot ist fehlerhaft, es enthält Äußerungen, die der zu erwerbenden Kenntnis widersprechen. (b) Das Sprachangebot enthält keine systematischen Korrekturen, der Lernprozeß darf also nicht auf negative Information angewiesen sein. (c) Das Sprachangebot ist unvollständig und uneinheitlich, es liefert für wesentliche Kenntnisstrukturen keine direkte Evidenz. Die sachliche Korrektheit dieser Punkte ist in der Spracherwerbsforschung lange Zeit unterschätzt oder sogar bestritten worden, es ist deshalb wichtig, auf ihre inzwischen nicht mehr bestreitbare Bedeutung hinzuweisen.7 Die Lösung von Platos Problem besagt nun im Grundsatz, daß Kenntnisstrukturen, die nicht aus dem Erfahrungsangebot entnommen werden können, im lernenden System bereits enthalten sein müssen, also angeborene Dispositionen sind. Der dritte Grund für die biologische Natur der Sprachfähigkeit läuft damit auf ein Forschungsprogramm hinaus, das die Struktur der angeborenen Wissenskomponenten spezifiziert und aus ihnen die lernabhängigen Aspekte der Einzelsprachen abzuleiten gestattet. Verschiedene Aspekte dieses Programms sollen im folgenden erörtert werden. 2.4. Zuvor ist ein Einwand zu entkräften, der traditionell gegen die Zurückführung von Wissensstrukturen auf genetisch fixierte, biologische Grundlagen erhoben wird. Er besagt: Die Annahme biologisch bedingten Wissens ersetzt lediglich die Aufklärung der tatsächlichen Lernprozesse durch die Stipulation nicht belegter angeborener Voraussetzungen. Dazu ist dreierlei zu sagen. Erstens ist die Annahme erbfixierter, biologischer Grundlagen des Verhaltens keineswegs methodologisch und theoretisch weniger legitim als etwa die Annahme rein induktiver Lernmechanismen, auch nicht für lernabhängiges Verhalten. Die Annahme biologischer Dispositionen neben oder anstelle von heuristischen Lemstrategien ist in keinem besonderen Begründungszwang gegenüber alternativen "unbiologischen" Lernauffassungen. Die mit dem genannten Einwand verbundene Auffassung, daß biologische Erklärungen fragwürdig oder sachlich unangemessen sind, ist de facto eine reine Voreingenommenheit, die überdies durch die massiven Ergebnisse der biologischen Verhaltensforschung eindeutig widerlegt ist. Zweitens geht es bei näherem Hinsehen nicht darum, ob komplexe Verhaltensfbrmen biologisch bedingt sind, sondern wie spezifisch die Bedingungen sind. Bestimmte biologische Eine ausführlichere Diskussion der Problematik findet sich z.B. bei Fanselow/Felix (1987, 101-41). Die Bedeutung der Punkte (a) bis (c) liegt erstens in der Feststellung, daß das Sprachangebot (und noch genauer: das vom Kind tatsächlich aufgenommene Angebot) in der Tat lückenhaft ist, und zweitens, daß diese Lückenhaftigkeit für die Konstruktion der auszubildenden Kenntnisstruktur von gravierender Bedeutung ist Ein auf generellen Lernstrategien beruhender Prozeß der Bildung und Überprüfung von Hypothesen etwa würde bereits durch geringfügige Fehler im Input bei ausbleibender Korrektur kein sich stabilisierendes Lernergebnis erreichen, wenn die zu erwerbende Kenntnisstruktur eine bestimmte Komplexität aufwebt Natürliche Sprachen sind aber zweifellos Systeme, die die fragliche Komplexititsgrenze bei weitem fiberschreiten. Vgl. auch Anmerkung 8.

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Grundlagen müssen ja auch für rein induktive oder auf dem Konzept der Konditionierung beruhende Erklärungsansätze postuliert werden. Die Frage ist mithin nicht, ob die Sprachfähigkeit eine biologische Grundlage hat - die in 2.1. und 2.2. erörterten Befunde müßten sonst als unerklärbares Kuriosum erscheinen -, sondern wie weit und in welcher Weise diese Grundlagen den Charakter der Kenntnisstruktur determinieren. Die in 2.3. skizzierte Problematik macht deutlich, daß die Annahme relativ spezifischer Bedingungen der Wissensstruktur unausweichlich ist. Drittens ist angesicht der durch Platos Problem umschriebenen Situation die Plausibilität der Versuche, Sprachkenntnis durch generelle Lemstrategien wie Konditionierung und induktive Generalisierung zu erklären, weitgehend hinfällig. Neben gravierenden empirischen Befunden zwingen vor allem die Ergebnisse der neueren Lernbarkeitsforschung zu diesem Schluß.8 Die Annahme spezifischer biologisch fixierter Determinanten der Sprachkenntnis ist folglich nicht unplausibel, sondern umschreibt ein Programm, das erfolgversprechend ist, wo der Verzicht auf solche Annahmen den Fakten nicht gerecht werden kann. Insgesamt wird der genannte Einwand in dem Maß gegenstandslos, in dem eine Präzisierung der biologischen Determinanten der Sprachkenntnis, also der Struktur der Sprachfahigkeit, angegeben und aus ihr die Erklärung der einschlägigen Fakten abgeleitet werden kann. Es liegt auf der Hand, daß die Ausführung eines solchen Programms ein verwickeltes, noch weitgehend offenes Unternehmen ist, doch sind seine Konturen deutlich erkennbar und interessante Schritte bereits gemacht.

3. Modularität Ein wesentliches Moment in der Strukturierung des in 2. angedeuteten Programms ist der modulare Aufbau des organismischen Gesamtsystems. Damit ist hier die Annahme benannt, daß nicht nur physiologische Systeme wie Kreislauf, Immunsystem, Leber, Niere usw., son-

Die Lernbarkeitstheorie spezifiziert formale Kriterien, die die Identifizierung eines Regelsystems aufgrund begrenzter Eingabeinformationen durch ein lernendes System kennzeichnen. Angewendet auf die natürliche Sprache führt dieses von der Lernbarkeitstheorie untersuchte Problem zum sogenannten "Logischen Problem des Spracherwerbs". Der hier einschlägige Befund besagt, etwas vereinfacht, natürliche Sprachen sind Systeme, die nicht aufgrund lediglich positiver Eingabeinformation in einer begrenzten Schrittfolge von Hypothesenbildung und Korrektur identifiziert werden können. Der genaue Zusammenhang zwischen der Lernbarkeitstheorie und dem Erwerb natürlicher Sprachen ist verwickelter und verlangt die Spezifizierung einer Reihe von Randbedingungen, die hier nicht erörtert werden können. Der für den Spracherwerb relevante Bereich des Verhältnisses von Eingabedaten und zu identifizierender Struktur ist wesentlich verwickelter als die für die Lernbarkeitstheorie notwendigen Idealisierungen. Die Lernbarkeitstheorie umschreibt zunächst nur den Rahmen von Bedingungen, in denen Hypothesenbildung zu sich stabilisierenden Resultaten führt. Die Ontogenese der Sprache beruht offensichtlich auf Bedingungen, die nicht unter den Rahmen unspezifischer Lernfunktionen fallen. Anders ausgedrückt: Die formalen Befunde der Lernbarkeitstheorie besagen, daß natürliche Sprachen - insbesondere unter den oben erörterten eingeschränkten Input-Bedingungen - nur bei hinreichend strukturierten Vorgaben im Lernsystem erworben werden können. Für ausführlichere Diskussion vgl. Wexler/Culicover (1980) und Williams (1987).

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dem auch die mentale Organisation und ihr physiologisches Substrat in Form relativ autonomer, interagierender Funktionseinheiten aufgebaut sind. Da das aus der Computerwissenschaft entlehnte Konzept des Moduls in der jüngeren Diskussion der kognitiven Wissenschaften eine zentrale und nicht sehr einheitliche Rolle spielt, will ich das hier angenommene Verständnis des Konzepts kurz erörtern. Anders als Fodor (1983), der Module als autonom funktionierende, "eingekapselte" Eingabe- und Ausgabemechanismen des mentalen Systems ansieht (zu denen er auch Sprachproduktion und Sprachverstehen rechnet) und sie dem global organisierten zentralen System gegenüberstellt, will ich Modularität als ein wesentlich generelleres Organisationsprinzip des Organismus auffassen. In dem an Chomsky (1975, 1979, 1985) und Jackendoff (1987) orientierten Verständnis ist modularer Aufbau zunächst ein allgemeines Prinzip des Aufbaus komplexer Organismen: Die generell auf der Basis von Zellen mit im wesentlichen gleichem Grundaufbau beruhenden Organe und Organsysteme haben nichtsdestoweniger ihre jeweils spezifischen Eigenschaften und Funktionen, determiniert durch die im Genom fixierte Erbinformation. Diese etwa für die Extremitäten und den Bewegungsapparat, Organe wie Herz, Niere, Leber usw., aber auch nicht-lokale Einheiten wie das Immunsystem, gut etablierte Grundauffassung ist durch Einsichten in die jeweils spezifischen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten begründet und als Rahmenvorstellung unentbehrlich. Der natürliche, aber konsequenzenreichen Schritt besteht darin, diese Vorstellung auch auf die Architektur des mentalen Systems und des Gehirns auszudehnen. Die verschiedenen Systeme der Verhaltensregulation, einschließlich der kognitiven Leistungen, sind in diesem Sinn als spezifische mentale Organe mit charakteristischer neurophysiologischer Basis zu verstehen. Relativ weitreichende Einsichten, die dieser Auffassung entsprechen, betreffen das visuelle System. Marr (1982) hat die Verarbeitung visueller Information von der retinalen Eingabe bis zur kognitiven Interpretation in Form dreidimensional organisierter Objektkonzepte in einem aus verschiedenen Submodulen bestehenden Modell des visuellen Systems erfaßt. Für Teile dieses Systems ist weiterhin nicht nur das genaue physiologische Korrelat identifiziert, sondern auch seine genetische Grundlage aufgeklärt worden.9 Im vorliegenden Zusammenhang ist nicht die Gesamtheit der einschlägigen Resultate und offenen Fragen zu erörtern, sondern nur die Einordnung der Sprachfähigkeit in diesen Rahmen zu bestimmen. Dafür sind drei Anmerkungen von Belang. 1. Organismische Module sind nicht nur relativ autonome Teilsysteme, deren Interaktion die verschiedenen Funktionen des Organismus determiniert, sie bilden aufgrund dieser Tatsache auch den Rahmen, innerhalb dessen phylogenetische Änderungen im Erbgut sich abspielen, sie müssen zu den strukturierenden Regulativen gerechnet werden, die die genetische Herausbildung einer Spezies determinieren. Die modulare Struktur des Organismus muß im Genom nicht nur "kodiert" sein, ihre Funktionsweise ist auch mitbestimmend für die Durchsetzung von Änderungen der Erbinformation. In bezug auf mentale Organe heißt das, daß Hierher gehören die bahnbrechenden Arbeiten von Hubel/Wiesel (1962), die die neuronale Basis für bestimmte visuelle Leistungen im Katzenhirn identifiziert haben. Von der physiologischen zur genetischen Ebene führen Ergebnisse, die die für die retinale Basis der Farbwahrnehmung zuständigen drei Enzyme auf drei spezifische DNS-Konfigurationen zurückführen. Vgl. dazu etwa Nathans (1989).

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etwa Raumorientierung, Farbwahrnehmung oder Brutpflege auf einer bestimmten Organisationsebene des Systems autonome Subsysteme sein können, obgleich sie sich aus der Funktionsweise anderer Organe oder Subsysteme rekrutieren. Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich damit insbesondere die Frage, ob und in welcher Weise die Sprachfähigkeit ein autonomes Modul der psychophysischen Organisation des Menschen darstellt. 2. Im Bereich der mentalen Systeme ist Spezifik und Autonomie vornehmlich an die Repräsentationsform bestimmter Arten von Information und die für sie spezialisierten neuronalen Substrate gebunden. Angesichts der gegenwärtigen Forschungssituation kann diese Annahme nur durch Aufklärung des Charakters von Repräsentationen und der auf sie bezogenen Operationen präzisiert werden. Einen instruktiven Überblick über eine Reihe von Repräsentationssystemen dieser Art bietet Jackendoff (1987). Die damit umschriebene Situation macht zugleich deutlich, warum die Konstruktion und Überprüfung von Repräsentationsmodellen und ihrer algorithmischen Realisierung die derzeit produktivste Strategie zur Verfolgung des oben angedeuteten Programms ist. Die mit dieser Strategie verbundene Überlegung ist die, daß die Identifizierung spezifischer Repräsentationsprinzipien und Operationen fruchtbar, wenn nicht notwendig für die Aufdeckung der neuronalen Mechanismen und ihrer genetischen Grundlage ist. 3. Die Spezifik einzelner Module und Submodule schließt nicht aus, daß in ihnen zugleich generellere Prinzipien oder Mechanismen wirksam sind. Die zellulare Organisation des Gesamtorganismus ist das allgemeinste Prinzip dieser Art auf einer Ebene der Strukturierung.10 Bestimmte übergreifende Eigenschaften von Repräsentationssystemen wie Hierarchiebildung, Serialisierung, Gruppierung um einen Kern exemplifizieren Prinzipien, die in verschiedenen kognitiven Modulen oder Submodulen eine Rolle spielen und damit übergrei-

Wie die Ebene der zellulären Organisation des Organismus im allgemeinen und der Großhirnrinde im besonderen zur Realisierung von Repräsentationssystemen und damit zu Wissensstrukturen führt, ist vorerst völlig unklar. Ansätze, die eine Modellierung kognitiver Prozesse auf zellularer Ebene zu geben scheinen, nämlich die verschiedenen Varianten neokonnektivistischer Netzwerkmodelle (vgl. vor allem Rumelhart/McClelland (1986)), sind in fundamentaler Hinsicht inadäquat. Für eine ausführliche Darlegung dieser Inadäquatheiten vgl. Pinker/Prince (1988). Ein nachdrücklich vertretener Aspekt dieser Modelle ist die These, daß mentale Repräsentationen und Prinzipien insgesamt Beschreibungsartefakte sind, die zugunsten der Netzwerkmodelle zu dispensieren sind. Abgesehen von der deskriptiven Inadäquatheit konnektivistischer Modelle läuft diese Denkweise streng genommen auf eine besondere Art von Reduktionismus hinaus, die "höhere' Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die durch eigenständige, irreduzible Randbedingungen bestimmt sind, als bloße Fiktionen ansieht. Man würde einen solchen Reduktionismus etwa im Fall des Kreislaufsystems oder des Bewegungsapparats kaum ernsthaft in Betracht ziehen. Warum also sollte er für mentale Strukturen und Leistungen plausibel sein? Natürlich müssen mentale Systeme ebenso wie andere Organe und biologische Systeme eine Realisierung auf der zellulären Ebene haben. Das heißt aber nicht, daß alle Wirkungsmechanismen auf dieser Ebene liegen. Das noch ausstehende Verständnis der physiologischen Realisierung mentaler Repräsentationen und Prinzipien wird diese ebensowenig gegenstandslos machen wie etwa dk Einsicht in die atomare Basis chemischer Bindungen die in der Chemie des 19. Jahrhunderts in chemischen Strukturformeln festgehaltenen Gesetzmäßigkeiten gegenstandslos gemacht hat Die spätere Erkenntnis zeigt vielmehr, wie die zuvor abstrakt formulierten Gesetzmäßigkeiten 'implementiert* sind. Mit solchen, in ihrer Implementierung noch nicht verstandenen Gesetzmäßigkeiten mentaler Repräsentationssysteme ist die biologische Erklärung der Sprache befaßt

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fender Natur sind - was nicht automatisch heißen muß, daß sie an das gleiche physiologische Substrat gebunden sind. Die Frage, ob und wieweit die Sprachfähigkeit auf spezifischen, nur für dieses Modul disponierten Anlagen beruht oder durch allgemeine, übergreifende Mechanismen bedingt ist, wie deren biologische Grundlage zu begründen wäre und wie sie die Struktur sprachlicher Kenntnissysteme und deren Erwerb erklären können, ist der Leitfaden für die Begründung der eingangs formulierten These 1. Sieht man von obsoleten Konzepten wie dem des reinen Konditionierungslernens ab, so konkurrieren bezüglich der Natur der Sprachfähigkeit zwei Auffassungen: die auf generelle kognitive Prinzipien gegründete Konzeption Piagets, die die Sprache zusammen mit anderen geistigen Fähigkeiten in mehreren Phasen aus der allgemeinen sensomotorischen Intelligenz abzuleiten versucht, und die von Chomsky, die die Sprache als autonomes mentales System ansieht, dessen biologische Grundlage durch ein System von Prinzipien, für das der Terminus Universalgrammatik (UG) üblich geworden ist, vorgegeben ist.11 Die beiden Konzeptionen sind, angesichts der Möglichkeit sowohl spezifischer wie genereller Prinzipien, nicht in allen Aspekten inkompatibel. Wo sie jedoch divergieren, sprechen die verschiedenen zugänglichen Fakten eindeutig für das Konzept der modularen Organisation mit spezifischen Dispositionen. Das gilt übrigens nicht nur für die Sprache, sondern auch für andere Bereiche der Kognition wie Raumorientierung, visuelle Wahrnehmung etc. Ich werde im weiteren deshalb die Möglichkeiten einer UG-orientierten Auffassung der Sprachfähigkeit ventilieren.

4. Evolution und Konvention Es liegt in der Logik der hier verfolgten Überlegungen, daß die Sprachfertigkeit ein Ergebnis phylogenetischer Entwicklungen sein muß, das im Genom der Spezies fixiert ist. Die damit verbundenen Annahmen sollen kurz benannt werden. 4.1. Unbeschadet offener Probleme, die vor allem Zeitverlauf der Evolution, Rate und Mechanismen der Mutation betreffen, ist als Grundmuster der Evolution das Zusammenspiel von Mutation und Selektion anzusehen: Zufallsänderungen in der DNS-Struktur unterliegen der Auslese durch Eliminierung der für die Spezies nachteiligen Varianten. Von den nötigen Zusätzen und Kommentaren, die dieses Grundmuster verlangt, ist vor allem ein Gesichtspunkt für die Evolution der Sprachfähigkeit von Belang: Die Selektion sondert intolerable Varianten aus, läßt aber nicht notwendig nur vorteilhafte sich durchsetzen. Mit anderen Worten, auch solche Erbänderungen, die keinen unmittelbaren Verhaltensvorteil zur Folge haben, überleben, sofern sie nicht überlebenshinderlich sind. Luxurierende Spezies in günstigen Biotopen sind farbenprächtige bis bizarre Exemplifizierungen. Die Unterscheidung selektionstolerabler und selektionsbegünstigender Mutanten ist im einzelnen kompliziert, hier genügt die Verständigung über die Logik des Zusammenhangs. 11

Eine Gegenüberstellung und ausführliche Diskussion der beiden Konzeptionen findet ikb in der Debatte zwischen Chomsky und Piaget in Piatelli-Palmarini (1980).

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Die Erbfixierung tolerabler Varianten ist besonders von Interesse im Hinblick auf solche Konsequenzen von Erbänderungen, die (zunächst oder auf Dauer) latent, also nicht verhaltenswirksam sind. Da sie keinen Überlebensvorteil bringen, können sie nur der tolerierenden, nicht der begünstigenden Selektion unterliegen. Die Dunkelziffer solcher Konstellationen ist logischerweise groß, sie werden nur dann greifbar, wenn Änderungen im Umfeld (der Individuen) einer Spezies dafür Anlaß bieten. Handgreifliches Beispiel sind "künstlich" evozierte Intelligenzleistungen von Delphinen sowie zahlreiche Dressurleistungen, die erbfixierte Verhaltensdispositionen ausnutzen. Die Einsicht in die Existenz verhaltenslatenter Erbdispositionen ist im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung, weil später zu zeigen sein wird, daß die Sprachfähigkeit, zusammen mit anderen Dispositionen, wesentlich auf dieser Basis beruhen muß. 4.2. Festzuhalten ist weiterhin, daß Erbänderungen zwar grundsätzlich durch einzelne Mutationsschritte Zustandekommen, daß aber ihre Wirkung und Durchsetzung auf der Interaktion der organismischen Systeme beruht, also in einem strukturierten Rahmen geschieht. Die modulare Verfassung des Organismus ist Grundlage und Konsequenz dieses Zusammenhangs.12 Seine Wirkung muß ebenso wie für die Evolution des Immunsystems oder des Auges auch für die der Module der mentalen Organisation angenommen und in Rechnung gestellt werden. 4.3. Da, wie in Abschnitt 2 erörtert, die Sprachfähigkeit eine gattungsspezifische, also erbfixierte Disposition sein muß, und da weiterhin Konsens darüber besteht, daß die Erbinformation der Spezies zumindest für die letzten 40 bis 50 Tausend Jahre keine relevanten Änderungen erfahren hat, muß die Sprachfähigkeit eine für die Entwicklungen innerhalb dieses Zeitraums invariante Struktur aufweisen. Dabei sind hier nicht die kontroversen Probleme von Belang, die mit der Abgrenzung der Spezies verbunden sind. Wesentlich ist hier nur, daß geschichtliche Entwicklungen innerhalb der Spezies, also insbesondere auch die Differenzierung und Ausgestaltung der Einzelsprachen als sozialer Institutionen, im Rahmen und auf der Basis der invarianten Sprachfähigkeit als Komponente der Artausstattung vor sich gehen. So beruht, um ein Beispiel zu nennen, die mit zunehmender zivilisatorischer und technologischer Komplexität einer Gemeinschaft wachsende Komplexität des Vokabulars, die ziemlich allgemein zu konstatieren ist, nicht auf einer sich wandelnden Basis der Sprachfähigkeit, sondern belegt deren unterschiedlichen Ausnutzung. Das gleiche gilt, wenn auch mit deutlich anders gelagerter Entsprechung zwischen zivilisatorischer und sprachlicher Entwicklung, für phonologische oder morphologische Systeme und syntaktische Aspekte der Einzelsprachen. 12 Die Variation im Phänotyp einer Spezies, also im Organismus und seinem Verhalten, die die Basis der Evolution ist, ergibt sich aus der Variation im Genotyp und in der Umwelt und deren Interaktion (vgl. etwa Murphy, 1973). Das evolutive Wechselspiel von (zufälliger) Variation und (steuernder) Selektion vermittelt also zwischen zwei essentiell verschiedenen Kausalketten. Dieses Wechselspiel setzt nicht nur die in Anmerkung 10 erwähnten irreduziblen Randbedingungen, denen die funktionalen Gesetzmäßigkeiten der organismischen Systeme und Module unterliegen. Es kann auch nur im Rahmen dieser Strukturen wirksam werden. Das gilt gleichermaßen für die Einwirkungen der Umgebung wie für die selbstorganisierenden Funktionen des Organismus: Nur sofern adaptive Leistungen des Phänotyps (also des Organismus und seines Verhaltens) in Subsystemen organisiert sind, deren Basis im Genotyp fixiert ist, können sie in pbylogenetische Veränderungen eingehen. Diese Feststellung ist außerordentlich allgemein, sie betrifft aber nichtsdestoweniger einen empirischen Zusammenhang.

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4.4. Es sollte damit hinreichend deutlich sein, daß die Evolution der Sprachfähigkeit, wie immer sie im Detail zu charakterisieren ist, grundsätzlich zu unterscheiden ist von der Entwicklung der Sprachen als sozialer Institutionen. Ersteres ist ein biologischer Prozeß, der zu einer spezifischen Erbinformation führt, letzteres ein soziokultureller Prozeß, der in der Modifikation und Tradierung bestimmter Kenntnissysteme besteht, deren Voraussetzung die Sprachrahigkeit ist. Es ist sinnvoll, hier auf eine Gemeinsamkeit der beiden Prozesse hinzuweisen, die durchaus analoge Erklärungsmechanismen rechtfertigt und verlangt. Wie die biologische Evolution ergibt sich die Entwicklung und Veränderung von Sprachen als institutionalisierten Kenntnissystemen durch die Interaktion von Mutation und Selektion. Die Mutation besteht hier in der Entstehung von Varianten im Rahmen der möglichen Kenntnisstrukturen, die Selektion besteht in der Durchsetzung oder Eliminierung solcher Varianten in der jeweiligen Population. Der Mechanismus der Selektion ist die Konventionsbildung, deren logische Struktur Lewis (1965) analysiert hat. Eine Konvention etabliert sich dadurch, daß die Mitglieder einer Gruppe ein bestimmtes Verhaltensschema gerade darum befolgen, weil (sie erwarten, daß) auch die anderen es befolgen. Wie die biologische Evolution unterliegt die Bildung von Konventionen - oder Traditionen - regulierenden Bedingungen, diesesfalls den Rahmenbedingungen der Sprachfähigkeit, und führt zu nicht intendierter, also scheinbarer, Zweckmäßigkeit. Es läßt sich deshalb durchaus sinnvoll sagen, daß institutionalisierte Konventionen das genetische Programm durch ein soziales oder kulturelles Programm ergänzen. Es bleibt festzuhalten, daß ungeachtet der Analogien Entstehung der Sprachrahigkeit und Wandel der Sprache essentiell verschiedene Prozesse sind, wobei der zweite auf dem Resultat des ersten beruht. Die Theorie des Sprachwandels macht genau diesen Zusammenhang explizit. Dies läßt die Frage nach der Einordnung der Entstehung von Sprachen (nicht der Sprachfähigkeit) im Rahmen der Anthropogenese offen. Ich komme darauf in Abschnitt 7 zurück.

5. Sprachkenntnis: Prinzipien, Parameter, Lexikon Ich will nun die Einsichten und Tendenzen der linguistischen Theoriebildung zu charakterisieren versuchen, die für das mit der These l anvisierte Programm wesentlich sind. Es geht dabei um Struktur und Charakter sprachlichen Wissens und seine Fundierung durch die Sprachfähigkeit. Diese Fundierung stellt sich als Beziehung der Sprachkenntnis zur Universalgrammatik UG sowie den Mechanismen der Sprachverarbeitung dar. 5.1. Die erste Phase in der Entwicklung expliziter Modelle der Sprachkenntnis hat in den 60er Jahren zur sogenannten Standard-Theorie der Generativen Grammatik geführt.13 In dieser Theorie wurde die Sprachkenntnis durch ein komplexes System von Regeln zur Erzeugung struktureller Repräsentationen charakterisiert. Diese kennzeichnen in Form mehrerer, aufeinVgl. Chomsky (1965) für den allgemeinen Rahmen und die Syntaxkonzeption der Standardtheorie, Chomsky/Halle (1968) für die phonologische Komponente. Die Einbeziehung der Semantik in die Standardtheorie war immer ambivalent In den Grundztigen kann Katz (1972) als Entwurf auf dieser Grundlage gelten. Eine erste Verbindung zwischen der Standardtheorie und einer modelltheoretisch konzipierten Semantik stellt Lewis (1972) dar.

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ander bezogener Repräsentationsebenen die Struktur der mentalen Zustände, die mit dem Bilden und Verstehen der Sätze einer gegebenen Sprache verbunden sind. Die Regeln, die die Sprachkenntnis ausmachen, sind in mehreren Komponenten organisiert, ihr Erwerb wurde als Erzeugen und Testen von Hypothesen aufgefaßt, wobei UG die Bildung möglicher Regeln und ihre Organisation in Komponenten determiniert. UG legt damit fest, was erzeugbare Regeln, ergo mögliche Kenntnissysteme sind. Obgleich in diesem Rahmen bedeutende Einsichten in die Eigenschaften natürlicher Sprachen und wichtige Generalisierungen über ihren Aufbau gewonnen wurden, bot die StandardTheorie keine wirkliche Lösungsmöglichkeit für Platos Problem. Der Sachverhalt ist, stark vereinfacht, der folgende: Die Regelsysteme, die UG zu bilden gestatten muß, um die Struktur natürlicher Sprachen zu erfassen, und die im Erwerbsprozeß anhand lückenhafter Evidenz getestet werden müssen, sind viel zu komplex, um in einem Hypothesentestprozeß zu einem Lernergebnis zu kommen, das überdies in einer begrenzten Schrittfolge und aufgrund unzulänglicher Information erreicht werden muß. Untersuchungen im Rahmen der Lernbarkeitstheorie haben diesen Befund in bezug auf Annahmen über verschiedene Randbedingungen formal dingfest gemacht.14 Angesichts dieser Situation können zwei Strategien eingeschlagen werden. Einerseits kann versucht werden, Charakterisierungen für UG und damit die Klasse der möglichen und zu testenden Regelsysteme zu finden, die die Lembarkeit unter realistischen Bedingungen möglich machen. Andererseits kann die Vorstellung, daß Sprachen in dem zugrunde gelegten Sinn lernbar sind, aufgegeben werden, indem die Beziehung zwischen UG und Sprachkenntnis auf eine andere Basis gestellt wird. Tatsächlich war die weitere Forschungsgeschichte eine Kombination beider Strategien. 5.2. Wesentliche Schritte im Sinn der ersten Strategie ergaben sich zunächst aus der Klärung offener Fragen der Standard-Theorie. Dabei wurde, vereinfacht gesprochen, der Effekt komplexer einzelsprachlicher Regeln durch das Ineinandergreifen verschiedener, in sich relativ einfacher Bedingungen oder Prinzipien erfaßt, die die Variationsbreite möglicher Regeln und damit die Klasse von Regelsystemen beträchtlich einzuschränken gestatten. Wichtig ist, daß die angenommenen Bedingungen oder Prinzipien aus unabhängigen Gründen motiviert waren und Generalisierungen über die Struktur der analysierten Sprachen wiedergeben. Über mehrere Zwischenstufen der Theorieentwicklung wurden so schließlich die beiden Hauptklassen syntaktischer Regeln der Standard-Theorie, die Phrasenstruktur- und die Transformationsregeln, auf je ein generelles Schema reduziert:

Obwohl die formalen Eigenschaften eines Regelsystems vom Typ der Standardtheorie viel zu komplex sind, um unmittelbare Folgerungen in dem in Anmerkung 8 skizzierten Sinn im Hinblick auf ihre Lernbarkeit zu ziehen, ist grundsätzlich klar, daß es ohne negative Evidenz, also ohne systematische Korrekturen, im allgemeinen nicht lernbar ist Gerade die aber fehlt im Erfahrungsangebot, wie oben diskutiert (Wesentlich ist hier die Zuverlässigkeit und Systematik von Korrekturen. Häufige, aber unsystematische Korrekturen, die ein Kind natürlich erfährt, sind in diesem Zusammenhang nicht entscheidend.) Faßt man Systeme vom Typ der Standard-Theorie als deskriptiv adäquat auf - was sie potentiell wohl sind - dann ist die gelegentlich von Chomsky verwendete Formulierung, daß natürliche Sprachen nicht lernbar (im technischen Sinn) sind, zugespitzt, aber zutreffend.

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(4)

(a) (b)

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Projiziere die Merkmale des Kopfe Bewege eine Konstituente

Was die zu projizierenden Merkmale sind, was ein Kopf ist und wovon er der Kopf ist, welche Konstituenten bewegt werden können und wohin, was der jeweilige Effekt der Operationen ist, wird durch übergeordnete Prinzipien determiniert, die allgemeine Eigenschaften der Repräsentation syntaktischer Strukturen kennzeichnen. Die Ausarbeitung dieser Prinzipien, ihre empirische Begründung und die Analyse ihrer Interaktion wurde damit zum zentralen Arbeitsfeld der Grammatiktheorie. Die durch Chomsky (1981) dargestellten Ergebnisse und Leitlinien dieser Arbeit fassen solche Prinzipien in Teiltheorien der syntaktischen Strukturbildung zusammen: (5)

(a) (b) (c) (d) (e) (f)

Rektions-Theorie Grenz- oder Domänen-Theorie Bindungs-Theorie Theorie thematischer Rollen ( -Theorie) Kasus-Theorie Kontroll-Theorie

Es ist hier nicht der Platz, Inhalt, Form und Motivation dieser Teiltheorien zu erörtern, die ein repräsentatives Spektrum von Fakten erklären in dem Sinn, daß Eigenschaften der Sprachkenntnis aus der Interaktion eben dieser Prinzipien abgleitet werden können. Wichtig ist im gegenwärtigen Zusammenhang das veränderte Konzept vom Verhältnis zwischen Sprachkenntnis und UG, das sie mit sich bringen und damit zur zweiten Strategie der Lösung von Platos Problem fuhren. 5.3. Mit der Reduzierung grammatischer Regeln auf generelle Schemata der in (4) angedeuteten Art entfällt das Problem des Regelerwerbs: Die Schemata können und müssen nicht erworben werden, sie gehören zur angeborenen Sprachdisposition und müssen nur (wie andere Dispositionen) durch geeignete Stimuli aktiviert werden. Ihr tatsächlicher Effekt aber, der zu der strukturellen Reichhaltigkeit sprachlicher Ausdrücke führt, ergibt sich aus der Interaktion der zu (5) gehörenden Prinzipien, denen die durch die Operationen in (4) erzeugten Strukturen unterliegen. Es scheint, als ob damit das Problem nur verschoben ist: Anstelle von Regeln müssen nun Prinzipien gefunden und getestet werden. Dieser Schein trügt. Prinzipien der in (5) anvisierten Art haben einen grundsätzlich anderen Inhalt als die Regeln der Standard-Theorie. Sie sind nicht einzelsprachliche Regeln, sondern übergreifende Bedingungen sprachlicher Strukturbildung. Wie die Schemata in (4) können sie nicht gelernt, sondern müssen nur aktiviert werden. Mit anderen Worten, UG besteht aus allgemeinen Operationsschemata und einem komplexen System von Prinzipien, der Mechanismus von Hypothesenbildung und -testung entfällt.

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Damit diese Vorstellung nicht in glattem Widerspruch zu den Tatsachen steht, ist ein entscheidendes Moment hinzuzufügen. Dieses zusätzliche Moment muß der Tatsache Rechnung tragen, daß nicht alle Sprachen die gleiche Struktur aurweisen, daß UG also die Basis für beträchtlich divergierende Kenntnissysteme sein muß. Die erforderliche Ergänzung besteht in der Annahme, daß die Schemata und Prinzipien von UG bestimmte Variationsmöglichkeiten, offene Parameter, enthalten, die in verschiedenen Sprachen oder Dialekten unterschiedlich festzulegen sind. So steht - etwas vereinfacht - z.B. ein Kopf der Kategorie Verb im Deutschen, Japanischen und Ungarischen hinter, im Englischen, in den romanischen Sprachen und im Chinesischen vor den von ihm regierten Einheiten. Die Prinzipien etwa der Rektionstheorie enthalten (vereinfacht) folgende Parametrisierung: (6)

Ein Kopf der Kategorie X ist

rechtsregierend

Der Parameter in (6) kann die Werte + und - annehmen, die zu erwerbenden Kenntnissysteme unterscheiden sich bezüglich der Werte, die sie relativ zur Kategorie X festlegen. Das damit sehr provisorisch erläuterte Konzept parametrisierter Prinzipien hat eine Fülle bedeutsamer Konsequenzen, die - das ist entscheidend - zunächst hinsichtlich ihres Aufschlußwerts für die Analyse der Struktur einzelner Sprachen mit interessanten Ergebnissen verbunden sind. 5.4. Zugleich ist damit ein wesentlicher Schritt zur Lösung von Platos Problem getan. Es wird einsichtig, daß Sprachkenntnis angeboren sein kann, ohne daß das die Verschiedenartigkeit der Sprachen ausschließt. Nach der eben erläuterten Vorstellung besteht UG, d.h. die Struktur der angeborenen Disposition, aus allgemeinen Operationsschemata und einem strukturierten System parametrisierter Prinzipien. Jede mögliche Wahl der Parameterwerte determiniert die Struktur einer möglichen Sprache. Spracherwerb besteht in der Ermittlung und Fixierung der entsprechenden Parameterwerte. Theoretische Analysen und empirische Untersuchungen machen wahrscheinlich, daß die dafür erforderliche Information bereits in einem relativ begrenzten Erfahrungsangebot enthalten ist. Macht man einige plausible Zusatzannahmen über den Charakter von Parametern, u.a. daß einmal fixierte Werte nicht ohne weiteres geändert werden können, daß Parameter also träge sind, dann ergibt sich zwanglos, daß Fehler im Informationsangebot keine gravierende Rolle spielen und daß positive Evidenz ausreichend ist. Insgesamt ergibt sich eine einsichtige Strategie zur Klärung der in 2.3. erörterten Probleme: Die Kenntnis der Sprachstruktur wird nicht erlernt, es werden nur Parameterwerte getriggert, deren vorgegebene Interaktion die zu erwerbende Kenntnisstruktur ergibt. Diese Vorstellung kann im Prinzip zwanglos mit Konzepten über die Wirkungsweise entsprechender biologischer Mechanismen verbunden werden. Eine weitergehende Überlegung geht dahin, daß die Entscheidung über Parameterwerte wesentlich mit jeweils charakteristischen lexikalischen Einheiten und ihren Eigenschaften verbunden ist, so daß der erfahrungsabhängige Teil der Sprachkenntnis im wesentlichen im Lexikon zusammengefaßt ist. Der Unterschied in der Struktur verschiedener Sprachen wäre dann grundsätzlich die Konsequenz von Unterschieden in ihrer lexikalischen Information. Ich komme auf diesen Punkt in 5.6. zurück.

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5.5. Ich habe das Verhältnis von Sprachkenntnis und UG bisher für den Bereich der Syntax erörtert, wo die vorgetragenen Vorstellungen vornehmlich entwickelt worden sind. Sie lassen sich mit entsprechenden Adjustierungen auf die übrigen Aspekte der Sprachkenntnis übertragen. In der Phonologie ist die Organisation möglicher phonologischer Strukturen durch generelle Prinzipien determiniert, erfahrungsabhängig zu fixieren sind die Werte für bestimmte artikulatorisch-perzeptive Parameter, die in einer gegebenen Sprache strukturell relevant sind, ferner bestimmte Optionen für Prinzipien, die die Anordnung und Interaktion phonologischer Informationen determinieren. Diese kursorischen Bemerkungen können der Bedeutsamkeit und Komplexität dieses Aspekts nicht gerecht werden. Sie sollen nur andeuten, daß und wie die Kenntnis der Lautstruktur in das skizzierte Gesamtbild einzubeziehen ist. Komplizierter ist die Situation aus inhaltlichen und forschungsgeschichtlichen Gründen in der Semantik. Hier scheinen strikt universalistische Auffassungen, die semantische Prinzipien als uneingeschränkt universell, also unparametrisiert, ansehen, und strikt konventionalistische Auffassungen, die allgemeine Prinzipien in diesem Bereich überhaupt bezweifeln, unvereinbare Positionen zu markieren. Etwas vereinfacht kann der frühe und der späte Wittgenstein als Exponent der beiden Positionen angesehen werden.15 Ich komme auf diese Problematik sogleich zurück. 5.6. Besonderer Erläuterung bedarf aus einer Reihe von Gründen das lexikalische Wissen. Hier sind die wichtigsten Punkte, die dabei zu berücksichtigen sind: (a) Das Lexikon als Gesamtheit der lexikalischen Einheiten, die die Sprachkenntnis eines Sprechers einschließt, enthält alle idiosynkratischen, also nicht durch generelle Bedingungen determinierten Elemente der Sprache. Das Lexikon steht damit scheinbar den durch UG bedingten Aspekten der Sprachkenntnis gegenüber. (b) Das Lexikon muß wesentlich als ein fixiertes (wenn auch stückweise erweiterbares) Inventar, als eine strukturierte Liste von Einheiten angesehen werden.

Obwohl der Wittgenstein des "Tractatus logico-philosophicus" und der "Philosophischen Untersuchungen" der universalistischen und der (conventional is tischen Semantikauffassung zugeordnet werden kann, geht es in den beiden Konzeptionen wie auch in den sich an sie anschließenden Entwicklungen genau genommen um eine andere als die hier erörterte Problematik. Das Universalistische der modelltheoretischen Semantik, die in vieler Hinsicht als Ausführung des Programms des frühen Wittgenstein verstanden werden kann, zielt nicht auf Dispositionen im Sinn von UG, sondern auf eine rein formale Universalität Montague (1974) sieht ganz konsequent die Semantik als eine mathematische, nicht eine psychologische Disziplin an. Damit wird die hier erörterte Fragestellung insgesamt gegenstandslos. (Eine faktische Konsequenz dieser Orientierung ist die Ausklammening der lexikalischen Semantik zugunster der formal kompositionellen Aspekte.) Die am späten Wittgenstein orientierte Ordinary Language Philosophy andererseits unterläuft die hier erörterte Problematik auf ganz andere Weise, indem sie mentale Repräsentationssysteme im Prinzip in Abrede stellt Eine prononcierte Version dieser Auffassung formuliert Searle (1984). Für eine Erörterung dieser Position, deren Konsequenzen sich - wenn auch von ganz anderen Prämissen aus - mit denen des in Anmerkung 10 erörterten Neokonnektrvismus treffen, vgl. Bierwisch (1990). Obwohl die genannten Tendenzen in mannigfacher Verzweigung die Entwicklung der Semantiktheorie bestimmen, ist das Bild insgesamt wesentlich komplizierter. Zu den Ansätzen, die die Semantik ausdrücklich in den hier erörterten Rahmen einbeziehen, gehören die Arbeiten Jackendofis (1983, 1987). Vgl. auch Bierwisch/Lang (1987).

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(c) Die systematische Kombinatorik dieser Einheiten, die den zuvor erörterten Prinzipien unterliegt, ergibt die Gesamtheit der in einer Sprache bildbaren Ausdrücke. Das Lexikon ist in diesem Sinn die Basis und Voraussetzung für die prinzipiengesteuerte Strukturbildung. (d) Die im Lexikon zu fixierende Information liefert zugleich Anhaltspunkte für die Festlegung der Parameterwerte in UG (was in der Literatur etwas mißverständlich "lexikalisches Lernen" genannt wird). (e) Schließlich ist im Lexikon der Bezug der Sprachkenntnis zu anderen kognitiven Systemen, insbesondere zum konzeptuellen Wissen, das die begriffliche Verarbeitung der Umwelterfahrung repräsentiert, verankert. Die Art, in der diesen und einigen weiteren Punkten Rechnung getragen wird, variiert beträchtlich mit dem jeweiligen Zusammenhang, in den die Problematik gestellt wird. Ohne auf die verschiedenen Akzentsetzungen einzugehen, werde ich die Frage erörtern, in welcher Beziehung lexikalisches Wissen zu den biologisch bedingten Grundlagen der Sprachkenntnis steht. Denn offensichtlich ist eine Konzeption der Sprachfähigkeit unangemessen, wenn sie diese Frage nicht einbezieht. Dabei sind vorab zwei Punkte hervorzuheben. Erstens kann lexikalisches Wissen nicht im oben erörterten Sinn durch die Fixierung von Parametern in UG entstehen. Dem widerspricht nicht nur die unter (a) genannte Tatsache, daß die lexikalischen Einheiten die (sowohl bezüglich UG wie innerhalb der jeweiligen Einzelsprache) idiosynkratische Information enthalten müssen. Es wäre auch zirkulär, wenn man annähme, daß Parameterwerte durch lexikalische Auslöser getriggert werden, lexikalische Einheiten aber selbst durch Fixierung von Parameterwerten entstehen. Offensichtlich muß die oben skizzierte Vorstellung vom Erwerb der Sprachkenntnis durch ein Konzept vom Erwerb lexikalischen Wissens ergänzt werden. Zweitens darf die unter (b) genannte Tatsache nicht zu dem scheinbar naheliegenden Schluß führen, daß der Erwerb lexikalischen Wissens auf die vor allem in der Gedächtnispsychologie studierten Mechanismen des Listenlernens oder der Paarassoziationsbildung über beliebigen Items zurückgeführt werden kann. Dies ist nicht nur wegen der Punkte (c) und (d) ausgeschlossen, die lexikalisches Wissen in eine inhärente Beziehung zu der durch UG determinierten Kenntnis setzen. Es würde auch die mit lexikalischen Einheiten unmittelbar verbundenen Aspekte von Platos Problem, die etwa durch die Beispiele (1) (lang/kurz) und (3) (räumliches und zeitliches vor) illustriert sind, unlösbar machen. Ich will kurz die Annahmen über die Struktur lexikalischen Wissens erläutern, aufgrund deren diesen Anforderungen und den Punkten (a) bis (e) Rechnung getragen werden kann. 5.7. Lexikalische Einheiten sind mental repräsentierte Datenstrukturen, die vier systematisch miteinander verbundene Arten von Informationen enthalten:16 (7)

(a) (b)

die phonetische Form PFE der Einheit E die grammatischen Merkmale GFE

Für die hier diskutierte Form der Repräsentation von Lexikoneinträgen vgl. etwa Bierwisch (1988, 1989). Ähnliche Annahmen finden sich in variierender Form in zahlreichen Ansitzen. Einige Beispiele sind Jackendoff (1983), Di Sciullo/Williams (1987), Speas (1989), Sag (1987). Die Einzelheiten unterscheiden sich betrieblich in Abhängigkeit von Rahmenannahmen, die hier nicht erörtert werden können.

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(c) (d)

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die thematischen Rollen oder Argumentstruktur ASE die semantische Form SFE.

PFE und SFE stellen die Beziehung zu außersprachlichen Modulen der mentalen Organisation her, sie sind Schnittstellen der Sprachkenntnis mit dem artikulatorischen und auditiven System sowie mit den Modulen der konzeptuellen Strukturbildung, also der Wissensrepräsentation. PFE besteht aus einer mehrdimensionalen, in verschiedenen "Strängen" geordneten Konfiguration binärer phonetischer Merkmale. SFE besteht aus Konstanten und Variablen, die zusammen eine propositionale Bedingung für die konzeptuelle Interpretation, d.h. für die Zuordnung sprachlicher Ausdrücke zu Konfigurationen der Wissensrepräsentation, bilden. Die Konstanten und Variablen sind kategorisiert als Argumente und Funktoren verschiedenen Typs, womit zugleich eine Strukturierung von SFE festgelegt ist, die durch kategorialgrammatische Prinzipien organisiert ist. GFE und ASE enthalten die Informationen, auf die sich die Mechanik der innersprachlichen Strukturbildung bezieht, die durch Schemata und Prinzipien der in (4) und (5) genannten Art determiniert wird. GFE besteht aus morphosyntaktischen Merkmalen, die die lexikalische Einheit E klassifizieren. Es sind diese Merkmale, auf die sich die Projektion in (4a) bezieht und die Parametrisierung der Prinzipien in (5). ASE schließlich besteht aus einer Hierarchie von Operatoren, die Variable in SFE binden und sie zugänglich machen für die Belegung oder Spezifizierung durch Informationen, die die semantische Form von Einheiten liefert, mit denen E kombiniert wird. Auf den Aufbau und die Funktionsweise von ASE beziehen sich insbesondere die Prinzipien der Theorie thematischer Rollen und der Kasus-Theorie. ASE ist gewissermaßen die Schnittstelle zwischen semantischer und syntaktischer Information: Die semantisch (und letztlich konzeptuell) fundierte Argumentstruktur legt die für die jeweilige Einheit E spezifische Selektion syntaktischer Argumente fest, die E aufgrund seiner lexikalischen Eigenschaften regiert. Sinngemäß vereinfacht läßt sich sagen, daß GFE und ASE die Informationen liefert, die durch Operationen des Typs (4) und im Rahmen der Prinzipien in (5) zur syntaktischen Organisation komplexer Kombinationen lexikalischer Einheiten ausgefaltet werden. (4) und (5) stellen gewissermaßen die strukturierte Gebrauchsanweisung für Datenstrukturen des Typs (7) dar. Die zahlreichen und tiefgreifenden Fragen und Vorschläge, die mit der konkreten Formulierung dieser Grundvorstellung verbunden sind, lassen sich hier nicht erörtern. Statt dessen will ich zwei im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Punkte deutlich machen. 1. Lexikalische Einheiten, also Datenstrukturen des Typs (7), sind nicht beliebige ListenItems, sondern sehr spezifische, komplex organisierte Datentypen. Sie unterliegen systematischen Bedingungen in dreifacher Hinsicht: (8)

(a) (b)

Bedingungen, die die Struktur der Informationen innerhalb der Einheiten E determinieren Bedingungen, die den kombinatorischen Effekt dieser Informationen bei der Erzeugung komplexer Ausdrücke determinieren

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(c)

Bedingungen, die die Beziehungen zwischen Einheiten innerhalb des lexikalischen Systems determinieren.

(8a) legt die oben angedeutete Organisation von PF^ SFB sowie die Struktur von grammatischer und Argumentsstruktur-Information fest. (8b) macht diese Organisation von Lexikoneinheiten inhärent abhängig von den Schemata und Prinzipien der Sprachkenntnis. Neben den in (4) und (5) genannten gehören dazu die Prinzipien der außerlexikalischen Phonologic sowie die formalen Prinzipien der Semantik (die weitgehend universell, d.h. unparametrisiert zu sein scheinen). (8c) schließlich betrifft die Organisation innerhalb des lexikalischen Systems, die verschiedene Arten von Subsystemen (Paradigmen, lexikalische Felder, morphologische Klassen) bilden. Die drei Bedingungstypen sind nicht unabhängig voneinander, und sie sind nicht auf das lexikalische System eingeschränkt. Die interessante Frage, ob es substantielle Unterschiede zwischen inner- und außerlexikalischen Bedingungen oder Prinzipien gibt, will ich hier unerörtert lassen. 2. Es ist klar, daß der Erwerb dergestalt strukturierter und prinzipienabhängiger Datentypen nicht als Assoziationslernen oder Listenlernen erklärt werden kann. Es ist ebenfalls klar, daß lexikalische Einheiten nicht Parameterwerte sind, also nicht durch Parameterfixierung konstituiert werden können, obgleich im Verlauf des Lexikonerwerbs auch entsprechende Parameterwerte fixiert werden. Dies gilt für die Parameter des phonetischen Merkmalssystems, für solche, die mit syntaktischen und morphologischen Kategorienmerkmalen zusammenhängen und vermutlich auch für die Fixierung von Konstanten der semantischen Form, die dann einzelsprachliche Variation der lexikalischen Distinktionen erfassen können. Insgesamt aber ist der Erwerb von Systemen lexikalischer Einheiten nicht als Fixierung von Parametern zu verstehen. Als was also dann? Ausgehend von den Erläuterungen zu den Informationstypen in (7) will ich die Bildung lexikalischer Einheiten als Projektion außersprachlicher (konzeptueller und artikulatorischer) Information auf den durch UG strukturierten Repräsentationsmechanismus bezeichnen. Ich werde im nächsten Abschnitt versuchen, den Sinn des Konzepts "Projektion" zu verdeutlichen und zu motivieren. Wichtig ist zunächst, daß dabei in außersprachlichen Systemen gebildete unabhängige Ordnungsstrukturen die Grundlage bilden, aber in ein eigenes Repräsentationsformat abgebildet werden, und daß dieser Prozeß essentiell verschieden ist von der im Spracherwerb vor sich gehenden Wahl der Parameterwerte von UG, obgleich beide Prozesse offensichtlich interagieren müssen. 5.8. Ich fasse das bisher skizzierte Bild von der Struktur der Sprachkenntnis, der ihr zugrundeliegenden Sprachfähigkeit und vom Zusammenhang beider kurz zusammen. Die Sprachfähigkeit enthält ein System von Operationsschemata und Prinzipien UG, das zum Erbprogramm der Spezies gehört. UG determiniert ein mentales Repräsentationssystem, das in mehreren, systematisch aufeinander bezogenen Ebenen organisiert ist. Die Prinzipien und Schemata von UG sind parametrisiert und lassen damit determinierte Variationen zu. Die Sprachkenntnis einer gegebenen Sprache besteht in einer bestimmten Konfiguration der Parameterwerte in UG und einem System lexikalischer Einheiten.

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Der Erwerb der Sprachkenntnis besteht in zwei verschiedenen, interagierenden Prozessen: Der Fixierung der Parameterwerte und der Projektion lexikalischer Einheiten. Diese beiden Prozesse sind in Inhalt und Verlauf substantiell verschieden: Die Aktivierung der Prinzipien und die Fixierung ihrer Parameter ist ein an bestimmte Entwicklungsphasen gebundener Prozeß, der aus einem initialen in einen stabilen Endzustand führt, die Projektion lexikalischer Einheiten, die ebenfalls bestimmte Phasencharakteristika aufweist, ist ein offener, nicht abbrechender Prozeß: Lexikalisches Wissen kann kontinuierlich erweitert, wiewohl nicht beliebig umstrukturiert werden. Ich muß hier auf die Erörterung der komplizierten Fragen verzichten, die mit der Rolle der Prozeßmechanismen und ihrer Konsequenzen für die physiologische Implementation von UG und der Sprachkenntnis verbunden sind. Sie sind Gegenstand intensiver Explorationen und werden das skizzierte Bild zweifellos präzisieren, aber in den Grundzügen kaum verändern. In der Tat ergeben sich die fruchtbarsten Fragestellungen in diesem Bereich gerade aus den hier zusammengefaßten Grundannahmen.

6. Charakter und Autonomie der Sprachfähigkeit Es stellt sich nun die Frage, ob und auf welche Weise die Sprachfertigkeit, und insbesondere UG, im genetischen Programm der Spezies fixiert sein kann. Die strikteste und in der einschlägigen Literatur weit verbreitete Annahme ist die, daß UG ein autonomes, gattungsspezifisches Modul der Artausstattung ist, daß mit anderen Worten die Schemata und Prinzipien von UG in irgendeiner (bislang unbekannten) Weise im Genom verankert sind. Die Auspizien dieser Annahme will ich jetzt ventilieren. 6.1. Als mentales Organ ist die Sprachfähigkeit und die aus ihr erwachsende Sprachkenntnis ein kombinatorisches Repräsentationssystem, das zwei Schnittstellen mit anderen Repräsentationssystemen aufweist: Die phonetische Form PF ist eine Art Compiler für auditive Eingabe und artikulationsmotorische Ausgabeinformationen, die semantische Form SF portioniert und strukturiert konzeptuelle Informationen, die über andere Module letztlich mit der Umgebungsinformation verbunden sind und sie in internen Modellen der Umwelt organisieren. Ich übergehe hier die auf verschiedene Weise sekundäre visuelle Ein- und Ausgabe durch graphemische Repräsentationen und Zeichensprache der Taubstummen. Faßt man konzeptuelle Repräsentationen und die Operationen über ihnen vereinfachend als Denken zusammen, dann erscheint die Sprache als System zur externen Wiedergabe von Gedanken, und es ist dann naheliegend, die Prinzipien von UG als Bedingungen anzusehen, die diese Wiedergabe vermitteln, die also auditiv-artikulatorische Strukturen an konzeptuelle Repräsentationen anpassen und umgekehrt. Während diese Beschreibung ziemlich unstrittig ist, wäre die Annahme, daß aus dieser Funktion der strukturelle Inhalt von UG zu erklären ist, entweder trivial oder falsch: trivial, insofern die eben gegebenen Charakterisierung in der Tat nur im Rahmen gewisser Abbildungen oder Zuordnungen möglich ist, falsch, wenn daraus der spezielle Charakter der Abbildung erklärt werden soll.

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Letzteres läßt sich leicht dadurch demonstrieren, daß viele Repräsentationssysteme konstruierbar und auch konstruiert worden sind, die die gleiche zur Diskussion stehende Funktion erfüllen, die aber Eigenschaften aufweisen, die aufgrund unseres gewonnenen Verständnisses für die Struktur natürlicher Sprachen auszuschließen sind. Zahlreiche formale Wissenschaftssprachen liefern Belege für diese Feststellung, ein Beispiel für Eigenschaften, die in solchen Sprachen vorgesehen, in natürlichen Sprachen aber prinzipiell ausgeschlossen sind, ist die Zulässigkeit leerlaufender Operatoren in der Syntax, d.h. Operatoren, die keine Variable binden. Man könnte einwenden, daß formale oder Programmiersprachen nicht die gleichen, sondern sehr viel speziellere Funktionen als die natürlichen Sprachen erfüllen und diesen Funktionen entsprechend vom Bau natürlicher Sprachen abweichen. Mit einer gelegentlich gebrauchten Metapher: künstliche Sprachen verhalten sich zur natürlichen wie Femglas oder Mikroskop zum Auge, das zwar für einzelne Spezialfunktionen schlechter, aber für die Gesamtheit der variierenden Funktionen optimal angepaßt ist. Die Analogie klingt plausibel, ist aber - ernst genommen - zirkulär: Anders als beim Auge, dessen Eigenschaften phylogenetisch durch extern bedingte Leistungsanforderungen selektiert worden sein müssen, ist die Palette von Funktionen, denen die natürliche Sprache dient, durch die Bedingungen mitkonstituiert, die sich aus der Sprachfähigkeit der Spezies ergeben. Die Sprache müßte also zu ihren eigenen Selektionsbedingungen gehören. In ähnliche Aporien geraten übrigens fast alle Versuche, Eigenschaften der natürlichen Sprache funktional, also Ideologisch, statt strukturell und kausal zu erklären. Ich komme darauf im nächsten Abschnitt zurück. 6.2. Wenn also das durch UG determinierte Repräsentationssystem zwar die genannte Funktion der Exteriorisierung von Gedanken (und alle Derivate dieser Funktion) erfüllt, in seiner Struktur aber nicht aus diesen Funktionen abgeleitet werden kann, dann muß der Inhalt von UG aus einer autonomen phylogenetischen Kausalkette erklärt werden. Ich erörtere diese Frage im nächsten Abschnitt und will hier zunächst eine notwendige Voraussetzung dafür klären, nämlich die Möglichkeit, Prinzipien und Schemata von UG biologisch zu interpretieren, ihnen eine genetische Verankerung zuzuweisen. Hier entsteht eine Schwierigkeit, die Fanselow "Harmans Problem" genannt hat, weil Harman eine einschlägige methodologische Forderung deutlich gemacht hat. UG als Ganzes und die einzelnen Prinzipien sind Konstrukte zur Erklärung relevanter empirischer Befunde. Sollen solche Konstrukte nicht arbiträr sein, muß ihre Legitimation durch Fakten ausgewiesen sein, die von denen unabhängig sind, zu deren Erklärung die fraglichen Konstrukte postuliert werden. Für die biologische Erklärung würde andernfalls der in 2.4. erwähnte Vorwurf der Beliebigkeit gelten. Eine direkte physiologische oder gar molekularbiologische Verifizierung der Konstrukte wirft jedoch essentielle Schwierigkeiten auf, erstens wegen des derzeitigen Erkenntnisstands in der Physiologie und Genetik des Kortex, zweitens aber vor allem, weil vorab klärungsbedürftig ist, was überhaupt auf physiologische oder genetische Korrelate bezogen werden kann. Läßt man den oberflächlichen Eindruck beiseite, den die einschlägige Diskussion zur Syntaxtheorie gelegentlich bietet, daß nämlich rasch ein Prinzip postuliert wird, wenn damit eine interessante Generalisierung zu erfassen ist, und ein Parameter eingefügt wird, wenn die

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Generalisierung so generell doch nicht ist (Explorationen dieser Art sind legitim und unvermeidlich), dann bleibt eine ernsthafte Problematik: Sofern Prinzipien spezifisch für die Sprachfähigkeit sind, also im strikten Sinn zu UG gehören, können sie nicht in anderen mentalen Systemen wirksam sein und also "diesseits" der Neuro-Biologie nicht durch unabhängige Evidenz bestätigt werden. Die Überlegungen, denen zufolge die Sprachfähigkeit ein autonomes Modul der gattungsspezifischen Artausstattung bildet, fuhren also offenbar zumindest heuristisch in ein Dilemma. 6.3. Hier ist eine Entwicklung von Bedeutung, die man nach der regelorientierten StandardTheorie und der ihr folgenden Konzeption von Prinzipien und Parametern als eine dritte Phase der generativen Sprachtheorie ansehen kann. Sie besteht in der schrittweisen Herausarbeitung von Zusammenhängen, aufgrund deren der Effekt von Prinzipien von UG aus allgemeineren, nicht mehr sprachspezifischen Eigenschaften von Repräsentationssystemen abzuleiten wäre. Dieser von Chomsky (1988) mit Überlegungen zur Repräsentations- und DerivationsÖkonomie artikulierte Schritt hat eine Reihe von Vorläufern und Parallelentwicklungen, zu denen u.a. Kaynes Konzept der "Connectedness", Kosters Prinzip der "Global Harmony", Fanselows "Proper Inclusion Principle" oder die oben erwähnte generelle Kategorialstmktur der semantischen Form gehören.17 Was diese Vorschläge gemeinsam haben, ist, daß sie Prinzipien formulieren, die nicht an sprachspezifische Repräsentationseinheiten gebunden sind, sondern allgemeinere Eigenschaften wie Vollständigkeit, Ökonomie, Homogenität oder kategoriale Kohärenz bestimmter Repräsentationssysteme determinieren. Sprachspezifisch werden sie erst und genau dadurch, daß die Repräsentationen, auf die sie bezogen werden, in Termen sprachspezifischer Grundelemente - syntaktischer, morphologischer, phonetischer Merkmale oder semantischer Konstanten - organisiert sind, die aber als solche in den Bedingungen nicht auftreten. Wichtig ist dabei zweierlei. Erstens hat sich die angedeutete Entwicklung ebenso wie der Übergang von der StandardTheorie zum Prinzipien-und-Parameter-Konzept aus empirischen und theoretischen Anforderungen im Rahmen der Grammatiktheorie ergeben. Sie ist ein in gewissem Sinn natürlicher Schritt in der Theorie-Entwicklung, der der Suche nach einem tieferen Verständnis des studierten Faktenbereichs entspringt.

Mit Ausnahme der kategorialgrammatischen Organisation der semantischen Form sind die genannten Konzepte alle im Rahmen syntaktischer Theoriebildungen entstanden, wobei die Motivation zunächst ganz im Rahmen innersyntaktischer Erklärungsanforderungen bestand, die hier diskutierte Orientierung also nur implizit im Spiel war. Zur Diskussion der genannten Konzepte vgl. Kayne (1984), Koster (1987), Fanselow (1989). Fanselow (in diesem Band) weist übrigens darauf hin, daß das "Proper Inclusion Principle" eine Verallgemeinerung der von Kiparsky (1973) für die Phonologic formulierten "Elswhere-Condition" ist. Die Phonologic ist mithin an der hier diskutierten Tendenz essentiell beteiligt Jackendoff (1987) ventiliert eine analoge Überlegung in einer etwas anderen Perspektive, indem er systemübergreifende Eigenschaften von Repräsentationstypen kennzeichnet Solche Eigenschaften sind Linearität, Hierarchie, Kopf-Zentriertheit, die sich in charakteristischer Weise auf verschiedene Ebenen der sprachlichen, visuellen und musikalischen Systeme verteilen, die Jackendoff kontrastierend und vergleichend analysiert (und die vermutlich in anderen Systemen, etwa der Organisation von Bewegungs- und Handlungsschemata wiederkehren).

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Zweitens, es muß im Rahmen dieser Entwicklung, wie bei jedem Übergang zu einem erweiterten theoretischen Rahmen, gezeigt werden, daß die bisher stipulierten Annahmen tatsächlich aus den neuen, allgemeineren Prinzipien abgeleitet werden können. Analysen, die das zeigen, sind aus leicht einsehbaren Gründen verwickelt und schwierig, Fanselow (1989 und in diesem Band) skizziert die Konturen eines solchen Programms. Ich halte dieses Programm aufgrund seiner bisherigen Resultate insgesamt für zwingend und aussichtsreich, unbeschadet zunächst unvermeidlicher Imponderabilien, und nehme für die folgenden (damit notwendigerweise spekulativen) Überlegungen an, daß die Grundorientierung dieses Programms korrekt ist. Das Konzept der "Metaprinzipien", wie ich die skizzierte Vorstellung nennen will, löst zwei Probleme und wirft zwei Fragen auf. Lösung 1: Metaprinzipien sind gegen den methodologischen Vorwurf der Beliebigkeit gesichert. Zum einen gibt die Tatsache, daß aus ihnen speziellere Prinzipien bei Wahl entsprechender Randbedingungen - also z.B. syntaktischer Kategorienkonfigurationen - folgen, den Metaprinzipien eine stärkere, wenngleich indirekte, Begründung. Zum anderen ist ihre Gültigkeit in anderen Domänen, also durch unabhängige Evidenz verifizierbar. Dies ist eine schwierige, aber rationale Aufgabenstellung. Lösung 2: Metaprinzipien der angedeuteten Art sind wesentlich eher als mentale Organisationsprinzipien zu verstehen, denen physiologische Mechanismen und genetische Grundlagen entsprechen. Wenn z.B. das Prinzip der Gestaltschließung und die Forderung nach vollständiger Spezifizierung maximaler Konstituenten der Syntax Konsequenzen des gleichen Metaprinzips wären, dann wäre damit zwar dessen biologische Realisierung keineswegs geklärt. Die Frage, wofür ein biologisches Korrelat zu identifizieren ist, käme jedoch einer biologisch behandelbaren Fragestellung ein gutes Stück näher. Frage 1: In dem Maße, in dem Prinzipien von UG als Konsequenzen allgemeinerer Metaprinzipien auszuweisen sind, löst sich die Spezifik der Sprachdisposition auf. Was also wird unter dieser Konzeption aus der Autonomie der Sprachfähigkeit? Wie ist die Zurückführung auf Metaprinzipien mit der Gattungsspezifik vereinbar, die ja ein wesentlicher Grund für die Annahme biologischer Grundlagen der Sprachfähigkeit ist? Frage 2: Was wird aus der Parametrisierung von UG, wenn deren Prinzipien Derivate von Metaprinzipien sind? Wie ist unter dieser Voraussetzung die strukturelle Divergenz von Einzelsprachen und der Erwerb der entsprechenden Kenntnissysteme zu erklären? Ich diskutiere zuerst die zweite, anschließend die erste Frage. 6.4. Parameter waren von Anfang an anzusehen als Optionen, die sich auf bestimmte Merkmale oder Merkmalskonfigurationen beziehen und (idealiter) durch das Auftreten solcher Konfigurationen in bestimmten (Klassen von) lexikalischen Einheiten entschieden werden. Als solche gehören sie unzweifelhaft zu den Randbedingungen, die den Metaprinzipien ihre jeweils charakteristischen Konsequenzen geben. Als erstes ist demnach zur Frage 2 zu vermerken, daß die Parametrisierung in gewissem Sinn von den Prinzipien gelöst und ausschließlich in die Wahl der Werte für repräsentationelle Primes bzw. ausgezeichnete Grundkonfigurationen von Primes verlegt wird. Dies ist

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eine Spezifizierung der Annahme, daß Parameter an triggernde Lexikoneinheiten gebunden sind. In der Phonologie ist die damit gegebene Situation nicht überraschend: Ob eine Sprache Palatalisierung als distinktive Dimension nutzt, ob vordere Vokale den markierten Wert "labial" (gerundet) zulassen, sind Optionen für Parameter, die in speziellen Merkmalen liegen. Analog ist das Auftreten und die Charakteristik semantischer Konstanten in vielen Fällen gleichbedeutend mit der Fixierung eines Parameterwertes. Wichtig ist nur, daß das Auftreten bestimmter Konstellationen von Parameterwerten die entsprechenden Konsequenzen in der Funktion von Metaprinzipien haben muß. Dies nachzuweisen, ist alles andere als trivial, bewegt sich aber konsequent im Rahmen linguistischer Analysen und Theoriebildung. Als zweites ist festzuhalten, daß auch und gerade beim Übergang zu Metaprinzipien die Spezifik und Substanz der Grundelemente, die in Repräsentationen sprachlicher Ausdrucke figurieren, nicht aufgehoben wird. Sie trägt vielmehr essentiell zur Spezifik und damit in etwas veränderter Weise zur Autonomie der Sprachfähigkeit bei. Dies führt zur Frage 1. 6.5. Zunächst wird die Autonomie biologischer Module oder Organsysteme nicht dadurch aufgehoben, daß sie anatomisch oder funktionell mit anderen Organen verschränkt sind. Die Zunge oder das Atmungssystem sind offensichtliche Beispiele. Autonomie eines Systems kann also sinnvollerweise nicht heißen, daß alle seine konstitutiven Bedingungen nur für dieses System gelten. Tatsächlich muß gerade die Sprachfähigkeit wegen ihrer beiden Schnittstellen PF und SF inhärente Gemeinsamkeiten mit außersprachlichen Modulen aufweisen, die es möglich machen, artikulatorische bzw. konzeptuelle Konfigurationen den sprachlichen Ebenen zuzuordnen. Ich werde diesen Zusammenhang sogleich wieder aufgreifen. In ähnlichem Sinn zeigt Jackendoff (1987), daß z.B. die prosodischen Aspekte von PF wesentliche Gemeinsamkeiten mit der metrischen Struktur musikalischer Repräsentationen aufweisen und daß die von Marr (1982) begründete 3-D-Repräsentation des visuellen Systems Determinanten des konzeptuellen Systems unterliegen muß. Prinzipien-Anteiligkeit scheint also sowohl im physiologischen wie im mentalen Organbereich nicht die Ausnahme, sondern die Regel zu sein. Die in Abschnitt 3 erörterte Verschränkung und Ko-evolution von Modulen muß das auch erwarten lassen. Was aber ist dann die Spezifik der Sprachfähigkeit, die ihre gattungsbezogene Charakteristik ausmacht? Eine denkbare Antwort würde heißen: die spezielle Kombination der anteilig integrierten Prinzipien anderer Module. Die Sprachfähigkeit würde damit durchaus plausibel als Überlagerung oder Aufstockung auf anderen Modulen zu verstehen sein - was hinsichtlich des Artikulationsapparats z.B. direkt konstatierbar ist. Wenn diese Antwort die richtige Richtung angibt, dann ist aber notwendig zu fragen, worin diese spezielle Kombination besteht, wie sie determiniert und wie diese Determination genetisch fixiert ist. Chomsky (1986) stellt die in dieser Hinsicht einschlägige Überlegung an, daß die essentielle Charakteristik der Sprachfähigkeit das Auftreten von diskreter Infinitheit in Repräsentationssystemen ist. Außersprachliche (evolutionär frühere) Systeme besitzen offensichtlich nicht die Kombination dieser beiden Bedingungen: diskrete Repräsentationsstruktur und nicht endliche Distinktionsmöglichkeiten. Diese Kombination ergibt sich erst aus dem Auftreten

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rekursiver Operationsschemata, die damit im eigentlichen Sinn konstitutiv für das sprachliche Repräsentationssystem wären. Chomsky schließt daran folgerichtig die Überlegung an, daß Sprachfähigkeit und die Fähigkeit arithmetischer Operationen Elaborierungen der gleichen Disposition sein könnten. Ich will diese Überlegung in etwas spezifischerer Weise weiterführen und ergänzen. Diskretheit sprachlicher Repräsentationen ist essentiell gebunden an die Diskretheit der repräsentationellen Grundelemente. Die für die Sprachfähigkeit spezifischen Repräsentationsebenen sind damit zunächst determiniert durch das Ensemble der ebenenspezifischen Primes, die die diskrete Kodierung auch gegebenenfalls nicht-diskreter Repräsentationen ermöglichen. Die beiden Schnittstellen PF und SF und ihre Inventare erfüllen genau diese Bedingung. UG besteht damit zunächst aus einem System von repräsentationellen Primes bzw. Schemata, die solche Primes erzeugen. Letzteres ist notwendig, um das nicht im vorhinein fixierte Repertoire semantischer Primes erweitern zu können. Das System von Primes bzw. Prime-Schemata ist zugleich die Lokalisierung der Parameter von UG: Die Primes unterliegen einer gewissen Plastizität, die aktuellen Werte einer gegebenen Sprache werden erfahrungsabhängig getriggert. Damit sind Primes vorgegebene Kategorisierungsdispositionen, die sich - mit einer wichtigen, gleich zu erörternden Ergänzung - auf außersprachliche Module beziehen, deren Repräsentationen den "Inhalt" der Kategorisierung liefern. Die Infinitheit, d.h. die rekursive Kombinierbarkeit sprachlicher Repräsentationen beruht auf ihrer Organisationsform, die diskrete Datenstrukturen für die Erzeugung komplexer Konfigurationen disponiert. Diese Disposition ist der entscheidende Aspekt des Aufbaus lexikalischer Einheiten: Lexikoninformation ist inhärent auf Kombi nierbarkeit angelegt. Integrierte Repräsentationen komplexer sprachlicher Ausdrücke sind im früher erörterten Sinn die Ausfaltung der Information der in ihnen enthalten lexikalischen Einheiten. Diese Ausfaltung und ihr Ergebnis unterliegt den Prinzipien von UG, die nun weitgehend als Effekt sprachunspezifischer Metaprinzipien zu verstehen sind. Die relevante Infinitheit diskreter Repräsentationen ist damit in der Essenz auf die Disposition, Datenstrukturen der in (7) angedeuteten Art zu bilden, zurückgeführt. Außer dem System phonetischer und semantischer Primes (oder Prime-Schemata) besteht UG damit aus dem Bauplan für Lexikoneinheiten, genauer für das Arrangement und die Verzahnung der Informationskomplexe solcher Einheiten. Hier ist der oben angekündigte Zusatz zu machen. Er betrifft die Grundelemente, aus denen GFE und ASE bestehen, die nicht durch außersprachliche Module motiviert sind, sondern die Bedingungen der strikt sprachinternen Kombinatorik kodieren. Die dafür möglichen Optionen - syntaktische und morphologische Kategorien sowie die Organisation der Argumentstruktur - sind die Determinanten, die die sprachspezifische Kombinatorik (und damit Infinitheit) von Repräsentationsstrukturen bestimmen. Ihr Inhalt und ihre Variationsmöglichkeiten sind ausschließlich mit der formalen Organisation sprachlicher Repräsentationen verbunden. Im Hinblick auf diese generellen Feststellungen ist es interessant, daß Untersuchungen auf diesem Gebiet in der Schlußfolgerung konvergieren, daß die Bedingungen der Argumentstruktur und ihrer morpho-syntaktischen Realisierung durchweg in der Struktur lexikalischer

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Einheiten fixiert sind, auch und gerade weil sie auf diese Weise die Organisation komplexer Ausdrücke determinieren und vielfach erst an diesen Konsequenzen sichtbar werden.18 6.6. Diese Überlegungen führen insgesamt zu der Annahme, daß die Spezifik der Sprachfähigkeit darin bestehen dürfte, daß das menschliche Gehirn mit einem Representations- und Berechnungssystem ausgestattet ist, das mentale Strukturen anderer Module - insbesondere der konzeptuellen Repräsentation der Umwelt sowie der Feinmotorik primär des Artikulationsapparats und der entsprechenden perzeptiven Muster - in effektiver Weise zu codieren und miteinander zu korrelieren und zu kombinieren gestattet. Die charakteristischen Eigenschaften dieses Repräsentationssystems ergeben sich aus zwei Faktoren: der Organisation kombinationsfähiger Datenstrukturen vom Typ der Lexikoneinheiten und der für diese Datenstrukturen erforderlichen abstrakten Codierung der Information der zugeordneten Module. Dabei dürften die effektive Codierung, basierend auf den Elementen der Interface-Systeme, d.h. der phonetischen und der semantischen Form, und die kombinatorische Organisation einander bedingen als zwei Aspekte der gleichen Strukturbildung, deren wesentlicher Effekt darin besteht, daß sie einen qualitativ höheren Wirkungsgrad der Verarbeitungsprozesse ermöglicht. Was ich oben "Projektion" als Mechanismus des Erwerbs lexikalischen Wissens genannt habe, ist unter diesem Gesichtspunkt die Übertragung und Anpassung von Informationen der. außersprachlichen Module auf eben dieses Repräsentationssystem. Die Fixierung der Parameter dieses Systems ist dann die Festlegung von Codierungs- und Repräsentationsoptionen, wobei die möglichen Alternativen aus den Anpassungsbedingungen, die die Schnittstellen mit sich bringen, sowie aus Varianten der Steuerung der kombinatorischen Repräsentation entstehen. Die so umschriebene Vorstellung entspricht weitgehend dem, was Haider (in Vorbereitung) mit der Metapher des "Koprozessors" anvisiert. Ein Koprozessor ist ein zuschaltbares Subsystem eines Rechners, das für spezifische Domänen (etwa bestimmte mathematische Berechnungen) durch kompakte Codierung und entsprechende Routinen einen besonderen Effizienzgrad erreicht. In diesem Sinn vermittelt das sprachliche System eine effizientere Verarbeitung der an ihren Schnittstellen anliegenden mentalen Repräsentationen.19 Die hierher gehörenden Überlegungen und Ergebnisse sind in den verschiedenen Schulen und Versionen gegenwärtiger Grammatiktheorien zwar im Detail verschieden ausformuliert worden, sie reflektieren aber die gleiche Grundeinsicht Relativ früh wurde die Tendenz in der Lexikalisch-funktionalen Grammatik (LFG) in den Arbeiten Joan Bresnans erkennbar. Die wesentlichen Gnindüberlegungen im Rahmen der Rektions-und-Bindungstheorie sind zusammengefaßt z.B. in den Erläuterungen zum Lexikon in Chomsky (1986), wo kategoriale und semantische Selektion als Konsequenz der entsprechenden Eigenschaften lexikalischer Einheiten bestimmt werden. Eine detaillierte Exploration der syntaktischen Konsequenzen dieser Annahmen gibt z.B. Speas (1988). Im Rahmen der Generalisierten Phrasenstnikturgramnutik (GPSG) hat die Entwicklung zum Konzept der "Head driven Phrase Structure Grammar" (HPSG) geführt, vgl. Sag (1987). Ich habe Haiders Überlegungen hier etwas vereinfacht Sie dienen ihm unter anderem dazu, den Begriff des Parameters zu prüfen und zu verdeutlichen. Dabei unterscheidet er zwischen Optionen, die er "Altemanten" nennt, wenn sie mit der substantiellen Interpretation der formalen Elemente des Koprozessors verbunden sind, und Optionen, die die rein formale, interne Organisation des Systems ausmachen und die Parameter im engeren Sinn sind. Unter diesem Gesichtspunkt sind Optionen, die mit der Fixierung der Schnittstellen zusammenhängen - etwas vereinfacht: die Werte für Dimensionen der phonetischen und semantischen Form -, Altemanten; Dimensionen der syntaktischen Organisation im wesentlichen aber Parameter im engeren Sinn.

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Versteht man diese Analogie mit der für die Computermetapher in den kognitiven Wissenschaften generell gebotenen Vorsicht (die darum nötig ist, weil wir in Wirklichkeit über die Implementierung von Berechnungsprozessen im Gehirn kaum etwas Verläßliches wissen), dann eröffnet sie eine Reihe von Verständnis- oder Denkmöglichkeiten. Ich will kurz zwei von ihnen andeuten. Erstens muß der (Coprozessor in wesentlichen Zügen seines Aufbaus als strukturierte Einheit verstanden werden, die als Ganzes die kombinatorische Zuordnung der anliegenden Repräsentationssysteme vermittelt und damit auch diesen wiederum einen potentiell höheren Wirkungsgrad verleiht. Die Ganzheitlichkeit des Koprozessors ist dabei eine Sache der Organisations- und Funktionsstruktur, in der der für die Sprache zentrale Datentyp der kombinationsfähigen Lexikoneinheiten und die Prinzipien ihrer Kombinatorik realisiert sind. Phylogenetisch kann diese Organisationsstruktur ein zwangsläufiges oder ein zufälliges, jedenfalls aber ein strukturell zusammenhängendes Ergebnis des Hirnwachstums sein, das für die Evolution der Primaten und speziell des Menschen charakteristisch ist. Die Spezifik dieser Organisationsstruktur läßt verschiedene Denkmöglichkeiten offen, ohne daß unmittelbar genetische Verankerungen einzelner Prinzipien oder Elemente, die in ihrer Beschreibung auftreten, stipuliert werden müssen. Bedeutsam für die im nächsten Abschnitt zu erörternden Fragen ist aber die Tatsache, daß das Vermittlungssystem als Ganzes, seine kombinatorische Struktur, nicht einzelne Elemente die Sprachfähigkeit konstituiert. Zweitens organisiert sich dieses Vermittlungssystem in der Ontogenese - zweifellos im Zusammenhang mit der Hirnreifung - aufgrund der Effizienz der Codierung und Kombinatorik, die es seiner funktionalen Struktur gemäß ermöglicht. Positive Information, die erfolgreich verarbeitet wird, fixiert dabei zugleich die für die Verarbeitung erfolgreichen Optionen im Codierungsrepertoire und Repräsentationsformat. Dies läßt die zwei Aspekte des Spracherwerbs deutlich hervortreten: Die "Einrichtung" oder Anpassung des Koprozessors entspricht der Parameterfixierung, die Projektion spezieller Datenkonfigurationen dem Erwerb lexikalischen Wissens. Der erste dieser Aspekte ist an die Reifung des Gehirns gebunden, der zweite dagegen läuft über die plastische Phase hinaus kumulativ weiter. Analogiebetrachtungen dieser Art können nützlich und notwendig sein, um die Perspektive sinnvoller Fragestellungen und möglicher Antworten zu konturieren. Sie müssen am Ende selbstverständlich durch nicht-metaphorische Theorien ersetzt und überflüssig gemacht werden. 6.7. Ich fasse abschließend das bisher skizzierte Bild von der Natur und der Autonomie der Sprachfähigkeit zusammen. Die Sprachfähigkeit setzt onto- und phylogenetisch außersprachliche Module, insbesondere das konzeptuelle System sowie Artikulationsmotorik und das auditive System voraus. UG determiniert Bedingungen, die über diesen Systemen diskret-kategoriale Repräsentationen bilden. Sie werden organisiert durch die Konfiguration von Datenstrukturen in lexikalischen Einheiten. Die Strukturierung dieser Einheiten ist durch UG determiniert. Zu ihr gehören die Elemente und Abhängigkeiten, die grammatische Kategorisierung und Argumentstruktur festlegen. Die in den Lexikoneinheiten enthaltenen Informationen steuern

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die Erzeugung komplexer Repräsentationen, deren Aufbau darüber hinaus weitgehend sprachunspezifischen Metaprinzipien unterliegt. Die genetisch fixierte, autonome Spezifik der Sprachfähigkeit liegt damit in den Bedingungen für die Fixierung kategorisierender Primes sowie in dem relativ komplexen Organisationsschema für lexikalische Einheiten, innerhalb dessen auch die Werte für die sprachinternen Primes fixiert werden, die die Kombinatorik der Einheiten steuern. Der Spracherwerb besteht damit in der Projektion lexikalischer Einheiten. In dem biologisch determinierten Phasenablauf werden die Parameterwerte für die in UG vorgegebenen Primes fixiert und die Operationsweise der Metaprinzipien getriggert. Dieses Bild schließt zwar an Ergebnisse und Entwicklungen der linguistischen und psycholinguistischen Forschung an, ist aber zwangsläufig provisorisch und spekulativ. Es führt die in verschiedenen Versionen verfolgte Tendenz, lexikalische Information zum Auslöser für Strukturbildungen mit sehr generellen Prinzipien zu machen, so konsequent wie möglich durch und umschreibt damit ein wie mir scheint plausibles, jedenfalls rationales Programm zur Ausführung der These 1. Für die folgende Erörterung bietet das skizzierte Bild eine nützliche Verdeutlichung, die Argumentation ist aber weitgehend unabhängig davon, ob die Annahmen in der hier angedeuteten Form bestätigt werden können oder modifiziert werden müssen.

7. Entstehung von Sprache und Sprachfähigkeit Ich setze für die folgende Diskussion, die unter anderem die These 2 begründen soll, voraus, daß die Sprachfähigkeit eine biologisch fixierte Disposition ist, die eine spezifische Struktur aufweist, für die die eben erörterten Vorstellungen mögliche Anhaltspunkte liefern. Ich will nun erörtern, was aus dieser Annahme und den in Abschnitt 4 resümierten Mechanismen der Evolution für die Entstehungsbedingungen dieser Fähigkeit folgt. 7.1. Es ist angezeigt, deutlich zwischen drei Arten von Entwicklungen zu unterscheiden: Entstehung der Sprachfähigkeit, Entstehung der Sprache und Sprachwandel. Sprachwandel setzt nicht nur die Sprachfähigkeit, sondern auch das Bestehen von Sprachen als sozialen Institutionen schon voraus. Deskriptiv ist Sprachwandel Gegenstand der Sprachgeschichte oder historischen Linguistik, systematisch ist er Gegenstand der Theorie des Sprachwandels. Diese Problematik kann hier beiseite bleiben.20 Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen der Entstehung der Sprache im Sinn von (A 1) und der Entstehung der Sprachfähigkeit im Sinn von (A 2), die vor allem in funktionalistischen Erklärungsversuchen konfundiert werden, mit entsprechenden Konsequenzen. Selbst bei dem passionierten Darwinisten Friedrich Engels führt diese Konfusion (in der Studie "Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen") zu rein lamarckistischen Eine anregende Diskussion der Prinzipien des Sprachwandels unter den hier verfolgten Gesichtspunkten findet sich in Lightfoot (1982), wo die biologischen Aspekte sowohl der Veränderung wie der Entstehung von Grammatiken in der Spezies erörtert werden.

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Gedankengängen. Die Formel "Das Bedürfnis schuf sich sein Organ" als Erklärung der Sprachfähigkeit aus den Gegebenheiten von Arbeit und Kommunikation bildet seither den Leitfaden zahlreicher Paraphrasen dieser Auffassung. Ich will die nahe unter der Oberfläche liegenden Aporien oder Paradoxien dieser Auffassungen verdeutlichen, indem ich zunächst die Logik der Evolution der Sprachfähigkeit diskutiere, um danach zu klären, was über die Entstehung der Sprache als Institution gesagt werden kann. 7.2. Es liegt auf der Hand, daß die Evolution der Sprachfähigkeit als empirische Frage nur indirekt und durch Rekonstruktion behandelt werden kann. Vorschläge und Studien dazu bieten ein kontroverses Bild.21 In die Erörterung, welches die entscheidenden Faktoren waren - aufrechter Gang, Veränderung der Schädel- und Kieferanatomie, Vergrößerung des Neokortex kann und muß ich hier nicht eintreten. Abgesehen von der Schwierigkeit schlüssiger Argumentationen ist ohnehin anzunehmen, daß dabei mehrere Faktoren im Sinn der Ko-evolution verschiedener Organe zusammenspielen. Was ich indessen für entscheidend und hinreichend klar halte, ist dreierlei. (a) Die Sprachfähigkeit setzt die vorgängige oder gleichzeitige Evolution der Module voraus, die ihre Schnittstellen konstituieren, also insbesondere die Gestaltung des Vokaltrakts und der Artikulationsmotorik sowie die verschiedenen Subsysteme, die an der Erzeugung konzeptueller Strukturen beteiligt sind. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Damit ist nicht gesagt, daß Intelligenzleistungen, die erst dadurch möglich werden, daß die Sprache zur Verfügung steht, bereits vor der Sprachfähigkeit ausgebildet sein müßten. Ich mache nur die unstrittige Annahme, daß konzeptuelle Module stammesgeschichtlich vor der Sprachfähigkeit entstanden sind. (b) Die Sprachfähigkeit ist eine autonome und in diesem Sinn ganzheitliche Disposition, deren Charakteristikum die kombinatorische Strukturbildung ist, die konzeptuelle auf sensomotorische Repräsentationen abbildet. Der entscheidende Punkt ist die inhärente Kombinatorik. Nichtkombinatorische Zuordnungen von klassifikatorischen Merkmalsstrukturen zu akustischen oder visuellen Mustern sind auch bei Primaten nachweisbar. (c) Die Evolution der Grundlagen dieses Repräsentationssystems ist verdeckt, das heißt durch permissive Selektion vor sich gegangen, mit anderen Worten: Die mit der Sprachfahigkeit verbundenen Verhaltensmöglichkeiten konstituieren keinen Selektionsvorteil. Es muß wohl offen gelassen werden, auf welche Weise die entsprechenden genetischen Veränderungen entstanden sind und sich durchgesetzt haben - etwa als begleitende Erbänderung zu solchen, die unmittelbar fortpflanzungsbegünstigend sind -, klar ist lediglich, daß die Sprachfähigkeit als solche keinen Selektionsvorteil darstellen kann. Punkt (c) ist die vermutlich strittige Behauptung und soll deshalb begründet werden. Der scheinbar offensichtliche Einwand gegen (c) besagt, daß die mit der Sprachfähigkeit gegebene Möglichkeit der Exteriorisierung von Gedanken und damit der Planung und Koordination von kollektivem Handeln fraglos ein Selektionsvorteil der Population und damit der SpeEinen Überblick über die Forschungslage, die verschiedenen, meist sehr indirekten, Evidenzen und die zum Teil kontroversen Auffassungen und Annahmen bieten die Darstellungen von Dingwall (1988) und Demers (1988).

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zies ist. Dieser Einwand übersieht, daß diese Art von Selektionsvorteil überhaupt erst eintreten könnte, wenn die Disposition sich in institutionalisierten Sprachen oder Dialekten manifestieren kann. Ohne Sprache kein Sprechen. Die Möglichkeit solcher gruppenbezogener Institutionen setzt aber die Sprachfähigkeit bereits voraus. Das in der sozialen Gruppe herausgebildete und institutionalisierte Resultat der Sprachfähigkeit kann aber nicht die Bedingung von deren Entstehung sein. Auf eine zugespitzte Formel gebracht: Die Tatsache, daß Sprachen gesellschaftliche Institutionen sind, schließt deren Rolle für die biologische Evolution der Sprachfähigkeit aus. Ohne Sprachen aber ist Sprachfähigkeit keine Selektionsvorteil. Es sieht so aus, als hätte ich ein phylogenetisches Paradox konstuiert, das in Wirklichkeit ein Scheinproblem ist, für das in analogen Fällen durchaus widerspruchsfreie Losungen angenommen werden müssen. Analoge Fälle sind nicht ungewöhnlich, als Beispiel mag die genetische Disposition zur Staatenbildung bei verschiedenen Insektenarten dienen. Die komplexen, vielfältig ineinandergreifenden und notwendig erbfixierten Verhaltensprogramme der Bienen etwa setzen einerseits die soziale Organisationsform, die sie determinieren, voraus, müssen andererseits aber aus phylogenetischen Vorstufen hervorgegangen sein, in denen eben diese Bedingungen noch nicht bestanden. Die Lösung des scheinbaren Paradoxes ist, natürlich, daß das komplexe Verhaltensprogramm nicht in einem Schritt entstanden ist, sondern über zahlreiche Zwischenstufen, in denen bereits Teile der Bedingungen bestanden, aufgrund deren weitere Variationen in Richtung auf die weitere Integration des Verhaltensprogramms selektionsbegünstigend waren. Solche Stufen - etwa die weniger komplexen Staatenformen der Wespen - sind bekannt, die Logik der Evolution ist im Prinzip einsichtig. Es ist also sorgfältiger zu prüfen, ob und in welcher Weise sie auf die Phylogenese der Sprachfahigkeit zu übertragen ist. Ich mache zunächst zwei Punkte klar, um die es bei der Phylogenese der Sprache nicht geht und diskutiere dann die Möglichkeiten, die eben angedeutete Form der Argumentation auf die Sprachfähigkeit anzuwenden. Der erste Punkt betrifft die Tatsache, daß das komplexe Programm des menschlichen Sozialverhaltens, wie das aller Primaten und auch anderer Spezies, schrittweise entstanden ist und phylogenetisch ältere mit nachfolgend erworbenen Dispositionen verbindet. Das schließt auch den Bereich der Kommunikation etwa durch Gesten und Mimik ein. Einen breiten Überblick über diesen Gesamtzusammenhang gibt Eibl-Eibesfeldt (1984). Gerade die vergleichende Verhaltensforschung und das Studium der Tierkommunikation hat aber klar gemacht, daß die natürliche Sprache nicht eine phylogenetische Fortsetzung früherer Kommunikationssysteme ist. Diese Feststellung betrifft nicht nur die akustische Modalität, die bei den nächstverwandten Arten als Kommunikationsmedium nur eine untergeordnete Rolle spielt, sondern vor allem die strukturelle Organisation. Es besteht weitgehend Einigkeit, daß gerade die Sprachfähigkeit keine Verbindung zu phylogenetisch älteren Verhaltensdispositionen aufweist.22 Die Überlegungen zur Evolution der Sprachfahigkeit müssen sich also wesentlich auf diese selbst, nicht auf andere Verhaltens- und Kommunikationsformen beziehen. Insbesondere die vergleichende Analyse von Tierkoirununikationssystemen macht das ganz deutlich. Diejenigen der dem Homo sapiens nächststehenden Arten haben sehr wohl ihre Fortsetzung in bestimmten Aspekten der menschlichen Kommunikation (vor allem paralinguistischer Natur), doch sind gerade sie nicht entscheidend für die Evolution der Sprachfähigkeit Umgekehrt ist gerade die Sprachfahigkeit auf den Menschen beschränkt Vgl. auch Anmerkung 3.

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Der zweite Punkt betrifft die schrittweise Entwicklung der Sprachfähigkeit. In Rede steht hier nicht die Frage, ob die Fähigkeit zu sprachlichen Repräsentationen und Operationen - der sprachliche Koprozessor in der oben erörterten Metapher - in einem Schritt (was sehr unwahrscheinlich ist), oder in einer Folge genetischer Änderungen entstanden ist. Die Frage ist vielmehr, ob denkbare Zwischenstufen Verhaltensformen bedingt haben, die einen Selektionsvorteil bieten mußten und damit eine Entwicklungsfolge in dem oben am Beispiel der Entwicklung von Insektenstaaten diskutierten Sinn determiniert haben. Logisch möglich ist ja sehr wohl die Annahme einer Folge von Erbänderungen, etwa im Rahmen der generellen Zerebralisation, die nur latente Modifikationen der Verhaltensdisposition erzeugt haben, ohne daß diese unmittelbar manifest und damit selektionsbegünstigend waren. Nur Erbänderungen, die auch verhaltenswirksam sind, können in eine funktional wirksame Selektion eingehen und damit eine funktionale Erklärung der entsprechenden Dispositionen begründen. Betrachten wir also die Möglichkeiten einer solchen Erklärung. 7.3. Es liegt auf der Hand, daß alle Erklärungen dieser Art von der Vorstellung ausgehen müssen, daß Sprachfähigkeit und Sprache im Tier-Mensch-Übergangsfeld Hand in Hand entstanden sind, sozusagen in Portionen oder kleinen Entwicklungsschritten, die mit der Sprache schrittweise die Sprachfähigkeit angereichert haben. Die Sprache als Institution, so die Logik dieser Erklärung, muß nicht in ihrer vollen Komplexität schon elaboriert sein, sie kann auch in elementaren Rudimenten, Einwortäußerungen und einfachen Kombinationen, bereits selektiven Sog auf die Evolution der entsprechenden Verhaltensgrundlagen ausüben. Eine zweifellos unzutreffende Variante dieser Auffassung ist die der rein quantitativen Erweiterung des Repertoires und einer korrespondierenden Evolution der Sprachfähigkeit. (In den Worten der entsprechenden Skizze von Engels: "Ein Laut kam zum anderen.") Die im vorigen Abschnitt diskutierte Charakteristik der Sprachfähigkeit sollte deutlich machen, daß diese Vorstellung den entscheidenden Punkt - die kombinatorische Disposition der Sprachfähigkeit - verfehlt. Gerade sie ergibt sich nicht durch schrittweise Erweiterung des isolierten Vokabulars. Überdies müßten nach der Logik dieses schrittweisen, präkombinatorischen Aufbaus der Sprachfähigkeit die Primaten, die präkombinatorische Symbolsysteme besitzen und beträchtlich erweitern können, dem gleichen selektiven Sog unterliegen, wofür es keine Anhaltspunkte gibt. Der entscheidende Schritt muß also auf andere Weise erklärt werden. Betrachten wir eine plausiblere Version, die sich im Rahmen der Möglichkeiten auch an empirischen Befunden orientiert. Wir wissen, daß sich die Reichhaltigkeit und Komplexität des Vokabulars generell mit der zivilisatorischen Entwicklung von Sprechergruppen entwickelt.23 Dennoch zeigen auch die frühesten erreichbaren Stufen bereits die systematische Organisation kombinatorischer lexikalischer Daten, denen alle natürlichen Sprachen unterliegen. Ebenso lassen sich begründete Vermutungen anstellen, daß etwa die morphologischen und syntaktischen Grunddistinktionen, die die Kombinatorik steuern, nicht in allen Sprachen Für die Erfassung des Gesamtvokabulars einer Sprache auf der Entwicklungsstufe der Steinzeitkultur vgl. Heeschen (1983). Die Entwicklung eines speziellen Ausschnitts über die kulturelle Evolution hinweg läßt sich an der Arbeit von Berlin/Kay (1969) ablesen, die die Minimalform eines Farbwortschatzes in Eingeborenensprachen als zweigliedrig (schwarz-weiß, oder besser: hell-dunkel) identifizieren.

