Bindungstheorie in der Psychiatrie 9783666462313, 352546231X, 9783525462317

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Bindungstheorie in der Psychiatrie
 9783666462313, 352546231X, 9783525462317

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Martin Urban /Hans-Peter Hartmann (Hg.)

Bindungstheorie in der Psychiatrie Mit 5 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 3-525-46231-X © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Schrift: Minion Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I · Grundlegendes _____________________________

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Hans-Peter Hartmann Die Bindungstheorie – wiederentdeckt: Umdenken in der Psychiatrie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anna Buchheim Methoden der Erwachsenen-Bindungsforschung und Ergebnisse zu Bindung und Psychopathologie: Implikationen für die Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diether Höger Die psychotherapeutische Beziehung im Lichte der Bindungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil II · Psychiatrische Arbeitsfelder __________________

55

Ronald Hofmann Implikationen der Bindungstheorie für die Diagnostik und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit einer sich entwickelnden Borderline-Persönlichkeitsorganisation zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe . . . . . . . .

57

6

Inhalt

Martin Urban Erwachsenen-Psychiatrie: Chance nachholender Bindungsentwicklung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Andreas Schindler Bindung und Sucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerthild Stiens und Gabriela Stoppe Bindungsforschung in der Gerontopsychiatrie . . . . . . . . . . . . 107

Teil III · Weitere Perspektiven _______________________ 123 Joachim Glaubrecht Meine Rezeption der Bindungstheorie. Eine Reflexion aus der Sicht eigener Erfahrungen und Erkenntnisse . . . . . . . 125 Markus Preiter Bindung, Evolution und Psychopathologie – evolutionäre Aspekte der Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . 129 Martin Urban Bindung – eine Grunddimension menschlicher Existenz . . . . 142 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Einleitung

»Die Bindungstheorie – wiederentdeckt: Umdenken in der Psychiatrie?« – dies war der Titel eines Symposiums, das am 9. Mai 2003 im Rahmen des achten FORUM REHABILITATION in Hamburg gehalten wurde. Das Thema drängte sich uns, den Autoren, auf. Die Bindungstheorie wurde in den fünfziger und sechziger Jahren von dem englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby (1907– 1990) entwickelt. Sie hat wohl von Anfang an viel Beachtung gefunden, aber ihre wissenschaftliche Nachwirkung beschränkte sich bis vor einigen Jahren im Wesentlichen auf die Kinderpsychologie. Ihre generelle Bedeutung für die Psychologie des erwachsenen Menschen, für die Klinische Psychologie und Psychotherapie, blieb über vier Jahrzehnte gleichsam ein verborgener Schatz. Man kann wohl sagen, dass dies vor allem einem bis dahin – oder bis heute – ungelösten Streit mit der psychoanalytischen Schule zuzuschreiben ist, der diese neue Lehre zu behavioristisch, ja biologistisch erschien. P. Fonagy1 hat diesen Streit nachgezeichnet und Ansätze zu seiner Überwindung zu bieten versucht. Seit Mitte der neunziger Jahre hat nun eine Welle der Wiederentdeckung die Bindungstheorie unversehens ins Zentrum des Interesses im gesamten Feld der Psychologie und Psychotherapie gerückt; eine wahre Flut von Publikationen und Tagungen beschäftigt sich seitdem mit dem Thema. In Deutschland bemüht sich namentlich die Forschungsgruppe um H. Kächele an der Universität Ulm um die Rezeption der Bindungstheorie in die Theorie und Praxis der Erwachsenenpsychotherapie und um den Nachweis 1 Fonagy, P. (2001): Attachment Theory and Psychoanalysis. New York (dt.: Bindungstheorie und Psychoanalyse. Stuttgart, 2003).

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Einleitung

der Gültigkeit ihrer Konzepte auch für den erwachsenen Menschen durch systematische empirische Forschung. Anna Buchheim gibt in ihrem Beitrag einen Überblick über diese Forschungen. Soweit wir sehen, hat aber noch niemand den Versuch unternommen, die Bedeutung dieser Theorie für den Bereich der Psychiatrie umfassend zu beleuchten. Dabei erscheint dies von besonderer Relevanz: Wenn es tatsächlich so ist, dass die unterschiedlichen Bindungserfahrungen des Menschen in seiner Kindheit nicht nur sein späteres Bindungsverhalten nachhaltig prägen, sondern auch einen entscheidenden Risikofaktor für psychische Erkrankungen darstellen, muss dies auch für die Behandlung der schwereren psychischen Störungsbilder, mit denen wir es im Feld der Psychiatrie zu tun haben, von zentraler Bedeutung sein. Dies gilt nicht nur für die Gestaltung der therapeutischen Beziehung des Einzelnen – dieser Aspekt wird von Diether Höger dargestellt –, sondern auch für das gesamte Behandlungssetting in der Psychiatrie. Anders gesagt: Wenn psychisch kranke Menschen wesentlich an einem Mangel an verlässlichen Bindungserfahrungen leiden, wie müssten dann das Milieu der Einrichtungen, die Grundeinstellungen der Mitarbeiter und die Behandlungsstrategien organisiert sein, um jenen frühen Erfahrungen heilsam entgegenzuwirken? Könnte es nicht sein, dass im Licht dieser Theorie manche Elemente des klassisch-psychiatrischen Settings fragwürdig erscheinen, dagegen andere Aspekte eine neue Wertigkeit erfahren, die bisher zu kurz kamen oder nahezu unberücksichtigt blieben? Damit ist ein Themenkreis umrissen, der in einem ersten Durchgang sicher nur unvollständig dargestellt werden konnte. Aber dies schien uns der Mühe wert zu sein – in der Hoffnung, dass dadurch eine weitere Diskussion, vielleicht sogar ein radikaleres »Umdenken« in Gang gesetzt wird.

■ Zum Aufbau des Buchs Hans-Peter Hartmann setzt sich als ärztlicher Leiter eines psychiatrischen Krankenhauses seit langem mit der Bindungstheorie für die Psychiatrie auseinander, und in seinem Beitrag stellt er die Be-

Einleitung

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deutung des Themas dar. Die erwähnten Beiträge von Anna Buchheim und Diether Höger runden den Abschnitt »Grundlegendes« ab. Daran anschließend haben wir gewissermaßen die einzelnen Bereiche psychiatrischen Handelns durchbuchstabiert, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ronald Hofmann referiert über die Kinder- und Jugendpsychiatrie und deren Überschneidungsbereich mit der Jugendhilfe. Er hatte den Auftrag, im Land Sachsen eine Alternative zu den ehemaligen geschlossenen Jugendheimen zu schaffen; sein neues Modell leitete er im Wesentlichen von der Bindungstheorie ab. Für die Erwachsenenpsychiatrie berichtet Martin Urban über seine Erfahrungen im Betreuten Wohnen. In einer Pilotstudie untersuchte er, ob sich so etwas wie eine »nachholende Bindungsentwicklung« erreichen und nachweisen lässt. Es werden Konsequenzen für die übrigen Bereiche der Erwachsenenpsychiatrie gezogen. Andreas Schindler ist im Suchtbereich tätig und versucht in seinem Beitrag, der unmittelbar einleuchtenden Beziehung zwischen Sucht und Bindung nachzugehen; er legt auch erste eigene Forschungsergebnisse vor. Gabriela Stoppe und ihre Mitarbeiterin, Gerthild Stiens, haben sich in einer Göttinger Arbeitsgruppe mit der Bedeutung des Bindungsthemas für die Gerontopsychiatrie, speziell für den Umgang mit dementen alten Menschen, befasst. Sie stellen die Konsequenzen dieses Ansatzes vor allem für pflegende Angehörige, in erweiterter Perspektive auch für professionelles Pflegepersonal vor. Es folgen drei recht unterschiedliche Kapitel zu »Weiteren Perspektiven«: Joachim Glaubrecht vom Vorstand des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e. V. hat als geladener Gast an dem Symposium teilgenommen. Er ist Pädagoge, promovierte mit einem psychologischen Thema, hat später selbst Psychosen erlebt und sich intensiv mit diesen Erfahrungen auseinander gesetzt auf dem Hintergrund unterschiedlicher Theorien, vor allem aus dem Bereich der Psychoanalyse. Für ihn war die Bindungstheorie Neuland. Er gibt in seinem Beitrag ein persönliches Feedback, was die Begegnung mit dieser Theorie für ihn bedeutete. Markus Preiter bietet in seinem Beitrag eine »Rückschau« der besonderen Art. Er hat sich seit langem mit der Entwicklungsgeschichte der Menschheit befasst und versucht, die Rolle des Bin-

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Einleitung

dungsverhaltens in ihrer arterhaltenden Funktion zu beschreiben. Jenseits von psychiatriepolitischen Tagesfragen bieten sich aus dieser Perspektive Ausblicke von überraschender Aktualität. Martin Urban unternimmt zum Schluss den Versuch einer Standortbestimmung und Ausschau: »Bindung – eine Grunddimension menschlicher Existenz«. Hier geht es um die Auswirkungen dieser neuen Perspektive auf unser Menschenbild und gesellschaftliches Leben. Abschließend gilt es zu danken. Zunächst allen Mitwirkenden am Symposium sowie denen, die seine Durchführung ermöglichten: den Organisatoren des FORUM REHABILITATION, namentlich Herrn Prof. Dr. med. Michael Sadre Chirazi-Stark sowie Herrn Matthias Rieger und Frau Christel Kuchenbuch vom Congress Centrum Hamburg. Die offene, kommunikationsfreudige Atmosphäre dieses Kongresses bot den passenden Hintergrund für unsere Veranstaltung, die letztendlich aus den Diskussionen seines Planungsgremiums hervorgegangen ist. Danken möchten wir ferner dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der unseren Plan zur Veröffentlichung der Symposiumsbeiträge von Anfang an unterstützt und uns dazu ermutigt hat. Widmen möchten wir das Buch schließlich jenen, denen unsere tägliche Arbeit seit langem gilt: den Menschen, die an psychischen Störungen unterschiedlichster Art leiden. Für sie selbst und für die, die sich für sie engagieren, hoffen wir, dass diese Beiträge und die Beschäftigung mit dem Thema Bindung ihnen neue Einsichten und – vielleicht nach mancher selbstkritischen Reflexion – neue Impulse und Ermutigung vermitteln.

■ Teil I · Grundlegendes

■ Hans-Peter Hartmann Die Bindungstheorie – wiederentdeckt: Umdenken in der Psychiatrie?

Wir leben in einer Zeit der Betonung individueller Verwirklichung zuungunsten von Beziehungen, der Flexibilisierung menschlicher Produktivität ohne Rücksicht auf familiäre und freundschaftliche Beziehungen (Sennett 1998), dem Verschwinden der Kindheit und Vergangenheit (Dornes 1999), als ob alles ohne Rücksicht auf die eigene Geschichte machbar wäre. Diesem Trend kommt der medizinische Fortschritt entgegen, der eigentlich kein Fortschritt der Medizin, sondern ein technischer Fortschritt durch Anwendung neuer Erkenntnisse aus den Grundlagenwissenschaften wie zum Beispiel der Molekularbiologie, Physik, Physiologie, Biochemie und Genetik ist. Ein Machbarkeitswahn ergreift viele und Vieles und trägt dazu bei, dass eine Schieflage zwischen anthropologischen Grundbedürfnissen des Menschen und Verwertbarkeitsinteressen entsteht.

■ Die Kontinuität von Bindungsbeziehungen – Grundvoraussetzung menschlicher Existenz Bezogen auf die Psychiatrie zeigt sich auch da eine Enthistorisierung und vielerorts auch eine geringschätzige Einstellung zur Kontinuität von Beziehungen, als seien diese ohne Konsequenz beliebig austauschbar. Es wird sogar damit argumentiert, wer viele Beziehungsabbrüche erlebt habe, müsse eben trainieren, damit fertig zu werden, und dies gelänge am besten, wenn immer wieder neue Beziehungsabbrüche erlebt und überlebt würden. Diese Haltung ignoriert, dass gerade psychisch Kranke, mit de-

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Teil I · Grundlegendes

nen wir in unseren Kliniken konfrontiert sind, eine Lebensgeschichte voller Trennungen, Verluste und Beziehungsabbrüche hinter sich haben, die sich dann während der stationären Behandlung, aber auch darüber hinaus, fortsetzt, und gegen deren Auswirkungen man sich keineswegs durch Trennungstraining schützen kann, so wie man Ausdauer trainiert (Agid et al. 1999). Vielmehr zeigt sich bereits in einer solchen Auffassung eine typische Einstellung gegenüber der Wichtigkeit von Bindungen und damit ein bestimmtes Bindungsmuster selbst, wahrscheinlich ein unsicher-vermeidendes. Ein solches Bindungsmuster ist unter Psychotherapeuten relativ häufig anzutreffen (Nord et al. 2000) und vermutlich nicht weniger bei in der Psychiatrie Tätigen verbreitet. Diese Abweisung von Bindungsbedürfnissen wird auch institutionell begünstigt: Häufig ist, bei rückläufiger Erfüllung der PsychiatriePersonalverordnung, zu wenig Zeit für die Patienten da. Bezugspersonen wechseln schnell, und im Verlauf der Behandlung von ambulant nach stationär und zurück müssen ständig neue Beziehungen eingegangen werden, anstatt eine kontinuierliche Behandlung zu ermöglichen. Immer noch gibt es geschlossene Aufnahmestationen, in denen akut Erkrankte so lange verbleiben, bis sie auf offenen Stationen weiter behandelt werden können. Gerade geknüpfte Beziehungen werden dabei abgebrochen und müssen neu eingegangen werden. Dies ist aus den erwähnten Gründen bei unseren Patienten absolut kontraindiziert und fördert eine Chronifizierung der Bindungsvermeidung. Man kann sich auch fragen, inwieweit psychiatrische Institutionen die häufigen Missbrauchsund Vernachlässigungserfahrungen der Patienten zumindest partiell wiederholen, so durch übermäßige Reglementierung, unberechtigte Gewaltreaktionen und institutionell begründete Vernachlässigung durch personelle Engpässe.

■ Bindung als Voraussetzung von Empathie Die Bedeutung oder Nichtbedeutung von Bindung in der Psychiatrie zeigt sich jedoch noch in anderer Hinsicht. Um sichere Bindungen zu entwickeln und einhergehend mit der Entwicklung

H.-P. Hartmann · Die Bindungstheorie – wiederentdeckt

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sicherer Bindungen werden entwicklungspsychologisch die Grundlagen für Empathie erworben (Bischoff-Köhler 2000). Damit eine größere Bindungssicherheit in der Beziehung zwischen uns und unseren Patienten entsteht, sind wir also in erster Linie gefordert, uns auf sie empathisch einzustellen. Um dies wirklich zu können, benötigen wir viel Unterstützung im Behandlungsteam und auch durch unsere Familien und Freunde. Diese Unterstützung ist für unsere Stabilität notwendig, denn wir gehen bei einer an Empathie orientierten Arbeitsweise auch ein hohes Risiko für die eigene seelische Stabilität ein. Anonymität, Abstinenz und Neutralität sind genau wegen dieser Bedrohungen so bedeutungsvolle psychotherapeutische und psychoanalytische Konzepte geworden. Die oft Empathie vermeidende, distanzierende psychiatrische Umgangsweise mit Patienten hat sich wahrscheinlich wegen dieser persönlichen Bedrohung vielerorts durchgesetzt und wird mit angeblich gebotener Rücksicht gegenüber empfindlichen Patienten rationalisiert. Die Unterstützung durch Team, Freunde und Familie, das heißt ein relativ verlässliches Selbstobjekt-Milieu mit der erhofften Folge eines stabilen eigenen Selbst, ist Voraussetzung für die existenzielle Begegnung mit dem Patienten, mit den Tiefen seines Schmerzes, seinen Ängsten und seiner Desorganisation, und schafft die nötigen Ressourcen, um die eigene Organisation aufrechtzuerhalten. Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, dann sind auch die Chancen für eine nachholende Bindungsentwicklung über konstante, langfristige Beziehungen, wie im betreuten Wohnen, groß.

■ Bindung und seelische Gesundheit Über die Bedeutung der Bindungstheorie für die Psychiatrie wurde bis Anfang der neunziger Jahre kaum gesprochen. Die Bindungstheorie hat Bedeutung im Hinblick auf: – das Verständnis der Genese psychischer Erkrankungen, – den therapeutischen Umgang und – prophylaktische Maßnahmen einschließlich der Psychiatrieund Gesundheitspolitik.

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Teil I · Grundlegendes

Ich greife zur Erläuterung der Bedeutung von Bindung auf eine Analogie von Holmes (2001) zurück, der das Bindungssystem als psychologisches Immunsystem bezeichnet (»äußerer Ring« nach Bowlby). Dieses Immunsystem wird über Affekte aktiviert, woraus nochmals die Bedeutung der Bindung für die Affektregulation deutlich wird. So wie unser körperliches Immunsystem auf allergische Reize reagiert, oder gar im Fall von Autoimmunerkrankungen diese Reaktionen gegen sich selbst richtet, so kann auch das psychische Immunsystem allergisch oder gegen sich selbst gerichtet reagieren. Dies geschieht besonders auf der Basis schwacher und unsicherer oder nicht organisierter Bindungsbeziehungen. Bei einem intakten körperlichen Immunsystem werden zum Beispiel kanzerogen veränderte Zellen durch natürliche Killerzellen vernichtet. Psychologisch ist eine sichere Bindung die beste Voraussetzung, dass sich ein negatives Selbstbild nicht einnisten und keine Intrusion unerwünschter Gedanken stattfinden kann, vielmehr solche schädlichen Phänomene durch die vorhandene Bindungssicherheit wirksam zurückgewiesen werden. So wie manchmal im Körper überhaupt jegliche Immunreaktion fehlt, so finden wir bei manchen Borderline-Patienten eine fehlende psychologische Abwehrreaktion, welche sich in der Unfähigkeit zeigt, sich vor emotionalem und sexuellem Missbrauch zu schützen. Voraussetzung körperlicher Immunreaktionen ist die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen körpereigenem und fremdem Gewebe. Analog ist die Differenz Selbst/Anderer wesentlich für die Entwicklung angemessener Bindungsstrategien. Eine fehlende oder ungenügende Differenzierung von Selbst und Anderem ist eine der Grundlagen schwerer psychiatrischer Erkrankungen. Während Immunreaktionen körperlich beispielsweise über Immunisierung aktiviert werden, findet analog psychotherapeutisch über das Zur-Verfügung-Stellen einer sicheren Basis durch die Bezugsperson eine Art passive Immunisierung statt. Entscheidendes Ziel ist, die narrative Kompetenz, das heißt die Fähigkeit, die eigene Lebensgeschichte kohärent erzählen zu können, entsprechend zur immunologischen Kompetenz zu erhöhen. Es geht darum, sich selbst besser kennen lernen, von anderen unterscheiden und die selbstreflexive Funktion des Gebrauchs von Repräsentationen als Schlüssel zum psychischen Überleben nutzen zu können. Und

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es geht seitens der Bezugspersonen der frühen Kindheit wie auch der Therapeuten um die Fähigkeit, sich in andere einfühlen und sie als abgegrenzte Subjekte mit ihren eigenen Gefühlen wahrnehmen zu können. Grundlage dieses einfühlenden Verstehens ist, dass wir zumindest in einem gewissen Umfang in der Lage sein müssen, aufgrund eigener Erfahrung die Perspektive des anderen übernehmen zu können. Zur Verbesserung genau dieser Fähigkeit, also der Erweiterung unserer Empathie, und nicht nur, um sich und die Patienten vor sich selbst zu schützen, dient dann auch die therapeutische Selbsterfahrung des Therapeuten.

■ Bindungstheorie und die Genese psychiatrischer Erkrankungen Die Genese und der Verlauf psychiatrischer Erkrankungen sind komplex und schwierig zu erklären. Gegenwärtig spielen in Deutschland und in vielen anderen Ländern biologische und neurobiologische Erklärungen für diese Erkrankungen die Hauptrolle. Ohne den Beitrag dieser Forschungsansätze klein reden zu wollen, werden bei ihnen dennoch wichtige Entwicklungs-, Bindungs- und soziale Aspekte außer Acht gelassen. Dabei wissen wir heute, dass fehlende soziale Unterstützung von wichtigen Bezugspersonen einen entscheidenden Risikofaktor zum Beispiel für das Entstehen schwerer Depressionen im Erwachsenenalter darstellt. Zunehmend sind in den letzten zehn Jahren überzeugende Nachweise für den Zusammenhang unsicherer und desorganisierter Bindungsstrategien als Risikofaktoren für die verschiedensten späteren psychopathologischen Auffälligkeiten erbracht worden. Und schließlich wissen wir heute bei aller Berechtigung genetischer Krankheitsursachen, dass die Genexpression in erheblichem Maß umweltabhängig ist. So wurde im Tierversuch (Francis et al. 2003) gezeigt, dass genetisch identische Mäuse, die prä- und postnatal in unterschiedlicher Umgebung aufwuchsen, sich als erwachsene Tiere erheblich in ihrer Reaktion auf Stress und ihrer Lernfähigkeit unterschieden. Auf dem Hintergrund solcher Forschungen erhält die Beziehungserfahrung eines Säuglings nochmals einen anderen Stellenwert.

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Teil I · Grundlegendes

■ Methoden und Ergebnisse der Bindungsforschung Wesentliche Methoden der Bindungsforschung stellen der Fremde-Situations-Test (FST) und das Erwachsenen-Bindungs-Interview (Adult Attachment Interview, AAI) dar. Der von Mary Ainsworth (Ainsworth et al. 1978) entwickelte Verhaltensbeobachtungstest in der »fremden Situation« (»strange situation«) besteht aus acht Episoden von je drei Minuten, in denen durch zweimalige Trennung von der Mutter und ihre Rückkehr beim Kind ein zunehmender Stress entsteht und dadurch das Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird: Das Kind sucht aufgrund eines angeborenen Mechanismus normalerweise Schutz und Zuflucht bei seiner Bezugsperson. Das konkrete Verhalten in den beiden Wiedervereinigungssituationen wird beobachtet und nach verschiedenen Kriterien beurteilt. Hierzu ist eine längere Schulung mit anschließender Überprüfung der eigenen Reliabilität nötig (mindestens 80% richtige Zuordnungen müssen getroffen werden). Das von Main und Goldwyn entwickelte Erwachsenen-Bindungs-Interview (1985–1996) ist ebenfalls eine sehr aufwendige Methode, die eine noch aufwendigere Schulung und Überprüfung der eigenen Reliabilität beinhaltet. Innerhalb eines ein- bis anderthalbstündigen Interviews werden mittels 18 Fragen die wesentlichen Erinnerungen der frühen Bindungsbeziehungen untersucht. Geprüft wird dabei auch der jeweilige Zugang zu für die Bindungsbeziehung relevanten Gedanken und Gefühlen sowie die subjektive Beurteilung des Einflusses der Bindungserfahrungen für die weitere Entwicklung. Die Tabellen 1 und 2 zeigen die nach beiden Methoden klassifizierten unterschiedlichen Bindungstypen.

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H.-P. Hartmann · Die Bindungstheorie – wiederentdeckt Tabelle 1: Kleinkindalter (Fremde-Situations-Test) sicher

unsicher-vermei- unsicher-ambidend valent

desorganisiert/ desorientiert

B

A

D

– emotionale – EmotionsausBetroffenheit druck wird offen geeingeschränkt zeigt – Vermeidung – Nähe suchen, von Nähe Kommunikati- – auf Exploration mit der Beon fokussiert zugsperson – wenn Mutter/ Vater zurück: rasche Beruhigung und Exploration

C

– emotional – bizarre Verhalstarke Betroftensweisen fenheit (Einfrieren al– Mixtur aus ler BewegunNähesuchen gen, Tranceund KontaktZustände) widerstand – widersprechen(ärgerlich) des Bindungs– Passivität, verhalten (Näkaum Explorahesuchen wird tion unterbrochen) – keine/kaum Beruhigung

Tabelle 2: Jugendliche und Erwachsene (Adult Attachment Interview) sicher-autonom

unsicherdistanziert

unsicherverwickelt

unverarbeitet/ traumatisiert

F: free to explore

Ds: dismissing

E: enmeshed

U: unresolved

– Lebensgeschichte wird kohärent geschildert und bewertet – Bindung wird wertgeschätzt

Inkohärente Schilderung der Lebensgeschichte durch: – Idealisierung – Erinnerungsmangel – Bindungsabwertung – Erfahrungen nur mangelhaft integriert

Inkohärente Schilderung der Lebensgeschichte durch: – irrelevante Details – widersprüchliche Bewertung (der Bindung) – Ärger über Bindungsperson – Diskurspassivität

Inkohärente Schilderung der Lebensgeschichte durch: – sprachliche Auffälligkeiten bei Schilderung traumatischer Erfahrungen (z. B. verstorbene Person wird wie noch lebend geschildert; lange Schweigeperioden usw.)

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Teil I · Grundlegendes

Es muss betont werden, dass die Typen A und C (im Fremde-Situations-Test) beziehungsweise Ds und E (im Adult Attachment Interview) keine pathologischen Varianten des Bindungsverhaltens darstellen, sondern zum »Normalfall« gehören. 55 Prozent der Bevölkerung weisen ein sicheres, 15 Prozent ein unsicher-vermeidendes, acht Prozent ein unsicher-ambivalentes Bindungsmuster auf. Weil die Kategorie »desorganisiert« (15%) sich nur in kurzen (10– 20 s) Manifestationen zeigt, wird zusätzlich zur D-Kategorie eine weitere passende Klassifikation durchgeführt (z. B. D/A). Allerdings stellen unsichere Bindungsmuster Risikofaktoren für den weiteren Entwicklungsverlauf dar. Eindeutig pathologisch ist jedoch ein desorganisiertes Bindungsmuster. Bindung entwickelt sich aus der frühen dyadischen Beziehung zur Mutter oder einer anderen Person, die Hauptbezugsperson ist. Sie vermittelt sich über die Feinfühligkeit, Kooperation und Verfügbarkeit der wesentlichen Bezugsperson gegenüber dem Kind. Diese Bezugsperson ist dem Säugling und Kleinkind durch externe Regulation behilflich, seine schwankenden Affektzustände zu verarbeiten, bis Selbstregulation möglich ist. Selbstregulation geschieht dann später auf der Basis entwickelter innerer Arbeitsmodelle von Bindung, in denen eigenes Verhalten und dasjenige der wesentlichen Bezugsperson zusammen mit den dabei erfahrenen Affektzuständen repräsentiert ist, und auf deren Grundlage Vorhersagen über den Verlauf sozialer Interaktionen gemacht werden. Somit wird deutlich, dass die Bindungsentwicklung einen wesentlichen Beitrag zur Emotionsregulation leistet. Aber auch die dispositionelle Ausstattung (zum Beispiel Temperament) beeinflusst die Bindungsentwicklung.

■ Risiken gestörter Bindungsentwicklung Bei den meisten schizophrenen Menschen ist eine unsichere Bindung, verbunden mit Trauma und Verlusterfahrungen, bekannt (Agid et al. 1999). Frühe Verlusterlebnisse (bis zum 17. Lebensjahr) führen zu einer signifikant verstärkten Vulnerabilität für die Entstehung von

H.-P. Hartmann · Die Bindungstheorie – wiederentdeckt

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depressiven und schizophrenen Störungen, abgeschwächt auch von bipolaren Störungen. Noch größere Vulnerabilität entsteht durch Verluste bis zum neunten Lebensjahr. Wir müssen bei Patienten mit diesen Störungen in bis zu 30 Prozent von solchen Verlusterlebnissen ausgehen. Der Schluss liegt nahe, dass schizophrene Menschen häufig auf die externe psychobiologische Regulationswirkung eines sicheren Bindungsobjekts von klein auf verzichten mussten und darüber hinaus auch Desorganisation in der Bindungsentwicklung, ausgelöst durch geängstigtes und/oder ängstigendes Elternverhalten, erfuhren. Da heißt, diese Kinder waren in dem Dilemma, ihre Eltern als Quelle ihrer Angst zu erleben und gleichzeitig als Mittel zu deren Auflösung in verunsichernden Situationen zu suchen und zu brauchen (Jacobvitz et al. 2001). Daraus entwickeln sich widersprüchliche Verhaltensstrategien beim Kind, die letztendlich in einem unabgeschlossenen Bindungsverhalten enden. Das Kleinkind ist nicht in der Lage, eine kohärente Strategie zur Angstbewältigung zu entwickeln. Diese fehlende oder mangelhafte externe psychobiologische Regulierung hat nach Hofer (1994) Auswirkungen mit der Folge einer Reduktion von Herzrhythmus, Körpertemperatur und Aktivitätsniveau des Säuglings bei Trennung von der Bindungsperson. Angemessene Affektregulation hat nach Trevarthen (1993) zur Voraussetzung, dass visuell und auditiv eine Resonanz zwischen Bezugsperson und Säugling entsteht, ein Mitschwingen mit den Empfindungen des anderen. Therapeutisch würde dies für den Umgang mit schizophrenen Patienten bedeuten, dass es wichtig ist, besonders die Momente des Gleichseins (Alter Ego) aufzugreifen und sie als früheste struktur- (besser netzwerk-)bildende Momente zu begreifen. Kohut (1984) verstand darunter das Bedürfnis, sich selbst als menschliches Wesen unter anderen menschlichen Wesen fühlen zu wollen. Basch (1992) ist der Meinung, dass verschmelzungsähnliche Aspekte (ähnlich den symbiotischen Momenten) zu frühen Formen dieses Bedürfnisses dazugehören. Es geht um das elementare Bedürfnis des Säuglings, durch die elterliche Responsivität und Fürsorge erfahren zu können, dass er von ihnen als einer der ihren akzeptiert ist und zu ihnen gehört. Mir scheint dies

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Teil I · Grundlegendes

auch ganz wesentlich für den Umgang mit schizophrenen Menschen. Strukturbildung ist hier durchaus nicht nur psychisch, sondern auch neurobiologisch gemeint, da man zum Beispiel heute von lang anhaltenden neurochemischen Veränderungen in der Folge früher Erfahrungen ausgeht (Rogeness u. McClure 1996). Wie wichtig das Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern ist, zeigt die Untersuchung von Johnson et al. (2002). Sie fanden heraus, dass die entscheidende Transmission psychischer Erkrankung der Eltern auf ihre Kinder durch einen negativen elterlichen Erziehungsstil verursacht wird und nicht durch die Erkrankung per se. Das heißt, wird dieser verbessert (etwa durch Frühintervention), so sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind die psychische Erkrankung der Eltern entwickelt. Schließlich zeigen Untersuchungen zur Psychobiologie neuronalen Wachstums (Schore 1994, 1997, 2000; Glaser 2000), dass bei angemessener Beantwortung kindlicher Bindungsbedürfnisse (beispielsweise feinfühliger Umgang mit dem Kind) dopaminerge Fasern im Hirnstamm angeregt werden, die in Folge eine Endorphinausschüttung veranlassen und über dieses angenehme Erlebnis die Entwicklung einer sicheren Bindung befördern. Damit wiederum steigt die Resilienz gegenüber Stresserfahrungen (Francis et al. 1999). In enger Verbindung zum Bindungskonstrukt stehen Kompetenz, Effektanz oder Urheberschaft, denn das von Bowlby eingeführte innere Arbeitsmodell eines sicheren/unsicheren Bindungsmusters erlaubt unter kontrolltheoretischen Gesichtspunkten, Vorhersagen über zwischenmenschliche Beziehungen zu machen. Die Erfahrung der eigenen reparativen Kompetenz unter Zuhilfenahme des Anderen stärkt das Selbstgefühl und beugt einer vorzeitigen Selbstregulation und narzisstischem Rückzug aus der Objektwelt vor (Beebe u. Lachmann 1994). Auf einer neurobiologischen Ebene entspricht die Effektanzerfahrung der Erfahrung kontrollierbaren Stresses. Die Bahnung neuronaler Verbindungen und synaptischer Verschaltungen wird dadurch gefördert. Fehlende Selbstwirksamkeit erzeugt eine fortdauernde neuroendokrine Stressreaktion mit nachfolgender Destabilisierung der neuronalen Weiterverarbeitung (Hüther 1997). Bowlby (1973, S. 187ff.) beschrieb einen äußeren und inneren

H.-P. Hartmann · Die Bindungstheorie – wiederentdeckt

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Ring lebenserhaltender Systeme. Der äußere Ring wird durch das Bindungsverhaltenssystem gebildet, der innere umfasst basale physiologische Prozesse. Bei Dysfunktionalität des äußeren Rings wird der innere mehr beansprucht. Der bedeutsamste Auslöser solcher Destabilisierungsprozesse ist der Verlust vorher vorhandener elterlicher psychosozialer Unterstützung (Rothenberger u. Huether 1997; vgl. Agid et al. 1999). Frühe Stressreaktionen beeinträchtigen auch das autonome Nervensystem und führen zu kognitiven Einschränkungen durch erhöhte Dopamin-/Noradrenalin-Spiegel mit der Folge von Schäden im präfrontalen Kortex. Ein wichtiger Gesichtspunkt gerade bei pathologischen Bindungsprozessen ist die kognitive Bewertung emotionaler Wahrnehmung. Kognitive Bewertungen von Gefühlen sind bei schizophrenen Menschen insofern unausgewogen, als sie sich schnell überstimuliert und dann in ihrem Selbstgefühl bedroht fühlen können und deshalb Bindung vermeiden. Unsichere und desorganisierte Bindungsmuster erschweren es Kindern und Erwachsenen (oder machen es ihnen unmöglich), Selbstreflexivität zu erwerben, also die Fähigkeit, über sich und andere in emotional gehaltvoller Weise nachzudenken. Diese Selbstreflexivität oder »Mentalisierung« erwirbt das Kind dadurch, dass es wiederholt die Erfahrung macht, vom anderen als ein Wesen mit eigenständigen Denk- und Gefühlsprozessen wahrgenommen zu werden (Fonagy 1991). Sie ist bei schizophrenen Menschen stark beeinträchtigt beziehungsweise ungenügend entwickelt und gefördert worden. So wird deren Gefühl verständlicher, wenn sie nicht selten eine extreme Einsamkeit empfinden, als gehörten sie nicht zur Gattung der Menschen dazu (weil sie sich nicht auf gemeinsame Repräsentanzen beziehen können), aber zugleich fürchten, ihren Affekt (ihren affektiven Kern) zu verlieren, wenn sie versuchen, Verbindung zu behalten. Sie sind nicht in der Lage, zwei Bezugsrahmen, von sich und vom anderen, gleichzeitig aufrechtzuerhalten. In Interaktionen zeigt sich deshalb häufig eine Art negative Intimität (Steimer-Krause 1996), mithilfe deren schizophrene Menschen über negative und starre Affektmimik einerseits Distanz zum Kommunikationspartner halten, andererseits sich ihnen dennoch intensiv visuell und kinetisch zuwenden. Klinisch beeindruckt das eingeschränkte oder fehlende

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Teil I · Grundlegendes

Vorhandensein einer Theorie des Mentalen bei Schizophrenen durch das Gefühl, »… keinen Platz in den anderen zu haben, und … dass die anderen keinen Platz im eigenen Erleben haben« (Benedetti 2002, S. 16). Schizophrenen Menschen fällt es schwer, andere als geistig abgetrennt außerhalb wahrzunehmen, mit eigener Theorie des Mentalen. Im schizophrenen Konkretismus verdeutlicht sich die Schwierigkeit, hinter der äußeren Erscheinung eine andere Bedeutung annehmen zu können, so wie es dann auch schwer ist, bei anderen innere subjektive Zustände hinter äußerem Verhalten zu denken. Denn der eigene innere Zustand wird für gleich mit den äußeren Verhältnissen gehalten. Wir nennen das auch Projektion.