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und von Anfang an ausgenutzt oder fixiert sind.^4 Aber auch in dieser Hinsicht gilt, daß nicht die Möglichkeit, sondern der Einsatz der Distinktionen und Operationen variiert. Mit anderen Worten, rekonstruktive Versuche für Früh- oder Vorformen von Sprachen geben keine Anhaltspunkte für die Art der anzunehmenden unvollständigen Komponenten der Sprachfähigkeit. Angesichts dieser Sachlage sind alle Konjekturen über evolutive Vorstufen der Sprachfähigkeit spekulativ. Wie könnte eine Spekulation aussehen, die verhaltensrelevante Vorformen des Repräsentationssystems aussondert? Angenommen die Kontrolle der Feinmotorik bildet sich zusammen mit dem System der kompakten Codierung der phonetischen Form heraus. Koordinierende Effizienz der Gruppenkommunikation würde damit nur erreicht, wenn zugleich die Korrelation zur Codierung mentaler Repräsentationen der Umwelt hergestellt, also der Koprozessor als Ganzes etabliert wäre. Zwar scheint eine solche phylogenetische Phase nicht unsinnig, sie würde aber nichts zur funktionalen Erklärung beitragen. Ich verzichte auf die Ausformulierung von Spekulationen, die die genetische Fixierung von Prinzipien der kombinatorischen Kapazität oder der Codierung konzeptueller Strukturen betreffen. Ohne die korrespondierende Codierung sensomotorischer Muster (und also wiederum des ganzen Koprozessors) würde sie nicht die Kommunikation, sondern in gewisser Weise die Intelligenzleistung effektivieren. Ich lasse es dahingestellt, ob dies eine plausible Spekulation ist, weise aber darauf hin, daß sie darauf hinausläuft, den selektiven Vorteil in der Sprache als Mittel der Strukturierung konzeptueller Repräsentationen zu lokalisieren. Ein plausibler Ertrag dieser Überlegungen ist jedoch die Feststellung, daß offensichtlich nicht konventionalisierte (Teil-)Sprachen das ökologische Umfeld bilden können, in dem die Sprachfertigkeit selektionsbegünstigend wirkt. Nach dieser Musterung denkmöglicher Alternativen scheint der plausibelste Schluß der zu sein: Die Sprachfähigkeit ist als zunächst latente Disposition entstanden, ihr (am Ende bedrohlicher) Erfolg für die Spezies hat erst auf der Basis institutionalisierter Sprachen begonnen, also im Rahmen der kulturellen, nicht der biologischen Evolution. Ähnliches gilt übrigens offensichtlich für andere mentale Dispositionen, insbesondere für die Fähigkeit zu arithmetischen Operationen und die darauf begründete Entwicklung der Mathematik. Diese Annahme schließt nicht aus, daß Verhaltensformen, die im evolutionären Vorfeld der Sprachfähigkeit liegen, also etwa die Differenzierung der Vokalisation, manifest waren, bevor sie als sprachliche Signale verhaltensrelevant wurden. Man könnte sich lebhaft brabbelnde Vorfahren des Homo sapiens vorstellen, die ihre Vokalisation nichtsdestoweniger nicht mit konzeptuellen Repräsentationen verbinden, so wie die Fähigkeit zum Gestikulieren normalerweise auch nicht zur konzeptuellen Codierung herangezogen wird. Wohl aber würde

Die Identifizierung oder Rekonstruktion "unvollständiger" Systeme ist hier wesentlich schwieriger als bezüglich des Wortschatzes, da weder phonologische noch morpho-syntaktische Systeme durch einen kontinuierlichen Zuwachs an Komplexität charakterisiert sind. Auf- und Abbau unterliegen hier vielmehr einer gewissen Balance im Rahmen bestimmter Randbedingungen. Dennoch läßt sich etwa vermuten, wie Emonds (1986) dies aus rein systematischen Gründen tut, daß in einer Art Proto-Sprache die syntaktischen Hauptkategorien nicht alle im System definierbaren Plätze besetzt hatten. Emonds' Konjektur ist, daß die Kategorie Präposition erst später zu den Kategorien Verb, Nomen und Adjektiv hinzugekommen ist

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solche manifeste Präadaption in die Evolution der Fähigkeit zur Lautsprache einbezogen sein können. 7.4. Wegen der tiefsitzenden Neigung zu funktionalen Erklärungen, die Bedürfnisse der Kommunikation, Effizienz des Denkens und Organisation der Arbeit zum treibenden Faktor in der Evolution der Sprachfähigkeit machen, sei darauf hingewiesen, daß diese Vorstellungen allesamt an einer unbewußten Rückprojektion von Bedingungen der Industriegesellschaft in die Vorgeschichte oder das Tier-Mensch-Übergangsfeld leiden. Feldstudien an zeitgenössischen Eingeborenenstämmen mit Steinzeitkultur25 machen zweierlei ganz deutlich: (a) Die praktischen Lebensprozesse, einschließlich Feldbestellung, Werbung usw., werden durch ein reiches Repertoire nichtsprachlicher Kommunikation - Blicke, Gesten - geregelt. Die Lebenswelt ist physisch und institutionell hochgradig strukturiert und weitgehend ohne sprachliche Kommunikation beherrschbar. (b) Die Stämme haben voll elaborierte institutionalisierte Dialekte, einschließlich artistischer Verwendungsweisen, die extensiv gebraucht werden in weitgehend zweckfreien, luxurierenden Zusammenhängen, deren Funktion weit eher die Pflege des Gruppenzusammenhalts ist als die Regulation der Arbeitsprozesse. Ich komme darauf in Abschnitt 8 zurück. Abgesehen von der Irrigkeit, die Sprachfähigkeit zweckrational an Planung und Arbeit zu binden, machen diese Beobachtungen einen weiteren Punkt deutlich: Sozialverhalten, praktische und kommunikative Interaktion sind vor, während und nach der Evolution der Sprachfähigkeit an unabhängige, stabile und in bestimmten Grenzen auch institutionalisierte Kommunikationsmodi gebunden. Neben universellen Dispositionen - Lächeln, Augengruß, usw.26 - spielen konventionalisierte Systeme eine große Rolle. Insgesamt ist eindeutig, daß die überlebenssichernde Kommunikation in der Gruppe durch nichtsprachliche Verhaltensdispositionen gesichert war und die Sprache aus diesem Zusammenhang keinen Selektionsvorteil gewinnen konnte. Es ist deshalb ein hartnäckig wiederholtes Vorurteil, daß die Wesensbestimmung der Sprache aus ihrer Funktion als Kommunikationsmittel abzuleiten ist. Zweifellos gehen in die Sprache als Institution neben anderen auch kommunikative Bedingungen ein, ich komme darauf zurück. Aber eine kausale Erklärung der Spezifik der Sprachfähigkeit und der daraus folgenden Eigenschaften der Sprache, und als solche wird die Bestimmung der Sprache als Mittel der Kommunikation verstanden, kann diese These nicht liefern. Selbst die viel vorsichtigere Bestimmung der Sprache als Mittel zur Wiedergabe von Gedanken gibt einen Effekt, nicht eine kausale Erklärung an. Die essentielle Eigenschaft der Sprachfähigkeit ist die kombinatorische Struktur von lexikalischen Einheiten.

Aufschlußreich sind hier die Arbeiten der Forschungsstelle für Humanethologie am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen zu Kultur- und Verhaltensformen der Eipo in Papua-Neuguinea. Ich bin Volker Heeschen zu Dank verpflichtet für Berichte und Erläuterungen zu den nachfolgend resümierten Befunden. Wulf Schiefenhövel hat mir insbesondere den hoch artistischen, verschlüsselnden und keineswegs handlungskoordinierenden Gebrauch der Sprache in lyrischen Gedichten oder Liedern der Eipo erläutert Die bedeutsamen Befunde zur Systematik dieses Verhaltensaspekts, seine biologischen Grundlagen und der Aufbau ritualisierter Überformungen sind dargestellt im Kapitel Kommunikation in Eibl-Eibesfeldt (1984).

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7.5. Über die Entstehung der Sprache kann wie über die der Sprachfähigkeit nur indirekt, durch Vergleich, Rekonstruktion und Inferenz, nicht anhand von Direktbeobachtung gehandelt werden. Immerhin kann hier von der Evolution eines direkt verhaltenswirksamen, nicht nur latenten Faktors ausgegangen werden: die Entstehung von institutionalisierten Dialekten oder Sprachen ist nicht nur direkt verhaltensrelevant, sie ist nur als Produkt des Verhaltens möglich. Dies hängt unmittelbar mit der Tatsache zusammen, daß die Evolution der Sprache kein biologischer, das Genom variierender, sondern ein gesellschaftlicher, die Konventionen verändernder Prozeß ist. Wie dieser Prozeß verlaufen sein könnte, läßt sich nur per Analogie eingrenzen. Zwei mit gebotener Vorsicht heranzuziehende Vergleiche bieten sich an. (a) Wie die vergleichsweise gut analysierte und verstandene Entstehung der Schrift27 kann die der Sprache als ungesteuerter, kollektiver Problemlösungsprozeß verstanden werden, der in der Herausbildung von Konventionssystemen besteht. Eine klare Asymmetrie bei diesem Vergleich liegt darin, daß die Entstehung der Schrift die Existenz von Sprache(n) zur Voraussetzung hat, aber nicht umgekehrt. Weitere, damit zusammenhängende Unterschiede lassen sich leicht aufzählen. So hat die Disposition zum Spracherwerb offenbar zwangsläufig die Ausbildung von Sprachen zur Folge, die Fähigkeit zum Schrifterwerb jedoch nicht notwendigerweise die Ausbildung von Schriftsystemen. Dies wiederum heißt, daß die Ausbildung von Schriftsystemen eine zumindest implizite und sogar institutionalisierte Zielbildung des Prozesses voraussetzt, die Entstehung von Sprachen aber gerade nicht. Zu vermerken aber sind wichtige Gemeinsamkeiten, von denen zwei genannt seien: Schrift- und Sprachentstehung sind gebunden an und strukturiert durch den Charakter der im Organismus verankerten Dispositionen, auf denen sie beruhen. Und diese Dispositionen sind in wesentlichen Komponenten die gleichen, nämlich die zur Bildung kombinatorischer Repräsentationssysteme. (b) Die Sprachentstehung dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmte Phasengemeinsamkeiten mit dem Spracherwerb aufweisen - allerdings nicht aus biologischen Gründen im Sinne des "biogenetischen Grundgesetzes", sondern eher aus einer Art lerntheoretischer Bedingung: Wie im Spracherwerb muß für die Sprachentstehung eine Phase von Ein- und Zweiwortstrukturen mit zunächst eingeschränktem lexikalischen System bestanden haben, aus dem die Fixierung der für die Kombinatorik relevanten Parameter hervorgehen konnte. Über bestimmte Bedingungen der Struktur dieses Basisvokabulars sind aus ontogenetischen, vor allem aber kulturanthropologischen Untersuchungen Schlüsse ableitbar. Neben den Vorgaben, die außersprachliche Module dabei festlegen, sind Interessen und Bedürfnisse des Gruppenzusammenhalts als Determinanten anzunehmen, allerdings weniger rationelle Planung und Arbeit, sondern eher Dinge wie perzeptive Auffälligkeit, Kontaktpflege usw. Die Elaborierung der kombinatorischen Phase und ihrer morpho-syntaktischen Mittel ist in dem stipulierten Basisvokabular angelegt vermöge der kompositionellen Disposition des Schemas lexikalischer Einheiten. Über die Art, in der morpho-syntaktische Instrumentarien gebildet und 2

' Einen neueren Überblick, der den ungesteuerten, also nur implizit zielgerichteten Charakter der Etappen deutlich macht, gibt Coulmas (1989). Es liegt auf der Hand, daß die unterschiedlichen Rahmenbedingungen keine Übertragung der erkennbaren Phasen der Schriftentstehung auf die der Sprachentstehung zuläßt Die Alternativen, die die Schriftentwicklung bat - Visualisierung der phonetischen Form (alphabetische und Silbenschrift) oder der lexikalischen Elemente (logographische Schrift) -, sind für die Sprachentstehung nicht gegeben.

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institutionalisiert werden können, erlauben Untersuchungen zur Bildung von Creolsprachen plausible Rückschlüsse.28 Überlegungen der in (a) und (b) angedeuteten Art sind weniger spekulativ als sie auf den ersten Blick scheinen, da es sich in allen verglichenen Prozessen um die Fixierung von Kenntnisstrukturen auf der Basis einer invarianten biologischen Disposition handelt. Für den Spracherwerb ist als deutliche Differenz festzuhalten, daß es sich um die Aneignung oder interne Rekonstruktion bereits etablierter Konventionen handelt, nicht um deren Einführung. 7.6. Löst man die Konfundierung von Evolution der Sprachfähigkeit als biologischem und Entstehung der Sprache als sozialen Prozeß auf, dann wird die Determination des zweiten Prozesses durch das Resultat des ersten vollkommen eindeutig. Die Ursache für die verbreitete Vermischung der beiden Prozesse dürfte außer in der Neigung zu funktionalen Erklärungsweisen und dem Vorurteil zugunsten sozialer gegenüber biologischen Erklärungen vor allem in der Tatsache liegen, daß das Resultat der biologischen Evolution im Fall der Sprachfähigkeit (aber nicht nur in diesem Fall) zunächst latent ist, daß es verhaltenswirksam erst mit und nach der Entstehung von Sprachen werden kann. Damit dürfte die These 2, daß Eigenschaften der Sprache durch die Sprachfähigkeit zu erklären sind, aber nicht umgekehrt, hinreichend begründet sein.

8. Die Biologie der Sprachvariation Natürliche Sprachen und Dialekte unterscheiden sich beträchtlich und in vielfältiger Weise voneinander und verändern sich im Rahmen historischer Prozesse. Die Möglichkeit dafür hat, vereinfacht gesprochen, zwei Gründe: Die Plastizität der Parameter von UG und die Tatsache, daß lexikalische Einheiten zwar durch ihr Schema, aber nicht in ihrem Inhalt in UG fixiert sind. Damit sind zwei Spielräume für Variation gegeben, deren Charakteristika ich kurz erörtern will. Es geht mir dabei allerdings nicht um speziellere Mechanismen oder Prinzipien des Sprachwandels, deren Ermittlung Inhalt der Theorie des Sprachwandels ist und aus denen interessante Rückschlüsse auf die Spezifik von UG gezogen werden können, weil die Veränderung von Sprachen auch die Determinanten und Grenzen der Veränderung sichtbar macht.29 Ich beschränke mich allein auf die Frage, in welcher Weise dabei biologische Faktoren eine Rolle spielen.

Bickerton (1984) zeigt, wie die Sprachfähigkeit - das Bioprogramm, wie er deren Basis nennt - zur spontanen, nicht an Vorbildern orientierten Etablierung morpho-syntaktischer Mechanismen führt. Natürlich können solche Beobachtungen nicht direkt auf die Entstehung von Sprachen übertragen werden, da die Genese von Creolsprachen unter vollkommen anderen Bedingungen vor sich geht und eine bereits versprachlichte Umwelt voraussetzt Deren Einfluß auf den Prozeß der Creolisierung wird überdies sehr unterschiedlich interpretiert Vgl. dazu Muysken (1988). Diesen Gesichtspunkt hat unter anderem Kiparsky (1970) akzentuiert und in zahlreichen Arbeiten ausgeführt. Vgl. auch die Diskussion in Lightfoot (1982).

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8.1. Daß Parameter von UG plastisch sind, verschiedene, wiewohl nicht gleichrangige Werte annehmen können, ist vermutlich per se als biologisches Faktum anzusehen, das mit dem physiologischen Status von Parametern zusammenhängt. Wegen der Interaktion der Parameterwerte, die nicht notwendig unabhängig voneinander sind, ergeben sich dabei komplexe Konsequenzen, die auch den Möglichkeiten, Parameterwerte im Sprachwandel, also durch Änderung der Konventionen, zu modifizieren, komplizierte und aufschlußreiche Bedingungen auferlegen. Der Auf- und Abbau phonologischer Systeme und morpho-syntaktischer Mechanismen ist der Bereich, in dem diese Bedingungen vor allem zu studieren sind. Als auslösendes Moment für größere und kleinere Veränderungen in dieser Hinsicht werden externe und interne Bedingungen des Sprachwandels unterschieden. Externe Bedingungen beruhen im wesentlichen auf Sprachkontakt, d.h. der Begegnung zweier Populationen mit verschiedenen Sprachen oder Dialekten. Interne Bedingungen ergeben sich aus der Interaktion der Parameterwerte, die in einer gegebenen Sprache fixiert sind. Bei interner Variation spielen soziale Faktoren nur insofern eine Rolle, als Konventionsbildung der Mechanismus ihrer Realisierung ist. 8.2. Wie die Projektion lexikalischer Einheiten im Spracherwerb, so ist auch die Bildung neuer Lexikoneinheiten in der Sprachvariation von der Setzung der Parameterwerte essentiell verschieden. Die Unterscheidung von externen und internen Bedingungen der Veränderung hat hier keinen oder einen ganz anderen Sinn. Es steht außer Frage, daß lexikalische Einheiten auf mannigfaltige Arten, die hier nicht zu erörtern sind, in Resonanz zu entsprechenden Anforderungen oder Bedürfnissen entstehen. Daß es im Deutschen - wie in vielen Sprachen - die Einheiten heute, gestern, morgen, aber nur heuer für Jahresintervalle und nur komplexe Ausdrücke für Wochen- und Monatsintervalle gibt, entspricht sehr elementaren, wenn auch diffusen kognitiven und Kommunikationsbedürfnissen. Anekdotisches dieser Art läßt sich beliebig anführen. Wichtiger ist ein anderer Gesichtspunkt. Auch lexikalische Einheiten unterliegen strikten, direkt oder indirekt in UG verankerten oder allgemeinen Metaprinzipien entspringenden Bedingungen, die deutlich von den Regulativen der Kommunikationsanforderungen zu unterscheiden sind. So ist etwa die Tatsache, daß es kein Adjektiv tork für die Formeigenschaft von Akazienblättern gibt, die Folge des Umstandes, daß nur wenige das als eine bedauerliche Lücke empfinden. Dagegen ist es aus prinzipiellen, von Bedürfnissen ganz unabhängigen Gründen unmöglich, daß es die Adjektive karz und lung gibt, die die gleiche Bedeutung wie kurz und lang haben, mit folgendem Unterschied: (9)

(a) (b)

Das Brett ist einen Meter lung Das Brett ist einen Meter karz

Der Satz (9a) ist abweichend, kann aber paraphrasiert werden durch Das Brett ist einen Meter lang und das ist lang, der Satz (9b) ist wohlgeformt und bedeutet Das Brett hat eine Länge von einem Meter. Aus Mangel an gesellschaftlichem Bedarf fehlt ein Verb, das Tucholskys

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Sehnsucht nach der Benennung des Geräuschs windbewegter Birkenblätter Abhilfe schafft, aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist ein Verb, das zwei Dativobjekte regiert. Ich verzichte auf weitere Illustrationen und Kommentare. Belegt werden sollte, daß die Möglichkeiten der Variation und Neubildung lexikalischer Einheiten ebenfalls internen Bedingungen unterliegt, deren Rolle bei der Erörterung kommunikativer Bedürfnisse bei der Ausformung des lexikalischen Wissens leicht unterschätzt wird. 8.3. Ich habe das Bild stark vereinfacht, aber nicht verzerrt. Hinzuzufügen wären verschiedene Relativierungen und Verfeinerungen. So sind externe und interne Bedingungen keine separat wirksamen Faktoren. Extern bedingte Veränderungen (Entlehungen, Überlagerungen etwa) werden durch Prozesse intern bedingter Veränderungen modifiziert, intern bedingte Veränderungen können durch verschiedene externe Faktoren ausgelöst oder forciert werden. All das ändert die Grundzüge des Bildes nicht, die noch durch zwei allgemeine Bemerkungen ergänzt werden sollen. (a) Variation und Wandel natürlicher Sprachen ist, mit Ausnahme der zivilisationsabhängigen Anreicherung des Lexikons (und auch das ist nur eine bedingte Ausnahme), kein zielgerichteter, auf globale Optimierung oder höhere kommunikative Effizienz gerichteter Prozeß. Die "Optimierung" ist stets lokal und durch interne, letztlich biologische Bedingungen gesteuert. Das gilt für die Parametervariation und alle damit zusammenhängenden Konsequenzen grundsätzlich. Phonologische, morphologische, syntaktische und auch semantische Distinktionen und Kompliziertheiten werden auf- und abgebaut, ohne daß eine generelle Höherentwicklung, was immer das wäre, sich ergibt. Spezielle Reglementierungen etwa in Wissenschafts- oder Rechtssprachen führen zu Nischenbildungen, ohne die Sprache im Ganzen zu optimieren, ihr grammatisches System auch nur wirklich zu affizieren. Die Ausnahme des Lexikons ist dabei relativ, weil neben der Anreicherung, die aus dem technologisch-zivilisatorischen Prozeß hervorgeht und die Berlin und Kay (1969) für Farbadjektive deutlich belegt haben, auch Schübe ganz anderer Art stehen können. So ist der ungewöhnlich reiche Wortschatz der Shakespearezeit die Folge der angelsächsischnormannischen Sprachhybridisierung. (b) Natürlich hat sich unter dem Einfluß und im Zusammenhang mit der Ausbildung natürlicher Sprachen als Institution die Variationsbreite, die Komplexität und Effizienz kognitiver und kommunikativer Prozesse und Leistungen auf vielfältige Weise vergrößert. Die dabei in Betracht zu ziehenden Faktoren sind so mannigfaltig und verschiedenartig, der Verlauf im Ganzen so offensichtlich, daß er hier nicht erörtert werden kann und muß. Dieser Prozeß ist in seiner Gesamtheit offensichtlich gerichtet und kumulativ, obgleich man die Richtung nicht mehr blauäugig als Optimierung und Überlebensvorteil für die Spezies ansehen kann. Wertungen dieser Art beiseite lassend, ist aber festzustellen, daß diese Orientierung nicht zurückprojiziert werden darf auf die Entstehung der Sprache oder gar der Sprachfähigkeit. Die zivilisatorische Evolution hat das Resultat dieser beiden Entwicklungen in Dienst genommen und ihre Möglichkeiten elaboriert, sie war jedoch nicht die Bedingung ihrer Entstehung und kann deshalb in deren Kausalerklärung nicht einbezogen werden. Post-hoc-Entwicklungen dieser Art sind keine Rarität, zumal im Bereich kognitiv bedingten Verhaltens - Mathematik und

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Musik sind Beispiele sehr verschiedener Art -, sie bilden jedoch einen Problemkreis ganz anderer Art. 8.4. Abschließend will ich auf einen biologischen Aspekt der Sprachvariation hinweisen, der von Linguisten kaum berücksichtigt, von Gesellschaftswissenschaftlern eher verdächtigt wird. Es handelt sich um die Einbeziehung biologisch möglicher, aber nicht determinierter Variation in einen biologisch determinierten Vorgang, der in der Verhaltensbiologie Pseudospeziation genannt wird.30 Er besteht darin, daß Subpopulationen einer Spezies sich durch Verhaltensmuster, die als solche nicht biologisch determiniert sind, so voneinander differenzieren, daß intraspezielle Verhaltensformen relativ zu den pseudospezialisierten Populationen außer Kraft gesetzt werden: Wer zu einem anderen Verhaltenskanon gehört, ist nicht mehr Mitglied der eigenen (Pseudo-)Spezies. Dieser den Gruppenzusammenhang stärkende und unter bestimmten Bedingungen direkt überlebensförderliche Mechanismus hat im Variationsspielraum der Sprachfähigkeit ein ideales Substrat. Seine Auswirkungen finden sich als Determinante des Sprachwandels von der Separierung prähistorischer Stämme bis in die Jargonausprägungen von Cliquen und Bünden. Sie schaffen das einem elementaren Bedürfnis entspringende WirGefühl. Mit dem zivilisationsoptimistischen Erklärungsschema des Zusammenhangs von Sprache, Kommunikation und Gesellschaft paßt dieser Befund schlecht zusammen. Mit den Worten von Christa Wolf: Auch der Vor-Mcnsch mag, noch ehe er sprechen konnte, mit aufgehobenen Händen auf ein anderes Mitglied seiner Horde zugegangen sein, zum Zeichen seiner Friedfertigkeit Doch erst mit Hilfe der Sprache, die alsbald, also wohl nach Hunderttausenden von Jahren, diese Droh- und Demutsgebärden ergänzte, uns aus der Instinktgebundenheit befreite und endgültig die Überlegenheit gegenüber dem Tier gab - ausgerechnet mit Hilfe der Sprache scheinen sich dann die Menschen der einen Horde von denen der anderen Horde abgesondert zu haben: Der Anderssprechende war der Fremde, war kein Mensch, unterlag nicht dem Tötungstabu. Diese Überlegung kommt ungelegen.

Die ungelegene Überlegung hat, natürlich, ein Pendant: Koine, überregionale Sprachen, Verkehrssprachen arbeiten der Pseudospeziation entgegen, schaffen Verbindung, zumindest Verständigung, wo nicht das Wir-Gefühl der Gattung mit der gleichen Artausstattung. Hier endet der Rahmen der biologischen Erklärungszusammenhänge, die als Biologismus suspekt zu machen ebenso irrational wäre wie die Ablehnung der Erklärung des Abendrots durch die Brechungseigenschaften elektromagnetischer Wellen.

Literatur Berlin, B., P. Kay (1969): Basic Color Terms - Their Universality and Evolution. Berkeley/Los Angeles. Bickerton, D. (1984): The language bioprogram hypothesis. In: Behavioral and Brain Sciences 7,2,173-221. Bierwisch, M. (1987): Semantik der Graduierung. In: Bierwisch, M./E. Lang (1987), 91-286.

Pseudospeziation kann alle soziokulturellen Verhaltensaspekte einbeziehen, sie ist keineswegs auf das Sprachverhalten begrenzt, hat in ihm aber eine besonders flexible Entfaltungsmöglichkeit Zur allgemeinen Rolle der Pseudospeziation vgl. Eibl-Eibesfeldt (1984).

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Gabor Györi Über Spezifik und Entstehung der Sprachfähigkeit Chomskys Hypothese von UG (universal grammar) stützt sich im allgemeinen auf eine Beobachtung, die "Platos Problem" aufwirft. Das Problem menschlichen Wissens ohne Erfahrung kann heute theoretisch leicht gelöst werden. Was nicht erlernt ist, muß genetisch gegeben sein. Eine dritte Alternative gibt es nicht. Für die Erforschung der ontogenetischen Sprachentstehung bedeutet das, daß durch Erfahrung erlernte und genetisch gegebene Elemente des sprachlichen Wissens unterschieden werden müssen. Theoretisch sind natürlich auch zwei extreme Annahmen möglich. Die eine, daß die Sprache im Ganzen genetisch fixiert ist, kann mit so trivialen Fakten bezweifelt werden, daß sie von niemandem ernst genommen werden kann. Die andere, daß die Sprache im ganzen erlernt wird und allgemeine Lernmechanismen für ihren Erwerb verantwortlich sind, ist etwas schwerer zu widerlegen, in dem Sinne, daß explizite Wissensstrukturen bis jetzt nicht eindeutig auf anatomisch-physiologische oder genetische Strukturen zurückgeführt werden konnten. Wenn aber wirklich allgemeine Lernmechanismen dem Erwerb der Sprache unterlägen, sollten auch Tiere, hauptsächlich Primaten, fähig sein, rudimentäre Formen der Sprache zu erlernen. Das würde dann heißen, daß Sprache oder sprachliche Tätigkeit letzten Endes nicht artspezifisch ist, und es gibt auch Autoren, die sich dafür aussprechen (z.B. Gallup et al. 1977). Es ist eigentlich nicht verwerflich, einer menschlichen Fähigkeit nachweisen zu wollen, daß sie nicht artspezifisch ist. Ein solcher Beweis trüge nur zu unserem Verstehen der evolutionären Verhältnisse der Arten bei. Der Streit um die Artspezifik (oder -unspezifik) der Sprache ist aber von anderer Art. Die artspezifische Auffassung von der Sprache wird oft deshalb angegriffen, weil angenommen wird, daß sie eine Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tierreich repräsentiert und daher anti-evolutionistisch ist. Es muß aber klargestellt werden, daß Artspezifik (also z.B. die Ablehnung der Anerkennung des Schimpansen als Artgenossen (Gibson 1988:150)) nicht nur aus Gründen des Anthropozentrismus verteidigt werden kann, sondern auch den Fakten der Biologie entsprechen kann, wenn die Biologie die Lebewesen in verschiedene Taxa unterteilt. Im Gegensatz zu bestimmten Meinungen (z.B. Hill 1978) werden wir also dem Darwinismus dadurch nicht widersprechen, daß wir die Artspezifik des Menschen behaupten (Lenneberg 1976, Dobzhansky et al. 1980:133). Andererseits sind aber solche heftigen Reaktionen gegen die menschliche Artspezifik nicht überraschend, wenn unter Artspezifik die Verneinung jeder Beziehung zwischen menschlicher Sprachfähigkeit und Intelligenzleistung einerseits und tierischer Kommunikations- und Kognitionsfähigkeit andererseits verstanden wird (wie z.B. in Chomsky 1968, Lenneberg 1967, Sebeok 1981). So eine Auffassung finde ich absolut antievolutionistisch (Györi 1988). Ich stimme mit Bierwisch darin vollkommen überein, daß Artspezifik, organisch bedingte pathologische Störungen der Sprachfähigkeit und Platos Problem als die wichtigsten Gründe der biologischen Natur der Sprachfähigkeit genannt werden können (Bierwisch 1989:2-3). Artspezifik und pathologische Störungen sind aber in dem Sinn uninteressant, daß sie nur auf

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die biologische Bedingtheit der Sprachfähigkeit hinweisen, nicht aber auf die Spezifik dieser Bedingtheit (Bierwisch 1989). Wie schon oben angedeutet, ist aber Platos Problem das Phänomen, dessen gründlichere Untersuchung uns dem Aufdecken dieser Spezifik näher bringen soll. Platos Problem besagt also, auf die Sprache bezogen, daß die Erfahrung, die das Kind während des Spracherwerbs sammelt, zur Erklärung der Entstehung des sprachlichen Wissens nicht ausreicht. Wie auch Chomsky darauf hinweist, ist das nach unserem heutigen Wissen kein Rätsel mehr (Chomsky 1988:4). Aufgrund der Forschung im Zusammenhang mit tierischen Leistungen wissen wir, daß nicht nur erlerntes, sondern auch genetisch verankertes Wissen existiert (Csanyi 1988). So ist es klar, daß bei anderen Arten ebenfalls Platos Problem auftritt, indem auch ihre Verhaltensmuster sich aus genetisch gegebenen und erlernten Teilen zusammensetzen. Diese können wir aber durch Experiment und Beobachtung ohne weiteres voneinander unterscheiden. Auch im Fall der Sprache würde die optimale Lösung bedeuten, daß wir den richtigen Anteil der im Spracherwerb wirkenden genetisch gegebenen Mechanismen und der erfahrungsbedingten Faktoren bestimmen. Bierwisch gibt das als Programm für die weitere Forschung an (1989). Theoretisch ergeben die genetischen Mechanismen UG, die durch LAD (Language Acquisition Device) bestimmt wird (Chomsky 1976:43), und die erfahrungsbedingten Faktoren fixieren die offenen Parameter von UG, was dann zusammen die Kenntnis einer bestimmten Sprache ergibt (Chomsky 1988:63). Was aber die menschliche Sprache angeht, kann ein dem oben erwähnten ähnliches Experiment aus ethischen Gründen nicht durchgeführt werden, und eine Beobachtung des Kindes (und hier dürfen wir auch das pränatale Lernen nicht vergessen), die uns über die zu klärenden sprachlichen Probleme hundertprozentig zuverlässige Daten liefern würde, ist einfach nicht realisierbar. Dennoch geht Chomsky bei seiner Hypothese nicht zu Unrecht davon aus, daß das Kind im Verhältnis zu seinem späteren sprachlichen Wissen nur minimale Erfahrung machen kann, denn wir haben indirekte Hinweise darauf, daß das Lernen wirklich auf lückenhafter Information beruht (Bierwisch 1989). Diese Hinweise besagen aber nur, "daß [es] Kenntnisstrukturen [gibt], die nicht aus dem Erfahrungsangebot entnommen werden können" (Bierwisch 1989). Wie schon vorhin angedeutet, ist die Annahme von genetisch fixierten Kenntnisstrukturen keineswegs ungerechtfertigt (Csanyi 1988), und wie auch Bierwisch darauf hinweist, ist das Bezweifeln von biologisch bedingtem Wissen "eine reine Voreingenommenheit" (1989:4). Meiner Ansicht nach kann aber das Phänomen von Platos Problem auf die Existenz dieser genetisch fixierten Kenntnisstrukturen nur hinweisen, besagt aber nichts darüber, welche Kenntnisstrukturen das sind. Die Konstatierung des offensichtlichen Mangels an Erfahrung beim Spracherwerb reicht also nicht aus, um einen Schluß auf UG ziehen zu können, denn UG soll eben über die Spezifik der Determiniertheit etwas aussagen. Um darüber mehr zu erfahren, müßten wir eben die mit konkreten sprachlichen Strukturen gemachten (oder nicht gemachten) Erfahrungen des Kindes testen können, also Platos Problem in seinen einzelnen Instanzen untersuchen, wie es in der Ethologie üblich ist. Deshalb finde ich es mehr als gewagt, wenn Chomsky von bestimmten Instanzen der sprachlichen Struktur sagt, daß das Kind darüber keine Erfahrung haben kann. Die Lückenhaftigkeit der Information ist also nur generell feststellbar und kann den Schluß auf UG in den einzelnen Instanzen der sprachlichen Erscheinungen nicht verifizieren. Anders

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gesagt, wir sind nicht berechtigt zu sagen, daß das Wissen des Kindes in diesem oder jenem konkreten Fall nicht auf Erfahrung beruht, sondern biologisch gegeben ist. Meiner Ansicht nach verletzt dieses Verfahren gerade Bierwischs These 2, die aussagt: "Die Sprachfähigkeit als biologische Gegebenheit ist weder durch die Struktur noch die Funktion der durch sie ermöglichten Kenntnissysteme bzw. sozialen Institutionen bedingt und erklärbar." (1989). Außerdem ist die Beobachtung, daß das Kind in seine Erfahrung nicht alles einbeziehen kann, was es später zu produzieren und verstehen mag, eigentlich trivial, wenn nicht tautologisch. Das geht aus der Definition der Sprache als offenes System hervor. Eine anhand von konkreten sprachlichen Erscheinungen festgestellte Charakteristik von UG soll die Strukturabhängigkeit sein, eine allgemeine Regel, die tatsächlich in allen bekannten Sprachen zutrifft. Aufgrund dieser Beobachtung wird sie von Chomsky als eine der prominentesten Charakteristika von UG erwähnt (Chomsky 1976). Chomsky meint dazu, daß sie "eine Eigenschaft der menschlichen Sprachfähigkeit sei, und nicht eine allgemeine Eigenschaft biologischer Organismen oder mentaler Prozesse" (Chomsky 1988:48 - Übersetzung ins Deutsche von mir, G.G.). Er will seine Aussage auch damit unterstützen, daß lineare Gesetze eigentlich viel einfacher und logischer seien, als strukturabhängige. Ist das aber richtig? Die ganze materielle Welt ist in Strukturen aufgebaut, was sich aus der einfachen Tatsache ergibt, daß sie dreidimensional ist. Alle räumlichen Erscheinungen sind strukturiert, erst der zeitliche Faktor gibt Linearität dazu. So sind vom Atom über die lebendige Zelle bis zum Gehirn des Menschen alle Erscheinungen strukturierte Gebilde, die wiederum Teile anderer Strukturen sind. Dementsprechend ist auch die Wahrnehmung dieser Strukturen, die physiologisch ebenfalls in bestimmten Strukturen des Gehirns geschieht, strukturabhängig. Obwohl das Sehen in Konturen und verschiedenen waagerechten bis senkrechten Linien usw. geschieht, nehmen wir ganze Strukturen wahr. Da aber die Wahrnehmung ein Prozeß ist, wirkt natürlich auch die Linearität. Das kann aber anders auch nicht sein. Die Raumdimensionen können von der zeitlichen Dimension nicht getrennt werden, und so ist nur ein Zusammenwirken der strukturabhängigen und der linearen Gesetze der materiellen Welt denkbar. Warum sollte gerade die Sprache eine Ausnahme bilden? In ihr wirken die der materiellen Welt charakteristischen strukturabhängigen und linearen Gesetze genauso zusammen wie in anderen Erscheinungen der Realität. In unserer vierdimensionalen Welt sind also lineare Regeln überhaupt nicht einfacher und logischer als strukturabhängige. Aus dieser elementaren Eigenschaft der materiellen Realität ergibt sich zwangsläufig die Strukturabhängigkeit (zusammen mit der Linearität) auf allen Niveaus der Erscheinungen. Die Eigenschaft der Strukturabhängigkeit ist sogar eine grundlegende Anforderung gegenüber der natürlichen Sprache, wenn wir bedenken, daß die Sprache in erster Linie ein Mittel zur Bildung eines mentalen Modells der Umwelt ist. Die Sprache ist also nicht einfach Mittel zur Kommunikation oder Exteriorisierung der Gedanken, wie es oft angenommen wird, und wie sie auch von Bierwisch im Rahmen der Entstehung der Sprachfähigkeit behandelt wird, aber auch nicht Mittel des Denkens, indem Denken eine Art der Problemlösung bedeutet. Das heißt aber nicht, daß so eine Modellbildung erst durch die Sprache ermöglicht wird. Auch alle Tiere, die über ein Nervensystem verfügen, sind imstande, ihre Umwelt in ihrem Bewußtsein auf eine mehr oder weniger perfekte Art zu modellieren. Sie können aber einander diese Mo-

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delle nicht weitergeben. Das wird erst durch die Sprache ermöglicht, was nicht bedeutet, daß die Sprache als Symbolsystem, z.B. durch Assoziation oder irgendeinen anderen Lemmechanismus, diesem mentalen Modell einfach zugeordnet wird. Es geht also nicht darum, daß die Einheiten des mentalen Modells einfach in Einheiten der Sprache übersetzt werden, damit sie kommuniziert werden können. Diese Fähigkeit kann auch bei Menschenaffen unter Laborbedingungen nachgewiesen werden. Wenn also die Sprache einfach Mittel zur Kommunikation wäre, wäre die sprachliche Leistung des Menschen tatsächlich nur eine Erweiterung der tierischen Leistungen. Natürlich verfügt auch der Mensch über mentale Mechanismen, die die Modellierung der Umwelt ohne sprachliche Mittel ermöglichen und die den Sinnesrepräsentationen der tierischen Begriffsbildung ähnlich sind. Aber das Modellieren mittels der Sprache bedeutet eine symbolische Repräsentation, und zwar in erster Linie nicht für interindividuelle Zwecke (d.h. Kommunikation), wie es Savage-Rumbaugh et al. (1980) annehmen, sondern für individuelle Zwecke. Der riesige Vorteil der Sprache ist eben, daß das Individuum seine Umwelt symbolisch repräsentieren kann. Diese individuelle symbolische Repräsentation wird durch die Sprache ermöglicht, da die Klassifikation der Erscheinungen der Umwelt von den Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung dadurch befreit wird, daß die Repräsentation in sprachlichen Zeichen geschieht. Es kann nunmehr auch nach sinnlich nicht wahrnehmbaren Eigenschaften klassifiziert werden, d.h. es können lediglich logisch begründete Kategorien gebildet werden. Die Bedeutung der Sprache liegt darin, daß die Symbole der Repräsentation gleichzeitig zur Kommunikation dienen können. So können im Bewußtsein anderer Individuen Repräsentationen entstehen, deren Entsprechungen in der Wirklichkeit diese Individuen nie erfahren haben. Durch die Symbole der Sprache werden also nicht genetisch vorgegebene Begriffe aktiviert, wie Chomsky es annimmt (Chomsky 1988:28), sondern neue Begriffe aufgebaut. Chomsky gerät hier mit sich selbst in Widerspruch, denn die Zuordnung von Symbolen zu genetisch gegebenen (aber auch durch Erfahrung erworbenen) Begriffen ist etwas, wozu auch Affen fähig sind. Die physische Erfahrung kann also beim Menschen durch sprachliche Erfahrung ersetzt werden und kann ihr funktionell fast völlig gleichgesetzt werden. Dazu ist keine andere Spezies fähig. Diese modellbildende Funktion der Sprache konnte einen Selektionsvorteil bei der Entstehung der Sprachfähigkeit darstellen (vgl. Jenson 1988) und nicht die von Bierwisch in Frage gestellte Funktion als Mittel zur Kommunikation oder zur Wiedergabe von Gedanken. Aber Bierwisch meint, daß alle funktionalen Erklärungen des Sprachentstehens, also daß die Sprachfähigkeit einen Selektionsvorteil haben mußte, lamarckistisch oder teleologisch seien (1989), da er annimmt, daß "funktionale Erklärungen die Bedürfnisse der Kommunikation ... zum treibenden Faktor in der Evolution der Sprachfähigkeit machen" (1989). Die darwinistische Evolutionstheorie versteht aber unter Selektionsvorteil, daß von der genetischen Variabilität, die in einer Population herrscht, die Genotypen eine größere Überlebens- und Fortpflanzungschance haben, deren Phänotype an die Umgebung besser angepaßt sind, d.h. über Eigenschaften verfugen, die in der gegebenen Umgebung vorteilhaft sind. Aber die genetische Variabilität, die den verschiedenen Eigenschaften der Individuen zugrunde liegt, entsteht hauptsächlich durch Mutationsprozesse, die dem absoluten Zufall unterliegen. Wenn man also im darwinistischen Sinn über Selektionsvorteile spricht, wird auf keinen Fall ange-

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nommen, daß eine bestimmte Eigenschaft zu irgendeinem Zweck sich entwickelt hat, da die zugrunde liegende Mutation absolut nicht zielgerichtet sein kann. Hailman weist darauf hin, daß der in der Ethologie gebrauchte Begriff "Funktion" oft mißverstanden und teleologisch interpretiert wird. Daß ein Verhalten eine bestimmte Funktion hat, darf nicht so aufgefaßt werden, als ob es wegen seiner Selektionsvorteile hervorgerufen wäre. Funktion eines Verhaltens bedeutet einfach, daß Individuen, die das bestimmte Verhalten nicht ausüben, eventuell geringere Überlebenschancen haben, als andere, die es ausüben, und so weniger Nachkommen hinterlassen, wodurch ihre Gene in der Population seltener werden (Hailman 1976:15; Slater 1985: Kapitel 7). Die Entstehung der Sprache durch ihre Selektionsvorteile zu erklären ist also eine teleonomische Erklärung, was nichts mehr und nichts weniger ist als die Erklärung der Adaptationsprozesse durch natürliche Selektion, im Gegensatz zu einer teleologischen Erklärung, die annimmt, daß in der Natur alles zu einem im voraus determinierten Zweck zustandekommt (Lorenz 1978:Kapitel I/l). Bierwisch nimmt auch an, daß die Sprachfähigkeit allein schon deshalb keinen Selektionsvorteil bedeuten konnte, weil sie vollentwickelt und latent vor der Sprache als Institution dagewesen sein muß. Diese Annahme begründet er damit, daß Sprachfähigkeit und Sprache nicht Hand in Hand in kleinen Evolutionsschritten entstanden sein können, da "die Sprachfähigkeit essentiell ganzheitlich ist, nämlich an die kombinatorische Disposition gebunden" (1989). Kombinatorische Disposition entspricht im Grunde genommen Chomskys "Eigenschaft der diskreten Infinitheit" (Bierwisch 1989; Chomsky 1988:169). Eine latente Disposition konnte tatsächlich keinen adaptiven Wert haben und mußte so der natürlichen Selektion auch entzogen sein. Nach Bierwisch kann die Sprache als Institution nur schrittweise entstanden sein, die Sprachfähigkeit aber keinesfalls, eben wegen ihrer essentiellen Ganzheitlichkeit (1989). Aber eben weil die Sprachfähigkeit genetisch fixiert sein soll, muß ihre sprunghafte Entstehung mit den Mechanismen der genetischen Evolution kompatibel sein. Chomsky ist z.B. der Meinung, daß die Entstehung der diskreten Infinitheit einfach durch eine Mutation erklärt werden kann (1988:170). Aus genetischer Sicht ist aber die Annahme von der nicht-schrittweisen Entstehung der Sprachfähigkeit ohne natürliche Selektion ein Widerspruch in sich. Wenn wir der Ansicht sind, daß die genetische Dispositon zur Sprache nicht schrittweise entstanden sein kann, und wir eine Makromutation annehmen, dann muß sie aber mindestens adaptiv gewesen sein, um erhalten bleiben und sich verbreiten zu können (Arthur 1987:Kapitel 7). In diesem Fall muß die natürliche Selektion letzten Endes doch gewirkt haben. Andererseits, wenn wir meinen, daß die natürliche Selektion nicht gewirkt hat, kann die Vorstellung von einer sprunghaften Entstehung nicht gehalten werden. Wir müssen dann nämlich eine neutrale Evolution annehmen, worauf Bierwisch auch verweist (1989), daß also neutrale Mutationen erhalten geblieben waren und sich durch genetische Drift verbreitet hatten. Neutrale Mutationen können sich aber nur schrittweise fixieren (Wilson/Bossert 1971). Außerdem tragen sie im allgemeinen nur zu dem genetischen Polymorphismus einer Population bei, und ihre Stabilisierungswahrscheinlichkeit ist sehr gering (Redei 1982:Kapitel 18/1). Wenn wir noch einkalkulieren, daß auch relativ einfache Eigenschaften auf das Zusammenwirken verschiedener Gene zurückzuführen sind (Krebs/Davies 1981:Kapitel 1), erscheint die Entstehung der Sprachfähigkeit

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durch neutrale Evolution sehr unwahrscheinlich. Die Sprachfähigkeit kann auch keine Präadaptation gewesen sein, weil sie ausschließlich für den Erwerb der Sprache als Institution entstanden war. Da aber "wir ... nur ex post facto den Schluß ziehen [können], daß ein Phänomen der Präadaptation zuzuordnen ist" (Dobzhansky et al. 1980:139), muß dieses Phänomen erstmals als einer bestimmten Funktion dienend erscheinen, um sich dann später auch als für eine andere Funktion günstig zu erweisen. Was also bei der Präadaptation latent bleibt, ist die Möglichkeit zur unterschiedlichen Ausnutzung eines Phänomens und nicht das Phänomen selbst. Da die sprunghafte Ausbildung einer latenten und vollkommenen Sprachfähigkeit wegen der erwähnten genetischen Gründe unmöglich ist, müssen wir doch eine schrittweise vor sich gehende Adaptation durch natürliche Selektion annehmen. Dazu ist es aber notwendig, daß wir Bierwischs Paradoxon, daß im Falle eines Selektionsvorteils die Funktionen der Sprache gleichzeitig ihre eigenen Selektionsbedingungen ergeben mußten (Bierwisch 1989), auflösen. Dieses Paradoxon besteht wirklich, wenn man die Ganzheitlichkeit der Sprachfahigkeit postuliert, denn dann können die Funktionen der Sprache, die zweifellos erst mit dem institutionalisierten Symbolsystem in Wirkung treten, tatsächlich nicht als Selektionsvorteile zur Ausbildung der vom Symbolsystem unabhängigen Sprachfahigkeit dienen. Nach Bierwisch muß die Sprachfahigkeit deshalb ganzheitlich sein, weil sie an die kombinatorische Disposition gebunden ist. Natürlich besteht theoretisch ein prinzipieller Unterschied zwischen Kombinatorik und Nichtkombinatorik. Die phylogenetische Entwicklung des Säugergehirns zeigt aber in ihrer Anatomie und Physiologie keine Spuren von dieser scharfen Grenze. Es existiert eine Uniformität in der Struktur des Neocortex in allen Säugerarten (Rockel et al. 1980). Sein modularer Aufbau und die Funktion der Module als Einheiten der Informationsverarbeitung ist für alle Säugerarten charakteristisch (Szentägothai 1987). Außerdem kann bei subhumanen Primaten nicht nur eine morphologische Lateralisation des Gehirns, sondern auch eine funktionale Lateralisation in der auditiven Modalität nachgewiesen werden (Pribram 1977, Warren 1977). Es ist also klar, daß auf anatomisch-physiologischem Niveau nur ein quantitativer Unterschied existiert. Dieser Unterschied besteht aber in einer vielfach komplizierteren neuronalen Interkonnektivität des menschlichen Gehirns (Gibson 1988), was sich auch in neuen funktionalen Zentren manifestiert. Wir können also sagen, daß dieser quantitative Unterschied auf anatomisch-physiologischem Niveau einen qualitativen Unterschied auf verhaltensbiologischem und kognitivem Niveau ergibt. Das ist auch eine genetische Gegebenheit und dürfte der Sprachfahigkeit zugrunde liegen. Die kombinatorische Disposition oder die diskrete Infinitheit, die ich als eine Fähigkeit zum Umgang mit offenen Systemen interpretiere, dürfte Resultat dieser vielfach komplizierteren neuronalen Interkonnektivität sein.

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Wolfgang Ullrich Wurzel Grammatisches und Soziales beim Sprachwandel 1. Immer wenn die menschliche Sprache zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchung wird, ist man faktisch auch in dieser oder jener Form mit dem Phänomen des Sprachwandels konfrontiert. Wenn man die Sprache 'diachronisch' untersucht, ist das natürlich schon per definitionem gegeben. Doch es gilt auch für 'synchronische' Untersuchungen, denn wenn man die Grammatik oder die Lexik einer bestimmten Sprache beschreiben will, muß man wissen, was diese 'Sprache1 überhaupt ist. Das, was man 'Sprachwirklichkeit1 nennen kann, ist faktisch immer durch das Nebeneinander von Varianten sprachlicher Formen gekennzeichnet, die unschwer als jeweils ältere bzw. neuere Variante zu erkennen sind, vgl. etwa gegenwärtig deutsch er molk und er melkte oder es glomm und es glimmte. Der Linguist kann dann entweder jeweils eine der Varianten aus 'seiner Sprache' ausschließen (vgl. die häufig gehörte Formulierung "in my language ...") oder beide Varianten unter expliziter oder impliziter Spezifizierung ihres unterschiedlichen Status in seine Beschreibung der Sprache aufnehmen. Beides sind Formen der Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen Sprachwandel. Und selbst eine scheinbar so ahistorische Disziplin wie die Universalienforschung hat enge Bezüge zum Sprachwandel, stammt doch die Rechtfertigung für die tendentiellen Universalien letztlich aus der Sprachveränderung. Daß man bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Sprache, aber auch bei der Bewältigung sprachpraktischer Aufgaben im Rahmen von Sprachnormierung, Sprachplanung und Sprachpflege immer wieder mit dem Sprachwandel konfrontiert wird, ergibt sich daraus, daß sich die Sprache wie alle anderen Erscheinungen der natürlichen und sozialen Umwelt ständig verändert. Wenn eine Sprache gesprochen wird, so verändert sie sich auch, und zwar in ihren meisten Bereichen normalerweise unabhängig vom subjektiven Willen und der bewußten Aktivität des Menschen, ja oft sogar dagegen, wenn sich zunächst als 'falsch' oder 'unschön' betrachtete Neuerungen gegen Normierung und Sprachpflege durchsetzen (man vgl. nochmals die genannten neueren Formen er melkte und es glimmte). Eine Sprache befindet sich, solange sie in der normalen gesellschaftlichen Kommunikation gesprochen wird, nie 'in Ruhe1; nur 'tote' Sprachen verändern sich nicht. Der unzutreffende Eindruck, daß für die Sprache oder zumindest doch für den nichtlexikalischen Bereich Beharrung und nicht Veränderung das Normale sei, stammt nicht aus der Sprachwirklichkeit, sondern aus zu bestimmten Zwecken idealisierten wissenschaftlichen Grammatiken und aus normativen Gebrauchsgrammatiken, die in dieser Hinsicht gleichermaßen inkompetent sind. Sprache verändert sich zu allen Zeiten notwendigerweise. Doch der Sprachwandel ist nicht nur ein allgegenwärtiges, sondern zugleich auch ein wissenschaftlich hochinteressantes Phänomen, das durch das Zusammenwirken einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Faktoren gekennzeichnet ist. Daraus resultiert die Komplexität und Kompliziertheit, die seine wissenschaftliche Erklärung so schwierig macht. Bekanntermaßen gibt es bis heute noch keine umfassende Theorie des Sprachwandels, ganz zu schweigen von einer allgemein akzeptierten Theorie. Die Auffassungen vom Sprachwandel sind sehr

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unterschiedlich. Zwar werden heute wohl alle Linguisten darin übereinstimmen, daß beim Sprachwandel sowohl innersprachlich-grammatische als auch außersprachlich-soziale Faktoren eine Rolle spielen, aber welche Faktoren das im einzelnen nun wirklich sind, auf welche spezifische Weise sie zusammenwirken und welches Gewicht sie jeweils haben, ist nach wie vor weitgehend strittig. So trifft man etwa einerseits auf die Meinung, daß ein Sprachwandel oder doch der Sprachwandel generell 'letztendlich1 - wie es dann so schön heißt - durch soziale Faktoren (die dann aber kaum genauer benannt werden) bedingt sei, wovon demzufolge jede Sprachwandeltheorie 'auszugehen' habe. Andererseits wird argumentiert, daß eine Sprachwandeltheorie das Problem der Akzeptierung von Wandelerscheinungen durch die Sprachgemeinschaft nicht zu erklären brauche, da dabei der Bereich der Linguistik überschritten sei. Entsprechend sei eine Sprachwandeltheorie grundsätzlich nur als eine Theorie der grammatisch möglichen Sprachveränderungen zu konzipieren. Beide Positionen werden dem komplexen Phänomen des Sprachwandels u.E. nicht gerecht. Die erste negiert die Eigengesetzlichkeit der Sprache als eines spezifischen, einerseits an die Artikulations- und Perzeptionsorgane und andererseits an das Denken gebundenen semiotischen Systems. Die zweite vernachlässigt, daß die menschliche Sprache Mittel der gesellschaftlichen Kommunikation ist und jede Einzelsprache ihre konkrete Ausprägung gerade in dieser gewinnt. So schwierig eine angemessene, nichtdeklarative Einbeziehung detaillierter sozialer Faktoren in eine Sprachwandeltheorie und eine Sprachtheorie überhaupt auch sein mag, zu einem umfassenden Bild von der menschlichen Sprache können wir nur gelangen, wenn wir sowohl den grammatischen als auch den sozialen Faktoren in gebührender Weise Rechnung tragen, denn das Wesen der Sprache ist durch beide Seiten bestimmt, und das schlägt sich besonders deutlich gerade im Sprachwandel nieder. Hier liegen die Chancen, aber natürlich auch die Probleme für eine Theorie des Sprachwandels. An dieser Stelle macht sich eine Bemerkung notwendig: Auf diesem Symposium geht es um 'Biologische und soziale Grundlagen der Sprache', das Thema dieses Beitrags aber ist das Zusammenwirken von grammatischen und sozialen Faktoren beim Sprachwandel. Wie ordnet sich der Beitrag in die Gesamtproblematik ein? Was man gemeinhin 'grammatisch1 nennt, beruht ohne jeden Zweifel auf biologisch-psychologischen Grundlagen, doch haben sich diese wiederum unter bestimmten sozialen Bedingungen herausgebildet. In der Grammatik sind die biologischen und sozialen Grundlagen der menschlichen Sprache so eng miteinander verzahnt, daß - zumindest gegenwärtig - beides nur sehr schwer begründet voneinander zu sondern ist. Das zeigt sich z.B. eindrucksvoll bei der Fundierung der notwendigen gemeinsamen Eigenschaften der natürlichen Sprachen, der Universalien. Während einerseits etwa die phonologischen Universalien eindeutig biologisch determiniert sind, ist andererseits ebenso eindeutig das universelle Vorkommen von deiktischen Elementen, so der Personalpronomen der 1. und 2. Person, kommunikativ-pragmatisch bedingt (vgl. Comrie (1981:26)), ebenso wie etwa die universelle Tendenz zur Herausbildung von Suppletion in bestimmten Bereichen (vgl. Wurzel (1990)). So lassen sich auch im Sprachwandel die in die Grammatik eingegangenen biologischen und sozialen Grundlagen der Sprache nicht sinnvoll voneinander trennen. Doch die Grammatik läßt sich einheitlich denjenigen sozialen Faktoren gegenüberstellen,

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die für den Sprachwandel relevant sind. Auch auf diese Weise ist sicher etwas zur Thematik des Symposiums beizutragen. 2. Wer über Sprachwandel sprechen will, ist natürlich zunächst gehalten, genauer zu bestimmen, was er darunter überhaupt versteht. Das soll jetzt kurz geschehen. Dabei soll schlicht davon ausgegangen werden, daß jede einzelne Sprache ihr spezifisches Sprachsystem hat, das aus der Gesamtheit der Einheiten und Regeln besteht, aufgrund deren sich in dieser gegebenen Sprache die gegenseitige Zuordnung der Bedeutungsstrukturen und Lautstrukturen vollzieht. Ein Sprachwandel ist nun jede Veränderung im Sprachsystem, also in der gegenseitigen Zuordnung von Bedeutungs- und Lautstrukturen, in einer Sprache, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sprachwandelerscheinungen können demzufolge vielfältiger Art sein. Die Skala reicht von solchen phonologischen und syntaktischen Veränderungen, von denen jeder einzelne Satz der Sprache betroffen sein kann, über Veränderungen von Flexionsformen, die sich zumindest in jedem Text äußern, bis hin zu Veränderungen in Bestand und Bedeutung lexikalischer Einheiten, die sich demgegenüber nur peripher auswirken und weitgehend unbeachtet bleiben. Will man Sprachveränderungen nach ihren Haupttypen klassifizieren, so muß man (wenigstens) drei grundsätzlich verschiedene unterscheiden: (I) (II) (III)

natürlichen grammatischen, d.h. phonologischen, morphologischen und syntaktischen Wandel; dabei handelt es sich um Wandelerscheinungen, die 'im System angelegt' sind; semantisch-lexikalischen Wandel, in dem sich direkt oder vermittelt bestimmte Benennungsbedürfhisse der Gesellschaft widerspiegeln; Sprach- und Dialektmischungen, Normierungen usw., die unmittelbar durch die Einwirkung der Gesellschaft auf die Sprache ausgelöst werden.

So unterschiedlich diese drei Typen von Sprachveränderungen hinsichtlich ihres jeweiligen Bedingungsgefüges auch sind, entscheidend ist, daß jeder einzelne Sprachwandel zwei Seiten hat, eben eine grammatische und eine soziale. Diese beiden Seiten lassen sich charakterisieren durch die Fragen 'Unter welchen Bedingungen können welche Veränderungen im Sprachsystem auftreten?1 und 'Unter welchen Bedingungen werden welche sprachlichen Veränderungen von der Sprachgemeinschaft akzeptiert?'. Die grammatische und die soziale Seite können bei den einzelnen zu beobachtenden Sprachveränderungen eine sehr unterschiedliche Rolle spielen, doch relevant sind sie immer beide. Einerseits muß sich auch der 'natürlichste' Wandel, sagen wir eine Assimilation eines Nasals an einen folgenden Obstruenten in der Artikulationsstelle, unter ganz bestimmten fördernden oder bremsenden sozialen Bedingungen in der Sprachgemeinschaft durchsetzen. Andererseits erfolgt auch ein aufgrund bestimmter Anforderungen der Gesellschaft bewußt herbeigeführter Wandel unter ganz bestimmten grammatisch-strukturellen Bedingungen und hat ganz bestimmte grammatische Konsequenzen. So ist es eben kein Zufall, sondern entspricht den grammatisch-typologischen Voraussetzungen der jeweiligen Sprache, daß dieselbe im vergangenen Jahrhunden eingeführte technische Neuerung im Deutschen mit einem Kompositum als Eisenbahn, im Französischen mit einer präpositionalen Verbindung als chemin de fer und im Russischen mit einer AdjektivSubstantiv-Kombination als zeleznaja doroga benannt wurde.

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3. Im folgenden wollen wir den wohl theoretisch interessantesten Wandeltyp, nämlich den natürlichen grammatischen Wandel, am Beispiel morphologischer Veränderungen bezüglich der für ihn relevanten grammatischen und sozialen Faktoren etwas näher betrachten. Ausgangspunkt jeder morphologischen Veränderung ist das einzelsprachliche morphologische System als Bestandteil des jeweiligen Sprachsystems, das aus den entsprechenden Regeln und Einheiten besteht. Es ist eine spezifische Ausprägung universell vorgegebener Struktureigenschaften, wobei natürlich Veränderungsmöglichkeiten nur im Rahmen der von den strikten Universalien vorgegebenen Grenzen bestehen. Zu sagen, daß das morphologische System als Teil des Sprachsystems etwas Grammatisches ist, ist tautologisch. Bemerkenswerter ist dagegen, daß das Sprachsystem in seinen veränderlichen Struktureigenschaften ja faktisch 'geronnene Sprachgeschichte1 darstellt. Insofern sind damit die Veränderungsmöglichkeiten eines Systems durchaus auch mitbestimmt durch soziale Faktoren der Vergangenheit. Eine ganz entscheidende Bedeutung für den natürlichen grammatischen Wandel haben die Präferenz- oder Markiertheitsprinzipien, in unserem Fall die morphologischen Präferenzprinzipien.1 Diese Prinzipien haben den Charakter von tendentiellen Universalien und sind, ebenso wie die strikten Universalien, außergrammatisch begründet. Während die phonologischen Präferenzprinzipien phonetisch und damit biologisch basiert sind, sind die morphologischen Präferenzprinzipien semiotisch basiert, d.h. beziehen sich auf das Verhältnis zwischen der Bedeutung und der Form morphologischer Zeichen und Zeichenkombinationen. Dabei wirken einerseits kommunikativ-pragmatische Gegebenheiten und andererseits die Art und Weise der Verarbeitung sprachlicher Zeichen durch das menschliche Gehirn, also soziale und biologische Faktoren zusammen; auch hier erscheint eine Trennung beider Seiten problematisch. Wir wollen annehmen, daß die morphologischen Präferenzprinzipien die folgende allgemeine Form haben: (1)

Eine morphologische Erscheinung M-t ist (unter sonst gleichen Bedingungen) umso präferenter/weniger markiert, in je stärkerem Grade sie die Eigenschaft E: hat.

Die Prinzipien bewerten morphologische Erscheinungen, d.h. Kategorienmarker, Flexionsformen und Flexionsparadigmen, nicht einfach als präferent/nichtmarkiert oder nichtpräferent/markiert, sondern als relativ zu anderen entsprechenden Erscheinungen mehr oder weniger präferent bzw. weniger oder mehr markiert. Das ist der Tatsache geschuldet, daß sich die Präferenzprinzipien in der Regel auf graduelle und nicht auf diskrete Struktureigenschaften beziehen.2 Vgl. dazu z.B. das Präferenzprinzip der morphosemantischen Transparenz:

Vgl. dazu Vennemanns äquivalentes Konzept der phonologischen Präferenzgesetze (speziell in Vennemann (1988:1 ff.)). Man beachte, daß in eigenen früheren Publikationen (wie etwa Wurzel (1988)) für die Präferenzprinzipien der Terminus 'Natürlichkeitsprinzip' erscheint. Wenn die Eigenschaft Ej, auf die sich das jeweilige Präferenzprinzip bezieht, doch nichtgradueller, diskreter Natur ist, dann hat sie entsprechend die Form: "Eine morphologische Erscheinung Mj ist (unter sonst gleichen Bedingungen) präferent/unmarkiert, wenn sie die Eigenschaft E: hat und nichtpräferent/markiert, wenn sie sie nicht hat".

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Eine morphologische Form MI ist (unter sonst gleichen Bedingungen) umso präferenter/weniger markiert, in je stärkerem Grade sie dahingehend aufgebaut ist, daß eine Kombination von semantischen Einheiten durch eine einfache Kombination der ihnen jeweils entsprechenden morphologischen Einheiten symbolisiert wird.

Dieses Prinzip weist morphologischen Formen aufgrund ihrer Position auf einer Skala der morphosemantischen Transparenz ihre relativen Markiertheitswerte zu, wie es das Beispiel der folgenden Komparativformen zeigt:3 (3)

(a)

einfache Morphemkombination: schlecht-er zu schlecht,

ist präferenter/weniger markiert als (b)

Morphemkombination mit phonologischen Fusionserscheinungen an der Mo hemgrenze (Ausbleiben der 'Auslautverhärtung'): lieb-er zu lieb,

ist präferenter/weniger markiert als (c)

Morphemkombination mit schwach suppletivem Basismorphem: höh-er zu hoch,

ist präferenter/weniger markiert als (d)

Morphemkombination mit stark suppletivem Basismorphem: bess-er zu gut,

ist präferenter/weniger markiert als (e)

stark suppletives Basismorphem ohne grammatisches Morphem: worse zu bad.

Für die entsprechenden Komparativformen ergibt sich also eine Skala der Markiertheit. Dabei ist ferner wichtig, daß sich ein Präferenzprinzip immer nur auf eine bestimmte Eigenschaft von morphologischen Erscheinungen, also nicht auf diese Erscheinungen insgesamt und schlechthin bezieht. Damit kann eine morphologische Erscheinung, die hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft präferenter ist als eine andere Erscheinung, durchaus hinsichtlich einer weiteren Eigenschaft weniger präferent sein als die andere Erscheinung und umgekehrt. Das heißt, die Präferenzprinzipien können sich widersprüchlich zueinander verhalten. Das ist wichtig, und wir kommen darauf zurück. Aufgrund der morphologischen Präferenzprinzipien ergeben sich, zunächst völlig unabhängig vom Sprachwandel, die relativen Markiertheitsbewertungen für die einzelnen morphologischen Erscheinungen im vorausgesetzten einzelsprachlichen System, jeweils bezogen auf alle einschlägigen Prinzipien. Damit erfassen die Präferenzprinzipien synchron gesehen sowohl einzelsprachlich als auch universell die Ungleichmäßigkeiten des Vorkommens unterschiedlicher morphologischer Erscheinungen, letzteres übrigens ganz im Sinne von Greenberg (1966). An dieser Stelle ist darauf zu verweisen, daß zwar morphologische Systeme unterschiedlich viel Markiertheit aufweisen können, daß aber solche Systeme ganz ohne Markiertheit nicht denkbar sind. Das beruht sowohl auf der Widersprüchlichkeit der morphologischen Präferenzprinzipien untereinander als auch darauf, daß aufgrund von phonologischem Wandel immer wieder neue morphologische Markiertheit entsteht.4 3

Diese Skala der morphosemantischen Transparenz erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; sie dient hier lediglich der Illustration.

4

Vgl. dazu Paul (1909:49 ff., 106 ff. und 189 ff.) sowie Wurzel (1984:29 ff.).

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Eine einzelne morphologische Erscheinung hat also immer mehrfache, nicht notwendigerweise übereinstimmende Markiertheitsbewertungen, ähnlich wie im phonologischen Markiertheitskonzept von Chomsky/Halle (1968) die Segmente hinsichtlich ihrer einzelnen phonologischen Merkmale als 'markiert' bzw. 'unmarkiert1 spezifiziert sind. Doch anders als dort lassen sich auf dieser Grundlage keine einheitlichen numerischen Markiertheitswerte für die jeweiligen Einheiten ermitteln.5 Das liegt nicht nur daran, daß die Präferenzprinzipien relative und keine absoluten Markiertheitsbewertungen zuweisen, sondern vor allem auch daran, daß die verschiedenen morphologischen Präferenzeigenschaften wie z.B. morphosemantische Transparenz, konstruktioneller Ikonismus, Systemangemessenheit usw. ein recht unterschiedliches Gewicht haben, was gerade beim Sprachwandel deutlich zum Ausdruck kommt.6 Entsprechend muß man eine Hierarchie der morphologischen Präferenzprinzipien annehmen. Diese wirkt sich im Konfliktfall so aus, daß eine Markiertheitsbewertung aufgrund eines in der Hierarchie höher eingeordneten Präferenzprinzips gegenüber einer Markiertheitsbewertung aufgrund eines niedriger eingeordneten Präferenzprinzips dominiert und so die Richtung von eintretenden Veränderungen bestimmt. Wenn auch noch nicht alle in Zusammenhang mit dieser Hierarchie stehenden Probleme gelöst sind, so besteht doch an der Existenz einer solchen Hierarchie und somit an ihrer Bedeutung für den Wandel kein Zweifel. Beispielsweise läßt sich eindeutig sagen, daß das Prinzip der Systemangemessenheit an der Spitze der Hierarchie der morphologischen Präferenzprinzipien steht. Dieses Prinzip besagt (4)

Eine morphologische Erscheinung Mj ist (unter sonst gleichen Bedingungen) umso präferenter/weniger markiert, je stärker sie den systemdefinierenden Stniktureigenschaften des jeweiligen Flexionssystems entspricht.

Die systemdefinierenden Struktureigenschaften sind die in der Sprache geltenden Spezifizierungen der morphologischen Parameter.7 Das Prinzip dominiert beispielsweise gegenüber dem Präferenzprinzip des konstruktionellen Ikonismus, das (etwas vereinfacht gesagt) eine relativ merkmallose (formal weniger aufwendige) Symbolisierung weniger markierter und eine relativ merkmalhafte (formal aufwendigere) Symbolisierung markierterer Flexionskategorien präferiert. Das zeigt etwa der folgende Fall: Im frühen Althochdeutschen konkurrieren bei der Pluralbildung der Neutra zwei verschiedene Muster, nämlich der Typ/az - Plural faz-u mit Pluralflexiv und der Typ wort - Plural wort ohne Pluralflexiv. Der erste Typ ist hinsichtlich des konstruktionellen Ikonismus unmarkiert, da der Singular merkmallos und der Plural merkmalhaft symbolisiert wird, aber hinsichtlich der Systemangemessenheit markiert, da im Althochdeutschen bei den Neutra die formale Gleichheit von N.Sg. und N.P1. systemangemessen ist. Dagegen ist der zweite Typ hinsichtlich des konstruktionellen Ikonismus markiert, da der Plural merkmallos symbolisiert ist, aber hinsichtlich der System-

5

Vgl. Chomsky/Halle (1968:408 ff.).

6

Diese Problematik ist ausführlich diskutiert in Wurzel (1984:110 ff., 166 ff. und 173 ff.).

7

Vgl. Wurzel (in Vorb. b).

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angemessenheit unmarkiert. Der weitere Gang der Dinge im Althochdeutschen, nämlich der Übergang der Substantive des Typs l zum Typ 2, erweist, daß hier das Prinzip der Systemangemessenheit über das des konstruktioneilen Ikonismus dominiert. Verallgemeinert gesagt, aus der Hierarchie der morphologischen Präferenzprinzipien resultieren die dominierenden Marldertheilsbewertungen der einzelnen morphologischen Erscheinungen im morphologischen System. Mit der Festlegung der dominierenden Markiertheitsbewertungen ergeben sich faktisch die Ausgangspunkte für potentiellen morphologischen Wandel, doch streng genommen ist auch das nur eine auf das synchron gesehene System bezogene Prozedur; über den Wandel selbst und seine Richtung ist hier noch nichts gesagt. Erst durch ein spezifisches Sprachveränderungsprinzip, das Prinzip natürlichen grammatischen Wandels, werden die Veränderungstendenzen im morphologischen System als solche fixiert. Das Prinzip läßt sich wie folgt formulieren: (S)

Natürlicher grammatischer Wandel verläuft in Richtung der Ersetzung von weniger präferenten/markierten durch präferentere/weniger markierte grammatische Erscheinungen.

Es sei nochmals daran erinnert, daß wir unter natürlichem grammatischen Wandel phonologische, morphologische und syntaktische Wandelerscheinungen verstehen, die nicht durch Faktoren wie Sprachmischung, Normierung usw. ausgelöst sind. Durch natürlichen Wandel, dessen Wesen im Abbau von Markiertheit besteht, kann zugleich wieder neue Markiertheit entstehen, doch immer nur bezogen auf eine andere Präferenzeigenschaft. So führt eben der Übergang vom Typ faz - faz-u zu faz · faz im Sinne der Systemangemessenheit zur Herausbildung von Markiertheit im Sinne des konstruktionellen Ikonismus. Das Prinzip natürlichen grammatischen Wandels ist das einzige grammatische Veränderungsprinzip. Es hat anders als die Präferenzprinzipien den Charakter eines strikten Universals. Das Prinzip fixiert (wie gesagt) auch die Veränderungstendenzen im morphologischen System auf der Grundlage der von den Präferenzprinzipien vorgenommenen Markiertheitsbewertungen, wobei diese Veränderungstendenzen jeweils als Einheit von Ausgangspunkt, nämlich der markierten Erscheinung, und Richtung, nämlich hin zu einer weniger markierten Erscheinung, zu verstehen sind. Dagegen besagen die Veränderungstendenzen nicht, wieweit, nämlich bis zu welchem Grad des Abbaus von Markiertheit, eine potentielle Veränderung geht. Alle bisher in die Betrachtung einbezogenen Faktoren des Sprachwandels sind ihrem Wesen nach grammatisch. Was sie zusammen determinieren - das sei noch einmal betont -, sind noch nicht Veränderungen, sondern lediglich Veränderungstendenzen. Hier kommen die sozialen Faktoren ins Spiel. Es gibt genügend Evidenz dafür, daß die jeweils in einem morphologischen System vorhandenen Veränderungstendenzen nicht nur ein Konstrukt des Ungutsten sind. Sie wirken vielmehr ganz real, auch wenn die entsprechenden Veränderungen zu einem bestimmten Zeitpunkt (noch) nicht eintreten, nämlich in der Kindersprache. Das gilt für dasjenige Stadium des Spracherwerbs, wo die Kinder von der lexikalischen Speicherung von Flexionsformen zu deren Erzeugung durch Regeln übergehen und die Regeln dabei entsprechend übergeneralisieren. Anders gesagt, von den Kindern werden neue, weniger markierte Formen gebil-

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det, die der Norm der Erwachsenensprache nicht entsprechen.** Sollen die sich in der Kindersprache so äußernden Veränderungstendenzen zu wirklichen Veränderungen des morphologischen Systems führen, bedürfen sie der Akzeptierung durch die Sprachgemeinschaft. Auch natürliche Veränderungstendenzen werden keinesfalls automatisch akzeptiert, weshalb jede Sprachveränderungstheorie auf die Bedingungen der Akzeptierung oder Nichtakzeptierung sprachlicher Neuerungen Bezug nehmen muß, wenn diese Bedingungen auch gegenwärtig nicht mit gleicher Exaktheit gefaßt werden können wie die grammatischen Faktoren des Sprachwandels. Sprachverhalten ist soziales Verhalten, und soziales Verhalten wird immer geregelt durch bestimmte Normen. Ob den bisher geltenden Normen widersprechende Neuerungen akzeptiert werden, hängt von der jeweiligen Stellung der Menschen zu den Normen, vom Normbewußtsein, ab (unabhängig ob dieses bewußt reflektiert wird oder nicht). Das betrifft auch die sprachlichen Normen. Die Bereitschaft der Sprachgemeinschaft zur Akzeptierung sprachlicher Neuerungen hängt also entscheidend von der jeweiligen konkreten Ausprägung des sprachlichen Normbewußtseins ab, das stärker progressiv oder stärker konservativ sein kann. Für die Ausprägung des sprachlichen Normbewußtseins sind nun mindestens zwei wichtige Faktoren verantwortlich. Zum einen ist das sprachliche Normbewußtsein ein Teil des allgemeinen sozialen Normbewußtseins und wird von diesem maßgeblich beeinflußt; ein progressiv ausgeprägtes soziales Normbewußtsein bedingt auch ein progressiv ausgeprägtes sprachliches Normbewußtsein. Das soziale Normbewußtsein ergibt sich aus den sozialen Verhältnissen, unter denen eine Sprachgemeinschaft lebt. Auf diese Weise wirken sich soziale Verhältnisse auf die Akzeptierung auch grammatischer Neuerungen und insofern auf den Sprachwandel aus. So ist bekannt, daß die Bereitschaft der Akzeptierung auch von nichtlexikalischen Neuerungen in sozialen Umbruchsituationen größer ist als in Ruhesituationen. Als Beispiel dafür können einerseits die Veränderungen genannt werden, die das Französische in der Zeit der Großen Revolution erfuhr (vgl. Anttila (1972:191)), andererseits die wenigen Veränderungen, die Sprachen von Völkern durchgemacht haben, deren Lebensumstände sich viele hundert Jahre nicht geändert haben wie z.B. Litauisch oder Sardisch. Doch für das sprachliche Normbewußtsein einer Sprachgemeinschaft ist noch ein weiterer Faktor wichtig, nämlich die jeweiligen soziolinguistischen Verhältnisse. Sprachwandel ist unmittelbar an sprachliche Variation gebunden und vollzieht sich in der Variation. Wenn die Sprecher an die Existenz mehrerer Varianten ihrer Sprache (seien sie primär territorial oder sozial bestimmt) gewöhnt sind, d.h. sprachliche Formen ohnehin in verschiedenen Varianten kennen, so sind sie auch toleranter gegenüber aus Wandeltendenzen resultierenden Neuerungen, die eher akzeptiert werden. Hier kann man an das stark gegliederte Deutsche mit seinen vielen Varianten einerseits und an das fast einheitliche Isländische andererseits denken, deren Sprachgemeinschaften sich hinsichtlich von Neuerungen sehr unterschiedlich verhalten haben und

Hierbei bandelt es sich entsprechend Slobin (1971) um das Stadium (3) des Morphologieerwerbs, das durch "overgencralization of marking" gekennzeichnet ist Ihm gehen die Stadien (1) "no marking" und (2) "appropriate marking in limited cases" voraus und folgt das Stadium (4) "full adult system" (vgl. 362). Man beachte, daß "marking" hier für 'Kennzeichnung, Symbolisierung' steht!

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weiter verhalten. Das soziale Normbewußtsein und die soziolinguistischen Verhältnisse bestimmen gemeinsam die Ausprägung des sprachlichen Normbewußtseins. Es existieren jedoch noch zwei zusätzliche Faktoren, die, unabhängig von einer mehr progressiven oder mehr konservativen Ausprägung des sprachlichen Normbewußtseins, auf die Bereitschaft zur Akzeptierung sprachlicher Neuerungen einwirken. Durch sie wird der Bereich der in einem gegebenen Zeitraum möglichen Wandelerscheinungen, so auch der morphologischen, faktisch eingegrenzt. Zum einen gibt es allgemeine Anforderungen der Kommunikation derart, daß immer nur ein bestimmtes Maß an morphologischen Veränderungen in einem gegebenen Zeitraum eintreten kann, wenn die Kommunikation in der Sprachgemeinschaft ungestört verlaufen soll. Zum anderen aber erfordert die erwähnte ständige Anhäufung morphologischer Markiertheit durch phonologische Veränderungen, daß ein bestimmtes Maß an morphologischen Wandelerscheinungen eintreten muß, die diese reduzieren, wenn das morphologische System erlernbar und handhabbar bleiben soll. Beide Grenzen sind natürlich nur sehr schwer zu bestimmen; speziell hier sind noch umfangreiche kommunikationslinguistische und psycholinguistische Forschungen notwendig. Es ist nicht uninteressant, daß der letztgenannte Faktor, der Grad morphologischer Markiertheit im System, ein grammatischer ist. Auf die ihrem Wesen nach sozial determinierte Bereitschaft zur Akzeptierung grammatischer Veränderungstendenzen wirkt die Grammatik wiederum selbst mit ein. Neben den für alle grammatischen Veränderungen gleichermaßen geltenden Zusammenhängen zwischen den für die Akzeptierung verantwortlichen Faktoren, die wir hier versucht haben kurz zu explizieren, gibt es auch Zusammenhänge, die die einzelnen Bereiche der Grammatik in unterschiedlicher Weise betreffen. Hierfür soll nur ein Beispiel genannt werden, das sich auf die Phonologie bezieht, wobei sich aber unmittelbare Auswirkungen für die Morphologie ergeben: Größere, soziolinguistisch stark gegliederte und damit inhomogene Sprachgemeinschaften erleben charakteristischerweise unterschiedliche, in ganz verschiedene Richtungen gehende phonologische Veränderungen (man denke etwa daran, wieweit sich die hochdeutschen Dialekte seit dem Mittelhochdeutschen phonologisch voneinander entfernt haben). Im Interesse der Einheitlichkeit werden dann solche phonologischen Veränderungen von der Standardsprache meist nicht übernommen. Das bedeutet, daß in solchen Sprachgemeinschaften die Anhäufung morphologischer Markiertheit durch phonologische Veränderungen schon von vornherein in bestimmter Weise eingeschränkt ist. Eine solche Bremswirkung gibt es dagegen nicht in kleinen, soziolinguistisch nur wenig oder gar nicht gegliederten, also relativ homogenen Sprachgemeinschaften.9 Hier gehen die phonologischen Veränderungen in eine einheitliche Richtung und stellen keine Gefahr für die Erhaltung der gesamtgesellschaftlichen Kommunikation dar; sie können sich entsprechend frei entfalten. Das führt dann charakteristischerweise zu einer starken Anhäufung morphologischer Markiertheit, d.h. zu einer recht komplizierten Morphologie. Deshalb hat z.B. das Isländische in den letzten 1000 Jahren trotz seines konservativen sprachlichen Nonnbewußtseins kaum weniger phonologische Veränderungen durchgemacht als das (Standard-)Deutsche. Die in deren Konsequenz Diese Gedanken basieren auf Braunmüllers Konzept der "Morphologischen Undurchsichtigkeit" als einem "Charakteristikum kleiner Sprachen"; vgl. Braunmüller (1985). Auf die Problematik erstmals aufmerksam gemacht hat Werner (1975, bes. 791).

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entstandene morphologische Markiertheit, die vor allem in vielfachen unsystematischen morphologischen Altemationen besteht, bleibt nun gerade aufgrund des konservativ geprägten sprachlichen Normbewußtseins im Prinzip erhalten, anders als im Deutschen, wo ursprünglich phonologisch bedingte morphologische Altemationen fast durchgängig systematisiert oder abgebaut worden sind. Das Beispiel zeigt in plausibler Weise, wie unterschiedliche soziolinguistische Verhältnisse sich auf die allgemeinen Anforderungen der Kommunikation auswirken, die ihrerseits ein wesentlicher Faktor für die Akzeptierung von Veränderungstendenzen sind. Alle die genannten Faktoren, die möglicherweise noch durch weitere ergänzt werden müssen, determinieren in ihrem Zusammenwirken die Bereitschaft der Sprachgemeinschaft zur Akzeptierung natürlichen grammatischen Wandels. Damit ist aber natürlich nicht strikt festgelegt, daß unter ganz bestimmten Bedingungen eine bestimmte morphologische Veränderungstendenz zu einer bestimmten Zeit auch wirklich akzeptiert wird. Doch aufgrund der sozialen Faktoren und des Markiertheitsgrades des morphologischen Systems lassen sich durchaus begründete Veränderungen überhaupt und aufgrund der Verteilung der Markiertheit im morphologischen System auch darüber machen, an welchen Stellen Veränderungen eintreten werden. Wenn ein umfassenderer Sprachwandelprozeß begonnen hat, läßt sich zusätzlich sehr viel über seinen künftigen Verlauf vorhersagen, worauf wir hier aber nicht näher eingehen können.10 Insgesamt ergibt sich - zumindest in Annäherung - das folgende Bild des Zusammenwirkens von grammatischen und sozialen Faktoren beim natürlichen grammatischen Wandel, dargestellt am morphologischen Wandel:

10

Probleme solcherart sind behandelt in Wurzel (1988).

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einzelsprachliches morphologisches System (einzelne) Präferenzprinzipien

Markiertheitsbewertungen der mo hologischen Erscheinungen im System

Hierarchie der Präferenzprinzipien

dominierende Markiertheitsbewertungen der morphologischen Erscheinungen im System

Prinzip natürlichen grammatischen Wandels

Veränderungstendenzen im morphologischen System

Anhäufung morphologischer Markiertheit

sprachliches Normbewußtsein

morphologische SPRACH VERÄNDERUNGEN

soziolinguistische Verhältnisse allgemeine Anforderungen der Kommunikation

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Mit der weiteren und vor allem genaueren Erforschung der hier vorgestellten für den Sprachwandel relevanten Faktoren und ihres Zusammenwirkens sowie der Suche nach weiteren entsprechenden Faktoren wird in Zukunft unser Wissen über dieses komplexe und komplizierte Phänomen weiter zunehmen, ohne daß dabei allerdings die strikte Vorhersagbarkeit einer Einzelveränderung zu einem gegebenen Zeitpunkt möglich werden wird. Doch dadurch sollten wir uns auch in unseren künftigen Bemühungen um eine möglichst umfassende Erklärung des allgegenwärtigen Sprachwandels nicht entmutigen lassen.

Literatur Anttila, R. (1972): An Introduction to Historical and Comparative Linguistics. New York/London. Braunmüller, K. (1984): Morphologische Undurchsichtigkeit - ein Charakteristikum kleiner Sprachen. In: Kopenhagener Beiträge zur Germanistischen Linguistik 22,48 - 68. Chomsky, N./Halle, M. (1968): The Sound Pattern of English. New York/Evanston/London. Comrie, B. (1981): Language Universals and Linguistic Typology. Oxford. Greenberg, J. (1966): Some Universals of Grammar with particular reference to the order of meaningful elements. In: J. Greenberg (ed.) (1966): Universals of Language. Cambridge (Mass.). Paul, H. (1909): Prinzipien der Sprachgeschichte. Halle a. S. Werner, . (1975): Flexion und Morphophonemik im Färöischen. In: K.H. Dahlstedt (ed.) (1975): The Nordic Languages and Modern Linguistics 2. Stockholm, 774 - 791. Vennemann, Tb. (1988): Preference Laws for Syllable Structure and Explanation of Sound Change. Berlin/New York/Amsterdam. Slobin, D.I. (1971): Developmental psycholinguistics. In: W.O. Dingwall (ed.) (1971): A Survey of Linguistic Science. University of Maryland, 298 - 400. Wurzel, W.U. (1984): Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Studia Grammatica XXI. Berlin. Wurzel, W.U. (1988): Zur Erklärbarkeit sprachlichen Wandels. In: ZPSK 41/4,488 - 510. Wurzel, W.U. (1990): Gedanken zu Suppletion und Natürlichkeit. In: ZPSK 43/1, 86 - 91. Wurzel, W.U. (in Vorb.): Natürliche Morphologie, Typologie und Wandel (unveröff. Manuskript).

SPRACHURSPRUNG UND SPRACHKONVENTION

Joachim Herrmann Das anthropologisch-historische Umfeld für die Herausbildung der Sprachfahigkeit1 Die Fähigkeit zur Sprache und die Sprache selbst sind Grundbedingungen sozialer Kommunikation und sozialer Vererbung, also Grundlagen gesellschaftlicher Organisation. Es darf vorausgesetzt werden, daß ohne evolutionsgeschichtlichen Erwerb von Sprachfähigkeit, ohne Ausprägung der Fähigkeit zur sprachlichen Vermittlung von Erfahrungen, von Gedanken über die Lebensumwelt, von zukunftsorientierten Erwartungen und Handlungen, menschliche Gesellschaftlichkeit nicht entstehen konnte und nicht bestehen kann. Daher wurde und wird zu Recht die Sprache als wesentliche Markscheide zwischen tierischer und menschlicher Evolution, zwischen biologischer und gesellschaftlicher Existenz- und Bewegungsform des Lebens angesehen. Der irreversible Umschlag von der Tierhaftigkeit in der Anthropogenese zur Gesellschaftlichkeit war mit der Herausbildung von Sprachfähigkeit und sprachlicher Kommunikation verbunden. Unter philosophischen, psycholinguistischen und psychologischen Fragestellungen wird man sich auf eine solche Setzung verständigen können. Die Probleme beginnen dort, wo es um Fragen an die Tatsächlichkeiten geht, wo es sich darum handelt, die Evolution der Sprachfahigkeit darzustellen und den Zeitpunkt zu ermitteln, an dem mit größter Wahrscheinlichkeit diese Evolution zur Herausbildung von Sprache geführt hat. Wird nicht in erster Linie auf die allgemeine philosophische oder psychologische Fragestellung Wert gelegt, so gibt es gegenwärtig zwei Disziplinen und zwei Quellengnippen, die Umfeld-Aussagen ermöglichen: Die Archäologie und die Anthropologie. Erstere beschafft die Quellen überhaupt, von den verschiedenen Lebens- und Wirkungszeugnissen der Anthropogenese bis zu den Resten des Subjektes der Anthropogenese selbst; letztere analysiert die von der Archäologie erbrachten und datierten Quellen unter dem Gesichtspunkt des Entwicklungsstandes anthropologischer Formen. Mehrere naturwissenschaftliche Disziplinen sind an der Erarbeitung von Chronologie und jeweiligen Umweltsignifikanzen beteiligt. Die Unterschiedlichkeit der Quellen und deren unabhängige Analyse erlaubt eine wechselseitige Kontrolle der jeweiligen Ergebnisse. Trotz mancher Unsicherheiten sind in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Fakten entdeckt und analysiert worden, die in groben Zügen Zusammenhänge zwischen dem Übergang von der naturgeschichtlichen zur gesellschaftsgeschichtlichen Evolution, dem der vorwiegend genetisch und verhaltensbiologisch bedingten Populationsentwicklung zur gesellschaftlich beeinflußten und bedingten Populationsentwicklung erkennen lassen. In diesem Zusammenhang gibt es eindeutige Ergebnisse zur Herausbildung der Sprachfahigkeit im Verlauf der

Verfasser konnte an der Tagung in Jena bedauerlicherweise nicht teilnehmen, das Referat lag jedoch vor. Auf Anforderung von Herrn Kollegen P. Suchsland ist es überarbeitet und leicht ergänzt für den Druck vorbereitet worden.

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dialektischen Evolution von Arbeitsprozeß, Denken und Sprache2. Ich sehe keine Möglichkeit, dem einen oder anderen Faktor dieser Dreifaltigkeit einen Vorrang zu geben. Sie bedingten einander und wurden zum festen Grundbestand der Anthropogenese. Ohne Arbeit keine Sprache, kein Denken; ohne Denken und Sprache aber gab es auch keinen Arbeitsprozeß. Es gibt drei von historischen Quellen ausgehende Beobachtungen, die es gestatten, die Evolution zur Sprachfähigkeit zu rekonstruieren: 1. Der Beginn der Geräteherstellung und der Kooperation im Arbeitsprozeß unter Nutzung von Geräten. Dieser Vorgang geht auf die Zeit vor 2 - 3 Millionen Jahren zurück. Beobachtungen in Ostafrika deuten darauf hin, daß damals bereits Verhaltensweisen unter Einbeziehung determinierter sprachlicher Kommunikation lebensbestimmend waren. Ein solcher Sachverhalt ließe sich auch mit ethologischen Beobachtungen an höheren Primaten vereinbaren3. In dieser Epoche, die ich als Epoche der Homo-Deviation, der Herauslösung des Menschen aus dem Tierreich, bezeichnen würde und in der durchaus verschiedene, darunter auch manche gescheiterte Entwicklungsansätze feststellbar sind, war das Gehirnvolumen gering. Es lag zwar weit über dem der bekannten Menschenaffen, aber auch weit unterhalb der Schwelle des mit Bewußtheit und entwickelter Sprache ausgestatteten Menschen (Abb. 1). Der Homo habilis dieser Epoche, wie er bezeichnet wird, war ein "Affenmensch". Von manchen Forschern wird er in das Vormenschen-Feld gerückt, m. E. zu Unrecht.4 Mit dem Affenmenschen entstand ein neues Evolutionsfeld, das von den Anfangen der Geräteherstellung, von Anfängen kooperativer Arbeit, darin eingeschlossen die Anfänge von sprachlicher Kommunikation und Denken, bestimmt war.

Unter "Arbeitsprozeß" wird hier, um Mißdeutungen zu vermeiden, die Tätigkeit des Menschen in der Auseinandersetzung mit der Naturumwelt zur Aneignung der notwendigen Existenzmittel und zur Sicherung der Existenzbedingungen verstanden. Im Unterschied zum Verhalten des Tieres ist menschliche Arbeit bewußte, vorbedachte Tätigkeit, deren Ziel vom Denken entsprechend rational reflektierten Bedürfhissen gesetzt wird. Geistige und manuelle Tätigkeit bilden dabei eine Einheit Zur Auflösung dieser Einheit in individueller Arbeitsteilung kam es erst in wesentlich fortgeschrittenen Geschichtsepochen. Für die Gesellschaft (Stamm, Volk) ist diese Einheit, auch bei ihrer Trennung in der individuellen Arbeitsteilung, bis heute Grundbedingung der gesellschaftlichen Existenz. Arbeit in diesem Sinne ist zugleich Vergesellschaftung, da sie Kooperation, soziale Vererbung von Verhaltensweisen und Sprachkommunikation einschließt, Diese Bestimmung von "Arbeit" schließt nicht aus, daß menschliche Tätigkeiten und Verhaltensweisen auch auf andere Weise veranlaßt oder ausgelöst werden können, z. B. durch emotionale Reaktion, unkontrollierte Reflexe usw. Der Begriff "Tätigkeit" ist also in meinem Verständnis umfassender als der Begriff "Arbeit". Voraussetzungen und Bedingungen der Arbeit im genannten Sinne selbst sind der Evolution unterworfen bzw. kommen im unmittelbaren, direkten Zusammenwirken mit der biologischen Evolution zur Geltung. G. Tembrock: Biosoziale Elemente der Anthropogenese. In: Menschwerdung - biotischer und gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß (Hominisation process - biotic and social development of mankind). Hrsg. von J. Herrmann und H. Ullrich. Berlin 1985,171 -179. Zu den Funden in Ostafrika, deren Datierung und Bewertung als Ausdruck für die Herausbildung menschlicher Wesensmerkmale vgl. J. Herrmann: Die Menschwerdung. 4. Aufl. Berlin 1988, 48-114. So z. B. weitgehend in der sowjetischen Anthropogenese-Forschung - vgl. z. B. Istorija pervobytnogo obäcestva. Moskau 1983, 274 ff.

Herausbildung der Sprachfähigkeit

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2. Ein wesentlicher Umschlag erfolgte in der von Anthropologen aufgrund morphologischer Merkmale der Menschenreste charakterisierten Epoche des Homo erectus, des Urmenschen. Die Anfangsjahrtausende sind undeutlich, Zäsuren umstritten. Genauer erkennbar wird die neue Menschenform des Homo erectus anthropologisch-morphologisch und archäologisch erst seit etwa 700.000 Jahren durch drei bemerkenswerte Evolutionsfortschritte: a) Die Nutzung des Feuers, wahrscheinlich seit 600.000/700.000 Jahren, zur Schaffung eines beeinflußbaren Mikroklimas, zur Abwehr von tierischen Gegnern und zur Nahrungsaufbereitung. Die animalische Furcht vor dem Feuer war überwunden - durch Erfahrungen, durch Erkenntnisse oder erste Einsichten in die Nutzbarkeit dieser Naturkraft. Der denkende und organisierende Mensch war Voraussetzung, um die Naturkraft "Feuer" in seinen Dienst zu nehmen. Eine auf die Feuernutzung bezogene Arbeitsteilung war wohl Begleiterscheinung; ohne Verständigung über die Verantwortlichkeiten im Umgang mit Feuer ist Feuernutzung weder im tagtäglichen Leben noch bei der Jagd usw. denkbar. Dieser erkennbare und auch von biologistisch orientierten Evolutionsbiologen akzeptierte Umschlag in eine neue Verhaltensqualität war vor etwa 500.000 Jahren vollzogen. b) Mit der Aneignung des Feuers war die Ausbreitung des Homo erectus über größere Teile Asiens und Europas außerhalb der tropischen und subtropischen Zonen möglich. Damit wurde der Homo erectus zur ersten Menschenform, die über die natürliche, angeborene Umwelt hinaus sich die Möglichkeit zur eigenen Milieugestaltung in anderen Klimazonen der Erde schuf. c) In den späteren Perioden der Entwicklung des Homo erectus vollzog sich der Übergang von der Geräteherstellung und Nutzung für Zwecke des Nahrungserwerbs zur Herstellung von Werkzeugen. Man stellte Geräte her, mit denen man andere Geräte produzieren konnte, die der Sicherung der Produktion und der normalen Lebensweise dienten. Dieser in den Funden nachweisbare Übergang von der direkten Geräteherstellung ohne vorgearbeitete Hilfsmittel zum Zweck des Nahrungserwerbs, zur Herstellung von Werkzeugen, mit denen eben solche Geräte erzeugt werden sollten, zeugt von der Fähigkeit zu kausalistischem Denken. Der Arbeitsvorgang und die gesellschaftliche Einordnung dieses Vorganges wurden komplizierter. Seit dieser Zeit hat vorausschauendes, in die Zukunft gerichtetes Denken, hat wohl abstrakte Begrifflichkeit eine Rolle zu spielen begonnen. Es ist nicht vorstellbar, daß sich Realisierung und Tradierung dieser Errungenschaften ohne Sprache eingestellt und ohne Sprache vollzogen hätten (Abb. 2). d) Mit diesen archäologisch erschlossenen und verhältnismäßig gut datierbaren Zeugnissen menschlicher Evolution korrespondieren das aus anthropologischen Analysen erschließbare Anwachsen des Volumens des Gehirns bis in Spannweiten des Gehirnvolumens des Jetztmenschen (Abb. 1). Qualitative Veränderungen in der Gehirnstruktur sind archäologisch-anthropologisch-historisch nicht mit Sicherheit direkt nachweisbar. Jedoch erlauben die uns bekannten archäologischen Funde, eingeschlossen die Reste menschlicher Schädel, gewisse Rückschlüsse auf qualitative Veränderungen. Feuernutzung und Werkzeugherstellung waren solche qualitativen Marken in den Lebensumständen, die nicht ohne qualitative Entwicklungen im Gehirn und in der Ausprägung der Sprachfähigkeit erklärbar sind (Abb. 2). Eine vorwiegend auf die Gehirnphysiologie zurückgehende Erörterung von qualitativen Veränderungen betrifft vor allem zwei miteinander verbundene Evolutionsmerkmale und Evolutionsschritte:

72

Joachim Herrmann

Mit der Zunahme des Gehimvolumens ging ein unverhältnismäßig rasches Anwachsen von Zentren oder Arealen einher, die mit Motorik und Sprachfahigkeit in Verbindung zu setzen sind. Diese Vergrößerung von Volumen und Arealen war begleitet von einer Verästelung des Gefäßsystems, das das Gehirn mit Blut versorgt. Nach den Analysen aus bisher vorhandenen Schädelkalotten gab es grundsätzlich auch auf diesem Gebiet Evolutionskontinuität.5 Eine merkliche Verästelung der Blutversorgung des Gehirns, die Ausdehnung der Sprachzentren und motorischen Zentren des Gehirns, wird in der jüngeren Periode des Urmenschen, also vor etwa 350.000 Jahren, erkennbar. Im Zeitalter des Altmenschen oder Neandertalers setzte sich diese Tendenz fort und steigerte sich mit dem Übergang zum Jetztmenschen (Abb. 3). Folgen wir den vorläufigen, bisher auf einzigartiger Quellenerhaltung und Quellenerschließung beruhenden Befunden von Bilzingsleben, so war der Homo erectus, der von manchen Anthropologen sogar schon als Homo sapiens angesehen wird, vor 350.000 - 300.000 Jahren bereits in der Lage, nicht nur das Feuer zu nutzen und zu unterhalten, sondern auch Mikrogeräte sowie kombinierte Geräte und Werkzeuge durch eine relativ entwickelte Verbindung zwischen motorischen Zentren und manueller Manipulation zu beherrschen. Über das Denken vermittelt, vermochte er selbst abstrakte künstlerische Darstellungen zu erzeugen.6 Nach den bisherigen Ergebnissen archäologischer und anthropologischer Analysen scheint daher kein Zweifel möglich, daß seit den mittleren und späten Epochen des Homo erectus, d.h. seit der Zeit vor etwa 700.000 Jahren, von der Fähigkeit zur und von der Tatsächlichkeit der artikulierenden Sprache auszugehen ist. Damit wurde der Übergang zur Gesellschaftlichkeit eingeleitet, die im Verlauf einer langen Epoche der sozialökonomischen Formierung vor spätestens 40.000 Jahren zur Urgesellschaft, d.h. zur ersten ökonomischen Gesellschaftsformation, führte. Die Ausprägung zur Sprachfahigkeit war also ein millionenjähriger Prozeß; die ersten Anfänge sprachlicher Kommunikation lassen sich für die Epoche des Affenmenschen annehmen. Die evolutionsgeschichtliche Ausprägung zur Sprachfähigkeit in unserem Sinne erfolgte am Ende der Epoche des Urmenschen, und die Entwicklung der Sprache als Bedingung für fortschreitende Gesellschaftsformierung war Bestandteil der Epoche des Altmenschen oder Neandertalers. Vor etwa 40.000 Jahren waren diese biologisch-evolutionsgeschichtlich-gesellschaftlichen Vorgänge abgeschlossen. Seit 40 - 50 Tausend Jahren ist mit einer konkreten, sich differenzierenden Sprachentwicklung zu rechnen. Für Rekonstruktionsversuche menschlicher Ursprachen, die sich seit der Epoche der sozialökonomischen Formierung herausgebildet haben, gibt es seitens der archäologischen und anthropologischen Forschung keine Quellen.

Vgl. dazu die Analyse von R. Saban: Les empreintes vasculaires, endocräniennes ... cbez les bommes de l'Acheuleen, en Europe et en Afrique. In: Anthropologie 18,1980, H.2/3,141 ff. Vgl. zuletzt Homo erectus - seine Kultur und Umwelt. In: Ethnographisch-archäologische Zeitschrift 30, 1989 H. 2, weitere Literatur. G. Behm-Blancke: Zur geistigen Welt des homo erectus von Bilzingsleben. In: Jahrsschr. f. mitteldeutsche Vorgesch. 70,1987,41 - 82.

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75

Herausbildung der Sprachfähigkeit

Abb 3

Schimpanse

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Abb. 3b

Australopithecus

76

Abb.3c

Abb.3d

Joachim Herrmann

Urmensch ( Homo erectus) von Choukoutien

Neandertaler (Homo sapiens neanderthalensis) von La Chapelle-aux-Saints

Herausbildung der Sprachfähigkeit

Abb.3e

Abb. 3

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Detztmensch (Homo sapiens sapiens )

Die Ausprägung der motorischen Fähigkeiten der Hand korreliert mit der Ausbildung der entsprechenden Hirnareale, insbesondere der Areale 4,39 und 40. Die Areale 44 und 45 sind hingegen mit der Sprachfähigkeit verbunden. Da sich die fortschreitende Ausbildung dieser Areale z. T. aus dem Abdrücken an der inneren Gehirnkalotte erkennen läßt, ist eine Zuordnung der fortschreitenden Tendenz zu anthropologischen Formen und damit zu Zeitepochen möglich (Entwurf des Verfassers nach versch. Quellen; Arealzuordnung nach K. Brodmann, Vergleichende Lokationslehre der Großhirnrinde, Leipzig 1909, S. 131).

Hans-Günter Eschke ·*

Einige philosophische Überlegungenzur Einheit von Arbeit, Denken und Sprache In seinem Vortrag zur Herausbildung der Sprachfähigkeit aus anthropologisch-historischer Sicht geht Joachim Herrmann (in diesem Band) von einer "Dreifaltigkeit" der Arbeit, des Denkens und der Sprache aus, die den "Übergang von der naturgeschichtlichen zur gesellschaftsgeschichtlichen Evolution, von der vorwiegend genetisch und verhaltensbiologisch bedingten Populationsentwicklung zur gesellschaftlich beeinflußten und bedingten Populationsentwicklung" charakterisieren.1 Meine Bemerkungen knüpfen an diese Darstellung an und zielen darauf, einen Aspekt jener "Dreifaltigkeit" philosophisch etwas näher zu betrachten. Veranlaßt werde ich dazu vor allem, weil es - meist in Philosophenkreisen - in bezug auf das Verständnis der Arbeit keineswegs einhellige Auffassungen gibt. Am weitesten verbreitet ist die Ansicht, die Betrachtung der Menschwerdung, also der Entstehung der unverwechselbaren Qualität des Menschseins unter Zugrundelegung der Arbeit führe.dazu, den Menschen als "Werkzeugtier" oder als "homo faber" oder als "homo oeconomicus" verstehen zu wollen. Eine solche technizistische oder ökonomistische Deutung der Arbeit, die wir auch in vulgarisierenden Darstellungen von Marxisten finden, stößt mit Recht auf Ablehnung in der Wissenschaft. Als ökonomische Kategorie oder als Begriff aus der Technik kann der Begriff der Arbeit nichts Aufklärendes zum Verhältnis von Arbeit, Sprache und Denken beitragen, wohl aber, wenn er philosophisch allgemein im anthropologischen Sinne gebraucht wird. Genau in diesem umfassend anthropologischen Sinne verstand Marx Arbeit als eine bestimmte Weise der Menschen, ihr Leben zu äußern, als eine spezifisch menschliche Lebensoder Wese/irtätigkeit.2 Diese Betrachtungsweise, die er in seinen Frühschriften ausgearbeitet hat, ist ihm auch methodischer Leitfaden in seinem Hauptwerk. Gerade weil seine Intention in diesem Werk die theoretische Erklärung und Kritik der ökonomischen Struktur einer historischen Formation ist, er also auch die historisch besondere, ökonomisch bestimmte Form menschlicher Arbeit untersuchen will, stellt er dieser Analyse eine allgemeine anthropologische Auffassung von Arbeit voran. Damit hebt er hervor, daß ihm Arbeit für das Verständnis des Menschen mehr ist denn eine ökonomische oder technische Kategorie. Für seine Analyse einer bestimmten ökonomischen Gesellschaftsformation gilt: "Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört."3 Eben diese Form ist Gegenstand seines Buches. Um aber vom Wesen der Arbeit für den Menschen schlechthin zu sprechen, muß man diese historisch bestimmte ökonomische Analyse vor einem anthropologisch* J. Hernnaon: Das anthropologisch-historische Umfeld für die Herausbildung der Sprachfähigkeit (in diesem Band). 2

Vgl. K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3, 21; s. auch K. Maix, ökonomischphilosophische Manuskripte (1844). In: MEW/EB1,510-522.

3

K. Marx: Das Kapital, Bd. I. In: MEW, Bd. 23,193.

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Hans-Günter Eschke

historisch viel weiterem Horizont erfassen. Deshalb der Hinweis: "Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eigenen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte."4 Jener weitere anthropologisch-historische Horizont schließt, indem in ihm Arbeit als menschliche Wesenstätigkeit begriffen wird, jenes Übergangsfeld ein, welches das Feld von naturhaften Keimformen der Arbeit zu Formen ist, in denen die Arbeit "dem Menschen ausschließlich angehört". (Dieser letzte Ausdruck dürfte den Sachverhalt treffender ausdrücken als der Verweis auf das "tierartige Instinktive", das im Sinne eines Ignorierens tierischer Intelligenz deutbar ist.) Mit dieser Ausgangsüberlegung drängt sich die Frage auf: Was haben die dem Menschen noch nicht ausschließlich angehörenden Keimformen der Arbeit mit den Formen gemeinsam, die dem Menschen ausschließlich angehören? Methodisch ist an dieser Betrachtungsweise interessant, daß Arbeit nicht als etwas plötzlich der Natur von außen Aufgepfropftes dargestellt, sondern als tätiges Verhältnis eines Lebewesens zur Natur verstanden wird. Arbeit ist der Stoffwechsel eines Naturwesens mit der Natur, der die Aneignung von Natürlichem für das eigene Leben dieses Wesens zum Inhalt hat. In der Form handelt es sich darum, daß diese Tätigkeit den Stoffwechsel vermittelt. Das Lebewesen tritt selbst als eine Naturkraft auf, setzt seine spezifischen Naturorgane in Bewegung, wirkt durch diese Bewegung auf spezifische Weise auf Naturgegenstände außer ihm und eignet sie sich an.5 Arbeit ist also Tätigkeit, in deren Verlaufe sich dieses Lebewesen Naturstoffe und -kräfte aneignet, sie in etwas Eigenes, ihm Gehöriges, ihm Verfügbares umsetzt. In diesem Sinne ist die aneignende Tätigkeit eine Form der Vermittlung, Überleitung von Natürlichem in eine andere Daseins- und Wirkungsweise, die sich von der früheren unterscheidet, durch ein Lebewesen. Die Besonderheit der menschlichen Arbeit besteht nun darin, daß der werdende Mensch sich Natur nicht nur in der Form unmittelbarer Konsumtionsmittel, sondern in der Form von Arbeitsmitteln aneignet. Das heißt, er bringt solche Naturgegenstände in seine Verfügung, deren mechanischer, physikalischer, chemischer, biotischer usw. Eigenschaften und Kräfte er sich als seiner eigenen bedient, um sie in der Kombination mit seinen organischen Eigenschaften auf die äußere Natur wirken lassen.6 Das gibt es gelegentlich auch bei anderen Tierarten. Den Anstoß zur Menschwerden dürfte gegeben haben, daß die Vorfahren der Menschen infolge einer Veränderung ihrer natürlichen Lebensbedingungen gezwungen waren, eine bereits gelegentlich in besonderen Situationen angewandte Aneignungsweise von Natürlichem in einen ständigen, notwendigen, systematisch zu vollziehenden Lebensgewinnungsprozeß umzuwandeln und sie dadurch zu einem Grundelement ihrer Lebensweise werden zu lassen. Von hier aus wird der Zusammenhang von Arbeit, Denken und Sprache eher sichtbar, wenn wir noch einen Blick auf die Eigenart dessen werfen, was wir als Vermittlung 4

Ebenda, S. 192/193.

5

Vgl. ebenda, S. 192.

6

Vgl. ebenda, S. 194.

Arbeit, Denken und Sprache

81

bezeichnen. Das Wesen der Vermittlung besteht darin, den Übergang oder die Überleitung von Eigenschaften und Kräften eines Gegenstandes in eine von diesem Gegenstand verschiedene, der ursprünglichen Daseinsweise widersprechende Form zu ermöglichen. Es ist eine Tätigkeit zum Austausch von Eigenschaften und Kräften. Die menschliche Arbeit als Stoffwechsel des Menschen mit Naturstoffen ist eine solche vermittelnde Tätigkeit. Für ihren Zusammenhang mit Denken und Sprache ist nun folgendes Moment von besonderem Interesse: Die Vermittlung als Überleitung unterschiedlicher Daseinsformen ineinander offenbart, daß in den unterschiedlichen Formen Gemeinsames enthalten ist, welches diesen Übergang überhaupt ermöglicht. Dieses Gemeinsame existiert in jeder der verschiedenen Formen nicht "rein", sondern an diese Formen "gebunden", durch andere Qualitäten dieser Formen modifiziert. In der menschlichen Arbeit nun haben wir eine eigenartige Betätigungsweise vor uns, die diesen Austausch vollzieht. In ihr verschmelzen die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen den vermittelten Gegenständen sowie zwischen den vermittelten Gegenständen und dem vermittelnden Subjekt zu der eigenartigen Betätigung des menschlichen Stoffwechsels mit der Natur. Die Aneignung von Natur durch Lebewesen hat stets auch eine psychische Komponente. Aber für die psychische Widerspiegelung von Verhältnissen als den gemeinsamen Inhalten der Vermittlung und im Unterschied zu den sich verhaltenden Subjekten gibt es kein besonderes Sinnesorgan. Zur eigenartigen Form, Verhältnisse psychisch abzubilden und auszudrücken, wird das Denken: "Verhältnisse können natürlich nur in Ideen ausgedrückt werden ..."7 Das Organ dieser Fähigkeiten wird das spezifische, bereits hochentwickelte Gehirn der menschlichen Vorfahren. Und die Wirklichkeit des Gedanken für die Menschen wird die Sprache: "Alle Verhältnisse können in der Sprache nur als Begriffe ausgedrückt werden."8 Denn in den Begriffen wird der in den Vermittlungen sich offenbarende gemeinsame Inhalt des Verhältnisses, welches die sich Verhaltenden eingehen, aus der besonderen Daseinsweise im konkreten Verhalten ideell herausgelöst, herausgehoben und fixiert als "Allgemeines". Ist die Arbeit erst einmal zu dem für den Menschen charakteristischen Lebensgewinnungsprozeß geworden, ruft sie auch die Lebensnotwendigkeit denkender Aneignung von Verhältnissen als solchen hervor. In dieser Auffassung wird Arbeit nicht von vornherein schon als "zweckrationales Handeln" aufgefaßt, das auf "empirischem Wissen" beruht,9 wie es J. Habermas beschreibt. Für den Übergang zur Arbeit als Aktion der Lebensgewinnung dürfte historisch eher eine tierische Intelligenz charakteristisch sein, die gelegentlichen Werkzeuggebrauch als Hilfsmittel erlaubte. Für das Ausgehen von der Arbeit war für Marx maßgebend, daß sie 1. aus einem gelegentlichen, zufälligen Notbehelf zu einer notwendigen Grundlage und Form menschlicher Lebenstätigkeit wurde und 2. konstituierend wurde für ein System von Verhältnissen eigener Qualität, deren Subjekt der Mensch dank der Arbeit ist. Die Konstituierung eines Systems von

7

K. Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. In: MEW, Bd. 42, 97.

8

K. Marx/F. Engels: Die Deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3, 347.

9

Vgl. J. Habermas, Technik und Wissenschaft als "Ideologie". Frankfurt a. M. 1968,62.

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Hans-Günter Eschke

Verhältnissen in der Arbeit und vermittelt durch sie wirkt mindestens in vier Grundrichtungen oder auf vier Feldern von Verhältnissen: Erstens wirkt der Mensch auf den Gegenstand, der bearbeitet wird. Dieser wird für die weitere Produktion oder für die unmittelbare menschliche Konsumtion brauchbar gemacht, aneignungs fähig. Zweitens wirkt der Mensch durch die Arbeit auf seine eigenen Arbeitsanlagen. Denn Aneignung und Anwendung von Naturkräften als Arbeitsmittel ist zugleich "die Entwicklung der materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten". Und daraus folgt: "Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst."10 Drittens wirken die Individuen in der Arbeit auch auf unterschiedliche Weise aufeinander: Einmal bedarf die Arbeit des Zusammenwirkens der Individuen bei gleichzeitiger Teilung der Arbeitsarten, -mittel und -zeiten unter sich. Zum anderen geht nun in ihr kommunikatives Verhalten zueinander auch die Gesamtheit der Fähigkeiten ein, die die einzelnen durch die Eigenart ihrer Arbeitstätigkeit und durch ihren Platz im gesellschaftlichen Arbeitsprozeß erwerben, und die sie ebenso aufeinander beziehen wie voneinander unterscheiden. Und schließlich wird ihnen auch die Ausbildung der diesen neuen Beziehungen untereinander gemäßen Fähigkeiten zur Lebensnotwendigkeit, zum Bedürfnis. D.h., Arbeit wirkt gesellschaftskonstituierend. Viertens - und das tritt uns heute besonders nachdrücklich entgegen - wirkt der Mensch in der Arbeit auch zunehmend auf die ganze Natur zurück, erzielt er Neben-, Fern- und Spätwirkungen durch das, was er richtig und falsch machte sowie durch das, was er zu tun unterließ. Kurz: In der Arbeit konstituiert der Mensch ein eigenes Universum von Beziehungen, Verhältnissen; materiellen und nichtmateriellen, natürlichen und gesellschaftlichen, sozialen und individuellen. Sie ist in der Tat, was Meister Goethe den als Faust verkleideten Mephisto vom Webermeisterstück sagen läßt, nämlich eine Tätigkeit, "Wo ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber-, hinüberschießen, Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt." Dieses Bild läßt plastisch die Erkenntnis vor den Blick treten: Der Mensch realisiert mit seiner Arbeit nicht nur eine konkrete unmittelbare Verrichtung, sondern betätigt stets auch eine Fülle ungesehener Beziehungen. Und eben deshalb wird es ihm auch zur dringenden Notwendigkeit, praktisch wie geistig sowohl Beziehungen zu erfassen und auszudrücken, als auch Verhältnisse in Einklang zu bringen, also Verhältnisse in Beziehung zueinander zu setzen. Das Operieren mit Begriffen, die Allgemeinheit und Wesen unterschiedlicher Ordnung und damit zugleich auch spezifische Differenzen bezeichnen, ist die Art und Weise des Menschen, sich geistig in Beziehungen zu orientieren und ideell als Subjekt von Beziehungen zu wirken. Darin besteht die unauflösliche Verbindung der Sprache mit der Arbeit, auch wenn deren Gebrauch im menschlichen Leben nicht immer in den unmittelbaren Arbeitsprozeß verflochten ist. Die Tatsache, daß Denken und Sprache in Einheit bestehen, ist schon sehr 10

K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3, 67/68.

Arbeit, Denken und Sprache

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früh erkannt und dargestellt worden. So ist die Aussage von Marx und Engels, daß die Sprache die unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens sei,11 eine Verallgemeinerung bereits von früheren Denkern geschöpfter Erkenntnisse. Als "unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens" weist die Sprache durchaus ihre Verbindung mit der Arbeit auf, vor allem durch ihre kommunikative Beziehung auf die Felder von Verhältnissen, die der Mensch in der Arbeit vermittelt. Auch sie wirkt in jene Grundrichtungen, in die die Arbeit wirkt. Darauf hat der Sache nach auch schon Leibniz in seinen "Unvorgreifliche(n) Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache" aufmerksam gemacht. Dort sagt er in seiner 5. These: "Es ist aber bei dem Gebrauch der Sprache auch dieses sonderlich zu betrachten, daß die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen seyn, und daß wir Zeichen nöthig haben, nicht nur unsere Meynung Anderen anzudeuten, sondern auch unsern Gedanken selbst zu helfen."12 Das heißt in unserem Zusammenhang: Erstens drücken sich in der Sprache Gedanken aus, die zugleich Bezeichnung von Gegenständen sind. Leibniz vergleicht die Worte mit Ziffern oder Rechenpfennigen, die statt der Dinge und ihrer Bildnisse selbst verwendet werden. In diesem Sinne ist Bewußtsein als ideelles Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit, zu den Gegenständen unmittelbar in der Sprache präsent. Zweitens ist diese Präsenz in der gesellschaftlichen Funktion der Sprache wirklich:"... die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein..."13 Entstanden aus der Notwendigkeit des Verkehrs von Individuen, die ihr Leben als Subjekte im Arbeitsprozeß gewinnen müssen, ist Sprache gewissermaßen ein Zirkulationsmittel geistiger Aneignung der Wirklichkeit durch Individuen, die gesellschaftlich produzieren. Mit seiner Hilfe sichern die Menschen als gesellschaftliche Wesen das geistige Werden der Individuen zu Subjekten ihrer Verhältnisse. Das Senden und Empfangen von Erfahrungs-informationen ist nicht nur Bestandteil des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, sondern auch selbst ein Feld der Arbeit. Drittens ist die Sprache auch das Mittel, dem einzelnen Individuum selbst in seiner geistigen Tätigkeit aufzuhelfen. Die Sprache ist als unmittelbare Wirklichkeit des Gedankens nicht allein praktische Äußerungsform des Denkens, sondern auch Mittel und Weg der Formierung des individuellen Denkens. Die Macht des Wortes gibt es sowohl im Verkehr der Individuen untereinander als auch für jedes Individuum selbst bei der Formung seiner eigenen geistigen Welt, seines geistigen Wesens. Der Mensch kann sein Denken letztlich nur im Sprechen klären, klar machen. Und die Eigenart der sprachlichen Formung seines geistigen Wesens besteht darin, daß er sich eines gesellschaftlichen Mediums bedienen muß, um in der Verbindung akkumulierter und verallgemeinerter Menschheitserfahrung mit eigener Erfahrung seine geistige Welt als Individuum formen, in begrifflicher Klarheit gestalten zu 11

Vgl. ebenda, 432.

12

G. W. Leibniz: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache. In: G. W. Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, herausgegeben von A. Buchenau und E. Cassirer, Zweiter Band. Leipzig 1924,520.

13

K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3,30.

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können. Der rechte Gebrauch der Sprache hilft ihm, sich der Menschheit anzubilden. Aber der rechte Gebrauch der Sprache verschafft ihm auch Möglichkeiten, über sich als Individuum hinaus - und mit seiner Individualität geistig in die Gesellschaft hineinzuwirken, die Originalität seines individuellen Denkens als sein, seiner Individualität gemäßes gesellschaftliches Wirken zu formieren. Diese positive Möglichkeit, im Gebrauch eines gesellschaftlichen Mittels seine geistige Individualität auszubilden und gleichzeitig im Gebrauch desselben Mittels seine Individualität in der Gesellschaft geltend zu machen, ist selbst Bestandteil und Form der Arbeit. Zusammenfassend möchte ich sagen: Das anthropologische Verständnis der Arbeit setzt bei Marx auch im Hinblick auf die Einheit mit Denken und Sprache beim Stoffwechsel eines natürlichen Lebewesens mit der Natur ein. In ihm wird Arbeit, beginnend mit der Anwendung und Verfertigung von Arbeitsmitteln, als vermittelnde Subjektaktivität dieses Lebewesens verstanden. Indem diese Art der Lebensäußerung bei einem hochorganisierten Wesen mit großer tierischer Intelligenz aus gelegentlicher, zufälliger Aktion sich unter dem Druck der Bedingungen zu einer Wesentätigkeit im Lebensgewinnungsprozeß wandelt, wird Arbeit zur Quelle eines ganzen Systems von Verhältnissen, deren Subjekt der Mensch ist. Die gesellschaftlichen Verhältnisse entstehen aus Naturverhältnissen, haben diese stets als die umfassenderen zur Bedingung. Auch wenn sie eine eigene Qualität aufweisen, tritt der Mensch durch sie nicht aus der Natur heraus, sondern optimiert mit ihnen sein Leben, seinen Zusammenhang mit der Natur. Das Werden des Menschen kann so als ein "Werden der Natur zum Menschen"14 verstanden werden. Und zu diesem gehört auch die Entwicklung von Denken und Sprache. Dem ist nur noch hinzuzufügen: Geht man in diesem Sinne von der Arbeit aus, dann ist die Menschwerdung ein Prozeß, der sicherlich einige Etappen aufweist, jedoch nicht prinzipiell abgeschlossen sein dürfte. Denn alle Verhältnisse, die der Mensch konstituiert, sind in einem neue, durch eigene Aktion erzeugte Lebensbedingungen und zugleich stets nur Verhältnisse bestimmter Qualität, die in ihrer Bestimmtheit stets auch Schranken, Unvollkommenheiten, Mängel aufweisen und daher der Vervollkommnung bedürftig und fähig sind. Auch neue Generationen von Arbeitsmitteln verändern die jeweilige Qualität der Vermittlungen, halten jedoch die ständige Notwendigkeit des weiteren Werdens der Natur zum Menschen nicht auf. Das Fragen nach dem Zusammenhang mit Denken und Sprache stellt sich damit stets erneut.

14

Vgl. K. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In: MEW/EB1,538,544.

Bruno Strecker Zur Evolution von Sprachfähigkeit und Sprache 0. Funktionale und biologisch-naturgeschichtliche Erklärung Natürliche Sprachen sind, wie immer man sich ihre naturgeschichtliche Fundierung vorzustellen hat, gesellschaftliche Erzeugnisse, des faits sociaux, wie de Saussure erkannt hat. Die Entstehungsgeschichte solcher Sprachen ist zumindest anfänglich eine Geschichte von Problemlösungen. Das heißt: Unsere Ahnen fanden sich nicht auf wundersame Weise als sprechend vor und haben Sprachen auch nicht aus Tollerei entwickelt, sondern sie haben sie zum Zweck eines kommunikativen Handelns entwickelt, das seinerseits der Einwirkung auf Stimmungen, Einstellungen, Verhaltensweisen und Handlungen von Artgenossen dient. Womit weder gesagt sein soll, daß die Entwicklung von Sprachen ganz auf das Auftreten von Problemen zurückgeführt werden kann, noch, daß die Individuen, die zur Entwicklung sprachlicher Problemlösungen beigetragen haben, in irgendeinem Sinn beabsichtigt haben, Sprache zu schaffen. Was sich über ihrem Handeln ergab, war, um eine Charakterisierung Kellers aufzugreifen, ein Phänomen der dritten Art, d.h. weder ein Naturprodukt, noch ein Kunstprodukt, sondern vielmehr ein Werk der unsichtbaren Hand. Siehe Keller (1985), Ferguson (1773), Smith (1776). Als Entwicklung von Problemlösungsstrategien kann die Entwicklung von Sprachen als sinnhaft verstanden werden, und es ist ein ebenso legitimes wie verständliches Erkenntnisinteresse, wenn man den funktionalen Sinn, der sich in den Formen des sprachlichen Ausdrucks manifestiert, herauszuarbeiten sucht. Unverständlicherweise wird dieses Interesse von vielen ich befürchte auch von vielen auf diesem Symposium - so gedeutet, als solle damit die Bedeutung einer biologisch fundierten spezifischen Sprachfähigkeit in Abrede gestellt werden. Vielleicht haben sich einige sogenannte Funktionalisten tatsächlich in diesem Sinn geäußert, aber das kann nichts daran ändern, daß ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen funktionaler und biologisch-naturgeschichtlicher Erklärung des Bestands an sprachlichen Formen nicht existiert. Soweit ein Gegensatz überhaupt zu sehen ist, besteht er in unterschiedlicher Gewichtung. Richtig gesehen ergänzen sich beide Arten von Erklärung: Eine funktionale Erklärung kann und muß sich zur Natur der biologischen Voraussetzungen von Sprachen nicht äußern. Sie setzt Sprachfähigkeit pauschal voraus und ist, wenn man so will, allein damit befaßt, was Menschen auf der Basis ihrer Sprachfähigkeit an Sprache geschaffen haben. Eine biologischnaturgeschichtliche Erklärung wiederum sucht zu erfassen, welche generellen Strukturprinzipien den Bau des sprachlichen Ausdrucks bestimmen. So wie Erklärungen dieser Art heute gehalten sind, können ihnen funktionale Erklärungen nicht ins Gehege kommen. Die biologisch-naturgeschichtliche Erklärung ist an der Form sprachlicher Ausdrücke nur insoweit interessiert, wie diese generellen Strukturprinzipien entspricht. Sie erfaßt die Ausdrucksformen also nur insoweit, wie diese als biologisch notwendig gelten können. Man kann auch sagen: Die biologisch-naturgeschichtliche Erklärung läßt Raum für funktionale Erklärungen. Pro

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bleme zwischen diesen beiden Forschungsrichtungen können deshalb nie prinzipieller Art sein, sondern allenfalls einzelnen Phänomenen gelten, deren Status umstritten ist. Der Umstand, daß die Natur bestimmter Ausdrucksphänomene strittig sein kann, zeigt, daß eine umfassende Aufklärung sprachlicher Ausdrucksstrukturen beide Erklärungsweisen braucht. Auf sich gestellt ist jede Erklärung in Gefahr, zu weit zu gehen und etwa biologisch fundierte Strukturen als Menschenwerk erscheinen zu lassen oder funktionale Lösungen von Kommunikationsproblemen für naturhaft zu halten. Wenn beide Erklärungsansätze im Sinn eines erkenntnistheoretischen Pluralismus in fruchtbarer Weise konkurrieren, können solche Fehleinschätzungen korrigiert werden. Zugleich können dabei die grundsätzlichen Einschätzungen verbessert werden. Fruchtbare Konkurrenz ist allerdings nur dann möglich, wenn beide Forschungsansätze sich gegenseitig tolerieren und darauf verzichten, den jeweils anderen als Verirrung oder gar als unwissenschaftlich zu diffamieren. Fruchtbare Konkurrenz kann mit der Einsicht beginnen, daß keine Seite sich auf unmittelbar empirisch gesicherte Erkenntnisse stützen kann: Weder die naturgeschichtliche Entwicklung der menschlichen Sprachfähigkeit, noch die kulturgeschichtliche Entwicklung menschlicher Sprachen liegt offen zutage. Alles, was wir tun können, ist, theoretisch zu rekonstruieren, wie diese Entwicklungen vonstatten gegangen sein können und über welche Stufen sie wohin geführt haben könnten. Eine solche Rekonstruktion muß natürlich mit den verfügbaren Daten kompatibel sein, aber, auch wenn berühmte Linguisten viel von empirischer Adäquatheit reden, gute Rekonstruktionen sind vor allem eine Frage von Phantasie und Logik. Gemeinsam ist funktionaler und biologisch-naturgeschichtlicher Erklärung freilich nur die Tatsache, daß sie zu Rekonstruktionen greifen müssen. Die funktionale Erklärung kennt das Ende oder vielmehr die Enden der Entwicklung, die sie zu rekonstruieren sucht, nicht aber den Weg, der dahin geführt hat. Die biologisch-naturgeschichtliche Erklärung kennt den Weg, auf dem sich Sprachfähigkeit entwickeln mußte, nicht aber das Ergebnis der Entwicklung. Die Probleme einer Rekonstruktion der frühen und frühsten Sprachgeschichte haben im 18. und noch im 19. Jahrhundert die größten Denker umgetrieben: Herder, Hamann, Rousseau, Condillac, Grimm und selbst Engels waren damit gefaßt. Heute sind solche Fragen für die herrschenden Lehren der Linguistik fast in Verruf geraten. In neuster Zeit ist allerdings im Zug einer Beschäftigung mit evolutionären Prozessen eine kleine Renaissance der Sprachursprungstheorie zu erkennen. (Siehe dazu vor allem die beiden Bände von Gessinger & v. Rahden (1989)). Ich selbst bin an anderer Stelle (Strecker 1987) ausführlich auf diese Probleme eingegangen und habe in einem groß angelegten Gedankenexperiment versucht, unter Voraussetzung einer von Anfang an voll verfügbaren Sprachfähigkeit mögliche Entwicklungen zu skizzieren. Leider ist es mir noch nicht gelungen, andere für dieses Experiment zu begeistern, um es über die Zufälligkeiten meiner Phantasie hinauszuführen. Vermutlich kann erst ein Paradigmenwechsel in der Linguistik den Sinn solcher Bemühungen wieder deutlich machen. Die Probleme einer Rekonstruktion der menschlichen Sprachfähigkeit haben ungleich mehr Interesse gefunden. Das zeigt nicht zuletzt dieses Symposium. Die Überlegungen dazu sind allerdings von Anfang an recht seltsam verlaufen. Zwar hat man - oder vielleicht sollte ich sagen: hat Chomsky - sinnvollerweise bei den Schwierigkeiten angesetzt, die es bereitet,

Evolution von Sprachfähigkeit

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den kindlichen Spracherwerb zu begreifen, dann aber sehr schnell davon gesprochen, daß diese Schwierigkeiten nur durch eine biologisch fundierte, spezifische Sprachfähigkeit zu bewältigen seien, die ein autonomes mentales System seien. Diese Annahme hat die Diskussion, wie ich meine, ohne Not in eine wenig fruchtbare Richtung gebracht und letztlich zu Thesen geführt, die unter evolutionstheoretischem Aspekt mehr als problematisch ist.

1. Die These von der Sprachfähigkeit als mentalem Organ Vermutlich wird niemand bestreiten, daß die Sprachbeherrschung erwachsener Menschen auf spezifischen Fähigkeiten beruht und nicht etwa auf einer unmittelbaren Anwendung so allgemeiner Fähigkeiten wie Analogiebildung, induktivem und deduktivem Schließen: Wären wir beim Sprechen allein auf diese vergleichsweise elementaren mentalen Fähigkeiten angewiesen, dann wären zumindest weitaus längere Verarbeitungszeiten für sprachliche Daten unausweichlich, weil wir in gewisser Weise immer neu bei Adam und Eva beginnen müßten. Unsere Verarbeitungsgeschwindigkeit wäre in etwa die eines mittelmäßigen Lateinschülers, der sich jeden Satz mühsam erarbeiten muß. Möglicherweise wären wir zur Beherrschung einer Sprache überhaupt nicht fähig. Bedeutet das, daß damit Chomskys These von der Sprachfähigkeit als einem "mentalen Organ" akzeptiert wäre? Ich glaube: nein. Statt soweit zu gehen, gleich ein spezielles Organ für die Sprachfähigkeit zu postulieren, sollte man zunächst einmal erheben, welche Fähigkeiten Spracherwerb und Sprachbeherrschung voraussetzt. Diese Fähigkeiten zu bestimmen ist das eigentliche Problem, und es ist von eher marginaler Bedeutung, ob sie ein eigenständiges Organ in Anspruch nehmen oder nicht. Tatsächlich führt die Annahme einer spezifischen autonomen Sprachfähigkeit, wie bereits festgestellt, unnötig in Schwierigkeiten: Während unter evolutionstheoretischem Aspekt nicht-sprachspezifische Fähigkeiten, die gleichwohl Spracherwerb und Sprachbeherrschung ermöglichen können, problemlos denkbar sind, ist eine biologisch fundierte autonome Sprachfähigkeit nur um den Preis eines doppelten Wunders zu haben. Wenn wir tatsächlich mit einer solchen Fähigkeit geboren werden sollte, dann muß sich diese Fähigkeit in einem langen evolutionären Prozeß ergeben haben, und ich glaube, anhand einiger sehr allgemeiner Überlegungen zur natürlichen Selektion zeigen zu können, daß sich dergleichen nie ergeben konnte. Als alternative Erklärung schlage ich vor, die menschliche Sprachfähigkeit - soweit sie nicht mit einer durchaus potenten und artspezifischen Denkfähigkeit gegeben ist - als etwas zu betrachten, das jedes menschliche Individuum - eine für Menschen normale allgemeine Intelligenz vorausgesetzt - im Zug seines Spracherwerbs entwickelt, um es künftig in der Art eines Software-Programms für eine schnellere und damit effizientere Verarbeitung sprachlicher Daten verfügbar zu haben. Natürlich kommt auch diese Erklärung nicht ohne Rekurs auf angeborene Fähigkeiten aus, doch, was dabei als angeboren vorauszusetzen ist, reicht weit über eine spezifische Sprachfähigkeit hinaus: Vorauszusetzen ist, über so hoch entwickelte Fähigkeiten wie etwa die Gestalterkennung hinaus, die Fähigkeit, eine Art Makros zu entwickeln und zu speichern, die erlauben, komplexe Aufgaben wesentlich zügiger und

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Bruno Strecker

bequemer zu lösen, als dies auf der Grundlage der hardwaremäßig gegebenen Fähigkeiten allein möglich wäre. Chomsky stützt seine These auf Beobachtungen des kindlichen Spracherwerbs sowie sprachspezifischer Aphasien. Was er als Evidenz für seine These ansieht, kann zugleich als Argument gegen meine Auffassung gelten: Wenn Spracherwerb nur auf der Basis spezifischer angeborener Fähigkeiten denkbar ist, dann kann es natürlich nicht sein, daß sich eine spezifische Sprachfähigkeit erst im Zug des Spracherwerbs entwickelt. Ich glaube aber, daß die Schlüsse, die Chomsky aus seinen Beobachtungen zieht, nicht zwingend sind, und werde versuchen zu zeigen, daß man die fraglichen Phänomene auch anders erklären kann. Wieso glaubt Chomsky, spezifische angeborene Fähigkeiten annehmen zu müssen? Seine Hauptargumente sind, wenn ich ihn richtig verstehe, die Kürze der Zeit, in der ein Kind eine natürliche Sprache erwirbt, obwohl es ständig mit fehlerhaften Inputdaten konfrontiert wird, und die Fehler, die es dabei nicht macht, obwohl sie zu erwarten wären, wenn das Kind nur allgemeine logische Analyseprozeduren und Analogiebildung zur Verfügung hätte. Chomskys Überlegung wirkt dann überzeugend, wenn, man den kindlichen Spracherwerb aus derselben syntaktischen Perspektive betrachtet wie er und wenn man seine Annahmen über die generellen mentalen Fähigkeiten teilt. Die empirischen Daten, die unter solchen Voraussetzungen zu erheben sind und die, laut Chomsky, entscheiden müssen, was und wieviel als angeboren gelten muß, sind aber weit theoriebedingter, als mancher das haben möchte: Die syntaktische Perspektive blendet von Anfang an alles aus, was ein Kind bei der Analyse der Ausdruckseinheiten unterstützen könnte, und die Annahmen über nicht sprachspezifische Fähigkeiten stellt diese ohne weitere Begründung selbst als sehr unspezifisch dar. Geht man davon aus, daß zu den nicht-sprachspezifischen Fähigkeiten von Menschen gehört, Gestalt wahrnehmen zu können, dann läßt sich, um ein bekanntes Beispiel aus den "Reflections on Language" aufzugreifen, ohne Schwierigkeit erklären, weshalb kein Kind auf die Idee kommt, strukturunabhängig Fragen zu bilden. Es erkennt ein Argument, das in Form einer durch einen Relativsatz modifizierten Nominalphrase gebildet wurde, als eine funktionale Einheit, als eine Gestalt. Das heißt: Die strukturelle Einheit kann über die semantischfunktionale Einheit erkannt werden. Die Funktion, die das Kind zunächst am einfacheren, da nicht modifizierten Fall kennengelernt hat, kann es der komplexeren Phrase zuerkennen, weil es über die generelle Fähigkeit verfügt, Gestalt wahrzunehmen und eine Position in einem größeren Ganzen auch dann noch als eine zu erkennen, wenn sie ausgebaut wurde. Die Fähigkeit, die ich hiermit annehme, läßt sich bei Kindern im Umgang mit Bildern und Gerätschaften nachweisen, und ich sehe keinen Grund, warum sie nicht auch beim Spracherwerb zum Tragen kommen können sollte, zumal das Erkennen von Funktionseinheiten in den relevanten Lernsituationen vielfältig unterstützt wird. Soweit scheint also die Annahme einer biologisch fundierten spezifischen Sprachfahigkeit nicht erforderlich. Ein weiteres Argument, das zugunsten einer solchen Annahme immer wieder vorgebracht wird, ist, daß Kinder korrekt sprechen lernen, obwohl ihre Inputdaten defekt sind, und daß sie, wie man annimmt, Dinge lernen, die durch diese Daten überhaupt nicht angezeigt werden. Hierzu ist wieder festzustellen, daß die Lernsituation, und mit ihr die tatsächlich verfügbaren Inputdaten unterschätzt werden. Wieso, um ein Beispiel Bierwischs

Evolution von Sprachfähigkeit

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aufzugreifen, glaubt man, davon ausgehen zu müssen, daß ein Lerner keine Information darüber erhält, daß ein Satz wie Das Brett ist ein Meter kurz inkorrekt ist? Selbstverständlich erhält er diese Information, nur eben nicht explizit. Wir lernen zahllose Verhaltensmuster, ohne daß sie jemals explizit angesprochen würden. Man braucht nur an sogenannte Tabus zu denken, zu deren Charakteristik gerade gehört, daß sie von jedermann als Tabus erkannt werden, obwohl peinlich vermieden wird, ausdrückliche Informationen darüber zu geben (siehe dazu Kühn (198 ). Zweifel an den empirischen Daten, auf die sich die Annahme eines autonomen Sprachmoduls glaubt stützen zu können, scheinen mithin nicht unberechtigt. Aber unsere Kritik bleibt nicht beim Zweifel stehen. Sie bringt eine evolutionstheoretische Grundannahme in Erinnerung: Als mentales Organ muß sich die menschliche Sprachfähigkeit, wie andere Organe auch, in einem langen Selektionsprozeß entwickelt haben, in dessen Verlauf sie sich in immer potenteren Formen als vorteilhaft für die Individuen erweisen mußte, die über sie verfügten. Organe, die sich nicht diesem Prozeß verdanken, gibt es nicht. Zwar stimmt es, wie Bierwisch ausgeführt hat, daß die Selektion nicht erbarmungslos alles aussondert, was sich nicht unmittelbar als vorteilhaft erweist, aber niemand wird die Entstehung eines so komplexen Organs, wie es ein autonomes Sprachmodul zu sein hätte, ernsthaft auf eine Stufe mit farbenprächtigen luxurierenden Schmetterlingen oder dergleichen stellen wollen: Der Zufall kann ausgefallene Formen hervorbringen. Komplexe Systeme kann nur die natürliche Selektion aufbauen. Man kann diese These zurückweisen. Chomsky, Bierwisch, Felix und Fanselow haben das wiederholt getan, da sie sehr wohl anerkennen, daß ihre Konstruktion unter dieser Voraussetzung nicht aufrechtzuerhalten ist. Aber ihr bloßes Insistieren auf der Existenz anderer evolutionssteuernder Prozesse als eben dem der natürlichen Selektion kann kaum als Argument gelten. Wenn wissenschaftlicher Diskurs nicht aufgegeben werden soll, muß namhaft gemacht werden, welche alternativen Prozesse da wirksam sein sollen. Selbstorganisation, wie sie etwa von Tembrock in einer Kritik dieser Ausführungen genannt wurde, stellt für sich keinen derartigen Prozeß dar: Zwar ist Selbstorganisation ein wesentliches Moment evolutionärer Prozesse, aber sie kann erst auf dem Weg natürlicher Selektion wirksam werden. Man kann natürlich auch ganz auf Erklärung verzichten oder einen kreationistischen Standpunkt einnehmen, was letztlich auf dasselbe hinausläuft. Mit der Annahme eines Schöpfers wird für denkende Menschen nichts erklärt, sondern nur der Wunsch nach Erklärung frustriert: Der Schöpfer wirkt als Joker, als wahrer deus ex machina. Man erspart sich, Rechenschaft von der Welt zu geben, indem man das zur Sorge eines anderen erklärt. Eine Evolutionstheorie allerdings, die ohne natürliche Selektion auszukommen sucht, wird eine leichte Beute für jeden Kreationisten, der nur auf die extreme Unwahrscheinlichkeit der Entwicklung hinweisen müßte: Ein wöchentlicher Lotteriegewinn durch dieselbe Person wäre im Vergleich dazu fast schon eine Selbstverständlichkeit (siehe hierzu Dawkins (1986) auch Monod (1971), und Eigen/Steger (1975)). Besteht man auf einer evolutionstheoretisch haltbaren Erklärung der menschlichen Sprachfähigkeit, so gibt es keine Alternative zu unserer These: Weder kann sich dieses mutmaßliche

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Bruno Strecker

Organ gleichsam im Schatten der allgemeinen Entwicklung ohne Kontrolle durch die natürliche Selektion soweit entwickelt haben, bis es für die Zwecke einer Sprachentwicklung zu gebrauchen war, noch kann es sprunghaft entstanden sein. Eine sprunghafte Entwicklung, die im Zug großer oder gar einer einzigen großen Mutation eine autonome Sprachfähigkeit zustande gebracht haben könnte, ist aus mehreren Gründen auszuschließen. (i) Der ganz große Sprung ist so unwahrscheinlich wie eine Entwicklung, die selektionsneutral ist. Kleinere Sprünge sind weniger unwahrscheinlich, aber immer noch so gut wie auszuschließen, weil erst eine Addition unwahrscheinlicher Ereignisse das Ergebnis hervorbringen könnte. (ii) Wenn durch ein Wunder, d.h. eine unerwartet große Mutation - ein Individuum zu einem mentalen Organ gekommen wäre, das es zum Erwerb einer hochentwickelten Sprache befähigen würde, dann wäre dieses Wunder völlig nutzlos, eine Sackgasse der Evolution, weil dieses arme Individuum keine Chance hätte, seine prinzipiell gegebene Überlegenheit in eine praktische Überlegenheit umzusetzen: Da seine Sprachfahigkeit, wie angenommen wird, unabhängig von seiner allgemeinen Intelligenz wäre, gibt es keinen Grund anzunehmen, daß dieses Individuum seinen Altgenossen beim Lösen der überlebenswichtigen Probleme überlegen wäre. Die Vorteile, die es aus seiner Sprachfähigkeit ziehen könnte, liegen brach, weil eine Sprache, die es erlernen könnte, nicht existiert und ebensowenig ein einziger anderer, mit dem das sprachbegabte Individuum ins Gespräch kommen könnte. Damit eine solche Sprachfahigkeit unter Menschen allgemein werden könnte, müßte es dem Wunderkind gelingen, die in seiner DNS gespeicherte Information so erfolgreich zu vererben, daß dadurch die Erbinformationen der konkurrierenden Erzeuger verdrängt würden. Natürlich ist das nicht grundsätzlich auszuschließen, aber, da ein Selektionsvorteil durch die neue Fähigkeit noch über viele Generationen hin nicht anzunehmen ist, muß schon ein zweites Wunder bemüht werden, um eine solche Entwicklung möglich zu machen. Eine evolutionäre Entwicklung der menschlichen Sprachfahigkeit als autonomen Organs könnte nur unter einer Voraussetzung als möglich betrachtet werden: Die Entwicklung der Sprachfahigkeit müßte mit der Entwicklung der Sprache verzahnt gewesen sein: Erste Ansätze zu dem, was heute unsere Sprachfähigkeit ausmachen soll, müßten bereits zur Ausbildung erster primitiver Sprachen und vor allem auch erster sozialer Lebensformen geführt haben, die diese primitiven Sprachen zu ihrem Vorteil nutzten. Nur dann ist nämlich für die Ausbildung der Sprachfahigkeit ein Selektionsvorteil denkbar, der für die unbedingt erforderliche Ausbreitung der entsprechenden Erbinformation sorgen könnte. Geht man von einer Verzahnung der Entwicklungen von Sprachfähigkeit und Sprache aus, dann kann dabei kaum die Entwicklung einer autonomen Syntax im Vordergrund gestanden haben: Die ersten sprachlichen Mittel dürften keine sehr ausgeprägte syntaktische Komponente gehabt haben. Selbst erste Kombinationen von zwei bis drei bedeutungstragenden Ausdruckseinheiten dürften noch weitgehend unter pragmatisch-funktionalem Aspekt organisiert gewesen sein, oder, wie Givon (1979) sagt, in einem "pragmatical mode" gehalten gewesen sein.

Evolution von Sprachfähigkeit

91

Nun könnten erste Kombinationen noch rein additiv gewesen sein, aber kann noch von pragmatisch-funktionaler Organisation die Rede sein, wenn an die Stelle additiver Strukturen Operator-Operand-Beziehungen treten? Chomsky nimmt an, daß mit der Befähigung zur Repräsentation solcher Beziehungen der entscheidende Schritt zur Sprachfähigkeit getan ist. Ich will dem nicht widersprechen, aber ich sehe Grund, daran zu zweifeln, daß sich eine solche Befähigung, wenn sie sich durch eine Mutation ergeben haben sollte, jemals hätte ausbreiten können, wenn sie sprachspezifischer Natur gewesen wäre: Zwar wäre im Fall einer verzahnten Entwicklung von Sprache und Sprachfähigkeit bereits eine Praxis vorhanden, in der sich ein entsprechend befähigtes Individuum produzieren könnte, aber seine Überlegenheit würde ihm kaum einen Vorteil verschaffen. Zum einen hätte es mit Partnern zu tun, die keinerlei Sinn für sein Können hätten, zum anderen müßten ihm noch auf längere Zeit geeignete Begriffe fehlen. Sicher wären derart begabte Individuen dazu in der Lage, aus dem Bestand an monolithischen Ausdrücken nach und nach Operatoren und Operanden zu bilden und damit die Sprachentwicklung entscheidend weiterzubringen, aber die Zeit, die sie für diese kulturelle Leistung brauchen dürften, könnten sie nur überbrücken, wenn sie auch sonst überdurchschnittlich wären. Plausibler erscheint mir hier die Annahme, daß die einschlägige Befähigung sich längst als nicht sprachspezifische in der Überlebensgemeinschaft bewährt hat, wenn sie erstmals sprachbezogen zum Einsatz kommt: Dann nämlich bestünde die Chance, daß ihre Überlegenheit schnell erkannt würde und das neue Verfahren Schule macht. Mit dieser Annahme habe ich aber bereits die Voraussetzung einer verzahnten Entwicklung aufgegeben und bin übergegangen zu einer Hypothese, die eine voll entwickelte und auch biologisch fundierte Sprachfähigkeit zur Voraussetzung der gesellschaftlichen Konstruktion von Sprachen macht, ohne freilich davon ausgehen zu müssen, daß es sich bei dieser Sprachfähigkeit um ein eigenständiges mentales Organ handelt. Sprachfähigkeit in diesem Sinn ist die Anwendung einer umfassenderen Fähigkeit auf ein spezielles Problem: den Aufbau und den Nachvollzug sprachlicher Strukturen.

Literatur Bierwisch, M. (1989): Probleme der biologischen Erklärung natürlicher Sprachen (in diesem Band). Chomsky, N. (1975): Reflections on Language. New York. Chomsky, N. (1986): Knowledge of Language: Its Nature, Origin, and Use. New York/Westport (Conn.)/London. Dawkins, R. (1986): The Blind Watchmaker. London. Eigen, M., Steger, R. (1975): Das Spiel. München/Zürich. Ferguson, A. (1773): An Essay on the History of Civil Society. London. Gessinger, J./W. v. Rahden (Hg.) (1989): Theorien vom Ursprung der Sprache, 2 Bde. Berlin. Givon, T. (1979): On Understanding Grammar. New York. Keller, R. (1985): Towards a Theory of Linguistic Change. In: Ballmer, T.T. (ed.) (1985): Linguistic Dynamics. Berlin/New York, 211-237. Kühn, F. (1987): Tabus. In: Sprache und Literatur, 60,19-35. Monod, J. (1971): Zufall und Notwendigkeit München. Saussure, F. de (1969): Cours de linguistique g6n£rale. Paris. Smith, A. (1776): Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of the Nations. London. Strecker, B. (1987): Strategien des kommunikativen Handelns. Dasseldorf.

Gisela Harras Regeln und Fakten Zur Auseinandersetzung Chomskys mit Kripkes Deutung der Spätphilosophie Wittgensteins 1. Ausgangslage Im 4. Kapitel seines Buchs "Knowledge of Language" (Chomsky 1986) setzt sich Chomsky mit grundlegenden Problemen des sprachlichen Regelbegriffs auseinander. Dieser kommt im Zusammenhang mit seinem linguistischen Forschungsprogramm in folgender Weise ins Spiel: Unter Voraussetzung der Annahme, daß die Sprachfahigkeit sowie die Kenntnis einer einzelnen Sprache als spezifische mentale Zustände aufzufassen sind, stellt sich die Frage, in welcher Weise diese Kenntnisse, das sprachliche Wissen, verwendet werden. Eine übliche ("commonsense"-) Antwort auf die Frage nach der Verwendung sprachlichen Wissens lautet, daß der Gebrauch von Sprache (i.e. von sprachlichem Wissen) regelgeleitetes Verhalten darstelle in der Weise, daß wir (i.a. implizites) Wissen über Sprachregeln besitzen und dies benutzen, um freie Ausdrucke zu bilden. Die Chomskysche Präzisierung dieser landläufigen Antwort auf die Frage nach der Verwendung sprachlichen Wissens läuft auf das Postulat hinaus, daß das sprachliche Wissen, das eine Person von einer Sprache hat, eine Projektion auf ein entsprechendes Regelsystem zuläßt (vgl. Chomsky 1986, 222: "to project a rule system from the language that a person knows".) Dieses Postulat eröffnet zwei Arten von weitergehenden Deutungen: (1) (2)

eine Art der Deutung der Beziehung zwischen sprachlichem Wissen einerseits und Regeln bzw. Regelbefolgungen andererseits; eine Art der Deutung des Status von Aussagen Über Regeln bzw. Regelbefolgungen.

Im ersten Fall gibt es grundsätzlich zwei Alternativen: (la)

(Ib)

Zwischen sprachlichem Wissen (Aber eine bestimmte Sprache) und Regeln bzw. Regelbefolgungen gibt es eine kausale Beziehung; sprachliches Wissen ist die Ursache für (die Existenz von) Regeln: In bezug auf eine Person gesagt: ihre Regelbefolgungen sind durch ihren mentalen Zustand des sprachlichen Wissens verursacht Das sprachliche Wissen über eine bestimmte Sprache und Regeln zu deren Verwendung sind identisch; sie stellen zwei Seiten einer Medaille dar.

Für jeden der beiden alternativen Deutungsfälle ergibt sich derselbe Status von Aussagen über Regeln: Mit ihnen werden Tatsachen (facts) behauptet bzw. festgestellt, sie sind entweder wahr oder falsch. Die Tatsachen, die behauptet werden, sind (individuelle) mentale Zustände von Personen, die eine Sprache beherrschen. Gemäß Kripkes "On Rules and Private Language" (Kripke 1982), wo die skeptizistischen Sprach- (und Bedeutungs-)Auffassungen in Wittgensteins Spätphilosophie entwickelt und pointiert werden, sind - aus dieser sprachphilosophischen Sicht - alle oben genannten Implikate des Chomsky-Postulats unhaltbar, und der Begriff der Kompetenz, der laut Kripke wesentlich abhängt vom Verständnis dessen, was es heißt, einer Regel zu folgen, erscheint in

94

Gisela Harros

einem Licht "radically different from the way it implicitly is seen in much of the literature in linguistics." (Kripke 1982, 31) Zu einer solch radikal anderen Sichtweise (als die des skeptizistisch ausgelegten Wittgenstein) gehört ganz offensichtlich die Chomskys. Über die Polarisierung zweier (extremer) Sprachauffassungen hinaus ist aber die Auseinandersetzung Chomsky-Kripke m. E. in drei miteinander zusammenhängenden Punkten von fundamentalem Interesse: (1) (2) (3)

Durch sie werden die beiden grundsätzlichen Möglichkeiten, die man überhaupt hat, einen wissenschaftlichen Begriff von Sprache zu legitimieren, in extremer Weise deutlich. Das Problem, worüber, über welche Art von Fakten Linguisten reden, stellt sich in neuer Weise. Die Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten nach (1) und die (davon abhängige) Lösung des Problems (2) prägt entscheidend die Ausrichtung eines linguistischen Wissenschaftsparadigmas.

Bevor ich auf diese drei Punkte näher eingehe, soll zunächst die Kripkesche Sicht - im wesentlichen in den Punkten, die für Chomsky eine Rolle spielen - in groben Zügen referiert werden.

2.

Kripkes skeptizistische Sicht und ihre Konsequenzen für die Legitimierung eines wissenschaftlichen Sprachbegriffs.

Gemäß Wittgensteins skeptizistischer Sicht ist es - nach Kripke - unmöglich, von einer einzelnen Person - als solche gesehen - zu sagen, sie befolge eine Regel R, z. B. >plus

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Di f f e r e n z i e r u n g

Raun Abb. 4 Entwurf zur Darstellung eines Modulaiprinzipes, das bei der Konstituierung komplexer Lautmuster beteiligt sein kann.

Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß der Reifungsprozeß sich auf drei Ebenen vollzieht, die freilich miteinander zusammenhängen: (1) Neurales Substrat, die Reifung relevanter HirnStrukturen betreffend, (2) informationelle Ebene mit dem Aufbau einer grammatikalisch strukturierten und durch ein "Lexikon" konstituierten ausbaufähigen Sprache sowie (3) die Signalebene als Voraussetzung der kommunikativen Übermittlung von "Sprache". Die Mehrzahl aller Studien setzt bei dieser letztgenannten Ebene an, weil sie unmittelbar zugänglich ist. Für den Menschen wäre aus biologischer Sicht ein "offenes Programm" zu fordern, womit in Anlehnung an das oben erwähnte Konzept von Marier drei Phasen der kindlichen Lautsprache-Entwicklung zu postulieren wären: 1. Die "Subphase" mit wenig strukturierten Lautäußerungen ohne organisierte Syntax und einer von Erwachsenen abweichenden Phonologic. Es dominiert die akustische Eigenkontrolle, die "Autoecholalie"; Lernvorgänge vollziehen sich überwiegend sensorisch, also ohne motorische Umsetzung. 2. Die "plastische Phase" mit der aktiven Aneignung, auch auf Grund externer Kontrolle und Korrektur durch "Artgenossen" oder "Tutoren". 3. Die "Kannphase" mit einer "kristallisierten" Sprache, deren weiterer Ausbau (und jetzt folgt eine Hypothese) nach ähnlichen Prinzipien erfolgt wie beim Erwerb von Zweitsprachen: In der ersten Phase dominiert beim Menschen das biogenetische Lernpotential, in der zweiten das tradigenetische und in der dritten das ratiogenetische Lernpotential.

Verhaltensbiologische Aspekte

113

In Anlehnung an gegenwärtig in der Humanpsychologie zur Diskussion stehende Modelle des Verhaltens möchten wir für die Interpretation der angesprochenen Lernvorgänge ein daraus abgeleitetes Strukturbild zur Prozeßbeschreibung heranziehen (Abb. 5)

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Abb. 5 Darstellung von wesentlichen Komponenten, die menschliches Handeln (Aktion) aufbauen. Einzelheiten im Text

Die Umweltinteraktionen, hier als sensomotorische Prozesse umschrieben, lassen sich unschwer im Sinne unserer Abb. l weiter untersetzen. Wesentlich sind aber jetzt die internen Prozesse, die wir mit dem Begriff "Zustandsvektor" umschreiben, die hier nun differenzierter mit drei Funktionalbereichen eingebracht sind: kognitive Prozesse, bewußte Kontrolle und Repräsentationen. In der Ontogenese reift die bewußte Kontrolle des eigenen Verhaltens beim Menschen - und hier wohl in kurzer Wiederholung der Phylogenese - postnatal langsam in vier Etappen heran: (1) Interaktionen, motorische und sensorische Erfahrungen mit dem eigenen Körper konstituieren ein "Körperbewußtsein", das (2) durch Erfahrungen mit der allgemeinen Umwelt wiederum sensomotorisch qualitativ zu einem "Ichbewußtsein" erweitert wird. (3) Dieses erfährt mit der Übernahme sozialer Rollen und Funktionen eine nochmalige Erweiterung über die "Bewertungen" durch die nicht-anonyme soziale Umgebung, woraus ein Persönlichkeitsbewußtsein resultiert. (4) Schließlich kann sich über institutionalisierte Sozialstrukturen ein komplexes Gruppenbewußtsein konstituieren, das wir "gesellschaftliches Bewußtsein" nennen. Diese Bedingungen sollten bei allen Erwägungen zum Prozeß der ontogenetischen Sprachaneignung einbezogen werden. Für die gegenwärtigen Vorstellungen über die ersten Phasen der Lautentwicklung beim Kleinkind sei hier das Modell von Oller und Eilers (1988) kurz vorgestellt. Es geht von den Befunden der letzten Jahre aus, die auf eine erhebliche Bedeutung der auditiven Eigenkon-

114

Günter Tembrock

trolle bei der kindlichen Stimmentwicklung verweisen; die Bildung ausgeformter Silben wird nur bei hörenden Kindern in den ersten 10 Monaten vollzogen. Für die Lautentwicklung werden vier Phasen postuliert: 1. Phonations-Stadium: Von Geburt bis zum 2. Monat; die Kinder erzeugen "KomfortLaute" mit normaler Phonation. Diese Laute werden auch "quasiresonante Kerne" oder "Quasivokale" genannt. Sie scheinen Vorläufer der Vokalerzeugung zu sein. Silben, die Konsonanten und Vokale enthalten, sind in dieser Phase selten. 2. Gooing-Stadium: vom 2. bis 3. Monat nach der Geburt; Erzeugung phonetischer Sequenzen, die sowohl quasiresonante Laute des vorigen Stadiums als auch artikulierte Laute enthalten, die im hinteren Vokaltrakt erzeugt werden. Diese Artikulationen könnten Vorläufer der Konsonanten sein, sind aber keine ausgeformten Silbenerzeugnisse der späteren Sprache. 3. Expansions-Stadium: 4. bis 6. Monat; es wird eine Vielzahl neuer Lauttypen erzeugt, labiale Triller und Vibranten ("raspberries"), auch isolierte vokalartige Laute als volle Resonanzkerne treten auf als Vorläufer der Silbenproduktion, die als "marginales Babbeln" bezeichnet wird. Nur ausnahmsweise treten schon ausgereifte Silben auf. 4. Kanonisches Stadium (canonical stage): 7. bis 12. Monat; gekennzeichnet durch Sequenzen wie mamama, dadada, bababa usw. Es steht heute außer Frage, daß in den vorsprachlichen Phasen der Lautentwicklung ein intensives sensorisches Lernen stattfindet, das in Einzelheiten noch unbekannt ist, bei dem aber auch interne Vorgaben (templates) wirksam sind. Daraus resultiert eine komplizierte Interferenz zwischen den internen Prozessen, die sich mit dem Spracherwerb verbinden sowie den Vorgängen der Ontogenese der Phonationsfähigkeit, bei der bislang unzureichend berücksichtigt wurde, wie sie sich mit anderen (optisch wirksamen) Signalen verbindet. Wir haben auf die frühe Bereitschaft der Kleinstkinder verwiesen, die Kombination mimischer und akustischer Signale bei Bezugspersonen intensiv zu beobachten. Die Untersuchungen von Kühl (1989) haben zeigt, daß Kinder im Alter von 12 bis 18 Wochen eine Bereitschaft zum matching gegenüber vor ihnen geäußerten Lauten zeigen, wobei auch Tonhöhebewegungen übernommen werden. Andere Befunde weisen darauf hin, daß Erwachsene bei diesen frühen Altersstufen Laute von Kindern des eigenen Sprachraumes von Lauten anderer Sprachgemeinschaften unterscheiden können, was nach der Babbelphase bis zum Beginn des Sprechens nicht mehr möglich ist. Im übrigen deuten die jetzt vorliegenden Befunde an, daß die Säuglingsschreie mit der Ontogenese der Sprechfähigkeit nichts zu tun haben. Sie sind offenbar rein biogenetisch determinierte Signale, die auch biologisch orientierte Verhaltensweisen der Mutter oder andere an der Pflege beteiligter Personen aktivieren. Das schließt freilich nicht aus, daß auch hier individuelle Bedingungen der Lauterzeugung, die dann auch beim Sprechen wirksam werden, bedeutsam sind und damit eine indirekte Wirkung dieser Stimmentwicklung ausüben, die vielleicht zu der Singstimme ontogenetische Beziehungen aufweist.

Verhaltensbiologische Aspekte

115

BEWUSSTSEIH

SPRflCHE

Selbs~tref erenz

Sprechen VERHflLTEH

kognitive Repräsentation

Interiorisierung

MOTIUftTION konzeptionell diskrininatoriscn prozessual

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»J Ji «l

sensoMotorische

Kompositionsprinzip,

die Funktional-

uus-ki Funktor

(Aalt)

Das Agens von -Ja wird zur ausgezeichneten Rolle, das von uus- wird intemalisiert, eine Objektrolle. Damit läßt sich die Argumentstruktur auf die syntaktische Oberfläche (20) gemäß den im vorhergehenden Abschnitt genannten Prinzipien projizieren. Diese Notation läßt offen, was mit dem Propositionsargument des Kausativmorphems geschieht, das bei Di Sciullo/Williams nur durch die Punkte im thematischer Raster angedeutet wird. Dies Argument wird offensichtlich nicht projiziert. Die explizite Schreibweise der Kategorialgrammatik macht nun sofort klar, wo dieses Argument hingeht: Es wird mit der Resultatskategorie von "lachen" verschmolzen. Eine Rekonstruktion des Vorschlages könnte folgendermaßen aussehen:

Kompositionsprinzipien

(23)

uus

185

ki V OVAJ/P Funktor

Das Merkmal Funktor können wir so deuten, daß damit ausgedrückt wird, daß die Propositionsrolle an der Argumentstelle des übergeordneten Funktors und die Propositionsrolle P an der "Resultatsstelle" des eingebetteten Funktors durch Funktionalkomposition (=FC) "verbraucht" werden. Es handelt sich gerade um die "Verbindungsstelle" der beiden Funktionen. Durch FC wird die Funktion CAUS' hinter die Funktion lachen' geschaltet, so wie dies durch die folgende Formel ausgedrückt ist: (24)

XyXxCAUS'(xA, lachen'^)

Mit anderen Worten, man muß aus lachen' die offene Proposition lachen'(y^) machen und sie für die Objektrolle von CAUS' einsetzen. Die beiden Argumente werden gemäß dem neugebildeten thematischen Raster durch -Abstraktion geordnet. Allgemein ist die Funktionalkomposition (=FC) das folgende Prinzip: (25)

Sei f ein Funktor des Typs /Yj...Y,,, und g ein Funktor des Typs YJZ^.-Z,,. Dann ist fFunktorg ein Funktor vom Typ /Yj...Y^Z^..Z,,. Die Bedeutung des neuen Funktors ist

Zur Verdeutlichung: Wir symbolisieren Williams' Beispiel als "kiFllllkloluus" - haben also lediglich die Reihenfolge von übergeordnetem und untergeordnetem Funktor vertauscht und haben Williams Merkmal als Index genommen. Die Bedeutung kommt korrekt heraus. FC ist in die Kategorialgrammatik - in speziellerer Form - von Lambek (1958) eingeführt worden und in der Literatur zur verallgemeinerten Kategorialgrammatik inzwischen zu großen Ehren gekommen (vgl. z.B. Moortgat 1988). Man beachte an dieser Stelle, daß die allgemeine Formulierung dieses Prinzips keineswegs besonders durchsichtig ist. Wer die Einfachheit des lexikalischen Ansatzes propagiert, sollte nicht unterschlagen, daß es an dieser Stelle zu Komplikationen in der Semantik kommt. Es lohnt sich, an dieser Stelle ein wenig zu verweilen und die Formel (24) näher zu analysieren. Man sieht deutlich, daß hier nur mit Funktionalapplikation und -Abstraktion gearbeitet wird, wobei über jeweils genau ein Variablenvorkommen abstrahlen ist. Insofern ist die Funktionalkomposition ein aus der Applikation abgeleitetes Prinzip. FA erweist sich

Arnim von Stechow

186

also gegenüber FC als grundlegend. Von daher ist es nicht unplausibel, Thetamarkierung als FA anzusehen. Diesen Punkt möchte ich in allen Einzelheiten an der Interpretation des komplexen Verbs uuski- erläutern, das der besseren Lesbarkeit halber als machen + lachen dargestellt wird.

(26)

V

V machen (P/A)/P

V lachen P/A

y

A

X

A

Auch im Verbalkomplex "versucht" das Verb seine s-selegierten Argumente zu projizieren. Da in Wörtern aber keine Argumentpositionen vorhanden sind - diese müssen Phrasen sein können die Argumente an den projizierten Positionen nicht realisiert werden. Deswegen erscheinen dort Variable. Variable müssen aber in LF stets abgebunden werden, ein allgemein akzeptiertes Interpretationsprinzip (vgl. z.B. Kratzer 1988). Man sieht sofort, daß die Variable y nicht am eingebetteten P-Knoten abgebunden sein kann, denn sonst bekämen wir Ärger mit dem logischen Typ: machen s-selegiert ja P, nach Abstraktion über y erhalten wir aber ein P/A, was zu einer Typenunverträglichkeit führen würde. Beide Variablen müssen also ganz von außen abgebunden werden. Mögliche LFs sind also die folgenden beiden Strukturen: (27)

a. b.

XxXy (machen (lachen y)x) XyXx (machen (lachen y)x)

Eine adäquate Interpretation des komplexen Verbs wird verlangen, daß die -Abstraktion die Reihenfolge, in welcher die Argumente projiziert werden, kodiert: Das Objekt des komplexen Verbs ist aber offenbar das Subjekt von lachen. Also muß man die Interpretation (27a) durch ein Zusatzprinzip verbieten, welches besagt, daß die Abstrakteren eine inverse Reihenfolge zu den Subordinationsbeziehungen der Variablen haben, die sie binden: Tiefere Variable, höherer Abstrakter. In der Literatur wird weithin angenommen, daß die Pfade zwischen den Variablenbindern und den gebundenen Variablen den Pfadbedingung Pesetskys genügen (siehe auch May 1985). Das ist für die zulässige Form (27b) auch tatsächlich der Fall, nicht aber für die unzulässige Form (27a), denn dort liegt eine echte Überlappung der Pfade von Xy nach y bzw. von nach vor. Um dies einzusehen, benutzt man besser eine oberflächennähere Notation:

Kompositionsprinzipien

(28)

187

a.

Unerlaubte Pfadüberlappung: *XxXy ( (y lachen) machen)

b.

Pfadinklusion: ( (y lachen) machen)

U Allein die Tatsache, daß die möglichen Interpretationen des komplexen Verbs durch die Pfadbedingung beschränkt sind, weist meines Erachtens darauf hin, daß über das Verb hinausgehende syntaktische Faktoren involviert sind - sofern die Pfadbedingung kein reines Verarbeitungsprinzip ("first in/last out") ist. Es gibt ja keine semantischen Gründe, weshalb (28a) keine zulässige Interpretation von "lachen machen" sein sollte. Dies und die Tatsache, daß die Interpretation mit Variablen arbeitet, die keine syntaktischen Träger haben, macht die lexikalistische Behandlung nicht sehr attraktiv. Man könnte natürlich einwenden, daß sich all dieses auf der Ebene der Metasprache abspiele. Damit würde aber das Problem nur verschoben. Es wäre schon sehr merkwürdig, wenn die semantische Metasprache durch ein natürlichsprachliches syntaktisches Prinzip, eben die Pfadbedingung, beschränkt wäre. Die Metasprache sollte idealiter überhaupt nichts mit der natürlichen Sprache zu tun haben, sondern etwas wie die Sprache Gottes sein. Femer geht durch ein solches Abschieben der systematische Zusammenhang zwischen FC und FA + Abstraktion verloren, also die Einsicht, daß sich FC aus FA + Abstraktion herleiten läßt. Diskutieren wir nun, wie eine syntaktische Theorie der Kausativierung aussieht. Dazu postulieren wir die folgenden Selektionseigenschaften für die beteiligten Morpheme. (29)

a. b. c. d. e.

aus- und -ü sind Verben. -Id m-selegieit I und c-selegiert IP. -oss ist I. -oss, "Präteritum", ist ein I, das V m-selegiert und W c-selegiert. -ta, "Deklarativ", ist ein N und c-selegiert IP.

Der Eintrag (e) setzt voraus, daß alle koreanischen Sätze Nominalien sind. Dies ist dadurch gerechtfertigt, daß an -ta ein Kasus gehängt werden kann, wenn der Satz eingebettet ist. Wem diese Analyse zu ungewohnt ist, der kann -ta als C kategorisieren und erhält die Verhältnisse, die er aus dem Englischen gewohnt ist. Die S-Selektion der Verben ist natürlich genau wie bisher angenommen. Aus diesen Einträgen ergibt sich die folgende D- bzw. S-Struktur:

188

Arnün von Stechow

(30)

a. b.

[NP [n> Cholsuu-ka [r [yp [n- Suuni-lul [r [yp uus-] I]] [v -ki]] [, -oss]]] [N -ta]] [NP [o· Cholsuu-ka [r [yp fo Suuni-lul [r [yp t^ [i tz]]] [v t3]] [, t4]]] [N uus1-I2-ki3-oss4-ta]]

Das komplexe durch Inkorporation entstandene Finitum hat die folgende Struktur: (31)

N

V

I

uus

Wir können die plausible Annahme machen, daß leere Köpfe in der Morphologie nicht gesehen werden. Damit verschwindet der untere I-Knoten und wir erhalten als Endresultat die morphologische Struktur [N [j [v [v uus] ki] oss] ta]. Abgesehen von der ungewohnten Auffassung, daß es sich hierbei um ein Nomen handelt, steht dieses Resultat vollständig im Einklang mit den Erfordernissen für die Überprüfung der M-Selektion. Die semantische Interpretation dieser Strukturen ist nun allein mit Hilfe von FA möglich. Das ist unmittelbar klar für die D-Struktur (30a), denn hier ist ein Satz unter das Kausativ eingebettet. Diese Interpretation muß man auf die abgeleitete Struktur übertragen. In gewisser Weise wird also der Kopf vor einer Deutung der S-Struktur zurückbewegt. Bewegung kann man grundsätzlich in der Semantik durch -Abstraktion nachspielen, wie in Cresswell (1973) ausgiebig gezeigt worden ist. Man betrachte dazu noch einmal unsere S-Struktur in einer vereinfachten Version: (32)

a. b.

[s Cholsuu [yp [s Suuni [yp x]] [v lachenx macht]]] Xjc fCAUS (Cholsuu', x(Suuni'))] (lachen') = CAUS (Cholsu1, lachen'(Suni1))

Wir müssen lediglich dafür sorgen, daß die Struktur (32a) genau die Bedeutung (32b) erhält. Für den nicht iterierten Fall ist die Definition einfach: (33)

Deutung der einfachen Verbinkorporation Die Bedeutung einer Struktur der Form [yp S [v Vlx V2]] ist die Eigenschaft

Kompositionsprinzipien

189

x ist die Variable, die dem Bewegungsindex entspricht. Sie ist also vom Typ des bewegten Verbs. In unserem Fall ist S1 = [s Suuni [yp x]]1 = x(Suuni'). Da Vj' = lachen1 und V2' = CAUS ist [vp S [v Vlx V2]]' (Cholsuu1) gerade die Bedeutung (32b). Inkorporation kann im Prinzip aber iteriert werden. Man betrachte dazu das folgende stilisierte Beispiel: (34)

[s Otto [vp [s Fritz [VP [s Maria xj yv]] [v [Vjty lachen, machen] macht]]

Hier ist zyklisch inkorporiert worden. Die intendierte Lesart ist "Otto macht, daß Fritz macht, daß Maria lacht". Ich nehme an, daß die Bewegungsindizes sich jeweils nach oben vererben (vgl. dazu Baker 1988 und Sternefeld 1990a). Es wird undurchsichtig, die Interpretation durch die Lambdanotation zu formulieren. Ich formuliere deswegen eine syntaktische rekursive Interpretationsregel für diese Konstellationen. (35)

Verbinkorporation allgemein a. [vpSIvVfcVjr-VMVjfc]·) b. [vp S [v Vlto V2]]' = V2' (t 1 / ]'), wobei eine Folge von Variablen ist.

a/x ist hier ein syntaktischer Substitutionsoperator, der besagt, daß der gesamte Ausdruck für die Variable x eingesetzt wird. Aufgrund dieser induktiven Definition ist (36)

[vp [g Fritz [vp [s Maria Xy] yv]] [v [ lachen, machen] macht]' = CAUS ([[s Fritz [vp [s Maria x^ yv]] [Vjt lachen, machen]/y]') (nach b) = CAUS ([[s Fritz [VP [s Maria xj [Vx lachen, machen]]]') (Def. Subst.) = CAUS ([vp [s Maria xv] [Vx lachen, machen]]1 (Fritz!)) (Satzregel) = CAUS (CAUS ([s Maria lachen]') (Fritz1)) (nach a)

Dies ist die korrekte Bedeutung für die VP, nämlich "verursachen, daß Fritz verursacht, daß Maria lacht". Das Beispiel dient übrigens nur der Demonstration der rekursiven Definition (35). In den mir bekannten Sprachen ist doppelte Kausativierung nicht möglich, vermutlich aus Gründen der Kasustheorie, wie wir in Abschnitt 4 sehen werden. Man beachte, daß diese induktive Definition für die Inkorporation von Verben beliebiger Stelligkeit funktioniert, da sie ja lediglich die Bewegung des Verbs kodiert. Außerdem läßt sich die Definition für Inkorporationen jeglicher Art verallgemeinern, also auch z.B. für die Inkorporation von Nomina oder Präpositionen. Auf der anderen Seite kann nicht verhehlt werden, daß diese Analyse nicht in dem Sinne kompositional ist wie die Funktionalkomposition. Es wird mit einer sehr starken strukturellen Operation gearbeitet, nämlich der Substitution. Wie gesagt: Diese läßt sich durch -Abstraktion nachspielen, aber deswegen wird die Angelegenheit auch nicht kompositional. Sie läuft

190

Arnim von Stechow

auf das Faktum hinaus, daß man sich die Stelle merken muß, an die der Kopf zurückbewegt werden muß. Das gilt für rekursive Bewegungsregeln ganz allgemein. Wer an eine strikt lokale semantische Komposition glaubt, mag an dieser Stelle einen Einwand gegen das Vorgehen erheben. Wir weisen aber auf einen Vorteil dieser Analyse hin: Sie hat nicht mit dem Problem zu kämpfen, das bei der Funktionalkomposition bemerkt worden war, daß unerwünschte Interpretationen durch zusätzliche Stipulationen blockiert werden müssen. Interessant mag an dieser Stelle der Hinweis sein, daß in beiden Theorien in gewisser Weise etwas bewegt wird, allerdings etwas Verschiedenes. Man betrachte dazu die Interpretation eines kausativierten Verbs im lexikalistischen Ansatz mittels FC: (37)

KyteCAUS (x* lachen' (yj) (Suuni')(Cholsuu') = CAUS (Suuni', lachen' (Cholsuu1))

Würde man den Inkorporationsansatz in der Lambdanotation nachspielen, so müßte man die Bedeutung des Beispiels wie in (32b) notieren. Dort ist das Verb, sind aber nicht die Argumente bewegt worden. Man sieht an dieser Stelle deutlich, daß die beiden Ansätze konzeptuell nicht äquivalent sind. Von einer abstrakteren Warte aus gesehen geht es nicht um die Frage "Bewegung, ja oder nein?", sondern darum, was bewegt wird. FC bewegt die Argumente, der Inkorporationsansatz bewegt dagegen das Prädikat. Darin liegt der wesentliche Unterschied der beiden Theorien. Bevor wir diesen Abschnitt verlassen, wollen wir auf ein Problem für den Inkorporationsansatz hinweisen. Es geht um die Frage, woher der sogenannte Kausatus des komplexen Verbs "lachen machen" seinen Akkusativ erhält. Der Lexikalist hat hier kein Problem. Er kann sich auf die allgemeine Regel berufen, daß transitive Verben den Akkusativ regieren, und das genannte komplexe Verb ist ohne Zweifel transitiv. Der Lexikalist hat allerdings nach wie vor das Problem, wie die Nominativrektion zu erklären ist. Der syntaktische Ansatz muß von der Intuition ausgehen, daß der Akkusativ letztlich von der Komponente "machen" herrührt. Dies muß sich aus einer allgemeinen Theorie ergeben. Wir gehen darauf in Abschnitt 4 ein. 3.3. Kontrolle: Lexikalisch oder syntaktisch? Noch komplizierter wird es, wenn Kontrolle involviert ist. Man betrachte dazu sogenannte Voluntative wie das japanische tabetai oder das koreanische mokkess-, beide "essen wollen", die wir exemplarisch an einem koreanischen Satz diskutieren: (38)

Nae-ka Ich-NOM

pap-ul Reis-AKK

mok-kess-ta ess-woll-DEC

Wir stehen vor der Aufgabe, die thematischen Raster (39a) und (39b) zu dem Raster (39c) zu komponieren:

Kompositionsprinzipien

(39)

a. b. c.

191

mok-kess mok-kess

(P/A)/Th (P/A)/P (P/A)/Th

"essen" "wollen" "essen wollen"

Die Bedeutung des komplexen Verbs muß die folgende sein: (40)

. wollen' (x^ essen'(x^ yTIJ)

Wie diese Formel zeigt, werden die beiden Agensargumente durch Abstraktion identifiziert. In einer lexikalistischen Lösung im Stil von Di Sciullo/Williams kann man die einschlägigen Argumentvererbungsprozesse folgendermaßen symbolisieren:

(41)

kess l 1 V Funktor

mok 1

V

(P/AP/P

(P/Ap/Th

v (P/A)/Th Das Propositionsargument von "wollen" wird durch FC verbraucht. Die Kontrollbeziehung ist durch die Koindizierung symbolisiert. Die Semantik ist Identifizierung der beiden Argumente durch -Abstraktion. Man sieht der Notation sofort an, daß wir es nicht mit einem einheitlichen Kompositionsprinzip zu tun haben: Neben der Koindizierung, welche die Kontrollrelation symbolisiert, haben wir noch zusätzlich das Merkmal Funktor benötigt, das wir als "FC" abkürzen, unser Name für die Funktionalkomposition. Diesem Zusammenwirken von zwei unabhängigen Interpretationsprinzipien ist es zuzuschreiben, daß die lexikalische Behandlung der Voluntative recht undurchsichtig wird. Wir müssen nämlich zwei Dinge auf einmal machen, erstens funktional komponieren und zweitens zwei Argumente durch Abstraktion identifizieren. Um letzteres auszudrücken, benutzen wir die Notation k(i,j), welche bedeutet: Das i-te Argument des übergeordneten Funktors kontrolliert das j-te Argument des eingebetteten Funktors. Dies ist nichts anderes als eine kategorialgrammatische Umformulierung der Williamsschen Indizierungskonvention. Nun können wir definieren: (42)

Kontrolle Sei f ein Funktor des Typs X/Y^.^ und g ein Funktor des Typs Y^Z^.-Z.. Dann ist fFqk(i,j)g ein Funktor des Typs / ^, ,,.^...^..^,, wobei die Notation [ZJ bedeutet, daß der Typ Zj im Typ des abgeleiteten Funktors nicht mehr vorhanden ist. Die Bedeutung von fFc.k(i,i)(s) 'st

192

Amim von Stechow

Damit können wir die Bedeutung für unser komplexes Verb (41) berechnen, wobei wir aus Bequemlichkeitsgründen wieder die Reihenfolge der beiden Funktoren vertauschen: (43)

kessFCMlilfiokk' = wollenFCik(I>1) 'essen' = ^ . wollen' (x, (essen' (x,y))

Wir erhalten zwar das gewünschte Resultat, aber die Formulierung (42) bleibt dennoch prinzipiell unbefriedigend: Wir haben zwei semantische Prozesse in einen Topf werfen müssen, Funktionalkomposition und Abstraktion. Zumindest ästhetisch ist ein Ansatz befriedigender, der die Bindungsprinzipien von den Kompositionsprinzipien säuberlich trennt. Ich möchte noch auf eine andere Unschönheit dieses Ansatzes hinweisen. Diese Art von Semantik schließt nicht aus, daß ein anderes Argument als das untergeordnete semantische Subjekt kontrolliert werden kann. In Di Sciullo/Williams könnte z.B. auch das Objekt des untergeordneten Verbs kontrolliert werden, d.h. wir können herleiten: (44)

= wollenFC 12) 'essen1 = >> wollen' (x,(essen' (y,x))

Demnach würde der Satz Ich möchte den Fisch essen dasselbe bedeuten wie Ich möchte, daß der Fisch mich ißt. Ein Kontrollbezug dieser Art ist aber niemals möglich. Er kann nur durch lexikalische Stipulation ausgeschlossen werden, ohne daß prinzipielle Gründe für eine solche Beschränkung in Sicht wären. Eine syntaktische Theorie der Kontrolle des GB-Typus hat mit Schwierigkeiten dieser Art nicht zu kämpfen, denn dort gibt es eine leere Kategorie PRO, die nur an der Subjektstelle eines infiniten Satzes stehen kann. An Objektstelle kann PRO nie vorkommen, da PRO per definitionem unregiert sein muß. Von Stechow/Sternefeld (1988) bringen Argumente dafür, daß auch kohärente Kontrollverben auf einer Ebene der syntaktischen Repräsentation eine CP mit -Subjekt einbetten. Mit anderen Worten, das deutsche Pendant zu unserem koreanischen Beispiel (38) hat die Struktur (45)

Ich [cp PRO Reis essen] will

Für IP muß ein leerer Kopf angenommen werden, während CP einen Kopf haben muß, der zwar ebenfalls nicht sichtbar ist, der aber PRO von Rektion von außen schützt. Schon dieser Ansatz ist recht abstrakt, erhält aber immerhin noch eine gewisse Plausibilität durch die Tatsache, daß wollen in anderen Konstruktionen CP einbettet. Baker (1988: 206 f.) überträgt diesen Ansatz auf Sprachen wie das Japanische und Koreanische. Nach ihm sieht die D-Struktur ungefähr folgendermaßen aus

193

Komposüionsprinzipien

(46)

[s Nae-ka [Q, PRO Ich-NOM

[VP pap-ul mok]] Reis-AKK ess

kess-ta] woll-DEC

Der Lasnik-Filter verlangt nun, daß mok- "essen" in das Kausativsuffix -kess inkorporiert wird, denn dieses Suffix m-selegiert einen V-Stamm. Dabei darf PRO nicht in den Rektionsbereich des Koverbs "wollen" geraten. Zu diesem Behuf wird die VP des eingebetteten Satzes nach SpecC bewegt. Da SpecC im Rektionsbereich des übergeordneten V ist, kann von hier das Verb nach kess- weiterbewegt werden, ohne daß es zu einer ECP-Verletzung kommt: Die V-Spur ist antezedensregiert. Dies führt zu der folgenden S-Struktur:

(47)

kess woll-

Ich erinnere daran, daß im Koreanischen C = N, daß also CP = NP ist. Die Notation CP ist um des besseren Verständnisses willen gewählt worden. Wir müssen nun noch die Interpretationsprinzipien formulieren, die sicherstellen, daß PRO in diesen Konstellationen obligatorisch kontrolliert wird. Die relevante Generalisierung lautet:

(48)

PRO einer IP mit leerem Kopf ist an das nächste zugängliche Subjekt gebunden.

Dies bedeutet, daß PRO mit dem nächsten Subjekt koindiziert wird. Ferner setzen wir fest, daß PRO-t in LF als die Variable X; gedeutet wird. Wenn der Binder ein Name oder ein Quantor ist, dann muß er mittels der Regel der Quantorenanhebung ( = QR, vgl. May 1985) in

194

Arnim von Stechow

LF an eine maximale Phrase adjungiert werden. Indizierte Pronomina werden als Variable interpretiert. Da wir sichergestellt haben, daß die Verben in LF de facto sämtlich zurückbewegt werden (vgl. 35), läuft die LF für unser koreanisches Beispiel also auf die folgende Struktur hinaus: (49)

[n> Ichx [p [o» PROX Reis essen] will]]

Dies wird gedeutet als ^x.wollen'(x,(essen'(x,reis'))(ich), wobei die genaue Angabe der einschlägigen Regeln Routine ist. Eine Erläuterung: Ich wird an IP adjungiert, um ein Abstrakt zu bilden. Man würde die Generalisierung (48) gerne aus tieferliegenden Prinzipien herleiten. Sie beinhaltet zum Beispiel, daß es keine Verbalkomplexe mit Objektkontrolle gibt. Mit anderen Worten, es wird vorhergesagt, daß z.B. zu waschen bitten keinen Verbalkomplex bilden kann. Dies ist der Inhalt der bekannten Generalisierung, daß es im Deutschen keine kohärenten Verben mit Objektkontrolle gibt (vgl. von Stechow/Sternefeld 1988, 406 ff.). Semantische Gründe für die Generalisierung kann es nicht geben, da es die entsprechenden inkohärenten Kontrollverben gibt. Das Problem wird in dieser Arbeit allerdings nicht gelöst. Sternefeld (1989) hat den Ansatz Bakers auf die Analyse von kohärenten Kontrollverben des Deutschen übertragen. In Abschnitt 6.3. wollen wir auf einige Probleme dieser Konstruktionen gesondert eingehen. Es ist klar, daß man das koreanische Voluntativ im Prinzip lexikalisch behandeln kann. Man braucht dann keine leeren Köpfe, keine Inkorporation in der Syntax und keine leere Kategorie PRO. Allerdings kann man die Generalisierung, daß das Subjekt eines Voluntativs niemals ein Objekt des subordinierten Verbs kontrolliert, nicht herleiten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich die Kategorie PRO prinzipiell eliminieren läßt. Dies ist von Wunderlich (1989) behauptet worden. Dieser Frage ist der Rest dieses Abschnittes gewidmet, in der die Grundlage für eine prinzipielle Theorie der Kontrolle gelegt werden soll. Wunderlich sagt - wie schon viele vor ihm - daß sämtliche satzwertigen Infinitive des Deutschen in Wahrheit VPs sind. In von Stechow (1989b) sind syntaktische Argumente gegen diese Behauptung vorgebracht worden, die hier nicht wiederholt werden sollen. Ich möchte hier einige semantische Argumente dafür bringen, daß PÄO-Subjekte prinzipiell unverzichtbar sind. Es geht um die Interpretation von Sätzen wie den folgenden: (50)

a. b.

Sich schlecht zu benehmen, nützt niemandem. Ihren Ex-Ehemann anrufen zu müssen, ist ein Gedanke, der jede geschiedene Frau in Schrecken versetzt.

Eine Theorie, die PRO für den Subjektsatz annimmt, hat keine Schwierigkeiten, logische Formen zu erzeugen, welche die intendierten Lesarten darstellen. In erster Approximation

Kompositionsprinzipien

195

können wir folgendes annehmen (tatsächlich sind die Verhältnisse noch komplizierter, wie wir sehen werden): (51)

a. b.

niemandem, [[PRO, sich schlecht zu benehmen] nutzt x]] jede geschiedene Fraux [[PRO, ihren, Ex-Ehemann anrufen zu müssen]] ist ein Gedanke, der in Schrecken versetzt]

PRO, ist eine Variable, die durch den Quantor gebunden wird, der in LF mittels QR (quantifier raising) an den Matrixsatz adjungiert worden ist. Eine gewisse Sorge bereitet der Umstand, daß der Quantor in (51b) aus dem Relativsatz hinausbewegt worden ist, was für Quantorenbewegung im allgemeinen nicht möglich ist ("Satzgebundenheit für QR"), Aber dieses Problem gehört in die allgemeine Theorie der LF-Bewegung und soll uns hier nicht weiter kümmern. Die Frage, um die es geht, ist, wie dieser Satz in einer lexikalistischen Theorie gedeutet werden könnte, die ohne PÄO-Subjekt auskommt, die also die Strukturen (52a) beziehungsweise (52b) annimmt, die hier ein wenig vereinfacht sind: (52)

a. b·

[s [vp Sich schlecht zu benehmen] [yp nützt niemandem]] [s [VP Ihren Ex-Ehemann anrufen zu müssen] [yp ist ein Gedanke, der jede geschiedene Frau in Schrecken versetzt]]

(52a) können wir noch in gewohnter lexikalischer Manier behandeln, indem wir die Kontrolle in das Verb stecken. (53)

[v nützen]1 =

.

'( ( ), ), wobei y eine Variable für Eigenschaften ist.

Wenn wir niemanden in LF durch QR anheben, erhalten wir die korrekte Lesart. Dies Manöver funktioniert nun offensichtlich nicht für den Satz (52b), weil nämlich die Kopula kein Kontrollverb ist. Damit gibt es keine Möglichkeit, das Subjekt an den Quantor zu binden. Man kann nun so reagieren, daß man die Bindung des Subjekts an den Quantor für diese Fälle einfach leugnet. Daß Bindung aber tatsächlich vorliegt, macht man sich dadurch klar, daß man ein anderes Tempus wählt, welches die Ausflucht zu einer nicht weiter präzisierten Generizität verbietet: Sich gestern daneben benommen zu haben, hat keinem von euch etwas gebracht, wie ihr seht. Daß die Subjektposition eines Subjektsatzes in LF prinzipiell durch einen Operator gebunden werden kann, sieht man deutlich an (schwachen) Überkreuzungseffekten (weak cross-over). (54)

a. a1. b.

Es hat niemandem; geholfen, wenn er; sich schlecht benommen hat niemandem, [es hat geholfen, wenn er, sich schlecht benommen hat] Jede geschiedene Frau{ schreckt der Gedanke, daß sie{ ihren; Ex-Ehemann zuweilen anrufen muß

1%

Arnim von Steehow

b'.

Jede geschiedene Fraux [x schreckt der Gedanke, daß siex ihrenx Ex-Ehemann zuweilen anrufen muß]

In diesen Beispielen gibt es keine Überkreuzungseffekte, wohl aber in den nächsten: (55)

a. a1. b. b1.

*Wenn et; sich schlecht benommen hat, so hat das niemandem; geholfen. niemandem, [wenn erx sich schlecht benommen hat, so hat das geholfen] *Daß sie; ihren Ex-Ehemann zuweilen anrufen muß, ist ein Gedanke, der jede geschiedene FraUj schreckt. jede geschiedene Fraux [daß siex ihren Ex-Ehemann zuweilen anrufen muß, ist ein Gedanke, der schreckt]

Die Überkreuzungseffekte erklären sich aus Bijektionsprinzip (Koopmann/Sportiche 1982), das auf LF überprüft wird und hier in der folgenden gegenüber dem Original etwas verallgemeinerten Version vorausgesetzt wird (Heim 1989: 95). Das Prinzip soll im folgenden C* genannt werden. (56)

Prinzip C* Ein gebundenes Pronomen verlangt ein Antezedens in Argumentposition.