■ Bindungstheorie und therapeutischer Umgang in der Psychiatrie So wie die primäre Bezugsperson durch ihr Verhalten den inneren emotionalen Zustand des Säuglings organisieren und regulieren hilft, ist auch der Therapeut, die relevante Bezugsperson eines psychiatrischen Patienten, externer Organisator seiner Befindlichkeit, und dies vermutlich so lange, bis stabile kortikale Muster zur Vorhersage entwickelt worden sind. Bis dahin ist Fremdregulation von großem Einfluss. Dabei kommt es auf die Häufigkeit von Erfahrungen der Synchronizität und Spiegelung mit der Bezugsperson an (Pally 2001). Wenn eine solche Abstimmung nicht oder nur ungenügend gelingt, kann dies auch für das Bedürfnis der Bezugsperson/des Therapeuten sprechen, sich selbst regulieren zu wollen, verbunden mit dem Gefühl, sich vom Patienten abschirmen zu müssen. Letzteres kann dadurch verursacht werden, dass nonverbale Signale des Patienten den Selbstschutz des Therapeuten aktivieren und seinen Rückzug veranlassen. Dies wiederum führt zu Rückzug und Nähevermeidung des Patienten, der bereits über Erwartungsmuster von psychischer Fehlregulation verfügt. So reduziert die Perspektivenübernahme durch die Behandler die Belastung des Patienten durch intensive Gefühle. Des Weiteren

H.-P. Hartmann · Die Bindungstheorie – wiederentdeckt

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werden psychotische Patienten auf psychiatrischen Stationen vom Team dann als weniger schwierig eingeschätzt, wenn das Team sich spontan mit Tonhöhe und Sprachrhythmus dieser Patienten in Übereinstimmung befindet (Freedman u. Lavender 1997). Auf diese Weise kann feinfühliger empathischer Umgang dazu beitragen, eine verlässliche Bindungsbeziehung zwischen Patient und Therapeut zu entwickeln. Denn nur das gewinnt Realität, was geteilt werden kann, analog zur frühkindlichen Entwicklung. Aus dieser Erfahrung kann sich am ehesten eine allmähliche Differenzierung von »I« und »Me« (nach James), von Binnen- und Fremdwahrnehmung entwickeln. In klinischen Stichproben liegen die Prozentzahlen sicherer Bindungen sehr niedrig: zwischen fünf und vierzehn Prozent (van IJzendoorn u. Bakermans-Krannenburg 1997). Bei an Schizophrenie und Depression Erkrankten liegt fast immer ein unsicheres Bindungsmuster vor. Nach Untersuchungen von Dozier et al. (1999) findet sich bei schizophrenen Erwachsenen in 89 Prozent ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster (Ds: dismissing), und gleichzeitig tritt zusätzlich in 44 Prozent der Fälle ein U-Bindungsmuster (unresolved trauma) auf. Das hohe Maß an Bindungsunsicherheit, Traumatisierung und Verlusterfahrung erklärt auch die mangelnde Neugier bei Schizophrenen bis hin zu einer Novophobie. Denn bei mehr oder weniger ständiger Aktivierung des Bindungssystems (U-Bindungsmuster) kann nicht gleichzeitig auch das Erkundungssystem aktiviert sein. Die Umgebung zu erkunden gelingt nur, wenn man sich sicher fühlt. Natürlich stehen Desintegrations- und Vernichtungsängste bei Schizophrenen häufig im Mittelpunkt, es ist aber danach zu fragen, welche frühen Bindungserfahrungen diese Ängste ausgelöst und verstärkt haben. Selbst wenn einige die Meinung vertreten, dass in den Fällen schwersterkrankter Menschen mit schizophrenen Psychosen Psychotherapie nicht durchführbar ist, so ist es doch erforderlich, auch hier eine sichere und behütende Umgebung anzubieten, in der solche Patienten überhaupt wieder Vertrauen in andere entwickeln und ihre innersten Überzeugungen und Gefühle mitteilen können. Bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen ist festgestellt worden, dass sie ein überwiegend unsicher-verstricktes Bin-

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dungsmuster (E: enmeshed) aufweisen (in 75%), verbunden mit einem in circa 90 Prozent auftretenden unverarbeitet-desorganisierten Bindungsmuster (U). Gerade hier ist es äußerst hilfreich, die vorhandenen mentalen Bindungsmodelle therapeutisch zu verändern, damit größere Einsicht in eigene Handlungsmotive und besserer Realitätsbezug erreicht werden. Denn erst die Fähigkeit zur Mentalisierung erlaubt die Integration und Steuerung unterschiedlicher Affekte, denen die Patienten sich sonst ausgeliefert fühlen. Und Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen haben die Erfahrung gemacht, ihren wichtigen Bezugspersonen in der Kindheit häufig ausgeliefert, von ihnen vernachlässigt und missbraucht worden zu sein. In der Folge versuchten sie bereits im Vorschulalter, Strategien zur Kontrolle gegenüber unberechenbaren Bezugspersonen zu entwickeln. Mit diesem Verständnishintergrund erlebt man solche Menschen nicht als manipulierend und ärgert sich darüber, sondern erkennt eher die Not, aus der heraus sie Kontrolle über Beziehungen erlangen müssen. Wegen der mangelhaften Mentalisierung ihrer Affekte und Intentionen durch die wesentlichen Bezugspersonen war es ihnen nicht oder nur eingeschränkt möglich, innere Repräsentanzen für ihre Selbstzustände zu bilden. In Ermangelung solcher inneren Repräsentanzen bleiben die eigenen Affekte und Intentionen weitgehend unzugänglich, mit der Folge eines Leeregefühls und eines Mangels an Impulskontrolle. Allein diese Überlegungen führen bereits zu einer anderen Haltung gegenüber Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen und sind insofern auch therapeutisch wirksam. Wie man sieht, ergeben sich aus der Bindungstheorie konkrete Folgerungen und gewichtige Anstöße für den therapeutischen Umgang mit psychiatrischen Patienten im Allgemeinen, wie auch mit speziellen Diagnosegruppen im Besonderen.

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■ Bindungstheorie und prophylaktische Maßnahmen einschließlich Gesundheitspolitik Psychiatrische Hilfsangebote lassen oft zu wünschen übrig hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, für die betreuten Patienten ein kontinuierliches, verlässliches und feinfühliges Netzwerk bereitzustellen. Dies liegt einerseits an der vorwiegend biologisch ausgerichteten Tradition der Psychiatrie und ihrer gegenwärtigen neurobiologischen Begeisterung, andererseits aber auch an politischen Faktoren. Die biologische Richtung der Psychiatrie neigt dazu, die inneren Erfahrungen der Patienten, ihre Lebensgeschichte sekundär zu gewichten gegenüber neurobiologischen Veränderungen im Gehirn. Die Psychiatriepolitik ihrerseits ist weniger von den Bedürfnissen der Patienten bestimmt als durch die Neigung, diese auszuschließen. Dabei kann Psychiatrie nie vom umgebenden soziokulturellen Umfeld getrennt betrachtet werden. Psychiatrische Angebote sind häufig eher an ökonomischen als an humanitären Bedingungen ausgerichtet und zielen meist darauf ab, die schwersten Formen von auffälligem Verhalten abzusondern. Bindungstheoretische Überlegungen könnten auch auf dem Feld der Psychiatriepolitik und des öffentlichen Gesundheitswesens eine andere Perspektive eröffnen. So wie wir akzeptieren, dass unsere Kinder gegen diverse Erkrankungen geimpft werden, ist auch die Förderung psychischer Sicherheit ein wichtiger Gesundheitsfaktor (Bowlby 1988). Denn in der Bindungstheorie gilt das Prinzip, dass psychisches Wohlbefinden direkt abhängig ist von der Stabilität und Stärke eines unterstützenden Netzwerks, in dem es um die genuine Sorge für andere geht. Wir benötigen also Strategien reziproken Miteinanders, die auf Vertrauen basieren, und Vertrauen impliziert gemeinsam geteilte moralische Standards. Peter Marris formuliert es so (1996, S. 171): »Wenn man in moralischer Hinsicht mit ökonomischen und politischen Beziehungen nicht vertrauensvoll umgehen kann, dann ist ein Vertrauen schwer vorstellbar, was diese Beziehungen handhabbar und weniger destruktiv macht, und noch schwerer, es zu fördern. Das Risiko dieses Verlangens nach einer moralischen Prinzipien verpflichteten Gemeinschaft, die in der Lage ist, unsere Zusammenarbeit ohne Frustration und Verdächtigungen zu regeln, liegt darin, dass es zu

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noch mehr destruktiver Ausschließlichkeit und Intoleranz führen kann.« Es sollte eine Haltung gefördert werden, die auf dem Boden der Grundannahmen der Bindungstheorie steht: Individuum und Gesellschaft erreichen ihr größtes Wohlbefinden, wenn sie Respekt für die Menschen, Anerkennung von Schmerz, das Zulassen legitimer Formen von Wut und Ärger, kontingente Responsivität, reflexives Denken, gegenseitige Unterstützung und tiefes Vertrauen in stabile Beziehungen – und damit die Bereitstellung einer »sicheren Basis« (Bowlby 1988) – zur Grundlage ihres Umgangs miteinander machen und so die Voraussetzungen für Exploration und Wachstum schaffen. Damit dies erreicht werden kann, dürfen wir aber auch die notwendige materielle Basis nicht vergessen. Um sichere Bindungen zu entwickeln, benötigt man auch materielle Sicherheit, eine gewisse Sicherheit des Arbeitsplatzes, ein materielles Leben zumindest oberhalb der Armutsschwelle, damit die Verantwortung, sich um die Kinder zu kümmern, anstatt Konsumverhalten zu präferieren, wirklich eine individuelle Entscheidung sein kann (Kraemer u. Roberts 1996). Wie schwierig dies alles zu realisieren ist, möchte ich anhand einer kleinen Fallvignette aus der langjährigen Behandlung einer Frau mit intensiven Angstzuständen demonstrieren. Die Behandlung wurde durch eine Verhaltenstherapie unterbrochen, durch die die Patientin versuchte, ihre Angstzustände zu kurieren, was leider so nicht gelang. Nach langer Zeit wurde Frau A. erstmals schwanger und ist nun Mutter eines eineinhalbjährigen Jungen. Regelmäßig von der Geburt bis heute machen ihr Eltern und Freunde Vorwürfe, dass sie das Kind nicht schreien lässt, wenn es zum Beispiel nachts in Spannungszustände gerät (hier geht es nicht um kurze Momente des Abwartens, bis das Kind den eigenen Affekt wahrgenommen hat, sondern um stundenlanges Schreienlassen und Alleinlassen in seiner Verzweiflung). Ja, sie bedauern das Kind, weil seine Mutter so die Entwicklung zur Selbstständigkeit verhindere. Hier wird ein Verhalten gefördert, welches die Wichtigkeit regulierender Anderer herunterspielt und zur Entwicklung eines unsicher-vermeidenden Bindungsmusters geradezu einlädt. Verlässlicher und unterstützender wird unsere Kultur dadurch nicht.

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■ Kritische Schlussbemerkungen und Ausblick Bei aller Verbundenheit mit der Bindungstheorie möchte ich darauf hinweisen, sich der Vereinfachung menschlicher Beziehungsformen durch die Bindungstheorie bewusst zu bleiben. Das ist so wie bei jeder Theorie, die einen bestimmten Aspekt der abgebildeten Wirklichkeit hervorhebt. Auch sollte im Bewusstsein bleiben, die Bindungsqualität als stabiles Persönlichkeitsmerkmal nicht zu überschätzen. Die Befundlage ist hier zwar widersprüchlich, aber man kann sagen, dass die früh erworbene Bindungsqualität nicht unbedingt determinant für das ganze Leben ist. Positiv betrachtet werden genau dadurch unsere therapeutischen Bemühungen wieder sinnvoll. Was speziell für den psychopathologischen Bereich fehlt, ist eine größere Differenzierung von Bindungsmustern. Eine solche Systematisierung gibt es bisher nur in der Klassifikation von P. M. Crittenden (2000). Dass es lohnt, sich auch mit Erwachsenen, werden sie nun in psychiatrischen und psychotherapeutischen Kliniken behandelt oder nicht, auf der Grundlage der Bindungstheorie auseinander zu setzen, ist mittlerweile unbestritten und insbesondere prophylaktisch bedeutungsvoll. Denn es sind weniger die tatsächlichen Erfahrungen, die Erwachsene in ihrer Kindheit gemacht haben, welche ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern beeinflussen. Ausschlaggebend ist vielmehr die Art und Weise, wie die Erwachsenen ihre kindlichen Erfahrungen verarbeitet haben. Bei dieser Verarbeitung können wir unter Bezugnahme auf die hier angeführten Überlegungen aus der Bindungstheorie sehr hilfreich sein.

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■ Anna Buchheim Methoden der ErwachsenenBindungsforschung und Ergebnisse zu Bindung und Psychopathologie: Implikationen für die Psychiatrie

Der Psychoanalytiker Bowlby (1969, 1973, 1980) griff in intensiver Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse wesentliche Grundgedanken über den Einfluss früher Beziehungserfahrungen auf die weitere individuelle Entwicklung auf. Er reformulierte die Hypothese der prägenden Bedeutung der mütterlichen Präsenz durch Einbeziehung ethologischer und systemtheoretischer Konzepte und strebte eine prospektiv wissenschaftliche Forschung zur Überprüfung dieser Hypothese an. Bowlbys Interesse galt maßgeblich den Auswirkungen und Reaktionen, die Kleinkinder auf reale Trennungen von der Mutter oder einer anderen engen Bindungsfigur erfahren. Die Bindungstheorie wurde damals von renommierten Vertretern der Psychoanalyse als »mechanistisch« und »undynamisch« abqualifiziert. Innerhalb der psychoanalytischen Community war Bowlby seinerzeit isoliert und suchte sich seinen »sicheren Hafen« in der akademischen Entwicklungspsychologie. Angeregt durch einen Auftrag der Weltgesundheitsorganisation richtete Bowlby das Hauptaugenmerk auf Entwicklungsschäden, verursacht durch fehlende mütterliche Zuwendung. Gestützt auf die Erkenntnisse vergleichbarer Studien der biologischen Verhaltensforschung von Harlow (Harlow u. Harlow 1969; Harlow u. Suomi 1970) und der Deprivationsstudien von René Spitz (1945, 1946), lieferte er durch die Beobachtung kleinkindlichen Verhaltens detaillierte Fallstudien zur Beschreibung der Entwicklung von Bindungsbeziehungen sowie deren möglichen Störungen. In diesem Kontext leistete er einen wesentlichen Beitrag zur angemesseneren Betreuung von Kleinkindern in Heimen und Krankenhäusern in England. Bowlbys Mitarbeiter und Nachfolger, zum Beispiel Mary Ains-

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worth, Mary Main, Carol George und Alan Sroufe, griffen Bowlbys Ideen mit intensiven Bemühungen um eine Operationalisierung auf. Der Nachweis einer transgenerationalen Weitergabe von Bindungserfahrungen konnte somit gesichert werden und machte die Bindungsforschung für die Entwicklungspsychologie nachhaltig bedeutsam. Die entwickelten Methoden, etwa die »Fremde Situation« (Ainsworth et al. 1978) zur Erfassung der Bindungsqualität zwischen Mutter und Kind, die Skala zur Erfassung der elterlichen Feinfühligkeit (Ainsworth et al. 1974) und das Adult Attachment Interview (George et al. 1985; Main u. Goldwyn 1996) zur Erfassung der gegenwärtigen Bindungsrepräsentation vergangener Bindungserfahrungen haben bis heute Bestand und werden weltweit angewendet. Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1990 äußerte sich Bowlby mit Bedauern, dass die Bindungstheorie von ihm als einem Kliniker zur Anwendung bei der Diagnostik und Behandlung emotional gestörter Patienten und Familien formuliert wurde, sie jedoch überwiegend lediglich dazu benutzt wurde, um die entwicklungspsychologische Forschung voranzutreiben. Inzwischen hat sich die Situation deutlich verändert. Es gibt mittlerweile eine klinische Bindungsforschung (s. a. Strauss et al. 2002) und zahlreiche Überlegungen dazu, wie diese Theorie in die Psychosomatik, Psychiatrie und psychotherapeutische Praxis integriert werden kann.

■ Methoden zur Erfassung von Bindung im Erwachsenenalter In den letzten 20 Jahren wurden im Bereich der Entwicklungs-, Sozial- und Klinischen Psychologie eine Vielzahl von Untersuchungen zur Erfassung von Bindung bei Erwachsenen publiziert. Forscher aus diesen verschiedenen Disziplinen bezogen sich in ihren Ausführungen prinzipiell auf die Arbeiten von John Bowlby und Mary Ainsworth. Auf den ersten Blick scheinen diese Studien sich auf ein und dasselbe Konstrukt, nämlich Bindung zu beziehen. Die Operationalisierung dieses Konstrukts ist jedoch vor dem Hintergrund unterschiedlicher theoretischer Überlegungen durch-

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aus divergent. Diese Kritik griffen Crowell und Treboux (1995) in einem sorgfältigen Übersichtsartikel zum Vergleich unterschiedlicher Bindungsforschungsmethoden im Erwachsenenbereich auf. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass beispielsweise Selbsteinschätzungsskalen, Fragebögen oder Ratingskalen, die sich auf den Inhalt beziehen, eher die bewussten Gefühle und Wahrnehmungen eines Individuums erfassen, nicht aber die unbewussten Anteile, die den Kern des inner working models gemäß der Bindungstheorie widerspiegeln. Crowell und Treboux wiesen darauf hin, dass man genau darauf achten sollte, was mit welchem Instrument gemessen wird. Dieser Hinweis deckt sich zum Teil mit der Beobachtung nur schwacher, nicht signifikanter Zusammenhänge zwischen Abwehr-orientierten Interviewmethoden und inhaltsorientierten Fragebogenmethoden (Crowell u. Treboux 1995; DeHaas et al. 1994; Bifulco 2002), was theoretisch aber auch mit Problemen der Reliabilität einzelner Methoden und der statistischen Power vergleichenden Studien erklärt werden könnte (Buchheim u. Strauss 2002; Shaver u. Miculincer 2002). Methoden mit dem Fokus auf repräsentationale Modelle, wie das Adult Attachment Interview (George et al. 1985; Main u. Goldwyn 1996), der Attachment Q-Sort (Kobak 1993), das Adult Attachment Projective (George et al. 1999) nehmen eine Evaluation so genannter »states of mind with respect to attachment« auf der Basis von Abwehrprozessen vor. Hier liegt der Fokus auf eher unbewussten Vorgängen, die anhand der sprachlichen Analyse von wörtlichen Transkriptionen identifiziert werden. Die Validierung dieser Instrumente basiert auf der Überprüfung von Zusammenhängen der elterlichen Bindungskategorien mit den kindlichen Kategorien, gewonnen aus der Fremden Situation. Instrumente mit dem Fokus auf Beziehungsstile oder bindungsrelevante Verhaltensparameter und subjektive Einschätzungen (Fragebögen) wurden dagegen vorwiegend mit klinischen Variablen validiert. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass jede der hier genannten Methoden zur Erfassung von Bindung bei Erwachsenen ihren spezifischen Fokus hat. Keine von diesen deckt alle relevanten Aspekte ab, die in der klinischen Anwendung wünschenswert wären. Es wäre interessant zu prüfen, wie traditionelle, bewährte Methoden aus der transgenerationalen Forschung mit jüngeren, klinisch

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orientierten Instrumenten integriert und erweitert werden können, um klinische Fragestellungen bezüglich Bindung bei Erwachsenen in der Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie komplexer zu überprüfen. Im Folgenden sollen die beiden repräsentationalen Methoden, das Adult Attachment Interview und das Adult Attachment Projective vorgestellt und deren klinische Anwendungsmöglichkeiten zusammengefasst werden (s. a. Buchheim et al. 2003).

■ Das Adult Attachment Interview Die Erfassung von Bindung bei Erwachsenen entwickelte sich im Rahmen transgenerationaler Bindungsforschung aus dem Interesse heraus, die Weitergabe elterlicher Bindungserfahrungen an die nächste Generation zu untersuchen. Diese Frage war die Grundlage für die Entwicklung des Adult Attachment Interviews (AAI), welches bis heute als Standardmethode in diesem Bereich gilt und eine hohe prädiktive Validität aufweist. Das Adult Attachment Interview wurde von George et al. (1985), das entsprechende Kategoriensystem von Main und Goldwyn (1985–1996) entwickelt. Dieses semistrukturierte Bindungsinterview fokussiert mit achtzehn Fragen im Wesentlichen auf die Erinnerung früher Bindungsbeziehungen, den Zugang zu bindungsrelevanten Gedanken und Gefühlen sowie die Beurteilung der Befragten zum Einfluss von Bindungserfahrungen auf ihre weitere Entwicklung. Das Adult Attachment Interview erfasst die aktuelle Repräsentation – »current state of mind with respect to attachment« – von Bindungserfahrungen bezüglich Vergangenheit und Gegenwart auf der Basis eines Narrativs, das heißt, es erfasst die aktuelle emotionale und kognitive Verarbeitung der erlebten Bindungserfahrungen der Erwachsenen. In der Auswertung auf wörtlicher Transkriptebene steht nicht der Inhalt der erinnerten Geschichte im Vordergrund, sondern die Kohärenz, in welcher von Bindungserfahrungen erzählt wird. Es wird beurteilt, inwieweit ein Sprecher auf die Fragen des Interviews kooperativ eingehen kann und eine wahrheitsgemäße, angemessen informative, re-

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levante und für den Zuhörer und Leser verständliche, klare Darstellung seiner Kindheitserfahrungen geben kann. Außerdem wird die emotionale und kognitive Integrationsfähigkeit der geschilderten Bindungserfahrungen bewertet. Hierzu dienen als Kriterien das Ausmaß an Idealisierung oder Entwertung der Bindungsfiguren oder ob die Interviewten noch heute stark mit Ärger und Wutgefühlen gegenüber ihren Bindungspersonen beschäftigt sind. Anhand der berichteten Erfahrungen der Probanden mit ihren Eltern in der Kindheit wird weiterhin eingeschätzt, ob die Eltern liebevoll, abweisend, vernachlässigend waren oder ob es einen Rollenwechsel (Parentifizierung) gab. Die so genannten Bindungsrepräsentationen werden in vier Gruppen klassifiziert: – Sicher autonome Personen (F = free to evaluate) haben einen flexiblen Zugang zu bindungsrelevanten Gefühlen und zeichnen sich durch offene und kohärente Schilderungen aus. – Unsicher-distanzierten (Ds = dismissing) Personen fehlt ein freier emotionaler Zugang zu bindungsrelevanten Gefühlen. Sie sind charakterisiert durch Mimimierung oder Deaktivierung von Bindungsbedürfnissen. – Unsicher-verstrickte (E = enmeshed/preoccupied) dagegen hyperaktivieren Bindungsbedürfnisse und präsentieren stark emotionale Schilderungen über ihre Kindheit. – Personen mit ungelöstem Trauma, ungelöster Trauer (U = unresolved) zeigen emotionale Desorientierung und sprachlichen Zerfall, wenn sie über Verluste oder Missbrauch sprechen. Transgenerationale Studien belegen einen beeindruckenden statistischen Zusammenhang zwischen der Kategorie der jeweiligen Bindungsrepräsentation der Eltern und der Kategorie der Bindungsqualität der Kinder. Dieses Ergebnis wurde in 18 Längsschnittstudien (N = 854 Dyaden) überprüft (van IJzendoorn 1995). Die Übereinstimmung der Bindungskategorie sicher versus unsicher zwischen Eltern und Kindern liegt bei kappa = .49; r = .47 (75%). Die Übereinstimmung »sicher versus unsicher« zwischen mütterlicher Bindungsrepräsentation und kindlicher Bindungsqualität liegt im Schnitt mit Effektstärke d = 1.14 höher als bei den Vätern (d = .80). Wenn man die Übereinstimmung der

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drei Bindungklassifikationen (sicher/vermeidend/ambivalent) bezüglich Kinder und Eltern miteinander vergleicht, ergibt sich ein kappa = .46 (70%). Am eindrücklichsten für die Konstruktvalidität ist die Studie von Fonagy et al. (1991) als Beleg der Vorhersagekraft des Adult Attachment Interviews, die in einer prospektiv angelegten Untersuchung erstmals zeigt, dass die erfasste Bindungsrepräsentation bei schwangeren Müttern (N = 96) als zuverlässiger Prädiktor für die zukünftige Bindungsqualität des Kindes verwendet werden kann (kappa = .44). Weitere Studien konnten diese prädiktive Validität des Adult Attachment Interviews replizieren (Benoit u. Parker 1994; Radojevic 1992; Ward u. Carlson 1995).

■ Klinische Anwendung des Adult Attachment Interviews Eine Metaanalyse von van IJzendoorn und Bakermans-Kranenburg (1996) ergab, dass die Verteilung der unsicheren Bindungsrepräsentation eindeutig in den klinischen Gruppen höher ausfällt als in nichtklinischen Stichproben (»dismissing« = 41%, »preoccupied« = 46%, »secure« = 13%). Die Effektstärke beträgt: d = 1.03 (14 Studien, N = 688). Somit konnten mithilfe des Adult Attachment Interviews klinische und nichtklinische Gruppen unterschieden werden. Da jedoch die Verteilung der Gruppen »dismissing« und »preoccupied« nahezu gleich ist, scheint eine differenzielle Zuordnung von unsicherer Bindungstypologie und Psychopathologie bisher noch schwierig. Die Studien zum Zusammenhang zwischen AAI-Kategorien und einzelnen Krankheitsbildern zeigen zum Teil Inkonsistenzen auf und lassen aufgrund methodischer Mängel (keine zertifizierten Auswerter, unklare diagnostische Kriterien) keine zufriedenstellende differenzielle Zuordnung von Bindungstypologie und Psychopathologie zu. Forschungsdefizit besteht vor allem für Untersuchungen, die mit ausreichend großen Stichproben systematisch analysieren, welche Bindungstypologie bei Patienten mit welchen spezifischen Krankheitsbildern unterschiedlichen Schweregrads oder mit welcher Konfliktverarbeitung in Zusammenhang stehen (s. a.

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Fonagy et al. 1996). Die Übersichten von van IJzendoorn und Bakermanns-Kranenburg (1996) sowie Hesse (1999) und Dozier et al. (1999) und bei Strauss et al. (2002) lassen jedoch einige im Hinblick auf das Kategoriensystem des Adult Attachment Interviews interessante Hinweise erkennen: So zeigt sich, zum Beispiel nach De Ruiter und van IJzendoorn (1992), dass agoraphobische Patienten eher ein verstricktes Bindungsmuster zeigen. Suizidales Verhalten bei Adoleszenten korrelierte signifikant mit der Kategorie »ungelöstes Trauma« (Adam et al. 1995). Entsprechend der Variabilität innerhalb der klinischen Gruppe der Depressionen fallen die Ergebnisse mit dem Adult Attachment Interview bei diesen Patienten heterogen aus. Einige Studien fanden bei Patienten mit depressiver Symptomatik einen höheren Anteil von »unsicher-verstrickter« Bindungsrepräsentation (Cole-Detke u. Kobak 1996; Rosenstein u. Horowitz 1996), während andere Studien bei diesen Patienten einen höheren Anteil an »unsicher-distanzierter« Bindungsrepräsentation nachwiesen (Patrick et al. 1994; Tyrell u. Dozier 1997. Dozier et al. (1999) interpretieren dieses inkonsistente Ergebnis damit, dass innerhalb der Gruppe depressiver Patienten unterschiedliche Verarbeitungsstrategien, nämlich internalisierende versus externalisierende, zum Tragen kommen. Fonagy et al. (1996) fanden bei Angstpatienten einen überproportional hohen Anteil an unsicher-verstrickter Bindungsrepräsentation (E) im Vergleich zu den anderen Bindungskategorien. Der hohe Anteil an E-Klassifikationen trennte jedoch die Angststörungen nicht signifikant von anderen klinischen Gruppen in dieser Studie. Was jedoch Angststörungen im Vergleich zu anderen Krankheitsbildern unterschied, war ihr überproportional hoher Anteil an der Kategorie »ungelöste Trauer« (U) (86% bei N = 44). Dieses Ergebnis korrespondiert mit psychodynamischen Modellen zur Angstgenese (Hoffmann u. Bassler 1995). Die bis jetzt vorliegenden zwei Studien über den Zusammenhang von Borderlinepathologie und Bindung, gemessen mit dem Adult Attachment Interview, deuten darauf hin, dass diese Patienten überproportional häufig eine verstrickte Bindungsrepräsentation aufweisen und zudem häufig der Kategorie »ungelöstes Trauma« zugeordnet werden: In der Studie von Fonagy et al. (1986) bekamen N = 36 Patienten mit einer Borderline-Symptomatik zu

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75 Prozent die Klassifikation »unsicher-verstrickt« zugewiesen (50% davon hatten die Kategorie E3: verstrickt und überwältigt von traumatischen Ereignissen), davon fielen 88 Prozent in die Kategorie »ungelöstes Trauma«. Die Studie von Patrick und Hobson (1994) mit ausschließlich weiblichen Borderline-Patienten (N = 12) ergab, dass alle Patientinnen eine »unsicher-verstrickte« (E3) Bindungsrepräsentation aufwiesen; ein ebenso überdurchschnittlicher Prozentsatz (zehn von zwölf) fiel in die Kategorie »ungelöstes Trauma«.