Ein Pronomen zählt als gebunden im relevanten Sinne, wenn es im Skopus eines Abstraktere ist, der hier stets als Variable an einer durch QR an einen Satz adjungierten Phrase symbolisiert wird. In den grammatischen Beispielen haben die gebundenen Pronomina erx bzw. siex ein Antezedens in Argumentposition, nämlich die durch Quantorenanhebung entstandene Variable in Subjektposition. In den ungrammatischen Fällen ist das Pronomen unmittelbar durch den Operator gebunden, was durch Prinzip C* verboten ist. Da die obigen Beispiele mit PÄO-Subjekt im Infinitivsatz synonym zu den Beispielen mit offenem Subjekt sind, ist es naheliegend, daß sie dieselben LFs haben, bis auf den Unterschied, daß wir statt erx/siex ein PROX vorfinden. Interessanterweise beobachten wir dort keine Überkreuzungseffekte, denn sonst müßten die Konstruktionen (52) ungrammatisch sein. (Dies ist wohl zuerst in Higginbotham 1980 beobachtet worden.) Daraus folgt zunächst, daß PRO nicht dem Prinzip C* unterliegt. In dieser Hinsicht verhält sich ein gebundenes PRO also wie eine Variable, die durch QR entstanden ist. In der Literatur wird angenommen, daß unkontrolliertes PRO das ursprungliche Pronomen "man" denotiert, das als PRO„b bezeichnet wird. (57)

a. b. c.

Die Polizei ordnet an, [PRO den Saal zu verlassen] [PRO sich in der Öffentlichkeit zu benehmen] würde jedem nützen Es ist unmöglich, [PRO über alles Bescheid zu wissen]

In (a) und (c) ist PRO = PROarlr In (b) ist PRO entweder arbiträr oder durch jedem kontrolliert. Aber nicht einmal für diese Fälle ist von vornherein ausgeschlossen, daß es sich

Kompositionsprinzipien

197

in LF nicht doch um gebundene Pronomina handelt. Vielleicht haben (57) (a) und (b) die beiden folgenden LFs: (58)

a. b.

Die Polizei ordnete an Vx [PRO, den Saal zu verlassen] Vx Es ist unmöglich [PROX über alles Bescheid zu wissen] = Für kein x: Es ist möglich [PRO, über alles Bescheid zu wissen]

In (a) springt das leere Quantifikationsadverb als Binder ein, wenn es keinen anderen Binder gibt. Dies ist in Anlogie zu Heims (1982) Behandlung der Eselssätze zu sehen, wo ebenfalls ein unsichtbarer Allquantor freie Variablen per Default binden muß. Die LF (b) zeigt wieder einmal, daß die Bindung nicht von innen kommen muß Der Ansatz sagt korrekt vorher, daß (b) zwei Lesarten hat, nämlich:. (59)

a. b.

jedem, ([PRO, sich in der Öffentlichkeit zu benehmenjo^ [[PRO, sich in der Öffentlichkeit zu benehmen] nützen]) jedemy (Vx [PROX sich in der Öffentlichkeit zu benehmen]o=* [[PROX sich in der Öffentlichkeit zu benehmen] y nützen])

"Ao=*-B" steht hier für "Wenn A wäre, so wäre B". (59a) ist die LF, in der PRO durch jedem kontrolliert wird: "Für jede Person gilt: wenn sie sich in der Öffentlichkeit benehmen würde, so würde es ihr nützen, daß sie sich in der Öffentlichkeit benimmt". (59b) ist dagegen "arbiträres" PRO: "Für jede Person gilt: Wenn sich alle in der Öffentlichkeit benehmen würden, dann würde es dieser Person nützen, daß sie sich in der Öffentlichkeit benehmen". Im Gegensatz zu der ersten vereinfachten LF (51a) wird hier angenommen, daß der Subjektsatz den Quantor beschränkt. Dies paßt zu der Theorie von Berman (1989), wonach die Präsuppositionen von faktiven Prädikaten "akkomodiert" werden müssen. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: Wenn das präsupponierte Komplement keine freie Variable enthält, dann wird die Präsupposition zum Kontext genommen (Kontext im Sinne von Heim 1983); wenn das präsupponierte Komplement dagegen eine freie Variable enthält, wird die Präsupposition zum Restriktionsbereich des Quantors geschlagen, der diese Variable bindet. Nützen ist ein faktives Prädikat, daher die zweifache Rolle des Subjektsatzes in der logischen Form. Die folgenden Konstruktionen passen genau in das Bild: (60)

a. a'. b. b'. c. c'.

[PRO ein Haus zu besitzen] ist angenehm. Vx [PRO, ein Haus zu besitzen] [[PROX ein Haus zu besitzen] ist angenehm fürx] [PROj ein Haus zu besitzen] ist selten; angenehm. Wenige, [PRO, ein Haus zu besitzen] [[PRO, ein Haus zu besitzen] ist angenehm für x] [PROj ein Haus zu besitzen] ist oftj unangenehm. Viele, [PRO, ein Haus zu besitzen] [[PRO, ein Haus zu besitzen] ist unangenehm für x]

198

Arnim von Stecfunv

Angenehm und unangenehm sind faktive Prädikate, die den Subjektsatz präsupponieren. Folglich muß dieser einen Quantor einschränken. In diesen Beispielen handelt es sich dabei um ein Quantifikationsadverb. Die Diskussion führt somit zu folgender Hypothese bezüglich der Deutung von PRO: (61)

PRO wird in eine Variable übersetzt.

Diese Formulierung unterschlägt die Feinheit, daß PRO genau genommen ein Nominal oder offener Satz sein muß, also als [ ( ) & Person(x)]" oder "x ist eine Person" interpretiert werden muß. Für kontrolliertes PRO wird (61) vermutlich von den meisten Grammatikern angenommen, welche die LF semantisch interpretieren. Fast alles andere sollte sich aus allgemeinen Prinzipien der logischen Form ergeben. Zum Beispiel müssen Variablen immer gebunden werden. Daraus ergibt sich, daß ein "quantifikationeller Variabilitätseffekt" - um Hermans (1989) Terminologie zu benutzen - für PRO zu erwarten ist, je nachdem, welcher Quantor diese Variable bindet. Die diskutierten Beispiele bestätigen diese Vorhersage: Selbst PROarbi das nach traditioneller Auffassung nicht kontrolliert, d.h. nicht gebunden ist, zeigt diesen Effekt. Die Kontrolltheorie ist ein notorisch unklares Gebiet. Ich verweise auf die Ausführungen in Manzini (1983) und von Stechow/Sternefeld (1988: Kap. 9). Die vorangegangenen Ausführungen sind deswegen zugegebenermaßen spekulativ und bedürfen weiterer Bestätigung. Insbesondere wäre zu untersuchen, ob wirklich jedes PROarb als gebundene Variable aufgefaßt werden kann. Steve Berman hat mich darauf hingewiesen, daß diese Kontrolltheorie im wesentlichen mit der in Clark (1985) identisch ist. Bei Clark scheint nur der Gesichtspunkt der Präsuppositionsakkomodation zu fehlen. (Ich kenne von dieser Schrift bisher nur die Seiten 330-36, kann deswegen weitere Details nicht überprüfen.) Aber selbst wenn die Hypothese (61) sich nicht in ihrer allgemeinen Form halten ließe, so scheint mir dennoch so viel gesichert zu sein: PRO muß zumindest in einigen Fällen eine Variable sein. In Fällen von "weiter Kontrolle" ist diese Variable nicht lokal gebunden. Das kann ein lexikalischer Ansatz, der die Existenz von PRO leugnet, prinzipiell nicht leisten. Deswegen ist die Kategorie PRO im allgemeinen unverzichtbar. Daraus folgt allerdings noch nicht, daß man sie für die koreanischen Voluntative annehmen muß, denn dort wird PRO lokal kontrolliert.

3.4. Bakers UTAH Gibt es eine allgemeine Theorie, welche uns sagt, welche Kompositionsprinzipien in der Syntax erlaubt sind? Baker (1988) vertritt unter dem Namen uniformity of theta assignment hypothesis (UTAH) die These, daß es eine grammatische Ebene gibt, die D-Struktur, in der die thematische Struktur vollständig ausbuchstabiert wird. (Genau genommen verlangt UTAH die Existenz von thematischen Paraphrasen, d.h., ein komplexes Verb bettet nur dann einen Satz in der D-Struktur ein, wenn es ein thematisch äquivalentes Verb gibt, das auch auf der S-

Kompositionsprinzipien

199

Struktur einen Satz einbettet). Aus dem Kontext von Bakers Arbeit geht hervor, daß UTAH in dem folgenden Sinn gemeint sein muß: (62)

Implikationen aus UTAH: a. FA ist das einzige zugelassene Kompositionsprinzip. b. Die Träger von propositionalen Rollen sind Sätze.

Wie wir gesehen haben, läßt sich diese These nur halten, wenn Köpfe bewegt werden. Di Sciullo/Williams haben UTAH auf der Grundlage der Atomizitätshypothese angegriffen, der zufolge syntaktische Regeln nicht in Wörter "hineinschauen" dürfen. Wie Baker (1989) in seiner Antwort an Di Sciullo/Williams bemerkt, greift diese Kritik zu kurz: Auch in der Bakerschen Theorie wird niemals in ein Wort - also ein X^-Element "hineingesehen" oder aus einem solchen hinausbewegt. Wörter werden lediglich durch Bewegung gebildet. Ein gebildetes Wort kann nur als Ganzes weiterbewegt werden. Es ist nicht zu sehen, wieso das der Atomizitätsthese widersprechen soll. Alles liegt hier daran, wie man den Begriff 'morphologisches Wort' definiert. Nehmen wir einmal an, im Deutschen könnte man gewisse Phrasen - was nicht unplausibel scheint - in Verben inkorporieren oder sogar basisgenerieren, zum Beispiel Direktionale (vgl. dazu Bierwischs "Präverb"): (63)

weil wir [yp das Auto [v [pP in die Garage] [v stell-]]] [ ( en]

Selbstverständlich müssen wir dann zulassen, daß der Kopf V in der Syntax bewegt werden kann. Hier wäre also ein Kopf aus V extrahiert worden. Aber wir würden in die Garage stellnicht als Wort bezeichnen. Vermutlich ist der Begriff 'Wort* ein rein deskriptiver Begriff, der in der systematischen Theorie gar keinen Platz hat (persönliche Mitteilung von W. Sternefeld). Ein modularer Ansatz wird die sogenannte Wortbildung durch Prinzipien wie den Lasnik-Filter regeln. Der Begriff 'Wort' spielt in der Theorie gar keine Rolle. Die interessante Frage ist, ob es Fälle von Kopfbewegung gibt, in denen ein Kopf aus einem X° herausbewegt wird, das keine Phrase enthält. Wenn dies nicht möglich sein sollte, so könnte man auf dieser Basis Pesetsky (1986) kritisieren, der Affixe in LF aus einem X°, das keine Phrasen enthält, herausbewegt und an eine Stellung bringt, die ihrem semantischen Skopus entspricht - FA als einziges Kompositionsprinzip vorausgesetzt. Auf die Theorie Pesetskys wird hier nicht weiter eingegangen. Bakers UTAH ist ein prinzipieller Versuch, D-Konfigurationen aus Prinzipien der ThetaTheorie herzuleiten. Eine zu enge Auslegung von UTAH ist aber problematisch. Man betrachte die folgenden Beispiele: (64)

a. b.

I entered the house. J1 entre dans la maison.

200

Arnim von Stechow

Das lateinische Etymon intro+ire "hineingehen" zeigt, daß hier irgendwann einmal die Präposition inlra in das Verb ire inkorporiert worden ist (Introibo ad altarem Dei). Es erscheint aber als fragwürdig, die Variante (64b) noch heute als ein Fall von Applikativ (= Präpositionsinkorporation) anzusehen, d.h. abstrakt zu analysieren als: (65)

I [, [[p in; [v go-]] AGR] [pP P; the house]]

Gegen eine solche Analyse spricht aber, daß Applikativierung im Englischen kein produktiver Prozeß ist. Nun ist es in der Tat so, daß ein Dekompositionsansatz etwas zur Behandlung von Idiosynkrasien sagen müßte. Dies ist aber ein grundsätzliches Problem, welches hier ausgeklammert wird. Ich selbst hoffe, daß hinter jeder noch so idiosynkratischen Bedeutung einer Inkorporationsstruktur eine "dünne" transparente Bedeutung steht. Wenn dies richtig ist, zeichnen sich Idiosynkrasien vor allen durch Spezifität aus. Wir wollen uns jedoch nicht festlegen, welchen theoretischen Status Bakers Prinzip genau hat. Wir halten fest: Als Leitidee ist UTAH ein interessantes Prinzip, weil es die zulässigen Kompositionsprinzipien in der Syntax auf FA beschränkt. An dieser Leitidee wollen wir uns orientieren.

4. Vererbung und Blockierung von Kasusrektion Wir greifen nun die in Abschnitt 3.2 angeschnittene Frage auf, woher der Kausatus eines komplexen Verbs seinen Kasus enthält. Baker (1988) sagt, daß der Kasus vom neugebildeten Verb kommt und "von außen" zugewiesen wird, da nach Kopfbewegung die beiden Köpfe identifiziert worden sind und der untere Kopf keine Barriere mehr für Rektion errichten kann. Wir werden sehen, daß die Theorie in dieser Form problematisch ist. Auf den folgenden Seiten wird eine Alternative auf der Grundlage von Ideen Müllers (1989) vorgeschlagen. Wir legen der Diskussion diesmal ein japanisches Beispiel zugrunde, weil es die Basis für noch einen weiteren Diskussionspunkt bildet (vgl. Baker 1988:178). (66)

Hanako-wa Hanako-TOP

Taroo-ni Taroo-DAT

sono hon-o dies Buch-AKK

kaw-(s)ase-ta kauf-CAUS-Prät

Kompositionsprinzipien

201

(67) NP Hanako-wa

V

V

3

(s)äse 1

3

V

!

I2

kaw

l

Taroo-ni Dativ!

f\V

NP

hon-o Akkusativ!

Wie schon gesagt, werden die durchwanderten Köpfe in der Bakerschen Theorie durchlässig für Rektion. Deswegen sind sowohl das D-Subjekt als auch das D-Objekt im Rektionsbereich des Verbalkomplexes. Damit können die beiden Nomina strukturellen Dativ bzw. Akkusativ zugewiesen bekommen. Baker nimmt an, daß die Rektionseigenschaften des Incorporatum absorbiert werden, daß sich aber die Rektionseigenschaften des Incorporans verändern können. Wie aber soll die Zuweisung genau aussehen? Wir müssen annehmen, daß das komplexe Finitum den Nominativ, den Dativ und den Akkusativ regiert. Den Akkusativ können wir unter Rektion an die NP in V zuweisen, d.h. an hono. Wie aber soll die Dativzuweisung aussehen? Das kausativierte Verb weist vielleicht unter Rektion Dativ an das Subjekt von IP zu. Aber an welches? Es gibt zwei solche, nämlich den Kausatus und das Matrixsubjekt. Beide sind durch I regiert. Der Dativ darf aber nur dem unteren Subjekt zugewiesen werden. Ein weiteres Problem für den Ansatz ist, daß nach Baker ein komplexes Verb nur so viele strukturelle Kasus regieren kann, wie dies für ein nichtzusammengesetzes Verb möglich ist. Kausativiert man aber ein ditransitives Verb, so regiert der Komplex zwei Dative und einen Akkusativ. Dies ist für eine Simplexform nie möglich. Von einer konfigurationellen Theorie würden wir vielmehr erwarten, daß sie mit den folgenden optimal einfachen Regeln für Objektkasus auskommt:

202

(68)

Amim von Stechow

a. b.

Ein transitives Verb weist seinem direkten Objekt den Akkusativ zu. Ein ditransitives Verb weist seinem indirekten Objekt den Dativ zu.

Das direkte Objekt sei die Position NP in [V-NP V], und das indirekte Objekt sei die Position NPin[vpNPV'] Diese Regeln können in der Bakerschen Struktur nur dann operieren, wenn der transitive Verbstamm seine strukturellen Objekte rindet. Ebenso, wenn das Kausativmorphem den Kausatus findet usw. Die entsprechenden grammatischen Funktionen sind konfigurationell durch die D-Struktur eindeutig identifizierbar, falls man sich die Spuren der Stämme anschaut. Im Gegensatz zu Baker wollen wir deswegen mit Müller (1989) davon ausgehen, daß Spuren in gewissen Fällen Kasus regieren können. Die Theorie, die im folgenden erläutert wird, kann man als eine konfigurationelle Rekonstruktion von Di Sciullo/Williams' (1987) relativiertem Kopfbegriff ansehen: "Kopf für Objektkasus", "Kopf für den Kasus des Kausatus", "Kopf für den Nominativ", usw. Eine nähere Betrachtung zeigt auch für das Japanische, daß die Kasusrektion nach konfigurationeilen Prinzipien funktioniert. Selbst wenn das kausativierte Verb ditransitiv ist, steht das D-Subjekt im Dativ, nicht aber im Akkusativ (vgl. 69a). Werden intransitive Verben kausativiert, kann das D-Subjekt sowohl im Dativ als auch im Akkusativ stehen, was mit semantischen Unterschieden korreliert: Premissiv versus Effektiv (vgl. 69b). Interessanterweise kann die Datiwariante nicht passiviert werden. Bei Verben, die einen lexikalischen Akkusativ regieren, darf der Kausatus wahlweise im Dativ oder im Akkusativ stehen (vgl. 69c). (Die Daten verdanke ich Mitsunobu Yoshida.) (69)

a.

b.

c.

Taroo-ga Mituko-ni Yuka-ni hono-o atae-sase-ta N D D A Taroo Mituko Yuka ein Buch geben-mach-Prät Taroo machte, daß Mituko Yuka ein Buch gab Mitsunobu-ga Naho-ni/o waraw-ase-ta N D/A Mitsunobu Naho lachen-mach-Prät Mitsunobu brachte Naho zum Lachen Taroo-ga Mituko-ni/o hasi-o watar-ase-ta N D/A A Taroo Mituko Brücke überschreit-mach-Prät Taroo veranlaßt Mituko, die Brücke zu überschreiten

Wir stellen also folgendes fest. In einem gewissen Sinne kommt also der Kasus des Kausatus vom Kausativsuffix her. Dieses kann auf jeden Fall den Dativ regieren, je nach inkorporiertem Verb aber eventuell auch den Akkusativ. Allgemein gilt also: Welchen Kasus -(s)ase regiert, hängt von dem subordiniertem Verb im Verbalkomplex ab. Wir erhalten die korrekten Ergebnisse, wenn wir zweierlei tun:

Komposiiionsprinzipien

(70)

a. b.

203

Wir prüfen, welche Kasus ein Kopf in einer Inkorporationsstruktur, d.h. dem komplexen X°, "nach außen" vererbt, Wir vererben ebendiese Rektionseigenschaften an die Spur dieses Kopfes.

Diese Prinzipien sind hier noch sehr vage formuliert und werden im folgenden präzisiert. Überprüfen wir diese Theorie anhand unseres Beispiels (69a): (71)

Taroo-ga [yp [IP Mituko-ni [yp Yuka-ni [v· hono-o tj] 12] t3] atae^^-sases-ta]

Die von arae- "geben" regierten Kasus Akkusativ und Dativ werden vom komplexen Verb nicht blockiert. Diese Rektionseigenschaft des Verbs wird deshalb an die Spur t t zurückgegeben. Die Kasusregeln sagen nun, daß hono-o den Akkusativ zugewiesen erhält, Yuka-ni den Dativ. In dem komplexen Verb geht vom Kausativaffix -(s)ase Dativrektion aus. Folglich regiert die Spur t3 den Dativ. Das Subjekt einer nicht-finiten IP kann nach allgemeinem Dafürhalten von außen regiert werden. Deswegen ist sein Dativ durch t3 regiert. Für die anderen japanischen Beispiele argumentiert man ganz analog. Man nutzt hier z.B. aus, daß sich die Rektionseigenschaft von sase je nach den Rektionseigenschaften des eingebetteten Verbs verändern kann, so wie das beschrieben worden ist. Um die Analyse zu vervollständigen, müssen wir noch folgende stillschweigende Annahme explizit machen: (72)

Kasusregierende Köpfe - seien es Spuren oder lexikalische Köpfe - errichten Barrieren für Kasusrektion von außen.

An dieser Stelle weichen wir entscheidend von Bakers Theorie ab: Bei Baker können Spuren niemals Kasus regieren. Folglich können sie auch keine Barrieren für Kasusrektion errichten, denn sonst könnten die Nominalien in der Projektion des Kopfes niemals Kasus erhalten. Auf der anderen Seite ist die Annahme (72) fast zwangsläufig notwendig, wenn Spuren Kasus regieren können. Über Köpfe, die keinen Kasus regieren, sagt (72) nichts aus. Wir kommen nun auf Kasusabsorption bei Inkorporation zu sprechen. Wir bleiben zunächst noch beim Japanischen und betrachten das Passiv. Im Japanischen gibt es sowohl ein Akkusativ- als auch ein Dativpassiv. (73)

a. b. c.

Taro-ga Taro-NOM Mituko-ga Mituko-NOM Kunsyoo-ga Orden-NOM

Mituko-ni Mituko-DAT Taro-ni Taro-von Taro-ni Taro-von

kunsyoo-o Orden-AKK kunsyoo-o Orden-AKK Mituko-ni Mituko-DAT

atae-ta geb-PRÄT atae-rare-ta geb.PASS-PRÄT atae-rare-ta geb-PASS-PRÄT

Die von-NP ist übrigens ebenfalls ein Dativ, allerdings ein freier, (b) ist ein Dativpassiv, während (c) ein Akkusativpassiv ist.

204

Arnim von Stechow

Interessanterweise zeigen nun kausativierte Verben das folgende Verhalten unter Passivierung: Wenn das kausativierte Verb intransitiv ist, der Kausatus also im Akkusativ oder Dativ steht, ist Passivierung möglich. Mit anderen Worten, Sätze des folgenden Typs sind möglich: (74)

Hanako-NOM Taroo-von lachen-CAUS-PASS-PRÄT

Ist dagegen das kausativierte Verb transitiv, ist nur ein Dativpassiv, nicht aber ein Akkusativpassiv möglich. Wir beobachten also den folgenden Kontrast: (75)

a. b.

Taroo-wa Hanako-ni sono hon-o kaw-ase-rare-ta Taroo-TOP Hanako-von dies Buch-AKK kauf-CAUS-PASS-PRÄT *Sonohon-wa Hanako-ni Taroo-ni kaw-ase-rare-ta DiesBuch-TOP Hanako-von Taroo-DAT kauf-CAUS-PASS-PRÄT

Baker behauptet, daß diese Daten aus der Bindungstheorie hergeleitet werden müssen. Die Argumentation verläuft folgendermaßen. In (a) wird das eingebettete D-Subjekt Taroo- an die Subjektposition angehoben. Die Spur ist antezedensregiert, da keine Barriere überschritten wird. In (b) wird dagegen das D-Objekt hon- über das Subjekt Taaro- hinwegbewegt. Das ist eine Verletzung von Prinzip A der Bindungstheorie (vgl. Chomsky 1981): Die Spur ist in ihrer bindenden Kategorie - der subordinierten IP - nicht gebunden. Dabei setzen wir die folgenden Eigenschaften für das Passivmorphem voraus: (76)

(r)are m-selegiert einen kasusregierenden Verbstamm und absorbiert genau einen Rektionskasus desselben.

Die relevanten Konstellationen sind nun die folgenden: (77)

a. b.

Taroo-wa5 [yp [yp Hanako-ni [IP t5 [yp sono hon-o tt] i^] t3] t4] kawj-I2-ase3rare4-ta *sono hon-was [w [yp Hanako-ni [IP Taroo-ni [yp ts tj \^\ l$\ t4] kawrI2-ase3rare4-ta

In (a) würde -(s)ase den Dativ regieren, da es ein transitives Verb einbettet. Das Passivsuffix absorbiert aber den Dativ. Deswegen regiert die Spur t3 von-(s)ase keinen Dativ, und die NP Taro- muß in die Subjektposition der Matrix-IP angehoben werden, wo sie Nominativ von I zugewiesen erhält. Die Subjektposition ist nicht thematisch markiert, weil das Verb passiviert ist. Nimmt man an, daß Spuren, die keinen Kasus regieren, keine Barriere für Kasusrektion errichten, so könnte der Nominativ im Prinzip auch direkt an die Position ts zugewiesen werden, wenn man nicht bewegt hätte. Eine andere Möglichkeit wäre, für diesen Fall den Kasus durch Koindizierung mit expletivem Subjekts-pro nach unten zu vererben.

Kompositionsprinzipien

205

Im Fall (b) absorbiert das Passivsuffix den Akkusativ. Die Dativrektion von -(s)ase ist davon nicht betroffen. Die Verbspur t t regiert nun aber keinen Kasus mehr. Das direkte Objekt muß nun an eine Kasusposition angehoben werden, nämlich an die Subjektposition der Matrix. Das ist aber nicht möglich, da das intervenierende Subjekt Taroo- die Anhebung blockiert. Es ist aber gar nicht klar, ob diese Argumentation Bakers zwingend ist. Sie setzt nämlich voraus, daß sich der Akkusativ eines transitiven kausativierten Verbs durch Passiviemng absorbieren läßt. Dies setzt voraus, daß wir den Absorptionsmechanismus genauer analysieren. Wir lassen uns dabei von den folgenden Arbeitshypothesen leiten, die so formuliert sind, daß sie sich auf das Deutsche übertragen lassen werden. (78)

Kasusvererbung im Wort a. Nomina und Präpositionen verlieren ihre Rektionseigenschaften bei Inkorporation. b. Bei Verbinkorporation ist zu differenzieren: Das Incorporans legt fest, welche Rektionskasus gegebenenfalls absorbiert werden. c. Funktionale Kategorien sind durchlässig.

Betrachten wir dazu einen japanischen Verbalkomplex.

In diesem Baum stehen unter jedem Knoten die von ihm regierten Kasus. Die Indizes der Kasus beziehen sich auf den Knoten, von dem sie ursprünglich herkommen. Die Funktion f unter (s)ase- sagt, welchen Kasus dieses Suffix regiert. Es wird gleich davon zu sprechen sein, von welchen Argumenten f abhängt. Die Funktion b besagt, daß einer der Argumentkasus "blockiert" oder "absorbiert" wird, f und b können versuchsweise folgendermaßen beschrieben werden:

206

(80)

Arnim von Stechow

Rektionseigenschaften von (s)ase: a. Effizierendes (s)ase: ff(x) = AJ, falls leer ist = D^ falls b.

nicht leer, aber kein lexikalischer Kasus ist.

= DJ oder AJ, falls ein lexikalischer Kasus ist. Permissives (s)ase regiert lexikalischen Dativ (=Diex).

Das Argument der Funktion f besteht stets aus den Kasus des Schwesterknotens. Der Wert der Funktion f perkoliert zum neuen Kopf, wie auch die Kasus des alten Kopfes. (81)

Kasusabsorption durch (r)are: b versieht einen strukturellen Kasus der Argumentkasusfolge mit *, der für Absorption steht (vgl. von Stechow 1988).

Diese sehr allgemeine Form des Absorptionsmechanismus erlaubt es, daß (r)are in (79) auch A} absorbieren könnte. Dieser Fall ist aber nach der oben vorgeführten Argumentation prinzipiell nicht möglich, weil es zu einer Verletzung von Prinzip A der Bindungstheorie käme. Damit stellt sich die Frage, ob die Vererbungsmechanismen diese Möglichkeit nicht bereits ausschließen sollten. Es könnte ja so sein, daß eine diathetische Operation wie f oder b nur auf den Kasus operieren kann, die den Index des Argumentkopfes - den "ausgezeichneten" Index - haben. Für unser Beispiel würde das bedeuten, daß nur D3 absorbiert werden könnte. Der Vorteil wäre, daß die diathetischen Operationen streng lokal wären. Außerdem hätte diese Beschränkung zur Folge, daß man eine lexikalistische Erklärung zur Hand hätte, wieso es im Japanischen bei kausativierten transitiven Verben kein Akkusativpassiv geben kann. Die Bindungstheorie brauchte man überhaupt nicht zu bemühen. Wir kommen auf diese Frage gleich zu sprechen. Zuvor aber wollen wir anhand der Figur (79) den Vererbungsmechanismus eines bewegten Kopfes an seine Spur erläutern, den wir in (70) angenommen haben. Wie man sieht, vererbt der Verbkomplex nur Aj an seinen Spitzenknoten. Also vererbt Vlt d.h. kaw-, diese Kasusrektion an seine Spur tj. Kein anderer Kopf vererbt Kasusrektion an seine Spur. Insbesondere kann (s)ase3 den von ihm regierten Dativ nicht an t3 vererben. Deswegen kann der Kausatus keinen Kasus von fc)ase erhalten und wird an die Subjektposition der Matrix angehoben. Dies führt zu der Konstellation (77a). Hätten wir nicht passiviert, würde der von (s)ase3 regierte Dativ D3 ganz nach außen vererbt, und die Spur t3 würde Dativrektion erben. Dies ist der normale Fall eines aktivischen kausativierten transitiven Verbums. Wir greifen nun die Frage auf, wie restriktiv der Absorptionsmechanismus (70) zu formulieren ist. Wir diskutieren das Problem anhand des Deutschen. Dabei ist vorausgesetzt, daß Kasusabsorption immer Inkorporation, sei sie offen oder abstrakt, verlangt. (Zur abstrakten Inkorporation, siehe Abschnitt 6.1.) Wir müssen ein Beispiel konstruieren, das die Bindungstheorie nicht verletzt und eine diathetische Operation aufweist, die einen "tieferen" Kasus absorbiert. Wenn es ein grammatisches Beispiel dieser Art gibt, dann muß der Absorptions-

Kompositionsprinzipien

207

mechanismus in der allgemeinen Form angenommen werden. Wenn es nichts dergleichen gibt, ist der Mechanismus restriktiver zu formulieren. Damit wäre allerdings auch Bakers Rekurs auf die Bindungstheorie in diesem Zusammenhang fragwürdig. Das Deutsche liefert uns das Testmaterial. Wir wissen, daß lassen die eingebetteten Verben optional passivieren kann: (82)

Der Graf ließ den Insultanten durch seine Domestiquen verprügeln.

Wir nehmen dazu die folgenden lexikalischen Eigenschaften für lassen an: (83)

lassen regiert den Akkusativ und absorbiert optional Akkusativrektion eines Subordinatums.

Damit hat (82) die folgende relevante Struktur:

(84)

Der Graf [ff den Insultanten, [r [w t4 t j tj t3][verprügeln^^-lass^I]]

' *

Hier hat lassen die Akkusativrektion des Subordinatums absorbiert. Da es selbst den Akkusativ regiert, kann diese Rektionseigenschaft an seine Spur t3 vererbt werden. Diese Spur kann dem Subjekt der subordinierten IP diesen Kasus zuweisen, weil der leere Kopf von IP dessen Subjekt nicht vor Rektion von außen schützt. Merkwürdigerweise lassen sich solche Sätze nun nicht mehr passivieren: (85)

a. b. c.

*Der Insultant wurde verprügeln lassen/gelassen. Man ließ ihr die Zähne ziehen. "Sie kriegte die Zähne ziehen lassen/gelassen.

(c) scheint zunächst für eine striktere Formulierung des Absorptionsmechanismus zu sprechen, denn hier hat man ja gerade einen Dativ absorbiert, der nicht zum nächsten subordinierten Index gehört. Der relevante Verbkomplex, wobei das leere intervenierende INFL ignoriert ist, ist ja dieser:

208

(86)

Arnim von Stechow

ziehen

gelassen

kriegV,

Das Problem ist, daß die Einschränkung, daß Diathesen nur auf die Indizes des nächsten Subordinatums Bezug nehmen können, zwar diese Konstruktion ausschließt, nicht aber die Ungrammatikalität von (85a) erklären kann. Diesmal genügen die diathetischen Manipulationen nämlich den striktesten Lokalitätsanforderungen, wie das folgende Schaubild zeigt: (87)

verprügeln V.

gelassen

wurd-

Keine Kasusrektion! Es scheint so zu sein, daß man dieselbe Operation in einem Verbalkomplex nicht wiederholen darf, hier die zweimalige Kasusabsorption. Ganz in dieses Bild paßt, daß man nicht doppelt morphologisch kausativieren darf, wie in Abschnitt 3.3 bereits angemerkt wurde. Dies bedeutet, daß man sich alle diathetischen Operationen merken muß, die man durchgeführt hat. Das ist nur möglich, wenn höhere diathetische Operationen sich alle tieferen Indizes anschauen können. Diese Generalisierung hat zwar eine Chance, richtig zu sein. Sie erfaßt aber die Passivierungsmöglichkeiten von lassen noch nicht vollständig, worauf mich Irene Heim hingewiesen hat. Die für lassen einschlägige Regel scheint vielmehr diese zu sein: Lassen läßt sich nur dann passivieren, wenn das unter lassen eingebettete Verb unakkusativisch im Sinn von Perlmutter (1978) ist, d.h., wenn es kein externes Argument hat. Dazu die folgenden Belege: (88)

a. b. c. d.

f\

· Die Schüler wurden singen gelassen · · Die Domestiquen wurden auf die Jagd gehen gelassen *Die Domestiquen wurden dem Grafen helfen gelassen *Die Domestiquen wurden den Insultanten verprügeln gelassen

nn

Kompositionsprinzipien

209

Die unter lassen eingebetteten Verben der Liste (88) haben sämtlich ein externes Argument. Die Sätze sind sämtlich ungrammatisch, wobei noch einiges über die Graduierung der Abweichung zu sagen wäre. Dagegen sind die entsprechenden Verben in den folgenden Beispielen unakkusativisch: (89)

a. b. c.

Der Hammer wurde fallen gelassen *Ein Arzt wurde kommen gelassen Der Mantel wurde in der Ecke liegen gelassen.

Diese Daten zeigen, daß sich die Kasusblockierungsfunktion des passivischen werden nicht nur die regierten Kasus der subordinierten Verben anschaut, sondern auch deren Argumentstruktur. Aber auch hier genügt es nicht, die Argumentstruktur des nächsten Subordinatums zu betrachten. Man muß noch eins tiefer gehen. Die Ungrammatikalität von (89b) ist allerdings durch die genannte Hypothese nicht erklärt. Damit scheidet die restriktivere Variante des Absorptionsmechanismus aus, so unbefriedigend das auch sein mag. Zur Abrundung der Diskussion geben wir nun noch die relevante Analyse für das Beispiel (89a) an (89)

a1.

Der Hammer [yp [VP [s t' [vp ' li]] ^1 fallenrgelassen2-werd] INFL

fallen ist ergativ und weist seinem Objekt t überhaupt keinen Kasus zu. Folglich muß der Hammer an die Subjektstelle t' angehoben werden. Das nützt noch nichts, denn lassen ist passiviert und kann deswegen keinen Akkusativ von oben zuweisen. Deswegen müssen wir bis zum Matrixsubjekt anheben (oder dort expletives pro annehmen, das den Nominativ nach unten über Kongruenz vererbt). Offenbar widerspricht dieses Beispiel keiner der beiden genannten Generalisierungen für Kasusabsorption. Das Fazit dieser Diskussion ist, daß wir es versuchsweise bei der stärkeren Version des Absorptionsmechanismus belassen. Wir illustrieren am Ende dieses Abschnittes die unter (78) aufgelisteten Leitlinien für Kasusrektionsvererbung. Die klassischen Beispiele dafür, daß Vollverben die Rektionseigenschaften des Incorporatums blockieren, sind N- und P-Inkorporation (Applikation). Einen typischen Fall von N-Inkorporation stellt das Possessorstranden im Oneida dar (vgl. Baker 1988:111): (90)

a.

Wa-Ai-nuhs-ahni:nu: John PRÄT-lsS/#M-/fa«s-kauf John Ich [hauspkaufe] [j^p den John tj] 'Ich kaufe John das Haus ab'

Nach Inkorporation des N-Kopfes kann dieser dem Possesor keinen strukturellen Kasus mehr zuweisen. Deswegen erhält der Possessor Akkusativ vom Verb.

210

Arnün von Stechow

Das Possessorstanden ist ein sehr aufschlußreiches Beispiel für die Kompositionalitätsproblematik: Der Possessor ist in keinem vernünftigen Sinne ein Argument des Matrixverbs, sondern der eingebetteten NP. Es dürfte technisch aufwendig und vor allem undurchsichtig sein, eine kompositionale Semantik zu formulieren, die davon ausgeht, daß das Oberflächenobjekt den John ein Argument von hauskaufen ist. Man müßte ungefähr sagen: [haus kaufen]' trifft auf ein Subjekt a und ein Objekt b zu wenn das Ding kauft', welches ein Haus' ist und zu dem b in der Possessorrelation steht. De facto hat man hier den Possessor wieder in das Nomen zurückbewegt. Das tut man am besten vor der Interpretation. Das Applikativ funktioniert nach dem folgenden Muster: (91)

a. b.

Zibbede goß Wasser auf (bei!) die Blumen Zibbede [be^oB] [PP t t die Blumen] mit Wasser

(92)

a. b.

Haukaropa zog einen schwarzen Firnis über den Streitkolben Haukaropa [überzog] [PP tj den Streitkolben] mit einem schwarzen Firnis.

Wenn die Kasusrektion der Präposition nicht absorbiert würde, sollte das Applikatiwerb, d.h. das Verb mit der inkorporierten Präposition zwei Kasus regieren. Das ist aber nicht der Fall. Man kann sich darüber streiten, ob die deutschen Beispiele so zu analysieren sind. Die Beispiele für Applikativierung aus exotischen Sprachen sind jedenfalls genau nach diesem Muster gebaut. Man kann das Deutsche zumindest als Anschauungsmaterial für diesen Prozeß hernehmen. Reiche Belege für den Prozeß findet man in Baker (1988). Kommen wir nun zur Verbinkorporation. Wie schon gesagt, sind die funktionalen Kategorien I und C voll durchlässig für Kasusrektion (vgl. dazu Müller 1989). Ein klassisches Beispiel ist V-I-C-Bewegung im Deutschen: Hier regiert nach wie vor die Spur den Kasus des Objekts. Interessanter sind die Kategorien, bei denen differenziert werden muß, was Rektionsdurchlässigkeit betrifft. (93)

a. b. c.

der [^ [y? seine Frau tj] ^ liebj-ende]] Edelmann der [^ [vi> seiner Tante t t ] [^ helfj-ende]] Neffe der [^ [ ? unserer Helden tj] ^ gedenkj-ende]] Generalkonsul

Die regierten Kasus des Partizips kommen offensichtlich vom Stamm. Das Partizip selbst ist adjektivisch. Also muß sein Kopf ein rektionsdurchlässiges A sein. Dies führt zu den folgenden Lexikoneinträgen für die Partizipialendung: (94)

-(e)nd- ist ein A, welches VP c-selegiert und V m-selegiert. Es ist rektionsdurchlässig.

Betrachten wir nun die Kategorie N. Hier müssen wir differenzieren. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, gibt es im Koreanischen Suffixe der Kategorie N, die rektions-

Kompositionsprinzipien

211

durchlässig sind. Im Englischen scheint die Kategorie N optional Kasusrektion zu blockieren, im Deutschen dagegen wohl obligatorisch. Dies sieht man an Nominalisierungen von Verben, die man in diesem Ansatz als Inkorporation in eine phonetisch leere Kategorie N analysieren wird. (95)

a. a'. b. b'. b".

John's [N. fo readingt N] [w t t the book]] John's [N. (^ reading! N] [yp t t of the book]] *das [N. [N Lesen2 N] [w ^ das Buch]] das [N. [N Lesen2 N] [yp tj des Buches]] das [N. [N [v [in die Ecke] schmeißen]; ] [ ? des Buches t;]]

In (95a) wird Akkusativ an die Spur vererbt. In (95a') regiert die Spur keinen Kasus, weshalb of "eingesetzt" werden muß, damit das Objekt einen Kasus erhält. (Vgl. zur "o/-Einsetzung" die einschlägigen Passagen aus Chomsky 1981.) Für die syntaktische Natur dieser Nominalisierungen spricht, daß man im Deutschen genau die "engen" Erweiterungen des Verbs - hier ein Direktional -, die nach unserer Hypothese in das Verb inkorporiert sind (vgl. Abschnitt 3.4.), auch bei der Nominalisierung wiederfindet. Als Ergebnis dieses Abschnittes halten wir folgendes fest. Es scheint, daß auch ein syntaktischer Ansatz nicht um die Probleme herum kommt, einen Mechanismus für die Vererbung von Rektionseigenschaften im Wort auszubuchstabieren. In dieser Hinsicht muß er genau dasselbe tun wie ein Lexikalist, der die komplexen Wörter basisgeneriert. Der Vorteil des Ansatzes ist aber, daß die Kasus "ordentlich" zugewiesen werden können. Wer mit einem flachen, lexikalistischen Ansatz arbeiten möchte, muß dagegen die Kasus mitsamt ihren Indizes an die Argumente des Verbkomplexes zuweisen. Mit Sicherheit wird übrigens auch ein solcher Ansatz die in dem syntaktischen Ansatz verfügbare Information, daß der Kausatus ein Subjekt ist, nachspielen müssen.

5. Koanalyse? In diesem Abschnitt betrachte ich zwei Beispiele, die Di Sciullo/Williams (1987) dazu motiviert haben, die Autonomiethese zugunsten einer sogenannten Koanalyse aufzuweichen. Die Koanalyse ist im Zusammenhang mit der Verbprojektionsanhebung des Schweizerdeutschen und Westflämischen auch von Haegemann/Riemsdijk (1986) vertreten worden und in von Stechow/Sternefeld (1988) ausführlich kritisiert worden. Die Argumente werden hier nicht wiederholt. Wir bringen hier andere Einwände und eruieren unter anderem die Möglichkeit, wie ein konsequenter Lexikalist die Koanalyse ganz vermeiden könnte. Das erste Phänomen ist die Reflexivierung im Japanischen und Koreanischen. Die von den meisten Linguisten akzeptierte - und in der Tat einfachste - Regel ist die folgende: (96)

Das Reflexivpronomen (jap. zibun, kor. cati) ist durch ein übergeordnetes Subjekt gebunden.

Arnim von Stechow

212

Das bindende Subjekt muß sich keineswegs in demselben Satz befinden. Es kann das Subjekt irgendeines übergeordneten Satzes sein. Für kausativierte Verben bedeutet dies, daß im Japanischen oder Koreanischen eine Konstellation wie die folgenden grammatisch ist: (97)

Cholsu; sagte, daß Yongij sichi/5 lachen-machte (japanisch/koreanisch)

Wir können diese Art von Reflexivbezug nicht lexikalisch behandeln, da Cholsu kein Koargument des komplexen Verbs lachen-machen ist. Also müssen wir die grammatische Funktion Subjekt wohl konfigurationeil definieren, z.B. als die von S unmittelbar dominierte NP (Chomsky 1981) oder als "die nächste" VP-externe NP oder PP" (Williams 1984). Das "logische Subjekt" eines kausativierten Verbs kann nun ebenfalls ein Reflexiv binden: (98)

Cholsu j Yongij sich^ hassen-macht (jap./kor.)

Bei einer lexikalischen Analyse ist der Kausatus aber nicht VP-extem, sondern VP-intera: Yongi ist das zweite Objekt von hassen-machen. Aus diesem Grunde nehmen Di Sciullo/Williams eine zweite Struktur für den Satz an, in welcher der Causatus VP extern ist. Dieses Vorgehen, das Koanalyse heißt, fuhrt zu dem folgenden Gebilde:

(99)

NP Cholsu-NOM NP

PP Yongi-DAT PP

NP sich-AKK NP

V V hassen-macht V V

Wir gehen hier nicht auf das Problem ein, wieso Di Sciullo/Williams (1987:94) das Dativobjekt im Japanischen als PP analysieren. Es gibt nach unserer Meinung keinen zwingenden Grund zu der Annahme, daß das Dativsuffix für die suffigierte NP einen anderen kategorialen Status als der Nominativ oder der Akkusativ induziert. Dies Detail ist aber nicht wesentlich. Wichtig ist, daß das Reflexiv nur in der unteren Struktur korrekt gebunden ist. Die obere Struktur ist durch die Atomizitätsthese diktiert: Da im Koreanischen und Japanischen das Kausativsuffix -Id bzw. -(s)ase ein gebundenes Morphem ist, muß "hassen-machen" ein syntaktisches Atom sein. Diese Konsequenz steht im Widerspruch zu den Erfordernissen einer optimal einfachen Reflexivierungsregel. Daher die Notwendigkeit zur unteren Struktur.

Kompositionsprinzipien

213

Damit die untere Struktur der Atomizitätsthese nicht widerspricht, müssen Di Sciullo/Williams noch verlangen, daß das Kausativierungsmorphem neben seinem Charakter als Affix auch noch die Kategorie eines Wortes hat. In gewisser Weise wird alleine durch diese Stipulation die Atomizitätshypothese aufgeweicht: Bestimmte Suffixe sind eben doch für syntaktische Prinzipien sichtbar. Man kommt anscheinend nicht darum herum, unterschiedliche Repräsentationen für unterschiedliche grammatische Prinzipien anzunehmen. Die Frage, um die es geht, ist, wie die beiden Strukturebenen verbunden sind, "autosegmental", wie eben vorgeführt, oder durch die Transfonnationsbeziehung Bewege-a. Ein weiteres Phänomen, welches Konanalyse motiviert, ist die Nominalisierung von finiten Sätzen im Koreanischen. Betrachte dazu die folgenden Daten (zitiert nach Kang 1988): (100)

a. Cholsuu-ka kuu chaek-ul ilk-ki-nun Cholsu-NOM dasBuch-AKK les-NOM-FOK Cholsu las dies Buch (VP fokussiert) b. Cholsuu-ka Yongi-ka ku chaek-ul Cholsu-NOM Yongi-NOM dies Buch-AKK pala-oss-ta hoff-PRÄT-DEC Cholsu hofft, daß Yongi dies Buch gelesen hat

ha-ess-ta tun-PRÄT-DEC ilk-oss-ki-lul les-PRÄT-NOM-AKK

Im ersten Fall ist eine VP durch das Suffix -Id nominalisiert worden, das mit dem Fokusmarkierer -nun versehen worden ist. In (b) ist ein vollständiger Satz nominalisiert worden, der den Kasus des direkten Objektes Akkusativ trägt. Im Koreanischen erscheinen Nominativ und Akkusativ nicht vor -nun. Man nimmt gemeinhin an, daß diese Kasus vor -nun durch eine PFRegel getilgt werden (vgl. z.B. Kang 1988). Für diese Daten ist es noch klarer als bei den vorher diskutierten Kausativierungen, daß die Phrasengrenzen mitten durch ein komplexes Wort laufen. Wir verdeutlichen dies an Beispiel (b):

214

Arnim von Stechow

(101)

N

Cholsu-ka NP

Yongi-ka NP

ku chaek-ul NP

V ilk-oss-ki-lul V

pala-oss-ta V I C

Die obere Struktur zeigt die morphologische Struktur des komplexen Nomens ilk-oss-ki-lul "les-PRÄT-NOM-AKK", während die untere Struktur im Einklang mit Bakers UTAH und mit der einfachen Kasustheorie steht, die im vorausgegangenen Abschnitt skizziert wurde. Das Wesentliche ist, daß struktureller Akkusativ und Nominativ nicht von Nomina regiert werden, sondern von V bzw. INFL. Für die Kasusrektion benötigt man also die untere Struktur. In der Literatur ist allgemein akzeptiert, daß das komplexe Nomen ein Wort bildet: Die Morpheme -oss, -Id und -(l)ul sind gebundene Morpheme. Für die Vertreter der Atomizitätsthese stellt sich damit die Frage, wie man zu der unteren Struktur kommen kann. Di Sciullo/Williams (1987) gehen einen anderen Weg und sagen zu analogen Konstruktionen des Hopi und Quechua auf S. 96 f. folgendes: Das Suffix -ki ist mehrdeutig. Einmal ist es ein Verbalsuffix, das den kategorialen Status des Stammes nicht ändert. Zum anderen soll ki ein (degeneriertes) Nomen sein und kann als solches Kasus tragen. Diese Annahmen führen zu der folgenden Koanalyse:

Kompositionsprinzipien

215

(102)

NP Cholsu-ka

Dieser Ansatz setzt voraus, daß manche Affixe die Kategorie nicht verändern. In der unteren Analyse wird -ki als ein Verbalsuffix angesehen, das die Kategorie V nicht verändert. Di Sciullo/Williams schweigen sich leider darüber aus, welchen Status das Akkusativsuffix hat. Es scheint mir völlig unplausibel, anzunehmen, daß es ein Verbalsuffix sein kann. Verben haben keinen Kasus im Koreanischen. Könnten sie übrigens einen haben, dann wäre die obere Struktur unnötig, denn diese wird ja nur benötigt, weil das Kasusmorphem ein N als Träger benötigt. Man kann den Akkusativ in der unteren Struktur also nicht brauchen. Vielleicht sind dies die Gründe, weshalb das Akkusativmorphem für die untere Analyse von den beiden Autoren schlicht ignoriert wird. In der oberen Analyse ist dagegen -Id ein eigenständiges N. Meines Erachtens kann das Akkusativmorphem in der unteren Struktur also überhaupt nicht untergebracht werden. Damit ist Di Sciullo/Williams1 Analyse hier defektiv, und ich kann auch nicht sehen, wie sie repariert werden kann. Generell möchte ich zu dem Vorgehen folgendes bemerken. Es ist sicher richtig, daß in agglutinierenden Sprachen wie dem Koreanischen die Suffixe die entscheidenden Mittel sind, welche die syntaktische Struktur induzieren. Insofern kann nach meiner Meinung kein Zweifel bestehen, daß das Suffix -Id tatsächlich eine N-Projektion induziert. Es gibt aber keinerlei Anzeichen für eine kategoriale Mehrdeutigkeit dieses Suffixes, die eine strukturelle Mehrdeutigkeit des komplexen Nomens ilk-oss-Jd-lul zur Folge hätte. Die Selektionseigenschaften von -ki sind nach meiner Meinung vielmehr die folgenden:

216

(103)

Arnim von Stechow

-Id ist ein N, welches I m-selegiert, aber IP c-selegiert.

Alles andere ergibt sich dann sofort aus der Bakerschen Theorie mit den genannten Modifikationen zur Kasusrektion. Wir müssen freilich annehmen, daß -Id für Kasusrektion durchlässig ist. Die einzig wirklich konsequente Reaktion eines Atomisten wäre nach meiner Meinung, die Existenz von nominalisierten Sätzen zu bestreiten und ilk-oss-ki-lul als ein syntaktisch atomares N anzusetzen. Auf der Sommerschule in Hamburg haben sich M. Bierwisch und D. Wunderlich dieser Position auch sofort angeschlossen. Die Prinzipien der X-bar-Theorie legen dann fest, daß der diskutierte koreanische Satz die folgende Struktur hat: (104)

Cholsu-ka NP.

Yongi-ka NP.

kuchaek-ul NP.

ilk-oss-ki-lul N

pala-oss-ta V

Diese Analyse zwingt zu der Annahme, daß das komplexe Nomen die Rektionseigenschaften der finiten Derivationsbasis erbt, also den Akkusativ und den Nominativ regieren kann. Man muß zugeben, daß auch die von mir vertretene Kasustheorie für die Überprüfung der Rektionsübertragung letztlich eben diese Annahme machen muß. Insofern liegt keine zusätzliche Komplikation vor. Die Nachteile des Vorgehens sind schon genannt worden: Wir müssen auf eine einheitliche strukturelle Definition der grammatischen Funktionen Subjekt und Objekt verzichten. Ferner gibt es nicht mehr die einfachen Regeln für strukturellen Nominativ, Akkusativ und Dativ. Dies sind vermutlich die Gründe, weshalb der Atomist Williams hier von der konsequenten atomistischen Linie abweicht. Wir stehen also vor dem folgenden Dilemma: Im Falle von Kausativierungskonstruktionen legen bindungstheoretische Überlegungen eine Strukturierung nahe, die der quer durch das Wort verläuft, die also gegen Atomizitätsthese verstößt. Die Kasuszuweisung verlangt dagegen die vom komplexen Verb induzierte Struktur, die im Einklang mit der Atomizitätsthese steht. Bei den Nominalisierungsdaten motivieren dagegen kasustheoretische Überlegungen eine Struktur, die das Wort zerschneidet. Damit müßte die Kasustheorie für verschiedene Konstruktionstypen auf verschiedenen Strukturebenen operieren, für Kausativierungen auf der durch das komplexe Verb induzierten Struktur, für Nominalisierungen auf der durch die Suffixe induzierten Struktur. Dies ist ein weiteres CONTRA gegen die Idee der Koanalyse.

Kompositionsprinzipien

217

Wie Baker (1988, Kapitel 8) bemerkt, ist das grundsätzliche Problem aller Koanalyseansätze, daß bisher eine Rahmentheorie fehlt, die genau sagt, welche Prinzipien auf welche der beiden Strukturen angewandt werden. Wie Baker (loc. cit.) außerdem zurecht feststellt, spricht die hier vorgeführte Koanalyse gegen den "autolexikalischen" Ansatz Sadocks (1985) - eine der frühesten und technisch am detailliertesten durchgeführten Theorien der Koanalyse -, wonach in der "oberen" Struktur nur die morphologischen Strukturen der involvierten Wörter repräsentiert werden, die aber keine Projektionen aufbauen. Dieser Ansatz ist mit einer einfachen Kasustheorie nicht vereinbar: Die Kasustheorie verlangt eine obere Struktur mit Projektionen, wenn man annimmt, daß struktureller Dativ innerhalb der Projektion von V zugewiesen wird. Man scheint also um zwei verschiedene, sich in gewisser Weise widersprechende, syntaktische Strukturierungen nicht herumzukommen. Wenn dem wirklich so ist, dann ist die Bakersche Theorie die einfachste, da es klare Prinzipien gibt, die die beiden Strukturen vermitteln, nämlich Inkorporation und der Lasnik-Filter.

6. Inkorporation im Deutschen 6.1. Offene und abstrakte Inkorporation Offene Inkorporation haben wir zur Genüge kennengelernt. Baker nimmt nun auch abstrakte Inkorporation an: "Inkorporation ohne Inkorporation". Ein solcher Fall liegt zum Beispiel bei der Passivierung eines Verbs im Deutschen vor, wenn wir annehmen, daß Kasusabsorption Inkorporation voraussetzt. Das Problem, das sich hier stellt, ist dieses: Wir können im Deutschen in solchen Fällen zwar einen Verbalkomplex bilden, aber wir müssen es nicht: (105)

[Viel gelobt] wurde ob dieser Rede der listenreiche Sohn des Laertes.

Das Partizip ist hier mitsamt einem Adjunkt in das Vorfeld bewegt worden, ist also sicher nicht offen in das Matrixverb inkorporiert worden. Wir werden aber auch für diese Fälle abstrakte Inkorporation annehmen, die durch Koindizierung ausgedrückt wird. Baker und mit ihm Müller (1989) nehmen an, daß diese Inkorporation erst in der logischen Form stattfindet. Ich stelle mir das ein wenig anders vor: Da abstrakte Inkorporation Auswirkungen auf die Kasuszuweisung hat und die Kasuszuweisung auf der S-Struktur geprüft wird, scheint es günstiger zu sein, daß auf der Struktur bereits inkorporiert wurde, das Incorporatum aber an der Stelle der Spur stehen gelassen wurde. Wir wollen dies so darstellen: (106)

[VP [vp Odysseus viel gelobt^ [v absj werd]]

Mit anderen Worte, gelobt1 ist die V-Spur, und absl ist das inkorporierte Verb. Das mag abenteuerlich klingen, ist aber genau die Bakersche Konfiguration und führt nach meiner Erfahrung zur einfachsten Theorie.

218

Arnim von Stechow

Die in der generativen Literatur allgemein akzeptierte Theorie des Passivs, wonach das Partizip eine Passivmorphologie hat, die den Kasus absorbiert, ist nach meiner Meinung mindestens ebenso problematisch: Im Deutschen und Englischen gibt es keinen morphologischen Unterschied zwischen participia activi und passivi. Ein weiteres Problem für den Standardansatz ist die Existenz des Dativpassivs (Sie kriegt/bekommt die Zähne gezogen). Man müßte hier eine andere Passivmorphologie annehmen als für das Akkusativpassiv. Der natürliche Ansatz ist nach meiner Meinung, daß das Hilfeverb den Kasus absorbiert. In der hier entwickelten Theorie setzt dies Inkorporation des Subordinatums voraus. In von Stechow (1988) wurde mit einem Absorptionsmerkmal gearbeitet, das dem untergeordneten Verb zugewiesen wurde. Die Struktur für unser Beispiel (105) sieht deshalb so aus: (107)

[CP [VP t4 viel gelobt^ [c [c [, [v ^bsl werd2] I3]] C] [IP Odysseus4 [,- [VP ts t2] t3]]]]

gelobt ist also abstrakt in werd- inkorporiert. Dieser Komplex wandert über INFL nach COMP. Das D-Objekt Odysseus ist nach Specl angehoben worden. Die unter werd- eingebettete VP wird nach SpecC bewegt. Für die spätere Argumentation wird wichtig, daß wir es erlauben, eine VP mit abstrakt inkorporiertem Kopf in das Vorfeld zu bewegen. Man beachte übrigens, daß auch in Chomsky (1986a) ein Hilfsverb jeweils mit dem subordinierten Verb oder Hilfsverb koindiziert wird, um die VP für NP-Bewegung durchlässig zu machen. Chomsky interpretiert diese Koindizierung als "abstrakte Kongruenz". Hier wird diese Beziehung als abstrakte (zuweilen sogar offene) Inkorporation interpretiert, die mit Statusrektion zusammenhängt (vgl. dazu Sternefeld 1990a). Wir kommen in Abschnitt 6.3. noch einmal daraus zu sprechen.

6.2. Klammerparadoxe Die Inkorporationstheorie gibt uns den Schlüssel zur Analyse der in der Literatur seit langem diskutierten Klammerparadoxe (Moortgat 1988, Pesetsky 1985, Di Sciullo/Williams 1987). (108)

a. b. c. d.

transformational grammarian gekochte Schinkenplatte der Beliebtheitsgrad Edes bei den Studenten BMW-Besitzer der 7er-Reihe mit 80 Elektromotoren (Beispiel von Ch. Dütschmann)

Die Strukturen dazu sind die folgenden:

(109)

a.

[N. [N. transformational t^ [N grammar,-ian]]

Kompositionsprinzipien b

·

219

[N- [N- gekochte tj] [N [N Schinken]; platte]]] N1

c. N

NP

2

Beliebt-heits

bei den Studenten

Die Analyse von Dütschmanns Beispiel Oberlasse ich dem Leser. Die beiden ersten Beispiele sind völlig analog. Das deutsche Beispiel scheint zunächst für eine lexikalische Lösung zu sprechen: Das Adjektiv kongruiert ja mit dem Kopf des Kompositums, nicht aber mit dem Inkorporatum, welches es modifiziert: (110)

* gekochter Schinkenplatte

Wir erinnern aber daran, daß ein inkorporiertes N seine Rektionseigenschaften immer verliert. Insbesondere hat die N-Spur überhaupt keinen Kasus. Deswegen ist auch keine Kasuskongruenz möglich. Der Kopf errichtet aber keine Barriere für Kasusrektion. Unter diesen Bedingungen ist offenbar auch Kongruenz möglich. Die Möglichkeit solcher Bildungen wie (108c) ist meines Erachtens ein starkes Argument für den modularen Ansatz. Es ist ziemlich hoffnungslos, die Bezüge dieser Konfiguration lexikalisch nachzuspielen. Eine Theorie, welche die Wonbildung in der Syntax erlaubt, hat hier keine Probleme. Wir greifen nun ein weiteres Klammerparadox auf, nämlich die bar-Passive. Wir referieren zunächst Moortgats (1988) lexikalische Lösung, die im Rahmen einer verallgemeinerten Kategorialgrammatik formuliert worden ist. (111)

a. b.

tevreden+heit met de soep vergelijk+baar met wijn

Durch "nichtharmonische" Funktionalkomposition - hier als FC* symbolisiert - wird das präpositionale Objekt des Stammes "vergleich-" nach außen vererbt:

220

(112)

Arnün von Stechow

vergelijk TV/PP

baar TV\A

metwijn

ME-FA A

Die Semantik des Passivsuffixes -baar kann man sich als )jc.möglich'ßyTV'(y,x)) vorstellen. Wie aber schon (Kayne 1984, p. 140) festgestellt hat, haben alle lexikalischen Analysen mit dem Problem zu kämpfen, daß es bei englischen aWe-Passiven Präpositionsstranden gibt: (113)

a. b.

The existence of stranded prepositions is not accountable for under Moortgat's assumptions. This book is readable by a 10-year old.

Eine Inkorporationsanalyse kann mit diesem Phänomen ohne weiteres fertig werden: (114)

The existence of stranded prepositions3 is not [^ [A [v account2-abst]

for wird zunächst abstrakt in das Verb account- inkorporiert. Das komplexe Verb wird in das A -able inkorporiert, -able regiert keinen Kasus. Die Kasusrektion von for ist durch Inkorporation verloren gegangen. Also muß das D-Objekt an die Subjektposition angehoben werden.

6.3. Kohärenz: Scrambling, Extraposition, Fernpassiv In diesem Absatz diskutieren wir einige Probleme der kohärenten Konstruktionen des Deutschen. In von Stechow/Sternefeld (1988) wurde noch mit Reanalyse gearbeitet. Ein Problem des Ansatzes war, daß PRO nicht projiziert werden konnte und deshalb das Projektionsprinzip aufgeweicht werden mußte. Die Bakersche Theorie, die in Stemefeld (1989) und (1990a) auf das Deutsche übertragen wurde, erlaubt es, PRO beizubehalten. Die wesentlichen Annahmen im Sinne Bakers (1988) sind die folgenden. (115)

a.

b.

Kohärente Kontrollverben betten CP mit leerem Kopf ein. Dieser errichtet eine Minimalitätsbarriere, die das PÄO-Subjekt gegen Rektion von außen schützt. Anhebungsverben und ECM Verben erlauben es, C zu tilgen, ohne ansonsten die Struktur von CP zu verändern, d.h. SpecC wird beibehalten. C kann nun keine Minimalitätsbarriere mehr errichten und die Kombination CP+IP wird rektionsdurchlässig.

Kompositionsprinzipien

c.

221

SpecC ist für Rektion von außen zugänglich. In dieser Position kann also der Status eines subordinierten Verbs im Sinne Bechs (1955/57) regiert werden.

Eine Konstruktion mit einem kohärenten Kontrollverb sieht nun etwa so aus: (116)

der Förster [cp [yp die Tanne fällen], [c [c e] [ff PRO VP,]]] wollte

Die VP ist nach SpecC bewegt worden, die IP also völlig entleert, wollen regiert hier korrekt den ersten Status von fällen, PRO ist nicht regiert und die Tanne kann aus dieser Position über das Subjekt gescrambelt werden, weil weder VP noch CP eine Barriere ist. Man beachte, daß der Komplementierer [c e] für den sogenannten Doppel-COMP-Filter [=DCF] nicht sichtbar sein darf. Dagegen ist der leere Komplementierer von satzwertigen Infinitivkomplementen inkohärenter Verben - in von Stechow/Sternefeld (1988, Kap. 11) als [c 0] symbolisiert - für den Filter sichtbar. Aus diesem Grund darf in diesem Fall VP nicht nach SpecC bewegt werden. Wäre dies möglich, könnte man scrambeln: (117)

??

[!p den Baunij [„> der Förster [cp [VP tj zu fällen]; [c. [c 0] [IP PRO VPJ]] zauderte]] DCF!

Es mag sein, daß die Verletzung des DCF bei 0-COMP keine besonders starke Ungrammatikalität hervorruft. Viele Sprecher akzeptieren Scrambeln aus einem zu-Infinitiv im Mittelfeld praktisch für jedes Verb. Da man im Fall von wollen mit einem leeren I-Kopf für den eingebetteten Satz arbeiten mußte, liegt es auf der Hand, dies bei 2w-Infinitiven ebenfalls zu tun. Kurzum, ich kehre hier zu der klassischen Auffassung Bechs zurück, daß die Präposition zu ein Teil des Supinums ist. Damit entfällt das leidige Problem, zu senken zu müssen (vgl. dazu von Stechow/Sternefeld (1988, 350 ff.)). Würde man das Verb nach zu bewegen, müßte man Vorkehrung treffen, daß PRO nicht in den Rektionsbereich des Verbs gerät. Das scheint in dieser Theorie nicht ausgeschlossen zu sein, weil das Verb nach wie vor PRO nicht kasusregiert. Wir wollen diesen Punkt aber nicht weiter verfolgen. Kohärentes wünschen wird also folgendermaßen konstruiert. (118)

der Förster [^ [yp die Tanne zu fällen], [c [c e] [ff PRO W,]]] wünschte

Die für Kohärenz maßgebliche Selektionseigenschaften sehen also wie folgt aus: (119)

a. b.

wollen und wünschen c-selegieren CP wollen regiert den ersten Status (= 0-Infmitiv), wünschen den zweiten (= zuInfinitiv)

222

Amim von Stechow

Tilman Höhle hat mich auf ein Problem für diesen Ansatz hingewiesen (persönliche Mitteilung): "Auch ist nicht ganz zu sehen, warum ein Verb (eine durch Scrambling entleerte VP) im Vorfeld, aber nicht im eingebetteten SpecC stehen kann: (120)

a. b.

Zu füttern habe ich den Hund versucht *daß ich zu füttern den Hund versucht habe"

Höhle hat die folgende Struktur im Auge: (120)

c.

ich [Cp [vp tj zu füttern]^ C [ff PRO [y? den Hundj t2]]] versucht habe

Der ungrammatische Satz (120b) läßt sich zunächst folgendermaßen herleiten: (121) 0. 1. 2.

3. 4.

5.

Erste Ableitung von Hohles Satz D-Struktur [CP [IP Karl [cp PRO den Hund zu füttern] versucht hat]] Die CP wird vor das Subjekt gescrambelt: [CP [IP [CP PRO [up den Hund] zu füttern]! [IP Karl t x versucht hat]]] Aus der VP in der eingebetteten CP wird das Objekt den Hund ins Mittelfeld dieser CP gescrambelt: [CP [IP [CP PRO [VP [NP den Hund^ [yp % zu füttem]]]1 [jP Karl t t versucht hat]]] Die teilweise entleerte VP wird nach SpecC gebracht: [CP [VP *2 z" ruttern]3 [c C [|P PRO [yp \^f den Hund]2 t3]]x [1P Karl t t versucht hat]]]] Das Subjekt Karl wird vor die CP gescrambelt: [CP Karl4 [CP [VP *2 zu füttem]3 [c C [IP PRO [ [^ den Hund]2t^ QP t4 tj versucht hat]]]]] Die subordinierte VP wird vor Karl gescrambelt: [CP [VP [h zu fiitternfc [CP Karl4 [CT t3' [c C Qp PRO [yp [NP den Hund]2 t^ [„, t4 ^ versucht hat]]]]]]

Das Beispiel zeigt eindrucksvoll, wohin ein zu wenig beschränktes Scrambling führen kann. Die Operation ist in der Tat so beschaffen, daß man im Nu einen Abschluß unter Permutation erhält. Die erste Einschränkung, die für Scrambling in der Literatur formuliert worden ist, ist das schon auf Ross1 Dissertation zurückgehende Freezing-Prinzip: (122)

Aus einer gescrambelten Phrase darf nichts herausbewegt werden (Webelhuth 1989).

Das Freezing-Prinzip ist nun offensichtlich in Schritt 5 der Ableitung verletzt, denn die VP ist aus einer gescrambelten CP herausbewegt worden.

Komposaionsprinzipien

223

Als ein zentrales Prinzip für Scrambeln werde ich femer das folgende auf Müller (1989) zurückgehende Prinzip der eindeutige Spurenbindung (PUB) = Principle of unambiguous binding) voraussetzen:

(123)

PUB Eine Spur darf nicht ein Antezedens sowohl in Adjunktionsposition als auch in Spezifikatorposition haben.

Dieses Prinzip, das mit der Barrierentheorie Chomskys (1986a) nicht vereinbar ist, bedarf einer sorgfältigen Motivation, für die auf die zitierte Arbeit von Müller verwiesen wird. Das Prinzip trennt die Prozesse der W-Bewegung und des Scrambling jedenfalls vollständig. In unserer Ableitung für Hohles Satz ist das PUB ebenfalls in Schritt 5 verletzt, denn die VP-Spur t3 ist sowohl von der Spur t3' in Spezifikatorposition gebunden als auch von dem IPAdjunkt [t2 zu füttern]3. Die Ableitung ist also aus zwei Gründen nicht möglich. (124) 0. 1. 2.

3.

Zweite Ableitung von Höhlers Ärgernis D-Struktur: [CP [ip Karl [cp PRO den Hund zu füttern] versucht hat]] Die VP den Hund zu futtern wird nach SpecC der eingebetteten CP gebracht: [CP [y Karl [cp [VP den Hund zu füttern]! PRO t t ] versucht hat]] Das Objekt den Hund wird ins Mittelfeld gescrambelt, an die VP der oberen CP adjungiert: [CP [IP K3·"! [vp [NP den Hund]2 [vp [cp [VP *2 *& füttern]! PRO t t ] versucht hat]]]] Die CP wird vor das Subjekt gescrambelt: [CP [n· [CP [VP »2 zu füttern]! PRO tt]3 [jp Karl [vp [NP den Hund]2 [vp tj versucht hat]]]]

Man könnte argumentieren, daß Schritt 3 der Ableitung das Freezing-Prinzip verletzt, denn den Hund ist aus der gescrambelten CP herausbewegt. Stellt man sich Bewegung jedoch dynamisch vor, dann ist dem nicht so: Nachdem CP gescrambelt worden ist, wird nichts mehr herausbewegt. Mir scheint eine Lösung sicherer, die auch mit der dynamischen Auffassung von Bewegung verträglich ist. Ein rein deskriptive Lösung des Problems besteht darin, daß SpecC bei CP mit leerem Komplementierer immer rechts steht. Dies ist nach meiner Erinnerung von Baker vorgeschlagen worden. Damit ließe sich Hohles Satz nicht mehr herleiten. Dieser Ausweg ist aber nicht besonders befriedigend, solange man keine Erklärung dafür hat, daß offene Komplementierer links, phonetisch leere dagegen rechts stehen. Eine prinzipiellere Antwort scheint mir zu sein, daß kohärente Verben das subordinierte Verb nicht nur statusregieren, sondern abstrakt oder offen inkorporieren. Sie würden sich also vollständig parallel zu den Konverben des Koreanischen und Japanischen verhalten. Demnach würde der problematische Schritt 3 der Ableitung (124) folgendermaßen aussehen: (125)

*Karl [Q, [tj zu füttern4]i C PRO ^]3 [vp den Hundj [vp t3 [abs4 versucht]]] hat

224

Arnim von Stechow

In dieser Struktur ist aber das ECP verletzt: Die "Spur" zufüttern4 ist sicher nicht strikt durch abs4 regiert, da sie in einem Adjunkt zu VP steht. Diese Erklärung setzt freilich voraus, daß gescrambelte Phrasen in LF nicht zurückbewegt werden: Könnte man nämlich die CP in LF an ihre Spur t3 zurückbewegen, dann läge keine ECP-Verletzung vor. (126) Gescrambelte Phrasen werden in LF nicht rekonstruiert, d.h. nicht zurückbewegt Dies Prinzip steht in Einklang mit Fanselows (1986) Behauptung, daß Scrambling im Deutschen den Skopus von Nominalien festlegt. Für die Bewegung ins Vorfeld gilt (126) allerdings nicht, wie die Grammätikalität des folgenden Beispiels zeigt: (127)

[tj zu füttern^ [c habe ich den Hund t t2 [abs3 versucht]]

Diese Situation ist aber so erstaunlich nicht, weil die Vorfeldbewegung bekanntlich viele Prinzipien verletzt. Beispielsweise ist auch ein Reflexiv im Vorfeld nicht -gebunden durch sein Antezedens. Vorfeldbewegungen können also in LF rekonstruiert werden. Ein weiteres Problem, das man sich mit diesem abstrakten Ansatz einhandelt, ist die Erklärung der Extrapositionsdaten in kohärenten/inkohärenten Konstruktionen. Eine Theorie, die mit Reanalyse arbeitet, hat es hier zunächst anscheinend leichter. Sie kann sagen, daß nur Sätze extraponiert werden können. Da bei Reanalyse der Satzknoten zerstört wird, kann der abhängige Infinitiv nicht extraponiert werden (vgl. von Stechow/Sternefeld (1988,406 ff.)). Dieses Vorgehen ist uns nun verwehrt, da keine Satzknoten zerstört werden. Wir müssen aber die folgende Konstruktion als ungrammatisch ausschließen: (128)

*weil der Förster [yp [vp h gewollt hat] [cp2 [yp die Tanne fällen]! [c, [c e] [JP PRO ti]]]]

Zur Erklärung der Extrapositionsdaten sind verschiedene Strategien möglich. Zum einen sind CPs mit einem vollständig leeren Kopf in irgendeinem Sinne defektiv. Man kann also sagen, daß die Extraposition solcher Sätze nicht möglich ist. Diese Erklärung erfaßt die Daten ebenso wie die alte Theorie, denn es gibt eine l:l-Korrespondenz von [ · e] und kohärenten Infinitiven. Da, wie wir gesehen haben,, solche Phrasen auch nicht gescrambelt werden können, lautet die richtige Generalisierung vielleicht, daß defektive CPs überhaupt nicht bewegt werden können. Im Zweifelsfall werde ich mich an diese Generalisierung halten. Als weitere Erklärung können wir uns vielleicht genau wie oben darauf berufen, daß aus einer Adjunktionsposition nicht (abstrakt) inkorporiert werden kann. Das würde die Ungrammatikalität von (128) ebenfalls herzuleiten gestatten (siehe dazu Sternefeld 1990a). Problematisch für diese Explikation ist allerdings, daß die Korrelation zwischen Kohärenz und Extrapositionsverbot für den abhängigen Infinitiv nicht vollständig ist, was durch die folgenden Daten nahegelegt wird:

Kompositionsprinzipien

(129)

a. b. c. d.

225

Es fängt schon an [t zu tagen]. Es hatte begonnen, [t lebhaft zu regnen] Die Suppe hat angefangen, [t' heftig t zu kochen] weil die Angelegenheit begonnen hat, [t mir über die Ohren zu wachsen]

Beginnen und anfangen sind Anhebungsverben, die im allgemeinen als kohärent gelten. Trotzdem sind deren abhängige Infinitive zuweilen extraponierbar - ein Phänomen, das nach meiner Kenntnis in der Literatur noch nicht genügend gewürdigt worden ist. Die Extrapositionen sind aber nicht immer gut: (130)

a. b. c.

^Fritz hat begonnen, [/1' bewundert zu werden] *weil pro begonnen hat, [t1 mir t schlecht zu werden] n -weil mir begonnen hat, schlecht zu werden

Diese Verben kommen auch als Kontrollverben vor und können dann inkohärent konstruiert werden: (131)

a. b. c.

Der Förster hat damit begonnen, [PRO die Tanne abzusägen] Es wurde damit begonnen, [PRO die Tanne wieder anzunageln] Es wurde begonnen, [Q. PRO ausgelassen zu tanzen]

Die Analyse der Anhebungsdaten ist deshalb problematisch, weil man nicht sieht, warum (129) zulässig, (130) dagegen mehr oder weniger ausgeschlossen sein sollten. Nach den Unterscheidungen, die uns bisher zur Verfügung stehen, liegt in beiden Fällen genau dieselbe Konstellation vor. Ein Fortschritt scheint nur möglich, wenn noch feinere begriffliche Distinktionen zur Verfügung stehen. Sicher scheint mir, daß ein lexikalischer Ansatz hier nicht im Vorteil ist, da er mit weniger Struktur auskommen muß. Ich lasse dieses Problem hier ungelöst. Wir beschließen diesen Abschnitt mit einer Bemerkung zum sogenannten Fernpassiv, das seit Höhle (1976) in der Literatur immer wieder diskutiert worden ist. Die in Abschnitt 4 entwickelte Theorie des Passivs verlangt Inkorporation des passivierten Partizips in das kasusabsorbierende Verb. Ähnlich wie bei dem Passiv unter lassen müssen wir annehmen, daß die Verben, welche das Fempassiv erlauben, optional den Akkusativ absorbieren können. (132)

versuchen, anfangen, beginnen absorbieren optional den Akkusativ, regieren (in dieser Verwendung) im Unterschied zu lassen aber selbst keinen Akkusativ.

Arnim von Stechow

226

Eine Fernpassivkonstruktion sieht dann so aus: (133)

derBaum 4 NP

t4 zu fallen,, e NP V C

PRO il NP VP,

I abs2versucht3 abs23 wurd I

Zunächst wird die VP der Baumfällen nach SpecC bewegt. Das Verb fällen wird (abstrakt) in versucht inkorporiert. Dabei wird seine Akkusativrektion absorbiert. Folglich regiert die "Spur" fällen2 keinen Kasus. Das Objekt muß folglich an die Position des Matrixsubjekts angehoben werden. Dies ist möglich, weil die externe Thetarolle von versucht durch werden absorbiert ist. Dieser Ansatz erlaubt eine Differenzierung nach Verben, die das Fernpassiv zulassen und solchen, bei denen es nicht möglich ist. Z.B. ist für viele Sprecher das Fernpassiv mit wünschen nicht akzeptabel, und unter wollen scheint überhaupt kein Fernpassiv möglich zu sein: (134)

a. b.

%

weil der Wagen zu reparieren gewünscht wurde *weil der Wagen reparieren gewollt wurde

Dieser Ansatz ist eine Weiterentwicklung der Analyse in Sternefeld (1989) und geht auf eine mündliche Bemerkung eben dieses Autors zurück. Tilmann Höhle hat in einem Schreiben an mich eingewandt, daß der Ansatz schon aus semantischen Gründen problematisch sei, weil nicht ohne weiteres einsichtig sei, wie das PRO kontrolliert werden könne. Dies gibt mir Anlaß zu einer Bemerkung, wie ich mir die Semantik des Passivs vorstelle. Baker (1988) nimmt an, daß bei passivierten Verben das Auxiliar werden die externe Rolle zugewiesen erhält. Allerdings kann sie zusätzlich an die von-Phrase weitergeleitet werden. Diese Redeweise kann so rekonstruiert werden, daß man Passivoperatoren als Existenzquantoren (vgl. etwa von Stechow 1988), die optionale von-Phrase dagegen als Identität interpretiert:

Kompositionsprinzipien

(135)

vonpass' =

227

,

[P(x) &x = y]

Die Regel mache man sich durch die Auswertung eines Beispiels klar: (136)

Otto! [VP [vp von Maria [v. tx geliebt]] wird]1 = [vp [vp von Maria [v- Otto geliebt]] wird]1 = wird1 (voHp^, (Maria1) (Otto geliebt')) = wird' ßx [Otto geliebt'] (x)&x = Maria') = 3x /liebt' (x, Otto1) &x = Maria'] = liebt'(Maria', Otto')

Ich erinnere daran, daß es keine passivischen Partizipien gibt. "Otto geliebt" bedeutet also dasselbe wie "Otto zu lieben". Ich erinnere ferner daran, daß das passivische werden als Existenzquantor gedeutet wird. In der Regel wird man natürlich in die / -Phrase hineinquantifizieren müssen: (137)

a. b. c.

Otto wird von niemandem beneidet. [s Niemand, [s Ottoy [[yp von [ · y beneidet]] wird]]] Für keine Person^ 3z [beneidet1 (z, Otto1) &z = x]

Die Bindung des Subjekts von beneiden geschieht durch den Existenzquantor wird. Durch die von-Phrase ist eine neue interne Position geschaffen worden, die durch Identität mit dem Subjekt verbunden ist. In diese Position kann hineinquantifiziert werden. Der Quantor jedem ist - streng genommen - an die VP adjungiert, was aber hier ignoriert ist. Das unpersönliche Passiv ist kein Problem für diese Analyse: (138)

a. b.

Es wurde von niemandem getanzt Keine Person^· 3z [tanzte(z) &z = x]

Die relevante logische Form mitsamt Interpretation für unser Fempassiv kann man sich folgendermaßen vorstellen: (139)

a. b.

[PROX den Baum zu fällen] versucht wurde, 3z [versucht1 (z, fallen (z, den Baum))]

Mit anderen Worten, das Fempassiv wird genau so interpretiert wie ein gewöhnliches Passiv. Die Kasusabsorption durch versuchen ist eine rein syntaktische Angelegenheit, die keinen semantischen Effekt hat. Bei der Interpretation wird zurückbewegt. Die hier vorgeschlagene Analyse des Passivs rekonstruiert Baker. Ein alternativer Ansatz wäre dieser: werden ist semantisch leer, verlangt aber obligatorisch eine vo/i-Phrase. Diese erhält das externe Argument des Verbs und fungiert gegebenenfalls auch als Kontrolleur, eine Aufgabe, die in (139) durch werden ausgeübt wird. Man muß allerdings verlangen, daß diese

228

Arnim von Stechow

von-Phrase auch dann abstrakt erscheint, wenn sie an der Oberfläche nicht sichtbar ist, denn sie absorbiert ja die Subjektrolle. Für diesen Ansatz benötigt man weder die rein formale existenzielle Abbindung des Subjekts noch die relativ komplizierte Semantik für von.

6.4. Korrelat und Extraposition Dieser Abschnitt behandelt zwei Fragen: 1. Warum blockiert ein Korrelat im Mittelfeld Extraktion aus einem extraponierten Satz? 2. Kann man im Deutschen an VP extraponieren? Ich referiere zunächst Müllers (1989) Theorie der Brückenverben, die die Fruchtbarkeit des Inkorporationsansatzes für einige zentrale Probleme der deutschen Syntax zeigt. Die folgenden Beispiele sind aus dieser Arbeit. Brückenverben sind glauben, meinen, denken, sagen, behaupten, wünschen, hoffen. Bei solchen kann aus / -Komplementen jede W-Phrase herausgezogen werden, unabhängig von ihrer grammatischen Funktion. (140)

a. b. c.

Wie meinte sie [t1 daß man t am besten nach Dresden käme] Wer hattest du denn gedacht [f daß t das Hygrometer erfunden hätte] Wen denkst du [t1 daß ich t heiraten werden]

Liegen keine Brückenverben vor, sind die entsprechenden Sätze ungrammatisch: (141)

a. b. c.

*Wie wußte sie [t1 daß man t am besten nach Dresden käme] *Wer hast du bedauert [t1 daß t recht hatte] *Wen lehnst du ab [t' daß ich t heiraten werde]

Genau die Brückenverben lizensieren V/2-Einbettungen mit entsprechenden Extraktionsmöglichkeiten. (142)

a. b. c.

Wer behauptet Frank [r' habe / den Feldberg in weniger als einer Stunde geschafft] Wen behauptet Frank [i' habe der Feldberg in weniger als einer Stunde t geschafft] Wie meinte Otto [/' habe Professor Egli das Problem / so schnell lösen können]

Müllers Theorie der Brückenverben sieht folgendermaßen aus: (143)

a. b.

Alle Satzkomplemente haben die Form [NP N CP] mit leerem N. Brückenverben inkorporieren abstrakt das leere N. Dadurch wird die NPBarriere geöffnet.

Kompositionsprinzipien

c.

229

In eingebetteten Sätzen müssen Verben in C von einem sichtbaren Kopf regiert werden (V/2-Identifikationsprinzip).

Die Idee hinter dieser Theorie ist die folgende. Jeder Kopf errichtet eine Barriere für Rektion, insbesondere Antezedensrektion, für die vom Kopf selegierten Komplemente. SpecC ist nicht selegiert. Also darf aus SpecC im Prinzip weiterbewegt werden. Die NP-Schale - ein Terminus in Anlehnung an Larson (1988) - verhindert diese Bewegung. Die NP-Barriere kann aber durch Inkorporation des Kopfes in den nächsten Kopf geöffnet bzw. nach oben verschoben werden. Genau dies machen die Brückenverben. Das V/2-Identifikationsprinzip korreliert die Brückenverben mit den V/2-einbettenden Verben. Müller diskutiert in der genannten Arbeit die folgende interessante Korrelation: Ein Korrelat im Mittelfeld blockiert stets Extraktion aus dem extraponierten daß-Satz, selbst wenn es sich um Brückenverben handelt: (144)

a. b. c.

*Wie meinte sie es [f daß man t am besten nach Dresden käme] *Wer hattest du es denn gedacht [t1 daß t das Hygrometer erfunden hätte] *Wen denkst du es [t1 daß ich t heiraten werde]

Bei extraponiertem V/2 ist ein Korrelat nie möglich, unabhängig von Extraktion (vgl. etwa von Stechow/Steraefeld 1988, 406 ff.). (145)

a. b.

"Herr X glaubt es, man werde ihm helfen. *Wer hauptet er es, habe den Feldberg in weniger als einer Stunde geschafft.

Müllers Korrelattheorie ist diese: Korrelate haben die Form [w es [N. N CP]]. Wenn man aus CP herausbewegen will, muß man reanalysieren. Dann kann es keinen Kasus mehr erhalten, weil die Rektionseigenschaften von N nach Inkorporation absorbiert sind. Müller vermutet, daß es den strukturellen Genitiv erhält. Diese Theorie ist sehr geistvoll, wirft aber die folgenden Probleme auf: 1. Es wird nicht erklärt, wieso es nicht in situ mit dem Komplement auftreten kann. 2. Es stellt sich die Frage, welchen Kasus letztlich das es hat. Daß es sich um einen Genitiv handeln soll, ist nicht sonderlich plausibel. Ich glaube, daß eine Kombination von Müllers Theorie und der Analyse in von Stechow/Sternefeld (1988) der Wahrheit nahe kommt. Sie sieht so aus: Das Korrelat es bezieht sich immer nur auf eine NP mit Kopf. Dies bedeutet, daß die NP-Hülle da sein muß, falls es da ist. Falls N inkorporiert wurde, haben wir keine NP-Hülle und folglich kein Korrelat. (146)

*Wen [N glaubst] du t/*est [cp, t' daß ich t heiraten werde]

Hier haben wir den leeren N-Kopf vor Extraposition inkorporiert. Wir nehmen an, daß bei Inkorporation eines völlig leeren Kopfes keine Spur zurückbleibt, also auch die NP-Schale

230

Arnim von Stechow

verschwindet. Dies ist äquivalent mit der Redeweise, daß Brückenverben die NP-Schale tilgen können. Nach Inkorporation ist die Extraktion zwar völlig in Ordnung, aber das Korrelat ist nicht mehr legitimiert. Falls das Korrelat da ist, haben wir nicht inkorporiert bzw. reanalysiert: (147)

*Wen [glaubst] du «, [NPJ N [Q, t' daß ich t heiraten werde]]

Hier ist zwar das Korrelat legitimiert, aber wir können nicht mehr extrahieren. Gleichzeitig ist auch das Problem aus der Welt, daß das Korrelat nicht in Kontiguität zum Komplement auftreten kann. Ich glaube, daß diese Erklärung tendenziell richtig liegt. Die tatsächlichen Verhältnisse liegen aber noch ein wenig komplizierter, worauf mich Irene Heim und Ede Zimmermann aufmerksam gemacht haben: Brückenverben dulden nur ein Korrelat im Mittelfeld, wenn sie im Skopus bestimmter Adverbien (z.B.. Negation oder Quantifikationsadverbien) sind, wie der folgende Kontrast zeigt: (148)

a. b.

Ich habe *es geglaubt/gemeint/gedacht/gesagt/behauptet/gewünscht/gehofft, daß ich das schon mal gelesen habe. Ich habe es nicht geglaubt/*gemeint/gedacht/*gesagt/*behauptet/ gewünscht/*gehofft, daß Fritz kommen würde.

Wie (b) zeigt, verhalten sich die Verben nicht einheitlich, was die Duldung des Korrelats betrifft. Darüber wollen wir aber im folgenden hinwegsehen. In diesen Sätzen kann man auch dann nicht extrahieren, wenn das Korrelat fehlt: (149)

a. b.

*Wen hast du nicht geglaubt, daß ich heiraten würde? *Wer hast du immer gewünscht, daß dich besuchen soll?

Versuchen wir also, die bisherige Erklärung derart zu verfeinern, daß sie diese Fakten abdeckt. Die folgenden Hypothesen leisten vielleicht das Gewünschte: (150)

a. b. c.

Brückenverben reanalysieren eine adjazente CP mit NP-Schale obligatorisch. Finite Sätze mit NP-Schale werden obligatorisch aus dem Skopus der oben genannten Adverbien bzw. der Negation hinausgescrambelt. Extraposition findet nach Scrambling statt.

Aus (150a) folgt, daß man direkt vor einem Brückenverb kein Korrelat haben kann. Dies Prinzip ist freilich rein deskriptiv. (150b) und (c) brauchen wir zur Erklärung der Ungrammatikalität der Sätze (149). Man betrachte etwa die relevante Struktur von (149a) (151)

*Wen hast2 du [NegP V [NegP nicht t t geglaubt tj], [NPj CP]?

Kompositio?isprmzipien

231

Zunächst haben wir gemäß (150b) den fmiten Satz mit NP-Schale aus dem Skopus der Negation herausgescrambelt. Dann haben wir gemäß (150c) extraponiert. Da die NP-Schale noch vorhanden ist, können wir nicht extrahieren, und die Konstruktion ist ungrammatisch. Aus dem Freezing-Prinzip folgt, daß wir aus der gescrambelten Position heraus nicht inkorporieren dürfen. Wir benötigen allerdings ein zusätzliches Prinzip, welches verbietet, daß sich das Korrelat direkt auf eine TOP-Position beziehen kann (vgl. dazu Webelhuth 1989): (152)

*Daß ich nicht daraufgekommen bin hat es mich geärgert

Die Ungrammatikalität dieser Konstruktion folgt aus keiner der bisherigen Annahmen. Das Korrelat ist offenbar ein rein kataphorisches Pronomen. Müller (1990) vertritt die Ansicht, daß Infinitivsätze keine NP-Schale haben, weil aus infiniten Subjektsätzen Extraktion uneingeschränkt möglich ist: (153)

Was hat [f PRO t zu beanstanden] sich nicht gehört?

Die Zwischenspur t' ist von was strikt regiert. Diese Annahme ist mit der soeben entwickelten Korrelattheorie, daß es sich auf NP bezieht, nicht verträglich, da auch Infinitivsätze ein Korrelat haben können (154)

Ich kann es nicht ertragen, sie so leiden zu sehen

Man muß also wohl sagen, daß Infinitivsätze optional eine NP-Schale haben. Dies entspricht so in etwa der Chomskyschen Annahme, daß Infinitiv-einbettende Verben sämtlich Brückenverben sind. Auch jetzt kann man noch herleiten, daß man nicht extrahieren kann, wenn ein Korrelat da ist: In diesem Fall haben wir nämlich eine NP-Schale vorliegen und können nicht extrahieren. Die Theorie muß freilich sicherstellen, daß man im Deutschen SpecN nicht als Fluchtposition für die Extraktion benutzen darf. Ich greife nun ein anderes notorisches Problem jeder Syntax des Deutschen auf, die mit einer rechtsköpfigen IP arbeitet: Wie ist es möglich, hier an VP zu adjungieren? Seit Reinhart (1976) nehmen viele Syntaktiker an, daß Extraponate, die von einem Objekt herkommen, an VP adjungiert werden (siehe z.B. Fanselow/Felix 1987: 153ff)). Daß man an W extraponieren können muß, das ist gar keine Frage, denn man kann das Extraponat mit ins Vorfeld nehmen: (155)

a.

[vp [VP einen Pullover tj kaufen], der mir nicht gefiel], wollte sie mir

Wie aber soll das bei Verbendstellung möglich sein? (155)

b.

weil [ff [ff sie mir einen Pullover t kaufen wollte I], der mir nicht gefiel]

232

Arnim von Stechow

Da das Finitum nach I bewegt wird und weil das Extraponat hinter dem Finitum steht, ist anscheinend an IP adjungiert worden, es sei denn, der Relativsatz wäre an die eingebettete wollen-VP adjungiert und INFL zum Verb gesenkt. Die letztgenannte Möglichkeit wird weiter unten noch betrachtet werden. Ich gehe hier davon aus, daß tatsächlich an IP adjungiert worden ist. Hubert Haider (persönliche Mitteilung) hat aus dieser Situation die Folgerung gezogen, daß der ganze Ansatz falsch sein müsse und daß das Deutsche keine IP haben könne. Ich frage mich dagegen: Was für nachteilige Konsequenzen könnten sich aus der Notwendigkeit ergeben, die Struktur (155b) annehmen zu müssen? Für die Zwecke der Bindungstheorie alles im Extraponat wird vom Subjekt c-kommandiert - muß an die Spur zurückbewegt werden. Das muß man bei Bewegung ins Vorfeld auch tun. Es bleibt lediglich noch zu klären, ob man nicht an die wollen-VP adjungieren darf und anschließend INFL senkt. Mit anderen Worten, ist die folgende Konstellation zulässig? (155)

c.

weil [jP sie [yp [VP mir einen Pullover t2 kaufen woll-te2] der mir nicht gefiel^ h]

Dies ist im wesentlichen die Konfiguration, mit der in von Stechow/Sternefeld (1988) gearbeitet wurde, wo gesagt wurde, daß AGR seinem Verb die Kongurenzmerkmale unter Rektion zuweist. In einem Inkorporationsansatz läuft dies auf Senkung hinaus. Wenn man diese zuläßt und gegebenenfalls in LF wieder rückgängig macht (vgl. Chomsky 1989), so ist Extraposition als Adjunktion an VP ohne weiteres möglich. Daß INFL-Senkung manchmal nicht vermeidbar ist, dafür spricht ein weiteres Problem von Tilman Höhle (p.M.) Er sagte, daß die hier propagierte Struktur ein Problem mit dem folgenden Satz hat: (156)

a.

weil Karl jeden Hund füttert oder schlägt

Hier handelt es sich offensichtlich nicht um eine Ellipse, weil der Quantor die Objektposition beider Verben simultan bindet. Die Struktur kann nach Höhle also nur (156) (b) oder (c) sein: (156)

b. c.

Karl jeden Hund [v [v füttert] oder [v schlägt]] Karl jeden Hund [yp [yp t füttert] oder [yp t schlägt]]

In beiden Fällen haben wir finite Verben koordiniert, was einer Theorie, in der Finitheit IPheit bedeutet, zuwiderzulaufen scheint. Man kann versuchen, sich hier aus der Schlinge ziehen, indem man die IPs bis auf die Finita durch Scrambling entleert: (156)

d.

Karl; [IP jeden Hundj [IP [IP tj tj füttert] oder [n> tj tj schlägt]]]

KompositionsprinzipUn

233

Wir haben hier across the board (=ATB) gescrambelt. Ein Einwand gegen diese Lösung ist, daß der folgende Satz grammatisch ist: (157)

weil da Karl jeden Hund mit füttert und ködert

Wir müßten hier damit erst ATB aus IP herauscrambeln und dann da weiterscrambeln. Das läuft aber dem Freezing-Prinzip zuwider. Diese Erwägung spricht dagegen, daß bei diesen Koordinationen bewegt worden ist. Man wird also wohl von einer Koordinationsstruktur wie (158a) oder (158b) ausgehen müssen: (158)

a. b.

Karl [yp jeden Hund [v [v fütter-] oder [v schlag-]]] INFL Karl jeden Hund [yp [VP t fütter-] oder [yp t schlag-]] INFL

Jetzt muß INFL ATB-gesenkt werden. (In LF kann man es wieder ATB-herausziehen.) Man könnte das V-Koordinat eventuell nach INFL bewegen und dann erst senken. Im übrigen gilt folgendes: Jede Koordinationstheorie (und erst recht jede Ellipsentheorie) bekommt irgendwo Schwierigkeiten. Sie sollten kein Anlaß sein, den ganzen Ansatz zu verwerfen.

6.5. Negation: Kohäsion und I-Topikalisierung In diesem Abschnitt geht es um die Analyse der Kohäsion und der sogenannten I-Topikalisierung. Die Phänomene sind insofern relevant für unsere Diskussion, als sie eine echte Herausforderung für den hier vertretenen strikt konfigurationeilen Ansatz darstellen. Ich muß vorwegnehmen, daß ich keine abgeschlossene Meinung zu den verwickelten Fragen habe, die hier auftreten. Ich werde mehrere Theorien referieren und deren Vor- und Nachteile aufzeigen. Der Terminus Kohäsion geht auf Been (1955/57) zurück. Damit ist die Zerlegung eines negativen Indefinitums in eine Negationskomponente und eine indefinite Komponente gemeint (nichts = NEG + etwas, kein = NEG + ein usw.). Bech hat die Zerlegung dadurch motiviert, daß die negative Komponente einer NP ein höheres Verb verneinen kann als das, von dem die fragliche NP unmittelbar abhängt. Wichtig ist allerdings, daß sich NEG und das zu negierende Verb innerhalb ein und desselben Kohärenzfeldes befinden, d.h., daß sie nicht durch eine Satzgrenze getrennt sind. (159)

a. b.

weil sie nichts zu essen gewünscht hat = weil sie nicht gewünscht hat, etwas zu essen Sie hat gewünscht, nichts zu essen = Sie hat nicht gewünscht, etwas zu essen.

In (a) liegt eine kohärente Konstruktion vor. Um die angegebene Lesart zu erhalten, muß man die VP in Anlehnung an Bech ungefähr als NEG [yp etwas zu essen gewünscht hat] analy-

234

Amim von Stechow

sieren. Im Fall der inkohärenten Konstruktion (b) ist dagegen nur die Klammern NEG [w etwas zu essen] möglich. Wir gehen auf weitere Einzelheiten dieser Konstruktionen gleich ein. Ich möchte nun auf die oben genannte Erscheinung der I-Topikalisierung zu sprechen kommen. Der Terminus (= Topikalisierung mit bestimmter Intonation) geht auf Jacobs zurück - die ursprüngliche, viele Jahre zurückliegende Quelle ist mir nicht klar - und bedeutet folgendes: Wenn eine NP im Vorfeld einen steigenden Ton hat und man ferner auf der Negation im Mittelfeld einen fallenden Ton vorfindet, dann kann die NP engen Skopus bezüglich der Negation haben. (160)

a. b. c. d.

ALLE (/) haben das NICHT (\) gewußt Tatsächlich haben ALLE (/) das NICHT (\) gewußt JEDER (/) Arzt ist NICHT (\) intelligent Sicher ist JEDER (/) Arzt NICHT (\) intelligent

Höhle (1988) nimmt an, daß der I-Topikalisierungseffekt in einem Satz wie (b) nicht auftritt. Analoges gilt für (d). Ich bin mir nicht sicher, ob dies grundsätzlich für das Mittelfeld gilt. Es scheint mir aber klar zu sein, daß man sich dort mit Skopuserweiterung der Negation zumindest sehr schwer tut. Höhle (1988) erklärt den weiten Skopus der Negation in Sätzen wie (160 (a) und (c) dadurch, daß die topikalisierte NP bei dieser Intonation durch eine LF-Regel in das Mittelfeld zurückbewegt ("rekonstruiert") wird, und zwar hinter die Negation. Falls eine andere Intonation vorliegt, z.B. fallender Ton im Vorfeld, dann muß nicht zurückbewegt werden. In Jacobs (1990) wird das Material aus dem Vorfeld immer zurückbewegt. Im wesentlichen sind also die beiden Analysen identisch. Insbesondere setzen beide Autoren voraus, daß die Negation vor dem Subjekt stehen kann, wodurch dieses nach Rekonstruktion unter den Skopus derselben geraten kann. Eine alternative Analyse wäre zum Beispiel, die Negation in LF über SpecC zu bewegen, also z.B. an CP zu adjungieren. Diese Möglichkeit scheint aber auszuscheiden angesichts von Hohles (1988) Beispiel: (161)

ALLE (/) Politiker hat manch einer NICHT (\) verstanden.

Hier ist alle Politiker im Skopus der Negation, während manch einer außerhalb des Skopus von nicht + alle Politiker. Würde man nicht an CP adjungieren, käme zwar alle Politiker unter den Skopus der Negation, manch einer hätte dagegen engen Skopus bezüglich alle Politiker. Diese Erwägung stützt die Theorie von Jacobs und Höhle. Wir betrachten nun Kohäsionen näher. Wir machen uns zunächst klar, daß es im allgemeinen unmöglich ist, negative NPs als Montaguesche Nominalien zu interpretieren. Man betrachte zum Beispiel die PTQ-Analyse von kein Pianola' = -^3 [ '( ) & P(x)J. Seit Jacobs (1980) ist bekannt, daß dieser Ansatz angesichts solcher Beispiele wie (162) versagt:

Kompositionsprinzipien

(162)

a. b. c. d.

235

Aureliano muß kein Pianola haben Es muß so sein, daß Aureliano kein Pianola hat Es gibt kein Pianola, das Aureliano haben muß Es muß nicht so sein, daß Aureliano ein Pianola hat

Die Montaguesche "In-VP-Quantifizierung" erlaubt nur die Lesarten (162b) und (162c), die im Deutschen allenfalls marginal sind. Die fast allein mögliche Lesart (162d) ist dagegen nicht erzeugbar. Man erhält sie nur, wenn NEG abgespalten wird und Skopus über das Modal müssen erhält, während der indefinite Teil der Kohäsion im Skopus des Modais verbleibt. Jacobs (1990) würde deshalb diesen Satz etwa folgendermaßen analysieren: (163)

Aureliano [Vj NEG [Vj [Vj ein Panola haben] muß]]

Bei ihm ist NEG ein Adverb, das jede [+V]-Projektion modifizieren kann, also z.B. auch Adjektive. Sätze sind bei ihm ebenfalls V-Projektionen, weshalb NEG auch vor dem Subjekt stehen kann. Das unnegierte Verbal bedeutet Xy.moyj (3x[Pianola'(x) & haben'(yjc)J). Die Negation macht daraus das gewünschte Resultat Ky.->(muss3x[Pianola'(x) & haben'(y,x)j). Jacobs nimmt an, daß NEG + ein durch eine externe Sandhiregel zu kein verschmolzen wird, und zwar in der PF-Komponente. Die Regel verlangt, daß der indefinite Teil der Kohäsion direkt rechts neben NEG steht (eventuell getrennt durch eine Präposition). Wir wollen diese Regel Kohäsionsregel nennen. Seit Evers (1975) ist in der Literatur immer wieder gesagt worden, daß der Negationsskopus mit der Bildung des Verbalkomplexes im Deutschen korreliert werden muß (z.B. in Lemer/Sternefeld 1984). Für Jacobs (1989a,b) ist die entscheidende Bedingung dafür, daß ein übergeordnetes Verb negiert werden kann, daß es im C-Kommandobereich des negationsstragenden Elements ist. Dieser Vorschlag ist deshalb attraktiv, weil er es erlaubt, mit den meisten einschlägigen Beispielen auf einfache Weise fertig zu werden. Man betrachte etwa die NEG-Anhebung in den folgenden Sätzen. (164)

a. b.

weil sie ihn nicht sehen wollte weil er ihr nichts sagen wollte

Hier ist wollen negiert. Um die korrekten Lesarten herauszubekommen, muß Jacobs lediglich die folgenden Klammerungen annehmen: (165)

a. b.

sie ihn nicht [sehen wollte] er ihr NEG [etwas sagen wollte]

Die negierten Verbale werden als Kyte-wollte'(x,sehen'(x, sehen'(x,y))) bzw. -^wollte (jc,3z sagen'(x,y,z)), und die Welt ist in Ordnung. Wie wären diese Sätze in der in den vorhergehenden Abschnitten entwickelten Kohärenztheorie zu analysieren, die Jacobsche Kohäsionstheorie vorausgesetzt? Etwa folgendermaßen:

236 (166)

Amim von Stechow a. b.

sie [yp ihn2 [yp nicht [yp [cp [VP *2 sehen]! CQp PRO tj]] wollte]]] er [vp ihr2 [yp NEG [yp [^ [yp tj etwas sagen]! NEG+etwas = nichts C Qp PRO tx]] wollte]]]

Zuerst wird also die VP des untergeordneten Satzes nach SpecC bewegt, und aus dieser Position wird dann ihn bzw. ihr in das Mittelfeld der Matrix gescrambelt, an die VP adjungiert. Diese Analyse muß annehmen, daß die Verschmelzung von NEG + etwas in (b) nicht durch die Spur \^ des indirekten Objekts gestört wird. Scramblingspuren müssen sich also für phonologische Prozesse anders verhalten als Wh-Spuren, welche z.B. die »vanne-Kontraktion blockieren, wie bekannt ist. Die Theorie legt nahe, die "NEG-Anhebung" bei kohärenten Verben mit der VPBewegung nach SpecC zu korrelieren. Inkohärente Verben betten eine CP ein, deren leerer Komplementierer für den DCF sichtbar ist. Deswegen kann die VP nicht nach SpecC bewegt werden. (167)

a. b.

weil er NEG [CP 0 [& PRO etwas zu wissen]] behauptete it nichts weil er [Q, 0 [IP PRO NEG [yp etwas zu wissen]]] behauptete = nichts

Mit anderen Worten, bei einem inkohärenten Verb wie behaupten ist keine NEG-Anhebung möglich. Um die Kohäsion in (167a) zu blockieren, könnte man annehmen, daß die Kohäsionsregel nicht über eine Barriere wirken kann. (Daß zwischen NEG und etwas mindestens ein Barriere sein muß, sieht man an dem Vorhandensein von PRO.) Es sieht also so aus, als könne man die Jacobsche Theorie in unserem konfigurationeilen Ansatz nachspielen. Man erhält freilich die im vorhergehenden Abschnitt bereits diskutierte Stellungsproblematik, d.h., man muß Sätze wie (168)

*weil er kein Geld geben der Mutter wollte

verhindern. Man kann sich überlegen, daß dieser Satz vom Typ der Höhleschen Gegenbeispiele ist. Wir wollen uns nun mit der Frage beschäftigen, ob die Satznegation im Deutschen tatsächlich ein [+V]-Adjunkt ist, wie Jacobs annimmt. In einem Ansatz, der mit Scrambling arbeitet, kann man prinzipiell mit einer Negation auskommen und die nicht zu negierenden Ergänzungen aus ihrem Skopus herausbewegen. Demnach würde es genügen zu sagen, daß NEG ein INFL-Modifikator ist. Webelhuth hat in einer Reihe von Arbeiten die Auffassung verteidigt, daß die Negation den linken Rand der VP markiert (vgl. z.B. Webelhuth 1989). Seit Pollock (1988) und

Komposiiionsprinzipien

237

Chomsky (1989) ist es weithin üblich geworden, für die Negation eine eigene Projektion anzusetzen, deren Kopf zwischen dem Subjekt und VP ist. In den genannten Arbeiten wird INFL noch in die Kategorien Tempus und Kongruenz aufgespalten, was konsequent ist, hier aber nicht weiter wichtig ist. Für das Deutsche liegt die folgende Grundstruktur nahe: (169)

Qp NP [,, [NegP NEG W] INFL]]

Die meisten der bisher behandelten Beispiele lassen sich unter Annahme dieser Struktur analysieren, ausgenommen die I-Topikalisierungsbeispiele (160), falls deren Subjekte in Specl basisgeneriert sind. Wie wir sofort sehen werden, spricht einiges dafür. Wenn dem so ist, dann kann eine Zurückbewegung die topikalisierte NP nicht in den Skopus der Negation bringen, und die Analyse steht vor einem Problem. Kratzer (1988) bringt Argumente dafür, daß singuläre negative Indefinita (mit Ausnahme von Massenomina) über die Kohäsionsregel abgeleitet werden können, aber nicht müssen. Sie können auch unzerlegbar sein und werden dann wie Montaguesche Nominale gedeutet (siehe oben). Anders verhält es sich mit pluralen negativen Indefinita. Diese sind Kratzer zufolge obligatorische Kohäsionen, kommen also nur über die Kohäsionregel zustande. Ebenfalls obligatorisch kohäsiv werden negierte Massenomina konstruiert. Die Theorie ist unter anderem durch Kontraste wie die folgenden motiviert: (170)

a. b. c. d. e. f. g.

weil kein Arzt barmherzig ist *weil keine Ärzte barmherzig sind weil kein Arzt verfügbar ist weil keine Arzte verfügbar sind weil kein Arzt so viel weiß *weil keine Ärzte so viel wissen *Kein Gold ist billig.

Das Grammatikalitätsmuster folgt, wenn vorausgesetzt wird, daß temporäre Prädikate wie verfügbar und helfen ihr Subjekt projektionsintern thetamarkieren ("Phasenprädikate"), während permanente Prädikate wie barmherzig, wissen und billig ihr Subjekt projektionsextern thetamarkieren ("Individuenprädikate"). Man betrachte dazu die DStrukturen von (171) (a) und (b): (171)

a. b.

0 Ärzte [NegP NEG barmherzig sind] pro [NegP NEG [yp [AP 0 Ärzte verfügbar] sind]]

(a) kann nur die Struktur für den Satz (172)

Arzte nicht barmherzig sind

238

Arnim von Stechow

sein, falls nämlich NEG = nicht ist. Die Kohäsionsregel ist nicht anwendbar, weil der indefinite Bestandteil der Kohäsion - im Fall einer pluralen Kohäsion der leere Artikel - links von NEG steht. In der Struktur (171b) steht 0 Ärzte dagegen rechts von NEG und kann durch die Kohäsionsregel zu keine Ärzte transformiert werden. Die Kasuszuweisung des Nominativs in Ärzte in Objektposition (oder vielleicht SpecV) erfolgt über die Kette (pro, 0 Ärzte). Dies ist der übliche Kasuszuweisungsmechanismus für "Inversionsketten" (vgl. z.B. von Stechow/ Sternefeld 1988, 299 ff.). Der Vollständigkeit halber sollte ich hinzufügen, daß Kratzer eine LF-Regel annimmt, die alle freien Variablen in VP existentiell abbindet (Diesing 1988). Freie Variable außerhalb von VP werden durch einen generischen Quantor oder ein Quantifikationsadverb abgebunden. Die LFs für einige unserer Beispiele sind also etwa die folgenden: (173)

a. b. c.

GxfÄrzte(x)] ^[barmherzig(x)J -· Bxfyp Ärzte (x) & verßgbar(x)J ""3/vp Bx/vp Pianola(x) & haben (Aureliano,x] muß] = ->3xfyp Pianola(x) & haben(Aureliano,x)J

Dabei ist vorausgesetzt, daß indefinite Terme als offene Sätze gedeutet werden (Heim 1982). Ferner nehme ich an, daß der existentielle Abschluß der W bei jeder Rekursion von VP stattfindet und eventuell leerläuft (das ist nicht genau im Sinne von Kratzer 1988). Wie gesagt, können singuläre negative Indefmita als generalisierte Quantoren gedeutet werden. Das grammatische Beispiel (170a) hat also die LF (174): (174)

XP^3x[Arzt'(x) & P(x)J)(barmherzig') = -^3xfArzt'(x) & barmherzig'(x)]

Ich komme nun auf einige Schwierigkeiten für die Kratzersche Kohäsionstheorie zu sprechen. Es fällt zunächst auf, daß selbst im Fall der sogenannten restitutiven Negation nicht-sondern negative plurale Artikel nicht möglich sind. (175)

a. a1. b. b'.

Nicht Ärzte (sind barmherzig), sondern Krankenschwestern (sind barmherzig) *Keine Ärzte (sind barmherzig), sondern Krankenschwestern (sind barmherzig) weil nicht Gold (billig ist), sondern vielmehr Blei (billig ist) *weil kein Gold (billig ist), sondern Blei (billig ist)

Wenn es nur auf die Kontiguität von NEG und den kohäsionsempfänglichen NPs ankäme, sollte man in diesen Beispielen Kohäsionen erwarten. Ein weiterer Einwand stammt von Joachim Jacobs (1989): (176)

??

daß Platin kein Gold übertrifft

Komposüionsprinzipien

239

Dieser Satz ist merkwürdig. Nach Kratzers Theorie sollte man hier Kohäsion erwarten, und erhielt die Lesart (177): (177)

Gx[Platin'(x)J - By [Gold'(y) &

ubertrifft'(x,y)J

Kratzer nimmt an (pers. Mitteil.), daß übertreffen ein Verb ist, welches sein Objekt obligatorisch aus der VP hinausscrambelt. Dann läßt sich die Lesart (177) nicht mehr gewinnen. Allerdings hätte man gerne gewußt, was der Ausloser für dieses obligatorische Scrambeln ist. Jacobs (1989a,b) hält dagegen, daß generische NPs niemals im Skopus einer nichtfokussierenden Negation stehen können. Dieses Gesetz erklärt die Ungrammatikalität von (176). Ein Hinweis: Im Gegensatz zu Kratzer nimmt Jacobs an, daß alle negativen Indefinite kohäsiv konstruiert werden müssen. Um die Daten (175) (a1) und (b1) zu erklären, nimmt Jacobs an, daß generische NPs nicht in dem Sinne indefinit sind, daß sie die Kohäsionsregel auslösen können. Jacobs muß allerdings behaupten, daß in (178)

Ein Italiener ißt am liebsten Spaghetti

die indefinite NP nicht in demselben Sinn generisch verwendet wird wie die NPs in den obigen Beispielen. Dieser Punkt müßte präzisiert werden, um seiner Alternativtheorie volles Gewicht zu verleihen. Von Bernhard Drubig (p.M.) stammt der Einwand, daß obligatorische Kohäsionen durchaus thetisch im Vorfeld vorgefunden werden können: (179)

Was für ein Tag! Keine Krankenschwestern waren da, keine Ärzte waren erschienen, ... usw.

Man kann die Beispiele beliebig vermehren: (180)

Wie geht's denn unserem Kranken heute? Schlecht. Nichts essen hat er wollen, niemanden sehen hat er wollen, nicht aufstehen hat er wollen ...usw.

Diese Sätze zeigen übrigens, daß NEG-Anhebung vorliegt. Wie kann dies erklärt werden? Jacobs (1989) sagt, daß NEG hier die gesamte CP modifiziert, daß also nicht die Struktur (181a) sondern (181b) anzusetzen ist: (181)

a. b.

[cp [vp NEG etwas essen] hat er wollen] [cp NEG [cp [vp etwas essen] hat er wollen]]

Falls man die D-Struktur (167) voraussetzt, kann NEG in (181) auf keinen Fall Skopus über wollen haben. Man macht sich das an der folgenden Struktur klar:

240

(182)

Arnim von Stechow

Sie [NegP NEG [VP [yp etwas essen] woll]]-te

Hier hat NEG Skopus über wollen. Wenn wir nun NEG mit ins Vorfeld nehmen wollten, was für das diskutierte Beispiel offensichtlich notwendig ist, dann müssen wir auch wollen mitnehmen. Das haben wir aber nicht getan. Damit kann (182) nicht die (181) zugrundeliegende Struktur sein. NEG muß vielmehr innerhalb der VP etwas essen sein. Für die Jacobsche Ansicht, daß in den Fällen (179) und (180) CP-Negation vorliegt, spricht meines Erachtens auch, daß man eine nicht-fokussierende Negation, die eine VP negiert, nicht mit ins Vorfeld nehmen kann - was im übrigen auch aus der hier diskutierten Variante von Kratzers (1988) Theorie folgt. Wenn die Negation im Vorfeld ist, können die betreffenden Sätze nämlich nicht mehr als Nein-Antwort verwendet werden: (183)

Wollte Wolfgang BEEREN sammeln? a. Nein, Beeren sammeln wollte er nicht. b. *Nein, keine Beeren sammeln wollte er.

(183b) kann nur als eine verkürzte restitutive Negation aufgefaßt werden (Nicht Beeren sammeln, sondern Tomaten setzen wollte er). Die Jacobsche Theorie sagt das korrekt voraus. Die Diskussion zeigt meines Erachtens, daß es starke Gründe für die Annahme gibt, daß zumindest die fokussierende, d.h. restitutive Negation, CP modifizieren bzw. einbetten kann. Webelhuths und Kratzer Theorie der Negation - also die Auffassung, daß NEG die linke Grenze der VP markiert - paßt auch gut zu den Kohäsionsdaten des Schweizerdeutschen. In vielen schweizerdeutschen Dialekten gibt es die folgende obligatorische Inversionsregel: (184)

[vpVPV]==>[ypVVP]

(Genau genommen, muß man wohl VP inkorporieren. Dies wird unterschlagen.) Ferner darf man scrambeln. Zum Vergleich dieser Analyse mit der in Haegeman/Riemsdijk (1984) vorgeschlagenen Koanalyse, siehe von Stechow/Sternefeld (1988, 476) und Stemefeld (1990a). Ausgehend von der D-Struktur (185a) kann man also etwa die folgenden Strukturen herleiten: (185)

a. b. c.

er [yp [yp [yp sirer Frau keine Diamanten schenke] chönne] hat] er [VP hat [yp chönne [yp sirer Frau keine Diamanten schenke]]] (zweimalige Inversion) er [yp sirer Fraut [yp hat [yp chönne [VP tj keine Diamanten schenke]]]]

Nach Auskunft von Urs Egli kann nun die Negation in (b) und (c) nur kontrastiv verstanden werden. Wollte man z.B. (b) als Satznegation verwenden, müßte man folgendes sagen: (186)

er not hat chönne sirer Frau Diamanten schenke

Kompositionsprinzipien

241

Die bisherigen Theorievarianten können nun allerdings noch nicht das letzte Wort sein. Kohäsion verlangt nämlich Adjazenz zum Hauptverb, wie Kratzer (1990) an vielen Beispielen demonstriert hat. Man betrachte: (187)

a. b.

*weil ich keinen Hunden Knochen gegeben habe *weil keine Kraniche ein Kunststudent fotografiert hat

Scheinbare Ausnahmen zum Adjazenzprinzip sind z.B. Direktionale: (188)

weil ich keine Blumen in den Papierkorb geworfen haben

Wir haben für diese Erweiterungen aber auch schon an anderer Stelle einen Sonderstatus gefordert, sie nämlich in das Verb inkorporiert (vgl. Abschnitt 6.2). Dann stört sie die Adjazenzbeziehung nicht mehr. Kratzer (1990) macht nun den interessanten Vorschlag, daß NEG im Deutschen auch eine NP einbetten kann und daraus eine NegP macht. Kohäsive Artikel sind negative Polaritätselemente, die als solche kein negative Kraft haben. Ich möchte hier nicht auf die Kratzersche Struktur der NegP eingehen, die raffinierter ist als die hier angenommene Version, die folgendermaßen aussieht: (189)

[Negp NEG [„p kein/keine N1]]

Dabei ist NEG ein abstraktes Morphem, das den Kopf der Phrase ausmacht, kein/keine steht im unmittelbaren Skopus von NEG und ist deswegen zulässig plaziert. Unter Adjazenz zum Verb kann man den Kopf NEG inkorporieren und bei der VBewegung mitnehmen. Kratzer postuliert, daß NEG in LF universell direkt von einer IProjektion dominiert sein muß. Ein Verbstamm, der in INFL inkorporiert wird, kann NEG tatsächlich dahin bringen. Eine Komplikation tritt nun dadurch ein, daß ein Hauptverb nicht finit zu sein braucht. Kratzer (1990) führt nicht aus, wie die NEG-Anhebung für diesen Fall funktioniert. In dem hier entwickelten Ansatz kann man aber mit einer (abstrakten) Inkorporationskette arbeiten, Betrachten wir dazu noch einmal das Beispiel (162a): (190) ^

'

[ AurelF [ [ [ L

1

IP

L

VP LVP LNegP

NEG [ kein Piano]] haben] muss-111] 1

NP

JJ

.

A

J

J

AJJ

Genau genommen muß hier wieder abstrakt inkorporiert werden, d.h., das Verbal sieht folgendermaßen aus: (191) V

'

[[[ [

LLL L

NegP

NEG NP] [abs +haben ] ] [abs +muss ] ]abs +1] ,1

A !

l

2

12

12

3-J123J

A 123

242

Arnim von Stechow

Man muß nun allerdings noch sagen, wie diese Struktur gedeutet wird. Geht man so vor wie Jacobs (1989a,b), wird man die Konstellation (191) so interpretieren, als läge der Verbalkomplex [NEG [kein Pianola haben] muß] vor. Mit anderen Worten: Die Kohärenzbildung erweitert den Skopus von NEG. NEG muß aber trotzdem in loco interpretiert werden. Die Einzelheiten einer einschlägigen Theorie sind mir allerdings nicht völlig klar. Zur Verdeutlichung sei hier noch einmal klargestellt: Obligatorisch kohäsive NPs werden nach wie vor nicht als negative Quantoren gedeutet, sondern als offene Sätze. Hier hat sich gegenüber der alten Theorie Kratzers also nichts geändert. Der Unterschied ist, daß keine, kein nicht mehr in NEG + indef zerlegt werden, sondern die Anwesenheit eines abstrakten NEG-Elementes zeigen. NEG selbst ist phonetisch unsichtbar. Wichtig ist auch, daß negierte Sätze mit Kohäsionen nicht mehr die Struktur [jp NP [ NegP I]] haben, sondern [IP NP [r VP]]. Die Theorie macht eine Reihe von interessanten Vorhersagen. Zunächst folgt, daß DSubjekte niemals kohäsiv konstruiert werden können, denn aus Subjekten läßt sich nicht nach V inkorporieren (vgl. Baker 1988: Kap. 3). Ferner muß man stipulieren, daß sich D-Subjekte nicht nach INFL inkorporieren lassen (vgl. dazu Müller 1989:105 ff.):

(192) Aus diesen Stipulationen folgt die Ungrammatikalität (175) (a") und (b1). Zweitens folgt unter gewissen Annahmen, daß die Kohäsion V-adjazent sein muß. Zur Herleitung der Ungrammatikalität der Beispiele (187) muß man auf ein in Müller (1989) formuliertes Prinzip zurückgreifen: (193)

Inkorporation kann nur stattfinden, wenn es keinen näheren Kopf zum Incorporans gibt, der inkorporiert werden könnte.

In (187a) ist der Kopf des direkten Objektes näher im Sinne des Prinzips. In (187b) ist das Objekt aus der IP herausgescrambelt worden und kann folglich nicht inkorporiert werden. Man muß allerdings sicherstellen, daß nicht vor Scrambling inkorporiert werden kann. Über diesen Punkt ist in Abschnitt 6.3. bereits gesprochen worden. Die Frage ist nun, was die Inkorporation von NEG auslösen könnte. Man ist versucht, dieses Resultat aus der folgenden Stipulation herzuleiten: (194)

NEGm-selegiert[+V].

Daraus folgt, daß NEG auf jeden Fall in V inkorporiert werden muß und dann die VBewegung mitmacht. Das Prinzip ist eine Variante von Jacobs' Ansicht, daß NEG ein [+V]Modifikator ist. Falls sich eine Theorie dieser Art in den Details entwickeln läßt, kann sie zwar die Kratzerschen Kohäsionsbeispiele erklären. Die I-Topikalisierungsdaten bleiben aber

Kompositionsprinzipien

243

problematisch. Die Daten von Höhle und Jacobs sind am besten unter der Annahme zu beschreiben, daß man auch eine Negation vor dem Subjekt haben kann. Dies könnte man in einem konfigurationeilen Ansatz dadurch erreichen, daß nicht jede I-Projektion modifizieren kann. Man beachte, daß diese zweite Variante der Theorie nicht mit einer Kohäsionsregel arbeitet. Deswegen kann man nach wie vor keine VP-externen fcewe-N's haben. Problematisch bleiben dann aber immer noch Drubigs Beispiele (179) und (180). Kratzer (1990) sagt, daß man diese Beispiele durch Rekonstruktion erklären kann. Eine solche Theorie müßte aber etwas dazu sagen, wieso die Verwendungsbedingungen dieser Sätze ganz andere sind, als bei Sätzen mit Kohäsionen im Mittelfeld. Warum kann man sie nicht als Satzantworten verwenden? Die Jacobsche Kohäsionstheorie vermag das zu erklären. Angelika Kratzer (pers. Mitteilung) meint, daß im Falle von I-Topikalisierung die Negation in LF vor das intonatorisch gekennzeichnete Element bewegt wird. Hohles (161) zeigt aber, daß dies nicht so einfach ist. Betrachte eine Variante dazu: (195)

VIELE (/) von uns können alle Schriften von Hegel NICHT (\) verstehen

Wir haben oben schon darauf hingewiesen, daß wir hier nicht nicht an CP adjungieren können. Wir müssen also das Subjekt erst an Specl zurückbewegen und anschließend nicht über das Subjekt bewegen, nicht aber über das gescrambelte Objekt. Die relevante LF muß also etwas wie das folgende sein: (196)

Alle Schriften von Hegel nicht viele von uns verstehen können

Ob man LF-Bewegung für nicht im Deutschen anzunehmen hat, liegt wesentlich daran, ob man den I-Topikalisierungseffekt auch im Mittelfeld zugibt (Vgl. dazu die Daten 160.) Wie schon gesagt, habe ich dazu keine endgültige Meinung. Klar scheint mir aber zu sein, daß der Effekt bei Kohäsionen nicht auftritt: (197)

a. b. c. d.

ALLE (/) haben NICHTS (\) gegessen weil ALLE (/) NICHTS (\) gegessen haben JEDER (/) von uns will KEIN (\) König sein weil JEDER (/) von uns KEIN (\) König sein will

Alle hat hier stets weiten Skopus bezüglich der Negation. Das negative Element der Kohäsion scheint man also in LF nicht bewegen zu können. Ich möchte zum Schluß noch auf ein merkwürdiges Phänomen hinweisen: Komplementierer, die negative Polaritäts-elemente lizensieren, können die Negation in einem gewissen Sinne absorbieren. Man beachte die folgenden Kontraste: (198)

a. a*. b.

'weil jeder Mensch nicht letztlich gut ist ob jeder Mensch nicht letztlich gut ist o · In Wirklichkeit ist jeder Mensch nicht letztlich gut

244

Arnim von Stechow

b'. c.

Ist in Wirklichkeit jeder Mensch nicht letztlich gut? wenn jeder Mensch nicht letztlich gut ist, ist mein Streben vergebens.

In (a) und (b) hat die Negation engen Skopus bezüglich des Subjekts, daher die marginale Akzeptabilität - wie meistens bei Negation unter einem Aliquanter. Interessanterweise wird dieser Effekt in Fragesätzen und nach wenn aufgehoben, wie (a1), (b1) und (c) zeigen. Es sieht so aus, als würden diese Komplementierer die Negation anziehen, also eventuell abstrakt inkorporieren. Mit anderen Worten, die relevanten LFs wären: (199)

a. b. c.

[ob nicht] jeder Mensch letztlich gut ist [ist nicht] in Wirklichkeit jeder Mensch gut [wenn nicht] jeder Mensch letztlich gut ist

Man könnte diese (abstrakte) Inkorporation dadurch erklären, daß die genannten Komplementierer die Negation s-selegieren. Das Phänomen bedarf freilich weiterer Untersuchung, und so will ich es bei dieser Spekulation lassen. Dafür, daß Kohäsionen reine negative Polaritätselemente sind, spricht auch das Mittelhochdeutsche. (200)

a.

b.

c.

ja ewwirde ich niemer rechte frö (Walther von der Vogelweide, 74,10) werde ich nie mehr recht fröhlich noch e/iwelle kein künig ouch sin (Parzival 36,180) noch will ich ein König sein Und e/ttaete got des nicht ...so e/twaere got nicht gerecht (Meister Eckhart, V, 187, f.)

Alles, was im Skopus einer negierten VP ist, ist hier negativ gekennzeichnet. Die offenen Negationen sind vielleicht nur der Reflex einer abstrakten Negation der VP. Derselbe Konstruktionstyp liegt auch im Bairischen vor, wo man Sätze des Typs (201)

Der Franzl hat kein Bier nicht getrunken

findet (vgl. Bayer 1990). Man kann diese Sätze gemäß der Struktur (161) analysieren und kein und nicht getrunken als negative Polaritätsvarianten von ein bzw. getrunken auffassen. Die abstrakte Negation realisiert sich hier also überall innerhalb der W, im heutigen Standarddeutschen dagegen nur an der zum Hauptverb adjazenten Position. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß sich hier noch kein vollständig konsistentes Bild abzeichnet. Es fällt aber auf, daß keine der hier diskutierten Theorien ernsthaften Gebrauch von der Pollock-Chomsky-Struktur macht. Ich neige Jacobs' Auffassung zu, daß die Satznegation im Deutschen ein Adverb ist. Die I-Topikalisierungsdaten Hohles

Kompositionsprinzipien

245

sprechen dafür, daß es auch vor dem Subjekt stehen kann. Was die Analyse der restitutiven Negation betrifft, so scheint mir Jacobs1 Analyse ebenfalls das zur Zeit verfügbare Optimum zu sein. Problematisch bleiben dann allerdings Kratzers Kohäsionsdaten für externe Subjekte und die Adjazenzbedingung für kohäsive Objekte. Selbst, wenn Jacobs' Erklärung für die Subjekte stimmen sollte, so wäre doch noch mehr über die Objekte zu sagen. Wie dem auch sei: Um die hier diskutierten Fakten zu analysieren, benötigt man eine hochdifferenzierte grammatische Struktur. Das Problem ist nicht, daß man zu viel an strukturellem Ballast hat, sondern daß hier noch allzusehr simplifiziert worden ist. Ein "Oberflächenansatz", der ohne Spuren und Bewegung und Unterscheidung mehrerer Repräsentationsebenen auskommen will, hat meines Erachtens keine Chance.

7. Schluß In diesem Artikel habe ich den genauen Status des vorausgesetzten Barrierenbegriffs offengelassen. Für die Zwecke der Diskussion genügt Bakers (1988) Definition: (202)

Sei D die kleinste maximale Projektion, die A enthält. C ist eine Barriere zwischen A und B gdw. C eine maximale Projektion ist, die B enthält und A exkludiert, und entweder gilt (i) C ist nicht selegiert oder (ii) der Kopf von C ist distinkt vom Kopf von D und selegiert eine max. Projektion, die mit B identisch ist oder die B enthält.

Zentral ist der Begriff der Distinktheit. Für Baker (1988) werden C und D nicht distinkt, falls C nach D inkorporiert worden ist. Die präzise Formulierung der technischen Einheiten ist heikel. Ich habe die Version aus Sternefeld (1990:20 f.) vor Augen. Sie gilt für Antezedensrektion. In Abschnitt 4 hatten wir angenommen, daß ein Kopf eine Barriere für Kasusrektion errichten kann, wenn er eine Spur ist, die Kasus regiert. Der Barrierenbegriff ist also für Kasus- und Antezedensrektion in diesem System nicht immer identisch. Es ist klar, daß es sich hier um eine Variante von relativierter Minimalität handelt. Die Theorie bedarf freilich einer präziseren Ausformulierung. Zur Verdeutlichung sei hier darauf hingewiesen, daß ich genau wie Baker (1988) annehme, daß I und C ihre Komplemente selegieren, nicht aber ihre Spezifikatoren. Für die Bewegung ins Vorfeld wird allerdings vorausgesetzt, daß sich die Eigenschaft, selegiert zu sein, an SpecC überträgt (vgl. Sternefeld 1989). Wir erinnern daran, daß das PUB es verbietet, Barrieren durch Adjunktion zu umgehen. Sie können nur durch Inkorporation geöffnet werden, abstrakt oder offen. Ein offener Punkt in diesem Ansatz ist der Zusammenhang zwischen M- und C-Selektion. Schaut man sich die vorangegangenen Einträge an, so drängt sich die folgende Hypothese auf:

246

(203)

Arnim von Stechow

M- und C-Selektion unterscheiden sich nur durch das Merkmal [± max]

Damit ist gemeint, daß ein "gemischter" Selektionseintrag für eine Kategorie nur die Form "X selegiert [Y, ±max]" haben darf. Zum Beispiel m-selegiert INFL V und c-selegiert VP, Hilfsverben m-selegieren V und c-selegieren VP. Aus der Hypothese würde sofort folgen, daß man ein D-Subjekt nicht nach INFL inkorporieren darf: Da INFL keine NP c-selegiert, kann es auch kein N m-selegieren. Damit besteht kein Auslöser für Inkorporation von N nach INFL. Die Hypothese ist nicht mit unserer Behandlung der kohärenten Kontrollverben, die CP s-selegieren und V m-selegieren, verträglich. Vielleicht ist dies ihre markierte lexikalische Eigenschaft. Offen ist ein weiterer Punkt geblieben, nämlich die Herleitung von Müllers Generalierung (187), daß Inkorporation in einem gewissen Sinne Adjazenz verlangt. Es darf kein näherer Kandidat für Inkorporation vorhanden sein. Diese Adjazenzbedingung scheint allgemein zu gelten, wird aber in Baker (1988) nicht eigens thematisiert. Hier ist möglicherweise ein tieferes, bisher noch nicht gut verstandenes Prinzip involviert. Der hier vorgeschlagene Ansatz setzt voraus, daß störendes Material weggescrambelt werden kann und die Spur die Inkorporation nicht stört. Auch dieses Vorgehen bedarf mit Sicherheit einer weiteren Rechtfertigung.

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Rainer Rath Sprechen wir in Sätzen? Über Einheitenbildung im Alltagsdialog 1. Einleitung: Ausgangslage und Ausgangsfragen 1. Die Themenfrage ist grundlegend für einen großen Teil der Dialogforschung und der Gesprochene-Sprache-Forschung, weil sie ganz wesentliche Gebiete dieser Disziplinen berührt und verbindet. Die Antwort auf diese Frage wird nicht in einem "Ja" oder "Nein" bestehen, sondern in einer Darlegung ziemlich komplexer Gliederungsverhältnisse. Zunächst einige Bemerkungen zur Forschung. Gesprochene-Sprache-Forschung sowie Dialogforschung sind Bereiche, die sich in den letzten Jahren zunehmend als integrative Bestandteile einer interaktionell orientierten Sprachwissenschaft erwiesen haben. Die etwas dogmatisch auf formale Abläufe bezogene und soziologisch geprägte Konversationsanalyse, wie sie Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre auf uns gekommen ist (vgl. die bekannten Anfänge von Schegloff, Jefferson und Sacks, vor allem aber die deutschen Rezipienten wie Kallmeyer/Schütze 1976 und Bergmann 1981), ist heute einer eher sprachwissenschaftlich orientierten Betrachtung des natürlichen Dialogs gewichen (z.B. Kutsch 1988, Müller 1984, 1989, Schu 1985, Rath/Immesberger/Schu 1987, Bergmann 1988, Auer/ Uhmann 1982). Und die lokalen Phänomenen der Alltagssprache verpflichtete GesprocheneSprache-Forschung in den siebziger Jahren (z.B. Wackernagel-Jolles 1971, 1973, Betten 1977/78, Rath 1973, 1975, 1979) hat in den letzten Jahren stärker ihr Augenmerk auf die Abläufe des Dialogs gerichtet. Die sich schon seit einiger Zeit abzeichnende Konvergenz beider Forschungsbereiche wird bereits von Ramge (1977) in richtiger Einschätzung der linguistischen Entwicklung festgestellt bzw. prognostiziert. 2. Neben diesen Wissenschaftsbereichen spielt nach wie vor die Grammatikforschung in der Sprachwissenschaft eine bedeutende Rolle (natürlich neben vielen anderen Gebieten; ich will aber im Interesse meiner Ausgangsfrage den Bereich Dialogforschung - GesprocheneSprache-Forschung kontrastiv dem Bereich der Grammatikforschung gegenüberstellen). Dabei verstehe ich hier in beabsichtigter Vereinfachung darunter sowohl Untersuchungen zur Grammatik von Einzelsprachen, hier die deutsche Gegenwartssprache, als auch Arbeiten zur Konstruktion von Grammatiken oder Grammatikteilen, wie sie neuerdings wieder etwas stärker durch Chomsky-Rezeptionen veröffentlicht werden, vgl. etwa v. Stechow/Sternefeld (1988). Berührungspunkte von Dialogforschung und Grammatikforschung gibt es kaum, abgesehen von einigen wenigen Arbeiten, die beide Bereiche im Blick haben, etwa die überaus gelungene Studie zur Ellipse von Ortner (1987). Hierher gehören auch die Arbeiten von Betten (1976) und Franck (1980). Dies erscheint unter anderem darin begründet, daß Dialogforschung und Grammatikforschung der Empirie einen ganz unterschiedlichen Stellenwert beimessen und die Realitätsbezogenheit beider Bereiche ein übersehbar klares

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Rainer Rath

Unterscheidungsmerkmal darstellt. Während Dialogforschung weitgehend auf Theoriebildung verzichtet hat und vor allem an ihrem Beginn durch stark heuristisch geprägte Vorgehensweisen gekennzeichnet war, sind die Arbeiten zur Grammatik, besonders aber die zur Sprachtheorie, geradezu notwendigerweise auf Konstruktbildung und Kalkülisierung angelegt. 3. Entsprechend den unterschiedlichen Interessen und Ausgangspunkten ist die stark normierte Schriftsprache die Domäne der Grammatikforschung (die Sprachtheorie benutzt sie als Lieferant von "einschlägigen" Beispielen, man denke u.a. an die realitätsfernen mehrdeutigen Sätze!), während die Dialogforschung sich definitionsgemäß mit der spontan gesprochenen Sprache befaßt. Liegt diesen beiden "Existenzformen" der Sprache (Mackeldey 1987, S. 29 u.ö.) das gleiche System zugrunde? (Vgl. dazu Rath 1985, Mackeldey 1987.) Letzterer stellt "Literatursprache" und "Umgangssprache" einander gegenüber und nimmt an, daß zwischen beiden "systemhafte Unterschiede" bestünden. Umgangssprache besitze "eine eigene grammatische Norm und kann als eigenständiges System gelten ... Eine kodifizierte grammatische Norm existiert allerdings nicht" (S. 30). Mir scheint diese Frage sehr komplex. Wenn ich einem Muttersprachler ein Tonband eines normalen natürlichen Gesprächs in deutscher Sprache (z.B.) vorspiele und ihn frage, in welcher Sprache hier gesprochen würde, wird die Antwort unzweifelhaft "deutsch" lauten. Die gleiche Antwort bekäme ich, wenn ich statt dessen ein normales schriftsprachliches Erzeugnis deutscher Sprache vorgelegt hätte. Einerseits bestehen nicht übersehbare Gemeinsamkeiten zwischen beiden "Existenzformen", andererseits sind die Produkte beider Bereiche so verschieden, daß man geneigt ist, Zweifel an der Feststellung anzumelden, es gebe ein einheitliches zugrundeliegendes System. Sind es, wie oft angenommen (vgl. Übersicht in Rath 1985), unterschiedliche Gebrauchshäufigkeiten innerhalb eines Systems, oder handelt es sich um zwei (unterschiedlich regulierende) Systeme? Seit eine kontrastiv angelegte Forschung: geschriebene vs. gesprochene Sprache existiert, und ich möchte diese Gegenüberstellung hier in einem sehr generellen Sinn verwenden, haben die Feststellungen eine fast schon kanonische Form etwa dergestalt angenommen: X ist in gesprochener Sprache häufiger/ seltener als in geschriebener (Literaturbeispiele: zahllos). Meist ist nach dieser Devise: gleiche Systeme - unterschiedliche Gebrauchshäufigkeit verfahren worden. Es wäre aber auch die Hypothese denkbar: Die zugrundeliegenden Systeme sind nur partiell gleich. Etwa in folgender Art: Der gesprochenen Sprache liegt ein einfaches, wenig komplexes System zugrunde. Es verfugt darüber hinaus über eigenständige, nur diesem System eigene Regeln. Damit lassen sich bestimmte Erscheinungen wie spezielle Ellipsen ("Konstruktionsübernahmen", Rath 1979), Sprecher-Hörer-Signale, alle Korrekturphänomene (und weitere) beschreiben. Ähnlich ließe sich formulieren für geschriebene Sprache. Mir erscheint eine solche Ansicht angemessener als die Entweder-oder-Entscheidung. 4. Ein wesentlicher Bereich, an dem sich diese Problematik vertiefen läßt, stellt die Einheitenbildung in der Standardschriftsprache und in der gesprochenen Sprache dar. In Grammatik und Sprachtheorie gilt heute wie vor hundert Jahren der "Satz" als die größte linguistische Einheit, unbeschadet der Tatsache, daß auch größere - diskursive - Einheiten

Einheitenbildung im A lltagsdialog

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akzeptiert werden. Aber nicht als Gegenstand einer strikten Grammatik ("grammatiknahe" textlinguistische Ansätze wie "pronominale Verkettung" sind allein nicht in der Lage, diese diskursiven Einheiten auch nur annähernd zu beschreiben). Die vielen Definitionsversuche (Ries 1967, Seidel 1970 u.a.) haben gezeigt, daß eine Realdefinition offenbar nicht möglich ist: Verbindlichkeit wurde nicht erreicht. Jedermann, auch der Linguist, benutzt diesen Begriff, wie viele andere derartige Begriffe, ohne daß endgültig Klarheit über seinen Status besteht. Heute scheint Übereinstimmung darüber zu bestehen, "Satz" im linguistischen Sinne in zweifacher Hinsicht zu verwenden, als ein Abstraktum, nämlich als die Menge aller Regeln zu seiner Bildung, und als ein Konkretum, die durch Zeichensetzung abgesetzte und durch Vollständigkeitsbedingungen begründete konkrete Einheit. Ein zentraler Begriff jedenfalls für die Schriftsprache, der in jeder Grammatik eine bedeutende Rolle spielt: Die Schriftsprache ist nach Sätzen gegliedert, der "Satz" ist ihr Angelpunkt. Gilt dies auch für die Sprache des spontanen Dialogs? Oder sind in der gesprochenen Sprache andere Gliederungsprinzipien, andere Segmentationsprinzipien wirksam? Diese Fragen sind von erheblicher theoretischer und praktischer Bedeutung. Theoretisch handelt es sich in abgewandelter, konkreter Form um die Frage nach dem zugrunde liegenden System in beiden Bereichen (s. oben). Praktisch geht es um die Darstellung, Gliederung und Anordnung des gesprochen realisierten Textes in geschriebener Form. Dies wird auch von Mackeldey (1987, 45) erkannt: "Ein Kardinalproblem der Verschriftung mündlicher Texte ist die Textgliederung."l Denn bei der Verschriftung muß immer wieder neu entschieden werden, wie der Text vom Sprecher gegliedert ist und wie der Text dementsprechend in der schriftlichen Form "dargestellt" werden muß, so daß man ihn auch "hört". Dies stellt eine interpretative Aufgabe dar. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß ein Verschrifter in die Rolle eines Gesprächsteilnehmers schlüpft, und zwar immer in die des jeweiligen Hörers, um im nachhinein interpretativ am Gespräch teilzunehmen. Die Teilnahme befähigt ihn, zu "verstehen" und entsprechend seinem Verständnis den Text zu verschriften. Und dies heißt auch, ihn zu interpretieren, ihn zu gliedern. Da es sich immer um dialogische Texte handelt, gibt es einen ständigen Wechsel in der Worttuhrung, und genau diese charakteristische Tatsache prägt die gesamte sprachliche Gestaltung des Alltagsgesprächs. D.h. aber: Die sprachliche Gestaltung ist abhängig von interaktiven Gegebenheiten. Diese sind per se anderer Natur als die grammatisch internen strukturellen Regelmäßigkeiten.

Die im ganzen kommunikativ ausgerichtete Aibeit Mackeldeys enthält eigene Sprachaufhahmen aus dem "südlichen Teil der DDR" und auf sie bezogene Analysen. Hinsichtlich der Gliederungsproblematik in Äußerungseinheiten, die von Mackeldey, wie das Zitat belegt, richtig erkannt wird, werden syntaktische Kriterien überbewertet. Die Transkription erfolgt nach Satzgrenzen (!), wobei von "prädikativen Einheiten" ausgegangen wird. Also eine rein syntaktische Gliederung. Ich hoffe, hier zu zeigen, daß die Sprache des spontanen Gesprächs interaktiv gegliedert ist, ohne daß dabei auf die Syntax verzichtet wird.

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2. Die Äußerungseinheit 1. Nach diesen einführenden Bemerkungen folgende Hypothesen: Der Verlauf der Rede in der Zeit wird durch verschiedene Normensysteme geregelt. Einmal wird die Rede nach grammatischen Regeln gebildet, andererseits gibt es Gliederungsprinzipien, die interaktive Gesichtspunkte des Alltagsgesprächs (Sprecherwechsel und weitere Eigenschaften) reflektieren. Ich möchte diese Unterscheidungen an folgendem Textbeispiel erläutern.2 Textkontext: Spontanes Gespräch zwischen einer Studentin und einem Studenten, die kontrovers das Thema 'Ehe1 diskutieren. "ja aber das ist doch noch nich das is doch noch nich Ehe ich meine unter Ehe verstehen wir doch nich nich nur eine Liebe so ne besondere Liebe zu einer Frau sondern Ehe is eine ganze Institution mit mit sagenhaft vielen Verpflichtungen die beide Partner gegenüber haben und also ich weiß nich ich müßte wir können das gar nich so schrecklich schnell abtun und meine These vielleicht is sie falsch is doch die daß unsere Vorstellung der abendländische Begriff der Ehe wesentlich geprägt is durch das Christentum oder durch durch christliche Vorstellungen und daß da wir im Augenblick eine große Wandlung sich vollzieht und ich meine von von von Säkulari Säkularisierung is das is schon n veralteter Begriff ja also das Christentum verliert immer mehr an Bedeutung oder verliert seinen Sinn und es ist viel viel schwerer noch noch den christlichen Glauben aufrechtzuerhalten bei Weltraumforschung und bei allen grade biochemischen Erkenntnissen und man man is fähig irgendwie Plasma zu zeugen was weiß ich und in diesem in diesem ja großen Wandel der sich im Augenblick vollzieht zu dem gehört auch daß daß dich die Vorstellung vielleicht der Ehe neue ja neue Gestalt annimmt und daß daß also also eigentlich aus aus dieser Sicht heraus man sich die vielen Probleme auftun denn wie anders könnten sonst die Chinesen plötzlich quasi die Ehe abschaffen ..." (Texte 1,223). Was hier schriftlich wiedergegeben ist, ist allein der gesprochene Text der Sprecherin ohne simultane oder auch nicht-simultane Hörersignale. Verzichtet ist bei dieser Textpräsentation auch auf prosodische Merkmale sowie Pausen. In dieser Form bietet der Text zunächst gewisse Verständnisschwierigkeiten, man muß ihn mehrfach lesen, um ihn zu verstehen, um eine Interpretation herauszuholen. Ganz anders, wenn man sich aus der Leserrolle in die Hörerrolle begibt und sich den Text anhört. Wir verstehen das Gesagte sofort ohne jede Schwierigkeit. Dies liegt daran, daß bei der simplen schriftlichen Präsentation die Gliederung, die Formung des Textes verlorengegangen ist. Diese Gliederung kann nicht einfach dadurch erreicht werden, daß wir eine an der Schriftsprache orientierte Interpunktion anbringen. Denn diese setzt schriftsprachliche Einheiten voraus, die hier nicht durchgehend gegeben sind. Bei

Zitiert werden Beispiele aus: "Texte gesprochener deutscher Standardsprache* Bd. l u. 3, 1971, 1975. Allerdings werden die dort verwendeten nichtorthographischen Zeichen weggelassen. Alle Beispiele sind mehrfach von mir abgehört worden. In diesem Beispiel sind alle hörerseitigen Äußerungen (Hörersignale) weggelassen. Dazu noch weiter unten.

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genauer Betrachtung des Textes ist zu erkennen, daß der Text nach grundsätzlich verschiedenen Anordnungsprinzipien gebaut ist: a) Zum einen ist deutlich zu erkennen, daß er Einheiten enthält, die nach morphologischen und syntaktischen Regeln der Standardschriftsprache aufgebaut sind. Dazu gehört z.B. die Einhaltung bestimmter Wortfolgen usw. Der Text ist also unter Gesichtspunkten der Syntax keineswegs regellos gebaut. Insbesondere ist hier auch hervorzuheben, daß ein großer Teil des lexikalischen Materials im üblichen standardsprachlichen Sinne verwendet wird. b) Zum zweiten enthält der Text Wiederholungen, Abbruche, Kontaminationen (z.B.: da wir im Augenblick eine große Wandlung sich vollzieht ist kontaminiert aus: Da wir eine große Wandlung vollziehen und: da eine große Wandlung sich vollzieht) und Korrekturen. Also Merkmale, die nicht den Regeln der Schriftsprache entsprechen und aus der gesamten Interaktionssituation abzuleiten sind. c) Schließlich finden wir an bestimmten Stellen Wörter und Wortgruppen, die nicht oder nicht in erster Linie referentiell verwertet werden: ja und also ich weiß nich was weiß ich und weitere. Diese schon des öfteren beschriebenen "Gliederungssignale" dienen dazu, größere Textstücke zu portionieren, indem sie - nicht abhängig von syntaktischer Gliederung, aber auch nicht gegen sie - eigene Grenzen bilden. Genau innerhalb dieser Grenzen wird die zentrale interaktive Größe "Äußerungseinheit" konstituiert. An dieser Konstituierung wirken neben diesen Gliederungssignalen weiterhin prosodische Elemente sowie (stille u. gefüllte) Pausen mit. Was ist eine Äußerungseinheit? Es ist der Textteil, um vorweg eine ältere Bestimmung von mir (Rath 1976, 66f.) aufzunehmen, "der 'auf einmal' als eine Einheit produziert und rezipiert wird. Damit ist zunächst nicht die äußere sprachliche Gestalt der Einheit Basis ihrer Bestimmung, sondern die Intention des Sprechers, verstanden werden zu wollen, und die Fähigkeit des Hörers, verstehen zu können. Die Äußerungseinheit ist mithin eine Hypothese über kommunikative Textgliederung. Sie ist nicht mit dem 'Satz' der Grammatik identisch. Sie ist oft kleiner als der Satz (...), sie kann über Satzgrenzen hinausgehen (...). Oft aber fallen Satzgrenze und Grenze der Äußerungseinheit zusammen."3 Ja aber das is doch noch nich das is doch noch nich Ehe | + ich meine unter Ehe verstehen wir doch nich nich nur eine Liebe so ne besondere Liebe zu einer Frau sondern Ehe is eine ganze Institution mit mit sagenhaft vielen Verpflichtungen die beide Partner gegenüber haben l + und + P (teäw. gef.) + ich weiß nich * Anakoluth (ich müßte) wir können das gar nich so schrecklich schnell abtun 4 + und + P (gef.) meine These vielleicht is sie falsch is doch die daß unsere Vorstellung der abendländische Begriff der Ehe wesentlich geprägt is durch das Christentum Im Zusammenhang mit der Nacherzählung von (wortlosen) Filmgeschichten kann Chafe (1980) zeigen, daß abgeschlossene Sinneinheiten ("idea units") nicht mit syntaktischen Grenzen übereinstimmen müssen. "Diese Satzbeendigungsintonation fiUt hiufig, keineswegs jedoch immer, mit einem syntaktischen Abschluß zusammen". Müller 1989, 251 stellt dazu fest: "Offensichtlich ist die Abgeschlossenheit eines 'Gedankens' also keineswegs unausweichlich mit einer syntaktischen 'Vollfonn' gekoppelt Eine wie eine abgeschlossene Einheit behandelte (und es wohl in der Kognition des Sprechers auch tatsächlich seiende) 'idea unit1 kann durchaus aus einem einzigen Fokus (...) bestehen, der syntaktisch gar nicht (oder sehr lose) mit der Vorgänger- und Nachfolgeeinheit verknüpft ist..."

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Rainer Rath I + P + oder durch durch christliche Vorstellungen i + «/ / + Anakoluth (daß) da wir im Augenblick eine große Wandlung sich vollzieht 4 + um/ + P + icA meine + Anakoluth (von von von Säkulari) Säkularisierung is das is schon n veralteter Begriff ja + ** + also das Christentum verliert immer mehr an Bedeutung oder verliert seinen Sinn | + und es is viel viel schwerer noch noch den christlichen Glauben aufrechtzuerhalten bei Weltraumforschung und bei allen grade biochemischen Erkenntnissen und man man is fähig irgendwie Plasma zu zeugen was weiß ich + j + P + Und + P (gef.) in diesem ja großen Wandel der sich im Augenblick vollzieht zu dem gehört auch daß daß dich die Vorstellung vielleicht der Ehe neue ja neue Gestalt annimmt daß daß also also eigentlich aus aus dieser Sicht heraus man sich die vielen Probleme auftun l + denn wie anders könnten sonst die Chinesen plötzlich quasi die Ehe abschaffen

Der Text ist so angeordnet, daß der gesamte "Grenzkomplex" mit Gliederungssignalen, Pausen und Angaben über den Tonhöhenverlauf für sich in einer Zeile steht und damit abgesetzt ist vom eigentlichen (referentiellen) Text, von der Information. Daß dabei die 'suprasegmentalen Zeichen1 des Tonhöhenverlaufs von ihren Trägem' getrennt sind, wird in Kauf genommen. Die Anakoluthe werden ebenfalls in den Grenzkomplex gestellt; sie treten an diesen Stellen gehäuft auf. (Dazu Rath 1979, 219 u.ö.) Ich habe diese Anordnung deshalb gewählt, um zu demonstrieren, welcher Aufwand notwendig ist, einen Text interaktiv "einzubetten", ihn interaktiv tauglich zu machen. Es wäre leicht möglich, alle diese nichtreferentiellen Zeichen wegzulassen, dann aber wäre man auf dem besten Wege, einen anderen, einen schriftsprachlichen Text zu verfassen. Im Alltagsgespräch muß über die Formulierung des referentiellen Textes hinaus eine - wenn auch oft 'kleine' - Botschaft vermittelt, übermittelt werden. Sie ist direkt an den Partner gerichtet. Und diese 'Adressiertheit' muß kenntlich gemacht sein. Das geschieht durch die Gliederungssignale. 3. Sprecher und Hörer bauen den Text auf und bilden Äußerungseinheiten. Die Rolle des Sprechers im Dialog hat von Anfang an viel Aufmerksamkeit gefunden. Die Hörerrolle ist erst in den letzten Jahren stärker ins Blickfeld gerückt (z.B. Quasthoff 1981, Rath 1981, Müller 1989, Willkop 1988). Empirische Untersuchungen haben erwiesen, daß dem Hörer eine nicht zu unterschätzende Rolle beim Ablauf und bei der Steuerung des Dialogs zukommt. Müller (1989, 223) formuliert dies etwas überspitzt, wenn er sagt: "Der Zuhörer steuert Inhalt und Gestalt der Sprachform (fast) ebenso stark wie der Sprecher." Es lassen sich viele Stellen im Dialog nachweisen (vgl. Rath 1979, 124ff.), die Hörersignale als "selbständige Steuerungselemente" enthalten, nicht in der Absicht verwendet, einen Sprecherwechsel herbeizuführen (ebenda, 128). Diese eher steuernde Funktion der Hörersignale betrifft den globalen Dialogverlauf in seiner Themengestaltung, in einzelnen Bewertungen

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von Urteilen, Meinungen und dergleichen. Darüber hinaus ist der Hörer aber auch am lokalen Dialogverlauf beteiligt: Durch Setzung von Hörersignalen wirkt er am Aufbau von Äußerungseinheiten mit (Rath 1979, 34). Darauf macht auch Willkop (1988, 50) aufmerksam; die Verfasserin erkennt "entgegen der üblichen Praxis" den Hörersignalen auch eine Gliederungsfunktion zu. Nach ihren Beobachtungen werden die Hörersignale "in der Regel direkt an syntaktischen Grenzen oder leicht verzögert plaziert, während der Anteil eindeutig vor Abschluß einer solchen syntaktischen Einheit verwendeter Rückmeldesignale sehr gering ist." Sie vermutet, "daß der Hörer den Sprecherbeitrag seinerseits in für ihn verständliche Einheiten gliedert." Es mag ja quantitativ nachweisbar sein, daß Hörersignale öfter an "syntaktischen Grenzen" (womit eindeutig Satzgrenzen gemeint sind - und schon haben wir den Satz wieder im spontanen Dialog) gesetzt werden. Andererseits aber finden sich zahllose Beispiele (eines wird unten behandelt, ein weiteres zur Veranschaulichung zitiert), in denen Hörersignale nicht an Satzgrenzen plaziert sind - sofern 'Sätze1 überhaupt bestimmbar sind. Es geht mir nicht darum, Syntax gegen Interaktion auszuspielen, sondern darum, zu zeigen, daß hier zwei unabhängige Gliederungsprinzipien existieren. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Plazierung der Hörersignale willkürlich erfolge. Dort, wo sie stehen, "beziehen" sie sich auf den vorangehenden Äußerungsteil des Sprechers und schließen diesen damit zunächst ab (mit oder ohne kommentierenden Ton). Ein kurzes Beispiel hierzu (I, 239):4 Sprecher: Hörerin: Sprecher: Hörerin: Sprecher: Hörerin: Sprecher: Hörerin:

... du mißverstehst mich. II Ich meine daß es eben daß es eben für solche Momente eben wichtig ist daß eben nicht allein auf solcher Basis die Ehe gegründet ist. II Na gut aber Daß auch auch gewisse gewisse geistigen Interessen II Ja notwendig sind um dann in der Krise die Ehe zu überbrücken II Ach Und die Krise überhaupt die Krisenzeit zu überbrücken Oh nein also ich ... (Sprecherwechsel)

Hier haben wir mehrere Beispiele, die zeigen, daß und wie der Hörer an der Konstitution von Äußerungseinheiten mitwirkt. In Zeile 7 wird durch das (relativ) neutrale Hörersignal ja eine Äußerungseinheit mitkonstituiert, die kaum als syntaktische Einheit gewertet werden kann: Daß auch auch gewisse gewisse geistigen Interessen. Es handelt sich, syntaktisch gesprochen, um einen unvollständigen Nebensatz. Dennoch stellt dieser eine für den Hörer abgrenzbare, bestätigbare und kommentierbare Einheit dar. Als Folge davon wird nun auch der zweite Abschnitt dieses Nebensatzes ebenfalls zu einer Äußerungseinheit, die mit dem Hörersignal ach abgeschlossen und kommentiert wird. (In der Funktion, "die Relevanz des Vorgängerbeitrages einzuschränken. In diesen Fallen wird mit 'ach' eine Korrekturanforderung gestellt" Willkop 1988, 219.)

"l steht für die Grenze von Äußerungseinheiten; die senkrechten Striche werden für simultanes Sprechen verwendet.

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Der Hörer macht sich durch diese (in ihrer Eigenständigkeit vielfach unterschätzten) Handlungen die gesprochene Kette des Sprechers interaktiv tauglich, indem er sie kraft seines Hörerstatus selbständig und unabhängig vom Sprecher in einzelne Segmente zerlegt. Diese Segmentierung ist einerseits nicht willkürlich, weil vom Hörer gesteuert, andererseits scheint sie aber auch nicht starren, kategorialen Regeln unterworfen, denn auch die gesteuerte Plazierung der Hörersignale hängt im wesentlichen ab von Thema, Bewertung, Interesse, Interessantheit, Personenkonstellation, kurz: von den Bedingungen des jeweiligen konkreten Dialogs mit seiner komplexen Interaktionssituation.5 Es soll hier noch kurz der Fall besprochen werden, daß Sprecher und Hörer gemeinsam eine Äußerungseinheit bilden. Dazu das folgende Beispiel: III, 119f. Sprecher:

Hörer:

also es dauert n Weilchen schließlich und endlich hob ich nich nachgelassen II und dann hat sie s mir dann hinten im Mietbuch mit einquittiert // ne ja

Sprecher:

also öh das is irgendwo so öh zwiespältig man weiß nie woran man richtig is ne

ne und;a stehen in dem bekannten Verhältnis von Vergewisserung und Bestätigung (vgl. z.B. Willkop 1988, 71ff.). Hier kommt es mir darauf an zu zeigen, daß Sprecher und Hörer eine Äußerungseinheit gemeinsam bilden. Der Sprecher macht durch Setzung eines Sprechersignals (ne) einen Gliederungsvorschlag, der gewissermaßen vom Hörer durch Setzung des Hörersignals ja ratifiziert wird. Dies ist die Grundfunktion derartiger Partikeln (Willkop 1988, 50). Darüber hinaus sind gleichzeitig (und nur in linguistischer Beschreibung analytisch getrennt) weitere wesentliche Funktionen, wie in diesem Fall Vergewisserung und Zustimmung, festzustellen. Derartige aufeinander bezogene Gliederungssignale realisieren auf eine implizite Weise das Prinzip der konditioneilen Relevanz: Sie bilden ein Adjazenzpaar: Vergewisserungs/rage - Bestätigungsanftvorf.

3. Äußerungseinheiten unabhängig von der Syntax? 3.1 Sprecher Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit, die bei Interaktionen zu bewältigen ist, besteht sprecherseits darin, einen für den Hörer verständlichen Beitrag zu liefern; d.h. auch: im fortschreitenden Verlauf des Sprecherbeitrags diesen in kleinere (verstehbare) Einheiten zu gliedern und Ich gebe noch ein weiteres Beispiel für den von Satzgrenzen unabhängigen Umgang mit Hörersignalen. In diesem Beispiel wird das Hörersignal eben "mitten in den Satz" gesprochen - aber es wird genau an die interaktiv kritische Stelle gesetzt Es ist jene Stelle, der unmittelbar die Wortgruppe vorausgeht - ein Akkusativobjekt -, die allein eines Kommentars bedarf. (Dazu Rath 1979,126): Sprecher: Verzeihung Herr Schmidt jetzt tun Sie mir Unrecht //

Hörer:

Sprecher:

Ich habe hier den Präsidenten des Bundestages eben gebeten (...)

Einheitenbildung im Alltagsdialog

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diese Gliederung auch kenntlich zu machen. Wenn der Sprecher z.B. das Gliederungssignal gell im folgenden Sprecherbeitrag benutzt, so kann er, je nach Intention, dieses Signal an verschiedenen Stellen plazieren. Er ist dabei prinzipiell von der Syntax, unabhängig. Gegeben seien die folgenden Sprecherbeiträge:6 (1) Kannst du mir bitte das Buch geben gelfi (eine Äußerungseinheit; gell hier als relativ neutrales Gliederungssignal, vielleicht mit dem Zusatz: ich erwarte die Handlung von dir). (2) Kannst du gell (und nicht ein anderer) mir bitte das Buch geben! (zwei Äußerungseinheiten) (3) Kannst du mir bitte gell (ich vergesse das Bittesagen nicht) das Buch geben! (zwei Äußerungseinheiten) (4) Kannst du mir bitte das Buch gell (und nicht die ganze Mappe) geben! (zwei Äußerungseinheiten) (Anmerkung: Es gibt auch den Fall mit vorausgestelltem gell; von meiner vierjährigen Tochter höre ich immer wieder die Frage: Gell, Süßigkeiten gibts keine! - Gell in der Bedeutung: 'ich weiß ja, daß du schon gesagt hast, es gibt keine, aber ich erlaube mir dennoch einmal die Frage, ob es vielleicht doch noch was gibt1.) Diese semantisch-referentiell gleichen Sprecherbeiträge werden durch die unterschiedliche Plazierung des Sprechersignals in jeweils verschiedene Äußerungseinheiten aufgeteilt. Die Syntax dagegen bleibt in der Form ein und desselben Satzes voll erhalten. Es ist durchaus einzuräumen, daß das Sprechersignal "markierende" Funktion hat; es ist damit, wie üblich, Kommentar. Diese Funktion geschieht im Zusammenwirken mit der Prosodie. In den angegebenen 4 Versionen eines im Wortlaut gleichen Sprecherbeitrags führt die unterschiedliche Plazierung des Sprechersignals zu konnotativen Verschiebungen der Äußerung. 3.2 Hörer Der Hörer hat nicht nur die Aufgabe des Nachvollzugs, der Rezeption, sondern auch die, diesen Nachvollzug aktiv kenntlich zu machen. Die hierzu überaus häufig verwendeten nonverLediglich aus Platzgründen ist hier ein konstruiertes Beispiel gewihlt worden. Um aber zumindest authentisch zu bleiben, das folgende Textbeispiel: 1,239 f. Sprecherin: l (...) ich ich hab mich mit Herrn Frühbold heute wunderbar über menschliche Probleme unterhalten und der wird nicht als Intellektueller bezeichnet // | Also + P + ich weiß nich + P (gef.) II 2 Dagegen muß ich mich unheimlich wenden l weißt Du * II 3 Das ist so die Art die wir Studenten einnehmen j nich SII 4 Der Intellektuelle nich II 5 der Einblick hat weißt Du II 6 so zu wissen was die Welt im Innersten zusammenhält l ja * Die ÄuBerungseinheiten 4, 5, 6 stimmen nicht mit Satzgrenzen überein. Die Gliederungssignale lösen kleinere Einheiten aus dem Salzverband heraus und setzen diese als kommentierte Einheiten für die Dialogteilnehmer fest

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balen Hörersignale spielen im spontanen Dialog vermutlich die wichtigste Rolle. Sie entziehen sich aber - auch hier - mangels empirischen Materials einer nachprüfbaren linguistischen Deutung (vgl. Scheflen 1976). Darüber hinaus aber kann der Hörer, wie gezeigt, auch aktiv und schöpferisch selbst Äußerungseinheiten bilden, indem er den Sprecherbeitrag des Sprechers durch Setzen von neutralen oder kommentierenden Hörersignalen selbst portioniert. Ebenso wie der Sprecher ist der Hörer in der Portionierung prinzipiell frei. Er kann an jeder Stelle des Dialogs Hörersignale setzen. Dies wird an den obigen Beispielen deutlich. Es leuchtet auch unmittelbar ein, daß alles Gesagte kommentierungsfähig ist, nicht nur die Themen und Bedeutungsträger, also nicht nur die Inhalte, sondern eben auch - metasprachlich Wortwahl und Formulierungsart. 3.3 Syntax und Interaktion Ich möchte die bisherigen Überlegungen zusammenfassen. Wir haben mehrfach gegenübergestellt: syntaktische und interaktive Gliederung. Dabei haben wir gesehen, daß die interaktive Gliederung unabhängig von der syntaktischen ist. Zu diesem Ergebnis kommt man insbesondere dann, wenn man jedes Sprechersignal und jedes Hörersignal als Grenzen von Äußerungseinheiten wertet.7 Sprecher und Hörer ziehen innerhalb der ablaufenden Syntax eigene, interaktive Grenzen, an die (Bestätigungs-, Vergewisserungs-, Kommentar-...) Signale gesetzt werden. Die Konstituierung dieser Grenzen (und damit der Äußerungseinheiten) ist, s.o., von der gesamten Interaktionssituation abhängig. Die Sprecher- und Hörersignale sind implizite Größen, sie drücken das, was sie ausdrücken sollen, in nichtreferentieller Form aus. Man bekommt diese Signale nicht über die Semantik zu fassen. Sie haben und lassen Spielraum. Dialog und Argumentation werden von ihnen (mit)gesteuert. Auf diese implizite Weise wird nicht eine semantische, sondern - die Gegenüberstellung sei erlaubt - eine emotionale Ebene angesprochen. Diese Tatsache ist es, die uns diesen Signalen eine interaktive Kraft zusprechen läßt. Ihre Anwendung fuhrt dazu, daß wir an bestimmten Stellen im Ablauf der Syntax zusammen mit dem Dialogpartner haltmachen, stehenbleiben. Wie ist in diesem Zusammenhang die Syntax einzuordnen und zu bewerten? Die Normgebung der kodifizierten Grammatik wirkt über die Schriftsprache (und deren gezielte Einübung in allen Bildungsinstitutionen) auch auf das gesprochene sprachliche Verhalten ein. Weite Bereiche auch der spontan gesprochenen Sprache sind, wie schon die frühen Untersuchungen von Leska (1965) zeigen, durchaus syntaktisch - wie die Schriftsprache - geprägt. Die Regeln der Syntax werden durchgängig angewandt - allerdings ist die "Regelauslegung" durch den spontan Sprechenden sehr viel weniger eng und "großzügiger" als durch den Schreiber. GeMit dieser Bewertung der Signale gehen wir über die bestehenden Ansätze hinaus. Vgl. aber Schaeffer (1979), der tendenziell dieser Auffassung zuneigt, wenn er schreibt: "aus der Existenz eines Korrektursignals, einer Vergewisseningsfonn, generell eines Gliederungssignals läßt sich auf die Grenze eines Gedankenschrittes einer intendierten Einheit schließen." (123)

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rade aber diese "lockere Fügungsweise, bedingt durch die allmähliche Entwicklung des Gedankens" (Leska 1965, 459) ist ein wesentlicher Grund dafür, daß Sprecher und Hörer ohne Rücksicht auf strikte Satzgrenzen eine eigene interaktive Gliederung über die Syntax legen können - mit Hilfe der genannten Gliederungsmittel. So ist der Dialog fast in aller Regel von einer 'doppelten' Gliederung durchzogen. Dies ist ein charakteristisches Merkmal des Alltagsgesprächs. Beiden Gliederungsprinzipien kommen verschiedene Aufgaben zu, die in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen. Um dieses zu erläutern, komme ich noch einmal auf die Unterscheidung zurück, die ich bei der Bestimmung des Satzbegriffs getroffen habe. Die Menge der Syntaxregeln - also der abstrakte Satzbegriff - bleibt auch beim spontanen Sprechen selbstverständlich in Geltung. Potentiell werden immer 'Sätze' gebildet. Die Syntax hat also hier eine sprachinterne konstruktive Aufgabe. Die Durchführung dieser Aufgabe führt nun aber nicht automatisch zum 'Satz' im konkreten Verstand. Denn die konkreten syntaktischen Gebilde werden immer wieder 'durchsetzt', 'unterbrochen' durch interaktive Anweisungen, bereits Gesagtes als Einheit zu verstehen, unabhängig davon, ob eine Satzgrenze erreicht oder überschritten ist. Diese Aufgabe wird von den oben beschriebenen Gliederungsmitteln übernommen und führt zur Bildung von Äußerungseinheiten. Allerdings gibt es Dialogpassagen, in denen die syntaktische Gliederung sehr schwach ausgeprägt ist. Dazu die beiden folgenden Beispiele: (111,30): (Kontext: In einem Gespräch unter Ehepartnern erzählt die Frau eine Geschichte über die Angst eines Kindes vor dem 'Nachtvogel'.) Sprecherin:

... sind sie mal die Eltern nach Hause gekommen und haben ans Fenster geklopft II weil sie den Schlüssel nicht hatten II und da war für das Kind klar da ist der Nachtvogel // und da hat er ne Vase genommen und durchs Fenster geschmissen II und dann haben die Eltern ihn arg geschimpft und bestraft II daß er so ne gute Vase II und das Fenster kaputt II und dreckiges Wasser aufs schöne Kleid und so II...

(III, 83f.): (Kontext: Ein junges Paar unterhält sich auf einer Verbrauchermesse mit einem Messeverkäufer.) AA:

AB?: AA:

und der gute Mann da // der erklärt den Kunden II "wenn se nen Topf öffnen II dürfen sie nie mit kaltem Wasser drüber laufen lassen sondern müssen oben nen janzen Dampf ablassen // wenn sie kaltes Wasser drüberlaufen lassen // werden die Vitamine zerstört" nel hm wir haben en voriges Mal mal rangeholt II "Mein lieber Freund'. //

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AB: AA:

AC: AB: AA: AB: AA:

Rainer Rath Nocheinmairil Dann gents aber losl II (lacht) und jetzt macht ers nicht mehr! // nein // wir haben den Stand schließen lassen II nichl Geschäftsschädigung

mm mhm nel

II ich bin jetzt siebzig Jahre alt // Hab ich es nötig den Leut etwas zu erzählen was nich stimmt"! II nein nein II nichl so ne große Lebenserfahrung II nichl und geschäftliche Erfahrung und so weiter // nichl da sollen se mal machen was se wollen II...

Im eisten Beispiel (die letzten 3 Zeilen) eine assoziative Reihung unvollständiger syntaktischer Gebilde (nicht total syntaxlos), gegliedert u.a. durch und, das hier als Gliederungssignal eingesetzt ist. Im zweiten Beispiel ("Geschäftsschädigung" und die letzten Zeilen) Fokussierungen in Form isolierter Nominalgruppen. Die Pointe ist: Die Syntax ist weitgehend unvollständig (es 'fehlen' sämtliche Verbformen), also defizitär. Die interaktive Gliederung ist, besonders im zweiten Beispiel, gut ausgearbeitet - d.h. die Verständigung ist trotz schwach ausgebildeter Syntax nicht gefährdet.8

4. Das "jetzt" als Integrationseinheit Ich möchte hier noch einige Beobachtungen aus der Wahrnehmungs- und Gestaltpsychologie wiedergeben, die geeignet erscheinen, die Äußerungseinheiten von einer nicht-linguistischen Seite aus zu begründen. Der Münchner Psychologe Ernst Pöppel beschäftigt sich in dem Buch: "Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung" (1987) vor allem mit der Frage, wie der Mensch ein ablaufendes Nacheinander als simultane Einheit auffaßt. Er stellt fest, daß es "im Gehirn eine zeitliche Grenze der Integrationsfähigkeit von zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignissen" gibt (55). An zunächst nicht-sprachlichen Ereignissen kann Pöppel zeigen, "daß die Grenze der subjektiven Gruppenbildung für die meisten Menschen 8

Vgl. dazu Klaus Müller (1989,250ff.), der im Rahmen einer Untersuchung zum interaktioneilen Lernen aus derartigen Beispielen ableitet, daß die Syntax eine wichtige Rolle bei der Dialogorganisation spiele, und zwar in dem Sinne, daß in alltäglichen Dialogen "bei gesichertem Rederecht' (etwa in konversationellen Erzählungen) die Syntax weitgehend aufgegeben werden kann, und erst am Ende des Diskurses, "wenn die Dialogorganisation selbst wieder ausdrücklich 'geordnet* werden soll", z.B. um die RedeUbergabe vorzubereiten (250), wieder voll in Kraft tritt Es ist auffällig, um eine weitere Beobachtung nur anzudeuten, daß derartige, syntaktisch schwach ausgebildete Dialogstücke durchaus Texten ähnlich sind, wie sie uns aus natürlichen Dialogen des ungesteuerten Zweitsprachenerwerbs bekannt sind.

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etwa bei 2,5 - 3 Sekunden liegt" (55). Er erklärt dies damit, daß bis zu dieser Grenze "Information als Einheit überblickt und damit im Bewußtsein festgehalten werden kann" (61). Mit diesen Erkenntnissen werden vom Autor auch einige Gedichte (S. 70-80) untersucht. In diesem Zusammenhang erfolgt auch die Einführung des Begriffs der Äußerungseinheit, und zwar in dem Sinne, wie ich sie selbst 1976 verwendet habe (s. oben). Auch beim Sprechen findet Pöppel die Einheitenbildung bis zu einer Dauer von 3 Sekunden: "Wenn jemand redet, dauern die einzelnen aufeinanderfolgenden Äußerungseinheiten im Durchschnitt ebenfalls etwa 3 Sekunden. Jede Äußerungseinheit wird durch eine kurze Pause beendet (...). Diese zeitliche Struktur beobachtet man allerdings nur beim spontanen Sprechen" (70). Unter der Überschrift: "Der Satz als sprachliche Einheit" hat bereits 1962 H. Brinkmann (2. Aufl. 1971) folgendes festgestellt: "Nacheinander als Miteinander: Menschliche Rede geht in einer Abfolge von Äußerungen vor sich, die wir "Sätze" nennen. Auch Sätze laufen in der Zeit ab; sie unterscheiden sich aber dadurch von der Rede, daß sie vom Sprecher als simultane Einheit gemeint sind und vom Hörer als solche verstanden werden. Während eines Satzes kommt für das Bewußtsein von Sprecher und Hörer die Zeit zum Stehen. Die sprachlichen Elemente, die in einem Satz aufeinander folgen, gelten als gleichzeitig miteinander gesetzt. Das zeitliche Nacheinander ist als gleichzeitiges Miteinander gemeint. So lautet die Formel für den Satz als sprachliche Gestalt: Nacheinander als Miteinander". (455) Diese Erkenntnisse beziehen sich zwar auf den Satz der Schriftsprache entsprechend dem damaligen wissenschaftlichen Interesse. Der Grundgedanke läßt sich aber exakt auf Einheiten der gesprochenen Sprache übertragen. Im Grundsätzlichen also findet sich bereits vor fast 30 Jahren dieser 'moderne', 'kognitive1 Gedanke. Allerdings glauben wir heute darüber hinaus zu wissen, daß dieses Nacheinander als Miteinander durchschnittlich nicht länger als 3 Sekunden dauert. Bei Pöppel findet sich auch der Hinweis, "daß das Sprechen und das Hören der Sprache z.B. in einem Dialog dynamisch gekoppelte Aktivitäten sind ... Wenn jemand ... spricht, paßt sich der Hörer an den Sprechrhythmus des Dialogpartners an. Das Hören wird mit dem Sprechen synchronisiert. Der Dreisekundenrhythmus des Sprechers bedingt die zeitliche Anpassung eines Hörrhythmus von gleicher Dauer" (73). Diese Beobachtungen bestätigen die linguistische Auffassung über die Bildung von Äußerungseinheiten. Allerdings sind aus linguistischer Sicht folgende ergänzende Feststellungen zu treffen. Die Betonung der Sprecherrolle durch Pöppel (der Hörer paßt sich an, s.o.) ist für das Alltagsgespräch zu relativieren. Die "dynamisch gekoppelten Aktivitäten" gelten für Sprecher und Hörer jeweils in Richtung auf die konträre Teilnehmerrolle. Ich verweise auf die Hörerbeteiligung bei der Bildung von Äußerungseinheiten. Weiterhin läßt sich an authentischem Material belegen, daß sprecherseits nicht nur die Pausen, sondern wesentlich auch andere Mittel verwandt werden, um Äußerungseinheiten zu bilden. Hier ist auch darauf hinzuweisen, daß die Pause nicht nur zu Gliederungszwecken eingesetzt wird (vgl. dazu Drommel 1974), sie ist - für sich betrachtet - mehrdeutig und darum allein nicht sehr aussagekräftig.

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Rainer Rath

Abschließend noch einmal eine zusammenfassende Charakteristik der Ergebnisse: Sätze im konkreten Sinn sind Ergebnisse der Anwendung von Strukturregeln. Diese Regeln sind als zentrale Bestandteile von Grammatiken theoretische Konstrukte, die keine Gesichtspunkte der Interaktion oder der Kognition ("Integrationsfähigkeit") berücksichtigen. Äußerungseinheiten sind dagegen Ergebnisse interaktiver und kognitiver Prozesse. Diese Prozesse setzen syntaktische Regeln voraus und relativieren diese zugleich, indem sie neue Grenzen für sprachliche Einheiten einführen.

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Einheitenbildung im Alltagsdialog

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Inger Rosengren Zum Problem der kohärenten Verben im Deutschen1 1. Einleitung Eine intuitiv überzeugende und theoretisch konsistente Beschreibung, Definition und Abgrenzung der kohärenten Verben von anderen Verben steht noch aus (s. hierzu u.a. Höhle (1989) und Jacobs (1989)). Fragen wie die folgenden werden immer wieder gestellt: Handelt es sich bei den sogenannten kohärenten Konstruktionen um lexikalische Verbalkomplexe (d.h. V°Komplexe) oder um eingebettete Infinitive oder um beides? Sollte es sich um eingebettete Infinitive handeln, sind diese dann CPs, IPs oder VPs? Vorfelddaten wie die folgenden: (1) (2) (3)

(a) (b) (a) (b) (a) (b)

Das Buch schreiben hat er nicht können, Schreiben können hat er das Buch nicht. Das Lied singen hat er ihn nie gehört/* hören, Singen hören hat er ihn das Lied nie. Zu lesen versucht hat er das Buch schon lange, Das Buch zu lesen hat er schon lange versucht.

werden immer wieder angeführt, um zu zeigen, daß die (a)- und (b)-Varianten entweder zwei verschiedene basisgenerierte Konstituentenstrukturen aufweisen oder aber mittels z.B. "Transformationen" wie Scrambling, Verbanhebung, Reanalyse miteinander in Beziehung stehen (zu dieser Problematik, s. von Stechow/Stemefeld (1988)). Die beiden Konstituentenstrukturen können vereinfacht folgendermaßen wiedergegeben werden:

ein Buch ein Buch

lesen

lesen will

Im Prinzip kann man in der einschlägigen Literatur zwei Hypothesen unterscheiden, die beide problematisch sind. Ich werde sie die FC- und die FA-Hypothese nennen. Beide Hypothesen müssen in der Lage sein, die Eigenart der genannten Konstruktionen zu beschreiben, nämlich, daß es sich bei ihnen um einen Satz handelt. Die Faktenlage ist dabei eindeutig. Es versteht *

Für wertvolle Hinweise und konstruktive Kritik danke ich den Teilnehmern des Symposiums. Zu besonderem Dank bin ich Marga Reis, Dse Zimmermann und Hubert Haider verpflichtet, die eine frühere Fassung dieses Korreferats gelesen und eingehend mit mir diskutiert haben.

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Inger Rosengren

sich von selbst, daß mit beiden Hypothesen Kosten verbunden sind. Diejenige Hypothese ist deshalb der anderen vorzuziehen, die die Faktenlage am einfachsten und am vollständigsten beschreibt, ohne dabei zu theoretischen ad-hoc-Lösungen greifen zu müssen. Die beiden Hypothesen können kurz folgendermaßen charakterisiert werden: Die FC-Hypothese (oft lexikalistisch genannt): Es wird davon ausgegangen, daß durch funktionale Komposition (FQ zweier Verben mit je eigenen Argumentstellen ein Verbalkomplex (eine V°-Einheit) gebildet wird, indem die Argumente des eingebetteten Funktors an den einbettenden Funktor vererbt werden. Dadurch entsteht ein Verbalkomplex, der als Einheit in die syntaktische Struktur eingeht. Eine solche Lösung hat also manifeste semantische Implikationen. Da die neue Einheit eine semantische Einheit ist, gehören die Argumentstellen nicht mehr separat den Ausgangsverben an. Es versteht sich von selbst, daß Daten, die für ihre Beschreibung verlangen, daß die Verben mit ihren Argumentstellen noch syntaktisch identifizierbar sind, einer solchen Hypothese widersprechen. Vertreter dieser Hypothese sind u.a. Haider (1988a; 1988b; 1988c; 1991) und Bierwisch (1989; 1990) (vgl. auch Haider/Bierwisch (1989)). Die FA-Hypothese: Es wird davon ausgegangen, daß die kohärenten Verben in die syntaktische Struktur separat eingehen und ihre Bedeutungsstrukturen durch funktionale Applikation (FA) amalgamiert werden. Damit handelt es sich weder semantisch noch syntaktisch um einen Verbalkomplex. Die Argumentstellen der jeweiligen Verben werden also nicht vererbt, sondern im Verlauf der Amalgamierung von "unten" nach "oben" durch Konstanten besetzt. Der syntaktische Weg kann selbstredend nur dann erfolgreich sein, wenn es zugleich gelingt, die Daten, die auf einen Verbalkomplex hinzuweisen scheinen, zu erklären. Vertreter dieser Hypothese sind z.B. Evers (1975; 1986), Haegeman/Riemsdijk (1986), Baker (1988), Fanselow (1989), von Stechow (1990; in diesem Band) und ich selbst. Außer den eingangs angeführten Vorfelddaten sollen hier noch weitere Daten genannt werden, die die Problematik illustrieren: (5) (6) (7) (8) (9) (10)

Lesen hat er das Buch schon lange wollen. *Wollen/*Gewollt hat er das Buch schon lange lesen. Hochsteigen hat er ihn die Treppe schon oft gehört/*hören, nie aber gesehen/*sehen. n · Gehört/*Hören hat er ihn die Treppe hochsteigen schon oft, nie aber ?gesehen/ *sehen. Zu lesen hat er das Buch schon lange versucht. *\ · Versucht hat er das Buch zu lesen schon lange.

Wie Beispiel (6) zeigt, ist ein Modalverb allein im Vorfeld ungrammatisch, was es übrigens mit dem Temporalverb teilt. Die Beispiele (7)-(10) zeigen, daß die Vorfeldbesetzung durch das "eingebettete" Verb besser ist als die durch das Matrixverb. Weitere Daten wie die folgenden weisen darauf hin, daß sogar ein komplexer Teil des eventuell existierenden Verbalkomplexes ins Vorfeld kann:

Kohärente Verben

(11) (12)

267

Das Lied singen können hat er schon immer wollen. Singen dürfen würde er das Lied bestimmt haben können, wenn er es hätte wollen.

Wenn der Verbalkomplex eine durch FC basisgenerierte V°-Einheit wäre, ist dies natürlich schwer zu erklären. Noch weitere Daten schließlich zeigen, daß Adverbiale in einer kohärenten Konstruktion unterschiedlichen Skopus haben können: (13) (14) (15) (16)

weil Peter den ganzen Tag nichts tun durfte. weil Peter nichts zu tun scheint. weil Peter mich schon lange heute besuchen wollte. weil Peter ihn im Garten Apfel pflücken sah.

In (13) und (14) kann die Negation sich entweder auf durfte/scheint oder auf tun beziehen. In (15) gehört schon lange zu wollen und heute zu besuchen. Das Beispiel (16) ist ebenfalls ambig, da Peter entweder selbst im Garten oder aber der Apfelpflücker im Garten ist. Negation und Adverbial können sich also auch nur auf die eingebettete infinite Konstruktion beziehen. Dies ist schlecht zu erklären, wenn wir davon ausgehen, daß die beiden Verben einen durch FC basisgenerierten Verbalkomplex bilden. Haider (1986) führt noch weitere Daten an, die daraufhinweisen sollen, daß es sich bei der kohärenten Konstruktion um eine verbale Einheit handeln muß. (17) (18) (19)

daß es ihm die Frau nachzutragen scheint. *daß die Frau es ihm nachzutragen noch scheint. daß die Frau es ihm nicht nachzutragen oft versuchte.

In (17) finden wir nach Haider einen Beleg dafür, daß es sich um einen Satz handeln muß, da die Pronomen, die Objekte des Infinitivs sind, in der Wackernagelposition des "Matrixsatzes" stehen, was nicht möglich wäre, wenn es sich um einen eingebetteten Satz handeln würde. Durch die Trennung der Verbformen in (19) verschwindet die oben bei (13)-(14) und (16) festgestellte Ambiguität hinsichtlich weitem und engem Skopus. Aus der Ungrammatikalität von (18) und der Grammatikalität von (19) schließt nun Haider, daß bei scheinen immer ein durch FC entstandener Verbalkomplex vorliegt, der Skopus der Negation deshalb auch den ganzen Komplex umfassen muß, Voranstellung des Pronomens möglich und Extraposition ausgeschlossen ist, während es sich bei (19) genau umgekehrt um zwei CPs handeln muß, mit der Konsequenz, daß nicht engen Skopus hat, Voranstellung des Pronomens unmöglich und Extraposition möglich ist. Die Schlußfolgerung Haiders bezüglich scheinen ist jedoch nicht richtig, wie schon oben für (14) festgestellt wurde. Haider unterstellt hier fälschlich, daß ein Adverbial, wenn es sich auf scheinen beziehen soll, auch vor scheinen stehen können muß. Dies ist trivialerweise aber nur dann der Fall, wenn die eingebettete Konstruktion ein Satz ist. Wenn es sich nicht um einen Satz handelt, verschwindet auch der von Haider unterstellte Zwang. Es soll unten gezeigt werden, daß eine syntaktische Lösung eines bestimmten

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Inger Rosengren

Zuschnitts automatisch zur Folge hat, daß das Adverbial unabhängig von seinem Skopus im Normalfall vor den Verbalkomplex zu stehen kommt, auch dann, wenn es sich wie in (15) eindeutig auf das "Matrixverb" bezieht. Auch Wortstellungsdaten wie in: (20) (21) (22)

weil er immer hat singen können wollen. weil er sie gestern wird haben besuchen dürfen. Ich glaube, daß er gerade deshalb hat so lange warten müssen.

wo haben und werden links von einem infiniten Komplex stehen (in (22) sogar links von einem Adverbial, das warten modifiziert), und Daten wie: (23)

weil dem Mann anfängt der Kopf zu wackeln, (vgl. Höhle (1989))

wo zugleich Scrambling und Extraposition vorkommen, lassen sich im Rahmen einer FCHypothese kaum erklären. Auch andere Daten, auf die u.a. Fanselow (1989) hinweist (der Verbalkomplex erhält zu viele und außerdem mehrere identische Thetarollen, bestimmte Bindungen können nicht erklärt werden), sprechen gegen die FC-Hypothese. Darüber hinaus gibt es rein theoretische Einwände gegen die FC-Hypothese (s. hierzu von Stechow, in diesem Band). Auch wenn man mit Bierwisch (1990) annehmen würde, daß die kohärente Konstruktion zwar eine V°-Einheit ist, jedoch nicht dem Prinzip der lexikalischen Integrität unterliegt, sie also kein syntaktisches Atom ist, d.h. wenn man ihr einen quasi-morphologischen Sonderstatus zusprechen würde, sind einige der obigen Daten, vor allem bestimmte Abfolgen der infiniten Verben, die von Fanselow (1989) angeführten Daten und der unterschiedliche Skopus der Adverbiale nicht ohne weiteres zu erklären. Haider (1991) führt deshalb auch einen neuen theoretischen Begriff ein, der ihm erlauben soll, die FC weiterhin als Instrument zu verwenden, ohne zugleich die Probleme der lexikalistischen Lösung einhandeln zu müssen. Er spricht von einer komplexen Projektionsbasis, die eine Projektion bildet. So viel ich sehen kann, unterscheidet sich diese Lösung aber nur terminologisch von der von Bierwisch (1990). Eine solche komplexe Projektionsbasis darf ebensowenig wie das angenommene komplexe V° bei Bierwisch zwei designierte Argumente haben (wie Haider selbst betont). Vgl. hierzu unten zum Acl. Es ist deshalb verständlich, daß sich von Stechow (in diesem Band, aber auch sonst, z.B. (1990)) zum Fürsprecher einer rein syntaktischen Lösung macht. Er geht davon aus, daß es sich um Einbettungen von CP-Strukturen mit leerem Kopf handelt, was bei Kontrollverben Rektion eines in diesem Modell notwendigen PROs von außen verhindert; bei Anhebungsverben wird der leere C-Kopf getilgt und SpecC beibehalten, was wiederum Rektion in die eingebettete Konstruktion erlaubt. Bei z.B. wollen ist auch der I-Kopf leer. Dieser Mechanismus scheint mir jedoch ad-hoc-Charakter zu haben und ist allein auf die m.E. falsche Annahme zurückzuführen, daß tatsächlich eine CP eingebettet wird. Auch wenn man den Ansatz akzeptieren würde, kann er z.B. nicht erklären, weshalb man (s. von Stechow, in

Kohärente Verben

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diesem Band, Bsp. (120)) Verben ins Vorfeld, jedoch nicht in die verbliebene Spec-Position der eingebetteten Konstruktion bewegen kann. Ein Teilproblem in diesem Ansatz ist auch die Annahme, daß jede eingebettete Kontrollkonstruktion ein PRO aurweisen muß. Für dieses PRO gibt es bei kohärenten Konstruktionen keine empirische Evidenz. Wie kann man es aber in den kohärenten Konstruktionen loswerden und es eventuell in anderen behalten, in denen es sich um echte eingebettete satzwertige Infinitive handelt (vgl. Bsp. (50) bei Stechow, in diesem Band)? Wie von Stechow werde ich eine rein syntaktische Lösung befürworten, werde aber dabei der Tatsache, daß es sich offensichtlich bei den kohärenten Konstruktionen um einen Satz und nicht um mehrere handelt, Rechnung tragen, indem ich davon ausgehe, daß eine nichtsatzwertige syntaktische Struktur eingebettet wird. Aufbauend auf die in Brandt/Reis/Rosengren/ Zimmermann (1992, fortan BRRZ) entwickelte Theorie bedeutet dies, daß die eingebettete Struktur eine VP ist: Ihr fehlt also die IP-Projektion und damit der mit dieser verbundene Satzmodus. Dies ist jedoch nur eine notwendige, nicht aber auch hinreichende Bedingung für eine kohärente Konstruktion. Sie garantiert die Infinitheit der eingebetteten Konstruktion sowie die Rektionsmöglichkeit in die VP hinein. Eine Voraussetzung für ihre Funktion in Kontrollkonstruktionen ist aber darüber hinaus, daß sie subjektlos sein kann. Es soll deshalb angenommen werden, daß es nicht vorgeschrieben ist, wieviel Projektionsstufen eine VP haben muß. Sie kann z.B. aus einem Verb und nur einer internen Argumentposition bestehen. Eine solche Annahme bedeutet natürlich, daß ein Verb, wenn es eine Agensthetarolle vergibt, eine Variable aufweist, die unabgebunden bleibt. Diese Struktur ist nur unter bestimmten Bedingungen möglich, nämlich dann, wenn die eingebettete Konstruktion in der Matrix einen Kontrolleur hat, der die unabgebundene Variable identifizieren kann. Auf diesem Hintergrund können wir nun eine kohärente Konstruktion als eine Konstruktion definieren, deren Matrix eine VP einbettet, die auf spezifische Weise mit der Matrix "verschachtelt" ist. Was darunter zu verstehen ist, wird bei jeder der analysierten Konstruktionen expliziert. Hier soll nur ganz allgemein gesagt werden, daß die Matrix syntaktisch und semantisch die eingebettete VP an sich bindet, entweder dadurch, daß die eingebettete Konstruktion subjektlos ist und das Subjekt der Matrix damit auch das Subjekt in der W sozusagen zu vertreten hat oder aber durch Anhebung aus der W heraus bzw. durch Kasusrektion in die VP hinein. Kohärenz bedeutet damit nicht notwendigerweise Mittelfeldstellung der ganzen Konstruktion. Die Basisposition der Konstruktion ist jedoch das Mittelfeld, was eindeutig mit dem VPCharakter der eingebetteten Konstruktion zusammenhängt (vgl. auch BRRZ, 11). Mit dieser Analyse wird keine der beiden Konstruktionen (die kohärente und die inkohärente) aus der anderen abgeleitet. Bestimmte Verben erlauben beide Konstruktionen nebeneinander. Die Kritik Haiders (1991) an der FA-Hypothese, nämlich daß sie derivational sei, wird dadurch hinfällig. Beide Hypothesen müssen das Problem mit der Vorfeldbesetzung in (l)-(3) lösen. Wie die FC-Hypothese genau damit zurande kommt, scheint nicht klar zu sein. Für die FA-Hypothese jedoch ist abzusehen, daß weder die unterschiedliche Vorfeldbesetzung in (l)-(3) noch die Wortstellung in (20)-(22) sich direkt aus der syntaktischen Struktur ergibt. Um die Wortstellung zu erhalten, kann man eine syntaktische Analyse mit Verbanhebung kombinieren. Es

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Inger Rosengren

gibt sicherlich auch andere Möglichkeiten.2 Wenn es sich aber zeigen sollte, daß die von mir vorgeschlagene Variante der Verbanhebung die obigen Wortstellungskonstellationen beschreiben kann, verliert sie m.E. ihren ad-hoc-Charakter. Die FA-Hypothese, komplettiert durch eine Variante der Verbanhebungshypothese, hat dann zumindest der FC-Hypothese voraus, daß sie sowohl theoretisch als auch empirisch durchsichtig ist. Auf dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen werde ich jetzt versuchen, verschiedene Typen von kohärenten Konstruktionen zu beschreiben und die Beschreibung an den mir bekannten Daten zu überprüfen. Mindestens vier Gruppen von Verben, die in diesem Zusammenhang relevant sind, werden normalerweise unterschieden: a)

AcI-Verben

b) scheinen (pflegen, drohen, versprechen) etc. c) Modalverben d) Phasenverben wie anfangen, beginnen, aufhören und Verben wie versuchen, wünschen etc. Die syntaktischen Eigenschaften dieser Verbgruppen sind allgemein bekannt. Sie sollen hier jedoch nochmals zusammengefaßt werden.