■ Das Adult Attachment Projective George et al. (1999) entwickelten eine projektive Methode zur Erfassung der Bindungsrepräsentation bei Erwachsenen. Die Methode Adult Attachment Projective (AAP) ist ein projektives Verfahren, das aus acht Umrisszeichnungen besteht. Die Zeichnungen enthalten nur so viele Details, dass damit die dargestellte bindungsrelevante Szene identifiziert werden kann. Das Projektivset beginnt mit einem Aufwärmbild (neutraler Stimulus), darauf folgen sieben Bindungsszenen (Kind am Fenster, Abschied, Bank, Bett, Notarzt, Friedhof, Kind in der Ecke). Durch die Reihenfolge wird graduell das Bindungssystem des Betrachters aktiviert. George et al. (1999) legten besonderen Wert darauf, dass sie eine valide Erhebung der Reaktionen auf vorgegebene, standardisierte Stimuli gewährleisten, indem sie Themen wie Krankheit, Trennung, Alleinsein und Bedrohung oder Verlust in die Bilderreihe aufnahmen. Weiterhin integrierten die Autoren Themen, die die Verfügbarkeit einer Bindungsfigur behandeln. Einige AAP-Szenen beinhalten Dyaden von zwei Erwachsenen oder einem Erwachsenen und einem Kind und suggerieren dabei eine potenzielle Bindungsbeziehung. Andere AAP-Szenen sind monadisch, das heißt, sie stellen nur einen Erwachsenen oder ein Kind dar. Diese Szenen fordern beim Betrachter heraus, dass eine Beziehung (internal) konstruiert wird. Der Versuchsleiter bittet die Versuchsperson zu beschreiben, was in jeder Zeichnung dargestellt wird, und fragt dann nach, was in den einzelnen Episoden zu dem gezeigten Ereig-

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nis geführt hat, was die dargestellten Personen denken und empfinden und was als Nächstes passieren wird. Es wird maximal zweimal nachgefragt, falls Teile dieser Instruktion im Narrativ fehlen. Die Narrative zu den acht projektiven Bildern werden wörtlich transkribiert und Wort für Wort nach festgelegten Kriterien ausgewertet – in Anlehnung an das Skalensystem von Main und Goldwyn (1996) sowie Bowlbys (1980) Beschreibung von Abwehrprozessen. Die Kodierungsvorgehensweise gliedert sich in drei Abschnitte, die als »Marker« bezeichnet werden: Inhalt, Abwehrprozesse und Diskurs. Die genaue Darstellung der Methode findet sich im Original bei George und West (1999) und in deutscher Übersetzung bei Gloger-Tippelt (2001) sowie bei Buchheim et al. (2003). Das Adult Attachment Projective wurde entwickelt, um die Kategorien sicher, unsicher-distanziert, unsicher-verstrickt, und unverarbeitete Trauer / unverarbeitetes Trauma aus dem Adult Attachment Interviews auf ökonomische und zuverlässige Art klassifizieren zu können. Bisherige Validitätsuntersuchungen belegen, dass die AAP-Methode eine hohe Übereinstimmung mit der AAI-Methode aufweist (George et al. 1999; s. a. Buchheim et al. 2003: N = 122: sicher versus unsicher: kappa = .80; N = 122: bei vier Klassifikationen: kappa = .89).

■ Klinische Anwendung des Adult Attachment Projective In Studien zur prädiktiven Validität von Béliveau et al. (2002) und Cyr et al. (2003) wurde der mütterliche Bindungsstatus mit dem Adult Attachment Projective und das kindliche Bindungsmuster mit der Wiedervereinigungsepisode nach Cassidy und Marvin (1987–1992) erhoben. Die Ergebnisse zeigten, dass der mütterliche Bindungsstatus für sicher-unsichere Klassifikationen signifikant mit dem Bindungsmuster des fünfjährigen Kindes (Wiedervereinigungs-Klassifikation) korrespondierte (N = 91, kappa = .45, p < .0001 (73%); für vier Bindungsgruppen ergab sich ein kappa = .31, p < .0001 (55%). Die Übereinstimmungen waren vergleichbar mit den Angaben aus der Metaanalyse von van IJzendoorn (1995).

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In einer Studie mit dysthymen Patientinnen erweist sich das Adult Attachment Projective als valide einsetzbar und ermutigt zur breiteren klinischen Anwendung. West und George (2002) untersuchten diese 24 »reinen« dysthymen Frauen (also ohne andere Symptome außer depressiver Verstimmung) mit dem Adult Attachment Projective. Die Dysthymie stand im Vordergrund der Betrachtung auf Grund von deren hoher Prävalenz bei Frauen. Entsprechend der Hypothese fanden West und George (2002) einen signifikant höheren Anteil an unsicherer Bindung bei den dysthym erkrankten Frauen (nur zwei Frauen wurden als sicher klassifiziert); die Mehrheit der unsicher-gebunden Frauen waren »preoccupied« (n = 14; 58%). Vier Frauen wurden als »dismissing« und vier als »unresolved« klassifiziert. Dieses Ergebnis repliziert die Mehrzahl der bisherigen Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Depression und unsicher-verstrickter Bindung (ängstlicher Bindung) fanden. Nicht untersucht wurden bisher neuronale Korrelate von Bindungsmustern bei Erwachsenen, die eine deutliche biologische Verankerung haben. Vor dem Hintergrund der bisherigen entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Literatur ist anzunehmen, dass eine desorganisierte Bindung in der frühen Kindheit die normale Entwicklung von kortikalen Strukturen negativ beeinflusst, was sich wiederum auf eine eingeschränkte Affektregulation bei Erwachsenen auswirken kann. Dabei wäre die Annahme, dass ein Teufelskreis entsteht, wobei Bindungsstörung, affektive Übererregung und mangelnde Mentalisierungsfähigkeit miteinander verwoben sind. In einer eigenen Studie ist es uns gelungen, das Adult Attachment Projective im neurowissenschaftlichen und psychiatrischen Kontext (funktionale Magnetresonanztomografie) anzuwenden. Wir präsentierten Borderline-Patientinnen und Gesunden über eine spezielle Video-Brille standardisiert die AAPBilder, die unter anderem Verlassenheit, Misshandlung oder Bedrohung suggerieren, und baten sie, zwei Minuten lang jeweils entsprechend der AAP-Instruktion Geschichten dazu zu erzählen. Währenddessen wurde ihr Gehirn »on-line« mittels Magnetresonanztomografie gemessen. Die ersten Ergebnisse mit BorderlinePatienten weisen darauf hin, dass limbische Regionen (Amygdala) in Zusammenhang mit der Verarbeitung oder Nichtverarbeitung

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Teil I · Grundlegendes

von bedrohlichen Bindungsthemen aktiv sind. Dieser Ansatz eröffnet neue Möglichkeiten für die Untersuchung neuronaler Korrelate von Bindungsmustern bei Borderline-Patientinnen und Gesunden sowie anderen klinischen Gruppen (Buchheim et al. 2002; Buchheim et al., in Vorb.; Walter et al. 2002, 2003). Die Methoden der kognitiven Neurowissenschaft erweitern die psychologische, psychosomatische und psychiatrische Forschung um eine naturwissenschaftliche Komponente. Sie schlagen eine Brücke zwischen »Neuron« und »Wort« und verbinden so Bereiche, die bisher nur strikt voneinander getrennt betrachtet werden konnten. Doch noch ist die Kluft sehr groß. Dies gilt besonders für die zeitliche Dimension: Während sich beispielsweise die Psychotherapie und Psychiatrie mit Krankheitsentwicklung und Therapieprozessen über Jahre und Jahrzehnte beschäftigt, untersuchen die Neurowissenschaften stichprobenartig sekunden- oder minutenlange Zeitabschnitte der Hirnaktivität. Daher sollte man sich vor überzogenen Interpretationen und allzu hastigen Schlüssen hüten. Doch allein der Versuch an sich, eine neue Terra incognita zu kartieren und diese mit psychologisch gut fundierten Konzepten, wie »attachment patterns« oder »theory of mind« zu verbinden, scheint für das erweiterte Verständnis von psychischen Erkrankungen vielversprechend zu sein.

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■ Diether Höger Die psychotherapeutische Beziehung im Lichte der Bindungsforschung

Dass die Qualität der therapeutischen Beziehung entscheidend für den Erfolg von Psychotherapien ist, gehört zu den am besten gesicherten Ergebnissen der empirischen Psychotherapieforschung (vgl. Grawe et al. 1994). Für die therapeutische Praxis ist dieser Befund jedoch wenig hilfreich, solange wir nicht wissen, warum das so ist. Ich meine, dass gerade die Bindungstheorie in besonderer Weise geeignet ist, um hier eine Brücke zu schlagen. Sie kann uns zeigen, worauf es ankommt, worauf wir in der therapeutischen Beziehung unser Augenmerk richten sollten, um deren therapeutische Wirksamkeit zu optimieren.

■ Die Psychotherapie als bindungsrelevante Situation Das zentrale Konzept der Bindungstheorie ist das Modell des Verhaltenssystems Bindung, das in seiner Konzeption dem Instinktmodell der Ethologie entspricht. Bei ihm geht es um die erfahrene Sicherheit eines Menschen, die durch die Konfrontation mit einer für ihn fremden, unbekannten und daher bedrohlichen Situation sowie durch die fehlende Erreichbarkeit einer vertrauten Bindungsperson beeinträchtigt wird. Eine solche Situation wird als bindungsrelevant bezeichnet, weil in ihr das Bindungssystem mit dem Ziel aktiviert wird, die Nähe zu einer Bindungsperson herzustellen, die, indem sie Schutz, Hilfe oder Trost gewährt, das Defizit an Sicherheit beseitigen kann. Ihr kommt daher eine besondere Bedeutung zu, die darin sichtbar wird, dass

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das Individuum sich immer wieder ihrer Erreichbarkeit vergewissern muss. Ein zum Bindungssystem in seiner Struktur analoges Verhaltenssystem ist das »Explorationssystem« (Bischof 1975). Bei ihm geht es um die »erfahrene Erregung«, die ebenfalls durch die Neuartigkeit einer Situation ausgelöst wird. Ist in einer allzu vertrauten Situation das Ausmaß der erfahrenen Erregung zu gering, so ist das Ergebnis Langeweile und die Suche nach Neuartigem. Ist sie zu groß, ist das Ergebnis Ängstlichkeit mit den Tendenzen Aversion und Flucht gegenüber dem Fremden, Neuartigen. Zusätzlich wird dann das Bindungssystem aktiviert, um eine hinreichende Sicherheit wieder herzustellen. Beide Systeme, Bindung und Exploration stehen also zueinander in einer komplementären Beziehung. Bei ihrem Zusammenspiel erfüllen sie eine für das Überleben des Individuums und damit auch der Art maßgebliche Funktion: Während dem Bindungssystem eine entscheidende Funktion bei der unmittelbaren Existenzsicherung des Individuums zukommt – denn es wird veranlasst, bei vertrauten Artgenossen Schutz und Unterstützung zu suchen –, kommt dem Explorationssystem eine wesentliche Funktion bei der mittelbaren Existenzsicherung zu: Indem das Individuum seine Welt und seine Möglichkeiten, sich mit ihr effizient auseinander zu setzen, erkundet, steigert es stetig seine Kompetenzen. Dabei hat das Bindungssystem einen existenziellen Vorrang, denn ein Organismus, der seine Existenz nicht unmittelbar sichert, hat im Ernstfall keine Gelegenheit mehr, sie mittelbar zu sichern. Mit dieser Funktion der unmittelbaren Existenzsicherung ist das Bindungssystem in seiner Funktion auch als »Notfallsystem« zu verstehen. Eine besondere Eigenart des Bindungs- oder Notfallsystems zusammen mit dem zugehörigen Bindungsverhalten ist, dass es bei Müdigkeit, Hunger, Kälteempfinden, Kummer, Krankheit, Schmerzen oder anderen Zuständen des Unbehagens besonders leicht ansprechbar ist. Für die psychotherapeutische Situation ist das insofern bedeutsam, als sich Psychotherapiepatienten, vor allem in der Anfangsphase einer Therapie, tatsächlich in einem Zustand von Krankheit, Kummer oder Not befinden. Also ist ihr Bindungssystem in besonderer Weise aktiviert, und intensiviertes Bindungsverhalten ist bei ihnen zu erwarten.

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Teil I · Grundlegendes

■ Der Psychotherapeut als Bindungsperson Bindungspersonen sind Personen, die Schutz und Sicherheit geben können und an die sich im Normalfall das Bindungsverhalten richtet. Im Normalfall sind es vertraute Menschen, denen die besondere Qualität einer Bindungsperson dann zukommt, wenn sie für das Individuum die folgenden Bedeutungen haben (vgl. Allen u. Land 1999; Weiss 1982): – Es sucht ihre Nähe (»proximity seeking«). – Es protestiert und erleidet Kummer und Trennungsschmerz, wenn es von ihr unfreiwillig getrennt wird (»separation protest«). – Sie ist eine sichere Basis (»secure base«), von der aus es sich in der Welt frei bewegen und sie erkunden kann. – Sie ist ein sicherer Hafen (»secure haven«) zu dem es sich bei Bedrohung flüchten kann. Wie erwähnt, befindet sich ein Mensch, der eine Psychotherapie aufsucht, in einem Zustand von Kummer und Not, sein Bindungssystem ist also aktiviert. Wir können weiterhin davon ausgehen, dass seine Bindungspersonen (soweit er welche hat) ihm – aus welchem Grund auch immer – nicht hinreichend helfen konnten, denn sonst würde er nicht die Hilfe des Therapeuten suchen. Damit weist er dem Therapeuten die Funktion einer Bindungsperson zu – ob dieser das möchte oder nicht. Die Erfahrung aus dem therapeutischen Alltag zeigt dementsprechend: Patienten suchen die Nähe und Erreichbarkeit des Therapeuten, und sie wehren sich heftig gegen unfreiwillige Trennungen. Wie kann es ein Therapeut einem Patienten in einer solchen Situation erleichtern, zu ihm eine Bindungsbeziehung aufzunehmen? Folgen wir der Bindungstheorie, so wählen Menschen jemanden dann zur Bindungsperson, wenn er oder sie sich ihnen freundlich zuwendet – sie also in ihrem Sosein nicht bedroht und sich als zugänglich erweist – und wenn sie ihn als stärker und/oder klüger (»stronger and/or wiser«) erleben können (Bowlby 1979, S. 159). Dies sind genau die Voraussetzungen, die ein effizientes Gewähren von Schutz, Hilfe und Trost erwarten lassen. Erweist sich der Therapeut in diesem Sinne als freundlich zuge-

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wandt und wird er in der therapeutischen Situation – zumindest im Hinblick auf anstehende Probleme – vom Patienten als stärker und klüger erlebt, dann kann er für den Patienten die Qualität einer Bindungsperson bekommen (Bowlby 1988; Holmes 2002). Er beziehungsweise die Beziehung zu ihm wird für den Patienten zum Ort der Sicherheit und der Beruhigung. Nun kann dessen Explorationssystem aktiviert werden, und er wagt es immer mehr, sich bei sich selbst und bei anderen auf bisher ängstigendes Fremdartiges und Unbekanntes einzulassen. Er wird seine Beziehungen zu sich selbst, zu anderen und zur Welt erkunden, sie genauer kennen lernen, Neues ausprobieren (vgl. das Kriterium der sicheren Basis/secure base). Dabei wird der Therapeut auch zu demjenigen, zu dem er sich flüchten und mit dem er sich austauschen kann, wenn er bei seinem Erkunden Bedrohlichem begegnet, genau so aber auch über Erfolgserlebnisse. Anders gesagt: Die therapeutische Beziehung ist der Rahmen, in dem Veränderungen stattfinden, sich die Kompetenz des Patienten erweitert. Dass dem tatsächlich so ist, konnten wir in einer empirischen Studie belegen (Höger u. Wissemann 1999). Danach ist zumindest in Gesprächspsychotherapien das Erleben von Veränderungen eng verknüpft mit einer günstigen therapeutischen Beziehung sowie mit dem Erleben von Sicherheit und Zuversicht. Die Bindungstheorie gibt uns also eine theoretische Erklärung dafür, warum die therapeutische Beziehung für den Therapieerfolg so bedeutsam ist. Sie ist dann fruchtbar, wenn es dem Therapeuten gelingt, sich dem Patienten gegenüber als zugewandte, zuverlässige und kompetente Bindungsperson zu qualifizieren, beziehungsweise wenn es dem Patienten gelingt, zum Therapeuten eine positive Bindungsbeziehung zu knüpfen.

■ Probleme bei der Gestaltung der therapeutischen Beziehung Bei der gemeinsamen Gestaltung der therapeutischen Beziehung durch Therapeut und Patient kann es allerdings erhebliche Schwierigkeiten geben, je nachdem, wie beide auf diese bindungs-

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Teil I · Grundlegendes

relevante Situation reagieren. Diese Reaktionen stehen im Zusammenhang mit unterschiedlichen Reaktionsweisen auf bindungsrelevante Situationen, wie sie von Ainsworth et al. (1978) bei Kleinkindern gefunden und unter dem Stichwort »Bindungsstile« (oder besser »Bindungsmuster«) bekannt geworden sind. Wie inzwischen vielfach bestätigt wurde, sind sie in analoger Weise auch bei Jugendlichen und Erwachsenen zu finden (vgl. Cassidy u. Shaver 1999). Main (1990) hat für diese Bindungsmuster eine funktionale Interpretation vorgeschlagen, die es vor allem erlaubt, sie weiter zu differenzieren, sei es in Form von Untergruppen, sei es für individuelle Reaktionsvarianten. Menschen, so Main, entwickeln vor allem während ihrer frühkindlichen Entwicklung als Reaktion auf das Verhalten ihrer Bindungspersonen adaptive Strategien. Wurden ihre Bindungsbedürfnisse von einer feinfühligen Bindungsperson in weitgehend zuverlässiger und vorhersehbarer Weise verstanden und befriedigt, dann bildeten sie eine primäre Strategie. Sie entspricht dem nach Ainsworth et al. (1978) »sicheren« Bindungsmuster. Bei ihr funktioniert das Bindungssystem in seiner naturgemäßen Weise: Wird es aktiviert, dann sehen wir eine direkte Suche nach vertrauten Personen, die Nähe und Hilfe gewähren können, zusammen mit dem Vertrauen, diese Hilfe auch zu finden. Damit verbunden ist das Bedürfnis und die Fähigkeit, sich einigen ausgewählten Personen anzuschließen und verlässliche Bindungsbeziehungen zu ihnen zu knüpfen. Da dies eine wesentliche Voraussetzung für eine günstige Entwicklung der persönlichen Lebensressourcen ist, finden sich unter Psychotherapiepatienten nur wenige mit einer primären Strategie. Waren hingegen die Bindungspersonen zu wenig präsent oder zu wenig feinfühlig, und haben sie die Bindungsbedürfnisse des Kindes weder verstanden noch erfüllt, hat sich die primäre Strategie also als unangemessen weil erfolglos erwiesen, dann haben als Reaktion darauf sekundäre Strategien die primäre überlagert. Denn mit ihnen konnte entweder ein zumindest relatives Optimum an Nähe und Zuwendung der Bindungspersonen oder das Ertragen von Frustrationen der Bindungsbedürfnisse erreicht werden. Sekundäre Strategien treten dann in Erscheinung, wenn eine bindungsrelevante Situation gegeben ist, und sie haben, weil sie

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sich auf das überlebenswichtige Bindungssystem beziehen, eine dementsprechend vitale Bedeutung. Die deaktivierende Strategie hat sich dann als adaptiv erwiesen, wenn Bindungsbedürfnisse von den Bindungspersonen konstant enttäuscht worden sind, das Kind dann mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen war. Sie entspricht dem »unsicher-vermeidenden« Bindungsmuster und äußert sich, indem in bindungsrelevanten Situationen, also auch in der Psychotherapie, das Bindungsverhalten und seine Korrelate unterdrückt werden. Anstatt der Suche nach Nähe und Unterstützung mit entsprechenden Signalen finden wir dann die Betonung von Selbstständigkeit und Tüchtigkeit, Hilfsangebote werden zurückgewiesen. Die Patienten vermeiden es, Kummer, Not und Hilfsbedürftigkeit erlebnismäßig zuzulassen. Ihre Bedürfnisse nach Nähe zu anderen Menschen und die damit verbundenen Gefühle erscheinen ihnen bedrohlich und werden abgewehrt. Die andere, dem »unsicher ambivalenten« Bindungsmuster entsprechende hyperaktivierende Strategie beruht auf der Erfahrung, dass weder die Befriedigung noch die Frustration von Bindungsbedürfnissen vorhersehbar waren. Menschen mit einer hyperaktivierenden Strategie sind nicht nur in bindungsrelevanten Situationen, sondern auch sonst ständig unsicher, ob die Bindungsperson auch wirklich erreichbar ist (und bleibt). Diese Unsicherheit bedingt wiederum ein permanent erhöhtes Bindungsverhalten, zusammen mit Verlassenheitsangst und Misstrauen. Mit ihrer Neigung, sich anzuklammern und ständige Zuwendung zu verlangen, überfordern sie nur zu leicht ihre Beziehungspartner und veranlassen sie, sich zurückzuziehen – was wiederum die misstrauischen Erwartungen bestätigt. Wut und Enttäuschung sowie die Überzeugung von der eigenen Wertlosigkeit sind die Folge. Bei der Beschreibung der sekundären Strategien wird jeder Therapeut an bestimmte Patienten denken, die er als schwierig erlebt oder erlebt hat. Wenn wir in der Lage sind, uns Schwierigkeiten einzugestehen, dann erkennen wir vielleicht, dass diese Patienten unsere therapeutische Kompetenz infrage stellen, denn nur zu oft verhalten sie sich quer zu dem, was unser Therapieverfahren, gleich welcher Art, nahe legt. Insofern können sie für uns bedrohlich sein, und wir reagieren dann mit allen Abwehrreaktionen, die

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Teil I · Grundlegendes

wir zur Verfügung haben. Ich denke da beispielsweise an den Stoßseufzer einer Therapeutin über eine ihrer Patientinnen: »Wenn die doch endlich mit ihrer Beziehungsmatsche aufhören würde, damit wir anfangen können, vernünftig zu arbeiten.« Wenn Patienten mit ihren sekundären Bindungsstrategien unser therapeutisches Selbstverständnis infrage stellen, haben wir Schwierigkeiten, sie so zu akzeptieren, wie sie sind. Stattdessen wünschen wir sie uns so, wie es unserem Konzept vom mehr oder weniger idealen Patienten entspricht. Dann aber finden sie bei uns nicht die speziell für sie wichtigen Bedingungen vor, unter denen sie ihre bedingt optimale Sicherheit in einer Bindungsbeziehung erreichen könnten, um sich dann wirklich frei zu explorieren. Zwei Möglichkeiten bleiben ihnen, die einander nicht ausschließen: – Sie fühlen sich bedroht in ihrer Strategie, auf die sie angewiesen sind, um mit ihrem Bindungssystem ihre relative Sicherheit zu wahren, und verharren darin. Auf die Dauer erweisen sie sich als angeblich »therapieunfähig«. – Sie entwickeln in der therapeutischen Beziehung neue sekundäre Strategien, um den Erwartungen des Therapeuten zu entsprechen und so ein relatives Optimum seiner Zuwendung zu erreichen. Allerdings finden sie dann im besten Fall nur teilweise zu sich selbst. Stattdessen entwickeln sie sich in die Richtung unserer Idealvorstellungen – oder was sie dafür halten. Wir können dem entgehen, wenn wir die sekundären Bindungsstrategien unserer Patienten nicht als Defizite, sondern als deren lebenswichtige Ressourcen begreifen. Wenn es uns gelingt, sie bedingungsfrei zu akzeptieren und empathisch darauf einzugehen, kann ein Patient auf seine eigene, speziell für ihn »bewährte« Weise den Grad an Sicherheit gewinnen, der für ihn erreichbar ist, und der es ihm ermöglicht, ausgehend von seinem jeweiligen Stand seine Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Welt durch Exploration zu erweitern. Nicht zuletzt kann er dabei in der therapeutischen Beziehung auch neue Aspekte von Bindungsbeziehungen erfahren, die, im Alltag umgesetzt, seine weitere Entwicklung fördern. Der »Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung« ist

D. Höger · Die psychotherapeutische Beziehung

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somit – aus der Perspektive der Bindungstheorie – nicht nur eine Randbedingung des Therapieprozesses, sondern ein entscheidender Gegenstand der therapeutischen Arbeit selbst, nicht selten wohl auch der kritische Punkt, an dem die Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg einer Therapie fällt. Was die Psychotherapieforschung (wie anfangs zitiert) schon lange weiß, erhält durch die Bindungstheorie seine theoretische Begründung

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■ Teil II · Psychiatrische Arbeitsfelder

■ Ronald Hofmann Implikationen der Bindungstheorie für die Diagnostik und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit einer sich entwickelnden Borderline-Persönlichkeitsorganisation zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe

Die Entwicklung des Kindes basiert also auf seinen sozialen Bindungen, auf seinen Fähigkeiten zu kommunizieren, der Verankerung seiner positiven und negativen Gefühle im Erleben von Gemeinsamkeiten … und nicht zuletzt auf seiner Bereitschaft zu lernen. Grossmann und Grossmann (2003)

■ Das System von Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und Jugendhilfe als Ausdruck formal unsicherer oder desorganisierter Bindungserfahrungen Nach Sichtung der vorliegenden einschlägigen Bindungsliteratur ist mindestens seit 1983 mit den fünf programmatischen therapeutischen Aufgaben nach Bowlby der Sachverhalt bekannt, dass die therapeutische Implikation der Bindungstheorie allgemeinster Art darin besteht, die individuell ungünstigen Bindungserfahrungen über eine sichere Bezugspersonenbeziehung zu den entsprechenden Therapeuten in Richtung einer sicheren Bindungserfahrung zu entwickeln (Endres u. Hauser 2002, S. 167). Dies sei als einleitende Feststellung vorausgeschickt und im Auge zu behalten, auch wenn klar ist, dass dies allein für einen bindungsfundierten Veränderungsprozess noch nicht ausreichend sein kann. Allein schon diese Notwendigkeit auf der allgemeinsten personellen Beziehungsebene spiegelt sich in den realen, formalen Systemgrundlagen zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und Jugendhilfe meist nicht wider. Dies betrifft hier nicht

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Teil II · Psychiatrische Arbeitsfelder

die therapeutischen Beziehungen und Bedingungen an sich, sondern die zugrunde liegenden formalen Umfeldbedingungen. Im praktischen Alltag sind, trotz massiver Bemühungen engagierter Kolleginnen und Kollegen beider Professionen, immer wieder prägnante Mängel in der so genannten »komplementären Betreuung« festzustellen, also in der sich ergänzenden Zusammenarbeit zwischen therapeutischem und Jugendhilfebereich. Dadurch werden den betroffenen Kindern und Jugendlichen – vergleicht man dies auf bindungstheoretischer Ebene mit Bindungserfahrungen – eben weitere unsichere, gar desorganisierte, aber keine sicheren Bindungserfahrungen vermittelt. Kinder und Jugendliche, die mit ihrem symbolisch zu verstehenden, reinszenierenden Verhalten die Umwelt hilflos machen, die mit der »Wucht« ihrer Verhaltensbesonderheiten – meist (selbst-)destruktiver, aggressiver und schließlich delinquenter Natur – Zuständigkeiten, Aufträge und Finanzen an Grenzen bringen (Schrapper 2003), die zudem Geduld und die öffentliche Akzeptanz »über die Maßen« strapazieren, werden in der sozialen Arbeit und in der einschlägigen sozialpädagogischen Literatur als »schwierige Kinder« identifiziert. Aus Sicht der psychologisch-medizinischen Diagnostik und Therapie sind anhaltende Verhaltensmuster dieser Qualität meist als erste Boten für eine sich entwickelnde Persönlichkeitsstörung zu verstehen. Im Bereich der Jugendhilfe hat man sich bezüglich der praktischen sozialen Arbeit weitgehend in Abgrenzung zur Psychologie positioniert (z. B. Beerlage et al. 1999). Hierbei ist die Einstellung zur Klinischen Psychologie oder Psychiatrie hinsichtlich des Krankheitsaspekts von Verhaltensstörungen weiterhin gespalten. Neben einer soziologisch beeinflussten Ablehnung von Krankheitszuschreibung und einem gewissen berufsständischen Kalkül (wer hat hier wie viel zu sagen?) stehen durchaus nachvollziehbare Bedenken gegen die »Medizinalisierung« der sozialen Arbeit unter dem eher rhetorischen Slogan »Pillen für die Störenfriede?« Diese Diskussion wird aber meist in den akademischen Kreisen der sozialen Arbeit geführt. Es sind eher Vertreter, die nicht mehr oder noch nie mit diesen Kindern und Jugendlichen gearbeitet haben. Im Bereich der praktisch arbeitenden Sozialarbeiter und Sozialpädagogen ist durchaus ein recht pragmatischer und breiter Zugang

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zu medizinischen oder psychologischen Diagnosen und dementsprechenden Zuständigkeiten zu finden. Dieser Pragmatismus soll nicht als Vorwurf verstanden werden, sind doch die stationären und ambulanten Einrichtungen der Jugendhilfe und des Allgemeinen Sozialen Dienstes der Jugendämter diejenigen, die zuvorderst stehen und schnelle (Krisen-)Entscheidungen treffen müssen. Dabei mag ein Wechsel der Hilfeform oder der Einrichtung, aber auch die Einweisung in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie durchaus als angemessenes Mittel erscheinen. Sicher ist aber auch bei jeder derartigen personellen Transaktion zwischen Trägern der Jugendhilfe und von der Jugendhilfe weg in die Psychiatrie an ein entlastendes Weggeben zu denken, das dem Bindungsgedanken prinzipiell entgegensteht. Insbesondere der Bereich zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie einerseits und der Jugendhilfe andererseits ist in der Praxis aber oft ein aufgeheizter Spannungsraum voller Ressentiments sowie Hilflosigkeits- und Schuldzuweisungen. Hier entladen und transformieren sich die aus den Verhaltensbesonderheiten der Kinder und Jugendlichen entstehenden Hilflosigkeiten in den institutionellen Raum hinein. Sie werden ersatzweise instrumentalisiert und vermischen sich mit Macht- und Professionskämpfen zwischen medizinischen und sozialen Berufen. Es ist aber kein Kompetenzstreit, wie man zunächst vermuten könnte. Nein, es ist der Streit über die Nichtzuständigkeit. Die Vertreter der sozialen Arbeit sehen sich bei einem angenommenen oder bereits diagnostizierten, zumindest sich entwickelnden Krankheitsbild in der Persönlichkeitsorganisation in ihrer Handlungskompetenz begrenzt oder außerstande, angemessene Hilfeleistungen zu realisieren. Die Diskussion um die geschlossenen Heime und deren politikabhängige zyklische Aktualität wurde bei Bösen (1994) und Wolffersdorff et al. (1996) thematisiert. De facto sind diese heute in einigen Bundesländern noch vorhanden, aber vom Platz her begrenzt; in anderen Bundesländern sind sie ob der ethischen und natürlich auch fachlichen Bedenken wegen ihrer fraglichen Effektivität ad acta gelegt. Die Jugendhilfeeinrichtungen sind in der Regel offene Einrichtungen, deren Einwirkungsmöglichkeit in den räumlichen Strukturen einfache Grenzen hat. Die Kinder und Jugendlichen kom-

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men und gehen, wann sie wollen. Es ist ihr Alltag. Demgegenüber ist die Psychiatrie eine Ausnahmesituation, ein Ort, den sie in der Regel meiden, an dem sie sich regelkonform verhalten, um schnell wieder entlassen zu werden. Öfters wird den Mitarbeitern oder Mitarbeiterinnen der Jugendhilfe diese Konstellation dann vorgeworfen – hier in der Psychiatrie habe es doch auch funktioniert, warum nicht in der Einrichtung der Jugendhilfe. Mit den offenen Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie machen die Pädagogen andererseits die Erfahrung, dass die Betroffenen dort schnell wieder entlassen werden, wenn sie die Regeln der Klinik nicht einhalten. Für die Mitarbeiter der Jugendhilfe ist das schwer nachvollziehbar, denn man hatte sie eben wegen solcher Regelkonflikte, gepaart mit situativ aggressiver Dekompensation, in die Klinik vermitteln lassen. Das pädagogische Regelwerk lebt von der Kompetenz einzelner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, an die die betroffenen Kinder und Jugendlichen »andocken« oder nicht. In den Jugendhilfeeinrichtungen fehlt aber meist das Wissen der Mitarbeiter über abweichende Bindungsentwicklung und Persönlichkeitsstörungen. Zudem ist meistens – ähnlich wie in den medizinischen Einrichtungen – einfach eine zu schwache Personaldecke vorhanden, die aber gerade hier, bei Gestaltung des Alltags unter offenen Jugendhilfebedingungen, doppelt negative Auswirkung hat. Die Vertreter der medizinischen, psychiatrischen Facheinrichtung verweisen andererseits nach Ablauf aller Kassenverlängerungsmöglichkeiten gern auf den sozialen Aspekt der krankheitsbedingten Verhaltensbesonderheiten oder negieren dann gar, trotz langer und eindeutiger Symptombeschreibungen, eine sich entwickelnde krankhafte Persönlichkeitsstörung. Einige Kliniken nehmen, obwohl sie vom Versorgungsgebiet her zuständig wären, diese Kinder und Jugendlichen nicht zur Krisenintervention auf, auch wenn ein gutachterlich gestützter familienrichterlicher Beschluss vorliegt, und verweisen auf die Bettenkapazität oder auf die Qualität fehlender Gefahren (Fremd- oder Selbstgefährdung) aus psychiatrischer Sicht. Ein für diese Situation zeitlich zu langer »Kampf« entsteht, der die Situation der betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht verbessert. In der Regel obliegt dann die Zuständigkeit letztlich wieder der Jugendhilfe, die in vielen ihrer Einrichtungen

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nicht mit dem zahlenmäßig und/oder professionell notwendigen Personal ausgestattet ist. Die Kinder und Jugendlichen »reißen aus«, müssen dann oft wochenlang gesucht werden, entgleisen in dieser Zeit wieder aggressiv oder werden delinquent. Das sind Erfahrungen aus der Praxis. Sie belegen die eingangs geäußerte, vielleicht schroff erscheinende These gravierender Mängel im System der »komplementären Betreuung«, deren Auswirkungen unter bindungstheoretischem Aspekt sehr bedenklich erscheinen: Hier werden unsichere und desorganisierte Bindungserfahrungen vermittelt, die die Pathologie bereits bindungsgestörter junger Menschen nur verstärken können.