2. Die Acl-Verben Es handelt sich um Konstruktionen des folgenden Typs: (24) (25) (26) (27)

Peter hat Anna ein Lied singen hören. Anna hat immer ihren Vater das Auto in die Werkstatt fahren lassen. Peter hat sich rasieren lassen. Peter hat das Haus anstreichen lassen.

Zu beschreiben sind auch verwandte Konstruktionen wie: (28) (29)

Peter glaubt sich krank. Peter fühlt sich durchschaut.

Die meisten Acl-Verben zeichnen sich dadurch aus, daß sie sowohl einen Infinitiv (24)-(27) als auch einen daßlwie-Sa\z (eine eingebettete CP) zu sich nehmen (30):

Ilse Zimmeimann bat mich darauf hingewiesen, daß eine Inversionstheorie für das finite Verb und haben möglicherweise eine weniger kostenintensive Lösung wäre. Ob eine solche Theorie alle Daten tatsächlich beschreiben kann, ist mir nicht klar. Es würde sich jedoch lohnen, sie zu prüfen, was ich in diesem Zusammenhang jedoch nicht leisten kann.

Kohärente Verben

(30)

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Peter hört, daß/wie Anna ein Lied singt.

Eine Ausnahme ist u.a. lassen, das keinen daß-Satz einbettet. Das "Subjekt" in der "eingebetteten" Infinitivkonstruktion wird vom Matrixverb regiert und erhält von ihm den Kasus Akkusativ. Die Thetarolle wird vom Infinitiv vergeben. Das Pronomen kann technisch gesehen ein Pronomen oder eine Anapher (ein Reflexivpronomen) sein. Die Anapher zeigt eindeutig, daß es sich um einen Satz handeln muß. Eine CP-Einbettung ist deshalb auch nicht anzunehmen. Der Infinitiv weist den ersten Status auf, was ein weiteres Argument dafür ist, daß es sich nicht um eine CP-Einbettung handeln kann. Die Konstruktion ist außerdem nicht extraponierbar. Wie das folgende, möglicherweise etwas merkwürdige, jedoch nicht ungrammatische Beispiel zeigt, kann die Infinitivkonstruktion jedoch eigene Adjunkte haben, was als eine Stütze für die Einbettungshypothese betrachtet werden muß und der V°Hypothese widerspricht, da syntaktische Adjunktion innerhalb einer V°-Einheit nicht möglich ist: (31)

Die Wände sind so dünn, daß sie in ihrem Arbeitszimmer die Frau in der Nachbarwohnung spülen hört.

Die Daten legen die Annahme nahe, daß eine VP eingebettet wird, d.h. eine nicht satzwertige Konstruktion ohne Satzmodus (s. BRRZ). Die FA-Hypothese hat also keine Probleme bezüglich der AcI-Konstruktion. Da es sich nicht um einen eingebetteten Satz handelt, kann das Matrixverb in die VP hineinregieren und dem "Subjekt" den Akkusativ zuweisen. Für die FC-Hypothese ist die AcI-Konstruktion jedoch besonders problematisch, da - wie Haider (1991) auch betont (s. hierzu auch Bierwisch (1990)) - eine komplexe Projektionsbasis nicht zwei designierte Argumente haben kann. Haider entscheidet sich deshalb dafür, daß die beiden Verben, wenn beide Argumente projizieren, keine komplexe Projektionsbasis bilden können. Das heißt anders ausgedrückt, daß in diesem Fall keine kohärente Konstruktion vorliegt. Dies ist aber eine unbefriedigende Lösung schon deshalb, weil es nicht einsichtig ist, warum eine Konstruktion mit einem Acl nicht kohärent sein, d.h. einen Satz ausmachen sollte. Nicht nur der zu-lose Infinitiv, sondern auch die Abblockung der Extraposition sprechen für die Einbettung einer VP. Hinzu kommt noch das oben angesprochene Kriterium, daß eine Art Verschachtelung vorliegt, die in diesem Fall bedeutet, daß das Matrixverb in die VP hineinregiert und dem "Subjekt" seinen Akkusativkasus zuweist. Die Wortstellungsdaten, die Haider gegen die Kohärenz anführt (*daß ihn Max den Prüfling buchstabieren läßt) (vgl. auch Grewendorf (1987)), wo das Objekt der eingebetteten Konstruktion nicht in die Wackernagelposition der Matrix gehen kann, sind m.E. kein Beweis gegen eine kohärente Konstruktion, da unabhängig zu beweisen wäre, daß alle kohärenten Konstruktionen denselben Abfolgebedingungen unterliegen müssen. Es ist bekannt, daß zwei Akkusativobjekte sich nicht ohne weiteres überkreuzen können (s. hierzu auch unten). Die syntaktische Struktur für die eingebettete Infinitivkonstruktion sieht wie in (47) aus.·'

Ausgehend von der Differenzhypothese in BRRZ wird der Matrixsatz als IP wiedergegeben.

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Inger Rosengren

Hier soll nur noch kurz auf die fossen-Konstruktion eingegangen werden, da sie besondere Eigenschaften aufweist. Zu Konstruktionen wie (32)-(35) ist schon vieles gesagt worden (s. hierzu u.a. Reis (1973; 1976), Höhle (1978) und Suchsland (1987)). (32) (33) (34) (35) (36)

Peter ließ seinen Vater das Haus anstreichen. Peter ließ das Haus (von seinem Vater) anstreichen. Peter läßt sich von niemandem beleidigen. Peter ließ den Stein fallen. Peter hörte seinen Namen rufen.

Interessant ist hier vor allem die sich anbietende Passivinterpretation in (33), (34) und (36), die in (33) und (34) durch die von-Phrase besonders deutlich hervortritt. Wie diese Sätze zu beschreiben sind, ist unklar. Die vergleichbaren schwedischen Daten weisen jedoch in eine bestimmte Richtung: (37) (38) (39) (40) (41) (42)

Peter lät sin far mala huset. 'Peter ließ seinen Vater anstreichen das-Haus' Peter lät huset malas (?av sin far). 'Peter ließ das-Haus angestrichen-werden (von seinem Vater)' Peter lät mäla huset (*av sin far). 'Peter ließ anstreichen das-Haus (von seinem Vater)' Peter later sig inte förolämpas av nägon. "Peter läßt sich nicht beleidigt-werden von jemand' Peter horde sitt namn ropas. 'Peter hörte seinen Namen gerufen-werden1 * Peter horde ropa sitt namn. 'Peter hörte rufen seinen Namen1

In (38) liegt eine Passivkonstruktion mit f-Passiv vor (Wiva-Passiv ist ausgeschlossen). (38) ist nicht besonders gut. Gut ist dieses Passiv jedoch in (40) (vgl. oben (34)), wo läta eindeutig die Bedeutung 'zulassen' hat. Das Beispiel (39) weist dieselbe Struktur wie (37) auf, jedoch ohne designiertes Argument. Eine Passivinterpretation ist nicht möglich. Bei höra ist Passiv obligatorisch, wenn das designierte Argument fehlt (s. (41)-(42)). Läta und höra sind also im Schwedischen keine passivischen Hilfsverben. Aus den schwedischen Daten können wir natürlich keine unmittelbaren Schlüsse fürs Deutsche ziehen. Sicherlich ist lassen (wie auch hören) jedoch auch im Deutschen kein passivisches Hilfsverb (so Höhle (1978)). Ich will fürs Deutsche annehmen, daß lassen eine VP ohne Subjektposition einbetten kann (ein PRO ist nicht möglich, weil es nicht regiert sein darf) und zwei Interpretationen zuläßt, den beiden schwedischen Strukturen entsprechend. (Die "aktive" und die "passivische" Variante unterscheiden sich somit im Deutschen nicht strukturell voneinander). Die beiden Interpretationen der deutschen Konstruktion ergeben sich aus den beiden Bedeutungen des Matrixverbs, was zuweilen zu Ambiguitäten führt, wenn die

Kohärente Verben

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eingebettete Konstruktion nicht disambiguierend wirken kann (z.B. durch eine hinzugefügte vow-Phrase). Bei hören verhält es sich anders: Wenn es eine VP ohne "designiertes" Subjekt einbettet, wird die eingebettete Konstruktion immer passivisch interpretiert (36). Vgl. auch hier das Schwedische, wo nur die passivische Variante grammatisch korrekt ist. Wenn diese Analyse richtig ist, kann das Akkusativobjekt in einer solchen VP im Deutschen nie Subjekt in einer passivierten Matrix werden (vgl. von Stechow, in diesem Band, Bsp. (85)). Dagegen kann, was uns dann nicht mehr zu erstaunen braucht (vgl. von Stechow, in diesem Band, Bsp. (89)), das Objekt einer eingebetteten VP mit einem ergativen Verb Subjekt in einer passivierten Matrix mit dem Verb lassen sein (vgl. (35) und Der Stein wurde fallen gelassen), da das eingebettete Verb hier kein Agens-Argument aufweist und keinen Objektkasus zuweist und das Objekt seinen Akkusativ von lassen erhalten müßte, jedoch aufgrund der Passivierung nicht erhalten kann.4 In diesem Fall wandert das eingebettete Argument in die Subjektposition des passivierten Satzes, wo es den Kasus Nominativ erhält. Anders ausgedrückt handelt es sich bei einem ergativen Verb wie fallen um eine Konstruktion genau wie die passivische. Das interne Argument ist das Subjekt dieser Konstruktion und kann deshalb auch das Subjekt der ganzen passivischen Konstruktion werden. Im Schwedischen, wo explizite Passivierung in AcI-Konstruktionen vorkommt, erhalten wir alle Typen von Konstruktionen: Han lät stenen falla; Stenen tilläts_ falla; Han hördes_sjunga sängen; Han hörde sängen sjungasj Sängen hördes_sjungas. Auf Konstruktionstypen wie: (43) (44)

Die Konsequenzen lassen sich nicht überblicken. Das Buch liest sich leicht.

kann aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Auch in (43) wird es sich wohl kaum um ein passivisches Hilfsverb handeln. Darauf weist schon (44) hin, das ja auch ohne lassen "passivisch" zu interpretieren ist (vgl. unten (114)-(122)). In den Konstruktionen in (28)-(29) fehlt die Kopula bzw. das Passivhilfsverb, was jedoch auf die Struktur der VP nicht einwirkt. Das Reflexivpronomen scheint eine solche Hypothese zu stutzen. Auch hier bietet das Schwedische übrigens einen interessanten Vergleich; Verben wie tro ('glauben'), förmoda (Vermuten1), veta ('wissen') können mit und ohne Kopula konstruiert werden, wobei die Konstruktion mit Kopula die bessere ist. Im übrigen unterscheiden sie sich nicht von den AcI-Konstruktionen. (45) (46)

Peter tror sig/honom (vara) sjuk. 'Peter glaubt sich/ihn (sein) krank' Peter tror sig (vara) genomskädad. 'Peter glaubt sich (sein) durchschaut*

Daß sieb die anderen Acl-Verben nicht entsprechend passivieren lassen, ist sicherlich auf ihre Semantik zurückzuführen bzw. ist sprachspeziösch. Im Schwedischen sind hier i-Passive möglich.

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Inger Rosengren

Bei der semantischen Analyse soll von dem Modell in BRRZ (1992) ausgegangen werden. Es wird angenommen, daß der Deklarativsatz syntaktisch folgende Charakterisierung hat: 1° -w. In Anlehnung an Bierwisch (1988a; 1988b) und Zimmermann (1987; 1988) wird weiter angenommen, daß jeder Lexikoneintrag eines Verbs ein Prädikat INST enthält, das die Referenz auf Sachverhalte e ermöglicht und aus einer Proposition p und einem Element e aus E, der Interpretationsdomäne der Sachverhalte, eine neue Proposition bildet: [e INST p]. Die Formel ist zu lesen: e instantiiert p. In BRRZ (1992) wird nun vorgeschlagen, die Bedeutung von I°-w folgendermaßen wiederzugeben: XQ [3e [Qe]]. Die semantische Form des Deklarativsatzes ist dann: 3e [e INST p]. In dieser Formel wird die Variable e durch den Existenzquantor gebunden. C°/I° wird realisiert durch den Komplementierer daß, 1° durch 0. Die Formel beschreibt den Deklarativsatz als eine Aussage über die Existenz von Sachverhalten. Wenn man nun die beiden Prädikate in einer AcI-Konstruktion folgendermaßen wiedergibt: das AcI-Verb, z.B. hören, mit der Formel: Xe [e INST [x HÖR [Pe1]]] und das eingebettete Verb, z.B. singen, mit der Formel: ( ^ ! [e INST [xj SING x2]], erhält man nach Lambdakonversion (funktionaler Applikation) und Unifizierung mit eventuellen Modifikatoren auf der obersten Stufe ein Prädikat des Typs 0/1, dessen Sachverhaltsvariable e durch 3e, die Bedeutung von 1° -w, wiederum abgebunden wird. Die Sachverhaltsvariable der Infinitivkonstruktion bleibt ungebunden. Ohne die Verbbedeutung näher zu charakterisieren und ohne Tempusspezifizierung, sieht die Amalgamierung der Bedeutungsstrukturen der lexikalischen Einheiten von (31) bei diesen Annahmen wie in (47) aus.5 Für die Variante ohne designiertes Argument in der eingebetteten Konstruktion muß man dann folgende Vorkehrung treffen: Die Formel des Matrixverbs enthält eine Variable, die es erlaubt, eine Variable des eingebetteten Verbs nicht abzubinden: [e INST [ LASS 1 [P y! e ]]]. Die Variable yt entspricht also der ungebundenen Variablen des designierten Arguments in der eingebetteten Konstruktion. Die FA verläuft im Prinzip wie bei einem Kontrollverb (vgl. unten versuchen). Da es sich beim Acl offensichtlich um einen Satz handelt und Extraposition ausgeschlossen ist, ist die notwendige Bedingung einer kohärenten Konstruktion erfüllt.

Die Formalisiening habe ich eingehend mit Ilse Zimmermann diskutieren können, wofür ich ihr herzlich danken möchte.

275

Kohärente Verben (47)

CP/IP:

3e [[c INST [SIE HÖR [[e1 INST [FRAU SPÜL]]:[e' IN DER NACHBARWOHNUNG]]]]:[e IN IHREM ARBEITSZIMMERJ]

SpecC/I Xe [[e INST [SIE HÖR [[e1 INST [FRAU SPÜL]]: [c1 IN DER NACHBARWOHNUNG]]]]:[e IN IHREM ARBEITSZIMMER]] PNP in ihrem Arbeitszimmer Xe [e IN IHREM ARBEITSZIMMER]

VP:

Xe [e INST [SIE HÖR [[e1 INST [FRAU SPÜL]]:[e' IN DER NACHBARWOHNUNG]]]]

Xe [e INST [x HÖR [[e1 INST [FRAU SPÜL]]: [e' IN DER NACHBARWOHNUNG]]]]

Xe [[e INST [FRAU SPÜL]]: [e IN DER NACHBARWOHNUNG]] PNP in der Nachbarwohnung Xe [e IN DER NACHBARWOHNUNG]

VP:

V° hören XP Xx Xe [e INST [x HÖR [P e']]]

Xe [e INST [FRAU SPÜL]]

j Xe [e INST [xt SPÜL]]

V° spülen Xx,Xe[e INST [x, SPÜL]]

276

Inger Rosengren

3. scheinen (pflegen, drohen, versprechen) Die Verben pflegen, drohen, versprechen verhalten sich in der hier relevanten Funktion im großen und ganzen wie scheinen, das jedoch eine kompliziertere Semantik und Syntax aufweist. Ich werde im folgenden vor allem scheinen behandeln. Folgende Daten müssen expliziert werden: (48) (49) (50) (51) (52) (53) (54) (55) (56) (57) (58) (59) (60) (61) (62) (63) (64) (65) (66)

weil es zu regnen scheint. weil er zu kommen scheint. weil das Buch viel zu kosten scheint. weil (es) mir schlecht zu werden scheint. weil es scheint, als ob/daß die Idee durchführbar sei/ist. Das scheinen gute Leute zu sein. *Daß es regnet scheint. *weil es scheint zu regnen. weil dem Direktor die Lösung schlecht (zu sein) scheint. Ihr scheint, daß es ihm gut geht. Ihr scheint er krank (zu sein). Du scheinst mir krank (zu sein). weil (mir) ihm die Sache über den Kopf zu wachsen scheint. weil es ihnij scheint, daß geschätzt wird. *weil Peter; ihm/sichi krank zu sein scheint. 'weil du ihr; sie; zu lieben scheinst. -weil (es) mir; mirj schlecht zu werden scheint. f\ -weil er mir; das Buch geben zu wollen scheint. Heute scheint gearbeitet zu werden.

Offensichtlich wird scheinen sowohl mit als auch ohne Dativobjekt konstruiert (56)-(61) bzw. (48)-(53). Neben einer Infinitivkonstruktion tritt auch ein eingebetteter daß/als ob-Satz auf: (52), (57), (61). Die Konstruktion mit daß-Satz kommt am ehesten zusammen mit dem Dativobjekt vor. Dies wird auf semantische Gründe zurückzuführen sein; u.a. liegt eine Korrelation zwischen daß-Satz und anscheinend einerseits und zwischen als ob-Saiz und scheinbar andererseits vor. Daß die eingebettete Konstruktion nicht Subjekt sein kann, geht aus (54) hervor (s. hierzu auch Pafel (1989)). Zu (59) ohne sein s. unten. Ich will davon ausgehen, daß scheinen ein nicht-akkusativisches ("ergatives") Anhebungsverb ist (im Gegensatz zu Olsen (1981), die scheinen als transitives Verb beschreibt, und Pafel (1989), der scheinen als Quantor interpretiert). Sowohl die eingebettete Konstruktion, die auch hier eine VP ist, als auch das Dativobjekt sind interne Argumente, wobei das Dativobjekt semantisch einem Experiencer (vgl. hier auch Verben wie gefallen, gelingen und grauen) entspricht. Das Verb weist damit der Subjektposition keine Thetarolle zu. Die leere Subjektposition im Matrixsatz wird bei Satzeinbettung durch ein expletives es und bei Einbettung eines Infinitivs durch das "Subjekt" aus dem eingebetteten Infinitiv besetzt, was die

Kohärente Verben

277

Struktur natürlich völlig intakt läßt (das "Subjekt" hinterläßt eine Spur). Die Ergativität des Verbs scheinen (vgl. grauen) ist dafür verantwortlich, daß das expletive es in (57) optional ist. In (51) ist die Optionalität des angehobenen es auf die Ergativität der eingebetteten Konstruktion zurückzuführen. Die Normalposition des Dativobjekts ist entsprechend das Vorfeld in Verb-zweit-Sätzen (58) und die Position links vom Subjekt in Verb-letzt-Sätzen (56). Subjektlose Infinitive (z.B. passivische Infinitive) verhalten sich wie erwartet (66): Der Satz ist subjektlos. Das Verb kongruiert - wie zu erwarten - mit einem Prädikativum in der eingebetteten Konstruktion (53). Nicht möglich ist selbstverständlich, daß neben dem Dativobjekt und einem angehobenen Subjekt auch noch ein expletives es vorkommt, da es dafür keine Position gibt. Zwei Dativobjekte können - ebenfalls wie zu erwarten - zugleich vorkommen, s. (60), auch wenn dies nicht gewöhnlich sein wird. Nicht möglich ist schließlich, daß das angehobene Subjekt der rc/reinen-Konstruktion das Dativobjekt bindet (62) (s. hierzu auch Pafel (1989)). Eine solche Bindung müßte ein Reflexivpronomen auslösen, was wiederum genau deshalb nicht möglich ist, weil das Dativobjekt nicht in einer Anapher-Relation zu dem Subjekt steht, sondern ein ungebundenes Pronomen im Matrixsatz ist. Etwas besser mutet die Referenzidentität in (63)-(65) an. Diese Beispiele sind wohl an sich nicht ungrammatisch, sondern nur kommunikativ schwer zu verarbeiten. Wenn das "Subjekt" der VP ein Satz ist, kann dieser selbstverständlich als Subjekt zu scheinen fungieren: (67)

Daß Peter kommt, scheint jedenfalls nicht ausgeschlossen zu sein.

Die D-Struktur für (68): (68)

Peter scheint ein Buch zu lesen,

sieht wie (69) aus.

(69) Specl

SpecV Peter NP ein Buch

^ "

V° scheinen

278

Inger Rosengren

Das Verb scheinen verhält sich also im Prinzip wie zu erwarten, wenn angenommen wird, daß es ein nicht-akkusativisches "ergatives" Anhebungsverb ist. Die von Seppänen (1987) aufgezählten Daten, die er als Stütze für die These anführt, daß die eingebettete Konstruktion syntaktisch ein Subjektprädikativum ist, lassen sich als Oberflächenerscheinungen mit dieser Theorie verbinden. Damit haben wir auch einen Anknüpfungspunkt zu anderen ähnlichen Konstruktionen des folgendes Typs gefunden, wo das Schwedische eine Infinitivkonstruktion, das Deutsche ein Adjektiv oder eine Nominalphrase mit als einbettet (vgl. auch oben (59)): (70) (71) (72) (73)

Er gilt als zuverlässig. Das kommt mir/Mir kommt das durchführbar vor. Er erwies sich als ein schlechter Lehrer. Han visade sig vara en dälig lärare. 'er zeigte sich sein ein schlechter Lehrer1

Vgl. oben die Beispiele (28)-(29). Zwischen scheinen und den AcI-Verben gibt es also syntaktisch sowohl Übereinstimmungen als auch Unterschiede. In beiden Fällen gibt es ein lexikalisch realisiertes "Subjekt" in der eingebetteten VP. Im Unterschied zum AcI-Verb hat scheinen selbst kein Argument, das Subjekt werden kann, weshalb das Subjekt der eingebetteten Konstruktion in die Subjektposition des Matrixsatzes "angehoben" wird und dort Kasus erhält. Das bedeutet auch, daß es eine Spur hinterläßt. Auch semantisch gesehen gibt es keinen Grund, Schemen prinzipiell anders einzustufen als z.B. die Acl-Verben. Es handelt sich um ein Prädikat und nicht, wie Pafel (1989) zu erhärten versucht, um einen Quantor. Scheinen selbst ist damit auch einem Satzadverb (anscheinend oder scheinbar) vergleichbar. Der Unterschied läßt sich - wenn man von der weiteren Differenzierung zwischen den Adverbien absieht - für zwei abstrakte Sätze mit scheinen (74) bzw. scheinbar/anscheinend (75) folgendermaßen darstellen (vgl. hierzu auch BRRZ (1992) für vermutlich): (74) (75)

3e [e INST [SCHEIN [ e'/p]]] 3e [SCHEIN [e INST p]]

Der Lexikoneintrag sieht für scheinen folgendermaßen aus: ( ) / Xe [e INST [SCHEIN [P e'/p]]], wobei für den Experiencer steht. Die Formel zeigt, daß davon ausgegangen wurde, daß die VP eine nicht abgebundene Sachverhaltsvariable aufweist. Die semantische Form von Peter scheint Anna zu lieben ist, wenn man von der obigen Formel ausgeht: 3e [e INST [SCHEIN [e1 INST [PETER LIEB ANNA]]]]. Wenn diese Analyse richtig ist, wäre nun auch zu erwarten, daß passivierte AcI-Konstruktionen sich wie aktive JcÄeinen-Konstruktionen verhalten. Das kann man im Deutschen nicht testen, da passivierte AcI-Konstruktionen aus unabhängigen Gründen nicht vorkommen. Im Schwedischen trifft diese Annahme aber zu:

Kohärente Verben

(76)

279

Han pästods vara en bra lärare. 'er wurde-behauptet sein ein guter Lehrer1

Hier wird das "Subjekt" des eingebetteten Infinitivs "angehoben". Vgl. auch das Englische und das Schwedische, wo appear und visa sig ebenfalls Anhebungsverben sind bzw. sein können: (77) (78) (79)

*Er zeigte sich ein guter Lehrer zu sein. He appeared to be a good teacher. Han visade sig vara en bra lärare.

Im Deutschen werden die entsprechenden Konstruktionen: sich zeigen, sich erweisen und sich herausstellen nur mit einem do/3-Satz konstruiert: (80)

Es erwies sich/stellte sich heraus, daß er ein großer Denker ist.

Die Verben pflegen, drohen, versprechen als Anhebungsverben unterscheiden sich von scheinen strukturell vor allem dadurch, daß sie kein zweites internes Argument haben und daß sie auch keinen Satz optional einbetten. Darüber hinaus verhalten sie sich im Prinzip wie scheinen. Gelegentlich erlauben diese Verben jedoch Extraposition des Infinitivs: (81) (82)

weil das Wetter verspricht, heiter zu werden. weil das Wasser droht, anzuschwellen.

Hier liegt also Anhebung und Extraposition zugleich vor. Trotzdem handelt es sich um kohärente Verben.

4. Die Modalverben Öhlschläger (1989, 103ff.) entscheidet sich dafür, die Modalverben wollen und möchte als optionale Kontrollverben mit einer eingebetteten CP und die übrigen als Anhebungsverben mit einer eingebetteten IP zu beschreiben. Er geht weiter davon aus, daß diese Analyse sowohl für die epistemischen als auch für die nicht-epistemischen Lesarten zutrifft, u.a. weil auch bei nicht-epistemischen Lesarten Anhebungskonstruktionen vorkommen: (83) Es kann/darf/muß gearbeitet werden. (84) Es will und will nicht aufhören zu regnen. (85) Es darf/muß nicht immer regnen. Das dispositive können schließlich wird als Kontrollverb mit eingebetteter VP beschrieben: (86)

Peter kann schon lesen.

280

fnger Rosengren

Diese Analyse bei können ist sicherlich richtig. Im großen und ganzen schließe ich mich der syntaktischen Analyse Öhlschlägers an. Ich betrachte also wollen und möchte sowie auch das dispositive können als Kontrollverben und die übrigen Modalverben als Anhebungsverben. Eine abweichende Auffassung habe ich nur hinsichtlich der eingebetteten Kategorien. Öhlschläger begründet nicht überzeugend, weshalb er bei wollen und möchte von einer eingebetteten CP und bei den Anhebungsverben von einer eingebetteten IP ausgeht. Gegen die Annahme, daß die infinite Konstruktion eine CP ist, sprechen schon der zu-lose Infinitiv und die blockierte Extraposition. Da es auch keine direkte syntaktische Stütze für die Annahme einer IP gibt, soll auch hier davon ausgegangen werden, daß die infinite Konstruktion bei den Modalverben eine VP ist. Eine VP statt einer CP/IP läßt sich bei wollen und möchte auch semantisch begründen. Ihrer Semantik nach drücken die beiden Verben immer eine Einstellung der Person aus, auf die die Subjekt-NP referiert. Interessant ist nun, daß die Person, die diese Einstellung hat, einen Sachverhalt wünschen kann, daß dieser Sachverhalt aber normalerweise nicht eine Handlung der wünschenden Person sein darf. Referenzidentität zwischen den beiden Subjekt-NPs bei Einbettung eines Satzes ist also gewöhnlicherweise blockiert, wenn der eingebettete Satz ein agentives Subjekt enthält (s. Öhlschläger (1989, 121 ff.)): (87) (88) (89)

*Peter; will, daß das Haus anstreicht. Peter; möchte, daß er; so schnell wie möglich das Buch wiederfindet. Peter; möchte, daß er; von den Schülern besucht wird.

Am besten sind eingebettete "ergative" Sätze: (90)

Peter; möchte, daß ihm; so etwas nie wieder passiert.

Demgegenüber können bei der infiniten Konstruktion die Verben der eingebetteten Infinitive sehr wohl agentive Argumente haben. Dieser Unterschied zwischen den beiden Konstruktionstypen kann m.E. daraus abgeleitet werden, daß eine eingebettete CP/IP eine referentiell abgebundene Sachverhaltsvariable aufweist (s. BRRZ (1992)). Eine eingebettete CP/IP bedeutet also, daß die wünschende Person die Existenz eines Sachverhalts wünscht. Da eine Person schlecht wünschen kann, daß sie selbst eine Handlung ausführen wird, gibt es keinen Grund, anzunehmen, daß die eingebetteten Infinitive CPs oder IPs sind. Der Baum für die modalen Anhebungsverben mit VP-Einbettung ist derselbe wie der für scheinen (69) mit dem Unterschied, daß der Infinitiv zu-los ist. Für die Modalverben wollen, möchte und dispositives können in (91) gilt die Struktur (92): (91)

Peter will/möchte/kann das Buch lesen.

Kohärente Verben

281

(92)

SpecV Peter VP l V1 NP das Buch

V° will/möchte/kann

V° lesen

Die semantische Analyse Öhlschlägers (1989, 132ff.) finde ich im Prinzip überzeugend. An einem Punkt vertrete ich aber auch hier eine andere Auffassung. Ich möchte für die Anhebungsverben bei nicht-epistemischem Gebrauch nicht annehmen, daß sie eine designierte Thetarolle vergeben, also "Quelle macht notwendig, daß p". Wie auch Öhl schlage r selbst feststellt, wäre es äußerst merkwürdig, wenn die Verben eine Thetarolle vergeben würden, der syntaktisch eine leere Subjektposition entspräche. Die syntaktisch leere Subjektposition ist aber notwendig, wenn man die Verben als Anhebungsverben betrachten will. Semantisch will ich deshalb davon ausgehen, daß die Verben nur die Semantik "Notwendigkeit/Möglichkeit liegt vor" aufweisen (vgl. hierzu auch Calbert (1975), Rosengren (1979), Wunderlich (1981) etc.). Die Beschreibung der epistemischen Bedeutung soll hier nicht diskutiert werden. Sie spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Nach dem Modell in BRRZ (1992) können die Lexikoneinträge der Modalverben zumindest für die nicht-epistemische Bedeutung - dann folgendermaßen wiedergegeben werden: wollen und möchte mit der Formel: [e INST [ VERB [P e'/p]]], dispositives können mit der Formel Xe [e INST [ VERB [P e1]]] und die übrigen Modalverben mit der Formel [e INST [VERB [P e1]]]. Die Variable der eingebetteten Konstruktion bei wollen, möchte und dispositivem können verbleibt unabgebunden und wird semantisch mit dem designierten Matrixsatzargument identifiziert.

282

Inger Rosengren

5. Die Phasenverben und verwandte Verben Bei den sogenannten Phasenverben anfangen, beginnen, aufhören etc. liegen die Verhältnisse wieder anders. Sie haben eine aspektuelle Aufgabe: Sie sind inchoativ oder egressiv: (93) (94) (95)

daß Peter den Wagen zu reparieren anfängt/anfangt, den Wagen zu reparieren. daß die Suppe zu kochen anfangt/anfängt zu kochen. daß es zu schneien aufhört/aufhört zu schneien.

Offensichtlich haben diese Verben zwei Bedeutungsstrukturen: (a) Sie haben ein designiertes Argument mit der Thetarolle Agens und ein internes Argument mit der Thetarolle Thema. Meist wird dieses Thema durch eine Infinitivkonstruktion realisiert. Ein eingebetteter Satz scheint nur dann möglich zu sein, wenn das Verb die Präposition mit regiert. In der infiniten Konstruktion ist Extraposition möglich. Wenn man Extraposition an CP-Einbettung bindet, was gewöhnlicherweise getan wird, müßte es sich zumindest in den extraponierten Fällen um eine CP-Einbettung handeln. Da Fälle wie (96) mit dem pronominalen Objekt in der Wackernagelposition möglich sind - m.E. ist (96) zwar nicht gut, jedoch auch nicht ungrammatisch (s. auch Abschnitt 7.) - sollte man eher von einer (teil)extraponierten VP ausgehen: (96)

weil ihn Peter schon mehrmals angefangen hat zu reparieren.

Da Extraposition auch bei den Anhebungsfällen (s. (b)) möglich ist, wo man nicht gern eine eingebettete CP annehmen möchte, scheint dies eine sinnvolle Hypothese zu sein. (b) In der zweiten Konstruktionsvariante handelt es sich um ein Anhebungsverb. Der Subjektposition wird also keine Thetarolle zugewiesen. Auch hier kommt zuweilen ein eingebetteter daß-Satz nach der Präposition mit vor. (97)

Es fing damit an, daß er sich das Bein brach.

Meist handelt es sich jedoch um einen eingebetteten Infinitiv, der dann entsprechend eine W sein wird. Extraposition kommt vor: (98)

weil die Suppe anfängt zu kochen.

Interessant sind auch die Beispiele (99)-(101) (s. Höhle (1989)), wo ein Teil der W extraponiert wird, ein anderer in die Matrix wandert. Wie (101) zeigt, kann das Subjekt sogar mit extraponiert werden, wenn im Matrixsatz ein freier Dativ oder ein Dativobjekt mit der Rolle Experiencer steht:

Kohärente Verben

(99) (100) (101)

283

wenn dir der Kopf anfangt zu wackeln. falls jemandem anfängt schlecht zu werden. wenn dir anfängt der Kopf zu wackeln.

Die beiden Bäume für (a) und (b) entsprechen den Bäumen für einerseits wollen (92), andererseits scheinen (69). In beiden Fällen handelt es sich um eine kohärente Konstruktion. Die folgenden Beispiele (s. von Stechow (in diesem Band)) zeigen, daß Passivierung der eingebetteten Konstruktion schlecht ist: (102) (103)

o -weil Fritz bewundert zu werden beginnt. rt -weil die Suppe gekocht zu werden beginnt.

Die entsprechenden Extrapositionen bei gleichzeitiger Anhebung sind noch schlechter: (104) (105)

f\r\

· -weil Fritz beginnt, bewundert zu werden. ??weil die Suppe beginnt, gekocht zu werden.

Vermutlich ist der Grund in der Kombination aus Passivkonstruktion und Phasenverb zu suchen. Der beginnende Prozeß muß sich entwickeln können. Besser - wenn auch nicht gut ist deshalb das folgende Beispiel: (106)

?weil die Kartoffeln zerkocht zu werden beginnen.

Die entsprechenden passivierten Einbettungen im Schwedischen sind generell besser (wenn auch nicht gut (vgl. oben beim Acl)), was möglicherweise auf das s-Passiv zurückzuführen ist. (107) (108)

^Soppan 'die-Suppe ? Fritz 'Fritz

började begann började begann

kokas. gekocht-zu-werden.' beundras. bewundert-zu-werden.1

Der Lexikoneintrag mit den zwei Bedeutungen von beginnen bei einer eingebetteten VP sieht dementsprechend folgendermaßen aus: Xe [e INST [BEGINN [P e1]]] bzw. Xe [e INST [BEGINN [P e']]]. Bei einer CP-Einbettung steht p statt P e'. Es ist klar, daß diese Verben, wenn die Analyse richtig ist, aufgrund ihrer Semantik als Phasenverben sozusagen zwischen den Modalverben und scheinen einerseits und den Vollverben wie z.B. bitten, zaudern andererseits liegen. Dies mag nun auch der Grund sein, daß sie unter bestimmten Bedingungen Extraposition erlauben. Verben wie versuchen unterscheiden sich von den Phasenverben dadurch, daß sie keine Anhebungsvariante haben. Sie haben mit anderen Worten immer ein externes Argument mit der Thetarolle Agens:

284

(109) (l 10)

Inger Rosengren

daß er sie zu besuchen versuchte, *Die Suppe versucht zu kochen.

Die semantische Formel für versuchen ist dieselbe wie die für beginnen (b). Bei versuchen kommt auch ein Fernpassiv vor. (S. hier Höhle (1987, 177), der darauf hinweist, daß sich dieses Passiv schlecht erklären läßt, wenn man von der Annahme eines Verbalkomplexes ausgeht.) (111) (112)

weil versucht wurde, diesen Baum zu fällen. weil dieser Baum zu fällen versucht wurde.

Da aber ein solches Fernpassiv keineswegs nur an versuchen gebunden ist, wie folgendes von Höhle (nach Haider (1988c)) stammendes Beispiel zeigt, wo Objektkontrolle vorliegt: (l 13)

weil der Erfolg uns nicht auszukosten erlaubt wurde,

wird es mit der eingebetteten Kategorie VP ohne Subjektposition zu tun haben. Durch die Passivierung wird der Subjektposition der Matrix keine Thetarolle zugewiesen. In diese Position scheint nun das interne Argument gehen zu können, wo es dann auch den zu erwartenden Nominativ erhält und als Subjekt im Matrixsatz fungiert. Es handelt sich also um eine Art "Objektanhebung" bei fehlendem Subjekt in der Matrix und in der eingebetteten VP bei passivierten Kontrollverben (vgl. oben lassen). Ein Vergleich mit folgenden Daten bietet sich an: (114) (115) (116) (117) (118) (119) (120) (121) (122)

Es ist leicht, das Buch zu lesen. Das Buch ist leicht zu lesen. Er ist schwer zu überzeugen. Er ist leicht zu befriedigen. Die Frau ist hübsch anzuschauen. Die Posaune ist unbequem zu tragen. (Höhle (1978)) Der Weg ist beschwerlich zu gehen. (Höhle (1978)) Karten waren noch lange zu erhalten. (Höhle (1978)) Die Kälte war jetzt zu spüren. (Höhle (1978))

Für Fälle wie (115)-(118) nimmt Höhle (1978, 51 ff.) an, daß es sich um Passivkonstruktionen handelt, wobei das Adjektiv eine adverbiale Funktion hat. Dies kann aber kaum eine richtige Analyse sein. Darauf weisen schon (119) und (120) hin, wo das Adjektiv eine prädikative Funktion hat, wie Höhle selbst feststellt. Weitere Fakten, die für eine prädikative Analyse sprechen sind: (a) Die entsprechende englische und schwedische Konstruktion zeigen eindeutig, daß es sich um ein Adjektiv handelt: (123)

He is easy to please.

Kohärente Verben

(124) (125)

285

Sängen är hard att ligga pä. 'das-Bett ist hart zu liegen auf Mannen är svär att övertyga. "der-Mann ist schwer zu überzeugen1

In (124) läßt die Nominalphrase die Präposition zurück, von der sie regiert wird (stranded preposition), (b) Die Bedeutung von (115) ist voll äquivalent mit der Bedeutung von (114). (c) Konstruktionen mit anderen Adjektiven anstelle von leicht und schwer erlauben nicht einmal immer eine "Passivlesart" ((118) und (119)). Das legt den Verdacht nahe, daß die modale Lesart auf das entsprechende Adjektiv zurückzuführen ist und nur dort vorkommt, wo das Adjektiv semantisch "paßt". Damit korreliert, daß eine modale Lesart schwer zu kriegen ist, wenn man das Adjektiv streicht, (d) Die Konstruktion erlaubt keine Erweiterung mit einer von-Phräse, was sonst bei passivähnlichen Konstruktionen möglich ist. (e) Wie (118) schließlich zeigt, tendiert das Subjekt, wo die Semantik es erlaubt, mit dem Adjektiv semantisch zusammenzuwirken. In einem Fall wie (121) und (122) fehlt das Adjektiv und liegt in der eingebetteten Konstruktion ein Verb vor, das nicht passiviert werden kann: erhalten und spüren. Hier von Passiv zu reden scheint deshalb auch nicht sinnvoll. Da es kein lexikalisch realisiertes "Subjekt" in der eingebetteten Konstruktion gibt, kann es sich nicht um Subjektanhebung handeln. Offensichtlich wird das Objekt statt dessen in den Matrixsatz "angehoben" und bekommt dort Nominativkasus. Daraus ergibt sich der "passivische" Eindruck. Vgl. hier auch: (126) (127)

Ihnen ist leicht zu helfen Es ist leicht, ihnen zu helfen

wo das Dativobjekt seinen Kasus behält. Wenn diese Analyse richtig ist, ähneln diese Konstruktionen den Fernpassivkonstruktionen und sind auch prinzipiell mit den oben u.a. bei lassen diskutierten Konstruktionen zu vergleichen. Das Verb wünschen, das wohl nur bedingt dieser Gruppe angehört, bettet eine CP oder VP ein und ist nie Anhebungsverb. Es kann "kohärent" konstruiert werden: (128)

weil diesen Baum der Oberförster zu fällen wünscht, (von Stechow)

Extraposition ist auch möglich.

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Inger Rosengren

6. Zusammenfassung der syntaktischen und semantischen Analyse Das Ergebnis der vorgeschlagenen syntaktischen Analyse kann nun folgendermaßen zusammengefaßt werden: 1. Die Acl-Verben betten eine VP und eine CP ein, haben ein designiertes Argument im Matrixsatz und besetzen die "Subjekt"position der eingebetteten VP durch eine NP oder ein Pronomen. Für lassen gelten teilweise andere Regeln. Extraposition kommt nicht vor. 2. Scheinen bettet eine VP und eine CP ein, pflegen etc. nur eine VP. Sie- weisen der Subjektposition im Matrixsatz keine Thetarolle zu. Das "Subjekt" der eingebetteten VP ist eine NP oder ein Pronomen. Es nimmt bei Einbettung einer VP die Subjektposition im Matrixsatz ein. Die Verben sind damit Anhebungsverben. Extraposition ist nur bei pflegen etc., und dies auch nur marginal, erlaubt. 3. Die Modalverben wollen und mochte und dispositives können sind Kontrollverben und betten eine VP ein, die beiden ersteren auch eine CP. Sie haben somit ein designiertes Argument. Die VP weist keine Subjektposition auf, weshalb die designierte Argumentvariable unabgebunden bleibt. Die übrigen Modalverben sind Anhebungsverben wie scheinen, betten aber eine VP ein. Extraposition kommt nicht vor. 4. Beginnen, anfangen etc. betten eine VP und eine CP ein (die CP wird von mit regiert) und sind sowohl Kontroll- als auch Anhebungsverben. Die eingebettete VP hat in der Kontrollkonstruktion keine Subjektposition. Die Verben erlauben Extraposition. Versuchen bettet nur eine VP ein und ist nur Kontrollverb. Als solches verhält es sich wie die Phasenverben, wenn sie Kontrollverben sind. Die vorgeschlagene Analyse hat folgende semantische Konsequenzen: Die semantische Amalgamierung der Teilbedeutungen läuft in allen Gruppen über funktionale Applikation. Verbalkomplexe kommen also in der D-Struktur nicht vor. Die eingebettete infinite Konstruktion ist immer ein Prädikat des Typs 0/1, also nicht eine Proposition des Typs 0. Darin unterscheiden sich die diskutierten Verben von anderen Verben, die eine CP einbetten. Die Kohärenz, d.h. die monosententiale Struktur, ist das Ergebnis der Einbettung einer VP in Kombination mit der syntaktischen "Verschachtelung" der beiden Strukturen (s. Abschnitt 7).

7. Der Verbalkomplex In den Abschnitten 1. bis 6. wurde versucht, die syntaktische und semantische Struktur der vier stipulierten Verbgruppen zu beschreiben. Die meisten bekannten Daten lassen sich problemlos aus dieser Struktur ableiten. Nicht diskutiert wurden jedoch die eingangs genannten Daten (lb)-(3b), die auf einen Verbalkomplex schließen lassen. Da der Begriff der Kohärenz ohne Zweifel eng mit dem Begriff des Verbalkomplexes verbunden ist, soll im folgenden nun dem Problem des Verbalkomplexes auf der Grundlage der bisherigen

Kohärente Verben

287

syntaktischen Analyse nachgegangen werden. Um sich diesem Problem zu nähern, scheint es angebracht, von Beispielen wie den folgenden auszugehen: (129) (130) (131) (132) (133) (134) (135) (136) (137) (138) (139) (140) (141)

daß sie die Jägerprüfung hat ablegen müssen. daß sie hat die Jägerprüfung ablegen müssen. daß sie die Jägerprüfung abgelegt haben muß. daß sie die Jägerprüfung wird haben ablegen müssen. daß sie die Jägerprüfung wird abgelegt haben müssen. *daß sie die Jägerprüfung haben ablegen müssen wird. daß sie wird die Jägerprüfung haben ablegen müssen. daß sie wird die Jägerprüfung abgelegt haben müssen. daß sie wird die Jägerprüfung ablegen haben müssen. daß sie die Jägerprüfung ablegen wird haben müssen. daß sie die Jägerprüfung wird abzulegen versucht haben müssen. daß sie die Jägerprüfung wird haben abzulegen versuchen müssen. daß sie die Jägerprüfung wird abzulegen haben.

Das Hilfsverb haben steht vor einem Verbalkomplex mit einem Modalverb und normalerweise auch vor einem Verbalkomplex mit einem AcI-Verb, das es regiert. Das Hilfsverb werden kann unter bestimmten Bedingungen auch rechts von einem entsprechenden Komplex stehen, muß jedoch links von einem Verbalkomplex mit haben stehen, das es regiert (134). Diese Regeln sind als Defaultregeln zu betrachten. Die beiden Hilfsverben können auch weiter links stehen, z.B. vor einem Objekt oder einem Adverbial. Eine solche Abfolge ist jedoch gegenüber der Defaultabfolge markiert, bei mehreren Hilfsverben außerdem markierter als bei nur einem (135)-(136). Wie aus (141) hervorgeht, kann haben auch einen Infinitiv regieren. Die beiden Hilfsverben können ausschließlich auch rechts von dem am tiefsten "eingebetteten" Verb stehen (138). Dagegen kann z.B. das am tiefsten "eingebettete" Verb nicht links von seinem Objekt stehen, was auch nicht zu erwarten ist. Hier stellt sich nun die Frage, ob die verschiedenen Stellungsmöglichkeiten der Hilfeverben haben und werden aus einer D-Struktur wie die in den Abschnitten 2. bis 6. beschriebenen abgeleitet werden können. Die Position von haben kovariiert mit der Form des Partizips. Wenn haben rechts von einem regierten Verb steht, nimmt dies die Partizipform an (s. z.B. (131)). Die Abfolge links von dem Verbalkomplex korreliert mit der infinitiven Form des Partizips (s. z.B. (129)). Da Statuszuweisung von rechts nach links läuft, wollen wir davon ausgehen, daß haben, wenn es links steht, dem Verb den dritten Status gar nicht zuweisen kann. Der zw-lose Infinitiv ist dann die zu erwartende Defaultform des Verbs. Im übrigen soll auf die Gründe für diese Position der Hilfeverben nicht näher eingegangen werden. (Zu den historischen Daten s. u.a. Paul (1959, IV, § 351).) Die epistemische Lesart scheint nur dann möglich, wenn das Modalverb weiten Skopus hat (z.B. (131)). Auf diese Frage soll hier ebenfalls nicht weiter eingegangen werden.

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Inger Rosengren

Zusammen legen die Daten es nahe, einen Verbanhebungsprozeß (vgl. hier vor allem Evers (1975; 1986)) anzunehmen, an dem auch die temporalen Hilfeverben haben und werden teilnehmen. Auch von diesen Verben soll deshalb angenommen werden, daß sie eine VP einbetten (anders Zimmermann (1988)). Unter Verbanhebung soll folgendes verstanden werden: Das am tiefsten eingebettete Verb wird an das Verb in der nächsten eingebetteten VP/IP "angehoben'Vadjungiert, wobei eine neue V°-Einheit gebildet wird. Auf jeder der nächsten Stufen wird der ganze Verbalkomplex nach denselben Prinzipien an das nächste Verb angehoben. Dies geschieht normalerweise durch Linksadjunktion und gilt auch für haben und werden, außer wenn diese Verben einen Verbalkomplex mit einem Modalverb oder AcI-Verb einbetten. Dann liegt Rechtsadjunktion vor, was also die infinitivische Form des Partizips zur Folge hat. Diese stufenweise Anhebung erlaubt nun auch, daß die Anhebung nur teilweise vollzogen wird. So kann z.B. das unterste Verb unangehoben verbleiben und die Anhebung erst auf der nächsten Stufe beginnen (s. z.B. (138)). Ein Teilkomplex kann auch topikalisiert werden6: (142)

Früher ablegen dürfen würde er die Jägerprüfung bestimmt haben können.

Ein Beispiel wie (142) ist möglicherweise nicht besonders gut. Ungrammatisch ist es aber nicht. In diesem Beispiel stehen zwei der Verben im Vorfeld und zwei in situ, wobei haben wie zu erwarten vor dem Modalverb steht. Die beiden Hypothesen erklären solche Konstruktionen auf unterschiedliche Weise. Die FC-Hypothese muß annehmen, daß die syntaktische Struktur des Verbal komplexes sichtbar ist und daß man Teile davon ins Vorfeld heben kann. Da die Hypothese davon ausgeht, daß alle Argumente vererbt und Argumente der ganzen Konstruktion sind, bedeutet dies jedoch - ganz abgesehen davon, daß man sozusagen durch die Hintertür wieder in die Syntax einsteigt -, daß sie Vorfeldbesetzungen wie die in (la) schlecht erklären kann; denn wie könnte das Objekt der ganzen Konstruktion, das ja in irgendeiner Weise mit dem dominierenden V°-Knoten verbunden sein muß, allein mit einem Teil der Konstruktion ins Vorfeld wandern? Das Problem wird von Bierwisch (1990) aufgegriffen und zu lösen versucht. Die Lösung ist aber kostenintensiv. Die FA-Analyse in Kombination mit der Verbanhebung bedeutet ihrerseits, daß die verbale Einheit frühestens auf der S-Struktur entsteht und dann auch nicht mehr aufteilbar ist. Es handelt sich also um einen echten Verbalkomplex. Deshalb stehen auch die Adverbiale, unabhängig davon, welches Verb sie modifizieren, links von dem ganzen Komplex. Wenn ein Teil eines solchen potentiellen Komplexes im Vorfeld auftritt wie in (142), muß angenommen werden, daß dieser Teil - in diesem Fall nach Anhebung des untersten Verbs - nicht weiter angehoben wurde. Dies scheint mir an sich keine unplausible Analyse zu sein, so lange wir keine Teilkomplexe im Vorfeld finden, die sozusagen oberhalb der zurückgebliebenen Teilkomplexe auf der Anhebungsleiter stehen. Dies scheint auch nicht der Fall zu sein (vgl. Das komplexe Verb verhält sich hier wie ein einfaches Verb: (i)

Abgelegt hat er die Jägerprüfung.

Dies legt die Annahme nahe, daß ein Verb im Vorfeld immer eine maximale Projektion ist (s. hierzu neuerdings Frey/Tappe (1991).

Kohärente Verben

289

auch (6), (8) und (10), wo nicht einmal ein einfaches Verb oberhalb eines eingebetteten einfachen Verbs ins Vorfeld kann). Für (142) müßte diese Analyse bedeuten, daß früher das Verb ablegen und nicht das Modalverb dürfen modifiziert. Ein Problemfall für beide Theorien ist vermutlich ein Fall wie (135), wo das finite Verb links von dem Objekt des am tiefsten eingebetteten Verbs steht. Ausgehend von einer Verbanhebungshypothese wäre hier wohl anzunehmen, daß das Verb aus seiner Grundposition nach links gerückt ist. Möglicherweise korrelieren mit einer solchen Stellung auch spezifische Fokussierungsverhältnisse. In einem Beispiel wie dem folgenden scheint mir die Plazierung des Verbs eine Einwirkung auf das Fokuspotential des Satzes zu haben: (143)

weil er das Buch wird seiner Mutter zum Geburtstag haben schenken wollen.

Auf diese Frage kann hier jedoch nicht näher eingegangen werden. Die Bäume (151), (152), (153) sollen demonstrieren, daß die Verbanhebung die zu erwartende Defaultabfolge der Verben an der Oberfläche ergibt. Das Ergebnis der Verbanhebung in (151) ist ein Verbalkomplex mit der Struktur (152). Wie die Bäume zeigen, erhalten wir die zu erwartenden Abfolgen. Die folgenden Beispiele illustrieren das Zusammenwirken der Verbanhebung mit anderen Bewegungen, s. (144) - (150). Bei Verben, die Extraposition zulassen, kann man also die unterste VP extraponieren und die restlichen Verben anheben, gegebenenfalls in Kombination mit Topikalisierung und Scrambling (s. (148), vgl. hierzu auch Haftka 1989; in diesem Band): (144) (145) (146) (147) (148) (149) (150)

Das Buch lesen wird er schon längere Zeit haben wollen. Das Buch hat er schon längere Zeit versucht zu lesen. weil er das Buch schon längere Zeit hat versuchen wollen zu lesen. wenn dir anfängt der Kopf zu wackeln. wenn dem alten Mann der Kopf angefangen hat zu wackeln. falls jemandem anfängt schlecht zu werden. (Höhle 1989) falls jemandem anfangen sollte schlecht zu werden.

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290

(151)

CP/IP C1/!1

SpecC/I

werden abgelegt haben müssen

VP

V° müssen

abgelegt haben müssen

V1 VP

SpecV sie NP die Jägerprüfung

V° haben

abgelegt haben

V1

V° ablegen



(152)



V° werden





müssen V° ablegen

V° haben

291

Kohärente Verben

CP/IP

(153)

SpecC/1

werden haben ablegen müssen

haben ablegen müssen

ablegen müssen V° ablegen

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292

(154)

CP/IP C1/!1

SpecC/I C°/C° daß

VP I V1 VP l V1

VP | V1

V° werden

V° haben v° müssen

werden haben abzulegen versuchen müssen

haben abzulegen versuchen müssen

abzulegen versuchen müssen

1

SpecV V sie ^X^X^ VP V° l versuchen V1 NP



die Jäger- abzulegen prüfung

abzulegen versuchen

Kohärente Verben

293

Zusammenfassend können wir also feststellen, daß VP-Einbettung eine notwendige Voraussetzung für Verbanhebung ist, daß aber Verbanhebung unter bestimmten Bedingungen nicht stattfindet. Mit der Definition von Kohärenz und Verbanhebung wurde noch nichts darüber gesagt, welche Verben kohärent konstruiert werden können. Die folgenden Beispiele sind nicht ganz akzeptabel. Möglicherweise soll man deshalb hier CP/lP-Einbettung annehmen: (155) (156)

'weil diesen Baum der Oberförster zu fällen zaudern muß. 'weil diesen Baum der Oberförster zu fällen zaudert, (von Stechow)

Man kann jedoch vermutlich keine scharfe Grenze zwischen VP- und CP-Einbettung, d.h. zwischen kohärenten und nicht-kohärenten Verben ziehen. Wenn dies so ist, handelt es sich am ehesten um eine Skala: Ganz links finden wir die Verben, die die engste Beziehung mit dem eingebetteten Verb aufweisen und ganz rechts die Vollverben. Die engste Beziehung weisen die temporalen Hilfsverben auf; ihnen folgen die Modalverben, scheinen, die AclVerben und die Phasenverben. Zuletzt kommen andere Verben, in deren Semantik Merkmale vorkommen können, die Kohärenz erlauben. Entscheidend ist also gewissermaßen die semantische Vollwertigkeit des Verbs. Gewöhnlicherweise wird auch angenommen, daß das Matrixverb kein Akkusativobjekt haben darf. Vgl. jedoch die folgenden Beispiele: (157) (158) (159)

wenn er das Kind hätte zwingen können, zu essen. wenn er das Kind hätte zu essen zwingen können. wenn er das Kind zu essen hätte zwingen können.

Der Satz (158) ist nach Haider (1988b; 1988c) ungrammatisch, weil zwingen ein direktes Objekt hat. Ich finde den Satz jedoch ziemlich gut. Er ist auch völlig regelrecht gebildet, was die Position von hätte betrifft. Der entsprechende Baum für (158) mit vollständigem Verbalkomplex sieht somit aus wie in (160). In (157) und (159) ist das Vollverb nicht angehoben worden.

294

Inger Rosengren

(160)

C°/T wenn

VP

hätte zu essen zwingen können

zu essen zwingen können

NP das Kind

VP l V1

V° zwingen

zu essen zwingen

v° zu essen

Wie die folgenden Daten zeigen, entstehen bei Verbanhebung jedoch Probleme, wenn das Ergebnis mehrere Akkusativobjekte sind, besonders, wenn dies auch noch mit Umstellung der Objekte (162) kombiniert wird. fj

(161)

-weil er das Kind das Brot hätte zu essen zwingen können.

Daß (161) nicht besonders gut ist, hat sicherlich damit zu tun, daß der Satz zwei Akkusativobjekte enthält. Ungrammatisch ist (161) jedoch nicht. Wenn man aber das innere Akkusativobjekt auch noch über das äußere scrambeln wurde, entsteht m.E. ein unakzeptabler Satz: (162)

*weil er das Brot das Kind hätte zu essen zwingen können.

Zwei Dativobjekte können eher nebeneinander stehen: (163) (164)

weil er dem Mann; seinen; Kindern zu helfen geraten hat. 'weil er seinen; Kindern dem Mannj zu helfen geraten hat.

Nach Haider (1988c) zeigt auch folgendes Beispiel (165), daß ein Akkusativobjekt im Matrixsatz unzulässig sei:

Kohärente Verben

(165)

295

*weil sich Fritz den Meister entfernen zu dürfen bat.

Dieser Satz ist tatsächlich ungrammatisch. Die Ungrammatikalität in (165) ist aber nicht allein auf das Akkusativobjekt zurückzuführen, sondern auch auf die Anapher. Vgl. folgendes Beispiel: (166)

weil es Fritz den Meister entfernen zu dürfen bat,

das nicht ungrammatisch ist. In Beispiel (167) enthält der Matrixsatz kein Akkusativobjekt über die eingebettete Konstruktion hinaus. Trotzdem ist Voranstellung des Pronomens nicht erlaubt. (167)

*daß ihn ihr Fritz niemanden vorstellen ließ.

Vgl. hierzu: (168) (169) (170) (171)

daß ihr Fritz einen Stein auf die Zehen fallen ließ; daß ihn ihr Fritz vorzustellen pflegte; weil ihn Fritz mir zu verstecken erlaubt; daß es Fritz ihn verstecken ließ,

wo nur ein Akkusativ vorkommt - (168) - (170) - bzw. das Pronomen es nicht über ihn hinwegbewegt wurde (171). Nach Haider (1988b) ist (167) ungrammatisch, weil das unergative "Subjekt" niemanden die Voranstellung blockiert. Die Blockierung könnte jedoch auch hier auf der Umstellung der beiden Akkusative beruhen, durch die die Struktur des Satzes undurchsichtig wird. Diese Daten, die m.E. eine unabhängige Erklärung verlangen, sprechen, soweit ich es beurteilen kann, nicht gegen Verbanhebung. Ganz im Gegenteil scheinen sie mit Verbanhebung kompatibel zu sein (vgl. auch Haider (1988b)). Wie sich in dem vorgeschlagenen Modell Konstruktionen wie die folgenden mit koordinierten Verbalkomplexen unterbringen lassen, ist allerdings unklar: (172)

weil Karl den Hund hat sowohl streicheln dürfen als auch füttern sollen. (Höhle (1989))

Da hier mehrere Hunde begraben zu liegen scheinen, will ich dieser Frage jedoch nicht näher nachgehen. Sie verlangt eine eigene Studie (s. hierzu auch Höhle (1989)). Ich glaube aber, daß es sich in erster Linie um ein Problem der Koordinationstheorie handelt.

296

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8. Zusammenfassung Ausgehend von vier Verbgruppen wurde zu zeigen versucht, daß sich das Kohärenzproblem syntaktisch lösen läßt. Angenommen wurde, daß die kohärenten Verben syntaktisch eine VP einbetten und daß es sich semantisch um funktionale Applikation handelt. Der Verbalkomplex entsteht erst auf S-Strukturebene. Er setzt Kohärenz voraus und ist das Ergebnis eines Verbanhebungsprozesses. Dieser kann unter Umständen nur Teile der eingebetteten Konstruktionen umfassen und kann deshalb auch mit anderen Bewegungen zusammenwirken, u.a. auch mit Topikalisierung und Extraposition.

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Kohärente Verben

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Anita Steube Kompositionsprinzipien in der Semantischen Form und das Problem der Autonomie der Semantik 0. Das Problem soll an Hand der semantischen Beschreibung kohärenter Kontrollkonstruktionen mit wollen diskutiert werden, der eine syntaktische Beschreibung vorausgehen muß.1 Die empirische Basis stellen folgende Sätze dar: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)

Peter will lesen. Peter will nach Dresden fahren. Peter will drei Stunden lesen. Peter will drei Wochen nach Dresden fahren. Peter will drei Wochen montags nach Dresden fahren. Peter will drei Wochen am Montag nach Dresden fahren. Peter will drei Wochen zeitig ins Bett gehen. Die Monteure wollen drei Wochen am Montag nach Dresden fahren.

Das Ziel des Beitrages ist, den Zeitverlauf der Situationen, über die mit den obigen Sätzen gesprochen wird, interpretatorisch zu ermitteln. Bisher sind zu diesem Zweck nur einfache Sätze isoliert und als Satzfolgen im Text untersucht worden, vgl. Steube (1988). Hier geht es um komplexe Sätze, von denen nicht zuletzt aus semantischen Gründen, vgl. Bierwisch (1989), zu klären ist, ob sie in der Revidierten Erweiterten Standardtheorie über Satzgefüge mit eingebetteten Nebensätzen oder über einfache Sätze mit Verbkomplex zu beschreiben sind. 1. H. Haider (1986) hat in § 7 Diagnosekriterien zur Unterscheidung sententieller Infinitivkomplexe (S1 m C2) von nichtsententiellen (S · I2 oder Verbkomplex VK) zusammengestellt. Diese Kriterien werden nachfolgend auf kohärente Kontrollkonstruktionen mit wollen angewendet. (a)

nur sententielle Konstituenten sind extraponierbar

(9)

*wenn mein Freund will ihn dorthin schicken

(b)

in sententiellen Infinitivkonstruktionen gehören die Verben unterschiedlichen Sätzen (S1) an, wodurch die Verbkette durch ein Adverb unterbrochen werden kann.

(10)

*ob Peter es sehen längst wollte.

(c)

S1-Grenzen beschränken den Negationsskopus

(11)

Walter will nicht, daß sein Sohn liest.

Die Syntaxtheorie ist die von Chomsky (1986), wenn der INFL-Parameter für das Deutsche so gesetzt wird wie von Haider (1986) vorgeschlagen. Das Grammatikmodell wird erweitert um die Semantische Form entsprechend Bierwisch (1987) und (1988).

300

(12) (13)

Anita Steube

Walter will, daß sein Sohn nicht liest. Walter will nicht lesen.

(11) und (12) haben unterschiedliche Bedeutung, (13) ist mehrdeutig im Sinne von (11) und (12). Alle diese Kriterien diagnostizieren, daß die Komplemente von wollen keine S1 sind. Ob sie satzartig im Sinne von S sind oder VK, sollen folgende Kriterien klären. (d) Adverbialein (das sind kausale, durative, iterative und temporale im engeren Sinn) ergänzen I-Projektionen. Wb/fen-Konstruktionen können zwei gleiche Adverbialem enthalten, von denen dann jedes zu einer anderen I-Projektion gehören muß. (14) (15) (16)

Ich will heute schon, daß mein Sohn im nächsten Jahr Musik studiert. Ich will heute schon im nächsten Jahr Musik studieren. Deshalb will ich aus Vorsicht mit dem Zug fahren.

(e) Enthält die kohärente Kontrollkonstruktion nur ein Adverb, ist sie mehrdeutig in der Weise, wie (13) mehrdeutig ist. (17)

Ich wollte schon früh mit dem Klavierspiel beginnen.

(r) Bei einfachem Verb ist im gegebenen durativen Kontext nur eine iterative Interpretation möglich; in der kohärenten Kontrollkonstruktion trifft das nicht notwendig zu. (18) (19)

Ich lese seit langem lange. Ich will seit langem (einmal) lange lesen.

(g) In kohärenten Kontrollkonstruktionen sind sogar zwei Satzadverbiale möglich, die in der I-Projektion von einem Knoten abhängen, der die Adverbialen, dominiert. (20) (21)

Peter will ganz bestimmt, daß du auch bestimmt kommst. Peter will ganz bestimmt auch bestimmt kommen.

Wenn kohärente Kontrollkonstruktionen mit wollen nur ein Satzadverb enthalten, sind sie wieder mehrdeutig. (h) Entgegen Haftka (1988), die V1 als maximale Konstituente für die Bewegung ins Vorfeld ansieht, finden sich folgende grammatische Sätze, in denen das Adverbialin nicht besonders markiert oder rhematisch ist. Adverbialen sind ebenso möglich (vgl. (24)). (22)

Täglich so viele Bäume fällen wollte er schon immer einmal.

Kompositionsprinzipien

(23) (24)

301

Wegen kranker Kinder von der Arbeit zu Hause bleiben wollen die Väter meist nicht. Unter Protest aus der Partei austreten will er deshalb.

Das Diagnosekriterium zur Unterscheidung von S und VK ist nach Haider (1986) die Pronominalumstellung aus dem Infinitivkomplex heraus in die Wackernagelposition des dominierenden Satzes. Hier werden Beispiele angeführt, die an der Relevanz dieses Kriteriums zweifeln lassen. Für das umgestellte Pronomen steht an der Ursprungsstelle der Strich. (i) Objektkontrollsätze (25)

*ob es Peter; seinen Bruderj [PRO

abzugeben] bat

(j) Subjektkontrollsätze (Kontrollverb mit eigenem Objekt) (26)

*ob es mir Max; [PRO

abzuschicken] versprach

(k) Subjektkontrollsätze (Kontrollverb ohne eigenes Objekt) (27)

ob es Max; [PRO

abzuschicken] versuchte

(1) Acl- und /otten-Konstruktionen (Infinitivkomplex mit eigenem Objekt, wobei die ObjektNP verschoben wird) (28) (29) (30)

*ob ihn Klaus [den Peter rühmen] hört *ob ihn der Vater [die Polizei suchen] läßt *ob ihm Klaus [den Peter den Schuh zubinden] sieht

(m) Acl- und /asre/t-Konstruktionen (Infinitivkomplex mit eigenem Objekt, wobei die Subjekts-NP verschoben wird) (31) (32)

ob ihn Klaus [ ob sie Klaus [

den Peter rühmen] hört dem Rentner helfen] läßt

Sind die Infinitivkomplexe aus ergativen Verben mit Ergänzungen aufgebaut, gelingt die Pronominalumstellung. Nach Haider (1986) sind Objektkontrollsätze sowieso S1. Unter S rechnen bei ihm Subjektkontrollsätze von Kontrollverben mit eigenem Objekt, Acl- und /a?se/t-Konstruktionen mit Objekt im Infinitivkomplex, außer bei ergativen Verben. Sind die Objekte weggelassen oder hat der Infinitivkomplex ein intransitives Verb, werden die Konstruktionen als einfache Sätze mit VK abgeleitet. Scheinen- und HO/fen-Konstruktionen weisen keine nominalen Ob-

302

Anita Steube

jekte im Matrixsatz auf. Sie fallen unter einfache Sätze mit VK. Die Beispiele von (25) bis (32) lassen Einwände gegen das Kriterium aufkommen: 1. Die Pronominalumstellung in Acl- und /asie/i-Konstruktionen gelingt nur dann nicht, wenn der Matrixsatz ein eigenes Objekt enthält und aus dem Infinitivkomplex die valenznotwendige NP wegbewegt wurde. Demselben Kriterium genügen aber auch die Objektkontroll- und die einschlägigen Subjektkontrollsätze. 2. Die VK-Analyse gestattet es nicht, die Adverbiale unterzubringen. Ihre Verträglichkeit in Sätzen ist unabhängig von anwesenden oder weggelassenen Objekten bei gleichem Verb und muß so in die Theorie eingebaut werden können. Die syntaktische Ursache und Konsequenz der Pronominalumstellung muß also neu untersucht werden. Unter diesen Voraussetzungen kann der syntaktischen Beschreibung kohärenter Kontrollkonstruktionen zugestimmt werden, die A. von Stechow (in diesem Band) vorlegt, wenn folgende Zusatzannahmen gemacht werden: (n) Der leere Complementizer [CQMP e] ist auch semantisch leer. Er wird dadurch lizensiert, daß C2 subkategorisiert ist und in INFL das Merkmal [- Finit] enthalten ist. (o) Subkategorisierte C2 mit leerem Kopf sind nichtsententielle Komplemente S · I2. Dasselbe trifft auf C2 mit getilgtem Kopf als Komplemente von Anhebungs- und ECM-Verben zu. Wenn der INFL-Parameter für das Deutsche so gesetzt wird wie von Haider (1986) vorgeschlagen, ist keine I-Projektion nötig. Das Merkmal [- Finit] wird unter COMP generiert oder nach der lexikalistischen Auffassung von Bierwisch und Zimmermann im Lexikon bereitgestellt. Die Anwesenheit der I-Projektion hat auf die Lösung unseres Problems keinen Einfluß. Wir können uns deshalb mit den Annahmen v. Stechows (aus diesem Band) der D-Strukturrepräsentation bedienen, die B. Haftka (in diesem Band) benutzt, da sie der semantischen Theorie besser angepaßt ist. 2. Die Semantische Form wird als grammatisches Teilsystem verstanden, das nur den Anteil grammatisch determinierten Wissens an den Satzinterpretationen repräsentiert und damit zwischen grammatischen und konzeptuellen Repräsentationen vermittelt. Die SF-Repräsentationen werden mit einem Kalkül der Lambdakategoriengrammatik aufgebaut. Es liegt auf der Hand, daß solche SF-Repräsentationen nur Funktionen sind, die Kontexte als Argumente nehmen, um einen Wert in Form von Äußerungsbedeutungen (Interpretationen von Sätzen) zu haben. Schon dadurch, daß jeder Satz ein Tempus hat und Tempus in der Interpretation vom Sprechmoment abhängig ist, sind alle Satzbedeutungen (SF-Repräsentationen) kontextabhängig. Kontexte sind mentale Repräsentationen, die sowohl als grammatische wie als nichtgrammatische (wie z.B. perzeptive) Repräsentationen in die konzeptuelle Verarbeitung gekommen sein können, oder sie können aus unterschiedlichen Speichern des konzeptuellen Systems stammen. Das konzeptuelle System kann grammatische und nichtgrammatische Repräsentationen gemeinsam zur Äußerungsbedeutung verarbeiten. Diese ist eine konzeptuelle Repräsentation.

Kompositionsprinzipien

303

In dieser Semantiktheorie gibt es drei semantische Repräsentationen, eine grammatische (SF) und zwei nichtgrammatische (die der Äußerungsbedeutung und die des Kommunikativen Sinns, vgl. Bierwisch (1990)). Die Frage nach der Autonomie der Semantik läßt sich - rein theoretisch - positiv nur beantworten, wenn es um SF-Repräsentationen geht. Dazu hat M. Bierwisch (in diesem Band) bezüglich der semantischen Primes und ihrer Integration zum Datentyp Lexikoneintragung, der weiterhin auch die Kombinatorik der Lexikoneintragungen zur Satzbedeutung organisiert, ausführlich Stellung bezogen. Zur vollen Beantwortung der Frage fehlt noch die Einsicht, wie konzeptuelle Repräsentationen aufgebaut sein können oder müssen, damit sie von SF-Repräsentationen abgegrenzt werden können. Wenn auf der anderen Seite eine Semantiktheorie so konzipiert ist, daß sie wie in Jackendoff (1983) nur Repräsentationen von Äußerungsbedeutungen herstellen will, haben wir es nicht mehr mit einem autonomen System zu tun. Semantik ist erst recht kein autonomes System, wenn sie nur Repräsentationen des Kommunikativen Sinns erzeugt, wie es die Sprechakttheoretiker tun. Da Semantik insgesamt an der Schnittstelle zwischen Grammatik und konzeptuellem System situiert ist, ist eine Pauschalaussage, Semantik ist kein autonomes System, sinnlos. Es muß genauer zwischen den Teilen von Semantik unterschieden werden. Die notwendige Interaktion von sprachlichem und nichtsprachlichem Wissen unter Einbeziehung von Schlußoperationen für die Gewinnung der Deutungen von Sätzen (des Kommunikativen Sinns) ist oft genug gezeigt worden. Dieser Beitrag will demonstrieren, daß bereits dort, wo es sich nur um grammatische Kontexte handelt, die SF-Repräsentation und die Äußerungsbedeutung klar trennbar sind, daß die SF-Repräsentationen aber die Interpretationsbedingungen vorgeben, d.h. die Kontexte auswählen und daß bereits hier in der gemeinsamen Verarbeitung von grammatischen Repräsentationen und Kontexten Schlußoperationen zur Erlangung der Interpretation gebraucht werden, daß - grob gesagt - bereits in solchen einfachen grammatischen Kontexten Interaktion von Sprache und Denken vor sich gehen muß. Die Beispiele stammen aus dem Bereich der Zeitreferenz, genauer, es soll der Zeitverlauf der Situationen, über die mit den Sätzen gesprochen wird, interpretatorisch ermittelt werden. Zunächst wird die SF-Repräsentation des Satzes (6) aufgebaut. Die Adverbien drei Wochen und am Montag haben Skopus, vgl. (6) mit (33)

Peter will am Montag drei Stunden Klavier spielen.

Es wird hier nicht erläutert, wie sie an Ihren Platz in der LF-Repräsentation gekommen sind. In der LF (34) sind die SF-Repräsentationen der Lexikoneintragungen unter den entsprechenden Knoten angegeben. Tempus ist vernachlässigt.

Anita Steube

305

Die SF-Repr sentation des Satzes l t sich mit Hilfe der drei folgenden Regeln aufbauen: Lambdakonversion: λχ [...χ...] (a) =*> [...a...] Modifikation: λχ [...χ...]; λχ [...χ...] => λχ [[...χ...]:[...χ...]] Spezifikation: 3χ; λχ [...χ...] => Ξχ (...χ...) Die SF-Repr sentation von V21 ist (35). (35)

λβ [s INST [DO-CAUS χ, s": [ s" INST [[GO7 x] : [FIN [LOG s] C UOC [DBF y] [[STADT y]: [NAME y, Dresden]]]]]]]

Mit Hilfe der referentiellen θ-Rolle λβ kann V\ modifizierend mit den SF-Repr sentationen von am Montag oder drei Wochen verkn pft werden. Darauf werden wir unten noch eingehen. Da COMP = C' auch semantisch leer ist, wird die referentielle Θ-Rolle λ$ nicht getilgt. Die resultierende SF-Repr sentation von C2 hat die Kategorisierung S/N und wird mittels Lambdakonversion f r v in der SF-Repr sentation von woll eingesetzt. Das geschieht in zwei Schritten. (36a)

λχ λβ [s INST [INTEND χ, [λβ [s INST [DO-CAUS x, s": [s11 INST [[GO χ] : [FIN [LOG s] C LOG [DBF y] [[STADT y]: [NAME y, Dresden]]]]]]] s']]]

(36b)

λχ λβ [s INST [INTEND x, [s1 INST pO-CAUS x, s": [s" INST [[GO x] : [FIN [LOG s1] C UOC [DBF y] [[STADT y]: [NAME y, Dresden]]]]]]]]]

Im n chsten Schritt kann f r x an allen Stellen die SF-Repr sentation von Peter eingesetzt werden, was das Wesen von 'Subjektkontrolle' ausmacht. Schlie lich ist dann die referentielle Θ-Rolle λβ durch Spezifikation zu tilgen. Vgl. (41). Um nicht blo e Marker zu sein, m ssen die semantischen Primitiva konzeptuell definiert sein. F r unseren Datenbereich setzt das eine Theorie ber das Alltagswissen von Zeit voraus, vgl. Steube (1989). Daraus wird hier nur soviel angef hrt, da die Interpretation der Beispiele nachvollziehbar ist: An sprachlichen Ausdr cken l t sich auch empirisch nachweisen, da alle Teile von Zeit als Zeitintervalle konzeptualisiert sind. Teilen von Situationen sind immer Teile von Zeit zugeordnet, vgl. (37). (37)

time Sj = tj

Situationen installieren Propositionen, vgl. (38). (38)

s inst p

F r den Subtyp der homogenen Situationen (Peter will schlafen · statale Situation; Es regnet Proze ; Peter schwimmt - Aktivit t) gilt, da alle ihre Teilsituationen dieselbe Proposition instantiieren. F r nichthomogene Situationen (Die Vase llt herunter - Ereignis; Peter f hrt nach Dresden - Aktion) gilt das nicht. Im Endst ck des zeitlichen Weges, als der der Zeitver-

306

Anita Steube

lauf jeder Situation konzeptualisiert ist, gilt z.B., daß die Vase unten ist, bis zum Endstück gilt, daß sie sich nach unten bewegt. Die die Ereignisse und Aktionen konstituierenden Veränderungen sind konzeptualisiert durch become, vgl. (39). (39)

[[time S; = tj : [s; inst [become [pa]]]] - [[init [time sj = tjj : [s;j inst - [pa]]] & [[fin [time Sj] = tfc] : [sik inst [pa]]]

Die erste Proposition des Konjunkts drückt eine Voraussetzung, die zweite die eigentliche Bedeutung von BECOME aus. Die Dauer, DUR, ist definiert als die Vereinigungsmenge aller aktuellen Intervalle des eindimensionalen zeitlichen Weges Tkj. INTEND ist wie folgt konzeptualisiert: (40)

[time s = t] : [s inst [intend x, y]] · [time s = t] : [[s inst [have , ] : [volitional mental state z : [z inst [become s1]]] & [time s1 C time s] & [fin [time s1] = fin [time

Die Klärung bezüglich dessen, was man sich unter dem volitionalen Zustand Wollen genauer vorzustellen hat, muß erst noch erfolgen. Der Inhalt der Einstellung ist hier mit einem zustandekommenden Sachverhalt angegeben, der - das bleibt zu präzisieren - vom Einstellungsträger als für ihn günstig eingeschätzt wird. Der Einstellungsträger weiß außerdem, daß er sich so verhalten muß, daß er das Zustandekommen des günstigen Sachverhaltes befördert, und er verhält sich auch so. Aus diesem Verhalten kann von anderen geschlossen werden, daß der Einstellungsträger den volitionalen mentalen Zustand Wollen hat, vgl. Zybatow (1989) mit Verweis auf v. Wright (1974): "Erklären und Verstehen". Frankfurt/M. Was für das Verhältnis des Zeitverlaufs der beiden Situationen, die durch den Matrix- und den Konstituentensatz ausgedrückt werden, wichtig ist, folgt aus den konzeptuellen Definitionen von INTEND und BECOME: Der Wunsch besteht nicht länger als sein Inhalt; das Zeitintervall tjj (das ist der Zeitverlauf der Teilsituation s^ - sie instantiiert die Presupposition von BECOME) gehört aber zum Zeitverlauf der Situation s, die die Proposition intend , y instantiiert. Damit unterscheidet sich der Zeitverlauf der Situation, ausgedrückt durch kohärente Kontrollkonstruktionen mit wollen, nicht von dem Zeitverlauf der Teilsituation, die von ihren eingebetteten Sätzen ausgedrückt wird. Für unsere weitere Argumentationen bezüglich der Kompositionsprinzipien in SF und der Interpretation der SF-Repräsentationen können wir uns deshalb auf die Infinitivkomplexe beschränken. 3. Die wesentlichsten Bedingungen für die Interpretation der Sätze (1) bis (8) sind geschaffen. Der Satz Peter will nach Dresden fahren hat zwei Interpretationen. Im Default-Fall ist s eine einzelne Fahrt, s kann aber auch eine indefinite Menge von Fahrten darstellen. Wie wird die SF-Repräsentation dieses Satzes der Anforderung gerecht, die Bedingung für diese Interpretationen vorzugeben? Der Lambdaoperator wird auch als Mengenabstraktor gedeutet (in unserem Fall ist es der, der die Situationsvariable s bindet), s stellt also eine beliebige Menge dar, die kontextabhängig spezifizierbar ist, auch dann, wenn s existenzquantifiziert ist. Es folgt die SF-Repräsentation von (2); zur Vereinfachung wird die SF-Repräsentation der Namen verkürzt:

Kompositionsprinzipien

(41)

307

Xs [s INST [INTEND Peter, [s' INST [DO-CAUS Peter, s": [s" INST [[GO Peter] : [FIN [LOC s1] C LOC Dresden]]]]]]]

Um daraus die SF-Repräsentation von (6) herleiten zu können, ist s noch nicht existenzquantifiziert. Als erstes wird die SF-Repräsentation von am Morgen modifizierend mit (41) verknüpft. (42)

Xs [[s INST [INTEND Peter, [s1 INST [DO-CAUS Peter, s": [s" INST [[GO Peter] : [FIN [LOC s1] C LOC Dresden]]]]]]]: [[TIME s C y]: [NAME y, Montag]]]3

s kann weiterhin als Einermenge wie als indefinite Menge interpretiert werden. Das geht nicht mehr, wenn die SF-Repräsentation von (6) interpretiert werden soll, die das durative Adverbial drei Wochen enthält. (43)

3s [[[s INST [INTEND Peter, [s1 INST [DO-CAUS Peter, s": [s" INST [[GO Peter] : [FIN [LOC, s1] C LOC Dresden]]]]]]] : [TIME s C Montag]]: [QUANT pUR s] = 3 Wochen]]

Durative Adverbiale modifizieren nur Sätze, die homogene Situationen ausdrücken (vgl. (3)). Aus einem Aktionssatz kann eine homogene Situation dadurch interpretiert werden, daß es sich bei s um eine indefinite Menge derart handelt, daß in jedem aktuellen Intervall des zeitlichen Weges eine Aktion stattfindet. Daraus folgt gleichzeitig, daß die Aktionen hintereinander stattfinden müssen, was der konzeptuellen Definition von DUR genügt und auch mit unserer Intuition übereinstimmt. Eine Semantiktheorie, deren einzige Repräsentationsart die von Äußerungsbedeutungen ist, kann diese Interpretation von (6) nicht kompositionell aufbauen, es sei denn, am Montag würde als Frequenzadverb behandelt wie montags in (5). (5) und (6) sind in dieser Interpretation synonym. (6) hat jedoch noch eine zweite Interpretation, die (5) nicht hat: Sie ist ihrerseits synonym mit der Interpretation des Satzes Peter will für drei Wochen nach Dresden fahren. Dies ist jedoch aus der für (6) angegebenen SF-Repräsentation nicht abzuleiten. In ihr bezieht sich das durative Adverbial modifizierend auf die Gesamtsituation, in der zweiten Interpretation darf es sich nur auf den Endzustand beziehen, der mit in Dresden sein umschrieben werden kann.4 , t = t, vgl. Bieiwisch 1988 Werden temporale Maßphrasen durativ gebraucht, sind sie meist für zwei Interpretationen offen: drei Wochen ist interpretierbar wie drei Wochen lang oder wie/ür drei Wochen. Die durative Präpositionalphrase mit für tritt uneingeschränkt auf, wenn das Verb eine Richtungsangabe als Komplement nimmt: für + Zeitmaß an das andere Ufer schwimmen/in den Urlaub fahren/in die Schule gehen/hereinschauen/(hierher) kommen. In diesen Kontexten ist/ör immer weglaßbar. Bei transitiven Verben ist die durative Modifikation nur möglich, wenn das effizierte oder affizierte Objekt von begrenzter zeitlicher 'Geltung' ist: für drei Wochen ein Zelt aufbauenleine Wohnung vermieten. Die reine Maßangabe ist nicht immer möglich. Die Grunde scheinen semantischer Natur zu sein. Der Endzustand des Zeitverlaufs, der von Sitzen mit Richtungskomplementen ausgedruckt wird, ist zeitlich limitiert; für einige Sätze mit transitiven Verben war dasselbe gesagt, für andere trifft es nicht oder abgestuft zu. In gleichem Maße nimmt die Kompatibilität mit durativen Präpositionalphrasen zu/ab: *för drei Wochen ein Buch lesen, *für drei Jahre Englisch lernen heißt nicht, daß der Endzustand, etwas zu wissen, so lange anhält '/ur 20 Jahre ein Haus bauen ist mit der Bedeutung eher möglich.

308

Anita Steube

(7) hat dieselben beiden Interpretationsmöglichkeiten wie (6). Gesteuert durch unser Wissen um menschliche Gepflogenheiten und Bedürfnisse, das in den Interpretationskontext eingeht, wird jedoch die iterative Interpretation so stark präferiert, daß an die zweite Möglichkeit normalerweise nicht gedacht wird. In (8) fuhrt der Plural von die Monteure eine zweite Menge ein. Durch die unterschiedlichen Inbeziehungsetzungen der Mengen zueinander erhöht sich das Interpretationspotential: 1. Alle Monteure können an einer Situation beteiligt sein, deren Nachzustand drei Wochen dauert. 2. Alle Monteure können an allen Situationen gleichzeitig beteiligt sein, die sich innerhalb von drei Wochen jeweils am Montag ereignen. 3. Die Monteure können auch einzeln oder in Gruppen an je einer Einzelsituation beteiligt sein, so daß an jedem Montag innerhalb von drei Wochen andere Partizipanten in Frage kommen; die Monteure können aber auch einzeln bzw. in Gruppen mehrfach beteiligt sein. Das alles läßt die SF-Repräsentation von (8) zu. Die Interpretation wird so eindeutig wie es der Kontext erlaubt, bzw. sie bleibt so offen wie der Kontext offen ist. Daß weiter gewußt werden muß, daß eine Woche nur einen Tag namens Montag hat und daß die Iteration nach 7 Tagen einsetzt, ist vorausgesetzt. Interessant ist weiter, daß der Satz Peter will dreimal am Montag nach Dresden fahren eine Situation mit begrenztem Zeitverlauf darstellt, während die iterative Interpretation von (6) das nicht tut, obwohl sich dieselbe Anzahl von Fahrten errechnen läßt. Diese Rechnung geht dann also nicht in die Interpretation ein. Das entspricht auch unserer Intuition über die Äußerungsbedeutung von (6). Solange wir keine genauere Kenntnis von angemessenen konzeptuellen Repräsentationen haben, können sie mit demselben Inventar aufgebaut werden wie SF-Repräsentationen und sind dann nur (je nach Kontext) spezifischer. Das ist hier nicht geschehen. Über das modulare Zusammenwirken der verschiedenen kognitiven Teilsysteme gibt es bisher unterschiedliche Hypothesen. Daß es ein solches Zusammenwirken gibt, legen die untersuchten einfachen Beispiele sehr nahe. Wir fassen abschließend zusammen: Wenn es eine Chance gibt, die Autonomie der Semantik nachzuweisen, dann ist das in der SF. Wenn die SF als grammatisches Teilsystem aufgebaut wird, kann mit der Modularität der Grammatik auch in diesem Bereich ernst gemacht werden. Die SF kommt kompositionell zustande. Außerdem wird durch die Trennung von SF-Repräsentation und Äußerungsbedeutung bzw. Kommunikativem Sinn sogar heilsamer Druck ausgeübt, sich mit dem modularen Zusammenwirken der verschiedenen kognitiven Systeme zu beschäftigen.

Literatur Bienvisch, M. (1980): Semantic Structure and Illocutionary Force. In: Searle, J.R./F. Kiefer/M. Bierwisch (Hrsg.) (1980): Speech Act Theory and Pragmatics. Dordrecht, 1-35. Bierwisch, M. (1987): Semantik der Graduierung. In: Bierwisch, M./E. Lang (Hrsg.) (1987): Grammatische und konzeptuelle Aspekte von Dimensionsadjektiven. Berlin, 91-286. Bierwisch, M. (1988): On the Grammar of Local Prepositions. In: Bierwisch, M./W. Motsch/I. Zimmermann (Hrsg.) (1988): Syntax, Semantik und Lexikon, (studia grammatica XXIX). Berlin, 1-65.

Komposüionsprinzipien

309

Bierwisch, M. (1989): Veibkomplexe im Deutschen. Manuskript. Berlin. Haftka, B. (1988): Linksverschiebungen - ein Beitrag zur Diskussion um die Konfigurationalität des Deutschen. In: Bierwisch, M./W. Motsch/1. Zimmermann (Hrsg.) (1988): Syntax, Semantik und Lexikon, (studia grammatica XXIX). Berlin, 89-145. Haftka, B.: Infinitive V-Projektionen im Vorfeld deutscher Sätze (in diesem Band). Haider, H. (1986): Deutsche Syntax - generativ. Parameter der deutschen Syntax. Habilschrift Wien. Jackendoff, R. (1983): Semantics and Cognition. Cambridge (Mass.). von Stechow, A.: Kompositionsprinzipien und grammatische Struktur (in diesem Band). Steube, A. (1988): Zeitverlaufsstrukturen von Sätzen. In: Ehrich, V./H. Vater (Hrsg.) (1988): Temporalsemantik. Tubingen. Steube, A. (1989): Zur begrifflichen Organisation des Alltagswissens über Zeit und zur Interpretation von Sätzen hinsichtlich des ausgedrückten Zeitverlaufs. In: Motsch, W. (Hrsg.) (1989): Wortstniktur und Satzstruktur (Linguistische Studien 194). Berlin, 235-256. Zybatow, G. (1989): Untersuchungen zu der semantischen Repräsentation ausgewählter russischer Einstellungsprädikate und ihrer Interpretation im Satz. Diss. B. Leipzig.

Christine Römer Brauchen wir für NPs eine eigene Thetatheorie? Ich möchte von Stechows Aussage, vgl. von Stechow (1989), daß Nomina ein Problem für die Theorie der thematischen Markierung seien und man das allgemeine Thetakriterium für verschiedene syntaktische Kategorien differenzieren muß, unterstützen. Dies möchte ich aus dem unterschiedlichen Subkategorisierungsverhalten von Verben und Substantiven ableiten. 1. Alle Verben haben im Deutschen die Eigenschaft der Subkategorisierung. Sie subkategorisieren alle wenigstens eine Ergänzung in morpho-syntaktischer und semantischer Hinsicht. Substantive dagegen subkategorisieren nicht alle. 2. Es gibt keine Substantive, die obligatorische Ergänzungen fordern. Obligatorisch meint hier, daß die Ergänzung im Satz erfolgen muß. M. E. lassen alle in der Literatur angeführten sogenannten obligatorischen Substantivergänzungen ihre Realisierung im weiteren Kontext - wie Vorgängersatz - zu. Z.B. führt Sandberg (1979) an: (1)

Das Meiden des Alkohols war für ihn nötig.

Es ist aber auch möglich: (2)

(a) (b)

Der Arzt empfahl Hans, auf den Alkohol ganz zu verzichten, Das Meiden war für ihn nötig.

Dagegen sind beim Verb bekanntermaßen obligatorische Ergänzungen vorhanden. Wenn man den Inhalt von Obligatorisch' dahingehend verändert, daß man Realisierungen außerhalb des Satzrahmens einbezieht, kommt man u.a. in Kollision mit der Barrierentheorie. 3. Während beim Verb die morpho-syntaktischen Formen der Argumente und deren Reihenfolge regelhaft ist, sind diese bei den Substantivargumenten in den seitesten Fällen eindeutig festgelegt. Wenn wir den Genitiv als strukturellen Kasus beim ersten postnominalen Komplement annehmen wollen, müssen wir aber ins Kalkül ziehen, daß - wie von Stechow auch hervorhebt alternativ PPs stehen können: (3) (4)

die Kritik der Mißstände/von Mißständen Die Verbindung Jenas mit Camburg/von Jena mit Camburg.

Zum anderen sind subkategorisierende Substantive häufig in ihrem Bedeutungsumfang vage, vgl. z.B.: (5) (6)

Die Untersuchung der Lösung durch den Chemiker ... Die Untersuchung des Chemikers über Lösungen ...

312

Christine Römer

Wir stellen fest, daß der Handlungsträger, die semantische Rolle Agens, in der 1. Variante durch die PP (durch den Chemiker) und in der 2. durch die Genitiv-NP realisiert wird. Untersuchung steht in der 1. Variante für eine Handlung und in der 2. für ein Handlungsresultat (Schlußfolgerungen für die -Theorie nachfolgend). 4. Das Thetarolleninventar, das für die Beschreibung von Verben entwickelt wurde, reicht für Substantive nicht aus. Es muß um die von Toman (1983) vorgeschlagenen "N-Relationen", wie z.B. Teil/Ganzes: der Fuß des Kindes oder Gattung/Art: eine Gruppe Studenten, ergänzt werden. Dies trifft auch, entgegen manchmal vertretenen Auffassungen, auf Teile der deverbalen Ableitungen zu, z.B.: (7) (8)

Die Bevölkerung der DDR oder Eine Abteilung des Kaufhauses.

Ich schlage deshalb folgende Modifizierungen für das -Kriterium von Substantiven vor: Für die subkategorisierenden Substantive, die nur ein Teil der Wortklasse Substantiv sind, gilt, daß jedem Argument eine Thetarolle zugewiesen wird. Es besteht keine regelhafte inhaltliche und morpho-syntaktische Zuordnung von Argument und Thetarolle. Ich gehe davon aus, daß in der semantischen Form der subkategorisierenden Substantive nur angegeben wird, wieviele -Rollen zugewiesen werden. Erst, wenn in der konkreten Sprachverwendung die Vagheit der Bedeutung aufgehoben wird, werden die Rollen inhaltlich voll spezifiziert. So hat m. E. das Nomen Untersuchung (siehe oben) in der SF das -Raster: R, 1? 2. Wenn nun R für eine Handlung steht, wird aus &l Thema, aus 2 Agens; und wenn R ein Handlungsresultat repräsentiert, dann ist ©j = Agens und 2 = Thema. Wenn man nicht so vorgeht, macht es sich m. E. erforderlich, zwei Lexeme Untersuchung anzunehmen, was nicht wünschenswert scheint. Wir haben in beiden Fällen des Auftretens von Untersuchung eine Konfiguration, wie sie von Stechow (1989) unter (116) anführt:1 (9)

[N, - N XP YP ...].

Es gibt allerdings wenige Fälle mit drei Komplementen, z.B.: (10)

der Bericht X an

über Z.

Wie von Stechow (1989) unter (116) anführt, kann das erste Komplement (aber nicht die folgenden) strukturellen Genitiv zugewiesen bekommen. Entgegen von Stechows Auffassung ist m.E. eine adäquate Abbildung mit dem Einführen von Komplement-Leerstellen möglich, weil die Substantiv-Komplemente immer fakultativ sind.

In der endgültigen Version v. Stechow (1989) ist ursprüngliches (116) nicht mehr enthalten.