■ Diagnosen in der Psychiatrie und in der Jugendhilfe – Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bewertung der Bindungsentwicklung bei Persönlichkeitsstörungen In der folgenden kurzen Diskussion soll weniger das diagnostischmethodische Herangehen, sondern der inhaltliche Hintergrund für ein regelgeleitetes Informationssammeln zum Zweck einer angemessenen und notwendigen Intervention oder Hilfe dargestellt werden. In der sozialpädagogischen Arbeit der Jugendhilfe hat sich die so genannte »Fallarbeit« etabliert. In unterschiedlichen Projekten und Betreuungsarrangements, die zunehmend auch Marketingcharakter im Kampf der Jugendhilfeeinrichtungen um ihr Überleben haben, wird diese Fallarbeit in praktische Handlungs- und Betreuungsansätze umgesetzt. Man orientiert sich am Einzelfall und definiert diesen unterschiedlich, entweder als personellen Einzelfall oder als systemischen Einzelfall (das Kind / der Jugendliche und seine Lebenswelten). Der Prozess der Erkenntnisgewinnung zu diesem Fall ist durch den Verwendungszweck gesteuert, der sozialrechtlichen Entscheidungsfindung nach dem SGB VIII (hier zum Beispiel: »Hilfeplan« gem. § 36 SGB VIII). Bezüglich der grundlegenden sozialpädagogischen Position steht die Fallarbeit der (medizinischen beziehungsweise psycholo-

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gischen) Diagnosebildung gegenüber. Beide Trends werden weiterhin polarisierend diskutiert. Während der eher »radikal« sozialpädagogische Ansatz davon ausgeht, dass es für ein sozialpädagogisches Problem nie richtige Lösungen geben wird, die nach klassifikatorischem Muster von Diagnose und Indikation funktionieren, sehen andere, »gemäßigte« Vertreter die Diagnose als notwendige »Sachverhaltsaufklärung«. Die Diagnose – als Ergebnis der umfangreichen, auch fallorientierten Informations- und Datenermittlung – definiert dann den erzieherischen Bedarf (Ader u. Schrapper 2003). Deutlich wird, dass gerade in der sozialen Arbeit bei der Selbstdefinition immer noch mit der psychologischen Tradition gehadert wird: Neben grundsätzlichen Bedenken gegen den Krankheitsbegriff sieht man dort die Problematik des Einzelfalls auf ein Symptom reduziert, das dann therapiert werden soll. Dennoch: Neben den biografisch-rekonstruierenden Verfahren (biografische Diagnose) und gruppenorientiert-inszenierenden (fallsystemischen) Verfahren bleiben auch die psychologisch-diagnostisch orientierten Verfahren präsent. Legitimiert sind in diesem Verständnis die Begriffe der sozialpädagogischen, psychosozialen und pädagogischen Diagnostik, die die beiden erstgenannten Verfahrensweisen in unterschiedlicher Form einbeziehen. Bindungstheoretisch fundierte Vorgehensweisen, Erhebungen und Analysen von Bindungsgeschichte und Bindungsrepräsentanzen und so fort werden – soweit ich sehe – in der sozialpädagogischen Literatur bis heute nicht explizit benannt. Zu vermuten ist, dass in den genannten Verfahren, besonders im biografischen Verfahren, solche Inhalte indirekt mit verarbeitet werden. Ein systematisch-deskriptives, auch klassifikatorisches Vorgehen ist jedoch nicht bekannt. Hingegen ist aus unterschiedlichen Lehrveranstaltungsverzeichnissen von Fachhochschulen zu erkennen, dass bindungstheoretisches Denken in die Sozialarbeit Einzug hält. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie waren und sind die Probleme zur Entwicklung und Bewertung von Persönlichkeitsstörungen überhaupt und speziell der theoretische Bezug zur Bindungsentwicklung anders gelagert. Hier hat sich in letzter Zeit der Trend verstärkt, eine Persönlichkeitsstörung bereits vor dem 18. Lebensjahr zu diagnostizieren (ICD-10; »lockerer« in der DSMIV), sie zumindest diagnostisch verbindlicher ins Kalkül zu ziehen,

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wenn typische, zeitstabil anhaltende, situationsübergreifende soziale Funktionsstörungen im Lebensverlauf existieren (HerpertzDahlmann u. Herpertz 2003). Zu Verwirrungen führte hier allerdings eine häufig eher institutionell fixierte Definitionsausrichtung, die zudem meist nicht an den aktuellen empirischen Ergebnissen, zum Beispiel der klinischen Entwicklungspsychologie, orientiert war. Die eine Klinik diagnostiziert keine Persönlichkeitsstörung und »rettet« sich in meist deskriptiv bleibende Ersatzdiagnosen, eine andere Klinik wiederum bestätigt eindeutig eine solche Persönlichkeitsstörung in der Entwicklung. Dies führte in der praktischen Arbeit mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen dazu, dass die störungsbedingten Sachverhalte in den nachfolgenden Hilfeplankonferenzen des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) mit angedachten Hilfeeinrichtungen und mit oder ohne psychiatrische Fachkraft »zerredet« wurden. Bürgin und Meng (2000) halten fest, dass die Borderline-Struktur im Kindes- und Jugendalter kontrovers diskutiert wird, und betonen, dass die Borderline-Störung des Erwachsenenalters nicht unmodifiziert auf das Kindes- und Jugendalter übertragen werden kann. Aber bereits in dieser Veröffentlichung wird die »Öffnung der diagnostischen Altersgrenze« vor das 18. Lebensjahr über eine übergreifende und »akzeptierte Syndromatologie« für das Kindesund Jugendalter angeregt. Von psychiatrischer Perspektive ausgehend, stellen HerpertzDahlmann und Herpertz (2003) – basierend auf kinder- und jugendpsychiatrischer Verlaufsforschung und anderen Forschungsangaben – fest, dass Frühsymptome der Persönlichkeitsstörungen (besonders der Borderline-Persönlichkeitsstörung) sich schon häufig in der Kindheit zeigen und sich als weiterführendes und feststellbares Kontinuum in der Adoleszenz differenzieren. Sie verweisen darauf, dass vor allem die Kinder- und Jugendpsychiatrie (im Gegensatz zur Erwachsenenpsychiatrie) eine Vorverlagerung der Persönlichkeitsstörungen in das Jugendalter bisher weitestgehend vermieden hat. Die Entwicklung von Psychopathie-Checklisten als Jugendversion (basierend auf der Psychopathiekonzeption nach Hare, z. B. Hare 2000) im Bereich der forensischen Forschung zeigt diesen Trend in der Psychiatrie an (Sevecke et al. 2003). Allerdings wurde

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die Diagnose der antisozialen Persönlichkeitsentwicklung in Bezug auf das Altersschema auch bisher schon lockerer gehandhabt, und vor allem durch die »Störung des Sozialverhaltens« gab es für die Zeit vor dem Erwachsenenalter eine für das Allgemeinverständnis vergleichbare Diagnose. Dieser Trend ist wichtig, da solche Impulse für die diagnostisch-klassifikatorischen Kompetenzen in der Psychiatrie – mit praktischen Auswirkungen eben für das genannte Spannungsfeld – in der Regel nicht von Psychologen ausgehen können, obwohl sachlich die entscheidenden Impulse aus der klinischen Entwicklungspsychologie kamen, wo zum Beispiel bereits in der Arbeit von Diepold (1994a, 1994b) und den Arbeiten von Hofmann (1999a, 1999b), Hofmann und Ettrich (1999) sowie Hofmann et al. (2000) das Auftreten borderline-typischer Erlebens-, Denkund Verhaltensweisen bereits im Alter von fünf bis sechs Jahren empirisch nachgewiesen wurde. Sicher ist weiterhin ein kritischer und immer bewusster, überlegter Umgang mit der Diagnosestellung einer Persönlichkeitsstörung notwendig, insbesondere der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation vor dem Erreichen des Erwachsenenalters. Dies ist besonders kritisch zu sehen im Hinblick auf die damit verbundene frühe Stigmatisierung. Andererseits eröffnet sich damit ein allgemein gültiger und weniger umstrittener Zugang zur notwendigen Früherkennung, und dies wiederum ist besonders wichtig im Hinblick auf die angemessenen Therapie- und Hilfeleistungen. Bindungsstörungen (attachment disorders) werden in der psychiatrischen Diagnostik klassifikatorisch eindeutig dem Kindesalter zugeordnet und von den Persönlichkeitsstörungen getrennt. Im Gegensatz zum entwicklungspsychologischen Konstrukt der Bindungen und Bindungsstörungen gibt es für die beiden nosologisch-klassifikatorisch beschriebenen Bindungsstörungen der gehemmten (reaktiven) und der enthemmten Form (nach ICD-10, DSM-IV) kein gesichertes empirisches Wissen, wohl aber die Erkenntnis, dass Kinder mit Bindungsstörungen ein spezifisches klinisches Bild zeigen, das durch andere Diagnosen nicht ausreichend abgebildet ist (Pfeiffer u. Lehmkuhl 2003). Diese kurze Gegenüberstellung soll sowohl die relevanten Be-

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sonderheiten innerhalb der Betreuungssysteme als auch ihre Unterschiede im Herangehen an schwerwiegende Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen zumindest andeuten. Das Problem bleibt aber für beide institutionellen Systeme, dass sie aufgrund der formalen wie auch der inhaltlichen Verquickung trotz dieser Unterschiede in ihrer Verantwortung voneinander abhängig sind. Die Abhängigkeit ergibt sich aus den Besonderheiten der zu versorgenden Klientel: – aus deren altersbedingtem Entwicklungsstand und der damit verbundenen Entwicklungschance durch eine professionelle Versorgung im komplementären System, – aus der altersbedingten und damit formal-juristischen Abhängigkeitskonstellation der Kinder und Jugendlichen und dem damit verbundenen Fürsorgeauftrag. Insbesondere bleibt mir nach Sichtung der vorliegenden Literatur die Frage, ob die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Professionen und Institutionen tatsächlich so gravierend sind oder ob nicht die aktuelle Forschung und moderne Sichtweise der Entstehung, Bewertung und Zuordnung schwerer Verhaltensprobleme von Kindern und Jugendlichen auf einen Konsens zusteuern könnten, der im Hinblick auf die hier notwendige Kooperation dringend zu wünschen ist.

■ Der Mensch als bio-psycho-soziales System – ein Entwicklungskonsens In dem Buch »Entwicklungspsychiatrie« (Herpertz-Dahlmann et al. 2003) werden für psychiatrische Verhältnisse durchaus erstmalig biopsychologische Grundlagen in Bezug auf die Entwicklung psychischer Störungen in einem Übersichtswerk dargestellt. Grundlegende Gedanken des Herangehens an die Entwicklungsproblematik schwerer Verhaltensbesonderheiten von Kindern und Jugendlichen, unter anderem von Persönlichkeitsstörungen, finden sich an verschiedenen Punkten »fast deckungsgleich« in der Klinischen Entwicklungspsychologie.

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Die Klinische Entwicklungspsychologie (Oerter 1999) fasst die Entwicklung des menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns auf als lebenslange Organisation und Reorganisation zwischen biologischen und sozialen Faktoren in der Individuum-UmweltBeziehung (Cicchetti 1999). Über diese vollzieht sich die Entwicklungsveränderung anatomischer und physiologischer Gehirnprozesse während der gesamten Lebensspanne vor dem Hintergrund der konkreten sozialen Entwicklungsbedingungen als sozio-emotionale Bewältigungsleistung. Also nicht nur die realen und konkreten sozialen Entwicklungsbedingungen im Lebenslauf sind für das Werden der individuellen Qualität des Fühlens, Denkens und Handelns entscheidend, sondern auch die zuvörderst genetisch bedingten biologischen Gegebenheiten. Diese bestimmen die Fähigkeiten eines Menschen, Emotionen zu regulieren, Informationen zu verarbeiten und Handlungskompetenzen aufzubauen. Diese wiederum führen zu individuellen Bewältigungsstrategien, zur Handlungs- und Zielkontrolle und damit zur Selbstorganisation der Persönlichkeit. Die in der Entwicklung konkret vorhandenen Lebensaufgaben werden als so genannte »Attraktoren« im Entwicklungsverlauf verstanden. Bezogen auf dieses allgemeine Grundmodell von Entwicklung, das im Ansatz auf Piagets »Gleichgewicht« von Assimilation und Adaption als grundlegendes Entwicklungsprinzip zurückgeht, besteht im konstruktivistisch-systemischen Bezugsrahmen der Klinischen Entwicklungspsychologie ein relativer Konsens. Dieser ist notwendig, um sich über die so genannte »abweichende Entwicklung« im allgemeinen Sinne einig zu sein und um sich schließlich nicht in normative oder Krankheits-/Störungsdiskussionen zu verfangen, die vor allem sozialpädagogische Vertreter abschrecken würden. Aber gerade in der sozialpädagogischen Arbeit des regelgeleiteten Informationssammelns zum Zweck der angemessenen und notwendigen Intervention (hier Hilfe zur Erziehung) wird auch individuelle Entwicklung an der Annahme von Lebensaufgaben und deren unterschiedlicher Realisierung im Erwachsenwerden gemessen. Die »abweichende Entwicklung«, in deren Folge schwere Verhaltensprobleme auftreten, kann aus dieser klinisch-entwicklungspsychologischen Perspektive an der Qualität der Selbstorganisati-

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on der Persönlichkeit, bezogen auf die »Attraktoren«, definiert werden (Oerter et al. 1999): Abweichende oder (aus klinischer Sicht) psychopathologische Entwicklung repräsentiert Zustände des Entwicklungssystems, – welche die »Attraktoren« nicht erreichen, also die Lebensaufgabe nicht bewältigen, – die nicht hinreichend isomorph zu den in der Kultur bestehenden Entwicklungsnormen sind. Mit ähnlichem Bezug auf das Konzept der Attraktoren beschreiben Brisch (1999) sowie Brisch und Hellbrügge (2003) die Verhaltensmuster bei Bindungsstörungen als Adaptionsversuche an das elterliche Bindungsangebot. Dass dieses Verhalten aber eben nicht nur durch die sozialen Bedingungen beeinflusst und gekennzeichnet ist, sondern dass die Bewältigung der Lebensaufgaben auch aus den Fähigkeiten heraus realisiert wird, über die ein Mensch »biologischerweise« verfügt, verdeutlichen in diesem Kontext (der Entwicklung des Menschen als Entwicklung der Selbstorganisation der Persönlichkeit) die Parameter der so genannten Resilienz und Vulnerabilität. Insbesondere diese beiden Parameter zeigen, dass die Entwicklung der Selbstorganisation in einem Wechselspiel von günstigen und ungünstigen Umweltfaktoren und den individuellen Verarbeitungsfähigkeiten (Bewältigungsfähigkeiten) dieser Umweltfaktoren bestimmt wird. Die Klinische Entwicklungspsychologie nimmt einen kontinuierlichen Übergang der unterschiedlichen Zustände in der Entwicklung und in konkreten Situationen zwischen »gesund« / »normal« und »krank« / »normabweichend« an. Das lässt sich auch hinsichtlich der Schwereausprägung von »abweichendem Verhalten« einsetzen. Insbesondere im Hinblick auf die Schweregraddifferenzierung der Persönlichkeitsstörungen ist auch bei Kernberg (z. B. 2000) dieser Denkansatz zu finden, der die Borderline-Persönlichkeitsorganisation als »Grenzorganisation« zwischen der neurotischen und der psychotischen Persönlichkeitsorganisation platziert. Die Bindungstheorie, als die Theorie der Auswirkung früher Bindungserfahrungen von Trennung, Verlust und den damit zusammenhängenden Ängsten auf die individuellen Entwicklungswege,

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wurde in den letzten Jahren grundlegend überdacht und weiter entwickelt. Nunmehr stehen nicht nur die Trennung und der Verlust im Mittelpunkt der Forschung und der praktischen Anwendung, sondern ein recht umfassendes Konzept der Entwicklungsorganisation des menschlichen Fühlens, Handelns und Denkens. In der modernen Bindungsforschung vereinen sich Ansätze aus der Entwicklungspsychologie, -physiologie und -neurologie. Die Bindungstheorie versteht sich als ein Entwicklungsmodell, bei dem sich, basierend auf der Entwicklungsaufgabe des Aufbaus von Bindungen, zunehmend innere Arbeitsmodelle (Bindungsrepräsentanzen) entwickeln, mit denen dann weitere Lebensaufgaben realisiert werden. Die Bindungsentwicklung ist dabei nicht schlechthin als Geschichte der Bindung an Personen zu verstehen, sondern als sich entwickelndes komplexes Regulationssystem emotional-affektiver, selbstreflexiv-kognitiver und beziehungsregulativer individueller Besonderheiten (Hofmann 2002). Bindungsrepräsentationen sind dabei kein retrospektives Maß, sondern sie lassen sich an Indikatoren im aktuellen Verhalten beobachten und nachweisen, die über die Qualität der lebensaufgabengeprägten Integration oder Bewältigungsleistung Auskunft geben. Bei Becker-Stoll (2002) sind hierzu umfangreiche Hinweise auf Zusammenhänge von spezifischen Bindungsrepräsentanzen in Bezug zu spezifischen Störungsbildern zu finden. Die empirischen Längsschnittuntersuchungen der Entwicklung des Bindungsverhaltens als Anpassungs- oder Bewältigungsleistung (zum Beispiel in der Regensburger und Bielefelder Längsschnittuntersuchung) zeigen, dass sich die früh erworbene Qualität der Bindung in den benannten Regulationsebenen bis in das späte Jugendalter mit abnehmender Sensitivität variabel weiter gestaltet. Viele Faktoren beeinflussen die weitere Bindungs- und Beziehungsentwicklung im Lebenslauf bis in das Jugendalter, sodass der frühe Determinismus, nach welchem sich die Bindungsorganisation nur in den ersten zwei bis drei Lebensjahren entwickelt, als überholt anzusehen ist. Dazu gehören die Beschreibung der Bindungsentwicklung als Kompetenzentwicklung für die jeweilige alterstypische Entwicklungsaufgabe oder die Betrachtung der Bindung im Sinne des Einflusses von Schutz- oder Risikofaktoren (Spangler u. Zimmermann 1999) in der weiteren Entwicklung.

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■ Die sich entwickelnde Borderline-Persönlichkeitsorganisation im Kindes- und Jugendalter Bindungsspezifisch sind besonders Kinder und Jugendliche mit einer »Borderline-Störung«, auch ob ihrer altersbedingten Abhängigkeitsverhältnisse, von der chronischen imperativen Angst geprägt, verlassen zu werden (Hofmann 2002). Diese repräsentiert ein subjektives Erleben der eigenen Person und der Umwelt sowie der Beziehung zu dieser, basierend auf einem Mangel an Reflexionsfähigkeit (Daudert 2001), das heißt einer reflexiv-kognitiven Regulationsstörung. Fonagy (2000) spricht von einer Mentalisierungsstörung, einer egozentrischen Konstruktion der Wirklichkeit. Die Bindungsforschung hat mittlerweile recht umfangreiche Ergebnisse zu Bindungsrepräsentanzen bei Menschen mit einer »Borderline-Störung« erhoben. Diese zeigen, dass sich vorwiegend desorganisierte, unsicher-verstrickte, ärgerlich-verstrickte, ungelöst-traumatische Muster in den Bindungsgeschichten finden lassen (Main 1995; Hesse u. Main 2002; Spangler et al. 2000; Buchheim et al. 2002; Fonagy et al. 2000). In der Regel stehen bei diesen Kindern und Jugendlichen für alle am Betreuungsprozess beteiligten Fachgruppierungen externalisierende Problemlösungsstrategien im Vordergrund (Katsching et al. 2000). Es handelt sich eben um das anfangs benannte schwere und oft mit entsprechend ungebremster affektiver »Wucht« vorgetragene Problemverhalten, das symbolisch-reinszenierend die verzweifelten Bewältigungsversuche der Betroffenen repräsentiert. Besonders im Jugendalter, bei der hier typischen Lebensaufgabe der Autonomieentwicklung, werden die Kompetenz- und Bewältigungsdefizite deutlich. In den Entwicklungsgeschichten der Betroffenen lassen sich nicht nur prägende frühkindliche Bindungserfahrungen von Verlust, Trauma und Vernachlässigung nachvollziehen; nach HerpertzDahlmann und Herpertz (2003) lassen sich bei Persönlichkeitsstörungen auch gesicherte biochemische und neurophysiologische, neuroradiologische Besonderheiten nachweisen, was wiederum das bio-psycho-soziale System der Entstehung von Persönlichkeitsstörungen in der allgemeinen Perspektive verdeutlicht.

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Alle beobachtbaren und für die Beteiligten spürbaren Verhaltensäußerungen lassen (das aber nur einem Wissenden) einen Einblick in das Innenleben der Betroffenen zu. Besonders hier ist das sozialpädagogische Fallverstehen ein adäquater Zugang, der auch im Bereich der medizinischen oder psychotherapeutischen Betreuung anwendbar ist. Auch wenn die Betonung der Leitverhaltensweisen oder Kardinalsymptome in den unterschiedlichen Klassifikationssystemen – ICD-10 (Impulsivität) und DSM-IV (Instabilität) – differiert, so können beide doch als kennzeichnend für eine diesbezügliche Verhaltensäußerung bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen stehen. Es handelt sich im Wesentlichen um Regulationsstörungen in folgenden Bereichen: – der affektiven Kontrollfähigkeit (Unfähigkeit, »Wut zu kontrollieren«) oder dem chronischen Gefühl der Leere, – des Identitätserlebens mit Selbst- und Fremdwahrnehmungsstörungen, so genannten Spaltungsphänomenen bis hin zu präpsychotischen Episoden oder dissoziativen Phänomenen, aber auch dem chronischen Gefühl, schlecht und ungeliebt zu sein, und – der instabilen Beziehungsqualität mit dem immer wieder missglückenden, aber unnachlassend verzweifelten Bemühen, ein fantasiertes oder reales Verlassenwerden zu vermeiden. Sie bilden den eigentlichen psychodynamischen Hintergrund für weitere beobachtbare Verhaltensphänomene, von denen nur einige wesentliche benannt werden sollen: – suizidale und selbstverletzende Handlungen, – Fremdgefährdung durch aggressiv-impulsive Entladungen, – dissoziale Entwicklung, – polytoxischer Substanzenmissbrauch, – sexuelle Devianzen, – Essstörungen. Tendenzielle Vorläufer sind bereits bei Kindern ab fünf bis sechs Jahren vorhanden; hier verweise ich auf Diepold (1994a, 1994b) und auf eigene Untersuchungen bei Heimkindern und -jugendlichen ab einem Alter von acht bis zehn Jahren (Hofmann 2002).

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Entscheidend aber ist, dass durch diese, das Betreuungssystem bereits früh überlastenden Verhaltensbesonderheiten genau das passiert, was einer sicheren und damit »heilenden Intervention« entgegensteht: Die Kinder und Jugendlichen werden zu Wanderern zwischen den Versorgungswelten. In unserer Studie (Hofmann 2002) konnten wir als Beispiel zehn- bis zwölfjährige Kinder kennen lernen und untersuchen, die in ihrem jungen Leben bereits bis zu zehn Mal die Versorgungsstruktur gewechselt hatten oder wechseln mussten. Dieses »Pendeltürkind-Phänomen« ist es, was alle am Versorgungs- oder Betreuungsprozess beteiligten Fachgruppen in der professionellen Arbeit und im professionellen Miteinander aktivieren muss.

■ Von der Notwendigkeit einer bindungsfundierten therapeutischen und sozialpädagogischen Philosophie im Umgang mit betroffenen Kindern und Jugendlichen Sicher scheint der Verweis auf eine bindungsfundierte Versorgung erst einmal als eine naiv anmutende und pragmatische Reduktion. Folgt man dem einleitenden Gedanken der notwendigen sicheren Bindungserfahrung und der darin verkörperten Chance und den Potenzen für die vermeintlich »heilungsbringende Stabilisierung« aller hier benannten Ebenen, so mag dies stimmen. Es zeigt sich aber, dass selbst hierfür oftmals nicht die notwendigen formalen Bedingungen vorliegen. Unter ähnlichen Mangelbedingungen arbeiten häufig aber auch die beigezogenen Helfer, die wiederum auch nur mit dem formalen Wasser kochen können, das ihnen zur Verfügung steht. Geht man diesen Bindungsgedanken weiter und sieht die Bindungstheorie nicht als eine, die sich nur mit der Bindung an Personen, sondern auch mit den komplexen Regulationsbesonderheiten in der Systementwicklung von Identität, Affektivität und Beziehung im Lebenslauf beschäftigt, so lassen sich hieraus viele Ansatzmöglichkeiten entwickeln, die sich nicht auf eine schulenspezifische Interventionsmethode beschränken, sondern sich als

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prinzipielles, Denken und Handeln leitendes Wirkprinzip erkennen lassen. Die in der Sozialpädagogik angestrebte Falldeutung, das Verstehen der individuellen Entwicklung, ist auch bei den Klinikern nicht an eine Diagnose gebunden. Die Erhebung des Lebenslaufs, der Biografie und deren Interpretation ist ein grundlegendes Element der therapeutischen Arbeit, verbunden mit der Verhaltensbeobachtung für die Erhebung des psychischen Status und dem notwendigen Einsatz anderer diagnostischer Methoden, die in der Psychiatrie – neben testdiagnostischen Verfahren – auch biochemische und bildgebende Methoden sein können. Prinzipiell möchte ich vier Ebenen einer bindungsfundierten Arbeit mit betroffenen Kindern und Jugendlichen andeuten, die nicht an schulenspezifische Therapiekonzeptionen oder an therapeutische Settings (Einzel- oder Gruppentherapie) gebunden sind, sondern eher einen multiprofessionellen und multimodalen Denkansatz repräsentieren: – die Ebene der stabilen (sicheren) Entwicklungsbedingungen, die den formalen (institutionellen) Rahmen in einer multimodalen Betreuungskette beschreibt; – die Ebene der Therapie- und Betreuungsplanung, die angeregt durch verhaltenstherapeutische Konzepte (in formaler Anlehnung an Linehan 1996) eine mehrstufige, geregelte (stabil-kontrollierte) Betreuungslinie verdeutlicht – innere Struktur durch äußere Struktur, – die Ebene der Therapeuten und verantwortlichen Betreuungspersonen als »sichere Basis«; – grundlegende wissensgeleitete »innere Einstellungen« von professionellen Helfern, die das Halten und besonders das Aushalten verbessern können.

■ Multimodale Betreuung Die interventionsspezifischen Veränderungschancen müssen vor dem Hintergrund des Entwicklungsaspekts, der die individuellen Entwicklungspotenzen betont (Ressourcenorientierung), besonders in der Schaffung risikomildernder Bedingungen (Petermann 2000) sowie entwicklungs- und bindungsstabilisierender Bedingun-

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gen (Hofmann 1999b) gefunden werden. Da die Betroffenen mit den spezifischen Störungsäußerungen nicht nur im umschriebenen therapeutischen Rahmen als »Behandlungsfall«, sondern auch im interdisziplinären Raum im Bereich der Hilfen zur Erziehung in den Jugendämtern und im Bereich der Jugendgerichtshilfe eine Bedarfslage entwickeln, kann die Diskussion der ressourcenorientierten Entwicklungschance nicht eine rein therapeutische Implikation haben. Sie muss im Verständnis grundlegender Betreuungsund Umgangsbedingungen betrachtet werden. Diese Herangehensweise basiert auf dem Konzept der multimodalen Therapie (Petermann 2000), das ich im Sinne der multimodalen Betreuung erweitern möchte. Während die multimodale Therapie den mehrschichtigen Behandlungsschwerpunkt (therapeutische Strategien und Methoden, Pharmakotherapie, Umfeldtherapie) zum Ausdruck bringt, impliziert die multimodale Betreuung die Notwendigkeit der professionellen, interdisziplinären Zusammenarbeit von ambulanten und stationären Psychotherapeuten, Mitarbeitern der staatlichen Institutionen (Ämter) und den Trägern der Hilfen zur Erziehung. Diese Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit ist nicht nur eine populistische Forderung, sondern eine sich aus dem Störungsbild ergebende, grundlegende, bindungsstabilisierende Bedingung im Hinblick auf die Phänomene der reflexivemotionalen Regulationsstörungen (hier sei als wesentlichstes Phänomen die Spaltung genannt). Die multimodale Betreuung hat das Ziel der bindungsorientierten konstanten und für die Betroffenen nachvollziehbaren Stabilisierungsbedingungen. Die Stabilität der formal übergreifenden Betreuungsstrukturen im Sinne – des professionellen Wissens um die Störungsbesonderheiten, – der personellen Verbindlichkeit, – der verbindlichen Absprachen und – der Kontextkonsequenz sind die Rahmenbedingungen, um die ressourcenorientierten Veränderungschancen umzusetzen und zu nutzen.

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■ Die Ebene der Therapie- und Betreuungsplanung Dass äußere Stabilität, besonders bei den hier betroffenen Kindern und Jugendlichen, zu einer inneren Stabilisierung führt, ist denen bekannt, die mit jenen arbeiten. Eine »durchsichtige«, geregelte und grenzsetzend einzuhaltende Betreuungskonzeption, die im Kern der Regulation der Emotionskontrollfähigkeit und der Stabilisierung des Identitätserlebens dient, wird hier nur in der Übersicht dargestellt. 1. Phase des Kennenlernens: Halten – Aushalten – äußeres Strukturieren (Grenzsetzung über Klärung und Konfrontation). 2. Phase der gruppendynamischen Strukturierung: Halten – Aushalten – Beginn der inneren psychischen Strukturierung (die sich zwangsläufig aus den gruppendynamischen Einflüssen ergibt). 3. Phase der geklärten gruppendynamischen Auseinandersetzung und der Bewältigung der Anforderungen aus der Umwelt (Ausbildung, Beruf). 4. Halten – Aushalten als relative Komponente – innere Strukturierung und Realitätsorientierung (u. a. Familienarbeit).

■ Therapeuten und verantwortliche Betreuungspersonen als »sichere Basis« Dass aus bindungstheoretischer Sicht die Entwicklungschancen durchaus real existieren und wissenschaftlich fundiert sind, begründet sich im Phänomen der »Earned Secure« sowie in der Wirkung von Schutzfaktoren und ihrer Bedeutung für die Beeinflussung der Bindungsrepräsentanzen und der damit verbundenen Borderline-Persönlichkeitsorganisation. Bowlby formulierte 1983 fünf therapeutische Aufgaben, die – bindungstheoretisch fundiert – auch die Basisvariablen für die therapeutische und die pädagogisch-betreuerische Arbeit mit Borderline-gestörten Kindern und Jugendlichen darstellen. Insofern möchte ich die Bezeichnung Therapeut auf »in (Bindungs-)Verantwortung stehende Bezugsperson« erweitern:

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– der Therapeut als sichere Basis für die Selbstexploration, – Reflexion innerer Arbeitsmodelle in der gegenwärtigen Beziehung, – Prüfung der therapeutischen Beziehung, – Genese der inneren Arbeitsmodelle in der Bindungsrepräsentation der Eltern, – Realitätsprüfung der »alten« inneren Arbeitsmodelle auf Angemessenheit. Im Therapie- und Betreuungsprozess bei Borderline-gestörten Kindern und Jugendlichen ist jede verantwortliche Bezugsperson eine Bindungsperson, die von den Betroffenen aus deren eigenen Erfahrungen prompt mit dem Filter der »Borderline-Angst« (Angst, verlassen, enttäuscht oder verletzt zu werden) gesehen wird. Ebenso werden die Prozesse der reflexiv-emotionalen Regulationsbesonderheiten – wie Spaltung, primitive Idealisierung, projektive Identifizierung – in Bezug auf die aktuellen Bindungspersonen aktiviert. Auf die Mechanismen der Übertragung früher Bindungserfahrungen auf die aktuellen Bezugspersonen möchte ich aus bindungstheoretischer Sicht in der Form verweisen: Die Kinder und Jugendlichen gestalten entsprechend ihren inneren Repräsentanzen, die auf den internalisierten Bildern der frühen Objekterfahrungen mit den primären Bindungspersonen basieren, die bindungsrelevanten aktuellen Situationen.

■ »Innere Einstellungen« von professionellen Helfern, die das Halten und besonders das Aushalten verbessern können Eine Arbeit mit Borderline-gestörten Kindern und Jugendlichen ist nur möglich und tragfähig, wenn sie sich gehalten und geschützt fühlen. Prinzipiell gilt diese Feststellung, egal, was sie tun!

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■ »Halten« als sichere Basis – personeller Faktor Das Halten ist der wesentliche Teil der therapeutischen und pädagogisch-betreuerischen Beziehung im Sinne der personellen Grundhaltung zu Borderline-gestörten Kindern und Jugendlichen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist es deshalb bedeutsam, weil darüber innere Arbeitsmodelle der Bindung und daraus folgend der Identität als Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Ressourcen korrigiert und entwickelt werden. Halten beschreibt eine Fähigkeit und eine innere Haltung als individuelle nicht lernbare Therapie- und Erziehungskompetenz. Es bedeutet das bindungsrelevante Schützen und Beschützen der Kinder und Jugendlichen. Praktisch heißt dies, für sie einzutreten (Vermittlung eines rückhaltlosen Schutzes ohne Gegenleistung, Liebe »trotz« Begrenzung, Liebe trotz eigener Wut, Angst, Demütigung, Hilflosigkeit). Aus der Perspektive der protektiven Funktion oder der bindungsrelevanten Schutzfunktion bietet diese Grundhaltung ein Nachholen der in der Psychogenese nicht erlebten Bindungsstabilität. Haltefähigkeit als Vermittlung der sicheren Basis ist gleichzeitig ein personifiziertes Produkt der therapeutischen und pädagogisch-betreuerischen Arbeit und ein therapeutischer Wirkfaktor. ■ »Aushalten« als personelle Voraussetzung Prinzipiell sind die bindungsspezifischen Prämissen der Feinfühligkeit und die Grundlagen der damit in Verbindung stehenden Fähigkeit der Metakognition die Basis für die therapeutische und pädagogisch-betreuerische Arbeit. Das Konzept des feinfühligen Pflegeverhaltens der primären Bindungspersonen lässt sich analog auf die Arbeit mit Borderlinegestörten Kindern und Jugendlichen anwenden. Therapeuten und mehr noch die im alltäglichen Ablauf in Verantwortung stehenden Bezugspersonen müssen in der Lage sein, die Signale der Betroffenen mit größter Aufmerksamkeit wahrzunehmen, sie richtig (aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen) zu deuten, angemessen und prompt zu reagieren. Wendet man das Konzept der Metakognition oder der Selbstreflexivität (Fonagy) auf die Ansprüche der Akteure von Therapie und Betreuung an, so begibt man sich auf das weite Feld der personellen Fähigkeiten und Eig-

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nung sowie der eigenen psychosozialen Voraussetzungen der »Helfer«. Die Fähigkeit zur Reflexion eigener Befindlichkeiten und das reflexive Erkennen der Befindlichkeiten und deren Interpretation bei anderen Personen, in dem Fall der betroffenen Kinder und Jugendlichen, sind Grundvoraussetzungen (Hofmann 2002).

■ Betreuung von betroffenen Kindern und Jugendlichen in Betreuungsformen der Jugendhilfe ■ Familienpflege Pflege- oder Adoptivkinder sind im Allgemeinen Kinder mit vielfältigen psychosozialen Belastungen. In diesem Verständnis zeigen sie statistisch bedeutsam häufiger psychische Störungen als andere gleichaltrige Kinder. Mit ihren konflikthaften Erfahrungen und nachhaltigen Ängsten stellen Kinder und Jugendliche mit einer sich entwickelnden Borderline-Persönlichkeitsorganisation die Pflege- oder Adoptivfamilien vor Erziehungs- und Bewältigungsprobleme, die besonders bei diesen zum Bindungsabbruch führen können. Im Gegensatz zur stationären Jugendhilfe, die in Heimen oder ähnlichen Betreuungseinrichtungen gut strukturiert und organisiert ist, sind Pflege- und Adoptiveltern im Alltag häufig »Einzelkämpfer«. In der Durchsicht der Literatur für Pflegeeltern ist unabhängig von der theoretischen Herangehensweise meist nachzulesen, was Pflege- oder Adoptiveltern an Verhaltensweisen empfohlen wird, um den Kindern unter anderem Sicherheit, Schutz und Geborgenheit zu geben und deren Entwicklungsprozess positiv zu gestalten. Explizit veröffentlichte Erfahrungen zu Reinszenierungsbesonderheiten von Kindern und Jugendlichen mit einer sich entwickelnden Borderline-Persönlichkeitsorganisation und deren innerfamiliäre Folgen in Pflege- oder Adoptivfamilien gibt es aber nicht. Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass die hier notwendige »therapeutische Beziehungsarbeit« nur dann erfolgreich sein kann, wenn das Pflegeverhältnis zwingend durch andere Institutionen, wie professionell psychotherapeutisch-beratende Hilfen, und durch die Kinder- und Jugendhilfe in einer gut struk-

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turierten Zusammenarbeit unterstützt wird. Da die Zuweisung meist jüngerer Kinder in die Pflege- oder Adoptivfamilien erfolgt, werden deren noch unspezifische Verhaltensstörungen »unterschätzt«.

■ Ambulante und andere Hilfen Ein ähnliches Manko der empirischen Fundierung und vergleichbarer Erfahrungen gibt es bei ambulanten Hilfen und zum Beispiel für erlebnispädagogische Maßnahmen. Der Trend, der aufgrund finanzieller Mangelzustände eher von scheinbar »kostenintensiveren professionellen stationären Hilfen« weggeht, erscheint bei sich entwickelnden Borderline-Persönlichkeitsorganisationen nicht unproblematisch. Bei den ambulanten Hilfen muss im Hinblick auf die formale Strukturierung der Grundstein in einer klaren Regelung des zeitweise therapeutischen und pädagogischen Einwirkens gelegt werden. Die praktischen Erfahrungen zeigen hier, dass bereits recht intensiv ausgeprägte Qualitäten der Borderline-Persönlichkeitsorganisationen eher kontraindiziert sind. Ebenso gilt dies für erlebnispädagogische Maßnahmen, bei denen ähnlich der Pflege- oder Adoptivfamilien eine Einbindung in ein strukturiertes therapeutisches Umfeld zwingend notwendig ist. Dies fehlt aber ob der territorialen »Abgeschiedenheit« solcher Projekte, und allein eine räumliche Trennung vom Konfliktherd ist nicht das Mittel der Wahl, zumal hier ein »Weggeben im großen Stil« auch bindungsorientiert eher zweifelhaft erscheint.

■ Stationäre Hilfen Verschiedene Projekte der offenen stationären Jugendhilfe zeigen, dass eine Erfolg versprechende bindungsfundierte Arbeit in »kleinen professionellen Lebenswelten« (dezentrale Wohngruppen oder Heimgruppen mit sechs bis acht Kindern und Jugendlichen) mit gleichzeitig durchgängig strukturierter professioneller Beziehungsarbeit im Halten und Aushalten möglich ist (Hofmann 2002; s. a.

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www.move-jugendhilfe.de). Diese ist, ob der grundlegenden Philosophie »Menschen statt Mauern«, zwar in diesem Zeitraum kostenintensiver als andere Hilfeformen, jedoch bringt diese Betreuungsform, über die Entwicklungszeit »berechnet«, eine Erfolgschance, die meines Erachtens den Einsatz aller Mittel rechtfertigt. In einer kurzen retrospektiv-statistischen Übersicht konnten in der von uns untersuchten Einrichtung (MOVE) lediglich 20 Prozent Bindungsabbrüche registriert werden, die gegen die haltende Betreuungsphilosophie standen. Das heißt, entweder die betroffenen Kinder und Jugendlichen mit einer sich entwickelnden Borderline-Persönlichkeitsorganisation selbst haben diese Hilfeform beendet oder die Teams sahen sich wegen der Probleme außerstande, die Betroffenen »weiter zu halten«. Bei weiteren zehn Prozent beendeten entgegen der Vereinbarung die Jugendämter das Betreuungsverhältnis, zu einem Zeitpunkt, als sich die Betroffenen zur Krisenintervention in der Kinder- und Jugendpsychiatrie befanden. Bei den verbliebenen 70 Prozent – und das ist angesichts der eingangs skizzierten Problematik von gehäuften destruktiven Verhaltenswiesen keine geringe Zahl – konnten doch erhebliche Fortschritte in Richtung auf eine »normalere« Persönlichkeitsentwicklung erreicht werden, die die Chance dieser jungen Menschen auf eine befriedigende Lebensgestaltung wesentlich verbessern.

■ Literatur Ader, S.; Schrapper Ch. (2003): Fallverstehen und Deutungsprozesse in der sozialpädagogischen Praxis der Jugendhilfe. In: Henkel, J.; Schnapka, M.; Schrapper, Ch. (Hg.), Was tun mit schwierigen Kindern? Münster, S. 34– 76. Becker-Stoll, F. (2002): Bindung und Psychopathologie im Jugendalter. In: Strauß, B.; Buchheim, A.; Kächele, H. (Hg.), Klinische Bindungsforschung. Stuttgart, S. 196–213. Beerlage, I.; Busse, J.; Fabian, T.; Giese, E.; Haselmann, S.; Mulkan, A. (1999): Von der Psychologie für Soziale Arbeit zu einer Sozialarbeitspsychologie. In: DGVT (Hg.), Psychologie in der Sozialarbeit. Tübingen, S. 361–386. Bösen, W. (1994): Kinder in geschlossenen Einrichtungen. Frankfurt a. M. Brisch, K. H. (1999): Bindungsstörungen. Stuttgart.

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■ Martin Urban Erwachsenen-Psychiatrie: Chance nachholender Bindungsentwicklung?

Ohne der weiteren wissenschaftlichen Ursachenforschung vorgreifen zu wollen: Nehmen wir einmal hypothetisch an, dass psychiatrische Krankheitsbilder in wesentlichem Ausmaß auf Störungen der Bindungsentwicklung im Kindesalter zurückzuführen wären. Inwieweit sind dann korrigierende Erfahrungen möglich – nicht nur bei jugendlichen, sondern auch bei erwachsenen Patienten? Mit anderen Worten: Gibt es eine »nachholende Bindungsentwicklung«, die wir fördern und als therapeutischen Wirkfaktor einsetzen können? Es leuchtet wohl unmittelbar ein, dass die Beantwortung dieser Frage nicht nur von höchstem Interesse für das Schicksal vieler Einzelner ist; darüber hinaus müsste sie – im Fall einer Bejahung – das Gesicht der Psychiatrie erheblich verändern. Um so erstaunlicher ist es festzustellen, dass zu dieser Frage bisher so gut wie keine empirische Forschung vorliegt. Das ist nur damit zu erklären, dass die Frage in dieser Konsequenz bisher nicht gestellt wurde. Und das wiederum liegt daran, dass die Bindungstheorie in der psychiatrischen Lehre und Theoriebildung bisher schlichtweg nicht rezipiert wurde – oder sollen wir sagen: dass sie verdrängt wurde? Ich muss gestehen, dass auch mir als Psychologen das Thema lange Jahre regelrecht entfallen war, obwohl ich im Studium sehr wohl Vorlesungen über die Bindungstheorie gehört und auch ein Seminar dazu besucht hatte – aber das war eben ein Teil der »Kinderpsychologie« (offiziell heißt es: Entwicklungspsychologie). In meiner psychotherapeutischen wie in meiner psychiatrischen Aus- und Weiterbildung kam das Thema nicht vor. Dabei scheint es bei genauerem Hinsehen durchaus Ansätze in der »psychiatrischen Szene« zu geben, namentlich in alternativen Ansätzen, die man theoretisch mit der Bindungstheorie hätte in

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Verbindung setzen können. Ich denke da zuerst an das von Loren R. Mosher 1973 in Kalifornien entwickelte und von Luc Ciompi 1983 nach Europa transferierte Soteria-Modell einer Akutbehandlung von Psychosen, die im Gegensatz zur klassischen Psychiatrie nicht in erster Linie auf Psychopharmaka, sondern auf ein milieutherapeutisches Setting setzt. Kern dieses Konzepts ist die persönliche und längerfristig konstante Begleitung des Patienten während der akuten Psychose – als schlichtes menschliches »DabeiSein« (to be with), was charakteristischerweise psychiatrischen Laien – zum Beispiel Hausfrauen oder erfahrenen Müttern – besser gelang als geschultem Fachpersonal. Nach den bisherigen Forschungsergebnissen kann man sagen, dass diese Behandlung wirksam ist. Nur: Welches sind die entscheidenden Wirkfaktoren? »Wie wirkt Soteria?« heißt denn auch das neueste Buch von Ciompi und seinen Mitarbeitern (2001) über dieses in der psychiatrischen Fachwelt noch umstrittene, aber zumindest von den Betroffenen hoch gelobte Modell einer alternativen Psychiatrie. Umso mehr verwundert es, dass trotz der offensichtlichen inhaltlichen Nähe der Begriffe das »Dabei-Sein« nicht mit der Bindungstheorie in Beziehung gesetzt wird; der Begriff »Bindung« taucht im Stichwortverzeichnis nicht einmal auf. Was Höger (s. Beitrag in diesem Band) von Psychotherapie-Patienten sagt: dass sie in einer Notsituation sind und daher ihr Bindungssystem aktiviert ist, sie also jenseits aller Abwehrmechanismen eine Schutz und Halt gebende Bezugsperson suchen, das gilt sicher auch und in noch intensiverem Maß für Menschen, die eine akute Psychose erleiden. Auch der Vergleich Ciompis, das Personal solle mit dem akut psychotischen Menschen »wie mit einem fieberkranken Kind« umgehen, lässt bindungstheoretische Vorstellungen aufkommen.

■ Betreutes Wohnen als bindungsrelevantes Setting Auch ich habe die Bedeutung der Bindungstheorie erst nachträglich »wiederentdeckt«, nachdem mich bestimmte Erlebnisse im psychiatrischen Alltag zu der Erkenntnis gebracht hatten, dass in unserem Behandlungskonzept etwas Wesentliches fehlte. Nach-

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denklich gemacht hat mich vor allem das Schicksal einer jungen Borderline-Patientin, die in extremem Ausmaß jenes typische Muster von enormen Gefühlsschwankungen und hoch ambivalenten Reaktionen im Kontakt zeigte, die im ICD-10 unter der Ziffer F60.31 beschrieben werden. Unter der liebevollen Zuwendung einer einfühlsamen, aber auch konsequenten Therapeutin blühte sie förmlich auf, wurde umgänglich und fing an, an sich selbst und an ihre Zukunft zu glauben. Sie begann – wohl nicht zufällig – ein Studium der Sozialpädagogik. Die Entlassung aus der Klinik – nach immerhin mehr als einem halben Jahr, was damals noch möglich war – bedeutete die Trennung von ihrer Therapeutin. Es gab zwar eine »ambulante Nachbehandlung«, die aber aus formalen Gründen – die Therapeutin war ja für die stationären Patienten angestellt – knapp gehalten wurde. Und zur therapeutischen Kultur gehörte es bis jetzt, egal nach welcher Therapiedauer, »die Trennung konsequent zu bearbeiten«. Wer das als Therapeut nicht strikt genug tat, holte sich in der Fallbesprechung einen Tadel ein. – Jedenfalls, diese Patientin kam mit der Trennung nicht zurecht. Sie wurde wiederholt mit Alkoholintoxikation und Selbstverletzungen in der Medizinischen Klinik aufgenommen, was ihr als »Borderline-typisches Agieren« ausgelegt wurde. Schließlich ist sie bei einem dieser Suizidversuche gestorben. In meiner tiefen Betroffenheit konnte ich mich dieser Deutung ihres Verhaltens nicht anschließen. Waren hier nicht legitime, elementare Bindungsbedürfnisse in einem Menschen wieder erwacht, der – eben aus mangelhaften Bindungserfahrungen in seinem bisherigen Leben – jenes typische Störungsmuster entwickelt hatte? Und hätte man diesem wiedererwachten primären Bedürfnis nicht positiver begegnen, es therapeutisch nutzen können? Aus solchen Überlegungen heraus habe ich vor 15 Jahren begonnen, die Hilfeform des ambulant betreuten Wohnens so zu gestalten, dass sie über die Funktion eines sozialen Rahmens und äußerer Sicherheit hinaus den grundlegenden Bindungsbedürfnissen psychisch kranker Menschen gerecht werden sollte (vgl. Urban 1998). Das Betreute Wohnen bot für zwei Jahre, teilweise auch länger, die Möglichkeit, im Rahmen einer sozialen Eingliederungsmaßnahme Menschen mit schweren psychischen Störungen in einer Wohngemeinschaft oder auch im Betreuten Einzelwohnen zu

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begleiten – und eben diese Begleitung sollte nicht nur als soziale Unterstützung verstanden werden, sondern als ein therapeutischer Prozess, der im Sinne der Bindungstheorie zu gestalten wäre. Bowlby selbst hat aus seiner Theorie Regeln für die Therapie erwachsener Menschen abgeleitet (1988), an die ich mich – in der von Brisch (1999, S. 96ff.) dargebotenen Form – bei der Beschreibung unserer Richtlinien anlehnen möchte: – Der Betreuer, das Team müssen sich »in ihrem Fürsorgeverhalten durch das aktivierte Bindungssystem des hilfesuchenden Patienten ansprechen lassen und ihm zeitlich, räumlich und emotional zur Verfügung stehen« (Brisch 1999, S. 97). – Der Betreuer »muss als eine verlässliche sichere Basis fungieren, von welcher aus der Patient mit emotionaler Sicherheit seine Probleme bearbeiten kann«. – Der Betreuer »verhält sich in Kenntnis der unterschiedlichen Bindungsmuster flexibel im Hinblick auf Nähe und Distanz in der realen Interaktion mit dem Patienten sowie im Hinblick auf die Gestaltung des Settings«. – Die folgenden Punkte nach Bowlby beziehen sich auf eine direkte, in der Therapie ausgesprochene »Deutung« des aktuellen Bindungsverhaltens. Betreutes Wohnen ist jedoch keine Psychotherapie im formalen Sinn, und ich bin im Lauf der Jahre zu der Überzeugung gekommen, dass korrigierende Bindungserfahrungen im milieutherapeutischen Setting wirksam werden können, ohne dass sie direkt angesprochen und bewusst gemacht werden. – Wichtig dagegen erscheinen mir zwei weitere Regeln, die sich auf die Trennung, das heißt in unserem Fall, auf den Wegzug aus dem Betreuten Wohnen beziehen: Der Betreuer »verhält sich bei der behutsamen Lösung des (therapeutischen) Bündnisses als Vorbild für den Umgang mit Trennungen. Die Initiative für die Trennung wird dem Patienten überlassen. Dieser wird darin ermutigt, Trennungsängste einerseits und die Neugier auf Erkundung eigenständiger Wege ohne Therapie andererseits zu verbalisieren und … auszuprobieren. Eine von (den Betreuern) forcierte Trennung könnte vom Patienten als Zurückweisung erlebt werden. Die psychische Trennung ist nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der ›sicheren Basis‹. Die Mög-

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lichkeit, bei erneuter ›Not und Angst‹ zu einem späteren Zeitpunkt auf die (Betreuer) zurückgreifen zu können, bleibt bestehen.« – »Frühzeitige Wünsche nach Trennung und/oder mehr Distanzierung in der (therapeutischen) Beziehung könnten bei Patienten mit bindungsvermeidendem Muster dadurch ausgelöst worden sein, dass der Therapeut zu viel emotionale Nähe anbot, die der Patient noch nicht aushielt und als Bedrohung erlebte.« Eine so geartete, bindungstheoretisch fundierte Begleitung im Betreuten Wohnen erfordert einen gewissen quantitativen und qualitativen Standard, der gewiss hoch, aber nicht unerreichbar ist. Ein Betreuungsschlüssel von 1:10 (wie er in Baden-Württemberg üblich war) ist freilich in vielen Fällen unzureichend. Wir hatten über einige Jahre die Ausnahmeregelung, einen Schlüssel von 1:4 oder 1:6 abrechnen zu können, was dann eines Tages im Zuge von Kostendämpfungsmaßnahmen gestrichen wurde. Diesem Mangel begegnen wir heute durch die Mitarbeit ehrenamtlicher Kräfte, darunter auch Psychiatrie-Erfahrener (also ehemaliger Betroffener), was sich sehr bewährt hat. – Zur Qualitätsanforderung ist zu sagen, dass es durchaus ausreichend ist, wenn ein Mitglied des Teams eine therapeutische Ausbildung hat und vor allem den bindungstheoretischen Aspekt in die Analyse des Verhaltens und die Planung von Maßnahmen und Zielen einbringt.

■ Empirische Ergebnisse Welche Wirkung hat eine solche Maßnahme? Lässt sich eine Veränderung im Bindungsverhalten der psychisch kranken Menschen nachweisen, im Sinne eines Fortschritts hin zu stabileren Mustern – also eine »nachholende Bindungsentwicklung«? Ich habe versucht, im Nachhinein die Entwicklung des Bindungsverhaltens aller Bewohner meiner Einrichtung aus den Jahren 1992–1999 zu untersuchen. Dabei habe ich die Patienten eingeteilt in eine Borderline-Gruppe und eine Psychose-Gruppe,

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wobei die erstere nicht nur die eng umschriebene Diagnosegruppe des ICD-10, F60.31 umfasst, sondern in einem strukturdiagnostischen Verständnis (etwa im Sinne Kernbergs) alle »schweren Persönlichkeitsstörungen von Borderline-Niveau«, das heißt mit erheblicher Beeinträchtigung der zentral steuernden Ich-Funktionen wie Impulskontrolle, Realitätsbezug, Selbstwert-Regulation und Identität, jedoch ohne psychotische Symptomatik. In dieser Gruppe befinden sich also nicht nur emotional überschießend reagierende Persönlichkeiten, sondern zum Beispiel auch eher zurückgezogene (schizoide) und überangepasste (ängstlich-vermeidende und abhängige Persönlichkeitsstörungen). – In der Psychose-Gruppe befinden sich Menschen mit schizophrenen und schizoaffektiven Erkrankungen, keine rein manisch oder manisch-depressiv Erkrankten. Methodisch betritt eine solche Untersuchung Neuland. Denn die bisher bekannten Instrumente dienen lediglich der Erfassung des Bindungstyps; für eine Erfassung der Schwere der Bindungsstörung fehlt bisher – so weit ich sehe – jegliches Instrument. Wir mussten hierfür ein eigenes Schätzverfahren entwickeln. Aber dies war nicht die einzige Schwierigkeit. Es galt, Anfangsund Endstatus einer mehrjährigen Maßnahme nachträglich zu beurteilen. Da ein Großteil der Bewohner nicht mehr erreichbar war oder inzwischen erhebliche Veränderungen erlebt hatte, habe ich anstelle der üblichen Interviewmethode versucht, alle Bewohner zu beurteilen nach dem Erwachsenen-Bindungsprototypen-Rating (EBPR) von Strauss und Lobo-Drost (1999). Anhand der in diesem Inventar gebotenen Items konnten wir ein nachträgliches Fremdrating durchführen bezüglich des Bindungsverhaltens, das die Bewohner bei Aufnahme in die Einrichtung zeigten. Das ist freilich eine unbefriedigende Methode – sie zeigt die Notwendigkeit einer Begleitforschung für solche Projekte, um die wir uns seinerzeit vergeblich bemüht hatten. Zur Verbesserung der Objektivität habe ich meine bereits seit sechs Jahren bei mir tätige Mitarbeiterin gebeten, das gleiche Rating vorzunehmen. Es zeigte sich, dass die Einordnung teilweise recht schwierig war und häufig mehrere Unterformen unsicheren Bindungsverhaltens alternativ infrage kamen. Das lag weniger an Schwierigkeiten des Instruments, sondern hauptsächlich daran,

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dass unsere Bewohner häufig ein inkonstantes Beziehungsverhalten zeigten, beispielsweise zwischen hoher Anhänglichkeit und plötzlichem Rückzugsverhalten schwankten. In Zweifelsfällen haben wir bezüglich der Typenzuordnung einen Konsens unter uns Ratern hergestellt. In der Beurteilung der bindungsrelevanten Verhaltensmuster selbst hatten wir eine hohe Übereinstimmung. Noch schwieriger war die Einschätzung einer Veränderung des Bindungsverhaltens, was nicht nur eine Typisierung, sondern eine Quantifizierung der »Bindungsstörung« voraussetzt. Das Erwachsenen-Bindungsprototypen-Rating soll ja (wie auch das Adult Attachment Interview) Varianten normalen – also nicht pathologischen – Verhaltens beschreiben. Für die quantitative Einschätzung von Bindungsstörungen liegt offenbar bisher kein Instrument vor. Die von Brisch (1999, S. 83ff.) aufgezählten Typen von Bindungsstörungen, die zunächst für Kinder und Jugendliche beschrieben wurden, stehen natürlich in sachlichem Zusammenhang mit bestimmten Prototypen des Erwachsenen-Bindungsprototypen-Ratings, zum Beispiel »fehlendes Bindungsverhalten« mit Typ P5 (zwanghaft selbstgenügsam), oder »aggressives Bindungsverhalten« mit P3 (instabil beziehungsgestaltend). Es wäre für die weitere klinische Forschung dringend wünschenswert, wenn hierzu Messinstrumente entwickelt würden, die den Übergang vom normalen zum pathologischen Bindungsverhalten auch bei Erwachsenen nach den verschiedenen Störungsmustern quantitativ zu erfassen vermögen. – Trotz all dieser methodisch unbefriedigenden Umstände lege ich die Ergebnisse vor – im Sinne einer Pilot-Studie, die nicht nur Trends für die Beantwortung der anfangs gestellten wichtigen Frage nach der Möglichkeit einer »nachholenden Bindungsentwicklung« liefert, sondern auch aufzeigt, wie viel methodische Entwicklungsarbeit auf diesem Feld noch nötig ist. Nun zu den Ergebnissen (Urban 2004). Wir haben bei keinem Bewohner ein »sicheres Bindungsmuster« (= Prototyp 1) beobachtet. Die Haupttypen des unsicher-ambivalenten oder unsichervermeidenden Bindungsmusters wurden in je drei Untergruppen (nach EBPR: Prototypen 2 bis 7) unterteilt. Die folgende Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der Typeneinteilung:

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Tabelle 1: Einordnung der Bewohner in Bindungstypen BorderlineGruppe

PsychoseGruppe

Personen

21

18

männlich

9

12

weiblich

12

6

Alter (Mittelwert)

24,0 Jahre

27,2 Jahre

Dauer der Maßnahme (Mittelwert)

18 Monate

19 Monate

14

8

Bindungstyp (nach EBPR): unsicher-ambivalent P2: übersteigert abhängig

5

2

P3: instabil beziehungsgestaltend

8

6

P4: zwanghaft fürsorglich unsicher-vermeidend P5: zwanghaft selbstgenügsam

1

-

7

10

2

5

P6: übersteigert autonom

2

2

P7: emotional ungebunden

3

3

Wie man sieht, entspricht die Verteilung der Bindungsmuster »unsicher-ambivalent« und »unsicher-vermeidend« durchaus nicht eins zu eins den Diagnosegruppen Borderline und Psychose. Es gab einen Anteil von Psychotikern, die ein eher ambivalentes Bindungsverhalten aufwiesen als ein vermeidendes. (Dass das Verhalten in der Borderline-Gruppe durchmischt ist, erscheint nach unserer Definition von »Borderline« als Strukturdiagnose mit unterschiedlichen Erscheinungsbildern weniger erstaunlich.) Auch dass einzelne Bewohner nicht einfach einer der beiden Hauptgruppen zugeordnet werden konnten, weil sie Charakteristika sowohl des ambivalenten wie des vermeidenden Typs zeigten, scheint mir bedeutsam: Das wesentliche Ergebnis bindungstheoretischer Forschung in der Psychiatrie kann nicht darin liegen, dass wir bestimmte Diagnose-Gruppen eindeutig einer bestimmten Form von Bindungsstörung zuzuweisen vermögen, als vielmehr darin, dass Störungen des Bindungsverhaltens generell in ursächlichem Zusammenhang mit der Ausbildung psychischer Erkrankungen stehen. Und: dass therapeutische Arbeit mit dem Ziel einer Verbesserung der Bindungsbeziehungen den Menschen gesünder macht.