NPs und e-Theorie

(11) D-St.:

313

N' N°

[e]

[e]

Wenn wir nun ein Lexem wie Besuch haben, ist dieses dahingehend subkategorisiert, daß zwei Komplemente angelegt sind, die ihre spezielle -RolIe aber erst in der Verwendung erhalten bzw. wenn das zweite Komplement auftritt, vgl.: (12)

(a) (b) (c)

der Besuch der Tante Agens/Patiens der Besuch der Tante durch die Nichte Patiens Agens der Besuch der Tante bei der Nichte Agens Patiens

Anders verhalten sich die Dinge m.E. in von Stechows Konfiguration (115b)2 [ In dieser Konfiguration, also bei pränominalen Substantiv-Komplement, liegen die Dinge dahingehend anders, daß in der Regel eindeutig eine bestimmte semantische Rolle zugewiesen wird, nämlich die "Merkmalsträger" zu sein, also: (13) (14) (15) (16)

des Chemikers Untersuchung der Lösung *der Lösung Untersuchung -» Lösungsuntersuchung Tantes Besuch der Nichte/bei der Nichte *Tantes Besuch durch die Nichte -» Tantenbesuch

Wie kann man nun erklären, daß die pränominalen Komplemente einen Kasus und eine spezifische Rolle erhalten? Ich möchte dazu einen Vorschlag modifizieren, den Freytag (1989) im Anschluß an Haider (1988) gemacht hat. Ich möchte nämlich zum einen von einer Determiniererphrase ausgehen, in der die NP ein Komplement von D" ist, und zum anderen im Fall des pränominalen genitivischen Komplements eine Komplementwanderung in die Spezifikatorposition von DP annehmen:

In der endgültigen Version v. Stechow (1989) ist auch ursprüngliches (USb) nicht mehr enthalten (ich möchte an dieser Stelle nichts zur Charakterisierung der XP als N-Spezifikator sagen).

Christine Römer

314

(17)

(a)

T-St.: des Chemikers Untersuchung der Lösung

Lösung

Untersuchung

Chemiker

Thema

Agens

Von dieser Struktur kann zum einen dadurch eine korrekte OS hergestellt werden, indem Lösung strukturell der Genitiv zugewiesen wird und Chemiker über eine Präposition einen Kasus erhält, dabei bekommt Lösung die spezielle Rolle Thema und durch den Chemiker Agens. Oder: Lösung erhält wie oben seinen Kasus und die Rolle, und Chemiker wandert unter DP und erhält dort seinen Kasus, und die Rolle wird spezifiziert:

(18)

(a) OSj:

DP D1

Unter- der suchung

Lösung ^_^ Oh)

durch

den Chemiker

315

NPs und Q-Theorie

(18)

(b)

OS2:

Lösung Untersuchung

Man kann bei dieser "Rollenspezifizierung" m.E. an Haider anknüpfen, der davon gesprochen hat, daß D ein funktionales Element sei, das seinem Komplement keine thematische Funktion zuweist, sondern dessen deskriptiven Gehalt reguliere. Die Ausbuchstabierung der uns interessierenden Thetarolle zu Merkmalsträger kann m.E. als eine Regulierung des deskriptiven Gehalts betrachtet werden. Abschließend können wir für subkategorisierende Substantive m.E. folgende allgemeine semantische Form angeben:

(19)

(

[e INST

2) 2

... 2]]

R

Im Falle von pränominalem Xj ist = Merkmalsträger; die Punkte "..." in (19) stehen für die Prädikatenvariable, mit der die Relation, die zwischen den Argumenten x t und x2 besteht, charakterisiert wird, also etwa UNTERSUCH- in den Beispielen (18). Es sei nur noch der Hinweis von Haider wiederholt, daß, wenn die pränominale Genitiv-NP Nichtkomplementcharakter hat, es dann keine eindeutige Fixierung der Thetarolle gibt; in diesem Falle ist sie beliebig: z.B. Schrödingers Katze.

Literatur Freytag, S. (1989): Die syntaktische Struktur komplexer deverbaler Nominalisierungen im Deutschen. Diss. A. Jena. Haider, H. (1988): Die Struktur der deutschen NP. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 7,32 - 59. Sandberg, B. (1979): Zur Repräsentation, Besetzung und Funktion einiger Leerstellen bei Substantiven. Göteborg. von Stechow, A. (1989): Kompositionsprinzipien und grammatische Struktur (in diesem Band). Toman, J. (1983): Wortsyntax. Tübingen.

Stojan Sarlov Zur semantischen Struktur von Präfixverben Die in den letzten Jahren an Bedeutung zunehmende Wortbildungsproblematik stellt eine Reihe offener Probleme zur Diskussion. Nicht zuletzt z.B. die Einordnung der Komponente in das Sprachsystem, die sog. "Wortbildungssemantik", die Charakteristik der WB-Regeln u.a. Ein nicht zu unterschätzendes Problem stellt die Präfixbildung dar. Der Anlaß für die nachfolgenden Zeilen ist die Untersuchung der semantischen Struktur von deutschen verVerben und deren bulgarischen Entsprechungen. Bekannt ist die Ansicht, daß durch natürliche Sprachen gedankliche Strukturen exteriorisiert werden. Einen gewissen Anteil haben dabei die Wortbildungsstrukturen. Bestimmte Eigentümlichkeiten der WB-Prozesse aber lassen nur bedingt die Aufstellung von allgemeinen Ausagen über den angedeuteten Zusammenhang zu. Man kann z.B. nicht eindeutig entscheiden, bis zu welchem Grad neue Begriffe durch die vermittelnde Rolle der syntaktischen Regeln und die Elemente eines Grundwortschatzes oder durch Ein-WortBezeichnungen oder durch andere sprachliche Mittel ausgedrückt werden können. Auch Klix (1980, 632) unterstreicht die Erkenntnis, daß Wortbedeutungen als Zeichen für Begriffsinhalte nicht allein vom vermittelten Gegenstandsbezug abhängen. Man muß nach allgemeinen Prinzipien suchen, die sozusagen "parallel" und einander eingrenzend funktionieren, denn "ein neuer Begriff kann umso deutlicher gemacht werden, je expliziter er durch existierende Mittel einer Sprache beschrieben wird" (Motsch 1983, 103). Aber jede explizite Beschreibung in diesem Sinne erstreckt sich bis zu gewissen Grenzen (bedingt durch verschiedene Faktoren). Im Rahmen dieser mehrschichtigen Problematik möchte ich auf folgende Aspekte hinweisen. Zum ersten wird ein Zusammenhang zwischen Bezeichnung (auch mit Hilfe von Wortbildungsstrukturen) und begrifflichen Strukturen angenommen, zum zweiten ist zu vermerken, daß Bezeichnungen (insbesondere deren semantische Struktur) als Elemente von Äußerungen darzustellen sind (sie haben einen bestimmten Anteil an der semanto-syntaktischen Struktur von Äußerungen). Für den ersten Aspekt nimmt Bierwisch (1983, 64) an, daß die semantischen Strukturen die Interaktion sprachlicher und anderer kognitiver Systeme determinieren (vgl. noch die Annahme modular aufgebauter kognitiver Systeme bei Bierwisch 1987, 2 ff.). Sowohl für den ersten als auch für den zweiten Aspekt ist eine Fülle von Arbeiten vorhanden, die man auch in einem nicht limitierten Umfang kaum referieren könnte. Andeutungsweise kann man auf einige Momente des generativtransformationellen Herangehens als repräsentatives Beispiel der Theorieentwicklung in den letzten Jahren hinweisen. Hierher gehören z.B. die Gegenüberstellung der Konzepte von Lees (1960) und Brekle (1970), die inzwischen geänderte Auffassung von Motsch (1970 und 1973), die von Kürschner (1973) u.a. Auffallend ist es, daß ein großer Teil der Untersuchungen der erwähnten Theorierichtung die Komposition bei Nomen als Gegenstand haben. Diesbezügliche Hypothesen von der Art, daß "Komposita als verkürzte syntaktische Ausdrücke aufzufassen sind" (Motsch 1970, 209), waren vorherrschend. Offensichtlich bietet das deutsche Kompositum ausreichend Material für verschiedenartige Hypothesen (so z.B.

318

StojanSarlov

die auf die Montague-Grammatik orientierte Beschreibung bei Fanselow (1981), die Hinwendung zum enzyklopädischen Wissen bei der "Deutung" von Wortbildungsstrukturen bei Heringer (1984, 5). Die Präfixverben nehmen dagegen einen bescheideneren Platz in der generativ-transformationellen WB-Theorie ein. Stellvertretend für die meisten können die Modelle von Lerot (1977) und Zifonun (1973) angeführt werden. Im Gegensatz zu vorwiegend oberflächensyntaktisch oder tiefenstrukturell orintierten Ansätzen wird hier davon ausgegangen, daß Präfixverben als Elemente des Lexikons behandelt werden (Sarlov 1987). Zur theoretischen Grundlage gehören die Konzepte von Zimmermann (1984), Römer (1987) u.a. Die Analyse wird vorgenommen unter Vernachlässigung von konnotativen, bestimmten pragmatischen Merkmalen der illustrativ verwendeten Präfixverben sowie von Ansätzen der Idiomatisierung. Anhand einer Gruppe von Verben wie verfahren, verprassen, verrauchen, versaugen, verspielen, vertrinken, verzechen u.a. lassen sich bestimmte Elemente des Präfixes, sowie des gesamten Semems explizieren. So wird bei den erwähnten Verben eine ihnen gemeinsame Teilkomponente festgestellt (vgl. ), die in der semantischen Struktur der jeweiligen Basisverben nicht vorhanden ist. (Die hier verwendete Beschreibung lehnt sich an das Modell von Viehweger u.a. (1977) an). Gleich für diese Verben ist ferner der hierarchische Status der angeführten Teilkomponente (sie wird vom ersten D -*· I-Knoten direkt dominiert). Vgl. etwa die Struktur von versaufen für die Bedeutung (1). (1) (2)

Hans versäuft jeden Monat viel Geld.

In bezug auf alle Verben der Gruppe sind Ähnlichkeiten bei der Spezifizierung jener Variable zu beobachten, die auf der syntaktischen Ebene zu einem Sn überführt wird. Nicht problemlos ist die Bestimmung von solchen Elementen wie (vgl. etwa Bierwisch 1987), wie auch von Elementen wie in der Struktur von verspielen. Diese Problematik gewinnt an Schärfe, wenn man die semantische Struktur von wortbildungsmäßig äquivalenten Verben einer anderen Sprache zum Vergleich heranzieht. So z.B. weisen die bulgarischen Äquivalente dieselbe Teilkomponente wie oben angeführt auf. Auch der hierarchische Status dieser Komponente stimmt überein. Gewisse Differenzierungen lassen sich z.B. hinsichtlich jener Variablen beobachten, die auf der syntaktischen Ebene als Akkusativobjekt erscheint. Im Bulgarischen erfolgt eine strikte Abgrenzung der Akkusativobjekte von anderen möglichen Objekten und Adverbialbestimmungen. Weitgehend gleich bei den bulg. Lexemen ist die S„-Spezifizierung. Das syntaktische Verhalten von S„-Repräsentanten im Bulgarischen ist aber ganz anders bedingt als im Deutschen, meistens durch kommunikativ-pragmatische Faktoren. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist auch die theoretische Behandlung von S„-Gruppen in der bulgarischen Linguistik. Bei den quantitativen Angaben können sich bestimmte hierarchische Unterschiede ergeben bei Lexemen der beiden Sprachen (etwa bei dt. Verben wie verbacken, verbauen, verfeuern, verkleben u.a. und deren Äquivalenten im Bulg.). In beiden Sprachen existieren

Semantik von Präfixverben

319

lexikalische Einheiten, die für bestimmte Sememe identische oder fast identische semantische Strukturen zeigen (vgl. etwa dt. verschlafen und bulg. prospja, dt. verspielen und bulg. proigraja). Neben dieser Möglichkeit weisen die beiden Sprachen eine breite Skala von anderen Möglichkeiten auf. Äquivalente Präfixe verursachen in beiden Sprachen in der Regel gleiche Modifikationen der semantischen Struktur des jeweiligen Grundverbs. Unterschiede gibt es in Fällen, wenn durch den Aspektoperator im Bulg. Sememe differenziert werden können. Divergieren kann ferner die Spezifizierung und in einigen Fällen die Strukturierung mancher Elemente der semantischen Struktur von Simplizia. In anderen Fällen können äquivalente Präfixe unterschiedliche Modifikationen verursachen. Die Unterschiede können auch strukturell-hierarchischer Art sein (etwa wie oben angedeutet bei dt. verkleben und bulg. izlepja). Es muß m.E. empirisch nachgewiesen werden, ob und inwieweit bestimmte gemeinsame stereotype Bedeutungen (Schwarze 1982) und universelle semantische Einheiten (im Sinne von Lenneberg 1986, 493 ff.) für beide Sprachen anzusetzen sind. Daß bestimmte invariante Merkmale auf ähnliche Weise in zwei nichtnahverwandten Sprachen realisiert werden, spricht für gewisse gemeinsame Elemente in der Begriffsstruktur. Der semantische Anteil des Präfixes kann im Sprachbewußtsein so dominierend sein, daß die semantische Struktur des Basisverbs völlig außer acht gelassen wird, eine Tatsache, die Bierwisch (1981, 376) in bezug auf die Kindersprache diskutiert. Dabei sind folgende Beispiele erwähnt. (3) (4)

Strumpf an. ("den Strumpf anziehen") Mantel zu. ("den Mantel zuknöpfen")

Die invariante Bedeutung eines Präfixes kann sich in einer Reihe von Verben realisieren (vgl. umfallen, umkippen, umstoßen, umstürzen u.a.). Die auf diese Weise bewirkte "Reihenbildung" zeugt für die hohe kommunikative Relevanz von Präfixen. Daß dies so ist, und zwar in nichtnahverwandten Sprachen, zeugt auch für eine gewisse gemeinsame Entwicklungstendenz. Es ist momentan schwierig, zu entscheiden, inwieweit dies sozial-geschichtlich oder durch Elemente von angeborenen Strukturen bedingt ist. Man kann jedoch darauf hinweisen, daß hier ein universelles Prinzip in hohem Maße gültig ist, das Prinzip der Knappheit. Die Präfixe sind als solche sprachlichen Mittel anzusehen, die es ermöglichen, neue Begriffe (bezeichnet durch lexikalische Mittel) mit hohem Abstraktionsgrad zu bilden. Um die Leistung der Präfixe beurteilen zu können, liegt es nahe, sie einerseits mit der nominalen Komposition und dann beide Wortbildungsverfahren andererseits mit den freien syntaktischen Fügungen zu vergleichen. Offensichtlich erlaubt die Präfigierung eine sehr hohe Informationsverdichtung im Rahmen der Wortbildungsverfahren. Dies und andere Umstände erschweren den theoretischen Zugang zu Problemen dieser Art. Zu betonen ist ferner noch der Zusammenhang mit dem ganzen konzeptuellen System des Menschen, denn bestimmte Gegebenheiten lassen sich u. U. nur durch diesen Zusammenhang angemessen erklären.

320

Stojan Sarlov

Literatur Bierwisch, M. (1981): Basis Issues in the Development of Word Meaning. In: The Childs Construction of Language (ed. by W. Deutsch). New York, 341-387. Bierwisch, M. (1983): Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In: Untersuchungen zur Semantik (studia grammatica XXII). Berlin, 61-99. Bierwisch, M. (1987): Semantik der Graduierung. In: Grammatische und konzeptuelle Aspekte von Dimensionsadjektiven (studia grammatica XXVI + XXVII). Berlin, 91-286. Brekle, H.E. (1970): Generative Satzsemantik und transformationelle Syntax im System der englischen Nominalkomposition. München. Heringer, HJ. (1984): Wortbildung: Sinn aus dem Chaos. In: Deutsche Sprache l, 1-13. Klix, F. (1980): Information und Verhalten. Berlin. Lees, R.B. (I960): The Grammar of English Nominalization. The Hague. Lenneberg, E.H. (1986): Biologische Grundlagen der Sprache. Frankfurt a. M. Motsch, W. (1970): Analyse von Komposita mit zwei nominalen Elementen. In: Progress in Linguistics. A Collection of Papers. Selected and edited by M. Bierwisch and K.E. Heidolph, The Hague/Paris, 208-223. Motsch, W. (1973): Zur Stellung der "Wortbildung" in einem formalen Sprachmodell. In: studia grammatica I. Berlin, 31-50. Motsch, W. (1983): Überlegungen zu den Grundlagen der Erweiterung des Lexikons. In: Ruzicka, R./W. Motsch (Hrsg.) (1983): Untersuchungen zur Semantik (studia grammatica ). Berlin, 101-119. Römer, Chr. (1987): Die Struktur von Lexikoneinträgen - dargestellt am Beispiel der deverbalen -ung-Ableitungen. Diss. B. Jena. Sarlov, S. (1987): Zur Semantik der deutschen Präfixverben mit ver- und ihrer bulgarischen Entsprechungen. Diss. A. Jena. Schwarze, Chr. (1982): Stereotyp und lexikalische Bedeutung. In: Studium Lingustik 13,1-16. Zifonun, G. (1973): Zur Theorie der Wortbildung am Beispiel deutscher Präflxverben. München. Zimmermann, I. (1984): Die Rolle des Lexikons in der Grammatik. Überlegungen zu grammatiktheoretischen Entwicklungen anband des Passivs und der Subjekthebung im Deutschen. In: Deutsch als Fremdsprache l, 8-17; 2, 71-77.

Brigitte Haftka Infinite Verbprojektionen im Vorfeld deutscher Sätze* Ausgehend von einigen neueren Arbeiten zur Syntax und Semantik des Verbs wird im folgenden die Hypothese aufgestellt, daß eine infinite Verbprojektion ohne zu, die im Vorfeld des finiten Verbs eines V/2-Satzes erscheint, in der D-Struktur als linke Schwester des finiten Auxiliars (im weiteren Sinne) generiert wird. Das setzt voraus, daß sie in der D-Struktur nicht Bestandteil eines finiten Verbkomplexes sein kann. Als Kriterien werden insbesondere die Rektionsverhältnisse (nach Chomsky 1986) herangezogen, wobei ein verbzentriertes Satzmodell (vgl. Haftka 1989) als Schwester von COMP zugrundegelegt wird, das drei Projektionsstufen des Verbs vorsieht. Als Move-a-Operationen sind Substitutionen und Adjunktionen erlaubt, letztere können sowohl innerhalb von V" als auch in der Syntax stattfinden. Adjungiert werden kann an jede der Verb-Projektionsstufen. Es ist bekannt, daß das Verb im Deutschen zusammen mit dem Auxiliarverb einen Verbkomplex bildet, wo immer dies möglich ist. Nach lexikalistischer Auffassung erfolgt das durch funktionelle Komposition im Lexikon (Bierwisch 1989, 11) oder innerhalb der Syntax (Zimmermann 1988, 165). Nach dieser Auffassung verlassen die Verben das Lexikon nicht ohne Flexionsmerkmale [a FIN], d.h. sie sind als finit [+f] oder infinit [-f] spezifiziert. Funktionale Komposition ergibt stets eine komplexe Verbform V'[aq, vgl. (1) nach der Notation von Bierwisch (1989, 3)): (1)

[+V, -N, +FIN]° [+V, -N, -FIN]0 [+V,-N]° schenk-

[-FIN] -en

(hier kurz: V°[+f])

[+V, -N, +FIN]° [+V,-N]° werd-

[+FIN] -et

Bei der funktionalen Komposition werden die -Rollen, die das infinite Verb zu vergeben hat, an den gesamten Verbkomplex Ve[aq vererbt. Die -Rollen werden also nicht vom infiniten Verb direkt, sondern vom Verbkomplex V°[afj vergeben, wie (2a) zeigt: (2) a. (Ich denke,) daß sicher hier [V2

jeder [

(

Gaunern, [vmr Geldlf vo geschenkt hat]]] ™

Ich danke den Teilnehmern des Jenaer Symposiums "Biologische und soziale Grundlagen der Sprache" für wertvolle Hinweise und konstruktive Kritik. Besonderer Dank gilt dabei Dse Zinunennann und Anatol Strigin, die die erste Fassung dieses Beitrags gelesen und mit mir besprochen haben.

322

Brigitte Haftka

wo geschenkt hat den beiden internen Argumenten in V1^ und dem designierten Argument in V2[4.q -Rollen zuordnet. Wenn das Auxiliarverb, wie hier angenommen, mit dem infiniten Verb einen Verbkomplex bildet, gibt es also keine infinite Verbprojektion V1^, vgl. (2b): (2)

b.

[ V1

[Np Gaunern] [Np Geld] [y

geschenkt]].

Trotzdem kann in deutschen Verbzweit-Sätzen, in denen dem finiten Verb nur eine Konstituente vorangehen darf, ein Infinitiv ohne zu (nach Bech (1955) = Supinum 1. Status) oder ein perfektivisches oder passivisches Partizip II (= Supinum 3. Status) mit den jeweiligen Komplementen im Vorfeld des finiten Verbs angeordnet werden, ohne daß dies ein ungrammatisches Resultat ergibt, vgl.: (3)

a. [v? Gaunern Geld schenken ] werdet ihr doch sicher nicht. [-FIN, -ZU, -Pt] b. [v? Gaunern Geld geschenkt ] hat sicher hier jeder. [-FIN, +Pt, +Perf] c. [v? Gaunern Geld geschenkt ] wird hier nie. [-FIN, +Pt, -Perf]

(Zur Semantik der Supina und der Auxiliarverben s. Zimmermann (1988), Bierwisch (1989), zu den hier verwendeten Merkmalen Bierwisch, ebda.) Offen ist nun, welchen Konstituentenstatus solche Supinum-Gruppen haben. Auf Grund der bisherigen Annahmen könnte dies nur eine V^+q-Projektion sein, die eine Spur des in die COMP-Position C* verschobenen finiten Auxiliarverbs enthält, wie ich dies sinngemäß in Haftka (1988a) gezeigt habe, vgl. (3b'):

c2

(3)

-1

C1

V3 + 1 V2[+q



NP Gaunern

V° geschenkt

hat

S.-Advb sicher

v2

Advb hier NP jeder

t yl

[

Eine solche V^q-Voranstellung hat allerdings, wie z.B. auch Haider (1989) richtig feststellt, den Nachteil, daß unklar bleibt, warum nicht auch Sätze wie (4) akzeptiert werden: (4)

*[c2 [v . Gaunern Geld tvo ] schenkte sicher hier jeder tvi ] i+fi M M

323

Verbprojektionen im Vorfeld

Die Ungrammatikalität von (4) hat offenbar mit dem Fehlen eines infiniten Verbs im Vorfeld zu tun, das zusammen mit seinen Argumenten eine infinite Verbprojektion bilden könnte, nicht aber eine finite. Ich hatte vorhin gesagt, daß funktionale Komposition stattfindet, wo immer das möglich ist. Voraussetzung dafür ist nach Bierwisch (1989), daß das Verb nicht schon seine internen -Rollen an seine Komplemente vergeben und damit eine V^.q-Projektion gebildet hat. In einem solchen Falle kann nur funktionale Applikation stattfinden. (Zu diesem Begriff s. Zimmermann (1988).) Man erhält also infinite Verbprojektionen, wenn man (fakultativ) zuläßt, daß Supina und Auxiliarverben je mit ihrem INFI^-Merkmal [a FIN] in der Syntax auch außerhalb von V* fungieren können, ohne durch funktionale Komposition miteinander verknüpft zu sein, wie es Bierwisch (1989) vorsieht und wie ich es in Haftka (1988b) und (1989) praktiziert habe. Solche V^.fj-Projektionen sind dann Schwesterkonstituenten des finite n Auxiliars. V1^ hat demnach z.B. folgende D-Struktur: (5)

NP

a. b. c.

Gaunern Gaunern Gaunern

-—^--^ NP

Geld Geld Geld

VrO [-f]

schenken geschenkt geschenkt

werdet hat wird

Eine solche Vl[.q-Projektion ist nun in der S-Struktur vorfeldfähig, s. (3) a. - c., wo V? durch V^.q ersetzt werden kann. Einem Satz wie (3b) käme demnach folgende S-Struktur zu:

Brigüta Haftka

324

(3)

b".

NP Gaunem

NP Geld

V° geschenkt

hat

(Vgl. dazu auch Haftka (1988b) und (1989), wo sich auch eine Begründung der hier angenommenen Satzstruktur findet und wo meine Annahmen zu "Move " erläutert werden.) Unabhängige Evidenz für die Annahme infiniter V^Projektionen als Schwesterkonstituenten von Ve[+q bieten die eingeleiteten abhängigen Sätze, in denen das finite Verb nicht nur vor allen infiniten Verben steht, sondern auch vor den Komplementen der infiniten Verben, vgl. z.B. (6) und (7) gegenüber (8): (6) (7) (8)

Ich denke, daß sicher jeder nur ungern wird Gaunern Geld schenken wollen. Ich hörte, daß er soll haben sein Geld verschenken wollen. Ich hörte, daß angeblich alle gern ihr Geld sollen haben verschenken wollen.

In (6) und (7) kann weder angenommen werden, daß das finite Verb in eine Headposition (INFL oder COMP) verschoben worden ist: INFL müßte im Deutschen, nähme man es an, wohl rechts vom VP-Knoten stehen, und COMP ist durch daß besetzt; noch kann man annehmen, daß es als V'-Konstituente außerhalb von V* irgendwo adjungiert werden kann. Andere Move-a-Operationen gibt es nicht. Folglich muß man annehmen, daß das finite Verb unverschoben an seiner D-Struktur-Position steht. Da das Verb in der deutschen Gegenwartssprache (nicht aber in früheren Sprachperioden, wie J.E. Härd an umfangreichen Korpora überzeugend nachgewiesen hat (Härd 1981)), von rechts nach links regiert, muß angenommen werden, daß die infiniten Verbprojektionen, die dem Finitum folgen, in der DStruktur links von diesem stehen, vgl.:

325

Verbprojektionen im Vorfeld

(6')

daß sicher jeder

nur ungern

v1

M

[

M

schenken wollen]] [

0

l-f]

(7)

Gaunern Geld

i-f]

wird]]]

. [

.[

, sein Geld [

M

i-n

HI

haben]] [ l-f]

0

v1

[+f]

daß er [ [

v1

0

verschenken wollen]]

[-n

soll]] [+

Wenn nun finites und infinites Head der V-Projektionen ihre Positionen nicht verändern, muß vl[_q in (6) rechts an V^q adjungiert werden und in der DS-Position eine Spur hinterlassen: (6")

SS:

V.1

t-n wird

i-n

schenken wollen

Dasselbe geschieht in (7). Hier wird außerdem das Komplement von [V°[_q haben] rechts an seine V^.q-Projektion adjungiert und hinterläßt ebenfalls eine Spur links von seinem Head:

schenken

Brigitta Haftka

326

Einem V1^ wie in (8) liegt dagegen eine DS wie (81) und eine SS wie (8") zugrunde. Hier finden alle Umordnungen innerhalb von V[+q statt: (8')

da angeblich alle [vi gern [vi ihr Geld [v [vo [vo verschenken wollen] [*q [*·£] [*q ί-f] I-f]

[

haben]] [

[-η (8")

sollen]]]]

t+q

SS:

l-q verschenken

l-Π wollen

Diese f r mich plausibelste Analyse von Konstruktionen wie (6) und (7) erfordert also ebenso wie die Vorfeldbesetzung durch eine Verbprojektion die Annahme eines V1 [.η-Komplements von V°(af] in der DS. Die Adjunktionen in (8") f hren dagegen lediglich zu einem gegen ber der DS umgeordneten finiten Verbkomplex. Interessant ist es nun f r uns, da zwar V1 [.η-Komplemente von Ve[+q vorfeldf hig sind, nicht aber einfache oder komplexe infinite Konstituenten von V°[+q selbst, vgl. (9) gegen ber (10): (9)

a

· [vi Gaunern Geld schenken wollen] wird sicher jeder [ , nur ungern [

i-n b.

Γ 1

]]

1. 1. Γ schenken wollen!! wird Γ 3 ihnen, i 3 das GeldJ Γ 3 sicher v vv vv v1[-n ' J v ' vv [*f] t-f] [*n t+f]

nurun ern

g [ v i i+q Vi-n V[

Verbprojektionen im Vorfeld

(10)

a. *f

327

schenken wollen] wird sicher jeder Γ

i-n [L v l.

i+n

Gaunern Geld L[ V O. tvo0

[*fj

b. *Γ

nur ungern

M

t „o0 W

]]] JJJ M

schenken] wird sicher jeder [ j

[-n Geld L[

v

[*π

nur ungern [

ν

:

Gaunern

t*n

[ 0 t o wollen] t o ]]] v°a v v v [+f] I-f] (-n [+fj

Obwohl in (9b) und (lOa) schenken wollen im Vorfeld steht, ist nur (9b) grammatisch, nicht aber (lOa). Das im Vorfeld stehende V1^^ in (9b) enth lt au er V*[.q die Spuren der gescrambelten Objekte. Im Vorfeld steht also das Komplement von V'^q. In (lOa) steht dagegen lediglich ein V°[_q aus dem Verbkomplex V'^q im Vorfeld. Das gleiche gilt f r (lOb), nur da es sich hier um eine Konstituente des infiniten Verbkomplexes handelt. Offenbar sind also X0-Kategorien nicht vorfeldf hig. Um zu kl ren, warum zwar V-Projektionen, die Komplemente von V'^q sind, nicht aber V-Konstituenten im Vorfeld erscheinen k nnen, mu gepr ft werden, ob die in der DS-Position hinterlassenen Spuren jeweils streng regiert sind, wie es Chomskys (1981) Empty Category Principle (ECP) verlangt. Strenge Rektion der Spuren hei t, da sie entweder Θregiert oder antezedens-regiert sein m ssen. Nach Chomsky (1986) gilt folgendes (Numerierung von Chomsky): (31) (18)

(27)

(13)

(12) (17)

α regiert streng, gdw. α β Θ-regiert oder antezedens-regiert. α regiert , gdw. (i) α β m-kommandiert und wenn es (ii) kein λ gibt, λ eine Barriere f r , so da λ α ausschlie t. Antezedens-Rektion besteht zwischen den Gliedern einer Kette ctj j, wenn QJ j regiert. α Q-regiert , gdw. (i) α eine Nullebenen-Kategorie ist, die θ-markiert (= mit einer θ-Rolle versieht) und wenn (ii) α und Schwestern sind. α m-kommandiert , gdw. (i) α β nicht dominiert und wenn (ii) jede maximale Projektion λ, die α dominiert, auch dominiert. α ist von dominiert, gdw. es von jedem Segment von dominiert ist. α schlie t aus, wenn kein Segment von α β dominiert.

328

(92)

Brigiita Haftka

ist eine Barriere für die Rektion von (i)

...

...[ ... ...

durch a, wenn

in einer Konfiguration wie

...]

eine Projektion/die unmittelbare Projektion von ö ist, wobei ö eine von verschiedene Nullebenen-Kategorie ist (= weitere/engere Minimalitätsbedingung). In den Beispielen unter (10) sind Spuren von im Vorfeld angeordneten V*{.q -Konstituenten nicht -regierbar, denn einer Ve-Konstituente kann das verbale Head, das die Finitheit oder Infinitheit des jeweiligen Verbkomplexes bestimmt, keine -Rolle zuordnen, d.h., es kann seine V'-Schwester nicht -regieren (27). Nach (31) müßte nun ein solches Vj.q im Vorfeld seine Spur innerhalb von V* antezedens-regieren, damit diese streng regiert ist. AntezedensRektion setzt nach (18) m-Kommando (13) und das Fehlen einer Rektionsbarriere (92) voraus. Die V^-Konstituenten in (10) m-kommandieren zwar ihre Spur, aber das die Spur t dominierende V°[+fj ist eine Rektionsbarriere für diese Spur. Auch wenn man annähme, daß t rechts an V[+q adjungiert werden kann (analog wie in (8")), wäre V1^ die nächste Barriere, die von einer V-Kategorie nicht überschritten werden kann, es sei denn, sie wäre das regierende Ve[+q und würde in die COMP-Position verschoben. Da also V'j.q-Kategorien nicht rechts an V1^ und V3[+q zwischenlanden können, ist die Spur in der DS-Position von V"[.q nicht antezedens-regierbar und folglich nicht streng regiert, d.h., V'j.q-Konstituenten dürfen nicht ins Vorfeld verschoben werden. Das Gesagte hat zur Folge, daß Infinita nur dann allein ohne ihre Komplemente im Vorfeld erscheinen dürfen, wenn diese wie in unserem Beispiel (9b) an eine der höheren Vr+q-Projektionen adjungiert sind. Sie haben dann aber links vor ihrem infiniten Supinum -regierte Spuren hinterlassen. Es steht also nicht ein V*[.q, sondern ein V^.q im Vorfeld von (9b). Prüfen wir nun die Rektionsverhältnisse in den V/2-Sätzen, in denen dem finiten Verb eine V^.q-Projektion vorausgeht, wie (3b"), (9a), (9b). Da ist zunächst offen, ob das Auxiliarverb einer regierten infiniten Projektion des Supinums 1. oder 3. Status eine -Rolle zuordnet, sie also -markiert, denn das wäre ja die Voraussetzung für -Rektion der Spur der infiniten VProjektion. Es gibt zu diesem in erster Linie semantischen Problem m.W. noch keinen Konsens: Bierwisch (1989) nimmt an, daß das Auxiliarverb hob- z.B. na >e e es an rr p»» p n ^ a^vt Supinum 3. Status vergebe. n * '^ Läßt sich diese Auffassung halten, dann sind V^q-Spuren in V1^ automatisch -regiert, wenn sie die Schwester von V'^q sind. Die Vergabe der internen -Rollen durch das Supinum und nicht durch einen V'^qKomplex könnte die Vermutung nahelegen, daß sich eine V^.q-Projektion als Schwester eines finiten Verbs ähnlich verhält wie die Prädikativa oder prädikativartigen XPs. Deren Head wird nämlich nach Steinitz (1989) von der Kopula subkategorisiert, erhält aber keine -Rolle von ihr. Das Prädikativ wäre demnach zwar ein syntaktisches Komplement, aber kein Argu-

eine verbale

-Rolle

329

Verbprojektionen im Vorfeld

ment der Kopula. Das Head solcher Kopula-Komplemente vergibt seine internen -Rollen selbständig, und eine externe -Rolle wird zusammen mit der der Kopula vergeben. Die Parallelität zu V1 ^-Projektionen scheint auf der Hand zu liegen. Es würde bedeuten, daß V![.q von seinem Auxiliarverb keine -Rolle zugeordnet bekäme, also ein nicht ©-markiertes Komplement des Auxiliarverbs wäre. Als solches könnte es nicht von seiner Schwester VYq -regiert werden, folglich wäre auch seine Spur ty^.q nicht von der Spur des Auxiliarverbs -regierbar. In einem solchen Falle müßte die Spur ty^.q antezedens-regiert (18) werden, damit sie streng regiert (31) wäre. In einer Struktur wie (3b") kann V1^ seine Spur ty^.q zwar m-kommandieren (13) Bedingung (18i) für Antezedens-Rektion ist also erfüllt - aber es gibt eine Barriere/Barrieren für die Rektion der Spur, d.h., (18ii) ist nicht erfüllt: Barrieren sind nämlich die unmittelbare Projektion der Nullebenenkategorie V[+q, also V1^ (92) und die maximale Projektion V3jvfj. Das bedeutet, daß die Spur Vj.q nicht streng regiert ist. Trotzdem sind Sätze wie (3b") nicht unakzeptabel. Es muß also ein Weg gefunden werden, um diese Barrieren zu überwinden, d.h., tvx[.q muß auf dem Weg ins Vorfeld an die als Barriere fungierende finite V-Projektion adjungiert werden. Die an dieser Stelle bei der Weiterverschiebung hinterlassenen Spuren t'y^.q und t'Vj.q regieren nun jeweils die von der Barriere dominierten Spuren tvYq bzw. tV[. q, weil sie von der jeweiligen Barriere nicht ausgeschlossen sind (17). In (3b") sähe das dann folgendermaßen aus (hier als (11) wieder aufgenommen):

-n

330

Brigitta Haftka

(11) enthält inbezug auf die Position der leeren Kategorien tV[-q und t'Vf-q zwei Optionen, wobei die links von der finiten V-Projektion stehende als fraglich (·) gekennzeichnet ist. Es ist vielleicht schwer entscheidbar, ob eine lexikalisch unsichtbare Kategorie links oder rechts an V'j+q adjungiert ist. Als Kriterium könnte man m. E. heranziehen, ob die jeweilige Konstituente links oder rechts von V'j+q stehen könnte. Mir scheint die Linksadjunktion noch stärker markiert zu sein, als es die Rechtsadjunktion des verbalen Komplements vom PerfektAuxiliar hab- ist: (11)

a1. 7Es hat sicher hier jeder [

[ .

t

[*f] [vi

[i-fi

un

a". Maß [

§ern[vv i

i+n

[ -

3

[+f]

v V

v V

[-n

Gaunern Geld geschenkt]

[-n

i-f]

]]1

Gaunern Geld geschenkt] [

sicher hier jeder [ j

3

I-f]

V

[+f]

[+q

hat

[-f]

[rf]

l+q

b'. ?daß sicher hier jeder [ . ^ ,J u , v, nern Geld geschenkt]]

b". ? daß[

[

]] '

t-n

[ . ungern [ . (+f]

M

U Li

[ [tq

[+q Gaunern

t-f]

t .

[+f]

sicher hier jeder [

+] hat

]]]]J

[-f]

hat]] [ . Gau-

W

W

ungern [ . v

[+£]

t . v

[+q

-f

Ge'd geschenkt]]

Der Unterschied von (lib") gegenüber (lib1) besteht darin, daß im Satz (lib") rechts von V^q, wo in (lib1) V^.q gelandet ist, eine Zwischenlandespur steht und V x rq nach V 3 nq weiterverschoben wurde. Zwischenlandungen müssen nun auch für unsere Beispiele (9a) und (9b) angenommen werden, damit die Verschiebung von V^.q ins Vorfeld lizenziert ist. Demonstrieren wir dies noch einmal an Beispiel (9a): (9)

a'.

daß sicher jeder [ . [ . nur ungern [ .

[+n

t . wird]]

i+f]

M

t-n

[ j Gaunern Geld schenken wollen]] V [-f] (= Struktur von (6), vereinfacht) a"·

daß [ , [

3

[+fi i+n

sicher jeder [ ,

M

[ ,

[+

nur ungern [ ,

1

t . ]] [ , Gaunern Geld schenken wollen]] i-f] t-n (Zur internen Struktur von V1^ siehe auch (6").)

[*f]

t , wird]]

[-

331

Verbprojektionen im Vorfeld

Man sieht, daß solche Adjunktionen rechts an V1^ und V3^ besser akzeptiert werden können, wenn das regierende infinite Supinum ein Modalverb ist. Zu Einzelheiten dieser Problematik finden sich bei Härd (1981) zahlreiche Hinweise und Beispiele.

(= Struktur von (9a))

> In dieser S-Struktur von (9a) antezedens-regiert t'v^.q seine DS-Spur ty^.q, denn V1^ ist keine Barriere für sein Adjunkt. t"v1[.q antezedens-regiert wiederum aus seiner Adjunktposition heraus das Adjunkt von V1^, nämlich t'y1, und V1^ im Vorfeld m-kommandiert nun auch das V3[+q -Adjunkt. Die unter (18) angegebenen Bedingungen für AntezedensRektion sind also erfüllt. Wie wir gesehen haben, ermöglicht uns die Annahme der Rechtsadjunktionen an V1^ und V3[+q eine wohl wünschenswerte parallele Behandlung von V^-Projektionen und Prädikativa, ohne daß also eine verbale -Rolle für diese Verbprojektionen angenommen werden muß; wenn allerdings semantische Gründe dafür sprechen, ist eine solche -Rolle nicht ausgeschlossen, s.o. Außerachtgelassen habe ich in diesem Zusammenhang den Status der hier als V^.qProjektion bezeichneten Konstituenten. Sind sie maximale Projektionen oder nicht, oder vielleicht nur bei Modalverben, Wahrnehmungsverben und lassen, nicht dagegen bei temporalen Auxiliaren? Eine ausführlichere Diskussion solcher Fragen findet sich bei Bierwisch (1989), s. auch Rosengren (in diesem Band) und von Stechow (in diesem Band). Ebenfalls nicht berücksichtigt wurde hier der ganze mit Scrambling von NPs aus heraus zusammenhängende Fragenkomplex, der an (9b) festgemacht werden müßte. (Zu einigen weiterführenden Überlegungen, vgl. Haftka (in Vorb.).)

332

Brigitta Haftka

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FUR UND WIDER DIE AUTONOMIE DER GRAMMATIK

Gisbert Fanselow Zur biologischen Autonomie der Grammatik1 0. Einleitung und Überblick Wie die Sprachlehrexperimente des Altertums belegen (cf. Campbell/Grieves 1982), ist der Gedanke, wesentliche Bereiche der menschlichen Sprachfähigkeit seien angeboren, nicht sonderlich neu. Ideen sind freilich, wie Stephen Jay Gould schreibt, "billig", und wissenschaftliche Leistung besteht in der Anwendung von Ideen bei der wissenschaftlichen Rekonstruktion der Welt. In diesem Sinne ist die biologische Interpretation unserer Sprach- oder Grammatikfähigkeit erst mit den Arbeiten von Noam Chomsky diskussionswürdig geworden. Chomskys Deutung der Sprachfahigkeit als Konsequenz einer angeborenen Universalgrammatik steht in unauflöslichem Zusammenhang zur mehr als dreißigjährigen generativen Grammatiktradition, in der Einsichten in die Struktur des Grammatikbaus gewonnen werden konnten, die tiefer gehen, als dies jemals zuvor denkbar schien. Daß viele Aspekte der Syntax natürlicher Sprachen biologisch bedingt sind, kann heutzutage kaum bezweifelt werden. Chomsky vertritt die biologische Deutung der Universalgrammatik in einer sehr spezifischen Auslegung. Die angeborene Universalgrammatik ist für ihn ein aufgabenspezifisches System, ein mentales Organ analog zur visuellen Perzeption, das mit biologischer Notwendigkeit zum Erwerb und zur Repräsentation von Grammatiken verwendet wird. Diese Sichtweise ist vielfach - mit wenig Erfolg - von außerhalb der generativen Grammatik angegriffen worden. These dieses Aufsatzes ist es, daß gerade der radikale Umbruch innerhalb der generativen Grammatik, der sich seit einigen Jahren andeutet, Chomskys spezifische Deutung der biologischen Sprachfahigkeit unwahrscheinlich macht: Es gibt wenig Grund anzunehmen, daß das System, das dem Menschen den Grammatikerwerb ermöglicht, mit biologischer Notwendigkeit auf die Aufgabe des Grammatikerwerbs festgelegt ist. Unter dieser Perspektive stellt sich die Evolution von Grammatik und Sprache als kulturelle Leistung dar. In Sektion l fasse ich kurz die Gründe zusammen, die für die Annahme einer biologischen Grundlage der Grammatikfähigkeit sprechen. Sektion 2 stellt die Aspekte der Syntaxtheorie vor, die bis vor kurzem eindeutig für eine biologische Autonomie der Grammatik zu sprechen schienen. Wie Sektion 3 zu zeigen versucht, kann diese Sichtweise Chomskys nicht durch evolutionsbiologische Spekulationen widerlegt werden. Allerdings liegt in der von Chomsky selbst akzeptierten Reifikationsfrage ein Problem für die biologische Deutung der Grammatik (4.). Vor allem die Vereinheitlichung der Theorie der Barrieren (5.), des Prinzipieninventars (6.) und die Einführung von Metaprinzipien (7.) zeigen, daß die aktuelle Syntaxtheorie die These, der Mensch besäße ein mentales 'Grammatikorgan', nicht mehr stützt. Wir besprechen in Sektion 8 die Verbindung von Form und Inhalt - gegebenenfalls lassen sich allein hier 1

Vielen Kollegen bin ich für Anregungen zu Dank verpflichtet, die Gedanken in diesem Aufsatz prigten: Josef Bayer, Eleonore Brandner, Hildegard Farke, Sascha Felix, Jenny Kkn, Raj Singh und Peter Staudacher, sowie den Koreferenten und anderen Teilnehmern der Tagung fiir ihre Diskussionsbeitrige.

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Gisbert Fanselow

grammatikspezifische Prinzipien identifizieren. In Sektion 9 wird knapp angedeutet, daß die Perspektive einer nicht grammatikbezogenen Theorie der formalen Kompetenz des Menschen mit der sogenannten 'externen1 Evidenz verträglich ist. Sektion 10 versucht, die in diesem Aufsatz aufgeworfenen offenen Fragen zusammenfassen.

1. Die biologische Natur der Grammatikkompetenz Für die menschliche Grammatikfähigkeit lassen sich zwei Grundbeobachtungen formulieren, die kaum sinnvoll bestritten werden können. Erstens ist dem Menschen, und nur dem Menschen, ein kognitives Muster angeboren, das wir mit Chomsky (1980a) "formale Kompetenz" nennen können und dessen Besitz notwendige Bedingung für das Erlernen natürlichsprachlicher Grammatiken ist (Beobachtung 1). Insofern sind wesentliche Eigenschaften der Grammatiken biologisch bedingt. Beobachtung l ist schwächer, als zunächst erscheinen mag, insbesondere ist sie nicht mit Chomskys Auffassung der Universalgrammatik identisch: sie macht keine Aussagen über die Natur der formalen Kompetenz, ob diese aufgabenspezifisch mit biologischer Notwendigkeit auf eine Anwendung im grammatischen Bereich festgelegt ist oder aber Grammatikerwerb Konsequenz allgemeinerer kognitiver Fähigkeiten ist. Insofern kann Beobachtung l auch kaum bestritten werden, sie ist durch verschiedene Fakten abgestützt. Erstens haben alle Sprachlehrexperimente mit Menschenaffen oder höheren Meeressäugern gezeigt, daß diese nicht in der Lage sind, Sprachen mit Grammatiken zu erwerben. Zweitens belegen die Arbeiten der kanadischen Aphasiologin Maureen Dennis und ihrer Kollegen,2 daß das Vorhandensein der linken Hemisphäre Voraussetzung für den Grammatikerwerb ist. Kinder, denen die rechte Hemisphäre operativ entfernt werden mußte, sind in der Lage, die Grammatik ihrer Sprache vollständig zu erwerben, Kinder, denen die linke Hemisphäre fehlt, erwerben Grammatik jedoch nicht. Drittens ist mit Mitteln der formalen Lernbarkeitstheorie beweisbar, daß Grammatikerwerb nur vor dem Hintergrund einer genetischen Fundierung möglich ist. Wie Osherson/Stob/ Weinstein (1984) gezeigt haben, kann unter normalen Spracherwerbsbedingungen Grammatik nur dann gelernt werden, wenn das Kind von vornherein nur endlich viele verschiedene Grammatiken in Betracht zieht. Die notwendige Vorinformation darüber, welche Grammatiken in Frage kommen, muß dem Kind aus unmittelbar einsichtigen Gründen angeboren sein. Die Bereiche Neurologic, Tierexperimente und Spracherwerb verdeutlichen auch die Natur der menschenspezifischen Sprachkompetenz: Zwergschimpansen erwerben mehr oder minder mühelos ein sprachliches System, das der sogenannten Zweiwortphase des Menschen entspricht. Die kognitive Fähigkeit, Symbole und Wörter zu verwenden, ist also kein menschliches Spezifikum, ebensowenig wie die Fähigkeit, solche Wörter zu Propositionen wie 'Banane essen1 oder 'Banane gelb' zusammenzusetzen. Dies ist auch dem Affen zugänglich und wird von der rechten Hirnhemisphäre mühelos gemeistert. Was dem Affen und der rechten Hemisphäre fehlt, ist die Fähigkeit, mit komplexen grammatischen Strukturen Sieh etwa Dennis/Whitaker (1976).

Biologische Autonomie der Grammatik

337

umzugehen, d.h. die formalen, nicht die inhaltlichen Aspekte natürlicher Sprachen zu erwerben. Gerade dies entspricht auch dem kritischen Einschnitt im Spracherwerb: das System der Zweiwortphase besitzt, wie Felix (1987 und in diesem Band) argumentiert, kaum Eigenschaften der reifen Sprachkompetenz. Für Beobachtung l liegt also auch eine Betonung auf dem Wort formal. In direktem Zusammenhang dazu steht Beobachtung 2, die ebenfalls nicht eingehender diskutiert werden muß: die Regeln der formalen Kompetenz sind nicht funktional3 begründbar. Beobachtung 2 sagt nichts über sprachliche Regeln schlechthin - von diesen mögen in der Tat einige funktional begründet sein. Andererseits belegen Ergebnisse der Typologieforschung und der generativen Grammatik, daß formale Universalien wie (1) existieren: (la)

(Ib)

(Ic)

Reflexivpronomina im Nominativ existieren nur unter spezifischen Voraussetzungen: die Sprache hat keinen Infinitiv (Japanisch, Neugriechisch); Die Sprache kann Reflexiva auch kontextuell deuten (dravidische Sprachen); sowie manchmal beim Passiv (Albanisch). Reflexivpronomina können sich auf eine NP im gleichen Satz beziehen (Englisch), manchmal auch auf NPs in übergeordneten Sätzen (Norwegisch, Isländisch, Latein). Reziprokpronomina können niemals ihr Bezugswort außerhalb des Satzes finden, dem sie selbst angehören ("Riemsdijks Generalisierung"). In vielen Sprachen (Deutsch, Isländisch) können sich Reflexivpronomina sowohl auf Subjekte wie auch auf Objekte beziehen. Steht das Bezugswott jedoch im übergeordneten Satz, so muß es stets Subjekt sein.

Für diese Faktenlage hat noch niemand eine funktionale Begründung anbieten können - insbesondere gilt dies für die abstrakten Prinzipien, die Beobachtungen wie (1) zugrundeliegen.

2. Formale Kompetenz als Universalgrammatik Die Beobachtungen l und 2 besagen zusammengenommen, daß dem Menschen die Fähigkeit zum Erwerb eines formalen Repräsentationssystems angeboren sein muß, dessen Gesetze sich nicht aus dessen Funktion herleiten. Gerade weil es sich um eine menschenspezifische Eigenschaft handelt, sind die Möglichkeiten, hierüber etwas herauszufinden, begrenzt: Wir dürfen mit Menschen nicht experimentieren. Allerdings kann versucht werden, die Grenzen der formalen Kompetenz so präzise wie möglich zu charakterisieren. Aus dieser Charakterisierung können dann Schlüsse gezogen werden über die Natur der Prinzipien und Gesetze der formalen Kompetenz. Um nichts anderes bemüht sich die generative Grammatik. Der generativen Syntax ist es, insbesondere nach Ross (1967), gelungen, profunde Gesetzmäßigkeiten in den Grammatiken natürlicher Sprachen zu entdecken. Nicht nur konnten für

Unter funktionaler Begründung verstehe ich die Herleitung von sprachlichen Gesetzen aus den Funktionen, die sprachliche Konstruktionen (z.B. Passiv) im kommunikativen oder inhaltlichen Sinne besitzen, sowie ihre Angcpafitheit an Sprachverarbeitungs- und Sprachproduktionserfordemisse; cf. dazu ausführlicher Kapitel 2 und S von Fanselow/Felix (1987). Ob Grammatikprinzipien bei systemimmanenter Betrachtung funktionell sind (im Sinne des Konferenzbeitrags von Peter Eisenberg), ist eine andere Fragestellung, die man - etwa im Sinne von Chomsky (1988) oder Fanselow (1989a) - für verschiedene Bereiche der Grammatik durchaus positiv beantworten kann. Diese Interpretation stellt aber die Autonomie der Syntax nicht in Abrede, sondern setzt sie geradezu voraus.

338

Gisbert Fanselow

traditionell untersuchte Sprachen wie Englisch, Deutsch oder Französisch tiefliegende, abstrakte Prinzipien formuliert werden, die deren Grammatiken steuern - das Prinzipieninventar erwies sich auch als äußerst leistungsfähig bei der Analyse sämtlicher europäischer Sprachen, der ostasiatischen und der amerikanischen; indische und westafrikanische Sprachen fügen sich anscheinend auch recht zwanglos in das generative Erklärungsinventar ein. Sicher stellt die generative Grammatik selbst kein einheitliches Theoriegebäude dar; sie ist durch verschiedene Ansätze bestimmt. Neben der Rektions- und Bindungstheorie (Chomsky 1981, 1986a-b) sind v.a. die Generalisierte Phrasenstrukturgrammatik (Gazdar et al. 1985) oder die lexikalisch-funktionale Grammatik (Bresnan 1982) zu nennen. Konkurrenz belebt jedoch nicht nur das Geschäft: Wie etwa McCloskey (1988) zeigt, ist die Entwicklung der generativen Syntax von einer erstaunlichen Konvergenz im Erklärungsansatz bestimmt. Man kann also mit Chomsky (1984) sicher feststellen, daß die generative Syntax sicher noch nicht die richtigen Theorien vorgestellt hat, daß aber die Theorien, mit denen wir arbeiten, schon Theorien der richtigen Art sind. Bis vor wenigen Jahren hatten alle Gesetze der verschiedenen generativen Systeme eine sehr wichtige Eigenschaft: Es schien notwendig, solche Gesetze funktionsspezifisch oder grammatikspezifisch zu formulieren. Dies muß kurz erläutert werden. Ich habe oben kurz Universale über Reflexiva und Reziprokpronomina charakterisiert. Sie sind Gegenstand einer Theorie der Bindung, die etwa so wie in (2) - (5) aussehen kann: (2)

bindet ß, gdw.

c-kommandiert und

und koindiziert sind.

(3a) (3b) (3c)

A: Eine Anapher muß innerhalb ihrer regierenden Kategorie gebunden sein. B: Ein Pronomen darf innerhalb seiner regierenden Kategorie nicht gebunden sein. C: Ein R-Ausdruck darf nicht gebunden sein.

(4)

X ist regierende Kategorie für a, wenn a Teil von X ist, zu X ein Subjekt gehört, ein Regens von a...

(5)

Anaphern: Reflexiva (sich), Reziproka (einander) Pronomen: Personalpronomina (er, sie, es) R-Ausdrücke: alle anderen NPs

Diese Bindungstheorie ist in fundamentaler Weise grammatik- und sprachspezifisch. Deutlich wird dieser intrinsische Sprachbezug zunächst bei den Einzelprinzipien: Anaphern sind schlicht Teilklassen nominaler Ausdrücke. Der Begriff der Anapher macht außerhalb einer Anwendung auf Sprache keinen Sinn. Dasselbe gilt für den Begriff des Subjektes bei der Definition der regierenden Kategorie: Wenn wir etwas über Subjekte wissen, dann dies, daß sich dieser Begriff niemals über Kasus, semantische Rollen etc. definieren läßt. 'Subjekt' ist ein theoretischer Term innerhalb der Theorie der Grammatik. Sowohl die Festlegung der lokalen Domänen als auch das Prinzipieninventar selbst sind also intrinsisch sprach- bzw. grammatikspezifisch. Im Rahmen der "klassischen" Rektions- und Bindungstheorie (Chomsky 1981) gibt es etwa acht oder neun solcher Teiltheorien, die sich in der angesprochenen Hinsicht nicht von der Bindungstheorie unterscheiden: Jeweils werden Begriffe verwendet, die nur in der Applikation der formalen Kompetenz auf Sprache Sinn machen oder die nur sprachlich definiert werden können. Wenn dies die ultima ratio ist, d.h., wenn in der Tat auch in 100 Jahren

Biologische Autonomie der Grammatik

339

unsere Grammatiktheorie noch so aussieht, dann folgt etwas sehr Wichtiges: Wir wissen, daß die Grundprinzipien der formalen Kompetenz genetisch spezifiziert sind (vgl. Beobachtung 1). Wenn aber die Grenzen dieser formalen Kompetenz nur grammatisch definierbar sind, d.h., wenn unser genetisches Programm tatsächlich in irgendeiner Form spezifisch etwas zu Anaphern oder Subjekten sagt, dann ist Chomskys Position zur Natur der Universalgrammatik belegt: Angeboren ist uns etwas, was aufgabenspezifisch ist, ein Modul, dessen Gesetze ähnlich wie bei der visuellen Perzeption deswegen gelten, weil mit biologischer Notwendigkeit Regionen unseres Gehirns oder Konnexionen zwischen solchen Regionen für den Erwerb der natürlichen Sprachen, und nur dafür, vorprogrammiert sind. Die formale Kompetenz ist in diesem Sinne dann ein mentales Organ, eine angeborene Universal· grammatik im strengen Sinne des Wortes.

3. Evolutionsprobleme? Chomskys Position beruht auf zwei Argumenten: der Einsicht, daß aufgrund der in 1. angesprochenen Fakten die Fähigkeit zum Grammatikerwerb biologisch vorgegeben ist, und der Beobachtung, daß diese Grammatikfähigkeit allem Anschein nach nur in Bezug auf Grammatik selbst expliziert werden kann. Da der erste Punkt außer Zweifel steht, kann die Chomskyanische Sichtweise nur hinsichtlich des zweiten Gesichtspunkts widerlegt werden oder durch den Nachweis, daß aus unabhängigen Erwägungen die Annahme einer aufgabenspezifisch angeborenen Universalgrammatik haltlos wäre.4 In ihren Beiträgen zu diesem Band5 greifen Ludwig Jäger und Bruno Strecker eine These auf, die hin und wieder in Zusammenhang mit der Universalgrammatik vorgebracht wird: Es existiere keine (denkbare) evolutionstheoretische Erklärung der biologischen Existenz der Universalgrammatik über selektiven Druck. Aus dieser These kann man entweder schlußfolgern, daß der Schöpfungsmythos wiederaufzuwärmen sei, oder aber versuchen, ein Argument gegen Chomskys Position herzuleiten. Es mag richtig sein, daß wir weder Existenz noch Struktur der Universalgrammatik über Selektionsprozesse begründen können. Die weitergehenden Schlußfolgerungen, die Jäger und Strecker damit verknüpfen, beruhen jedoch auf einer Anzahl von Prämissen, die nicht gültig sind.6 Erstens ist Selektion im Sinne von Überlebensvorteil weder der einzige noch der wichtigste Faktor bei der evolutiven Herausbildung von Arten. Zunehmend werden in der Biologie insbesondere absolut bestehende, strukturelle Einschränkungen über mögliche Veränderungen des Genoms oder Phänotyps als wesentlich für die Erklärung der evolutiven Herausbildung Für verschiedene Aspekte solcher Diskussionen siehe auch Fanselow/Felix (1987), Kap. 2 bis 4. Meine Diskussion bezieht sich auf die Argumentation in den Konferenzbeiträgen; evtl. Modifikationen oder Klarstellungen in den mir nicht vorliegenden zu publizierenden Beiträgen kann sie leider nicht berücksichtigen. [Der Beitrag von Ludwig Jäger auf dem Symposium wurde nicht zur Publikation in diesem Band eingereicht - der Herausgeber.] Vgl. Fanselow (1991) für andere Aspekte des Evolutionsproblems und eine Diskussion weiterer neurobiologischer Ansprüche von Jäger und Strecker.

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Gisbert Fanselow

struktureller Charakteristika einer bestimmten Spezies angesehen.7 Innerhalb der Einschränkungen eines Primatenhims, auf deren Basis sich das menschliche Gehirn entwickelte, können nicht beliebige neuronale Muster entwickelt werden. Wenn es eine biologisch spezifizierte Universalgrammatik gibt, so muß sie auf der Basis der im Primatenbereich zugänglichen Himstrukturen entstanden sein, weswegen durchaus jedes Detail der Universalgrammatik schlicht und einfach Reflex biologisch-struktureller Restriktionen sein kann. Beispielsweise ist die Struktur des menschlichen Mund-Rachen-Raums für verschiedene Zwecke recht ungünstig (wir sind die einzige Spezies, die sich verschlucken kann), scheint aber dem Zwecke der Artikulation hervorragend angepaßt. Dennoch wird in der Biologie die These diskutiert, daß unser Artikulationsraum nicht als Reflex des 'Artikulationsbedürfnisses' entstanden ist. Es scheint ein Gesetz gültig, das Körpergröße und Knochenmasse miteinander korreliert. Muß irgendwo Knochenmasse addiert werden (Schädel), ohne daß die Körperlänge sich verändern darf (Kälteperioden begünstigen kleinere Lebewesen), so muß anderswo (KieferRachenbereich) Knochenmasse abgebaut werden, mit entsprechenden strukturellen Veränderungen. Es kommt hier nicht darauf an, ob diese Erklärung für unseren Artikulationsraum richtig ist, wichtig ist allein die Überlegung, daß bei der Erklärung einer Struktur ein Bezug auf Selektion dieser speziellen Struktur nicht notwendig gegeben ist. Mit anderen Worten: Es ist zwar eine (nicht notwendigerweise lösbare) Aufgabe, die Geschichte der Universalgrammatik zu rekonstruieren, daß aber bei der Erklärung ihrer strukturellen Details zu irgendeinem Punkt Selektionsdruck für ihre spezifische Aufgabe (survival of the fittest} eine Rolle spielt, ist keinesfalls ausgemacht. Die Annahme, daß bei der Evolution einer Struktur S mit der Funktion F die Funktion F selbst das auslösende, entscheidende Moment gewesen sein muß, ist schlicht und einfach unrichtig. Wäre sie korrekt, so könnte kein einziges biologisches System, das nur auf der Basis recht komplexer Zusammenhänge und Strukturen funktional ist, evolutiv erklärt werden. Gewisse Muscheln entwickeln fischähnliche Körperfortsätze, die als Köder funktional sind. Selbstverständlich stellt sich hier die Frage, welche Rolle die Körperfortsätze gespielt haben mögen, solange sie noch nicht genügend fischähnlich waren - aber hier (wie bei der Universalgrammatik auch) kann die Antwort kaum darin bestehen zu leugnen, daß im genetischen Programm der Muschel der Körperfortsatz spezifiziert ist, und zu behaupten, daß die Muschel diesen in der Ontogenese aufgrund 'allgemeiner Wachstumsgesetze1 durch Erfahrung mit Fischen lernt. Biologen (z.B. Darwin selbst) vermuten, die frühen Federn hätten die Aufgabe der Wärmeregulation besessen und wären erst später auf die Aufgabe des Fliegens angewandt worden. Woher nimmt man die Gewißheit, daß nicht auch die UG ihre Funktion im Laufe der Evolutionsgeschichte gewandelt haben könnte? Knapp gesagt: Da die Evolution der Sprachund besonders der Grammatikfähigkeit arg im dunkeln liegt und dort auch vielleicht für immer bleibt, scheinen aus dieser Perspektive stichhaltige Einwände gegen die UG-These kaum formulierbar.

Ich will nicht abstreiten, daß ein Zug wissenschaftlicher Unethik darin liegt, wenn ein Syntaktiker wie der Autor sich zu biologischen Fragen äußert: Seine Informationen stammen im besten Falle aus zweiter Hand. Diese Bemerkung gilt aber für beide Positionen im hier diskutierten linguistikinternen Disput.

Biologische Autonomie der Grammatik

341

4. Reifikationsprobleme? Man darf bei evolutionsorientierten Betrachtungen wie generell bei der biologischen Interpretation der Grammatik jedoch einen Gesichtspunkt nicht außer acht lassen, den man mit Gould (1981) das 'Reifikationsproblem1 nennen kann und der etwa von Harman (1980) auch in die linguistische Diskussion eingebracht wurde. Harmans Überlegung ist in etwa die folgende: Wenn ein Physiker eine Reihe von Daten mit Hilfe einer Theorie erfassen kann, die bestimmte Elementarteilchen Z postuliert, so werden diese Elementarteilchen Z nach allgemeinen Standards nur dann als physikalisch real angesehen, wenn ihre Existenz durch unabhängige Experimente belegt werden kann. Analoge Maßstäbe sind nach Harman aber an die Linguistik zu legen: Wenngleich klar ist, daß eine biologische Grundlage der Sprachfähigkeit angeboren sein muß, so folgt daraus noch nicht, daß irgendeines der linguistisch motivierten Prinzipien der Universalgrammatik als Entität biologisch real sein muß. Chomsky (1980b:45) stimmt diesen Gedanken zu und nimmt seine vielzitierte Formulierung aus Chomsky (1980a) expressis verbis zurück: "In this connection, he [Harman, G.F.] correctly points out an error in my formulation: there is a question of physical (or psychological) reality apart from truth in an certain domain". Im Sinne von Rose (1987) könnte man es so formulieren: Die generative Grammatik erfüllt zwar den Theorietest (sie ist ein System von Axiomen, das (angenähert) alle Fakten abzuleiten gestattet), aber nicht den Realitätstest (die Terme, die die optimale Theorie postuliert, sind nicht unbedingt auch Entitäten in der Realität). Ein einfaches Beispiel mag das Problem verdeutlichen. Wir können beispielsweise durch empirische Untersuchungen feststellen, daß in einem Land Mord strafbar ist. Man kann dies als 'Prinzip der Rechtsgrammatik1 ansehen, welches aber keinesfalls selbst im kodifizierten Recht (dem Pendant zu 'mentalen Repräsentationen') auftreten muß: Dies mag aus einer Einzelentscheidung eines Gerichtshofs X (Hans P. durfte Werner S. nicht ermorden) und dem Prinzip "Folge den Entscheidungen von X" bestehen (eine grobe und verzerrte Karikatur des britischen Rechtssystems). Auf der Basis der verfügbaren Evidenz ist unklar, ob die Prinzipien der UG selbst identifizierbare Teile unseres Kognitionssystems sind oder ob sie - analog zu den Naturgesetzen einfach gelten,8 ohne selbst in interessanter Form im Gehirn 'präsent' zu sein. Unter letzterer Perspektive könnte man sich die Prinzipien der UG als Konsequenzen sehr allgemeiner neuronaler Strukturaufbauprinzipien vorstellen, die sich ergeben, wenn sprachliche Strukturen im vorgegebenen neuronalen System repräsentiert und verarbeitet werden müssen. Betrachtet man die 'Anwendung' (hier besser: Manifestation) der Fundamentalkräfte der Physik z.B. in der Theorie der Ströme, so kann man in der Tat ein optimales Gesetzessystem mit Aussagen wie U = R I formulieren, in denen Begriffe wie 'Spannung1 oder 'Stromstärke' auftreten, die außerhalb der Theorie der elektrischen Ströme keinen Sinn machen. Dennoch ist dies kein Nachweis dafür, daß elektrische Ströme im physikalischen Sinne 'autonom' sind. Anders formuliert: Wäre tatsächlich Wahrheit in einer Domäne D identisch mit realer Existenz, dann wäre der in 2. dargestellte Schluß von der optimalen Grammatik auf Eigen° Diesen Veigleich verdanke ich Helmut Schnelle (p.M.), cf. auch Schnelle (erscheint) für eine ausführliche Diskussion dieses Gesichtspunktes.

342

Gisbert Fanselow

Schäften des Gehirns plausibel. Kein empirischer Befund spricht aber gegen die Annahme, daß die Gesetze der Universalgrammatik - analog zu U = R I - einfach gelten, ohne selbst (mentale bzw. physikalische) Entitäten abzubilden. Und in diesem Falle wird Chomskys Argumentation für die Annahme einer autonomen UG weniger überzeugend. Daß die Gesetze, die wir bei der Manifestation eines Systems X auf die Domäne D konstatieren können, D-spezifisch sein mögen, sagt noch nichts über die Natur von X aus.

5. Geometrie und Minimalität Damit sind wir wieder an den Ausgangspunkt dieses Aufsatzes zurückgekehrt: Den Gedanken zu formulieren, die Prinzipien der UG seien Konsequenzen allgemeinerer, nicht grammatikspezifischer Gegebenheiten, ist nicht schwer. Zu einer interessanten These wird dies nur dann, wenn diese allgemeinen Prinzipien konkret angegeben werden können. Gerade dies ist die Syntaxtheorie im Begriffe zu tun. Oben haben wir schon darauf verwiesen, daß die 'klassische' Rektions- und Bindungstheorie aus etwa acht bis neun Teiltheorien besteht, die sich jeweils mit einer spezifischen Relation (Kasuszuweisung, Bindung, strenge Rektion) befassen und in einem oder mehreren Prinzipien (ABC der Bindungstheorie, ECP etc.) fordern, daß bestimmte Beziehungen, bezogen auf eine spezifische lokale Domäne (governing category in der Bindungstheorie, Grenzknoten bei Subjazenz), bestehen müssen. In der klassischen Formulierung sind diese Teiltheorien unabhängig voneinander: Lokale Domänen und Prinzipien sind spezifisch für eine einzelne Teiltheorie formuliert. Schon bald erwies sich, daß dieses Grammatikkonzept nicht richtig ist: In jedem Falle ist eine vereinheitlichte Theorie der lokalen Domänen erforderlich. Es gibt dabei drei vielversprechende Vorschläge dazu, wie eine Vereinheitlichung der lokalen Domänen aussehen könnte. Chomsky (1986a) hat die I^-Markierungstheorie der Barrieren entwickelt. Was sie besagt, kann vereinfacht etwa wie folgt dargestellt werden: Vergleicht man Sätze wie (6) und (7), so kann man feststellen, daß in (7) das direkte Objekt des Nebensatzes nicht wie in (6) in der kanonischen Objektposition steht, sondern am Satzanfang. In irgendeiner Form muß eine grammatische Beziehung zwischen what am Satzanfang und der Position des direkten Objektes, in (7) durch t{ repräsentiert, hergestellt werden, und es ist für unsere Zwecke von wenig Belang, ob diese Beziehung durch Bewegung von what aus der Position von tj entsteht, wie im GB-Ansatz, oder durch alternative technische Mechanismen, wie sie in GPSG oder LFG diskutiert werden. (6) (7)

John believes that Mary bought a new car whatj does John believe that Mary bought ti

Nach Chomsky sind grammatische Beziehungen zwischen zwei Positionen in einem Satz durch 'Barrieren1 eingeschränkt. Ein Satz ist nur grammatisch, wenn alle erforderlichen strukturellen Beziehungen keine Barrieren kreuzen. Barrieren sind nach Chomsky (1986a)

Biologische Autonomie der Grammatik

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Kategorien, die nicht l-markiert sind. Sehr vereinfacht gesagt ist eine Kategorie im Satz 1markiert, wenn sie strukturell direkt neben einer lexikalischen Kategorie wie Verben, Nomina oder Adjektiven steht und mit diesen eine spezifische inhaltliche Beziehung, die Zuweisung einer thematischen Rolle (wie Agens der Handlung etc.), eingeht. Vergleicht man die Strukturen von (8) und (9), so erkennt man, daß man nur aus einem Objektsatz heraus eine Frage bilden kann, aber nicht aus einem Subjektsatz. In der Tat hängt in dem Strukturbaum auch nur der Objektsatz (CP) neben dem Verb, nicht aber der Subjektsatz. (8) (9)

whatj did he claim to have bought t; *whatj did to have bought tj bother Bill

Objektsatz: (10) CP SPEC

L-Mark

he

what

claim

to have bought t.

Subjektsatz (11) CP

keine L-Markierung

did

to have bought t.

Gisbert Fanselow

344

Chomsky (1986a) selbst versteht L-Markierung als geeignetes Konzept, die Theorie der Subjazenz und der strengen Rektion zu vereinigen. Wie beispielsweise Massam (1985) belegt, lassen sich jedoch auch andere Teiltheorien wie Kasuszuweisung im L·Ma kie ungsansatz reformulieren. Mit Chomskys Theorie der L-Markierung konkurrieren derzeit zwei Ansätze. Der erste ist der der "globalen Harmonie" oder der Strukturbaumgeometrie. Erste Ansätze hierzu finden sich in Kayne (1983) und Pesetsky (1982,1987), die weitgehendste Theoriebildung in diesem Bereich dürfte Koster (1987) darstellen. Dabei sind für die Frage, ob grammatische Beziehungen möglich sind, allein (quasi-)geometrische Beziehungen im Strukturbaum wesentlich. (12) und (13) illustrieren, daß im Englischen NPs aus PPs heraus erfragt werden können, im Deutschen dies (grundsätzlich) jedoch nicht möglich ist. (12) (13)

who; did he vote for t; *wen; hat er für tj gestimmt

Nach Koster (1987), wiederum sehr vereinfacht, ist dies darin begründet, daß der Beziehungspfad in (13) seine Richtung ändern muß, in (12) hingegen nicht. Dies veranschaulichen die Bäume in (14) und (15).

CP

who.

vote

for

Biologische Autonomie der Grammatik

345

INFL

wen

hat

er

t.

gestimmt

Ein anderes instruktives Beispiel ist die nestedness condition, wie sie etwa Fodor (1978) und Pesetsky (1987) diskutieren. Sie besagt in etwa: Kommen in einem Satz zwei (oder mehrere) Beziehungen der gleichen Art vor, so dürfen sich diese nicht überschneiden, die Relationen müssen ineinander verschachtelt sein. Wenn im Englischen die Grundabfolge SVO, im Deutschen SOV und im Spanischen V DO IO SUBJEKT ist (wie man unabhängig motivieren kann), dann erklärt das nestedness-Prinzip eine Fülle von Ungrammatikalitäten, wie die nachfolgenden Beispiele veranschaulichen: (16a)

which violin, is tlu's sonata, easy to play \. on t.

(16b)

*which sonata is this viplin. easy to play t on f.

(16c)

Radios, weiß ich nicht wer. t t. repariert hat

(16d) (16e)

Optiker. weiß ich nicht was. t t. repariert haben t l l l ll M * r

quien.

te

preguntas que.

ha

comprado 1.1.

wer dich fragst-du, was hat gekauft Von wem fragst Du Dich, was er gekauft hat1

(16f)

J *que.te preguntas quien.j ha comprado t t.

L;

»

—P

'bezüglich was fragst Du Dich, wer es gekauft hat1

346

Gisbert Fanselow

(16g)

a quien. no wem

sabes

que

diccionario. ha

nicht weißt-Du, welches Lexikon

devuelto t.

t.

Celia

zurückgegeben

Celia

hat

'von wem weißt Du nicht, welches Lexikon Celia ihm zurückgab1 (16h) y

'

*que diccionario. no sabes a quien. ha devuelto 1.1. '

J

l' iJ

Schließlich versteht sich auch die Theorie der (relativierten) Minimalitätsbarrieren als allgemeines Ordnungsprinzip für grammatische Strukturen. Das Minimalitätsprinzip wurde relativ früh schon diskutiert (cf. etwa den Besten 1985) und in Chomsky (1986a) als Barrierenauslöser neben der L-Markierung eingeführt. In Ansätzen wie Baker (1988) und Rizzi (1987, erscheint), daneben Fanselow (1988, 1989b, c, 1991), wird es als dominantes Prinzip verstanden. Auch der Grundgedanke der relativierten Minimalität läßt sich einfach illustrieren: Muß ein Element X eine Beziehung des Typs B eingehen, dann kann X diese Beziehung nur zum (strukturell) nächstliegenden aufbauen, das potentiell in B-Relationen auftreten kann; vereinfacht: In (17) kann sich das Reflexivpronomen nur auf Hans, nicht aber auf Maria beziehen, weil Hans das nächstliegende Bezugswort ist. (17a)

Hans denkt, daß Maria, sich, mag

(17b)

"Hans, denkt, daß Maria sich, mag 1

'

'

l '

All diese Theorien sind natürlich viel komplexer, als ich sie hier darstelle. Wichtig ist jedoch zweierlei: Nach Chomskys Barrierentheorie ist der Begriff der L-Markierung wesentlich für grammatische Relationen. Dieser aber rekurriert auf den Term 'thematische Rollen1, also eine Größe, die nur in Bezug auf Sprache, das Verhältnis Form-Bedeutung, Sinn macht. Dieser intrinsische Sprachbezug ist bei den beiden konkurrierenden Ansätzen nicht gegeben: Es geht um allgemeine geometrische Beziehungen, die Strukturbäume bzw. Abhängigkeitspfade erfüllen müssen, um allgemeine Minimalitätsforderungen, die prinzipiell auch in anderen Domänen angewendet werden können. Sie sind Applikationen domänenunspezifisch formulierter Gesetze auf sprachliche Strukturen, ihr Bezug zur Sprache ist, prinzipiell zumindest, rein akzidentiell. Zweitens scheint sich mehr und mehr ein Konsens darüber zu bilden, daß die Barrierenfixierung über L-Markierung nicht der richtige Weg ist, wie etwa Pollock (1988) und Fanselow (1988, 1989c, 1991) zu belegen versuchen. Dies aber legt den Schluß nahe, daß die zukünftige Barrierentheorie eine geometrische, eine Minimalitätstheorie oder eine

Biologische Autonomie der Grammatik

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Kombination der beiden Ansätze ist. Die Fixierung der lokalen Domänen für syntaktische Prozesse erfolgt dann aber in einer Art und Weise, die nicht mit Notwendigkeit auf Grammatik bezogen ist.

6. Vollständige Spezifikation Eine Vereinheitlichung deutet sich nicht allein für die Theorie der lokalen Domänen, sondern auch für das Prinzipieninventar selbst an. In der klassischen GB-Theorie lag etwa ein Prinzipieninventar wie in (18) vor: (18)

a. b. c. d. e. f. g. h.

X-bar-Schema -Theorie und Projektionsprinzip Kasusfilter die Prinzipien A, B und C der Bindungstheorie das Empty Category Principle das Subjazenzprinzip die Kontrollforderung für PRO die Identifikationsforderung für pro

Auch hier kann der Grundgedanke der partiellen Vereinheitlichung nur angedeutet werden. Man kann zeigen (cf. Fanselow 1991), daß der Kasusfilter (19a) in unproblematischer Weise zu (19b) verallgemeinert werden kann. (19b) fordert, daß eine Kategorie, für die ein bestimmtes Merkmal, etwa Kasus, definiert ist, dieses auch besitzen muß. Es liegt nahe, dies zu (19c) zu verallgemeinern, d.h., ähnlich wie in GPSG oder LFG zu verlangen, daß Repräsentationen nur dann grammatisch sind, wenn alle kategorialen Merkmale vollständig (und ggf. eindeutig) spezifiziert sind. (19a) (19b) (19c)

Eine phonetisch nicht leere NP muß Kasus haben. NP muß Kasus besitzen. XP muß alle für X definierten Merkmale haben.

Prinzip (18h) ("die -Merkmale9 von pro müssen identifiziert sein") ist genauso wie (18c) unmittelbar Korrolar von (19c). Die Kontrollforderung für PRO läßt sich darstellen als Gebot, daß PRO -Merkmale besitzen muß. Leerkategorien besitzen diese im Gegensatz zu Leutnant Castillo oder der Chef des Drogendezernats von Miami Vice nicht inhärent, sondern müssen sie grammatisch derivieren. PRO benötigt einen Kontrolleur, der PRO exakt diese Merkmale zuweisen kann. Chomsky (1986a) zeigt, daß (18e) auf die Forderung "Spuren müssen antezedens-regiert werden" reduziert werden kann. Spuren sind nicht lexikalisch, weswegen sie -Merkmale nicht inhärent besitzen können. Sie brauchen eine Kategorie, von der sie -Merkmale ableiten i.e. Person, Genus, Numerus, etc., je nach Sprache.

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können. Hieraus läßt sich aber die Notwendigkeit für ein regierendes Antezedens ableiten. Da Subjazenz und ECP, wie Chomsky (1986a) eindrucksvoll belegt, eine gemeinsame Formulierung haben, läßt sich auch (18f) auf (19c) beziehen. Chomsky (1986a) zeigt ferner, daß die Effekte von Prinzip A aus (18d) zumindest für leere Anaphern aus (18e) folgen, d.h. auch auf (19c) reduziert werden können. Burzio (1989), Bondre (1990) und Fanselow (1989b, 1991) zeigen ferner, daß auch für overte Anaphern (sich, himself) -Merkmale das zentrale Ordnungsprinzip sind. Besitzen auch sie -Merkmale nicht inhärent, so folgt auch (18d-A) aus (19c). Wir sehen also, daß über (19c) das Prinzipieninventar der GB-Theorie erheblich reduziert werden kann. Aber auch (19c) ist kein immanent sprachbezogenes Prinzip, sondern, wie (20) verdeutlicht, ein sehr allgemeiner Grundsatz für Repräsentationen, der nur bei Instantiierung durch spezifische Merkmalsgruppen zu den Effekten von (18) führt. (20)

Repräsentationen müssen vollständig sein.

7. Metaprinzipien dreierlei Hinsicht ist die Darstellung in 5. und 6. unvollständig; erstens genügt sie - aus Platzgründen - kaum der Gouldschen Maxime, die diesen Aufsatz einleitet. Hier muß ein Verweis auf die zitierte Literatur ausreichen: Sie scheint mir zu belegen, daß im Rahmen der in 5. und 6. vorgestellten Ideen eine Theorie der Grammatik aufgebaut werden kann, die genauso leistungsfähig wie das klassische GB-System ist, ja in einigen Bereichen zu empirisch korrekteren Resultaten führt: Genau so sind diese Ansätze auch motiviert. In dieser Hinsicht ist auch ein Haken verborgen, der nicht verschwiegen werden soll. Jegliche Grammatiktheorie nimmt ab und an bei der Erklärung syntaktischer Phänomene Zuflucht zu Zusatzannahmen, die nicht den Status eines Prinzips verdient haben. Sie sind in Chomsky (1981, 1986a) genauso erforderlich wie in Koster (1987), Rizzi (1987) oder Fanselow (1991b). Es dürfte jedoch die Zahl solcher Randbedingungen in den nicht intrinsisch grammatikbezogenen Theorien nicht größer sein als in der klassischen GBTheorie. Ferner sind über (20) nicht alle Prinzipien aus (18) eliminiert. Als Rest der REST verbleibt: (21)

a. b. c. d.

X-bar-Theorie -Theorie und Projektionsprinzip die Prinzipien B und C der Bindungstheorie der Kategorienzoo

Besprechen wir zunächst (21c). Der Gedanke, Prinzip B sei nicht Teil der Universalgrammatik, ist als solcher nicht neu: Reinhart (1983), Levinson (1987) oder Grewendorf (1985) haben eine pragmatisch-semantische Reduktion versucht. Es gibt viele Gründe, weswegen diese nicht funktioniert, von denen ich nur eine Überlegung nennen möchte, die ich Peter Stauda-

Biologische Autonomie der Grammatik

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eher verdanke: Eine pragmatische Erklärung kann niemals den Kontrast in (22) erfassen, da myself und me sich stets nur auf den Sprecher des Satzes beziehen können, also niemals Bedeutungsdifferenzen auftreten können, auf die eine pragmatisch oder semantische Erklärung aufbauen müßte. (22a) (22b)

I like myself *I like me

Dennoch erscheint eine Elimination von Prinzip B sehr wünschenswert. Erstens ist es das einzige Prinzip der UG, das verbietet, daß innerhalb einer lokalen Domäne etwas geschieht (Bindung), während alle anderen Prinzipien gewisse Gegebenheiten wie strenge Rektion oder Bindung innerhalb einer lokalen Domäne zwingend vorschreiben. Zweitens kommt Prinzip B in Konflikt mit der Tatsache, daß, wo immer aus unabhängigen Gründen das Reflexivum in der regierenden Kategorie nicht verwendbar ist, das Pronomen als Ausdruck der Koreferenz eintritt. So haben wir im Bairischen kein Reflexivum für die Höflichkeitsform und sagen daher (23), eine Form, die eigentlich Prinzip B verletzen müßte, aber wohlgeformt ist, cf. Fanselow (1989a) für weitere Beispiele. (23)

setzen's Setzen Sie 'setzen Sie

eana Ihnen sich!'

Der entscheidende Lösungsgedanke ist wohl Koster (1987) und Bouchard (1984) zuzuschreiben: Sie schlagen vor, die Verteilung von Pronomina nicht wie in Prinzip B absolut zu charakterisieren, sondern relativ zu dem Optionen anderer anaphorischer Ausdrücke. Ich habe in Fanselow (1989a) versucht, einige empirische Probleme des Kosterschen Ansatzes zu überwinden, und ein Proper Inclusion Principle (PIP) vorgeschlagen, das ungefähr wie in (24) aussehen kann: (24)

Konkurrieren ceteris paribus in einer Struktur zwei Möglichkeiten A und B der Zuweisung eines Merkmals (oder eines referentiellen Index), so kann A nicht angewendet werden, wenn generell die Domäne der Anwendung von A eine echte Obermenge der Domäne der Anwendung von B ist.

Zum Ausdruck der Koreferenz liegen zwei Optionen vor, Anaphern und Pronomina, und wegen Prinzip A der Bindungstheorie bzw. (20) ist die Domäne der Anaphern gegenüber der Domäne der Pronomina wesentlich eingeschränkt. Daher kann wegen (24) dort, wo eine Anapher möglich ist, ein Pronomen mit derselben Indizierung nicht gesetzt werden. Probleme, wie sie die pragmatischen Reduktionen kennzeichnen, treten für (24) oder ähnliche Prinzipien nicht auf, da (24) ein formales, kein inhaltliches Prinzip ist, und da (24) sensitiv für syntaktische Strukturierungen ist. Ich kann wieder nicht detailliert für (24) argumentieren (cf. Fanselow 1989a), sondern möchte nur auf die konzeptuellen

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Gisbert Fanselow

Konsequenzen hinweisen. Erstens ist (24) ein außersyntaktisches Prinzip - es ist in seiner Formulierung fast identisch mit der Elsewhere Condition der Phonologic - und steuert bekanntlich auch die Applikation derivationeller Prozesse. Da Phonologic sicher und Wortbildung nach Auffassung vieler nicht zur Syntax gehört, ist (24) also ein sehr allgemeines formales Prinzip über die Strukturierung formaler Repräsentationen, und es mag auch im Bereich allgemeiner Kognition wirken - man überlege sich, daß wir ein Objekt wie · normalerweise als Quadrat, nicht als Rechteck kategorisieren würden. Dies ist der entscheidende Aspekt - wesentliche 'Grammatikalitätsbeurteilungen' werden außersyntaktisch erfaßt. Auch in der neueren amerikanischen Literatur kann man analoge Tendenzen feststellen. Chomsky (1988) schlägt eine least effort condition vor, und Pesetsky (1989a) das Earlyness Principle, ein Prinzip, das gestattet, aus der Annahme, syntaktische Regeln müßten so früh wie möglich in der Derivation angewendet werden, eine Fülle von Daten herzuleiten. All diese Prinzipien, PIP, Earlyness oder Least Effort regeln die Anwendbarkeit konkurrierender Prozeßtypen, man kann sie daher durchaus, wie Manfred Bierwisch dies vorschlägt, 'Metaprinzipien' nennen. Sie sind nicht wesentlich sprachspezifisch formuliert, es ist vorstellbar, wenn auch nicht sicher, daß sie auch andere kognitive Domänen steuern.

8. Semantik (und Lexikon) Wenn die Überlegungen der vorangehenden drei Sektionen nicht völlig irregeleitet sind, so können wir in etwa folgendes festhalten: Das System von Prinzipien, das die Grammatikalität syntaktischer Strukturen bestimmt, kann mit wenigen Ausnahmen in einer Weise spezifiziert werden, die auf Sprache oder Grammatik selbst nicht Bezug nimmt. Damit aber entsteht eine entscheidende Lücke im Chomskyanischen Argument für die biologische Autonomie der Universalgrammatik, die These, uns sei ein aufgabenspezifisches grammatisches System angeboren. Wir wissen zwar, daß uns eine formale Kompetenz angeboren ist, und können deren Gesetze auch charakterisieren, jedoch läßt unser heutiges Wissen über die Natur dieser Gesetze nicht erkennen, daß dieses formale System biologisch notwendig mit Grammatik verbunden ist, denn dieses Prinzipiensystem besitzt keinen inhärenten Bezug zur Grammatik. Grammatiken im strengen Sinne entstehen erst dann, wenn diese Prinzipien auf sprachliche Strukturen und deren Besonderheiten appliziert werden. Peter Suchsland hat in seinem Korreferat die Frage gestellt, ob unter dieser Perspektive 'die Grammatik' noch zu retten sein. In der Tat reduziert sich in Bezug auf die Thesen in 4.-6. der sprachliche Bereich, der ausschließlich innerhalb der formalen Kompetenz erklärt werden kann, erheblich. Jedoch erscheint dieser Einschränkung empirisch motiviert, und sie fügt sich auch nahtlos in generelle Entwicklungstendenzen der generativen Theoriebildung: Mit Chomsky (1970) wurde nach Überzeugung vieler die Wortbildung endgültig aus der Syntaxund/oder Grammatiktheorie verbannt, im Bereich der Kontrolltheorie haben wir erkannt, daß die Auswahl des Kontrolleurs (nicht seine syntaktischen Eigenschaften) rein inhaltlich begründet ist, wie besonders deutlich Sag/Pollard (1989) zeigen konnten. Auch Prinzip C aus (21c) ist ein schlechter Kandidat für ein syntaktisches Prinzip:

Biologische Autonomie der Grammatik

(25a) (25b)

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Mord ist ein Verbrechen Ein gutes Gespräch hilft Probleme überwinden

(25a) wurde nur ein konservativer Fundamentaltheologe auch auf Selbstmord beziehen, und in (2Sb) wird nichts über Selbstgespräche gesagt. Generell scheint zu gelten, daß Argumentstellen eines Prädikats disjunkt zu deuten sind, solange nichts Gegenteiliges gesagt wird (durch Elemente wie selbst oder sich), und dies gilt sowohl dann, wenn die Argumente syntaktisch realisiert sind (der Fall, den Prinzip C abdeckt) als auch dann, wenn die Argumentpositionen wie in (25) syntaktisch nicht gefüllt sind.10 Peter Suchslands Problem scheint sich mir insofern allein auf den manchmal recht 'imperialistischen' Sprachgebrauch der GB-Theorie zu reduzieren. Viele verwenden den Begriff 'generative Grammatik1 so, als gäbe es nicht auch Ansätze wie GPSG oder LFG. Ähnlich ist auch hier 'Grammatik' ein terminus technicus, der sich auf das System der natürlicher Sprache zugrundeliegenden Formprinzipien bezieht - der traditionelle Begriffsumfang ist durchaus weiter. Zur Erklärung der Grammatik im 'traditionellen Sinne' ist der Bezug auf semantische Strategien und Prinzipien geradezu Voraussetzung dafür, daß das in 4.-6. skizzierte Programm funktionieren kann. Wesentliche 'syntaktische' Eigenschaften müssen sich aus der Existenz der Schnittstelle(n) zwischen formaler Kompetenz und interpretativem System ergeben, also LF, D-Struktur bzw. lexikalische Argumentstruktur. Auf den abschließenden Seiten in Koster (1987) wird eine Position skizziert, die der hier vertretenen sehr nahe kommt. Koster (1988) arbeitet die These eines nicht mit biologischer Notwendigkeit auf Grammatik bezogenen verwerlangssystems explizit aus. Für Koster ist die Frage der Existenz der Ebene der Logischen Form (mit-)entscheidend für die Interpretation der formalen Kompetenz. Sie sei die Ebene im grammatischen Beschreibungsinventar, die inhärent funktionalistisch angelegt ist (im obigen Sinne), weswegen ihre Elimination (cf. Koster 1987) ein nicht inhärent sprachbezogenes Konzept der formalen Kompetenz ermöglicht. Die Ebene der Logischen Form ist aber durch die in 4.-6. skizzierten Strukturprinzipien erklärt: Die Wohlgeformtheit von etwa Quantor-Variablen-Beziehungen wird formal und nicht in Bezug auf das semantische Phänomen "Quantifikation" bestimmt (und dies ist in jeder LF-Theorie so). Daher ist LF auch nicht in Bezug auf ihre Funktion definiert. Freilich wird man die Annahme kaum vermeiden können, daß für die Wohlgeformtheit syntaktischer Strukturen die Beziehung von LF zu Phänomenen wie semantischer Bindung und von der D-Struktur zur Argumentstruktur der Prädikate entscheidend sein wird - dies deckt in etwa den Phänomenbereich von (21a-b) ab. Offensichtlich determinieren auch semantische Eigenschaften von Prädikaten darüber hinausgehend in erheblichem Maße deren syntaktisches Verhalten: Pesetsky (1989b) zeigt, daß die Klassen der englischen Verben mit Infinitivkomplement (a: ECM und Passiv (expect), b: ECM, aber kein Passiv (HO/I/), c: Passiv, aber kein ECM (wager), d: nur Kontrolle) semantisch bestimmt sind, ähnliches dürfte für die Distinktionen intransitiv (arbeiten) vs. ergativ (fallen) vs. 'psych' (gefallen) gelten sowie für die Frage, welche Verben im Deutschen 'kohärent' konstruiert werden können.

Insofern ziehe ich auch meinen Reduktionsveisuch für Prinzip C auf

in Finselow (1989«) zurflck.

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Solche Generalisierungen werden ihren Niederschlag in einer Theorie der canonical structural representations (CSR, cf. Chomsky 1986b) für die verschiedenen Argumenttypen finden. Diese bestimmen auch das Inventar der möglichen Kategorien. Weiter dürfte das von Williams (1981) erstmals formulierte Prinzip, demzufolge 'externe' Argumente eines Prädikats nicht innerhalb der vom Prädikat projizierten XP realisiert sein dürfen, entscheidend für den Aufbau syntaktischer Strukturen sein und für sehr subtile Daten verantwortlich sein, wie kürzlich Kratzer (1989) eindrucksvoll belegte. Damit existiert vermutlich ein nichttriviales System von Gesetzmäßigkeiten, das nicht unmittelbar auf allgemeine Formprinzipien reduziert werden kann und spezifisch auf das Verhältnis Form-Funktion Bezug nimmt: Gerade diese Beziehung ist der Inhalt dieser Gesetze. Wenn es sprachspezifische, angeborene Prinzipien geben sollte, so sind sie in diesem Bereich zu suchen. Dies widerspricht freilich nicht unserer Ausgangsthese: Zur Grammatik als System der autonomen Syntax gehören diese Prinzipien a priori nicht, sie gehören zum interface von Semantik und Grammatik. Grammatiken in dem Sinne, wie Peter Suchsland sie vermißt, werden durch das in 4.-6. skizzierte System weder eliminiert noch überflüssig: sie sind - modisch formuliert - das Ergebnis der Kompilation eines modularen Programmes, das Informationen aus der formalen Kompetenz, unserem konzeptuellen System, den witer/ace-Prinzipien zwischen Form und Bedeutung, abruft. Sie sind und bleiben der empirische Bewertungsmaßstab für den 'Überbau1, unsere Mutmaßungen über den Aufbau der menschlichen Kognition.

9. Externe Evidenz Was Syntaktiker an grammatischen Gesetzen formulieren, muß selbstverständlich mit externer Evidenz aus Spracherwerb oder Sprachpathologie vereinbar sein. Insbesondere darf keine Theorie der Grammatik, die sich als humanbiologische These versteht, in Widerspruch zu Erkenntnissen aus Psychologie, Medizin und Biologie stehen. Einem Ansatz, der behauptet, unsere formale Kompetenz sei nicht grammatikspezifisch ausgelegt, lassen sich unmittelbar zwei Phänomenbereiche entgegenhalten: die Existenz spezifischer Sprachstörungen und der Verlauf des Spracherwerbs, der offensichtlich intelligenzunabhängig ist. Aus Platzgründen will ich beide Aspekte nur kurz besprechen. Zunächst wäre es ein Mißverständnis, die hier vertretene Sichtweise als Identifikation von Grammatik und "allgemeiner" Intelligenz anzusehen. Insbesondere impliziert die These (s.u.) nicht einmal, daß die formale Kompetenz auch außerhalb der Grammatik Effekte zeigen mag (wenngleich dies den uninteressantesten Fall darstellen würde). Insofern wäre sie mit der externen Evidenz, die für eine autonome Syntax angeführt wird,11 quasi automatisch verträglich. Diese externe Evidenz ist jedoch weniger klar, als dies manchmal dargestellt wird. Von den verschiedenen Sprachpathologien kann im Grunde nur das Syndrom der Broca-Aphasie Kandidat für einen domänenspezifischen Ausfall der Grammatikkompetenz sein. Caplan (1988) referiert eine Vielzahl mehr oder minder neuer Einsichten aus der Neurolinguistik, die Siehe dazu etwa die Zusanunenschau in Kapitel S von Fanselow/Felix (1987).