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Wir kommen jetzt zu den Veränderungen des Bindungsverhaltens, wie es von uns beobachtet und eingeschätzt wurde. Hier kam es uns nicht so sehr auf den Typ oder Untertyp des Verhaltens an als vielmehr auf die veränderte Bindungsqualität, die wir mit einem globalen Schätzmaß nach folgender Skala eingeschätzt haben: 0: keine verlässliche Bindungsbeziehung zu beobachten 1: Bindungsbeziehungen nur in geringem Grad vorhanden 2: mäßig verlässliche Bindungsbeziehungen 3: verlässliche Bindungsbeziehungen. Bei der Einschätzung richteten wir uns hauptsächlich danach, inwieweit wir als Betreuer davon ausgehen konnten, dass die Bewohner im Bedarfsfall – also wenn es ihnen schlecht ging – überhaupt mit uns Kontakt aufnahmen (bei den »unsicher-vermeidenden«) beziehungsweise wie spannungsgeladen diese Kontaktaufnahme war (bei den »unsicher-ambivalenten«). In zweiter Linie haben wir auch unsere Beobachtungen darüber mit verwertet, wie in solchen Fällen die Kontaktaufnahme eines Bewohners mit seinen Mitbewohnern war und wie gut ihnen der Aufbau von Freundschaftsbeziehungen gelang (Tab. 2). Die Veränderungen beziehen sich zunächst auf den Zustand bei Ende der Maßnahme (wobei diese von einigen Bewohnern früher abgebrochen wurde, als wir es für angemessen hielten); bei einigen konnten wir durch Nachexploration im Abstand von einem oder mehreren Jahren erheben, wie sich ihr Bindungsverhalten in der Folgezeit weiter entwickelt hat (bei N = 9 Personen in jeder der beiden Gruppen). Man sieht aus dieser Statistik, dass wir sehr schwer gestörte Menschen in unserer Einrichtung hatten. Wir haben nicht nur Beziehungsabbrüche erlebt, sondern auch zwei Suizide, die einer besonderen Fallstudie bedürften. Es waren Menschen, zu denen wir trotz großer Bemühungen keine tragfähige Bindungsbeziehung herstellen konnten. Glücklicherweise war dies in der Mehrzahl der Fälle durchaus anders. Das wesentliche Ergebnis lautet: Beide Gruppen profitierten von der Betreuungsmaßnahme und machten deutliche Fortschritte in ihrer Bindungsfähigkeit, und zwar durchschnittlich um eine Stufe auf der vierstufigen Schätzskala. Dabei schnitten die psychotisch Erkrankten im Schnitt nicht schlechter ab als die »Borderliner«.

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Teil II · Psychiatrische Arbeitsfelder

Tabelle 2: Veränderungen der Bindungsqualität

Bindungsqualität zu Beginn der Maßnahme

BorderlineGruppe

PsychoseGruppe

0,6

0,2

Veränderung: während der Maßnahme

+ 1,0

+ 0,95

im späteren Verlauf (N = 9+9)

+ 0,65

+ 0,45

Besondere, bindungsrelevante Ereignisse: Abbrüche (< 6 Monate)

5

1

Suizid

1

1

Adoptionswunsch (Patienten 2 wünschten, von Betreuern adoptiert zu werden)

-

Partnerschaft begonnen

3

4

Wir halten dies für ein bedeutsames Ergebnis. Eine Verbesserung der Bindungsqualität um eine Stufe auf unserer vierstufigen Skala bedeutet zweifellos eine erhebliche Verbesserung der Chancen eines psychisch kranken Menschen auf stabilere menschliche Beziehungen im Privatleben wie auch in der Arbeitswelt und damit verbesserte Chancen für eine soziale Integration. Dies wiederum ist der wichtigste Wirkfaktor gegen eine fortschreitende Chronifizierung des Krankheitsprozesses.

■ Konsequenzen: Was muss sich ändern in der (Erwachsenen-)Psychiatrie? Bei aller Vorläufigkeit der hier gelieferten Ergebnisse einer kleinen Pilotuntersuchung lohnt es doch wohl, sich der Konsequenzen bewusst zu werden, die sich aus der Bindungstheorie für den Gesamtbereich der Erwachsenen-Psychiatrie ergeben. Für eine nachhaltige therapeutische Veränderung ist der Aufbau konstanter, tragfähiger persönlicher Beziehungen von größter Wichtigkeit, möglicherweise wichtiger als alle nachgewiesenerma-

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ßen effektiven Einzelmaßnahmen. Es handelt sich um ein psychotherapeutisches Medium, auch wenn an seiner Realisierung Angehörige aller Berufsgruppen teilnehmen können (vgl. Urban 2000, S. 190–201). In der stationären Behandlung ist zu bedenken, was in einer heutzutage üblichen Behandlungszeit von 30 Tagen oder darunter aus bindungstheoretischer Sicht überhaupt erreicht werden kann. Falls es sich um eine kürzere Krisenintervention handelt, ist es erforderlich, dass bisherige Bezugspersonen in die Behandlung mit einbezogen werden, sei es aus dem Familien- oder Freundeskreis, erst recht die Partnerin oder der Partner – sofern keine strikte Kontraindikation wegen momentan unüberbrückbarer Zerwürfnisse besteht. Einbezogen werden sollten aber auch die Betreuer aus dem außerstationären sozialpsychiatrischen Milieu (zum Beispiel Sozialpsychiatrischer Dienst, WG-Betreuer). Gerade in der Krise dürfen wichtige Beziehungen, auch wenn sie konfliktbehaftet erscheinen, nicht einfach unterbrochen werden, vielmehr ist mit ihnen und an ihnen zu arbeiten (systemischer Ansatz). Nachzudenken ist aber auch über Alternativen zur traditionellen stationären Klinikbehandlung. Hier ist vor allem das skandinavische Modell des »need-adapted treatment« zu nennen (Alanen 2001; vgl. Aderhold u. Greve 2004), bei dem das Behandlerteam zum Patienten nach Hause kommt (home treatment) und über längere Zeit stabile therapeutische Beziehungen anbietet – zusätzlich zu den weiter bestehenden Alltagsbeziehungen. Eine Aufnahme in die Klinik oder – alternativ – in kleine, Wohngemeinschaften ähnelnden Behandlungseinheiten (small homes) wird erst in Erwägung gezogen, wenn sich das bisherige Lebensumfeld des Patienten als zu belastend und hinderlich für die Therapie erweist. Wenn man am traditionellen Modell der Klinikbehandlung festhält, dann ist zu fragen, ob nicht eine längerfristige stationäre Behandlung in milieutherapeutisch gestalteten Einheiten (»mit Soteria-Elementen«) zu bevorzugen ist gegenüber den heute üblichen Kurzaufnahmen mit dem viel besprochenen Drehtür-Effekt, der in bedenklicher Weise Beziehungsabbrüche zur Regel macht. Lieber einmal gründlich und teuer, als kurz und häufig – und am Ende doch teurer! Besonderer Überlegung bedarf die Frage, wann (in welcher Ver-

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fassung) und wohin der Patient aus der stationären Behandlung entlassen wird. Wie an dem anfangs angeführten Beispiel deutlich wird, braucht es vielleicht gerade für Patienten mit »frühen Störungen« therapeutisch orientierte Nachsorge-Einrichtungen, in denen die Bindungsbedürfnisse der Patienten und die daraus erwachsenden therapeutischen Chancen systematisch genutzt werden. Ich glaube gezeigt zu haben, dass hier das Betreute Wohnen eine besondere Bedeutung und gewissermaßen eine »therapeutische Aufwertung« erhalten könnte: als milieutherapeutischer Rahmen, in dem nachholende Bindungserfahrungen über längere Zeit möglich werden. Aber auch andere Formen des ambulant-komplementären Angebots können aus bindungstheoretischer Sicht eine ähnliche Bedeutung und Aufwertung erfahren: Langjährig bestehende Beziehungen zu einem Betreuer oder einer Betreuerin des sozialpsychiatrischen Dienstes/Zentrums oder in einer Tagesstätte können – bei Erhalt des bisherigen Wohnraums und Umfelds – eine ähnliche Bedeutung als »sichere Basis« erhalten. Das gilt ebenso für die Nachsorge durch den behandelnden niedergelassenen Arzt (Psychiater), wenn hier wirklich eine tragfähige persönliche Beziehung zustande kommt, die nicht zu sehr von Rollenverhalten und Autoritätskonflikten (»compliance«!) überschattet ist. Ein therapeutisch denkender und handeln wollender Arzt wird seine Rolle für jeden einzelnen Patienten sehr sorgsam auf dem Hintergrund bindungstheoretischer Überlegungen reflektieren müssen. Generell ist zu fragen, ob nicht die – verglichen mit dem stationären Setting – »niederpotenten« sozialpsychiatrischen Einrichtungen für die Langzeitbehandlung psychiatrischer Patienten von größerem Gewicht sind als die mitunter als Schutzraum benötigte, aber oft auch irritierende (weil beengend oder bedrohlich erlebte) stationäre Behandlung. Das wäre eine Umkehr der Prioritäten und würde freilich auch eine entsprechende Intensivierung der Ausbildung aller sozialpsychiatrischen Mitarbeiter verlangen – unter Einschluss bindungstheoretischer Konzepte!

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■ Literatur Alanen, Y. O. (2001): Schizophrenie – Entstehung, Erscheinungsformen und bedürfnisangepasste Behandlung. Stuttgart. Aderhold, V.; Greve, N. (2004): Was ist »Need-adapted Treatment«? Das Modell zur bedürfnis-angepassten Behandlung von Menschen mit schizophrenen Psychosen. Soziale Psychiatrie 28: 4–8. Bowlby, J. (1988): A Secure Base: Clinical Implications of Attachment Theory. London (dt.: Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung. Therapeutische Aspekte der Bindungstheorie, Heidelberg, 1995). Brisch, K. H. (1999): Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart. Ciompi, L.; Hoffmann, H.; Broccard, M. (Hg.) (2001): Wie wirkt Soteria? Eine atypische Psychosenbehandlung kritisch durchleuchtet. Bern. Strauss, B.; Lobo-Drost, A. (1999): Erwachsenen-Bindungsprototypen-Rating (EBPR). Eine Methode zur Erfassung von Bindungsqualitäten im Erwachsenenalter, basierend auf dem Adult Attachment Prototype-Rating von Pilkonis. Jena. Urban, M. (1998): Betreutes Wohnen als Lebensrahmen für die ambulante Rehabilitation psychisch kranker Menschen. In: Schmidt-Ohlemann, M.; Zippel, Ch.; Blumenthal, W.; Fichtner, H.-J. (Hg.), Ambulante wohnortnahe Rehabilitation – Konzepte für Gegenwart und Zukunft. Interdisziplinäre Schriften, Bd. 7. Ulm, S. 277–282. Urban, M. (2000): Psychotherapie der Psychosen. Konzentrische Annäherungen an den Weg der Heilung. Lengerich. Urban, M. (2004): Die Entwicklung des Bindungsverhaltens bei erwachsenen Borderline-Patienten und Schizophrenen im betreuten Wohnen. In: Ettrich, K. U. (Hg.), Bindungsentwicklung und Bindungsstörung. Stuttgart, S. 137–141.

■ Andreas Schindler Bindung und Sucht

In Diskussionen von Therapeuten im Suchtbereich ist es seit längerem ein Allgemeinplatz: »Süchtige haben Bindungsstörungen.« Ob damit immer Bindung im Sinne der Bindungstheorie gemeint ist, sei dahingestellt, jedenfalls ist der Begriff in den einschlägigen Fallbesprechungen präsent. Was aber empirische Studien oder theoretische Konzeptionen angeht, so sind erst in jüngster Zeit die ersten Untersuchungen erschienen; wir befinden uns bis auf weiteres noch in der »Erst«-Entdeckungsphase.

■ Thesen zum Zusammenhang von Bindung und Sucht »Unsichere« Bindung als Risikofaktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung Es liegen mittlerweile Längsschnittstudien an Risikostichproben vor, die zeigen, dass unsichere Bindung in der frühen Kindheit einen Risikofaktor für spätere Fehlentwicklungen darstellt, während eine sichere Bindung protektiv wirkt (z. B. Egle et al. 2002). Es zeigt sich ein sehr deutlicher Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und psychischer Erkrankung. In klinisch unauffälligen Stichproben fand sich ein Anteil von 58 Prozent sicher gebundener Erwachsener, während dieser Prozentsatz in klinischen Stichproben bei nur 14 Prozent lag (van IJzendoorn u. Bakermans-Kranenburg 1996). Für Abhängigkeitserkrankungen lagen bislang keine derartigen Daten vor, aber es ist plausibel anzunehmen, dass sich hier ebenso wie bei anderen psychischen Störungen

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vorwiegend unsichere Bindungsmuster finden, während eine sichere Bindung eher vor einer Suchtentwicklung schützen dürfte. Suchtmittelkonsum als Affektregulation Wenn unsichere Bindung einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung darstellt, so ergibt sich daraus die Frage nach den Mechanismen, die diesem Zusammenhang zugrunde liegen. Unsichere Bindung geht mit der Erfahrung von Zurückweisungen einher und mit der Angst vor neuerlicher Zurückweisung. Wenn keine anderen, konstruktiveren Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen, bieten sich Suchtstoffe als Bewältigungsversuch an. Im Sinne einer Selbstmedikation lassen sich mit bestimmten Substanzen unangenehme Gefühle kurzfristig einigermaßen verlässlich dämpfen. Der Suchtmittelkonsum lässt sich also als Versuch begreifen, die in Bindungssituationen entstehenden negativen Affekte zu regulieren. Bei diesem Bewältigungsversuch selbst handelt es sich nicht mehr um eine Bindungsstrategie im eigentlichen Sinne, wie sie der sichere, aber auch der unsicher-anklammernde oder der unsicher-abweisende Bindungsstil darstellen. Es handelt sich um einen Bewältigungsversuch, dem die Gefahr innewohnt, selbst zum Problem zu werden und eine pathologische Eigendynamik zu entwickeln. Denn mit zunehmender Abhängigkeit wird das Suchtmittel wichtiger als jede zwischenmenschliche Beziehung. Suchtmittelkonsum als Beziehungsvermeidung In dem Maße, wie ein Suchtmittelgebrauch in einen Missbrauch oder gar in eine Abhängigkeit mündet, wirkt er sich immer stärker auf enge Beziehungen und damit auch auf Bindungsbeziehungen aus. Werden Substanzen wie Alkohol oder auch Ecstasy anfangs oft noch als zwischenmenschliches Kontaktmittel eingesetzt, so ist jemand im intoxizierten Zustand schlicht nicht beziehungsfähig. Das heißt auch, dass man sich mit Suchtmitteln zumindest kurzfristig aus unangenehm erlebten Beziehungen verabschieden und zwischenmenschliche Auseinandersetzungen vermeiden kann. Süchtiges Verhalten verhindert also enge Beziehungen und damit auch Bindungsbeziehungen, in denen neue, möglicherweise positive Bindungserfahrungen gemacht werden könnten. Damit verhindert

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süchtiges Verhalten eine konstruktive Weiterentwicklung der Bindung und »zementiert« Unsicherheit. Suchtmittelkonsum als Bindungsersatz Was Suchtmittel also aus bindungstheoretischer Sicht so gefährlich macht, ist ihre Potenz zur Affektregulation einerseits und zur Beziehungsvermeidung andererseits. Mit unsicherer Bindung gehen sowohl negative Beziehungserfahrungen als auch negative Affekte einher, die aus eben diesen Beziehungserfahrungen stammen. Suchtmittel stellen daher aus dieser Perspektive ein perfektes Bindungssurrogat dar (vgl. Zimmer-Höfler u. Kooyman 1996).

■ Empirische Zusammenhänge zwischen Suchtmittelkonsum und spezifischen Bindungsstilen Ich verwende für einen kurzen Überblick über die Bindungsstile die Definitionen von Bartholomew, da nur sie den ängstlich-vermeidenden Bindungsstil berücksichtigen, der meines Erachtens für den Suchtbereich eine besondere Bedeutung hat (Tab. 1). Tabelle 1: Bindungsstile nach Bartholomew und Horowitz (1991) I

Sicher

Sicherheit bei Intimität und Autonomie, positives Selbstmodell, positives Modell der Bindungsfigur

Dem Klienten fällt es leicht, anderen gefühlsmäßig nahe zu sein. Es geht ihm gut, wenn er sich auf andere verlassen kann und wenn andere sich auf ihn verlassen. Er macht sich keine Gedanken darüber, dass er allein sein könnte oder dass andere ihn nicht akzeptieren könnten.

A. Schindler · Bindung und Sucht II

Anklammernd (besitznehmend)

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Positives Modell der Bindungsfigur, negatives Selbstmodell

Der Klient möchte anderen gefühlsmäßig sehr nahe sein, merkt aber oft, dass andere Widerstände dagegen errichten, ihm so nahe zu sein, wie er ihnen nahe sein möchte. Es geht ihm nicht gut, wenn er ohne enge Beziehung ist, aber er denkt manchmal, dass andere ihn nicht so sehr schätzen wie er sie.

III Ängstlichvermeidend

Furcht vor Intimität, sozial vermeidend, dadurch Schutz vor erwarteter Zurückweisung. Negatives Selbstmodell, negatives Modell der Bindungsfigur.

Der Klient empfindet es manchmal als ziemlich unangenehm, anderen nahe zu sein. Er möchte Beziehungen, in denen er anderen nahe ist, findet es aber schwierig, ihnen vollständig zu vertrauen oder von ihnen abhängig zu sein. Er fürchtet manchmal, dass er verletzt wird, wenn er sich erlaubt, anderen zu nahe zu kommen.

IV Abweisend (ablehnend, vermeidend)

Negatives Modell der Bindungsfigur, positives Selbstmodell; durch Vermeidung enger Beziehungen wird ein Unverwundbarkeits- und Unabhängigkeitsgefühl aufrecht erhalten.

Der Klient fühlt sich auch ohne enge gefühlsmäßige Bindung wohl. Es ist sehr wichtig für ihn, sich unabhängig und selbstständig zu fühlen. Er zieht es vor, wenn er nicht von anderen und andere nicht von ihm abhängig sind.

Das Adult Attachment Interview nach Main und Goldwyn (AAI; s. Hesse 1999; Gloger-Tippelt 2001) als meistbenutztes Instrument enthält nicht den ängstlich-vermeidenden, wohl aber den siche-

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ren, den anklammernden (unsicher-ambivalenten) und den abweisenden (unsicher-vermeidenden) Stil sowie die zusätzliche Kategorie »unbewältigtes Trauma« und eine Restkategorie unklassifizierbarer Fälle (»cannot classify«). Eine Zuordnung psychischer Störungen zu einzelnen Bindungsstilen des Adult Attachment Interviews ist verschiedentlich versucht worden, aber bislang nicht besonders erfolgreich gewesen. Rosenstein und Horowitz (1996) vermuten, ein anklammernder Bindungsstil gehe mit »internalisierenden Problemen« einher, zu denen sie Depressionen zählen. Demgegenüber gehe ein abweisender Bindungsstil mit »externalisierenden Problemen« einher. Zu diesen zählen sie unter anderen den Suchtmittelmissbrauch. Diese Zuordnung ist allerdings theoretisch fragwürdig und lässt sich auch mit den Daten der beiden Autoren so nicht belegen. Suchtmittelmissbrauch hat natürlich externale, nach außen gerichtete Aspekte, aber immer auch eine internale Seite. Ein Suchtmittel, das das eigene Fühlen, Denken und Erleben nicht verändern würde, wäre kein Suchtmittel. In ihrer Studie untersuchten Rosenstein und Horowitz (1996) die Bindungsstile von 60 Jugendlichen (13–19 Jahre) in stationärer psychiatrischer Behandlung sowie die Bindungsstile der Mütter dieser Jugendlichen mit dem Adult Attachment Interview. 29 dieser Jugendlichen hatten neben einer affektiven oder einer Verhaltensstörung die zusätzliche Diagnose eines Suchtmittelmissbrauchs nach DSM-III-R. Bei Jugendlichen mit Verhaltensstörung und Suchtmittelmissbrauch fanden sich gehäuft abweisende Bindungsstile. Bei Jugendlichen mit affektiver Störung und Suchtmittelmissbrauch fanden sich sowohl anklammernde als auch abweisende Bindungsstile. Unklar bleibt allerdings, welchen Anteil an diesen Ergebnissen der Suchtmittelmissbrauch und welchen die psychiatrische Hauptstörung hat. Ebenso bleiben Art und Schwere des Suchtmittelmissbrauchs unbekannt. Somit lassen sich hier keine eindeutigen Rückschlüsse auf den Zusammenhang zwischen Bindungsstil und Suchtmittelmissbrauch ziehen. Fonagy et al. (1996) untersuchten ebenfalls die Zusammenhänge zwischen psychiatrischer Störung und Bindungsstil an 82 erwachsenen stationären, nichtpsychotischen Psychiatriepatienten (davon 67 Frauen). 37 Patienten hatten unter anderem die Diagnose eines Suchtmittelmissbrauchs. Die Autoren verwendeten das

A. Schindler · Bindung und Sucht

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Interview einmal mit und einmal ohne Einschluss der zusätzlichen AAI-Kategorie »unbewältigtes Trauma«. Bei Einschluss dieser Kategorie wurden ihr 28 der 37 Suchtmittelmissbraucher zugeordnet. Bei Ausschluss dieser Kategorie wurden 23 Suchtmittelmissbraucher dem anklammernden, acht dem abweisenden und sechs dem sicheren Bindungsstil zugeordnet. Da Art und Schwere des Suchtmittelmissbrauchs auch hier offen bleiben, sind Rückschlüsse wiederum nur sehr bedingt möglich. Im Gegensatz zu diesen Ergebnissen fanden Allen et al. (1996) Zusammenhänge zwischen dem »Konsum harter Drogen« und Aspekten des abweisenden Bindungsstils. Ihre Studie umfasste 66 stationär psychiatrisch behandelte Jugendliche sowie eine Kontrollgruppe einmal im Alter von 14 und nochmals im Alter von 25 Jahren. Die Bindungsstile wurden mit dem Adult Attachment Interview erfasst, die psychiatrischen Diagnosen nach DSM-III-R gestellt. Zum »Konsum harter Drogen« wird lediglich berichtet, dass dieser im Selbstbericht erfasst wurde. Genauere Angaben finden sich nicht. Es wird weder erwähnt, wie groß die Gruppe der Drogenkonsumenten war, noch werden irgendwelche Kriterien für den Einschluss in diese Gruppe benannt. Damit sind auch diese Ergebnisse nicht besonders aufschlussreich. Diese widersprüchlichen Ergebnisse der AAI-Studien können mehrere Gründe haben. Die vorliegenden klinischen Stichproben umfassen immer nur eine Teilstichprobe nicht näher definierter Suchtmittelkonsumenten, deren Konsum auch immer nur eine Zweitdiagnose neben einer anderen psychiatrischen Störung darstellt. Dabei lässt sich nicht differenzieren, wie der Suchtmittelkonsum mit dem Bindungsstil zusammenhängt und wie die psychiatrische Hauptstörung. Die entsprechenden Teilstichproben sind durchweg klein, zum Teil wird deren Größe noch nicht einmal angegeben. Es wird nirgends erwähnt, welche Suchtmittel konsumiert wurden, und die Beschreibung des Suchtstatus beschränkt sich auf Begriffe wie »Konsum«, »problematischer Konsum« und »Missbrauch« (teils immerhin als DSM-Diagnose definiert). – Wie man sieht, befindet sich die Forschung hier noch in einer unbefriedigenden Anfangsphase. Ein weiterer Grund für die widersprüchlichen Ergebnisse scheint mir in den Kategorien des Adult Attachment Interviews zu

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liegen. Denn es ergibt durchaus einen Sinn, dass sich bei Suchtmittelmissbrauchern Merkmale des anklammernden und des abweisenden Bindungsstils sowie der Kategorie »unbewältigtes Trauma« finden. Da sich unter Süchtigen ein hoher Prozentsatz traumatisierter Menschen findet, ist es zunächst einmal plausibel, wenn sich diese Traumatisierungen im Interview widerspiegeln. Daneben zeigen Süchtige auf der Verhaltensebene sehr deutlich ein Merkmal des abweisenden Bindungsstils, nämlich das Vermeiden enger Beziehungen und nicht etwa ein Anklammern. (Wenn es so etwas wie eine anklammernde Bindung Drogenabhängiger gibt, dann an die Droge als unbelebtes Substitut einer Bindungsfigur.) Allerdings sind Süchtige nicht in der Lage, ihr Bindungssystem mit seinen leidvollen Bindungserfahrungen so zu deaktivieren, wie es Personen mit einem abweisenden Bindungsstil können. Das Bindungssystem Süchtiger scheint vielmehr hoch aktiviert zu sein, ähnlich wie bei Menschen mit anklammerndem Bindungsstil. Doch während diese die Nähe und oft auch die Auseinandersetzung mit ihren Bindungsfiguren suchen, vermeiden Süchtige diese Beziehungen und deaktivieren ihr Bindungssystem mithilfe des Suchtmittels (wozu möglicherweise Opiate besonders gut geeignet sind, vgl. Panksepp et al. 2002). Damit lässt sich der Drogenkonsum als untauglicher Versuch des Umgangs mit einem anders nicht zu kontrollierenden Bindungssystem verstehen, letztlich als Versuch der Bewältigung von Bindungsunsicherheit. Da das Adult Attachment Interview keine Kategorie enthält, die diese unterschiedlichen Aspekte umfasst, wird verständlich, warum Suchtmittelkonsumenten in den AAI-Studien teils als anklammernd und teils als abweisend eingestuft wurden oder sich als überhaupt nicht klassifizierbar erwiesen. Bartholomew und Horowitz (1991) haben mit ihrer Definition des ängstlich-vermeidenden Bindungsstils eine Bindungskategorie entwickelt, die die beschriebenen internalen und externalen Bindungsaspekte von Süchtigen in sich vereinigt. Wir haben daher in unserer Untersuchung der Bindungsstile junger Drogenabhängiger (Schindler et al., in Vorb.; Schindler 2001) nicht das Adult Attachment Interview, sondern das Attachment Interview Coding System nach Bartholomew und Horowitz (1991) verwendet. Anhand einer Stichprobe aus dem BMBF-Therapieforschungsprojekt »Drogenabhängigkeit und Familienthe-

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rapie« (Thomasius 2004; Thomasius et al. 2000) wurden die Bindungsstile von N = 71 Drogenabhängigen im Alter von 14–25 Jahren untersucht. Damit ist dies die erste Untersuchung, die gezielt den Zusammenhang zwischen Drogenabhängigkeit und Bindungsstilen erforscht und dabei auch die Erfordernisse der Suchtforschung berücksichtigt. Drogenabhängigkeit wurde hier nicht nur als psychiatrische Diagnose nach DSM erfasst, sondern zusätzlich mit Urinuntersuchungen und dem Addiction Severity Index (McLellan et al. 1985; dt.: Gsellhofer et al. 1993). Die Drogenabhängigen wiesen mehrheitlich einen ängstlich-vermeidenden Bindungsstil auf und unterschieden sich darin signifikant von einer nicht-klinischen Kontrollgruppe. Zusätzlich korrelierte die Schwere der Drogenabhängigkeit signifikant mit der Ausprägung des ängstlich-vermeidenden Bindungsstils der Drogenabhängigen. Replikationen dieser Ergebnisse stehen bislang noch aus, aber der Zusammenhang zwischen Drogenabhängigkeit und ängstlich-vermeidendem Bindungsstil ist in dieser Studie sehr deutlich. In einer weiteren Untersuchung wurden die familiären Muster von Bindungsstilen Drogenabhängiger und ihrer Eltern untersucht (Schindler et al. in Vorb.; Schindler 2001). Hier fand sich bei fast zwei Dritteln der untersuchten Familien ein Muster aus ängstlich-vermeidendem Drogenabhängigen, anklammernder Mutter und abweisendem Vater. Dieses Muster findet sein Pendant in der verstrickten Familienstruktur, wie sie in der familientherapeutischen Literatur immer wieder für die Familien Drogenabhängiger beschrieben wird. Allerdings fanden sich im restlichen Drittel der Familien unserer Studie zwei völlig andere familiäre Muster. Das Erste war durch eine extreme Bindungsunsicherheit aller Familienmitglieder geprägt, das Zweite durch extrem unterschiedliche Bindungssicherheit der Eltern. Jugendliche aus beiden Familientypen waren mindestens ebenso schwer abhängig wie die aus den »verstrickten« Familien. Alle drei Muster scheinen also eine ähnlich hohe klinische Relevanz zu haben. Der Großteil der familientherapeutischen Konzepte und Interventionen bezieht sich allerdings auf den »verstrickten« Familientypus. Die beiden anderen Muster sind in der familientherapeutischen Literatur bislang noch nicht beschrieben worden, es fehlen demnach auch entsprechende therapeutische Konzepte.

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■ Resümee Der derzeitige Wissensstand zum Thema Bindung und Sucht ist noch äußerst lückenhaft. Wir wissen beispielsweise noch nichts darüber, ob es Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der Abhängigkeit, zwischen Abhängigkeiten von verschiedenen Substanzen gibt. Panksepp et al. (2002) haben im Tierexperiment gezeigt, dass dem körpereigenen Opioidsystem eine besondere Bedeutung für die Bindungsqualität zukommt. Es wäre also möglich, dass gerade Opiatabhängige andere Bindungsstile haben als Konsumenten anderer Substanzen. Eine weitere offene Frage ist die, ob sich Abhängige in ihrem Bindungsstil von anderen klinischen Gruppen unterscheiden. Ferner wäre wichtig zu untersuchen, ob es Wechselwirkungen zwischen Bindung und Sucht im längsschnittlichen Verlauf gibt. Obwohl wir beim Thema Bindung und Sucht noch ganz am Anfang stehen, lässt sich doch schon sagen, dass Bindung für das Verständnis und die Behandlung von Suchtstörungen ein höchst relevantes Konzept zu sein scheint. Die Bindungstheorie trägt viel zum Verständnis von engen Beziehungen und von Affektregulation bei. Beides, die Vermeidung enger Beziehungen und die Vermeidung unangenehmer Gefühle mithilfe psychotroper Substanzen, sind zentrale Punkte für das Verständnis von Suchtstörungen. Insbesondere der ängstlich-vermeidende Bindungsstil scheint mit Suchtstörungen einherzugehen. Er liefert ein Modell, um zu verstehen, wie Suchtmittel gleichzeitig zur Beziehungsvermeidung als auch zur Angstbewältigung eingesetzt werden. Für die Behandlung von Suchtstörungen haben diese Punkte große Bedeutung. Behandlungsziel ist nämlich der Verzicht auf das Suchtmittel, das heißt auf die gewohnte Art der Affektregulation. Dabei ist zu beachten, dass zunächst kaum andere Möglichkeiten der Bewältigung unangenehmer emotionaler Zustände zur Verfügung stehen, die Patienten also hoch labil sind. Gleichzeitig sollen Bindungsmuster und Beziehungsverhalten verändert werden. Dies ist aus bindungstheoretischer Sicht auf zweierlei Weise möglich, erstens über eine »korrigierende« Beziehungserfahrung in einer therapeutischen Beziehung, mit dem Therapeuten als »Ersatz«-Bindungsfigur; oder zweitens über eine familien- oder auch

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paartherapeutische Veränderung im Kontext der aktuellen Beziehungen des Patienten. Beispiele hierfür wären die erwähnte Familientherapie mit jungen Drogenabhängigen (Thomasius 2004; Thomasius et al. 2000), aber auch paartherapeutische Konzepte in der Arbeit mit Alkoholikern. Voraussetzung für diese Behandlungen ist natürlich immer, dass überhaupt entsprechend dauerhafte und bedeutsame Beziehungen bestehen und für die Behandlung nutzbar sind. Bei dem großen Teil von Suchtpatienten, bei dem das nicht der Fall ist, stellt aus bindungstheoretischer Sicht die Arbeit mit der therapeutischen Beziehung die Methode der Wahl dar. Hier findet sich aber das Problem, dass jemand, der negative Bindungserfahrungen gemacht hat, und der darauf über Jahre mit einer Strategie der Beziehungsvermeidung reagiert hat, sich nun auf eine Beziehung einlassen soll, da nur so seine Beziehungsvermeidung zu behandeln ist. Dass es dabei immer wieder zu Behandlungsabbrüchen und Rückfällen kommt, erscheint nur allzu verständlich, auch ohne überhaupt Faktoren wie das Craving zu berücksichtigen. Eine tragfähige therapeutische Beziehung herzustellen und aufrechtzuerhalten erscheint aus dieser Sicht als der schwierigste und gleichzeitig wichtigste Teil der Behandlung.

■ Literatur Allen, J. P.; Hauser, S. T.; Borman-Spurell, E. (1996): Attachment Theory as a Framework for Understanding Sequelae of Severe Adolescent Psychopathology: An 11-Year Follow-Up Study. Journal of Consulting and Clinical Psychology 64 (2): 254–263. Bartholomew, K.; Horowitz, L. M. (1991); Attachment Styles among Young Adults: A Test of a Four-Category Model. Journal of Personality and Social Psychology 61 (2): 226–244. Egle, U. T.; Hardt, J.; Nickel, R.; Kappis, B.; Hoffmann, S. O. (2002): Früher Stress und Langzeitfolgen für die Gesundheit – Wissenschaftlicher Erkenntnisstand und Forschungsdesiderate. Zeitschrift für Psychosomatik und Medizinische Psychotherapie 48: 411–434. Fonagy, P.; Leigh, T.; Steele, M.; Steele, H.; Kennedy, R.; Mattoon, G.; Target, M.; Gerber, A. (1996): The Relation of Attachment Status, Psychiatric Classification and Response to Psychotherapy. Journal of Consulting and Clinical Psychology 64 (1): 22–31.

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Gloger-Tippelt, G. (Hg.) (2001): Bindung im Erwachsenenalter. Bern. Gsellhofer, B.; Fahrner, E. M.; Platt, J. (1993): European Addiction Severity Index – deutsche Version. Institut für Therapieforschung, München. Hesse, E. (1999): The Adult Attachment Interview: Historical and Current Perspectives. In: Cassidy, J.; Shaver, P. R. (Hg.), Handbook of Attachment. New York, S. 395–433. Höger, D. (1999): Der Bielefelder Fragebogen zu Klientenerwartungen (BFKE). Psychotherapeut 44: 159–166. McLellan, A. T.; Luborsky, L.; Cacciola, J.; Griffith, J.; Mcgahan, P.; O'Brien, C. P. (1985): Guide to the Addiction Severity Index: Background, Administration and Field Testing Results. U. S. Department of Health and Human Services, Rockville, MD. Panksepp, J.; Knutson, B.; Burgdorf, J. (2002): The Role of Brain Emotional Systems in Addictions: A Neuro-Evolutionary Perspective and New »SelfReport« Animal Model. Addiction 97: 459–469. Rosenstein, D. S.; Horowitz, H. A. (1996): Adolescent Attachment and Psychopathology. Journal of Consulting and Clinical Psychology 64 (2): 244–253. Schindler, A. (2001): Bindungsstile in den Familien Drogenabhängiger. Hamburg. Schindler, A.; Thomasius, R.; Sack, P. M.; Gemeinhardt, B.; Küstner, U.; Eckert, J. (in Vorb.): Attachment Styles in Drug Dependent Adolescents: First Results. Schindler, A.; Thomasius, R.; Sack, P. M.; Gemeinhardt, B.; Küstner, U. (in Vorb.): Insecure Family Bases: Patterns of Attachment Styles in the Families of Drug Dependent Adolescents. Thomasius, R.; Gemeinhardt, B.; Schindler, A. (2000): Familientherapie und Systemische Therapie bei Suchterkrankungen. In: Thomasius, R. (Hg.): Psychotherapie der Suchterkrankungen. Stuttgart. Thomasius, R. (Hg.) (2004): Familientherapeutische Frühbehandlung des Drogenmissbrauchs. Hamburg. Van IJzendoorn, M. H.; Bakermans-Kranenburg, M. J. (1996): Attachment Representations in Mothers, Fathers, Adolescents and Clinical Groups: A Meta-Analytic Search for Normative Data. Journal of Consulting and Clinical Psychology 64 (1): 8–21. Zimmer-Höfler, D.; Kooyman, M. (1996): Attachment Transition, Addiction and Therapeutic Bonding – an Integrative Approach. Journal of Substance Abuse Treatment 13 (6): 511–519.

■ Gerthild Stiens und Gabriela Stoppe Bindungsforschung in der Gerontopsychiatrie

In allen Gesellschaften werden alte Menschen mehr oder weniger abhängig von der Fürsorge der Jüngeren, das heißt der nachfolgenden Generationen. Sowohl gesamtgesellschaftlich im Verhältnis zwischen den Generationen als auch individuell kehren sich die Abhängigkeiten damit um. Vielleicht weil der Abstand zur frühen Eltern-Kind-Beziehung zumindest auf der Zeitachse schon größer ist, ist die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung in der Gerontopsychiatrie bisher kaum wahrgenommen worden. Sicher spielt aber auch die Vernachlässigung psychodynamischer und psychotherapeutischer Aspekte in der Altersforschung generell eine wichtige Rolle. Dies spiegelt sich in der geringen Anzahl an Veröffentlichungen in diesem Bereich. Dennoch gibt es einige viel zitierte Publikationen zur Eltern-»Kind«-Beziehung, die in der gerontopsychiatrischen Versorgung, vorwiegend in der Beratung pflegender Angehöriger, genutzt werden.

■ Die Gerontopsychiatrie und die besondere Rolle der Demenz In der gerontopsychiatrischen Versorgung spielen vor allem Demenzerkrankungen und Depressionen eine große Rolle. Behandelt werden außerdem Delirien, Psychosen, Abhängigkeitserkrankungen, Schlafstörungen und Suizidalität älterer Menschen. Diese Erkrankungen werden aber derzeit nicht ausreichend erkannt, oft sogar als »zum Alter gehörend« und damit eben nicht als Krankheiten angesehen. Aus vielen Gründen können alte Menschen

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hilfsbedürftig sein. So sind eine Million alter Menschen mindestens einmal täglich auf Hilfe angewiesen (Schneekloth 1996). Trotzdem darf ein hohes Lebensalter nicht mit Hilfsbedürftigkeit gleichgesetzt werden. Vielmehr leisten alte Menschen häufig selbst noch eine produktive Tätigkeit: Kohli und Kühnemund (2000) zeigen, dass sich auch 70- bis 85-Jährige für andere Menschen engagieren, so zu 8,6 Prozent selbst Angehörige pflegen oder zu 14,9 Prozent Enkel betreuen. In der Gerontopsychiatrie werden die Demenzerkrankungen am meisten beachtet. Sie bedeuten eine wachsende Herausforderung für das Gesundheitssystem und die sozialen Sicherungssysteme. Schon jetzt sind etwa eine Million Menschen in Deutschland allein an einer Demenz erkrankt, was etwa sechs Prozent der über 65-Jährigen entspricht. Sowohl die Häufigkeit der Erkrankung (Prävalenz) als auch die Neuerkrankungsrate (Inzidenz) nimmt mit steigendem Alter zu: Ist von einer Prävalenz der AlzheimerDemenz bei 65-Jährigen von einem Prozent auszugehen, sind über 90-Jährige schon zu über 30 Prozent erkrankt (Bickel 2000). Bei verschiedenen Demenzursachen ist die häufigste Form die Alzheimer-Erkrankung, die etwa 60 Prozent ausmacht, zudem haben vaskuläre Demenzen, Mischformen aus beiden und Demenzen vom Lewy-Körper-Typ jeweils einen Anteil von etwa zehn Prozent. Alle Demenzerkrankungen sind geprägt durch ein Nachlassen der Gedächtnis- und Orientierungsleistungen sowie zunehmende Schwierigkeiten bei der Verrichtung von Alltagstätigkeiten. Im Verlauf der Erkrankung bedeuten vor allem die nichtkognitiven Symptome, wie Misstrauen, Wandertrieb, Aggressionen und Unruhezustände eine Belastung sowohl für Erkrankte als auch Betreuende (Jost u. Grossberg 1996). Gerade schwer Demenzkranke bedürfen nicht nur der Pflege und Anleitung bei alltäglichen Verrichtungen, sondern häufig auch der ständigen Beaufsichtigung, was einen großen Aufwand für die Angehörigen erfordert. Laut einer schwedischen Studie müssen im mittleren Stadium einer Demenz durchschnittlich etwa 200 Stunden im Monat für die Supervision der Demenzkranken aufgewendet werden, wobei der zeitliche Bedarf für zusätzliche Hilfsleistungen noch nicht eingerechnet ist (Wimo et al. 2002). Die Mehrzahl, nämlich 61 Prozent der Pflegenden, fühlt sich durch die Betreuung stark oder sehr stark belastet (Klingenberg u. Szecsenyi 1999).

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Durch den chronisch fortschreitenden Charakter erfordert die Betreuung Demenzkranker spezifische Kompensationsleistungen, die sich von denen in der Betreuung anders Erkrankter unterscheiden. Auch wenn die Förderung von Ressourcen bei Demenzkranken sinnvoll ist, müssen Betreuende doch die krankheitsbedingten Defizite akzeptieren und ihr eigenes Verhalten daran anpassen. Ziel ist eine Festigung und Erhaltung der vorhandenen Fertigkeiten. Im Gegensatz dazu müssen depressiv Erkrankte im Rahmen der Therapie (heraus-)gefordert werden. Das Ziel der Betreuung ist hier die Heilung der Erkrankung und die selbstständige Lebensführung. Da nur wenig Erkenntnisse zur Betreuung anderer gerontopsychiatrisch Erkrankter vorliegen, werden wir uns in diesem Beitrag nur auf die Bedingungen der familiären Betreuung Demenzkranker beschränken. Diese Bedingungen sind inzwischen recht gut bekannt, auch wenn ein Gesamtbild wegen der oftmals kaum aufeinander bezogenen Untersuchungen und teilweise widersprüchlichen Ergebnisse noch diffus bleibt (Gräßel 1997). Zudem erfolgt die Umsetzung der wissenschaftlichen Ergebnisse in die Praxis auch hier nicht in ausreichendem Umfang (Gunzelmann 1991).

■ Bedingungen der familiären Pflege Demenzkranker In der Gerontopsychiatrie ist der klinische und wissenschaftliche Blickwinkel ein anderer als bei jüngeren Psychotherapiepatienten. Gerade in der Behandlung Demenzkranker wird das Familiensystem stärker beachtet. Die Angehörigen müssen in die Behandlung mit einbezogen werden; besonders wenn die Erkrankung fortschreitet und die Kranken nicht mehr für sich selbst sprechen können. Zwei Drittel der dementen Menschen werden im häuslichen Umfeld ambulant versorgt, wobei die Betreuung vorwiegend von den nächsten Angehörigen geleistet wird. In der Pflege lässt sich eine Familienzentrierung feststellen, sodass die Demenzerkrankung auch als eine »Familienerkrankung« betrachtet wird. Den-

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noch konzentriert sich die Verantwortung häufig auf ein einziges Familienmitglied, welches dann in besonderer Weise durch die Betreuung belastet wird. Demenzpatienten und ihre Betreuer werden als ein System betrachtet. Stimmung und Verhalten der Kranken wirken sich auf die Betreuenden aus. Deren psychische Stabilität hat wiederum große Bedeutung für den Betreuten. Daher sind die Angehörigen das Ziel vieler Untersuchungen. Wegen der Auswirkungen auf die Lebensqualität der Demenzkranken ist eine Verbesserung der Situation der Angehörigen auch im Interesse der Erkrankten sinnvoll. Laut Hallauer et al. (2000) werden die jährlichen Gesamtkosten für Alzheimer-Patienten zu 68 Prozent durch die Familien getragen. Es wird prognostiziert, dass sich die Familienstruktur auf lange Sicht verändern wird. Zum einen werden Familien weniger Kinder haben, die die Betreuung erkrankter Eltern übernehmen könnten. Auch werden sie seltener an einem Ort leben. Zum anderen können sich hochaltrige Ehepartner seltener gegenseitig versorgen, wenn beide Partner krank werden. Diese Veränderungen und die höhere Erwerbsquote der Frauen werden auch die Bedingungen der häuslichen Pflege ändern und die Möglichkeit der familiären Betreuung gefährden. Aus politischer Sicht werden jedoch die familiäre Pflege und die ambulante Betreuung bevorzugt und gefördert, weil sie wesentlich kostengünstiger sind als jede stationäre Betreuung. In Kenntnis der Prognosen wird verstärkt auch von einer notwendigen Zunahme »bürgerschaftlichen Engagements« und der intragenerationellen Hilfe gesprochen. Deshalb ist die Unterstützung der ambulant Pflegenden auch aus sozioökonomischer Sicht bedeutend. Erkenntnisse über Prädiktoren von Heimeinweisungen können zudem helfen, durch gezielte Maßnahmen unnötige und teure Unterbringungen in Pflegeheimen zu verhindern. Die Betreuung dementiell erkrankter Familienangehöriger bringt, besonders in den mittleren und schweren Krankheitsphasen, immer auch eine Veränderung der früheren Beziehung mit sich. Stärker als in der Betreuung rein körperlich Erkrankter findet dabei ein Rollenwandel statt, da wesentlich mehr Verantwortung für die Erkrankten übernommen werden muss. Demenzkranke können außer einer emotionalen Zuwendung nur wenig eigene

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Leistungen in die Beziehung einbringen. Sie fordern vielmehr eine – häufig ungewohnte – Nähe ein, indem sie oftmals ununterbrochen beaufsichtigt werden müssen. Zudem ist bei der Pflege ein Eindringen in die Intimsphäre kaum vermeidbar, da Inkontinenz und die mangelnde Fähigkeit zur Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten (Toilettengang, Waschen et cetera) zumindest bei Dementen im Verlauf nahezu immer auftreten. Mit zunehmender Pflegebedürftigkeit wird eine Betreuung im häuslichen Umfeld immer schwieriger, sodass gerade Demenzkranke häufig noch für ihre letzten Lebensmonate in ein Pflegeheim umziehen müssen. Das zeigt sich daran, dass nur noch 35 Prozent der Pflegebedürftigen am Lebensende in einem Privathaushalt leben. Heimeinweisungen sind außerdem häufiger, wenn die zu Pflegenden unter Verhaltensstörungen, Inkontinenz und nächtlichen Unruhezuständen leiden, die die Betreuung in der häuslichen Umgebung massiv erschweren (Stoppe et al. 1999). Wird nach den Gründen für die Übernahme der Pflege in der Familie gefragt, können verschiedene Faktoren angeführt werden: zunächst das Verantwortungsgefühl der Familienangehörigen und die Erwartungen der Familie und Bekannten. Oft liegen auch finanzielle Verpflichtungen vor. Vorwiegend ist dies bei Familien der Fall, die ihre finanzielle Existenz auf dem Besitz der Eltern aufgebaut haben (Schütze 1995; Whitbeck et al. 1994). Es ist bekannt, dass sich vor allem Frauen in der Pflege engagieren. Neben Ehepartnerinnen sind dies also vorwiegend Töchter und Schwiegertöchter. Auch auf Seiten der Professionellen ist Pflege vorwiegend »weiblich«. Dabei spielt die Verfügbarkeit potenziell Pflegender auch eine Rolle, zum Beispiel stellen sich besonders aus dem Beruf ausgeschiedene Frauen, die zuvor ihre Kinder versorgt haben, zur Verfügung. Dies ist jedoch nicht unproblematisch. Für Frauen »in der Mitte« (Brody 1985), die sich sowohl um ihre Kinder als auch um ihre Eltern kümmern, womöglich auch noch beruflich tätig sind, wurde der Begriff der »Sandwich«-Generation geprägt. Dieser Begriff steht für die Einengung von (vor allem) Frauen im mittleren Lebensalter zwischen ihren verschiedenen Anforderungen, also der Versorgung Familienangehöriger verschiedener Generationen und der Berufstätigkeit. Gleichzeitig werden Frauen aber auch oft mit den ersten Zeichen körperlicher Alterung bei

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sich und ihrem Partner konfrontiert. Diese werden dann oft – in der Regel fälschlich – den Wechseljahren zugeschrieben (Stoppe et al. 2000). Perrig-Chiello und Sturzenegger (2001) untersuchten die Bedingungen der elterlichen Betreuung mit der Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden. Hierbei zeigte sich, dass Hilfsbereitschaft und Hilfeleistungen von Männern lediglich durch die Häufigkeit des familiären Kontakts und ihre Offenheit bestimmt wurden, wohingegen diese bei Frauen durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst wurden. Genannt werden dabei unter anderem Offenheit, Bildungsstatus und kognitive Faktoren. Außerdem konnten die Autoren nachweisen, dass Frauen mit stärkeren normativen Erwartungen konfrontiert werden. Diese Befunde können die stärkere Einbindung von Frauen in die Versorgung von Familienangehörigen zusätzlich erklären. Pflegende Angehörige tragen selbst ein deutlich erhöhtes Risiko, seelisch oder körperlich zu erkranken. Inzwischen gelten pflegende Angehörige als »hidden patients«: depressive Symptome, Erschöpfungszustände, Schlafstörungen, chronische Schmerzzustände und Angstzustände treten bei ihnen gehäuft auf. Nachgewiesen ist auch ein erhöhter Psychopharmakagebrauch. Pflegende Angehörige beachten die eigenen Beschwerden jedoch häufig nicht, weil die Krankheit der zu Versorgenden im Vordergrund steht. Inzwischen wurden erste Daten vorgelegt, nach denen Interventionen für pflegende Angehörige die Gesundheit sowohl von Angehörigen als auch von betreuten Demenzkranken verbessern und eine Heimeinweisung verzögern können (Zarit et al. 1998; Quayhagen et al. 2000). Bisher steht die verwandtschaftliche Beziehung der »Pflege-Patient-Dyaden« nicht im Fokus, ebenso wenig die »prämorbide« Beziehung zwischen den Betroffenen.

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■ Untersuchungen zur Belastung durch die Betreuung Leider fehlt in der Literatur noch ein gemeinsames Konzept des Begriffs »Belastung« (Gunzelmann 1991). Allgemein wird jedoch zwischen objektiver Belastung der Pflegenden und ihrem subjektiven Belastungserleben differenziert. Das Belastungserleben Pflegender entwickelt sich nicht parallel zum Krankheitsverlauf der Demenz. Ihm scheinen hingegen viele Einflussfaktoren zugrunde zu liegen. An erster Stelle ist hier der Gesundheitszustand der Erkrankten zu nennen. Es verstärkt sich durch körperliche Erschöpfung, Zeitmangel, Zurückstellen eigener Bedürfnisse und den Verlust von Unabhängigkeit, was wiederum eine (ebenfalls belastende) soziale Isolation zur Folge haben kann. Zudem leiden viele Betreuende unter der krankheitsbedingt veränderten Beziehung zum Partner oder Elternteil. Dabei spielen vor allem Trauer, Schuldgefühle, Ungeduld sowie finanzielle Sorgen eine Rolle. Angst vor einer zunehmenden Verschlechterung der Krankheit kann das Belastungsgefühl ebenfalls intensivieren. Außerdem scheint die eigene Bewertung der Situation und der Familienbeziehungen das Belastungserleben mitzubestimmen. Somit haben die Motivation für die Betreuung und die Bedeutungszuschreibung für die eigene Person einen Einfluss auf das Belastungserleben. Die nähere Betrachtung der Beziehungsqualität in der Pflegedyade ist als Einflussfaktor auf die Form und die Qualität der Pflege zu beachten (Townsend u. Franks 1995; Niederehe u. Frugé 1984; Morris et al. 1988; Gräßel 1997). Eine Überforderung in der Pflege führt zu einer Gefährdung der Gesundheit der Pflegenden und einer schlechteren Versorgung der Erkrankten, auch das Risiko für Gewalt in der Pflege steigt an (Coyne et al. 1993). Es verwundert daher nicht, dass informelle (dabei vor allem verwandtschaftliche) und formelle Unterstützung der Pflegenden die Belastung mindern können. Die Mehrzahl der Pflegenden wünscht sich nach einer Untersuchung von Gräßel (1997) an 1.911 Pflegenden zusätzliche Unterstützung. Interessanterweise erhoffen sich die meisten eine verstärkte Anerkennung der Pflegetätigkeit (69%), aber auch zu 53 Prozent nichtprofessionelle prak-

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tische Hilfe sowie zu 44 Prozent professionelle praktische Hilfe. In einer eigenen Untersuchung zeigte sich, dass sich Belastungssymptome durch die Teilnahme an einer Angehörigengruppe geringer ausprägten (Stiens u. Stoppe 2003). Die Beratung und Betreuung pflegender Angehöriger verringern depressive Symptome auch langfristig (Mittelman et al. 2004).

■ Eltern-Kind-Beziehungen Unter dem Aspekt der Bindung zwischen Eltern und Kindern sind vor allem die Situationen wichtig, in denen erwachsene »Kinder« zunehmend Verantwortung in der Pflege Demenzkranker übernehmen und daher auch wissenschaftliches Interesse auf sich ziehen. Schon 1985 beschrieb Elaine Brody, dass die Pflege der eigenen Eltern zu einem »normativen Erlebnis« im Lebensverlauf geworden sei. Die Beziehungsänderungen durch die Pflege sind für (intergenerationelle) Eltern-Kind-Beziehungen wesentlich tiefgreifender als für (intragenerationelle) Paarbeziehungen. Sie können eine meist seit der frühen Kindheit nicht mehr erlebte Nähe zu den Eltern und eine Vernachlässigung der eigenen Kernfamilie nach sich ziehen. Damit kann die eigene Partnerbeziehung auf Dauer gefährdet werden. Bekannt ist, dass frühe Erfahrungen mit den Eltern einen Einfluss auf die psychische Gesundheit auch im höheren Alter haben können. Dies zeigen Andersson und Stevens (1993) für subjektives Wohlbefinden, Angst und Depressivität von Probanden auf. Der Einfluss der frühen Beziehung zu den Eltern ist bei Menschen verstärkt, die derzeit keine sich einfühlende Bezugsperson haben, kann aber abgemildert und sogar aufgehoben werden, wenn enge Bindungen geknüpft werden. Aus diesen Befunden kann abgeleitet werden, dass die Pflege der eigenen Eltern, die häufig zu einem Rückzug aus den aktuellen Bindungen führt, bei einer früher konflikthaften Eltern-Kind-Bindung einen besonderen Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Symptome darstellt.

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■ Das Konzept der »filialen Reife« Die Beziehung zwischen Erwachsenen und ihren alternden Eltern ist in den letzten Jahrzehnten von einigen psychoanalytisch orientierten Wissenschaftlern untersucht worden. Als Erste stellte Blenkner 1965 das Konzept der »filialen Reife« vor. Hiermit beschreibt sie, angelehnt an die kindlichen Entwicklungsstadien, ein Stadium im mittleren Lebensalter, das der so genannten »filialen Krise« folgt. Diese Krise wird durch ein Nachlassen der Kräfte und der Leistungsfähigkeit der alternden Eltern ausgelöst und kann letztlich auch als eine Vorbereitung auf den Verlust der eigenen Eltern durch deren Tod gedeutet werden. Die filiale Krise führt bei erfolgreicher Bewältigung zu der »reifen« Erkenntnis, dass die eigenen Eltern nicht in jedem Fall für Hilfeleistungen zur Verfügung stehen, sondern selbst auf Hilfe angewiesen sein können und werden. Die Beziehung zwischen Eltern und (erwachsenen) Kindern erfährt durch diesen Prozess eine Veränderung, die zu einer Neudefinition des Rollenverständnisses führt. Nydegger setzte sich 1991 erneut mit dem Konzept der filialen Reife auseinander und modifizierte die theoretischen Überlegungen, indem sie zusätzlich den Begriff der »paternalen (elterlichen) Reife« einführte. Sie weist mit diesem Terminus darauf hin, dass sich die Reife von Eltern und Kindern gegenseitig ergänzen können. Wichtigste Dimensionen des Reifekonzepts sind laut ihren Ausführungen zum einen eine Distanzierung beziehungsweise Emanzipation von der bisherigen Beziehung zu den Eltern, zum anderen spielen Zuwendung und ein »gereiftes« Verständnis für die andere Generation eine große Rolle. Bruder, der große Erfahrung in der Beratung pflegender Angehöriger von Demenzkranken mitbringt, stellte ergänzend dar, dass die Kontrolle »unangemessener Schuldgefühle« ein wichtiges Element in einer gesunden Beziehung sei. Er benennt als Hauptfaktoren filialer Reife »emotionale Autonomie« und die Fähigkeit zu einem »fürsorglich-autoritären Führungsstil« (Bruder 1998). Somit ist in den Konzeptionen ein Trend zu entdecken, der die Autonomie gegenüber den Eltern auf der Basis einer liebevollen Zuwendung in den Vordergrund stellt. Filiale Reife zu erlangen bedeutet somit, ein neues Gleichgewicht in der Beziehung zu den El-

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tern zu entwickeln. Erwachsene Kinder werden fähig, die zunehmenden Einschränkungen der Eltern wahrzunehmen und zu akzeptieren. Im idealen Fall sind sie bereit, Verantwortung für die Eltern unter Beachtung der eigenen Interessen und ohne Schuldgefühle zu übernehmen. Eine Demenzerkrankung der Eltern kann zu einer Zuspitzung der filialen Krise für die erwachsenen Kinder führen. In der ElternKind-Beziehung entsteht durch die Erkrankung eine immer stärkere Einseitigkeit in der Beziehung, die die Kinder zwingt, mehr Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen für die Eltern unter Umständen sogar gegen deren Willen zu treffen. Durch die größere Nähe, die zum Teil ein Eindringen in die Intimsphäre notwendig macht, können zudem frühere Konflikte reaktiviert werden. Eine erfolgreiche Bewältigung der Krise könnte daher möglicherweise erschwert sein. Das Konzept der filialen Reife wird, wenn es auch noch nicht hinreichend wissenschaftlich untersucht ist, häufig in der Angehörigenberatung genutzt. Für die empirische Forschung war wichtig, dass erstmals Marcoen das Konzept der filialen Reife operationalisierte und einen standardisierten Fragebogen entwickelte, die Louvain Filial Maturity Scale (Marcoen 1995). Auf der Grundlage eines multidimensionalen Konstrukts besteht dieser aus 100 Sätzen, die auf einer siebenstufigen Skala bewertet werden. Filiale Reife bedeutet demnach, bereit zu sein, den Eltern Hilfe zu leisten (Hilfsbereitschaft) und ihnen auch tatsächlich zu helfen (Hilfe), motiviert durch liebevolle Gefühle (filiale Liebe) und Pflichtgefühle (Verpflichtungsgefühl), ohne allerdings die Selbstständigkeit zu verlieren (filiale Autonomie) in einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung (elterliche Besorgtheit) und der Familiengemeinschaft (familiäre Solidarität). Mit den genannten Faktoren wird das Konstrukt abgebildet. Der Faktor »Hilfe« wird dabei als der zentrale betrachtet, wobei »Autonomie« und »Liebe« als die für filiale Reife aussagekräftigsten Faktoren gelten. Diese Skala wurde unseres Wissens erstmals in einer eigenen Untersuchung über pflegende Kinder von Demenzkranken eingesetzt. Wir untersuchten 61 »Kinder« mit einem Durchschnittsalter von 53 Jahren (+/– 8,09 Jahre), von denen die Mehrzahl, nämlich

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47, Töchter waren. 45 Befragte konnten nach sechs Monaten erneut untersucht werden. Zu diesem Zeitpunkt waren 25 Prozent der Eltern in ein Pflegeheim umgezogen, was für ein schweres Krankheitsstadium der Demenz spricht. Außer der Filiale-ReifeSkala wurde der SIDAM zur Einschätzung der Demenzschwere, die NOSGER (Spiegel et al. 1991), SCL-90 und das Burden Inventory nach Zarit eingesetzt, um das Belastungserleben und psychosomatische (Belastungs-)Symptome zu erfassen. In unserer Untersuchung ergaben sich keine Unterschiede in der filialen Reife zwischen Töchtern und Söhnen, sodass wir vermuten, dass viele »Ausnahmesöhne« befragt wurden. Wir konnten zeigen, dass zwar keine Beziehung zwischen filialer Reife und dem Belastungserleben der Kinder besteht, jedoch eine höhere elterliche Besorgtheit negativ mit dem Belastungserleben korreliert. Dieser Befund unterstützt die Ausführungen von Nydegger, nach denen sich eine paternale Reife positiv in der Beziehung (und damit offensichtlich auch positiv auf das Belastungserleben) auswirkt. Eine Heimeinweisung wurde lediglich durch hohe Werte in der NOSGER, also stärkere demenzassoziierte Symptome, mitbestimmt. Dennoch zeigte die Gruppe von pflegenden Kindern, die die ambulante Pflege fortsetzte, höhere Werte auf der Skala »Verpflichtungsgefühl« gegenüber den Eltern. Erwachsene Kinder, die an einer Angehörigengruppe teilnahmen, wiesen in der Befragung signifikant höhere Werte in den Faktoren »filiale Liebe« und »filiale Autonomie« auf, was mit einer höheren filialen Reife gleichgesetzt werden muss. Auffällig war zudem, dass in dieser Gruppe deutlich stärkere Schuldgefühle gegenüber den Eltern angegeben wurden. Hingegen waren körperliche Beeinträchtigungen geringer ausgeprägt. Wir gehen daher davon aus, dass Angehörigengruppen einen wichtigen Beitrag leisten können, einen »reiferen« Umgang mit der Demenzerkrankung der Eltern zu ermöglichen. Eine weiterführende Untersuchung soll nun Unterschiede in der filialen Reife zwischen den hauptsächlich betreuenden erwachsenen Kindern und ihren Geschwistern zeigen. Auch Cicirelli stellte ein Instrument zur Erfassung der filialen Reife vor, die »Filial Anxiety Scale«. Als »filiale Angst« bezeichnet er zum einen die Sorge vor der erwarteten Hilfsbedürftigkeit der Eltern und zum anderen die Sorge, den Hilfsbedürfnissen der El-

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tern nicht entsprechen zu können. Cicirelli schlägt vor, filiale Angst als indirektes Maß für filiale Reife zu nutzen (Cicirelli 1988). Die Skala ist gut validiert, bisher aber nicht im Kontext von Pflegebeziehungen eingesetzt worden (Murray et al. 1995, 1996). Eine solche Untersuchung wird derzeit von uns durchgeführt.

■ Fazit Ziel einer verbesserten Arbeit mit gerontopsychiatrisch Erkrankten und ihren Betreuenden muss es sein, diese nicht nur mit Pflegeleistungen, sondern auch emotional zu unterstützen und ihre soziale Isolierung zu verhindern. Daher erhält die Untersuchung der für die Pflege be- und entlastenden Faktoren eine besondere Bedeutung. Die wissenschaftliche Datenlage zu Fragen der Bindungsforschung in der Gerontopsychiatrie ist zurzeit noch ausgesprochen schlecht. Zum Thema der Belastung durch die Betreuung ist zwar viel geforscht worden, viele dieser Studien stehen aber leider unverbunden nebeneinander. Wünschenswert ist aus unserer Sicht eine bessere Abstimmung der Konzeptionen und Forschungsvorhaben und eine verstärkte Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in die alltägliche Praxis, nämlich die Beratung pflegender Angehöriger von Demenzkranken. Diese Beratung ist ein unerlässlicher Baustein in der Behandlung von Demenzkranken und dient der Lebensqualität sowohl der Pflegenden als auch der Erkrankten. Der Einfluss der frühen Eltern-Kind-Bindung auf die spätere Beziehung zwischen erkrankten Eltern und den erwachsenen Kindern ist derzeit leider noch nicht ausreichend erforscht. Erste Daten zum Einsatz des Parental Bonding Instrument nach Parker (1990) bei erwachsenen Kindern von Demenzkranken können in Kürze von uns vorgelegt werden. Es ergeben sich verschiedene Forschungsfragen, von denen aus unserer Sicht die folgenden vorrangig sind: – Sind Bindungsstile prädiktiv für die Entscheidung, die Betreuung erkrankter Familienangehöriger zu übernehmen?