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die Scheidung zwischen Broca- und Wernicke-Syndrom unklar erscheinen lassen, die darauf hindeuten, daß Produktion und Perception der Grammatik im Störungsbild dissoziiert erscheinen können, und auch artikulatorische Seiteneffekte können nicht geleugnet werden. Äußerungen von Aphasikem sind häufig lokal korrekt und zeigen gerade in ihren 'Fehlem' ein erstaunliches Maß an Übereinstimmung mit den Grundprinzipien des Baus von Einzelsprachen (siehe etwa Heeschen 1985). Femer ist allgemein bekannt, daß Funktionswörter besonders bei der Broca-Aphasie betroffen sind. Eine solche Beeinträchtigung des Kategorieninventars hat aber aus unmittelbar einsichtigen Gründen radikale Konsequenzen für die modular generierten syntaktischen Strukturen. Noch eine weitere Bemerkung scheint angebracht: Aus dem Nachweis, daß Broca-Aphasiker in der Lage sein mögen, Plättchen in eine bestimmte Reihenfolge zu legen oder Mobiles (die an unsere Strukturbäume erinnern) nachzuzeichnen, folgt keineswegs, daß Aphasiker spezifisch grammatisch gestört sind und ansonsten mit hierarchischen Strukturen keine Probleme haben. Syntaktische Strukturen sind ein hochkomplexes Phänomen - dies erkennt man allein schon daran, daß die Linguistik trotz langjähriger Bemühungen die Grammatik noch nicht entdeckt hat und daß selbst erfahrene Syntaktiker Bücher wie Chomsky (1986a) dreimal lesen müssen, um sie zu verstehen. Um zu prüfen, ob Grammatik und nicht ein allgemeines System der formalen Kompetenz beeinträchtigt ist, müßte man entsprechend komplexe Testaufgaben verwenden (z.B. Funktionentheorie), und dies ist m.W. bislang nicht geschehen. Plausible Gründe, bestimmte Aphasien als Störungen allein der Grammatik anzusehen, scheinen nicht zu bestehen. Erweisen aber nicht gerade die oben vorgebrachten Überlegungen bezüglich des Grammatikerwerbs die Haltlosigkeit der hier vertretenen Position? Kinder erwerben ohne Mühe mit den Grammatiken komplexe formale Systeme zu einem Zeitpunkt, in dem ihre allgemeine Intelligenz noch recht unentwickelt ist. Freilich mag das in Interaktion mit der Umwelt ablaufende Heranreifen der formalen Kompetenz im Kinde, das sich im fortschreitenden Grammatikerwerb manifestiert, eben Voraussetzung für den Erwerb der anderen höheren kognitiven Funktionen sein, wie dies auch Chomsky (1982) andeutet.

10. (Keine) Schlußfolgerung Die Entwicklungen in der Theorie der Syntax, die ich in 4.-6. zu skizzieren versucht habe, machen die Annahme plausibel, daß das Grundinventar der syntaktischen Barrieren und Prinzipien ohne intrinsischen Grammatikbezug formuliert werden kann. Hieraus folgt unmittelbar, daß die These, die uns angeborene Syntax sei mit biologischer Notwendigkeit eine Universalgrammatik, ein aufgabenspezifisches Organ analog zu den Systemen visueller Perzeption, durch empirische Fakten nicht gestützt ist. Auch externe Evidenz zwingt nicht zur Annahme einer solchen Univeralgrammatik. Die aktuelle Syntaxtheorie eröffnet also eine Perspektive, in der syntaktische Strukturen zwar biologisch bedingt, die entsprechende biologische Grundlage jedoch keinesfalls als sprach- oder grammatikspezifisch angesehen werden muß. Natürlich entsteht in diesem Kon-

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text sofort die Frage, ob und, wenn ja, in welchen weiteren Bereichen das Wirken der generellen formalen Kompetenz nachgewiesen werden kann. Diese Frage ist derzeit kaum zu beantworten. Zwar ist unser Wissen über (visuelle) Perzeptionssysteme beträchtlich, doch sind für andere Aspekte unserer Kognition noch keine Modelle entwickelt worden, deren Abstraktionsgrad an den der Theorie der Grammatik heranreichen wurde. Insofern gerät die Diskussion über außergrammatische Anwendung der formalen Kompetenz leicht zur Spekulation. Die Fragestellung selbst ist freilich klar: Sofern z.B. eine 'language of thought1 identifiziert werden kann (cf. Jackendoff 1983), muß geprüft werden, ob ihre Gesetze denen der abstrakten Syntax widersprechen. Entscheidende Evidenzen sind in diesem Bereiche noch nicht in Sicht. Das zweite Schwierigkeit liegt im Bereich der Reifikationsproblematik. Da wir mit Chomsky (1980b:45) 'truth in a certain domain' nicht so ohne weiteres mit 'psychological reality' gleichsetzen können, erlaubt unser syntaktischer Kenntnisstand eine Fülle von Interpretationen bezüglich der 'Materialisierung' der syntaktischen Prinzipien. Unsere Prinzipien können identifizierbare Elemente einer "kognitiven software* sein (aber dafür haben wir keine Evidenz) oder aber Konsequenzen biologischer Verschaltungsgesetze für Neuronenkomplexe, die wir nicht kennen, die aber die von der Syntax identifizierten Konsequenzen haben, wenn man neuronale Systemkomplexe auf die Aufgabe 'Grammatik' anwendet (auch hierfür haben wir keine Evidenz). A priori kann man nicht erwarten, daß die Gesetze neuronaler Verschaltungen bei ihrer Manifestation in nicht-grammatischen Bereichen Konsequenzen haben, die strukturelle Parallelen zur Grammatik aüfweisen, Erkenntnis kann hier nur von zukünftiger Forschung erwartet werden, und es sieht nicht so aus, als ob Sprachwissenschaftler sonderlich viel dazu beitragen könnten. Wenn unsere biologisch angelegte formale Kompetenz nicht grammatikspezifisch ist, so stellt sich die Evolution von Sprache als aufgefächerter Prozeß dar: Spätestens bei der Entstehung von homo sapiens recens haben wir aufgrund biologischer Vorgänge die Fähigkeit zum Aufbau der formalen Kompetenz erworben. Die Entstehung von Grammatik stellt sich dann als kultureller Evolutionsprozeß dar, der im Lamarckschen Sinne verläuft und daher schneller als die biologische Evolution ist. Auch hier können Fragen klar gestellt, aber nur schwer beantwortet werden: Liegt tatsächlich eine erhebliche zeitliche Kluft zwischen Sprachursprung und der Entstehung unserer Art? Lassen sprachhistorische Studien den Schluß zu, daß Sprache mehrfach entstanden ist? Haben beide Fragen eine positive Antwort, so wäre dies Evidenz für eine kulturelle Genese von Grammatik. Unser Gehirn stellt uns mächtige Fähigkeiten zur Verfügung, die wir als Menschen entdecken müssen. Die Entstehung der mathematischen Kompetenz, die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, sind gute Beispiele für solche Prozesse. Gerade in dieser Sichtweise ist nicht von vornherein zu erwarten, daß wir unsere formale Kompetenz auch für etwas anderes als Grammatik verwenden. Es sieht so aus, als wäre die Konklusion des Aufsatzes allein, daß wir keine Schlüsse über die biologische Natur der Sprache ziehen könnten und die weitere Forschung den Biologen und Neurologen überlassen sollten. Beides könnte als Fortschritt angesehen werden: Wenn die Gedanken dieses Aufsatzes richtig sind, so ergibt sich eine beachtliche innerlinguistische

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Perspektivenverschiebung bei der Bewertung des biologischen Status der Universalgrammatik. Will man sich in den Bereich der Spekulation wagen, d.h. allein von Plausibilitätsüberlegungen wie ontologischer Sparsamkeit ausgehen, so scheint freilich die Sichtweise von Koster (1988) und diesem Papier nicht unbegründet.

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Pavel Borissevitch Umweltparameter und Satzform 1. Voraussetzungen Sprache ist durch verschiedene extralinguistische Parameter physikalischer, biologischer und sozialer Natur bedingt. In der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Mensch sowie im sozialen Lebensreproduktionsprozeß (s. Bierwisch 1983a, 22) bilden sich mit der Entwicklung der Sprache spezifische linguistische Parameter heraus. Wesentliche linguistische Parameter sind Struktur, Umfang und Informationskapazität des Satzes. Diese Parameter entwickeln sich stufenweise in der Phylo- und Ontogenese der Sprache. Die räumlich, zeitlich und kognitiv begrenzten Möglichkeiten des frühen Menschen sowie des kleinen Kindes erlauben ihnen, nur situationsgebundene Einwortsätze1 zu bilden. Zweiwortsätze2 erscheinen auf einer höheren Entwicklungsstufe des Menschen sowie des Kindes. Auf einer noch höheren Stufe der Phylound Ontogenese werden Dreiwortsätze mit einer hierarchischen Struktur gebildet. Wesentlich für die Klassifizierung der Sätze ist nicht nur die Menge der Wörter im Satz, sondern auch ihre morphosyntaktische Qualität und die Beziehung zwischen Bedeutung und Sprachform, die reguläre Zuordnung zwischen Satzbedeutung und Satzform. Wir gehen davon aus, daß die reale Welt, ihre Gliederung durch unsere Wahrnehmungsorgane und Abbildung im konzeptuellen System den Ausgangspunkt der Satzbedeutung bildet (s. Quine 1986, 24 ff.; Zalevskaja 1985, 155), daß die Welt im konzeptuellen System als ein Strom von Empfindungen empfangen, logisch und sprachlich strukturiert wird (vgl. Sorokin/Markovina 1985, 185). Dabei hat die spontane Strukturierung und Differenzierung der Satztypen vor vielen Jahrtausenden begonnen, als die freie Natur auf den Menschen direkt einwirkte. Die natürliche Ausgliederung des Menschen aus seiner Umwelt durch die Grenzen seines Körpers ergibt eine entsprechende Gliederung in seinem Weltbild3: 1. Das, was im Körper, im Inneren des Menschen vorgeht: innere Welt 2. Das, was außerhalb des menschlichen Körpers vorgeht: externe Welt Die innere Welt kann weiter in Bereiche introverter Empfindungen, emotionaler Reaktionen, der Bewertung u.a. gegliedert werden. Die externe Welt Wex gliedert sich in zwei fundamentale Sphären: eine Sphäre, die dem Menschen zugänglich ist ("Erde") und auf die er einwirken kann (WJ, und eine vom Menschen nicht erreichbare Sphäre, auf die er nicht ein1

Zu Einwortsätzen der Kindersprache s. Greenfield/Smith (1976); Bates (1976); Brown/Cazden/Belluci (1970); Achutina/Naumova (1983). Satzfonnen früherer Entwicklungsstufen haben sich im Laufe der Jahrtausende vielfach modifiziert, doch Einwortsitze sind heute noch nicht nur in der frühen Kindersprache, sondern auch in entwickelten Sprachsystemen anzutreffen, z. B. als Interjektionen, Partikeln, eingliedrige Verbal- und Nominalsätze.

2

S. dazu Slobin/Green (1976,87); Braine (1976); Felix (198 .

3

Es geht um ein die Sprache determinierendes Wellbild. Vgl. Weisgerber (1953); s. Heibig (1972,123 ff.).

358

Pavel Borissevitch

wirken kann/konnte, eine unzugängliche Welt (W„). Beide Sphären der Welt W^ gliedern sich weiter in mehrere Bereiche. Außer den Abbildern der realen oder aktuellen Welt entwickeln sich im konzeptuellen System des Menschen Konstrukte von möglichen Welten (s. Lewis 1972; Bierwisch 1983b, 108; Celis&v 1977). Den Abbildern verschiedener Bereiche der realen Welt sowie Konstrukten möglicher Welten entsprechen bestimmte sprachliche Zeichen und Satztypen, die vielfach universell (übereinzelsprachlich) sind: 1.1. Der inneren Welt W;,, entsprechen wi-Sätze, icA-Sätze (vgl. Stepanov 1981, 162 ff.), Interjektionen ("Protosätze") u. a. 1.1.1. mi-Sätze mit einem Aktanten als Dativ- oder Akkusativobjekt (Personalpronomen erster Person Sg.) drucken introverte Empfindungen aus, z.B.: (1) (2) (3) (4)

Mir ist Angst, Mir ist traurig zumute, Mir ist kalt,... (Dt), Strach me e, Täzno mi e, Studeno mi e,... (Bg), Mne strasno, Mne grustno, Mne cholodno,... (Russ.), Mi-e frica ... (Rum), Strac me e (Sk), Miseret me (Lat)...

1.1.2. icA-Sätze a) der Wahrnehmung (s. Wierzbicka 1986, 360): (5)

I see that..., I hear that..., I feel guilty ...

b) Kommissive, Direktive, Deklarative: (6)

Ich verspreche dir ..., Ich bitte dich, Ich erkläre dich zu ...

1.1.3. Interjektionen (Protosätze) (7)

Uf!, Uff!, Ouf!, Ugh! (in vielen Sprachen).

Die Bedeutungs- und Strukturtypen von 1.1.1. bis 1.1.3. sind nicht gleichartig, sondern bilden Felder benachbarter Bedeutungen und Strukturen, die um einen gemeinsamen Kern, die miSätze, gruppiert sind. Mi-Satze referieren auf die innere Welt des Sprechers durch das Pronomen ml (me, mir, midi). Mi- und me- Formen charakterisieren oft inneres Leben (Popov 1983, 191), haben die Konnotation der inneren Anteilnahme (Grebe 1966, 510; Helbig/Buscha 1984, 290). Durch Transposition des Pronomens in die zweite oder dritte Person kann die Bedeutung der introverten Empfindung auf den Angesprochenen oder Besprochenen bezogen werden. Die Gruppe der icA-Sätze setzt sich aus Untergruppen zusammen, die teils nach referentiellen, teils nach illokutiven Kriterien vereinigt sind. Illokutionen können auf den Sprecher oder den Hörer bezogen werden und bilden im Zusammenhang mit verschiedenen Verben weitere Subklassen (s. v. Polenz 1978,20 ff.).

Umweltparameter und Satzform

359

Die Interjektionen stehen als Protosätze an der Grenze der sprachlichen Äußerungen (mit vor- oder ursprachlichem Ursprung). Viele Interjektionen weisen in vielen Sprachen dieselbe lautliche Struktur auf, variieren aber vielfach in ihrer Bedeutung, auch im Rahmen ein und derselben Sprache. Situation und Intonation differenzieren ihre Bedeutungen. Als Kern des Bedeutungsfeldes der Interjektionen erscheint der Bereich der Gefühle, der körperlichen und seelischen Empfindungen (Köster 1966, 343 ff.; Helbig/Buscha 1984, 530f.; Rusinov 1983, 467 ff.), d. h. ein Bereich der inneren Welt Wj„. 1.2. Dem erreichbaren Bereich der externen Welt We ("Erde") entsprechen Sätze mit expliziter Subjekt-Prädikat-Beziehung. Je nachdem, ob dieser Bereich der externen Welt We von der Tätigkeit des Menschen affiziert wird oder nicht, werden in der traditionellen Grammatik Bedeutungen der Affizierung, Effizierung, Einwirkung auf Objekte der Welt den sogenannten Handlungssätzen zugeschrieben. Obwohl dabei die Zuordnung zwischen Satzform und Satzbedeutung nicht immer ein-eindeutig ist und einer weiteren Präzisierung bedarf, übernehmen wir vorläufig diese Gliederung für die Satztypen des Bereiches We. 1.2.1. Subjekt-Prädikat-Sätze drücken vor allem Zustände oder Vorgänge der Welt We aus, z.B.: (8) (9) (10) (11)

Das Kind schläft Die Rose ist schön ("artbestimmter Zustand", vgl. Grebe (1966,506)) Das Wasser gefriert Der Stein rollt

1.2.2. Subjekt-Prädikat-Objekt-Strukturen drücken vor allem Handlungen und Tätigkeiten der We aus. Nach der Form, dem Referenzbereich und der Differenzierung der an der Handlung beteiligten Aktanten sind Satztypen mit einem Objekt (12) bis (14), mit zwei Objekten (15) und (16), mit einem Objekt und einer Adverbialbestimmung (17) und einem Objektsprädikativ (18) zu differenzieren: (12)

(13) (14) (15) (16) (17) (18)

(a) (b) (c)

Das Kind rollt den Stein Die Katze fängt Mäuse Der Schlüssel öffnet die Tür Das Kind hilft dem Vater Der Vater enthält sich des Urteils Er schenkt es einem Kind Er beschuldigt ihn des Diebstahls Er stellt die Vase auf den Tisch Er nennt sie ein Genie

Eine weitere referentiell-semantische Gliederung folgt aus der Unterscheidung der Aktanten der Subjektfunktionen (bei manchen Prädikaten) - Mensch, Tier, Pflanze, Gegenstand, Abstraktum (s. Stepanov 1981, 71 ff.). Diese Unterscheidung erfolgt durch lexikalische Mittel und hat dann Auswirkungen auf die syntaktische Struktur.

360

Pavel Borissevitch

1.3. Der Sphäre der externen Welt W„, die dem Menschen unzugänglich ist (war), entsprechen subjektlose Sätze mit der Bedeutung agensloser Ereignisse. 1.3.1. Subjektlose Verbalsätze (im Deutschen: es-Sätze) bezeichnen a) Witterungserscheinungen: (19) (20)

Es regnet, It rains, II pleut Vali (Bg), Pada (Sk), Ploua (Rum), Gremit (Russ), Pluit (Lat)

b) Wachstum, Geräusche u. a.: (21)

Es grünt, Es raschelt

1.3.2. Subjektlose Prädikativsätze (Prädikativ + Kopula) bezeichnen zeitliche Einordnung (22), zeit- oder wetterbezügliche Bewertung (23), qualitative Bewertung (24): (22) (23) (24)

Es ist Sommer, Ljato e (Bg), E vara (Rum), Leto (Russ) Es ist kalt, spät..., Studeno e, Käsno e (Bg) Es ist schön, wunderbar..., Chubavo e, cudesno e (Bg) ...

1.3.3. es-gibt-Sätze bezeichnen das Vorhandensein von bestimmten Individuen oder Stoffen. Im Bereich dieses Satztyps äußert sich der typologische Unterschied zwischen sein- und hafee/i-Sprachen4. Obwohl das Deutsche zu den Aafeew-Sprachen gehört, hat es für diesen Satztyp ein anderes Verb - geben, z.B. Es gibt Gurken. Man vergleiche Bulgarisch und Französisch einerseits (mit haben) und Russisch, Rumänisch, Englisch, Lateinisch andererseits: (25) (26) (27)

Ima krastavici (Bg), H y a des concombres (Franz) Est1 ogurcy (Russ) Sint castraveji (Rum), There are cucumbres (Engl), Cucumeres sunt (Lat)

2. Variation der Prädikation und Referenz in Satztypen für Win, We und Wu Die grundlegenden Satztypen für Wj,,, W^ und W„ unterscheiden sich semantisch nicht nur nach dem Referenzbereich. Die Unterschiede nach dem Referenzbereich implizieren entsprechende Unterschiede der Individualisierung und Prädikation. 2.1. Spezifisch für WiB sind die mi-Sätze, in welchen der Sprecher als (semantisches) Objekt einer Empfindung gesetzt wird. Dabei sind Prädikation und Referenz durch die Flexion des Prädikats und das Objekt als Referenzträger differenziert, bei der Prädikation findet aber keine Kongruenz (AGR) statt, da kein Subjekt vorhanden ist. Die Prädikation wird immer nur durch dritte Person Singular markiert, unabhängig von der Person des Wahrnehmungsobjektes (Wahrnehmungsträgers). Referenz und Individualisierung fallen im Zu "have-" und "be-" languages s. Isacenko (1974).

Umweltparameter und Satzfarm

361

pronominalen Objekt mi (me, mir, mich, mne) zusammen. Eine Opposition zwischen 'individualisiert* und 'generisch1 ist dabei kaum anzutreffen: Mir ist kalt, Dem Kind ist kalt Einem Kind ist kalt. Die Form der icn-Sätze ist in bezug auf die Prädikation nicht nur für Wj, charakteristisch. Nach der Form der Prädikation gehören sie zu den Subjekt-Prädikat-Sätzen, die für We charakteristisch sind. Zur Gruppe der Satztypen für Wj,, werden die icA-Sätze auf Grund der lexikalischen Bedeutung des Verbs und des ic/i-Subjekts gezählt. Bei einer Änderung der Person des Wahrnehmungsträgers gehen solche Sätze in die Satztypen für die Sphäre der externen Welt We über: Ich sehe, daß ... - Er sieht, daß ..., der innere Akt der Deklaration wird zu einem äußeren Akt: Ich erkläre dich zum König - Er erklärt ihn zum König. In Interjektionssätzen sind Prädikation, Referenz und Individualisierung nicht differenziert. Interjektionssätze stellen vorsprachliche Formen des Satzes, d.h. Protosätze, dar. 2.2. Das semantisch-grammatische Feld der Satztypen für We wird durch Satzstrukturen mit expliziter Subjekt-Prädikat-Beziehung repräsentiert. Die Referenz wird dabei durch das Subjekt festgelegt und eventuell auch auf andere Aktanten im Satz verteilt. Das Subjekt sowie andere Satzaktanten werden durch Individualisierung/Generalisierung gekennzeichnet. Im Unterschied zur Ausgangsdifferenzierung der Satztypen nach den drei Sphären der realen Welt W^, We und W„ bildet die Differenzierung nach dem Merkmal individualisiert/generisch im Rahmen der Sphäre We keine weitere Subtypen, sondern nur Typenvarianten. 2.3. In den Satztypen der Sphäre W„ fallen Prädikation und Referenz zusammen. Prädikation und Individualisierung werden dabei unterschiedlich realisiert. In den subjektlosen Verbalsätzen (es-Sätzen), die Witterungserscheinungen bezeichnen, ist die Referenz eine Prozeßreferenz, und die Unterscheidung zwischen individualisiert/generisch kommt durch Situation, Kontext und/oder bestimmte Sprachmittel zum Ausdruck, z.B. [+generisch] in Konditionalstrukturen: wenn es regnet. In Witterungssätzen ist kein Subjekt (Agens) des Witterungsprozesses festgelegt. In manchen Sprachen wird die Position des Subjekts durch ein formales (leeres) Subjekt eingenommen, z.B. im Deutschen, Französischen, Englischen. In vielen Sprachen erscheint kein formales Subjekt (was andere synonyme Formen nicht ausschließt), z.B. im Bulgarischen, Serbokroatischen, Rumänischen, Russischen, Lateinischen. Eine ähnliche Art der Prädikation, Referenz und Individualisierung weisen auch die subjektlosen Prädikativsätze zur Bezeichnung zeitbezogener Erscheinungen (1.3.2.) auf. Bei den es-gibt-Sätzen (1.3.3.) wird die Prädikation durch ein bestimmtes Verblexem der gegebenen Sprache in der dritten Person Singular (Dt, Franz, Bg) oder Singular/Plural (Rum, Lat, Eng) ausgedrückt. Die Interpretation des Aktanten dieser Sätze, der das Vorhandensein eines Objekts bezeichnet, als Subjekt oder Objekt ist problematisch.

362

Pavel Borissevitch

3. Kernsätze und Transforme Alle Satztypen, mit denen Sachverhalte der realen Welt in den Sphären Win, W e und W u ausgedrückt werden, werden im Indikativ Präsens mit minimaler Satzgliedbesetzung angegeben. Wenn wir von den lexikalischen Variationsmöglichkeiten absehen, erhalten wir eine begrenzte Anzahl von Kernsätzen (s. Heibig 1982, 68) oder Grundstrukturen (Heidolph/Flämig/ Motsch 1981, 135 ff.), die weiter auf Satzmodelle (s. Helbig/Buscha 1984, 619 ff.), d.h. abstrakte Satzstrukturen ohne lexikalische Füllung, zurückgeführt werden können. Wir gehen davon aus, daß Grundstrukturen generell Sachverhalte der realen, aktuellen Welt Wa ausdrücken, die sich in W^, We und Wu gliedert, und abgewandelte Strukturen generell als Träger von Sachverhalten möglicher Welten erscheinen.

4. Abgewandelte Satzstrukturen und mögliche Welten Unter möglichen Welten wird ein maximal abstraktes Sein verstanden, in dem bestimmte Dinge (Tatsachen, Sachverhalte, Ereignisse) existieren und andere nicht existieren. Mögliche Welten sind etwas wie eine komplexe Geschichte von dem, was mit einem beliebigen Ding im Kosmos geschehen kann (könnte). Mögliche Welten bilden eine ideelle Welt (s. Arutjunova 1988, 95), die der wirklichen Welt alternativ ist (s. Pavillionis 1983, 279) und von der wirklichen Welt abgeleitet werden kann. Mit diesen vorläufigen Definitionen nehmen wir auch an, daß zwischen abstrakten ideellen möglichen Welten und der aktuellen realen Welt eine Übergangszone von vergangenen, künftigen u.a. Zuständen existiert. Mögliche Welten variieren also in einem hohen Grade und sind auf verschiedene Weise für die aktuelle reale Welt "zugänglich" (vgl. van Dijk 1980, 34 ff.). Sachverhalte verschiedener möglicher Welten können durch verschiedene lexikalische und grammatische Mittel ausgedrückt werden. Bestimmten möglichen Welten sind aber regulär bestimmte Satztypen abgewandelter Strukturen zugeordnet. Vergangenen Welten Wv sind Satztypen mit Tempusformen des Präteritums, Plusquamperfekts und Perfekts, künftigen Welten Wk sind Satztypen mit Tempusformen des Futurs I und II, bedingten Welten Wb Bedingungssätze, erwünschten Welten Ww Konjunktivsätze (Wunschsätze), "befohlenen" Welten W; Imperativsätze usw. zugeordnet. Satztypen der realen aktuellen Welt Wa können entsprechenden Transformationen unterworfen werden, durch welche abgewandelte Strukturen zur Bezeichnung von Sachverhalten möglicher Welten W mö gebildet werden, durch die Sachverhalte der aktuellen Welt in Bereiche möglicher Welten transponiert werden können, z.B.:

Umweltparameter und Satzform

363

Transformationstyp

Satztyp derW a

Ausgangsfonn -» abgewandelte Struktur

(1)

Wv Tempustransformation (Perfekt)

W

W· "invv mi + Auxs + A + PartjjKop

Mir ist kalt -»

Wev

Er hilft dem Vater. -*

Sbn + Auxh + Sbd + Partn

Er hat dem Vater geholfen.

mi

(b)

P+A W.

Sbn + Vb + Sbd

Es donnert -»

(c)

-» es + Auxh + Partji

es + Vb

Es hat gedonnert

-» Wfc Tempustransformation (Futur I)

(2)

Mir ist kalt ->

(a) m

+A

W„

Sb„ + Vb + Sbd Wu es + Vb

mi ·»· Auxw + A + Inf

Mir wird kalt sein.

Wek

Er hilft dem Vater. -·

-» Sbn + Auxw + Sbd + Inf

Er wird dem Vater helfen.

-»Wuk

Es donnert -·

-· es -f- Auxw + Inf

Es wird donnern.

Wj, Konjunktivtransformation + wenn + !

(3)

(b)

Mir ist kalt gewesen.

w Sb„ + Vb + Sbd W„ es + Vb

Wmb

Mir ist kalt -»

wenn + mi + A + Vbj^OpKonj + !

Wenn mir kalt w re!

Wcb

Er hilft dem Vater. -»

-» wenn + Sbn + Sbd + VbKon: + !

Wenn er dem Vater hilfe!

W„b -»W ub

Es donnert -·

-» wenn + es + VW»«; + !

Wenn es donnerte!

Symbole und Transformationen sind dabei wie folgt zu lesen: Wa -» Wv Tempustransformation (Perfekt) = "Bild" der aktuellen Welt W, wird transponiert in die vergangene Welt Wv durch Tempustransformation (Perfekt). Wj,, -* Wj„v = "Bild" von der Sph re der aktuellen inneren Welt wird in vergangene innere Welt transponiert. mi + Vbjfcp + A -* mi + Auxs + A + PartuKop = Ersetze das Satzmodell der Grundstruktur durch das Satzmodell der abgewandelten Struktur. mi = Personalpronomen im Dativ oder Akkusativ. Vbxop = Kopulaverb; Auxs = Hilfsverb sein; Auxh = Hilfsverb haben; Aux^ = Hilfsverb werden-, χ -* y = Ersetze χ durch yAransponiere χ in y.

364

Pavel Borissevitch

Wenn wir davon ausgehen, daß die reale Welt den Ausgangspunkt der Satzbedeutung über unsere Wahrnehmungsorgane und unser konzeptuelles System bildet, so folgt schon daraus, daß die Sprache die Welt nicht direkt abbildet. G. Helbigs Kritik an inhalt- und sachbezogenen Satzmodellierungsverfahren zeigt überzeugend, daß die Beziehung zwischen den Strukturen von Realität und Sprache, zwischen Bedeutungs- und Lautseite der Sprache viel komplizierter ist, als in inhalt- und sachbezogenen Modellen angenommen wird (Heibig 1982, 70 ff.). Eine Isomorphie zwischen Wirklichkeit, Denken und Sprache gibt es im strengen Sinne nicht (Heibig 1982, 78), doch eine Homomorphie, die asymmetrische Beziehungen zwischen Ausdrucks-, Inhalts- und Wirklichkeitsebene einschließt, muß zwischen ihnen bestehen, falls sich die Menschen mit Hilfe der Sprache über die Welt verständigen und effektiv auf sie einwirken können. Wir nehmen an, daß die Laut-Bedeutungs-Zuordmmg (s. Heidolph/Flämig/Motsch 1981) als Projektion (vgl. Chomsky 1984,36 ff., 335) der Bedeutung und der Welt auf die Sprachform eines Satzes über folgende Stufen (Ebenen, Moduln) verläuft: 4.1. Eine Weltsphäre Wx determiniert den mitzuteilenden Sachverhalt und den entsprechenden Satztyp für W;,,, We oder Wu. 4.2. Die Äußerung eines Satzes ist außer durch den mitzuteilenden Sachverhalt auch durch kommunikative Bedingungen, verschiedene Präsuppositionen und Sprecherintentionen determiniert, die gemeinsam mit Wx die Gestaltung des Satzes bedingen. 4.3. Im konzeptuellen System CS entsteht ein allgemeines Schema, eine "Gestalt" des mitzuteilenden Sachverhalts und der Intention (wir abstrahieren weiter von kommunikativ-pragmatischen Aspekten der Bedeutung). Im Lexikon werden bestimmte Zonen (Wort- und grammatische Felder) induziert, notwendige Wortstämme abgerufen und auf alle folgenden semantischen und morphosyntaktischen Ebenen projiziert. Gleichzeitig werden phonologische Einheiten (segmentale und suprasegmentale) für die aufzubauende Äußerung bereitgestellt. 4.4. Der mitzuteilende Sachverhalt aus CS erfährt eine logische Analyse (LA, vgl. Bierwisch 1983,102 ff.; Bierwisch 1987,7 f.). 4.5. Das Ergebnis von LA wird als semantische Form SF strukturiert. 4.6. Der morphosyntaktische Modul MSM setzt sich aus mehreren Submoduln zusammen: 4.6.1. Dependenzstruktur DepS in Satzgliednotation 4.6.2. Konstituentenstruktur KS in Wortklassennotation mit einer morphologischen Komponente 4.6.3. Trans formationskomponente TK 4.6.4. Oberflächenstruktur OS 4.7. Phonologisch-phonetischer Modul PhPhM. Der phonologische Teil dieses Moduls beginnt schon auf der semantischen Ebene zu wirken. Das Lexikon und der phonologische Modul nehmen eine besondere Stellung ein: Sie beziehen sich auf alle sprachlichen Ebenen. Die Wortbildung erscheint als Komponente des Lexikons.

Umweltparameter und Satzform

365

Der Projektionsprozeß in schematischer Darstellung:

4.1.

W

4.2.

v Sachverhalt (+ kommunikative Aspekte)

PHONOLOG. MODUL

4.7.

PhM

(Vgl. Heidolph/Flämig/Motsch 1981; Chomsky 1984; Bierwisch 1987; Bierwisch/Lang 1987)

Nach diesem Schema würde die Projektion eines Satzes, z.B. eines mi-Satzes wie folgt verlaufen (wir abstrahieren auch von phonologischen Modul):

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366

4.1.

Wio

4.2.

Sachverhalt: "Kälteempfindung"; Intention: "Feststellung"; Kommunikative Bedingungen: A,B,...; Präsuppositionen ...

4.3.

CS-

4.4. 4.5.

. LEXIKON /kalt/, /ich/, /mir/, /ist/... /P (x)/, /Empf (OE)/, Präd (Obj), Prond + A + VbRop...

^ LA vv S

P(x)

Empf(OE) P-» Empf, Empf = Empfindung /kalt/ OE = Objekt der Empf /mi/

\

4.6. MSM5 4.6.1 .DepS

Präd ^~^>•^

Kop

-*OE

Empf -*· Präd (kalt sein) OE -* Objekt zum P-tiv (mir) Präd = Prädikat P-tiv = Prädikativ

P-tiy Objekt

4.6.2. (Prond+VbKop+A) VP

AP

Vb,Kop

Präd -» VP P-tiv -* AP P-tiv1 - • A Objekt NP—Pron d Kopula Vb.Kop

NP Pron,

mir

kalt

ist

4.6.3.TK: Permutation 4.6.4. OS: Mir ist kalt. 4.7.

l

PhF: Phonetische Umschrift

Nach diesem Projektionsschema wird der Sachverhalt der Sphäre W;,, - Kälteempfindung des sich Äußernden - im konzeptuellen System CS abgebildet und einer logischen Die Komponenten des morphosyntaktischen Moduls MSM werden in verschiedenen Grammatiken auf verschiedene Weise dargestellt KS kann z.B. direkt auf die Nebensatzform projiziert werden; auch in einem solchen Fall wird eine Transformationskomponente TK notwendig sein.

Umweltparameter und Satzform

367

(protologischen) Analyse LA unterworfen. Parallel mit LA werden dem Sachverhalt entsprechende Zonen des inneren Lexikons induziert, "innere Wörter" ("language of thought") abgerufen und in den Modul SF eingesetzt. Auf der Ebene der semantischen Form SF, die als "Schnittstelle zwischen Grammatik und konzeptuellem System" (vgl. Bierwisch/Lang 1987, 649 ff.) erscheint, werden die Aktanten des mitzuteilenden Sachverhalts individuell-innersprachlich und in konzeptuell-sprachlichen Einheiten der semantischen Kasus repräsentiert: semantisches Prädikat P = Empfindung/Kälte/, Argument = /mi/. Konzeptuelle Strukturen und entsprechende lexikalische Einheiten projizieren das Abbild (die Konstruktion) des mitzuteilenden Sachverhalts über die semantische Form SF auf sprachliche Konstruktionen, die auf den folgenden Ebenen des morphosyntaktischen Moduls MSM durch syntaktische Regeln weiter entfaltet werden (vgl. Bierwisch/Lang 1987, 650) Die semantische Repräsentation Kälte (mi) wird nach dem semantischen Satztyp Empf (OE) auf DepS projiziert. Die individuell-innersprachlichen Wörter werden nach der Norm der Standardsprache gestaltet. Die protologische Analyse LA P (x) und die semantische Form Kälte (mi) werden sprachlich (syntaktisch) abgewandelt und erhalten die Repräsentation: (28)

Prädikat (kalt sein) + Objekt (mir).

Das Subjektprinzip der UG ist ein fakultatives Prinzip: (29)

S-»(NP)INFLVP

(vgl. Chomsky 1984, 27) und gilt für mi-Sätze des Deutschen nicht (vgl. von Stechow/Sternefeld 1988, 77). Es äußert sich nur in abgewandelten m/'-Sätzen durch eine thematisch leere Kategorie, durch das formale Subjekt es (mir graut - es graut mir). Die Theta-Zuweisung (hier: Tiefenkasus-Zuweisung) erfolgt in DepS, indem -Rollen an grammatische Funktionen GF in Satzgliedform zugewiesen werden, d.h., Tiefenkasus werden in Satzglieder abgewandelt: (30)

OE -*· Objektd (Objekt zum Prädikativ),

d.h., die semantische Form SF generiert die syntaktische Struktur (vgl. anders in von Stechow/Sternefeld 1988,259 f.). Wortgruppenstrukturzuweisung. Die grammatischen Funktionen GF, d.h. die Satzglieder vom Modul DepS, geben Positionen im Strukturbaum des Moduls KS an (vgl. von Stechow/Sternefeld 1988, 260). So weist die GF Objekt zum Prädikativ der Wortgruppenstruktur NP die entsprechende Position im KS-Baum zu. Auf der Ebene der KS erfolgt auch die morphologische Ausstattung der Konstituenten. Da der Satz subjektlos ist, ist die Konstituentenstruktur KS "einköpfig". Linearisierung. Das Ergebnis des KS-Moduls mir kalt ist wird in die Transformationskomponente TK eingeführt. Hier erfolgt die endgültige morphologische Ausstattung der Kon-

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368

stituenten und ihre Anordnung nach den Wortstellungsregeln und nach der kommunikativen Intention des Sprechers, in unserem Fall durch eine Permutation für einen Mitteilungssatz:

(31)

mir kalt ist -» mir ist kalt.

Projektionsprinzip. Aus den angeführten Übergängen von einem Modul zum anderen ist ersichtlich, daß unser Schema ein Modell mit generativer Semantik darstellt. Die semantischen und syntaktischen Komponenten stehen in folgenden hierarchischen Beziehungen zueinander:

LA

SF

SYNTAX DepS KS OS

(3) (4)

PhF

Vgl. mit generativ-syntaktischen Modellen (Chomsky 1984, 17, 29 ff., 335; Bierwisch/Lang 1987, 670). Die semantische Form SF als Schnittstelle zwischen CS und MSM projiziert den Thetarahmen (den semantischen Kasusrahmen) eines Satzes auf die syntaktische Komponente (MSM) parallel mit der Projektion sprachlicher Einheiten aus dem Lexikon. Satzmodell- und Satzstrukturentfaltung. Der aus dem konzeptuellen System CS induzierte und in LA und SF mit Hilfe innersprachlicher Wörter generierte semantische Satzplan (Thetaoder Tiefenkasusrahmen) entfaltet sich mit der Satzstruktur, das Ergebnis jedes Moduls antizipierend und in der entsprechenden Repräsentationsform die Prozesse in jedem Modul kontrollierend, über mehrere Ebenen bis zur Realisierung als OS und PhF: (1) (2)

(3)

Auf Stufe (1) grenzt die Weltsphäre W^ den Salztyp ab: Win, Sphäre introverter Empfindungen. Stufe (2) legt den semantischen Kasusrahmen und die protologischen Relationen fest. Der zu versprach! ichende Sachverhalt hat eher eine sinnliche als logische Struktur, die logische Repräsentation P (x) ist problematisch. Der semantische Kasusrahmen Emp/Kälte/(OE/mi/) wird weiter über alle morphosyntaktischen Projektions- und Repräsentationsstufen mitgeführt. In DepS wird auf Grund von Übergangs- und Präferenzregeln sowie lexikimmanenter Subkategorisierung der semantische Kasusrahmen in grammatische Funktionen GF transportiert, d.h. in ein Satzgliedmodell abgewandelt.

Umweltparameter und Satzform (4)

369

Aus (3), aus der Projektion vom Lexikon und der "aufgehobenen" semantischen Form SF, folgt (4), das Satzmodell der Konstituentenstniktur KS: Prond + A + Vb|^op. Das Satzmodell steuert die WortgTuppenkonstihiierung, die morphologischen Prozesse, und, gemeinsam mit kommunikativ-pragmatischen Faktoren, die Wortstellungspermutation und andere Abwandlungen in der Transfonnationskomponente TK. Das Satzmodell (4) kann auch als Filter interpretiert werden, das den Satz in seiner gesamten Konstituentenstnikturentfaltung skandiert (vgl. Radford 1981,306).

Aus der vorgelegten Darstellung der linguistischen Projektion folgt, daß Umweltparameter physikalische und biologische Umgebung - und das physiologisch-psychische Wahrnehmungssystem des Menschen alle anderen sprachlichen Parameter determinieren und auch spezifisch auf die Sprachstruktur einwirken. Diese Einwirkung findet in den separaten Satzstrukturen für drei grundlegende Existenzparameter des Menschen Ausdruck: in mi-Sätzen für die innere Welt des Menschen W^, in Subjekt-Prädikat-Sätzen für die dem Menschen zugängliche äußere Welt W^ in es-Sätzen für meteorologische Parameter der dem Menschen (ehemals) unzugänglichen Welt Wu. Auch verschiedenen "möglichen Welten", die im konzeptuellen System des Menschen auf Grund realer oder kognitiv abgewandelter Prozesse konstruiert sind, entsprechen spezifische Satztypen - Transformtypen (abgewandelte Strukturen) für vergangene, künftige, kausale, bedingte, wahrscheinliche, erwünschte usw. Welten. In allen Fällen ist die Einwirkung der Welt und des Denkens auf die Satzstruktur mehrfach vermittelt, was auch durch die Konzeption der mehrstufigen linguistischen Projektion gut illustriert wird.

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Peter Eisenberg Platos Problem und die Lernbarkeit der Syntax 1. Das Thema der Tagung 'Biologische und soziale Grundlagen der Sprache', der vorliegender Beitrag seine Entstehung verdankt, spitzt sich für bestimmte Fragestellungen unvermeidlich auf Alternativen zu. Eine solche Fragestellung ist die nach dem Syntaxerwerb. Wie weit der Mensch die Syntax seiner Sprache aus Erfahrung lernt, hängt nicht ausschließlich, aber doch ganz wesentlich, davon ab, wie weit der Syntaxerwerb genetisch determiniert ist. Man kann daher über die genetische Determiniertheit bis zu einem gewissen Grad Aufschluß erlangen, indem man die soziale Determiniertheit untersucht und umgekehrt. Insofern genetische und soziale Determiniertheit einander komplementieren, macht es wenig Sinn, sie gegeneinander auszuspielen. Dennoch sieht sich Manfred Bierwisch in seinem Tagungsbeitrag veranlaßt, die Argumente für die genetische Determiniertheit unter einem Legitimitätsgesichtspunkt zu diskutieren (in diesem Band). Es sei methodologisch und theoretisch ebenso legitim, nach biologischen Erklärungen zu suchen wie nach sozialen. Wir lassen einmal die Frage außer acht, ob 'genetisch determiniert' gleichbedeutend ist mit 'biologisch1, und 'erfahrungsdeterminiert1 gleichbedeutend mit 'sozial'. Unausweichlich scheint mir dann die Feststellung zu sein, daß ein möglicher sprachwissenschaftlicher Beitrag nicht ebenso gut für die biologische wie für die soziale Determiniertheit argumentieren kann. Das hat nichts mit der Legitimität biologischer Erklärungen zu tun, sondern ergibt sich aus dem, was der Sprachwissenschaft empirisch zugänglich ist. Bierwisch schreibt (in diesem Band): "Die Annahme spezifischer biologisch fixierter Determinanten der Sprachkenntnis ist folglich nicht unplausibel, sondern umschreibt ein Programm, das erfolgversprechend ist, wo der Verzicht auf solche Annahmen den Fakten nicht gerecht werden kann." Damit ist biologischen Erklärungen im sprachwissenschaftlichen Zusammenhang ausdrücklich die Funktion des Lückenfüllers zugewiesen: Sie greifen dort, wo man ohne sie nicht weiter kommt. Linguistische Erörterungen des Themas verlaufen stets nach diesem Muster. Für die folgenden Ausführungen ist das von größter Bedeutung. Sprachliche Daten werden nämlich in linguistischen Argumentationen dazu verwendet, zu zeigen, daß ihr Verstehen Information erfordert, die empirisch nicht zugänglich ist. Solche Argumentationen stehen unter einem einseitigen Legitimationsdruck. Sie sind erst hieb- und stichfest, wenn alles Erdenkliche getan wurde, um andere als biologische Erklärungen auszuschließen.

2. Im Folgenden wird das Lembarkeitsproblem diskutiert im engen Rahmen der Auseinandersetzung mit bestimmten Thesen der neuen generativen Grammatik. Sie besagen, daß die menschliche faculto de langage in einem von der Grammatiktheorie zu explizierenden

372

Peter Eisenberg

Umfang - der dann "die Universalgrammatik" genannt wird - genetisch determiniert ist. Was die so verstandene Universalgrammatik umfaßt, ist dabei umstritten. Eine Phonologic wird ihr selten, eine Morphologie (im Sinne von Wortbildung) manchmal und eine Syntax immer zugewiesen. Für die Syntax begründet man das Lernbarkeitsproblem besonders häufig und nachdrücklich mit dem Problem der 'poverty of evidence', auch 'Platos Problem' genannt. Zu den meistzitierten Formulierungen gehört die aus Chomsky (1986, 7): "... language poses in a sharp and clear form what has sometimes been called 'Plato's problem', the problem of 'poverty of stimulus', of accounting for the richness, complexity, and specificity of shared knowledge, given the limitations of the data available. This difference of perception concerning where the problem lies ... reflects very clearly the effect of the shift of focus that inaugurated the study of generative grammar. A great many examples have been given over the years to illustrate what clearly is the fundamental problem: the problem of poverty of evidence." Inhaltlich so gut wie identische Formulierungen finden sich auch in den Beiträgen von Bierwisch (in diesem Band) und Fanselow (in diesem Band). Der Stellenwert von Platos Problem ist hoch. Es ist deshalb gerechtfertigt und notwendig, nach seiner Begründung zu fragen. Das geschieht im Folgenden durch Überprüfen einiger der Beispiele, von denen Chomsky hier spricht. Das Ergebnis wird sein, daß die Begründung für die Existenz von Platos Problem, wie sie in der Literatur üblicherweise gegeben wird, nicht überzeugt. Mir liegt an der Feststellung, daß mit der vorgetragenen Argumentation nicht ein Angriff auf die These von der weitgehenden genetischen Determiniertheit des Syntaxerwerbs versucht wird. Wenn auf wissenschaftlichen Tagungen Platos Problem zur Sprache kommt, entwickeln sich leicht Diskussionen von großer Schärfe. Wer Platos Problem demontiert, macht es sich, so scheint es, leicht. Spricht er nicht über die Syntax einiger einfacher Sätze, um damit ein gewaltiges wissenschaftliches Gebäude zu beschädigen? Der Versuch wäre hoffnungslos, nichts liegt mir ferner als das. Es muß aber möglich bleiben, Platos Problem anhand der Argumente zu diskutieren, die zu seiner Begründung vorgebracht werden. Die Gegenargumente reichen dabei nicht weiter als die Argumente. Sind die Gegenargumente richtig, dann sollte Platos Problem neu begründet werden. Sind sie falsch, dann wäre das zu zeigen. Um die Argumentation gegen einige der naheliegendsten Einwände abzusichern, wird im folgenden mit einer gewissen Pingeligkeit verfahren, die dem Leser normalerweise erspart bleiben sollte. Dazu gehört, daß zu den zitierten Daten immer auch die Deutung mitgeliefert wird, die der jeweilige Autor gibt. Man sieht so, wie ein Datum nach Meinung des zitierten Autors zur Konstituierung von Platos Problem beiträgt. Ich werde außerdem nicht lediglich einen oder zwei Fälle besprechen und dann behaupten, so werde es immer gemacht. Untersucht werden nicht weniger als sieben Fälle, davon fünf aus dem Englischen, die in der einen oder anderen Form in der Literatur immer wieder auftauchen. Der Vorwurf einer willkürlichen Auswahl weniger problematischer Beispiele sollte so vermeidbar sein.

Platos Problem

373

3.

Unmittelbar im Anschluß an das oben wiedergegebene Zitat findet sich in Chomsky (1986, 8) ein Block von Daten zur Veranschaulichung von Platos Problem, den wir vollständig behandeln wollen. Chomsky präsentiert das erste Beispiel wie in (1). Die Sätze (la) und (Ib) (1)

a. b.

I wonder who [the men expected to see them] [the men expected to see them]

tragen in seiner Zählung die Nummern (2) und (3). Er schreibt (ebenda): "Both (2) und (3) include the clause bounded by brackets, but only in (2) may the pronoun them be referentially dependent on the antecedent the men; in (3) the pronoun is understood as referring in some manner indicated in the situational or discourse context, but not to the men." Basis der Argumentation ist, daß beide Sätze "the clause bounded by brackets" enthalten. Dieselbe Phrase wird in (la) syntaktisch ganz anders analysiert als in (Ib). Woher soll der Sprecher das wissen, wo es sich doch um dieselbe Phrase handelt? Es liegt also eine 'poverty of stimulus' vor, insofern (la) und (Ib) keinen Hinweis darauf enthalten, daß es sich nicht um dieselbe Phrase handelt. Sie enthalten diesen Hinweis in der Tat. Setzt man den geklammerten Ausdruck in (la) als Phrase an wie in (Ib), so geht die syntaktische Analyse des Gesamtsatzes nicht auf. Es ist, wie wenn man behauptet, und sei als sprachliche Einheit in Hund enthalten, (la) wird syntaktisch erst analysierbar, wenn who dem Klammerausdruck zugeschlagen wird. Chomsky macht dies an einer späteren Stelle (1986, 152) auch deutlich. Was das Beispiel unter diesen Umständen eigentlich zeigt, ist nicht zu sehen. Als nächsten Fall behandelt Chomsky (ebenda) die Sätze in (2) und (3). (2) (3)

a. b. a. b.

John ate an apple John ate John is too stubborn to talk to Bill John is too stubborn to talk to

Er fragt (ebenda), warum nicht (3b, a) analog zu (2b, a) interpretiert werde: "... ate takes an object... and if the object is missing, it is understood as arbitrary ... But the meaning [of (3b) P.E.] is, in fact, quite different: namely, that John is so stubborn that some arbitrary person won't talk to him (John). Again, this is known without training or relvant evidence." Das Argument it etwas anders konstruiert als das in bezug auf (1). Ausgangspunkt der Überlegung ist nicht die Annahme, daß ein bestimmter Ausdruck immer dieselbe Analyse haben sollte, sondern daß eine bestimmte Operation immer denselben syntaktischen (und damit semantischen) Effekt haben sollte. Handelt es sich also in (2) um dieselbe Operation wie in (3), oder hat der Sprecher Evidenz, daß es sich nicht um dieselbe Operation handelt? Es handelt sich um dieselbe Operation, insofern jeweils ein Nominal am Satzende gestrichen wird. Diese Sicht legt uns Chomsky nahe. In (3) wird jedoch ein Nominal aus einer Prä-

374

Peter Eisenberg

positionalgmppe (PrGr) gestrichen, in (2) nicht. Der Sprecher hat genug Evidenz dafür, daß das ein Unterschied ist. Denn unter den allermeisten Bedingungen darf ein Nominal aus einer PrGr gar nicht gestrichen werden: (4) (5)

a. b. a. b.

John is visiting Berlin John is visiting John is driving to Berlin * John is driving to

Das Auftauchen einer 'gestrandeten' Präposition ist an sehr spezielle Bedingungen gebunden. Wie immer der Sprecher preposition stranding lernt: Er hat nicht den geringsten Anlaß, darin dasselbe zu sehen wie in der Fakultativität eines direkten Objekts. Chomskys drittes Beispiel hat die Sätze (6) und (7) zum Gegenstand. Wieder geht es darum, daß in zwei Sätzen ein Nominal gestrichen wird und der Effekt nicht derselbe ist. (6) (7)

a. b. a. b.

John is too stubborn to expect anyone to talk to Bill John is too stubborn to expect anyone to talk to John is too stubborn to visit anyone who talked to Bill John is too stubborn to visit anyone who talked to

Es heißt (1986, 11), (6b) "means that John is so stubborn that an arbitrary person would not expect anyone to talk to him (John). 'By analogy', then, we would expect sentence ... [(7b) P.E.] to mean that John is so stubborn that an arbitrary person would not visit anyone who talked to him (John). But it does not have that meaning; in fact, it is gibberish." Es ist offensichtlich, daß (6a) und (7a) ganz unterschiedliche syntaktische Struktur haben (Chomsky 1986, 106 ff.). Nicht ganz klar ist, ob mit gibberish gemeint ist, daß (Tb) ungrammatisch sei. Jedenfalls ist für einen Sprecher das Streichen des Nominals in (6a) und (7a) dann nicht mehr dasselbe, wenn er gelernt hat, daß ein Infinitivkomplement nicht dasselbe ist wie ein Relativsatz. Man kann auch bei der Verbvalenz ansetzen. Sobald ein Sprecher gelernt hat, daß to expect kategorial von to visit verschieden ist, hat er keinen Anlaß, (Tb) analog zu (6b) zu interpretieren.

4. Fanselow hat in verschiedenen Arbeiten die Bedeutung sog. negativer Daten für die Theorie des Syntaxerwerbs explizit herausgestellt. Zur Illustration seiner Argumentation betrachten wir (8) und (9) (1987:11 ff.)· (8) (9)

a. b. a. b.

*I kissed a student of physics, and you kissed the one with long hair I kissed the student with short hair, and you kissed the one with long hair a student of physics with long hair *a student with long hair of physics

Platos Problem

375

Es geht um den unterschiedlichen Status der PrGr of physics einerseits und with long hair andererseits. Die Daten zeigen, daß erstere dem Kemsubstantiv strukturell näher steht als letztere. Das Faktum ist von Bedeutung für die interne Struktur der Nominalgruppe (NGr), vgl. Fanselow, (1987, 13): "Eine optimale Grammatik des Englischen unterscheidet also innerhalb von NP mindestens drei Stufen N°, N1 und NP oder Nm«. Es ist nun aber völlig unklar, wie ein Kind diese Unterscheidung lernen könnte. Die Daten, die eine dreifache hierarchische Stufung der NP erzwungen haben, waren alle negativer Natur ... Da man aber das, was man nicht aus der Umwelt bekommen hat, nur aus sich selbst heraus entwickelt haben kann, folgt, daß die Kinder aus sich selbst heraus zur hierarchischen NP-Gliederung gelangt sind. Das heißt nichts anderes, als daß ihnen die entsprechenden Prinzipien angeboren sein müssen." Gibt es einen kategorialen oder funktionalen Unterschied zwischen den beiden PrGr, der auf positiver Evidenz beruht? Die traditionelle Grammatik beschreibt den Unterschied damit, daß sie of physics einen Genitivus Objektivus nennt, with long hair aber nicht. Bestimmte Verbergänzungen erscheinen bei Nominalisierung in bestimmter Form als Präpositionalattribut und haben dann spezifische syntaktische Eigenschaften, etwa bezüglich des Stellungsverhaltens. Entscheidend ist die Valenzvererbung von study als transitivem Verb auf student als Nominalisierung bestimmter Art. Dafür, daß ein derartiger Zusammenhang besteht, gibt es viel Evidenz. Dieser Zusammenhang ist ja gerade konstitutiv für die These, NGr und Satz seien weitgehend analog strukturiert und seien deshalb im selben Format (etwa dem X-bar-Format) zu beschreiben. Das nächste Beispiel ist interessant und geht insofern über die bisher behandelten hinaus, als hier zwei Ausdrücke aufeinander bezogen werden, die tatsächlich dieselbe syntaktische Funktion haben. Es geht um das Verhältnis von NGr und fAaf-Sätzen in Objektposition. Bei Fanselow/Felix (1987, 120 ff.) heißt es im Abschnitt "Das logische Problem des Spracherwerbs": "Englische -Sätze erscheinen vielfach in einer Position, in der auch Nominalphrasen auftreten können. Insbesondere können in der Subjekt- und der Objektposition eines Satzes sowohl NPs als auch Sätze erscheinen." (10) gibt ein Beispiel für das Objekt. (10)

a. b.

Everybody expected John's victory Everybody expected that John would win

Es heißt dann weiter: "Auf der Grundlage dieser Strukturen bestünde eine der offenkundigsten Generalisierungen in der Annahme, daß auf einer bestimmten Repräsentationsebene sich fAöf-Sätze und NPs gleich verhalten." Aber es stellt sich heraus, daß dies eine Übergeneralisierung wäre, und daher ist zu fragen (1987, 123): "... wie findet das Kind heraus, daß die naheliegende Generalisierung VAaf-Sätze verhalten sich wie NPs' nicht korrekt ist?" Bei einer Argumentationsweise dieser Art ist längst der Punkt erreicht, an dem ernsthaft zu fragen wäre, ob sich Platos Problem unabweisbar aus der Datenlage stellt oder ob es nicht mit viel Mühe konstruiert ist. Denn was eine offenkundige oder naheliegende Generalisierung für den Erwerb der englischen Syntax ist, kann nicht wie oben aus dem Hut gezaubert werden. Aber nehmen wir an, es könnte hier zu einem Problem kommen. Wo wird es dann virulent?

376

Peter Eisenberg

Fanselow/Felix nennen zwei Eigenschaften, die that-Sätze nicht mit NPs gemeinsam haben. Die erste: NPs können auf Präpositionen folgen, -Sätze nicht: (11)

a. b.

We counted on John's help *We counted on that John would help

Die hier einschlägigen Fakten sind uns bereits mehrfach begegnet. Es wurde oben gezeigt, daß es viel Evidenz dafür gibt, daß sich Nominale innerhalb von PrGr anders verhalten als außerhalb. In dieses Bild würde es gut passen, daß Nominale außerhalb von PrGr mit thatSätzen kommutieren, nicht aber innerhalb. Der zweite Fall (Fanselow/Felix 1987, 124): "Weiterhin können jAöi-Sätze im Gegensatz zu NPs nicht nach Satzkonjunktionen auftreten." (12)

a. b.

Although John's immediate reaction proved his innocence ... *Although that John reacted immediately proved his innocence

Diesem Beispiel liegt eine Fehlanalyse zugrunde. Die Konjunktion steht in (12a) nicht bei einer nominalen Konstituente, sondern bei einem Satz. Bei einer NP steht ebensowenig eine Konjunktion wie bei einem that-Satz. Das verwundert nicht, denn that ist nach üblicher Auffassung selbst eine Konjunktion.

5.

Wir wenden uns zum Schluß zweien der drei Beispiele zu, die von Bierwisch (in diesem Band) zur Illustration von Platos Problem besprochen werden. Das dritte, hier nicht behandelte Beispiel ist strukturell dem oben unter (6) und (7) behandelten ähnlich. Bierwisch ist in einem Punkt expliziter als die bisher zitierten Autoren. Er kommentiert seine Darlegungen mit dem Satz "Diese beliebig vermehrbaren Beispiele zeigen, daß die erworbene Kenntnis wesentlich reicher ist, als die Oberfläche geäußerter Sätze erkennen läßt, daß sie durch die Eingabeinformation nur unvollständig fundiert ist." Es geht also um das, was an der Oberfläche erkennbar ist, und damit kann in einem sprachwissenschaftlichen Verständnis nur die Oberflächenstruktur gemeint sein, hier die syntaktische Oberflächenstruktur: Sind die beigezogenen Sätze oberflächensyntaktisch identisch oder nicht? In (13a, b) geht es um die Bedeutung von vor. Bierwisch kommentiert: "Das Verstehen dieser Sätze involviert die Tatsache, daß vor in (3a) [entspricht (13a) - P.E.] eine räumliche, (13)

a. b.

Walter stand vor Erich Walter ging vor Erich

in (3b) [entspricht (13b) - P.E.] eine räumliche oder eine zeitliche Relation wiedergibt. Entscheidend ist dabei, daß die zeitliche Relation sich nicht auf die Person Erich, sondern auf das

Platos Problem

377

Ereignis 'Erich geht1 bezieht, daß (3b) bei zeitlicher Interpretation also als 'Walter ging, bevor Erich ging' verstanden werden muß - eine Ergänzung, die automatisch und ohne explizite Information erschlossen werden muß." Zur Analyse des Satzes (13b) hat man mit zwei Bedeutungen von gehen zu operieren. In der ersten bezeichnet gehen eine ungerichtete Bewegung, in der zweiten eine gerichtete. Die Richtung der Bewegung ist deiktisch fixiert, gehen bedeutet dann so viel wie weggehen. Beide Bedeutungen sind an je spezifische Valenzmuster gebunden und damit syntaktisch unterscheidbar. Beispielsweise kann gehen nur bei der ersten Bedeutung mit einer Richtungsergänzung verbunden werden (in die Stadt gehen). In Kontexten wie Geh nicht von mir kann gehen nur die zeite Bedeutung haben. Eine genauere Analyse von gehen wurde zeigen, daß der Sprecher aufgrund der Daten Anlaß hat, die beiden Bedeutungen dieses Verbs zu unterscheiden. Ähnlich liegen allerdings die Verhältnisse bei (13a). Bierwischs Analyse ist in diesem Punkt unvollständig. Auch stehen kann einstellig sein und dann mit einem zeitlichen vor verbunden werden. (13a) kann also analog zu (13b) gelesen werden als 'Walter stand, bevor Erich stand'. All dies geben die Daten ohne weiteres her. Was sie nicht hergeben, ist, daß inzwischen beide nicht mehr stehen. Aber das ist auch nicht genetisch determiniert. Das letzte Beispiel beruht auf der bekannten Asymmetrie von paarweise auftretenden Dimensionsadjektiven. (14)

a. b.

Das Brett ist einen Meter lang Das Brett ist einen Meter kurz

Bierwisch schreibt: "Das Verstehen dieser Sätze involviert die Kenntnis, daß (Ib) [entspricht (14b) - P.E.] im Vergleich zu (la) [entspricht (14a) - P.E.] inkorrekt ist, daß der Satz aber nichtsdestoweniger einen wohlbestimmten Sinn hat, der etwa durch 'Das Brett ist einen Meter lang und das ist kurz' umschrieben werden kann." Damit ist das Nötige schon gesagt. Lang und kurz haben, wie Bierwisch vor über zwanzig Jahren gezeigt hat, nicht dieselbe Distribution. Sie sind semantisch und syntaktisch verschieden. Daher unterscheiden sich auch (14a) und (14b) oberflächensyntaktisch.

6. Es besteht gegenwärtig in der Linguistik wenig Einigkeit darüber, was eine syntaktische Beschreibung ist und unter welchen Voraussetzungen zwei sprachliche Einheiten als syntaktisch identisch zu gelten haben. Es mag deshalb sein, daß die Relevanz der in den Abschnitten 3 bis 5 vorgeführten Art der Argumentation für Platos Problem bestritten wird. Man muß sich jedoch gar nicht um den Syntaxbegriff selbst streiten, um Aussagen über die Relevanz der Argumente für die aufgeworfene Frage zu machen. Entscheidend ist allein, daß die herausgestellten Unterschiede zwischen sprachlichen Einheiten auf distributioneilen Unterschieden be-

378

Peter Eisenberg

ruhen. Daß sie distributioneller Art sind, heißt aber, daß sie aus den Daten selbst zugänglich sind. Das ist das Prinzip unserer Argumentation. Nichts wurde darüber gesagt, ob Daten bestimmter Art in einem bestimmten Alter, in bestimmter Menge, in genügender Qualität usw. zugänglich sind. Wir haben uns darauf beschränkt, Platos Problem in der allgemeinen Form zu diskutieren, die es in der zitierten Literatur hat. Konkretere Begründungen aus Spracherwerbsdaten verlangen selbstverständlich konkretere Gegenargumentationen.

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Jürgen Tesak Zur Autonomie-Hypothese der generativen Grammatik1 I.Ausgangspunkt Innerhalb der generativen Grammatik gibt es die sog. Autonomie-Hypothese, die besagt, daß linguistische Form und psychologische Prozesse, die zur En- und Dekodierung dieser Form notwendig seien, voneinander unabhängige Aspekte menschlicher Kognition seien (cf. Caplan, 1982; Fanselow/Felix, 1987; Kean, 1982). Die Autonomie-Diskussion kann man in bezug auf verschiedene Aspekte diskutieren: Sprache als Gesamterscheinung (z.B. Fodor, 1983), Grammatik bzw. Syntax (z.B. Fanselow/Felix, 1987) oder interne Autonomie einzelner Grammatikmodule (cf. Riemsdijk/Williams, 1986: 174). Für und gegen die AutonomieHypothese^) gibt es diverse Argumente (cf. Derwing, 1980 und die anderen Beiträge in Perry, 1980). Gegenstand des vorliegenden Artikels sollen die Argumente sein, die Fanselow/Felix (1987: 220-235) als "externe" Evidenz für eine Autonomie der Grammatik (= Syntax) aus dem Bereich der Aphasiologie bzw. Neuropathologie anführen. Im wesentlichen kreist die Argumentation um die Broca-Aphasie bzw. die bei BrocaAphasikera auftretende Erscheinung der agrammatischen Sprachproduktion. Die Argumentationskette von Fanselow/Felix sei im folgenden gerafft dargestellt. Die globale Aphasie, die amnestische Aphasie und die Wernicke-Aphasie werden zu Beginn als für die Argumentation uninteressant abgetan. "Lingustisch bedeutsamer scheinen Broca-Aphasien zu sein, die durch Läsionen im Marklager des Gehirns, dorsal zur dritten Stimwindung, die dem Motorzentrum bei Primaten entspricht [...], herbeigeführt werden" (228). Nach der Beschreibung der Äußerungen von Broca-Apasikern als "grammatisch nicht wohlgeformt", aber "unter kommunikativem Aspekt voll verständlich" (228), und der Feststellung, daß Broca-Aphasiker auch beim Sprachverständnis genau dann Probleme hätten, wenn syntaktische Aspekte zur richtigen Lösung der Aufgabenstellung notwendig sind, wird der Schluß gezogen, "daß die Broca-Aphasie eine sehr spezifische Störung der grammatischen Kompetenz darstellt" (231)."Die Broca-Aphasie ist eine syntaktische [...] Störung, daher hat sich aus der NameAgrammafumus eingebürgert" (231). Fanselow/Felix "können also annehmen, daß die grammatische Kompetenz [...] links lateralisiert ist und in den Gebieten um die Broca-Region lokalisiert ist" (232). Ihr Argument ist also, "daß mit der Broca-Aphasie eine zentrale Störung der Sprachfähigkeit vorliegt", die "im Ausfall einer genetisch angelegten Himregion begründet zu sein scheint" (234). Zusammenfassend gesehen, "zeigen [...] die neuropathologischen Daten mit großer Deutlichkeit, daß die menschliche Kognition modular aufgebaut sein muß und daß eines dieser Module die formal-syntaktische Sprachfähigkeit ist" (235).

Dieser Artikel wurde durch ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austiuschdienstes (DAAD) ermöglicht Ich danke den Freiburger Aphasiologen für Anmerkungen zu einer früheren Fassung.

380

Jürgen Tesak

Im nächsten Abschnitt werde ich zu zeigen versuchen, daß diese so geradlinige Argumentationskette nicht haltbar ist.

2. Gegenargumente Die Gegenargumente betreffen im wesentlichen zwei Punkte: (i) die angebliche Lokalisation der formal-syntaktischen Kompetenz in der und um die Broca-Region und (ii) die BrocaAphasie (bzw. den sog. Agrammatismus). 2.1. Lokalisation Was die Frage der Lokalisation betrifft, beziehe ich mich für die allgemeinen Argumente auf Wallesch (1988). In der neueren Hirnforschung ist eine wesentliche und zentrale Neuerung die, daß man "[a]nstelle der Annahmen einer funktionalen Autonomie corticaler Zentren [...] versucht, die Interaktion corticaler mit subcorticalen und weit entfernten corticalen Strukturen zu verstehen" (Wallesch 1988: 163). Auch für die Sprachverarbeitung zeichnet sich eine starke Beteiligung nicht-corticaler Strukturen und Hirnregionen ab. Weitere Punkte fassen die folgenden Zitate aus Wallesch (1988) zusammen: Es konnte in über 100 Jahren neurologischer Aphasieforschung nicht geklärt werden, ob es im Gehirn Strukturen gibt, die für die Sprachverarbeitung spezialisiert sind, oder ob Sprache durch Hirnteile verarbeitet wird, die auch in andere Funktionen eingebunden sind (155). Zwar ergeben sich Hinweise dafür, daß bestimmte Prozesse der Sprachverarbeitung fokal, und zwar im Versorgungsgebiet der linken mittleren Hirnarterie, repräsentiert sind, über Art und On dieser Repräsentation lassen sich jedoch [...] keine nähere Angaben machen. (167: Hervorhebung von mir J.T.) Generell steht der Annahme einer diskreten Repräsentation sprachlicher Teilprozesse die Beobachtung entgegen, daß jede umschriebene Großhirnverletzung mit einer vollständigen Restitution sprachlicher Leistungen vereinbar ist" (167).

Aus neurologischer Sicht scheint es also nicht möglich zu sein, die höhere Hirnleistung Sprache (bzw. einen Teilaspekt davon) einer genau umschriebenen cortikalen Region zuzuordnen. Nach diesen allgemeinen Punkten wenden wir uns dem speziellen Fall der Broca-Aphasie bzw. des Agrammatismus zu. Zuerst eine Begriffserklärung: Broca-Aphasie bezeichnet ein aphasisches Syndrom, das aus mehreren Symptomen zusammengesetzt ist, die nicht immer alle miteinander auftreten und von denen eines der Agrammatismus ist. Die Broca-Aphasie kann also nicht eine syntaktische Störung sein, wie Fanselow/Felix behaupten. Die Gleichsetzung der BrocaAphasie mit dem Agrammatismus ist nicht gerechtfertigt. Agrammatismus und BrocaAphasie können durchaus dissoziiert auftreten (Miceli/Mazzuchi/Menn/Goodglass, 1983; Kolk/van Grunsven/Keyser, 1985). (Inwieweit der Agrammatismus selbst ein Syndrom ist, s. unten.) Wenn auch gelehrt wird, daß eine gewisse statistische Korrelation zwischen dem Ort der Lasion und dem daraus resultierenden aphasischen Syndrom besteht (cf. Huber/Poeck/

Autonomie - Hypothese

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Weniger, 1989), so zeigt De Bleser (1988) doch deutlich, daß diese lokalisatorischen Annahmen sehr problematisch sind. Unter anderem werden sieben "klare" Broca-Aphasiker in bezug auf ihre Läsionen untersucht. Die Ergebnisse sind deutlich: Zum einen haben BrocaPatienten Läsionen, die bei anderen Patienten zu ganz anderen Störungsbildern führen, zum anderen zeigen drei Patienten nur Läsionen im post-rolandischen Bereich. Zusammenfassend schreibt De Bleser (1988: 181f.): "For Broca's aphasics, there is no lesion correlation whatsoever" bzw.: "In some cases, as for Broca's aphasia, the exceptions were as frequent as the expected rule". Weiters steht einer genauen Lokalisation eines Symtoms (Agrammatismus) eines Syndroms (Broca-Aphasie) auch entgegen, daß Broca-Aphasien (deren zugrundeliegende Läsionen der Lehrmeinung im groben entsprechen) üblicherweise durch relativ große Läsionen verursacht sind, die das Broca-Gebiet, frontales und parietales Operkulum, die Insel und die damit verbundene weiße Masse und manchmal sogar Teile der Temporallappen umfassen (Mohr/Pessin/Finkelstein/Funkenstein/Duncan/Davis, 1978). Schließlich gilt es auch zu bedenken, daß sich aphasische Syndrome eher an der Gefäßanatomie orientieren denn an der Windungsanatomie (Poeck, 1983). Was den Agrammatismus betrifft, so können Vanier/Caplan (1990) anhand einer vergleichenden Computer-Tomographie-Studie von Agrammatikern zeigen, daß Agrammatismus (in mehr als einem Dutzend Sprachen) zwar oft auf Läsionen des Frontallappens beruht, daß aber ebenfalls Läsionen im perisylvischen Cortex (einschließlich der Insel) und Läsionen, die den frontalen Cortex im Gesamten verschonen, zu agrammatischer Sprachproduktion führen. (Interessanterweise lagen die allen Patienten gemeinsamen Läsionen in der Insel und im Fasciculus arcuatus.) Die Studien zur Lokalisation der Broca-Aphasie bzw. des Agrammatismus illustrieren deutlich die allgemeinen Argumente. Es sollte klar sein, daß eine direkte Lokalisation von formal-syntaktischer Sprachverarbeitung bzw. Kompetenz in die Broca-Region bzw. nahe liegende cortikale Gebiete, wie Fanselow/Felix es darstellen, vom neurologischen Standpunkt aus nicht vertretbar ist.

2.2. Agrammatismus Wenn wir uns jetzt dem Agrammatismus als linguistischem Phänomen zuwenden und annehmen, daß Fanselow/Felix die enger definierte Erscheinung des Agrammatismus meinen, wenn sie Broca-Aphasie schreiben, so ergeben sich auch für die Annahmen, daß Agrammatismus (i) ein rein syntaktisches Defizit und (ii) eine zentrale, d.h. von modalitäts- und aufgabenspezifischen Faktoren unabhängige Störung sei, schwerwiegende Probleme. Als erstes ist anzuführen, daß es keineswegs geklärt ist, auf welcher linguistischen Beschreibungs- oder Verarbeitungsebene das agrammatische Defizit primär angesiedelt werden soll: auf der rein syntaktischen (z.B. Grodzinsky, 1984), auf der morpho-syntaktischen (Stark/Dressler, 1990), auf der lexikalischen (Friederici, 1985; Bates/Wulfeck, 1989a,b) oder auf der semantischen Ebene (cf. Goodglass/Menn, 1985: 14 f.). Überhaupt gewinnt die

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Vorstellung an Boden, daß es sich beim Agrammatismus um ein Defizit handelt, das nicht nur eine Ebene, sondern mehrere Ebenen betrifft (Stark/Dressler, 1990; Miceli/Mazzucchi/Menn/ Goodglass, 1983; Caramazza/Bemdt, 1985; Ahlsen/Dravins, 1990; Menn 1989; Tesak, 1990). Die Annahme eines selektiven Ausfalls einer bestimmten Representations- oder Verarbeitungsebne wird modifiziert werden müssen. Agrammatisches Sprachverhalten ist ein komplexes Phänomen, das selbst eher Syndrom- als Symptomstatus hat. Dies zeigt sich darin, daß Agrammatismus nicht auf eine fixierte Zahl von Merkmalen reduzierbar ist, sondern eine Art fuzzy set darstellt. Die Variabilität agrammatischer Daten, die daraus folgt, hat ihre Ursache im Zusammenwirken verschiedener Größen: individuelle Faktoren (z.B. Schweregrad), Zugehörigkeit zu einem Groß-Syndrom (z.B. Broca-Aphasie), einzelsprachspezifische Faktoren, Auftreten von Strategien bzw. Kompensationsmechanismen, allgemein aphasischen Defiziten (z.B. Wortfindungsstörungen), zusätzliche Symptome (z.B. Dyslexie) (cf. Tesak, im Druck). Im weiteren ist die Annahme, daß es sich bei Agrammatismus um eine zentrale syntaktische Störung speziell bei Broca-Aphsie handelt, durch die folgenden Befunde stark in Frage gestellt.2 "Asyntaktisches" bzw. "agrammatisches" Verständnis tritt auch bei nicht-agrammatischen Leitungsaphasikern (Caramazza/Berndt/Basili/Koller, 1981; Heilmann/Scholes, 1976) und bei leichten Fällen von Wernicke-Aphasie auf (Schwartz/Linebarger/Saffran, 1985); Blumstein/Goodglass/Statlender/Biber, 1983). Andere Studien zeigen ebenfalls, daß "agrammatische" Symptome im Sprachverständnis nicht notwendigerweise mit Agrammatismus in der Spontansprache gekoppelt sind (Caplan, 1985; Smith/Bates, 1987; Bates/Friederici/Wulfeck, 1987; Caplan/Baker/Dehaut 1985; Goodglass, 1968; Kolk/Friederici, 1985; Heeschen, 1985). Caplan/Hildebrandt (1988) meinen aufgrund einer ausfuhrlichen Studie an unausgelesenen Aphasikern, daß es sich beim syntaktischen Defizit im Verständnis, wenn es bei Agrammatikem auftritt, in den meisten, wenn nicht allen Fällen, um eine allgemein aphasische Erscheinung handelt. Schließlich gibt es noch einzelne Fallstudien (Kolk/van Grunsven/Keyser, 1985 Miceli/Mazzucchi/Menn/Goodglass, 1983; Nespoulous/Dordain/ Perron/Jarema/Chazal, 1990; Nespoulous/Dordain/Perron/Ska/Bub/Caplan/Mehler/Lecours, 1988; Caramazza/Hillis, 1989), die Agrammatiker aufzeigen, die gänzlich ohne begleitende Verständisprobleme sind.3 Der sogenannte rezeptive Agrammatismus ist also keineswegs auf Broca-Aphasiker (bzw. Sprecher mit Agrammatismus in der Spontansprache) beschränkt, noch sind Agrammatismus in expressiven und rezeptivem Leistungen notwendigerweise korreliert. Zusammen mit dem Befund, daß Agrammatismus in der Spontansprache das Ergebnis des Zusammenwirkens aus Individuum, grammatischer Struktur der jeweiligen Einzelsprache und Kompensation/Strategie ist, muß der Ausgangspunkt von Fanselow/Felix, daß es sich beim Agramma-

2

Ich beschränke mich auf die Diskussion von Sprachverständnis-Daten, obwohl die Gesamtdiskussion um die zentrale Störung auch andere, z.B. metalinguistische, Experimente einschließen muß.

3 Allerdings bleibt es zu bestimmen, ob die Tests nicht zu leicht waren, so daß ein möglicherweise vorhandenes Defizit nicht entdeckt wurde (cf. Tesak, 1988).

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tismus um einen selektiven, zentralen Ausfall formal-syntaktischer Kompetenz handelt, zurückgewiesen werden.4

3. Schlußbemerkung Wie deutlich geworden ist, ist eine genaue anatomische Lokalisation formal-grammatischer Kompetenz (zur Zeit) nicht möglich, wodurch auch die "externe" Evidenz aus dem Bereich der Aphasiologie für die Autonomie-Hypothese in bezug auf die Grammatik (Syntax) nicht mehr gegeben ist. Man muß allerdings schon bemerken, daß die Bemühungen, aphasische Defizite funktional zu lokalisieren, nämlich in bestimmten Modellen der Grammatik bzw. der Sprachverarbeitung, die ja ohne Bezug zur tatsächlichen Form und Funktion des Gehirns formuliert sind, gerade durch die generative Grammatik große Fortschritte machen (cf. Caplan, 1987; Caplan/Hildebrandt, 1988). Allerdings darf man Chomskys "mental organ"-Metapher nicht zu wörtlich nehmen.

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Peter Suchsland Ist die Grammatiktheorie noch zu retten? Ehe ich auf die Provokation eingehe, die in meiner Frage steckt, möchte ich Gisbert Fanselow dafür danken, daß er gleich eingangs in seinem Papier (Fanselow (1989a)) deutlich gemacht hat, daß die Frage nach den biologischen Bedingtheiten der natürlichen Sprache, die ja auch Manfred Bierwisch (in diesem Band) überzeugend dargestellt hat, nicht mit biologistischen Erklärungsversuchen "für komplexe menschliche Verhaltensmuster" zu tun hat, nichts mit Erklärungsversuchen, die sich "fast restfrei" in den "ideologischen Überbau" des Neokonservatisraus einordnen lassen (vgl. Fanselow 1989a). Die Frage nach den biologischen Bedingtheiten unseres impliziten sprachlichen Wissens ist vielmehr eine ganz legitime Frage, die sich zwangsläufig aus der Komplexität dieser Wissensstruktur ergibt und aus der in der Einführung zitierten Anmahnung, die Probleme der Lernbarkeit natürlicher Sprachen zu verfolgen und einer Lösung näherzubringen. In diesem Punkte stimme ich Gisbert Fanselow voll und ganz zu. Ich bin auch einverstanden mit der Vorsicht, die er walten läßt in Bezug auf das Verhältnis von abstrakten grammatischen Prinzipien und Relationen wie etwa dem Prinzip für leere Kategorien (ECP) oder der Relation der K-Herrschaft einerseits und deren biologischer bzw. genetisch-physiologischer Realität andererseits. Eine solche Vorsicht ist allein schon deshalb geboten, weil Prinzipien und Relationen dieser Art vielfältige Modifikationen nicht nur in ihren Formulierungen, sondern auch in den Annahmen über die Faktoren, die sie konstituieren oder durch die sie konstituiert werden, und auch in den Annahmen über die Domänen, auf die sich ihre Geltung erstreckt, erfahren haben und noch ständig erfahren. Auch Manfred Bierwisch (in diesem Band) hat das deutlich gemacht. Für problematisch halte ich es jedoch, wenn wir das Konzept der Parameterfixierung zu den Reifikationsirrtümern rechnen (oder wenigstens in deren Nähe rücken) und zu den wissenschaftshistorischen Akten legen sollen oder wollen. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, daß Spracherwerb als Festlegung von einzelsprachlichen Parametern zu beschreiben ist - wahrscheinlich auf der Grundlage der Reifung von Prinzipien, wie Sascha W. Felix sie (in diesem Band) beschrieben hat. Natürlich muß es als offene Frage gelten, welche hirnphysiologische Realität hinter dem sukzessiven Auftreten von universellen Prinzipien und hinter der sukzessiven Ausfüllung der Variablen durch einzelsprachliche Konstanten (oder Konstantenalternationen) steckt. Ich glaube, daß wir das Konzept der Parameterunterscheidung und das der Parameterfixierung weiterhin brauchen für die Bestimmung des Verhältnisses von Universalgrammatik und Einzelgrammatik oder anders: von Grammatikfähigkeit und Grammatikbesitz. Manfred Bierwisch (in diesem Band) hat das als seine Frage 2 formuliert. Die Annahme von Prinzipien und Parameter reflektiert doch gerade - vereinfacht gesagt - etwas vom Zusammenspiel des Biologischem und des Sozialem in der Sprache. Die Prinzipien sind das, womit uns die Natur ausgestattet hat; die Parameter (genauer: die Parameterwerte) sind das, was uns die Interaktion mit der Gesellschaft einbringt, in der wir auch unsere sprachliche Sozialisation erfahren. Am Rande bemerkt: Für die Erklärung des Sprachwandels reicht meines Erachtens

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das Konzept der Parameterfixierung nicht aus. Hier müssen wir auch mit Parametermodifizierung rechnen - Überlegungen, die meines Wissens in der neueren generativen Theorie zu kurz kommen. Die gelegentlichen Hinweise von Chomsky (vgl. Chomsky 21982) nützen da relativ wenig. Manfred Bierwisch hat mit Recht von der notwendigen Analyse dessen gesprochen, was er die Plastizität der Parameter nennt. Im weiteren hat Gisbert Fanselow (in diesem Band) - ebenso wie Manfred Bierwisch (in diesem Band) - auf Entwicklungen innerhalb der Grammatiktheorie verwiesen, auch in Anspielung auf Chomsky (1988) und auf Überlegungen einer Reihe anderer Autoren, auf Entwicklungen, die mich zu meiner provokativen Frage veranlaßt haben. Denkt man diese Entwicklungen zu Ende, dann führen sie - so scheint mir - zu einer Art Selbstauflösung der Grammatiktheorie. Damit ist eine ziemlich paradoxe Situation eingetreten. Die Grammatiktheorie generativer Prägung, die sich hierzulande und auch andernorts hartnäckig gegen eine ihr von außen prophezeite und vielleicht auch tatsächlich drohende Auflösung oder Ablösung durch eine funktional-kommunikativ orientierte Betrachtung wehren mußte und auch mit einigem Erfolg gewehrt hat, läuft nunmehr Gefahr, in einer kognitiv-psychologischen Anschauung der Sprache zu verschwinden. Dies ist eine durchaus unbefriedigende Situation. In der zentralen These von Fanselow (1989a) nimmt sich das so aus, "daß gerade nicht die funktionalistische Kritik, sondern die Entwicklung der generativen Syntaxtheorie selbst die Autonomiethese in ihrem Kern angreift" (S. 3), eine These, die er durch drei aktuelle Entwicklungen illustriert, nämlich durch: (a) die Reduzierung der Erklärungsbereiche der Universalgrammatik; (b) die Vereinheitlichung lokaler Domänen; (c) die Vereinheitlichung des Prinzipieninventars. Diese These ist nun zwar in der Tat eine diabolische These. Aber nicht immer ist - bedauerlicherweise - das Teuflische das Unwahre. Ich frage also mit großen Bedenken, weil ich glaube, daß nicht nur die These von der (relativen) Autonomie der Syntax oder der Grammatik in Gefahr ist: Wenn wir genötigt wären, die Autonomie-Hypothese aufzugeben, was wird dann aus unserer Wissenschaftsdisziplin? Was können wir noch zu Analyse der Struktur natürlicher Sprachen, ihrer internen oder I-Grammatiken beitragen, wenn wir nur nach globalen Bedingungen suchen, die für alle möglichen Bereiche kognitiven menschlichen Verhaltens gelten sollen? Nun kann man natürlich mit solchen vielleicht etwas altväterlichen Bedenken die Wissenschaftsentwicklung nicht aufhalten, wenn sie "on the right track" ist, wie Chomsky gelegentlich zu sagen pflegt. Die Frage ist aber dann eher, ob die Spur, in der wir fahren, wirklich die einzig richtige ist. Ich möchte Fanselows These deshalb durch eine weitere ergänzen, nämlich durch die, daß mit der eingeschlagenen Richtung, die er treffend charakterisiert hat, der Gegenstandsbereich der Grammatiktheorie erheblich eingeschränkt wird - dies ist vielleicht die Vorstufe zu ihrer Selbstaufgabe. Der Bereich der unter die Betrachtung fallenden Phänomene schrumpft, der Bereich der jenseits der Untersuchungen bleibenden Erscheinungen wächst. Deskriptive Adäquatheit bei der Analyse grammatischer Strukturen oder gar bei der Modellierung einer IGrammatik ist kein wissenschaftsstrategisches Ideal mehr; explizite Modellierungen von einzelsprachlichen Grammatiken werden allenfalls - nicht ohne einen Anflug von Überheblich-

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keit - abgetan "as a matter of execution". Das möchte ich als das Chomsky'sche Dilemma bezeichnen - die Spannung zwischen deskriptiver und explantiver Adäquatheit ist von Chomsky selbst als Dilemma bezeichnet worden (vgl. Chomsky 1986,55 ff.) Meine These, so hat es den Anschein, konvergiert mit Gisbert Fanselows Charakterisierung, daß wir zwar einerseits mehr über bestimmte Bereiche wissen, daß sich aber gleichzeitig "die Menge der Konstruktionsklassen, die generativ zu erklären sind, verringert" hat (Fanselow 1989a), wobei unter generativer Erklärung sicher syntaktische Erklärung zu verstehen ist. Ich halte diese Darstellung von Fanselow für eine richtige Beschreibung eines nicht nur wünschenswerten Zustandes oder besser Vorgangs. Schließlich sollte es uns Linguisten nicht allein um eine Handvoll oder noch weniger genereller universeller Prinzipien gehen, die sich am Ende nicht einmal als Prinzipien sui generis erweisen könnten, vgl. Fanselows Proper Inclusion Principle (PIP) (vgl. Fanselow 1989b), d.h., nicht nur darum, wieso Kinder überhaupt eine Grammatik lernen oder reifen lassen können (und es fragt sich, ob UG oder die allgemeinen kognitiven Dispositionen, auf die UG reduziert werden soll, wirklich nur aus Fanselows Prinzipiensystem (6) oder gar (7) bis (9) bestehen können). Es sollte uns Ungutsten auch nicht nur darum zu tun sein, wie als Ergebnis eines Lern- oder Reifungsprozesses solche Prinzipien einschließlich des "Restes von REST" in der deutschen, englischen, chinesischen Sprache parametrisiert sind. Wir Linguisten sollten uns, die Anfänge der generativen Theorie erinnernd, vielmehr auch darum kümmern, wie das sprachliche Wissen des native speaker's über die kleine Zahl parametrisierter Prinzipien hinaus organisiert ist, d.h. um eine explanativ und deskriptiv adäquate - natürlich formale - Theorie konkreter natürlicher Sprachen und ihrer mentalen Grammatiken. Ich halte auch dies für eine Aufgabe der GrammatikJfteorie und ich betrachte dies auch als eine legitime Beschäftigung für einen Germanisten, Anglisten, Sinologen. Daher stört mich Hubert Haiders Diktum: "Man kann deutscher Philologe sein, nicht aber deutscher Grammatiker. Philologie ist deskriptiv, Grammatiktheorie muß explanativ sein" (Haider 1986, 400). Haider erklärt, dies nicht als Weitung, sondern nur als methodologischen Unterschied verstanden wissen zu wollen. Gerade als methodologische Unterscheidung halte ich dieses Diktum für falsch: Erklären zu wollen ohne beschreiben zu müssen ist für mich ein ebenso dubioses Leitmotiv wie beschreiben zu wollen ohne erklären zu müssen: Ich beginne die Skepsis und die Warnungen der Vertreter der GPSG zu verstehen (vgl. Gazdar/Klein/Pullum/Sag 1985). Auf zwei Details bei Fanselow (1989a) und (in diesem Band) möchte ich noch zu sprechen kommen. Erstens: Im Zuge der Reduzierung des Erklärungsbereichs von UG plädiert Gisbert Fanselow für die Elimination von Prinzip B der Bindungstheorie (daß Pronominale in ihrer Rektions- oder in ihrer Bildungsdomäne nicht gebunden sein dürfen). Er führt dafür zwei Argumente an: (a) Prinzip B ist exzeptionellerweise als Verbot formuliert. (b) Prinzip B gerät in Konflikt mit empirischen Gegebenheiten, vgl. Fanselows Beispiel (2):

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(2) setzens' eana Argument (a) zeigt gewiß einen Schönheitsfehler in der Theorieformulierung, was aber natürlich auch für Prinzip C gilt. Bei Argument (b) sehe ich die Dinge etwas anders. Fanselows Beispiel (2) funktioniert ja nur dann als empirischer Widerspruch zur Formulierung von Prinzip B, wenn man eine strukturunabhängige kategoriale Klassifizierung von Anaphern und Pronomen voraussetzt. Gerade dies scheint mir aber problematisch. Man erinnere sich an das Phänomen der leeren Kategorien. Der kategoriale Wert leerer Elemente ist nicht strukturunabhängig definierbar. Meine Fragen an Gisbert Fanselow also: Warum sollte das Wort eana in (2) nicht, da es ein in einer Rektionsdomäne gebundenes lexikalisches Element ist, als Anapher kategorisiert werden dürfen? Müssen wir tatsachlich Prinzip B eliminieren, um die Wohlgeformtheit von (2) theoretisch konsistent zu fassen? Zweitens: Gisbert Fanselow skizziert die Entwicklung der Vereinheitlichung lokaler Domänen im Sinne von Koster, er verweist darauf, daß im Zuge dieser Entwicklung beispielsweise (nach Lenerz, Haider, den Besten) das Deutsche und das Englische unterschiedliche Darstellungen des Passivs erfahren müssen: Englisch mit Bewegung und mit Spur, Deutsch ohne Bewegung und ohne Spur. Diese Annahme hat nun aber eine sonderbare Konsequenz: Äquivalente Strukturen verschiedener (verwandter, vielleicht auch nichtverwandter) natürlicher Sprachen müssen unterschiedliche Beschreibungen und sogar unterschiedliche Erklärungen finden. Der Gewinn an Generalisierung auf der einen wird - so scheint mir - auf diese Weise durch einen Verlust an Generalisierung auf der anderen Seite verspielt. Ich sehe nicht, warum das Passiv im Deutschen anders beschrieben werden muß als im Englischen (daß es anders beschrieben werden kann, will ich nicht bestreiten. Ich komme auf meine Titelfrage nun abschließend zurück: Ist die Grammatiktheorie noch zu retten? Ich denke schon. Aber nicht allein durch ein Forschungsprogramm, das darauf abzielt (so Fanselow 1989a), "die Hauptlast einer universalgrammatischen Erklärung über Prinzipien zu formulieren, die nicht wesentlich oder ausschließlich linguistisch definierte Begriffe involvieren". Ich will nicht behaupten, daß dies als Forschungsprogramm per se nicht vertretbar sei. Ich bezweifle aber, daß das ein syntax- bzw. grammatiktheoretisches oder überhaupt noch ein linguistisches Forschungsprogramm ist. Ich glaube, daß die Grammatiktheorie zu retten ist, wenn sie ihre Suche nach tiefliegenden Prinzipien der universellen Sprachfähigkeit mit der Analyse der speziellen Sprachkompetenz verbindet, wenn sie Explanation und Deskription wieder zusammenführt, wenn sie - meinetwegen - wieder etwas philologischer würde.

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Fanselow, G., (1989a): Die Autonomie der Syntax. Überlegungen zu Biologie und Evolution der Grammatik (Vortragsskizze für das Symposium "Biologische und soziale Grundlagen der Sprache" Jena, Oktober 1989). Ms. Passau. Fanselow, G., (1989 b): Konkurrenzphinomene in der Syntax: eine nicht-pragmatische Reduktion der Prinzipien B und C der Bindungstheorie. In: Linguistische Berichte 125,385 - 414. Fanselow, G.: Zur biologischen Autonomie der Grammatik (in diesem Band). Felix, S.W.: Biologische Faktoren des Spracherweibs (in diesem Band). Haider, H., (1986): Deutsche Syntax - generativ. Parameter der deutschen Syntax. Habilitationsschrift. Universität Wien.

AUSKLANG

Anita Steube Anstatt eines Schlußwortes Eine Einschätzung des Symposiums "Biologische und soziale Grundlagen der Sprache" durch eine Person ist nicht angebracht. Sie muß den Teilnehmern ebenso überlassen werden wie sie dem einzelnen Leser des gedruckten Materials überlassen werden muß, weil sie - bedingt durch seine Zugehörigkeit zu einer Disziplin, sein favorisiertes methodologisches Herangehen oder durch den Grad seines vorhergehenden Befaßtseins mit dem Gegenstand - notwendig unterschiedlich ausfallen muß. Es kann also nur um einige zusammenfassende Bemerkungen und daraus abgeleitete Wünsche für den Fortgang der Arbeit zu diesem wichtigen Gegenstand gehen. Das Symposium wie die Publikation sind sehr dankenswerte Unternehmungen. Jeder, der Wissenschaft zu organisieren hat, weiß, daß interdisziplinäre Forschung viel schwerer zu machen ist als Forschung in einer Disziplin: Es genügt nicht, daß sich Wissenschaftler dem komplexen Objekt mit den Kategorien, Methoden und Zielstellungen ihrer Disziplin nähern, sie müssen auch wissen, was die Nachbardisziplinen an dem Objekt interessiert, wie sie es angehen und wie sie darüber reden. Die ausführliche Diskussion der einzelnen Beiträge auf dem Symposium hat gezeigt, daß diese Voraussetzungen von den Teilnehmern weitgehend erfüllt wurden. Das ermutigt dazu, eine zweite Stufe der Kooperation stärker ins Auge zu fassen, nämlich, gemeinsam interessierende Teilthemen auch von vornherein gemeinsam zu bearbeiten. Damit dazu nicht nur die Experten aus den Einzeldisziplinen in der Lage sind, muß auch die interdisziplinäre Ausbildung zum Objekt Sprache an den Hochschulen unseres Landes verbessert und ein breiteres interdisziplinäres Verständnis erreicht werden. Am letzten Tag, als über die Autonomie der Syntax und über die grammatischen Repräsentationen nachgedacht wurde, waren die Linguisten, "unter sich"; es erfordert schon tiefere Kenntnis grammatischer Theorien, um zu sehen, wie dieser Gegenstand mit dem Symposiumsthema zusammenhängt. Umgekehrt hätten sicher auch nur wenige Linguisten zu Gegenständen aus der engeren Sicht der Nachbardisziplinen mitreden können. Für die Gegenwart wäre es aber bereits ein schönes Ergebnis des Symposiums, wenn die eigenen Ergebnisse der Teilnehmer und Leser aus allen Disziplinen in gleichem Maße durch andere entweder bestätigt oder durch Infragestellung anderer befördert worden wären. Durch das Symposium zogen sich wie ein roter Faden die Argumente pro und contra eine Sprachentstehungs- und Lerntheorie, die zwischen der angeborenen Disposition "Sprachfähigkeit" und der durch Lernen in der Gesellschaft daraus spezifizierend ausgebauten "Beherrschung einer Sprache" unterscheidet. Das spiegelt die internationale Diskussion, ist aber auch den Teilnehmern und nicht zuletzt der erklärenden Kraft dieser Theorie selbst geschuldet oder, aus der Sicht ihrer Gegner gesehen, zumindest ihrer Herausforderung zur Auseinandersetzung. Peter Suchsland gebührt nicht nur der Dank, das Symposium und die Publikation organisiert, sondern auch den Meinungsstreit, für den in den drei Tagen erfreulich viel Zeit zur Verfügung stand, sachkundig und fair geleitet zu haben. Was weiter hervorzuheben ist und durch die Beiträge der Protagonisten ausgewiesen wird: Sie haben selbst auch ansehet-

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nend erfolgversprechende Hypothesen hinterfragt und frühere Ergebnisse aus interdisziplinärer Sicht relativiert, so daß Manfred Bierwisch von einer jetzt dritten Etappe der Entwicklung dieser Theorie sprechen kann. Was das Thema des Symposiums insgesamt angeht, wurde die Konjunktion "biologische und soziale Grundlagen der Sprache" von allen Sprechern als gültig angenommen. Die Gewichte sind jedoch anders verteilt, wenn es um Sprachentstehung geht - und innerhalb dieses Teilgebietes können die einzelnen Theorien noch einmal die Akzente unterschiedlich setzen -, als wenn es um Sprachentwicklung geht. Die "Grundlagen der Sprache" aufzudecken, das ist eine nur durch wissenschaftliche Hypothesen auf der Grundlage der jeweils fortgeschrittensten Erkenntnisse einer Reihe kooperierender Wissenschaften zu bewältigende Aufgabe. Es war höchste Zeit, auch hierzulande in größerem Kreis und in internationaler Besetzung darüber nachzudenken. Den Band begleitet der Wunsch, daß er weiteres Nachdenken in interdisziplinärer Kooperation fördern möge.