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– Haben sie Auswirkungen auf die Entwicklung psychischer oder körperlicher Belastungssymptome? Daraus abgeleitet werden kann die Beantwortung folgender Fragen: – Für welche Pflegenden ist eine individuelle Beratung sinnvoll und sollte daher begleitend angeboten werden? – Gibt es Beziehungskonstellationen, bei denen eine Betreuung nicht ohne zusätzliche professionelle Unterstützung geleistet werden sollte? Kann auf diesem Feld die enorme Belastung pflegender Angehöriger von Demenzkranken vermindert werden? – Welchen Wert haben Angehörigenschulungen und Selbsthilfegruppen für die Qualität der Betreuung und die Gesundheit von Pflegenden und Gepflegten? Es gibt ausreichende Hinweise, dass diese einen wichtigen Beitrag in der Verminderung des Belastungserlebens leisten können. Mehr Daten wären jedoch hilfreich, vor allem auch, um den Angehörigen individuell abgestimmte Angebote machen zu können. – Welchen Einfluss haben Bindungsrepräsentanzen auf die Eignung von Altenpflegerinnen und Altenpflegern? Kann daraus ein individueller Schulungsbedarf abgeleitet werden? Letztere Frage ist unseres Wissens bisher kaum beachtet worden; sie erscheint gerade auch angesichts des Mangels an Pflegekräften in den Heimen problematisch. Die Frage nach der Qualität der Versorgung ist aber eine entscheidende. Daher sollte auch stärker untersucht werden, inwieweit professionell Pflegende selbst gesundheitlich gefährdet sind und wie sehr sich ungünstige Beziehungsmuster in der Betreuung auswirken. Zum Beispiel kann das Risiko von Gewalt in der Pflege deutlich erhöht sein. – Kann ein Screening mit der Anwendung standardisierter Verfahren in diesen Fragen hilfreich sein? Zuletzt ist zu betonen, dass die Formel, nach der eine Betreuung Demenzerkrankter mit starker Belastung und einer Einschränkung der Lebensqualität gleichzusetzen ist, zu kurz gegriffen ist. Vielmehr muss beachtet werden, dass die Pflege Demenzkranker nicht nur eine Belastung bedeutet, sondern auch positive Aspekte

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beinhaltet und von vielen Angehörigen als Chance zu einer erneuten Annäherung, zum Teil sogar Aussöhnung nach lebenslangen Konflikten erlebt wird.

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■ Teil III · Weitere Perspektiven

■ Joachim Glaubrecht Meine Rezeption der Bindungstheorie Eine Reflexion aus der Sicht eigener Erfahrungen und Erkenntnisse

Das Erlebnis des Hamburger Symposiums zur Bindungstheorie stellt für mich einen herausragenden Schritt auf dem Weg zum besseren Grundverständnis des Wesens psychischer Erkrankungen dar. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Bindungstheorie einen der wichtigsten Eckpfeiler für die Entwicklung einer echten Alternative gegenüber dem einseitigen medizinischen Krankheitskonzept darstellt, welches psychische Erkrankungen auf einen Hirnstoffwechseldefekt zurückführt und, daraus abgeleitet, zum Beispiel eine lebenslange Neuroleptikaeinnahme verlangt. Seit Dezember 2001 beschäftige ich mich in umfangreichen Studien mit der Frage, worin das Wesen psychotischer Episoden begründet ist. Ich selbst habe drei Psychosen erlebt und diese mit besonderem Interesse an mir beobachtet. Dabei habe ich jedes Mal festgestellt, dass durch das psychotische Geschehen besondere und notwendige Entwicklungsschübe meiner Persönlichkeit gefördert wurden. Die Beantwortung dieser Frage stellt aus meiner Sicht gegenwärtig noch eine zentrale und schwerwiegende Aufgabe dar, denn jeder Mensch kann psychisch erkranken und läuft somit Gefahr, falsch behandelt zu werden, solange das medizinische Krankheitskonzept in der deutschen Psychiatrie noch vorherrscht. Die Lösung des Problems wird vermutlich erleichtert, indem die Bindungstheorie in das Störungsmodell einbezogen wird. Den Teilnehmern wurde vor Augen geführt, in welchem Ausmaß frühe Bindungserfahrungen für jeden Menschen prägend sind, und es ist nahe liegend, dass Bindungsstörungen für den Ausbruch psychischer Erkrankungen eine besondere Rolle spielen. Durch den Plenarvortrag von H.-P. Hartmann wie auch durch

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Teil III · Weitere Perspektiven

die anderen Beiträge des Symposiums kam ich zu der Überzeugung, dass die mangelnde Ausprägung sicherer Bindungsmuster und stattdessen die unsicher-ambivalenten, unsicher-vermeidendenden oder desorganisiert ausgeprägten Bindungsmuster den wesentlichen Ursachenkomplex für psychische Erkrankungen bilden. Besonders bedeutsam für Ärzte und Betroffene ist auch die Erkenntnis, dass die Struktur der ausgeprägten Bindungsmuster zuverlässig ermittelt werden kann und so die diagnostische Arbeit um eine wesentliche, naturwissenschaftlich begründete Erkenntnisquelle bereichert wird. Auf diese Weise wird es möglich, präventiv sowohl einer Ersterkrankung vorzubeugen als auch im Rahmen der Rehabilitation chronisch psychisch Kranker auf das Individuum abgestimmt wesentlich wirksamere Therapien einzusetzen, als einfach ruhig stellende und nur die Symptome dämpfende Psychopharmaka zu verabreichen. Daneben machte ich noch eine andere besondere Entdeckung: Die Beschreibung der Bindungstypen hatte für mich eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Formen interpersonellen Verhaltens, wie sie Karen Horney beschreibt. In ihrem Buch »Unsere inneren Konflikte« (1954) zeigt sie psychologische Gesetzmäßigkeiten im mehr oder weniger gestörten Verhalten vieler Menschen auf. Die Autorin war eine Schülerin und Kritikerin Freuds und ist als Neopsychoanalytikerin in die Geschichte der Psychotherapie eingegangen. Ein wichtiger Teil ihres Lebenswerkes drehte sich um die Aufklärung der Störungen des Selbst. Hier entwickelte sie eine theoretische Plattform, die sich besonders praxisbezogen für die Diagnose interpersonellen Verhaltens eignet und Aussagen darüber zulässt, inwieweit Störungen des jeweiligen Selbst eine pathogene Wirkung erlangen können. Sie unterschied drei Formen interpersonellen Verhaltens, die sie als »Hinwenden, Gegenwenden oder Abwenden« von den Menschen bezeichnete. Jede Form dieses interpersonellen Verhaltens ist anhand einer entsprechenden Symptomatik erkennbar und kann so auch für die Analyse pathogener interpersoneller Beziehungen herangezogen werden. Ich sehe hier verblüffende Ähnlichkeiten mit den in der Bindungstheorie beschriebenen Formen unsicherer Bindungsstruktur. Ferner wird ein sachlicher Zusammenhang zwischen den Formen

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des zwischenmenschlichen (Bindungs-)Verhaltens und der Entwicklung des Selbst hergestellt. Das scheint mir von essenzieller Bedeutung zu sein für das Verständnis psychischer Störungen. Es deckt sich auch mit meinen persönlichen Erfahrungen. Ich sehe rückblickend den Weg, der zur Psychose führte, als pathogene Entwicklung; die Psychose selbst habe ich eher als einen Durchbruch erlebt, der zur Gesundung führt beziehungsweise führen kann, wenn sich die Selbstheilungskräfte unserer Psyche entfalten können und nicht durch die Gabe von Neuroleptika gehemmt oder blockiert werden. Konkret nahm ein solcher Selbstheilungsvorgang bei mir Gestalt an, als ich im Frühjahr des Jahres 2000, trotz einer heftigen manischen Episode, ohne die Einnahme der verordneten Neuroleptika meiner Erwerbstätigkeit nachkommen konnte und nebenbei, während der manischen Phasen, zu den Horney’schen psychologischen Gesetzmäßigkeiten theoretisierend fantasierte. Das alles war ohne das Auftreten ernsterer Probleme möglich, weil ich durch die persönliche, feinfühlige Beziehung mit einem vertrauten Menschen (im geschützten Rahmen) die vielfältigen Inhalte meines Unterbewusstseins exteriorisieren und – bewertend durchgearbeitet – wieder interiorisieren konnte. Der krisenhafte manische Zustand ebbte schließlich ab, mein Wohlbefinden stabilisierte sich zunehmend und ich empfand meine seelischen Verwundungen als ausgeheilt. In der Folgezeit ließ sich der von mir erlebte Selbstheilungsprozess unter ähnlichen Bedingungen auch bei anderen, mit mir eng befreundeten Menschen wiederholen, die ebenfalls Zustände psychotischer Episoden durchlebten und auch keine Neuroleptika einnahmen. Der hierbei vorgenommene Vergleich der Ähnlichkeiten im interpersonellen Verhalten der Betroffenen offenbarte mir – neben einer typischen »Bindungsstörung« – jeweils ein gestörtes Selbst, das Karen Horney als »idealisiertes Selbst« bezeichnet. Im Kontrast dazu spricht sie von der Existenz eines »wahren Selbst«, welches in Bezug zum idealisierten Selbst einen inneren Konflikt bewirke. Dieser Konflikt führt in eine Krise, in der sich das »wahre Selbst« behaupten will. Das ist der Prozess der Selbstheilung. Interessanterweise wird dieser Prozess offenbar am meisten durch die Erfahrung einer neuen Bindung, die als eine verlässliche,

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warmherzig-vertraute, feinfühlige persönliche Beziehung zu charakterisieren ist, gefördert. Dabei kommt es für die in der Krise befindliche Persönlichkeit darauf an, über einen längeren Zeitraum hinweg Anerkennung und Würdigung zu erfahren. Ich bin überzeugt, dass sich aus diesen theoretischen Ansätzen heraus, auf dem Boden der persönlichen Erfahrungen, die ich mit anderen Betroffenen teile, ein alternatives Krankheitskonzept psychischer Störungen entwickeln lässt, das dann auch alternative Behandlungsmethoden nach sich ziehen muss. Das Hamburger Symposium zur Bindungstheorie vermittelte in vielfältiger Form fruchtbare Anregungen, die die Betroffenen hoffen lässt, dass alle Beteiligten einer humaneren Psychiatrie entgegengehen, mit einem tieferen Verständnis für das, was den Menschen psychisch krank oder gesund macht. Dadurch könnten die Behandlungschancen, aber auch zum Beispiel die Prävention psychischer Erkrankungen wesentlich verbessert werden. Die Hereinnahme der Bindungstheorie in die psychiatrische Forschung, Lehre und Praxis kann ganz konkrete Veränderungen im Hinblick auf die zuverlässige Diagnostik für die Prävention wiederholter psychischer Erkrankungen, durch die Erfassung vorhandener Bindungsstörungen bringen. Das führt auch zu einem veränderten Umgang zwischen psychiatrisch Tätigen und ihren Patienten nach dem Modell verlässlicher und einfühlsamer Bindungsbeziehungen und folglich zum Nachreifen der Bindungsstrukturen durch korrigierende Bindungserfahrungen bei chronisch psychisch Erkrankten bis zur Entchronifizierung. Und schließlich wird ein gezieltes Feinfühligkeitstraining für Bindungen werdende Eltern dazu befähigen, zu einer Absenkung des Anteils von Menschen mit gestörten Bindungsstrukturen und einer damit einhergehenden spürbaren Erhöhung der seelischen Gesundheit der Bevölkerung aktiv beizutragen.

■ Literatur Horney, K. (1954): Unsere inneren Konflikte. Stuttgart.

■ Markus Preiter Bindung, Evolution und Psychopathologie – evolutionäre Aspekte der Bindungstheorie

Bowlbys Bindungstheorie der späten fünfziger und der sechziger Jahre ist ohne die Inspiration durch die Ethologie, vor allem durch deren Gründer Tinbergen und Lorenz, eigentlich undenkbar. Ebenso sind die Ergebnisse der Primatologie, namentlich Harlows Deprivationsversuche, für Bowlby von außerordentlicher Bedeutung gewesen, relativierten sie doch in seinen Augen die Bedeutung der psychoanalytischen Triebtheorie und legten einen stärkeren Akzent des psychischen Geschehens weg von intrapsychischen Mechanismen hin zur interpersonellen Gegenseitigkeit (Dornes 2000). Die Ethologie wandelte sich im Verlauf der folgenden Jahrzehnte; wesentliche Bestandteile vor allem der lorenzschen Ansichten, zum Beispiel dessen Aggressionstheorie, wurden relativiert und korrigiert. 1975 erschien E. O. Wilsons Buch »Sociobiology«, das neodarwinistische Erweiterungen der klassischen Evolutionstheorie aufgriff und mit den Ergebnissen der Gentheorie vereinigte. Er schuf damit einen neuen Wissenschaftszweig, der die Ethologie fortführte, erneuerte und besser verwissenschaftliche: die Soziobiologie. Deren Kernaussage wurde 1978 durch Dawkins Paraphrase des »egoistischen Gens« in seinem gleichnamigen Buch populär. Die Soziobiologie erscheint seither in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, mit denen sie große Bereiche teilt, ohne ganz in ihnen aufzugehen. Die Rede ist von der Verhaltensökologie, darwinischen Anthropologie und evolutionären Psychologie, wobei Letztere populärwissenschaftlich die größte Verbreitung findet. Das Buch »Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken« von Pease und Pease ist auf der Bestsellerliste, auch wenn auf dieses

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Buch ein Satz von Einstein zutrifft, der einmal sinngemäß gesagt haben soll: »Man muss die Ergebnisse der Wissenschaft so einfach wie überhaupt möglich erklären, aber nicht noch einfacher.« Pease und Pease erklären durchaus seriöse Forschungsergebnisse »zu einfach«, auf eine Art, die letztlich ungewollt antievolutionäre Vorurteile nähren kann und auf fragwürdige Weise einen Wertkonservatismus bedient. Der große Verkaufserfolg zeigt aber, dass es gegenwärtig eine gesellschaftliche Akzeptanz biologischer Erklärungsmuster für menschliches Verhalten gibt, die noch vor wenigen Jahren in Deutschland, letztlich aus historischen und ideologischen Gründen, unmöglich gewesen wäre. Insgesamt gewinnt man dabei den Eindruck, als schwinge das »nature versus nurtere«-Pendel von der ideologischen Sozialisationstheorie des »Alles ist gesellschaftlich mach- und formbar« zu heftig zum biologischen Pol einer angeborenen genetischen Determination menschlichen Seins hin. Die Theorie des egoistischen Gens bricht dabei für manchen Besorgnis erregend deutlich in Bereiche der Geisteswissenschaften ein, die bisher als immun gegen biologische Infizierung galten. So befruchtet die evolutionäre Psychologie zum Beispiel die Soziologie durch die Arbeiten des Forscherehepaares Cosmides und Tooby, die zeigen wollen, dass auch die kulturellen Eigenheiten letztlich auf einer biologischen Determinante fußen, oder wie der Primatologe de Waal in einem ähnlichen Zusammenhang griffig formulierte: »Es gibt viel Kultur in der Natur, so wie sich auch viel Natur in der Kultur findet« (de Waal 2002, S. 255). Auch die Psychiatrie bleibt nicht unberührt von diesen Strömungen – besser gesagt: wird wieder seit Mitte der neunziger Jahre davon beeinflusst –, bis auf wenige Ausnahmen (Brüne u. Ribbert 2001) allerdings fast ausschließlich im angloamerikanischen Raum (Stevens u. Price 1996; McGuire u. Troisi 1998; Fabrega 2002). Insbesondere zur Erklärung der Psychopathologie der Schizophrenie wurden aber bereits vor Entstehung einer »evolutionären Psychiatrie« der neunziger Jahre wiederholt evolutionäre Aspekte zur Deutung dieser Krankheit genutzt. Psychotisches Erleben wurde dabei immer wieder als Rückfall auf eine individuelle oder stammesgeschichtlich frühe Entwicklungsstufe verstanden (Heinz 2002). Diese als Regression im weiteren Sinne gesehenen Vorgänge halten

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aber einer Überprüfung auf evolutionäre Stimmigkeit nicht stand (Preiter 2003). Erst das 1995 von Nesse und Williams herausgegebene Buch »Why we get sick« bemühte sich umfangreich um eine seriöse Darstellung evolutionärer Erkenntnisse in der Deutung somatischer und psychiatrischer Krankheitsbilder und stieß damit auch eine Wiederbelebung evolutionären Denkens in der Psychiatrie an. Diese »neue«, neodarwinistische evolutionäre Psychiatrie fühlt sich dabei anscheinend der Bindungstheorie und ihren Aussagen näher als der Psychoanalyse, auch wenn hier erste Berührungsversuche erarbeitet wurden (Gilbert u. Bailey 1998). Inwieweit hilft die Zunahme des evolutionären Wissens in den letzten Jahren die Entstehung und Bedeutung von Bindung und ihre Pathologien besser zu erklären?

■ Evolutionäre Entstehung von Bindung Wie sah der Ursprung der evolutionären Entwicklung des Menschen aus, was verrät uns die Primatologie als Wissenschaft von den fossilen und rezenten Affen über unsere Entstehungsbedingungen? Zur Beantwortung gehen wir viele Millionen Jahre weit in die Vergangenheit zurück. Die Säugetiere entstanden etwa zeitgleich mit den Dinosauriern vor ungefähr 250 Millionen Jahren. Während sich die Dinosaurier aber in viele Unterarten und Klassen aufteilten und die Erde eroberten, führten die Säugetiere im Schatten der Dinosaurier ein wenig angepasstes und unscheinbares Leben. Erst als die Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren in der Folge einer vielleicht durch Meteoriteneinschlag ausgelösten Klimaveränderung ausstarben, entstand Entfaltungsspielraum, und die Säugetiere differenzierten sich in unterschiedlichste Arten. Hierbei kam ihnen ihre relative Unspezialisierung zugute, die viele Möglichkeiten evolutionärer Entwicklung gab. Das Schicksal der Dinosaurier war ihre ausgesprochene Angepasstheit, die sie bei veränderten Umweltbedingungen in eine evolutionäre Sackgasse laufen ließ. So entstanden vor etwa 60 Millionen Jahren die ersten Primaten, die Klasse, zu denen auch unsere Art gezählt wird. Aufgrund der spärlichen fossilen Funde ist die Lebensweise dieser di-

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rekten Vorfahren unklar, man nimmt aber an, dass eine bis heute lebende Art diesen ersten Primaten in Aussehen und Lebensweise sehr nahe kommt. Es handelt sich dabei um den in Südostasien vorkommenden Zwergtupaja. Die Zoologen sind sich uneins, ob der Zwergtupaja noch zur Familie der Insektenfresser gehört oder bereits zu den Primaten zu zählen ist, weshalb er als Primatenprototyp angesehen werden könnte (Macdonald 2003). Es handelt sich hierbei um einen circa 45 Gramm schweren, erdhörnchenartigen Baumbewohner, dem noch einige typische anatomische Merkmale der Primaten, wie zum Beispiel die zum stereotaktischen Sehen befähigten, nach vorn gerichteten Augen fehlen. Der Zwergtupaja ist ein Einsiedler, das Männchen ein so genannter Reviermarkierer. Dies bedeutet, das Männchen setzt Duftstoffe ab, mit denen es anderen Männchen die Grenzen seines Reviers kenntlich macht. Männliche Reviereindringlinge werden bekämpft und mitunter auf das Heftigste attackiert, Weibchen hingegen geduldet. Nach der Paarung nimmt das Männchen keinen Anteil an der Jungenaufzucht, und auch das Weibchen beschränkt sich auf den Nestbau, die Reinigung der Jungen nach der Geburt und das Stillen, wobei sie manchmal für mehrere Tage das Nest verlässt und die Jungen als typische Nesthocker sich selbst überlässt. Nach drei bis vier Wochen verlassen die Jungen das Nest und suchen sich spätestens zur eigenen Geschlechtsreife, die sie mit sechs Monaten erreichen, neue Reviere, da sie vom eigenen Vater in dessen Revier nicht geduldet werden. Über die Paarungsbemühungen hinaus kennt der Zwergtupaja kein Sozialverhalten. Die ersten Primaten, so vermutet man, lebten ebenfalls einzelgängerisch, bis auf die Revierverteidigung ohne Bezug zu anderen Artgenossen. Warum sollten sie auch Gemeinschaft gesucht haben? Sozialverhalten hat ganz offensichtliche Nachteile: Es besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko innerhalb von Gruppen, es entsteht Konkurrenz um das gemeinsam bevorzugte Nahrungsangebot und somit unausweichlich sozialer Stress. Auch die eigene Reproduktion ist gefährdet, wenn ein Männchen die gleichen Weibchen bevorzugt wie die anderen Männchen, mit denen es in einer Gruppe zusammenlebt. Es wird angenommen, dass die ersten Primaten sich trotz der aufgezählten Nachteile vor 45 Millionen Jahren veränderten, ihre

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einzelgängerische Lebensweise aufgaben und begannen, sich in Gruppen zusammenzuschließen (Dunbar 1988). Wichtigster Auslöser scheint hierfür der anwachsende Raubdruck durch jagende Feinde gewesen zu sein. Vier Augen sehen mehr als zwei, und vier Ohren hören einen herannahenden Feind eher als zwei Ohren. Weitere Vorteile waren die bessere Ressourcenverteidigung gegen andere Gruppen bildende Nahrungskonkurrenten sowie der letztlich suffizientere Nahrungserwerb. Eine größere Gruppe vermag ein größeres Gebiet zu durchstreifen und mehr Nahrung aufzutreiben als ein Einzelgänger. Allmählich hatten die Vorteile der Gruppenbildung gegenüber den erwähnten Nachteilen überwogen, und Sozialität bildete sich auf dieser Primatenstufe heraus. In den nächsten 45 Millionen Jahren wurde die Fähigkeit und Bedürftigkeit zum sozialen Miteinander aus verschiedenen Gründen immer wichtiger. Deshalb durchdringt Sozialität, deren vielleicht wichtigste Facette die Bindungsfähigkeit ist, unser Denken, Fühlen und Handeln.

■ Vorteile von Bindung Die Herausforderung des sozialen Miteinanders stellte auch neue Ansprüche an die Gehirnkapazitäten unserer äffischen Vorfahren. Der Zwergtupaja verhält sich hochgradig intolerant gegenüber seinen männlichen Artgenossen und bekämpft diese, wie alle Revierverteidiger, bei Betreten seines Territoriums aktiv. Richtschnur für sein aggressives Handeln ist dabei der durch die Anwesenheit eines Artgenossen ausgelöste »negative« Affekt. Gruppenleben bedeutet aber bei Tieren mit höheren Gehirnleistungen zwar, untereinander Konkurrent zu sein, aber eben auch unverzichtbarer Verbündeter, weshalb es zu Umstrukturierungen derjenigen Gehirnareale kommen musste, die für Emotionalität und Aggressivität zuständig sind, nämlich Strukturen im so genannten limbischen System. Es ist ein häufig geäußerter Irrtum, dass wir im Zuge unserer evolutionären Entwicklung über Millionen von Jahren vor allem klüger geworden sind, dies sicherlich auch. In entscheidendem Maß sind unsere Vorfahren aber emotionaler und in diesem Bereich diffe-

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renzierter geworden (Eccles 1999). Sie mussten es werden, weil die Aufgaben eines differenzierten sozialen Miteinanders sie zur Optimierung dieser Lebensform »zwangen«. Komplexe soziale Strukturen verlangen eine differenziertere emotionale Bandbreite, im Gegensatz zu der schmalen affektiven Erlebniswelt eines revierverteidigenden Zwergtupajas. Zwischen Kooperation und Abgrenzung müssen Zwischentöne des emotionalen Erlebens und Handelns möglich sein, die das soziale Miteinander besser variieren als Entweder-oder-Handlungen. Diejenigen Gruppenmitglieder unserer äffischen Vorfahren, die zu einer solchen Differenzierung in der Lage waren, hatten einen höheren sozialen Erfolg und damit vermutlich Vorteile im reproduktiven Wettbewerb der Gruppe. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Schimpansen nicht das Männchen in der Gruppenhierarchie nach oben befördert wird, das physisch am stärksten ist, sondern derjenige durch soziale Anerkennung belohnt wird, der in der Lage ist, für emotionalen Ausgleich in der Gruppe zu sorgen. Die soziale Anerkennung wird dann beispielsweise durch bevorzugten Zugang zu den Weibchen ausgedrückt (Voland 2000). Das emotional ausgleichende Verhalten eines solchen Männchens ist Folge einer stimmigen Bindungsfähigkeit zu den übrigen Gruppenmitgliedern und fußt letztlich unter anderem, im zeitlichen evolutionären Kontext betrachtet, auf Volumenzunahme bestimmter limbischer Strukturen des Gehirns. Es wird von verschiedenen Forschern angenommen, dass die zweifelsfrei im Lauf der Jahrmillionen auch zunehmende kognitive Kapazität des Gehirns letztlich Folge dieser sozialen Differenzierung war (Foley 2000). Zu verstehen, was in der Gruppe geschieht, Bündnisse innerhalb der Gruppe zu erfassen, Absichten der anderen zu erraten, ist auch ein kognitiver Prozess, der die Vergrößerung kortikaler Hirnareale förderte. Aus diesem Grund korreliert die Größe des Kortex bei Affen positiv mit der allgemeinen durchschnittlichen Gruppengröße der jeweiligen Art. Dies bedeutet, dass Affen mit einem großen Kortex in größeren Gruppen leben als Affen mit einem kleineren Kortex. Es gibt Ausnahmen von dieser Regel (Schröpel 1990), die aber der Grundannahme eines evolutionären Zusammenhangs zwischen emotionaler, kognitiver Kapazität und sozialer Struktur nicht unbedingt zuwiderlaufen. Manche Arten scheinen nämlich im Verlauf ihrer evolutio-

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nären Entwicklung ihre Sozialität aufgrund veränderter Randbedingungen zugunsten eines einzelgängerischen Verhaltens wieder aufgegeben zu haben.

■ Bindung von Vorteilen Bei Makakenaffen besteht eine überwiegend starre Hierarchie, die sich entlang der matriarchalischen Linie einer Makakengruppe entfaltet. Dies bedeutet, dass ein Makakenjunges seinen späteren potenziellen Rang als Erwachsener von seiner Mutter erbt. Trotz der Verbindlichkeit dieses Rangerbes ist eine schmale Variation des Auf- oder Abstiegs möglich. Es wurde beobachtet, dass Makakenmütter offensichtlich bemüht sind, ihren abhängigen Nachwuchs bevorzugt mit gleichaltrigen Jungen sozial höher stehender Weibchen spielen zu lassen und sich aktiv um eine Begegnung dieser Jungen bemühen (de Waal 2002). Offensichtlich erfolgt dies, ohne dass hierüber eine bewusste Absicht besteht, mit dem »genegoistischen« Ziel, durch die Schaffung von Bindung an sozial höher stehende Gruppenmitglieder im juvenilen Alter eine soziale Aufstiegsmöglichkeit im adulten Alter zu bahnen. Ein weiterer Vorteil von Bindungsfähigkeit wird in der Partnerwahl deutlich. Während sich bei den meisten Säugetieren die Partnerwahl und -beziehung auf die Reproduktion begrenzt, beteiligen sich manche Männchen auch an der Brutpflege. Manche Affen gehen sogar lebenslängliche, monogame, partnerschaftliche Bindungen ein, wie zum Beispiel die in Japan lebenden Rotgesichtmakaken. Die Soziobiologie erklärt eine solch enge und anhaltende Bindung durch besondere ökologische Randbedingungen, die beispielsweise bei den Rotgesichtmakaken in den schwierigen, lebensfeindlichen ökologischen Umweltbedingungen der Gruppe liegen. Dies bedeutet, dass sich Monogamie als Partnerstruktur dann evolutionär durchsetzt, wenn die Überlebensbedingungen des Nachwuchses durch Abwesenheit des Vaters drastisch eingeschränkt sind. Eine solche Situation kann auch bei hohem Infantizidrisiko der Art vorliegen. Damit ist gemeint, dass durch erwachsene Männchen und manchmal auch Weibchen innerhalb der Gruppe das Risiko für den Nach-

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wuchs ohne beschützenden Vater sehr groß ist und dessen Anwesenheit als Leibwächter den Nachwuchs vor solchen Übergriffen schützt (Voland 2000). Voraussetzung für eine solche anhaltende Beziehung der Eltern ist eine vertiefte emotionale Bindung, die letztlich in einen reproduktiven Vorteil mündet. Hier finden sich im so genannten »geteilten Elterninvestment« die evolutionären Wurzeln von Dreiecksbeziehungen zwischen Vater, Mutter und Kind, die in der Psychoanalyse am Modell der Triangulierung beschrieben werden.

■ Bindung und Lernen Die Primatologie lehrt uns, dass der Mensch einer bereits bei unseren äffischen Vorfahren angelegten Entwicklungslinie folgt: hin zu einer in Quantität und Qualität intensivierten elterlichen Fürsorge. Gleichzeitig wuchs die Lebenserwartung, unsere Vorfahren besaßen immer größere Gehirne, und somit stieg auch ihre Lernfähigkeit an. Die Gesamtnachkommenzahl musste allerdings parallel zu dieser Entwicklung sinken (Voland 2000). Lernfähigkeit besitzt den immensen Vorteil einer flexiblen Umweltrelation. Das lernende Aneignen der ökologischen und sozialen Umgebung ermöglicht ein zunehmendes Abweichen von genetischer Determination. So kann die Ernährungsstrategie flexibler an die ökologischen Bedingungen angepasst und das soziale Handeln sensibler abgestuft werden. Der Nachteil einer langen Prägungs- und Lernzeit ist offensichtlich: Je lernfähiger ein Individuum ist, desto hilfloser und abhängiger ist es unmittelbar nach der Geburt. Es bedarf eines schutzgebenden Gegenübers, um die lange Lernperiode bei bestehender Unselbstständigkeit überhaupt überleben zu können. Die Anwesenheit eines solchen schutzgebenden Individuums muss gewährleistet werden, da Vernachlässigung zum Tod führt. Eltern müssen demnach ein Interesse an ihrem Nachwuchs aufbringen und dieses Interesse lange aufrechterhalten. Gleichzeitig muss das unselbstständige Junge aktiv die Nähe des schutzgebenden Elternteils aufsuchen oder zumindestens dessen Anwesenheit aktiv ein-

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fordern. Diese Sicherstellung von Nähe sowohl von Seiten des Nachwuchses wie auch von Seiten der Eltern wird durch die emotionalen Anteile der Bindungsfähigkeit gewährleistet. Zunehmende Lernfähigkeit musste demnach über lange evolutionäre Zeiträume hinweg zwangsläufig mit zunehmender Bindungsfähigkeit und Bindungsbedürftigkeit einhergehen. Zumindestens bei sozial lebenden Arten.

■ Lernen von Bindung Die Deprivationsversuche Harlows der sechziger und siebziger Jahre hatten zeigen können, dass eine Störung der Bindungserwartung bei jungen Affen zu erheblichen Pathologien der Entwicklung führt (Harlow et al. 1965). Weitere Untersuchungen in der Folge erbrachten Hinweise auf den bis dahin nicht bekannten Lernaspekt von Bindungsfähigkeit und Bindungsverhalten. Die Betrachtung solcher Versuche an Affen ermöglicht Rückschlüsse auf unsere eigenen evolutionären Wurzeln dieser Aspekte. So konnte von Harlow und seinem Team beobachtet werden, dass unter Beziehungsdeprivationsbedingungen aufgewachsene Rhesusweibchen im Erwachsenenalter ein extrem gestörtes Verhalten in Bezug auf ihre eigenen Jungen zeigen. Die Mütter verhielten sich ihren Jungen gegenüber desinteressiert, behandelten sie wie ein lebendes Spielzeug und waren nicht in der Lage, sie suffizient zu stillen. Scheinbar hatten sie durch fehlende eigene Erfahrungen kein adäquates Bindungsverhalten erlernt. Andere Versuche erbrachten faszinierenderweise eine gewisse Rehabilitationsfähigkeit sozial gestörten Verhaltens von Affen durch sicher betreut aufgewachsene Affentherapeuten (Novack u. Harlow 1975). Wie weit Bindungsverhalten innerhalb der Gruppe durch Lernen beeinflussbar ist, konnte de Waal in einem Experiment zeigen (2002). Dazu führte er über mehrere Monate Bärenmakaken mit Rhesusaffen zusammen. Bärenmakaken, so de Waal, sind gelassene, tolerante, in Gruppen lebende Affen, die etwas größer als Rhesusaffen sind. Die Rhesusaffen selber leben in einer eher intoleranten strengen hierarchischen Ordnung. Bei den Bärenmakaken kommt es

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nach aggressiven Streitereien dreimal häufiger zu aktiven Versöhnungen als bei Rhesusaffen. Nach fünf Monaten ununterbrochenem Zusammensein hatte sich die Häufigkeit von Versöhnungshandlungen der Rhesusaffen jener der Bärenmakaken angenähert. Dies zeigt, dass jenseits der biologisch-genetischen Vorgaben Sozial- und Bindungsverhalten durchaus auch einen lernpsychologischen Zufluss in sich tragen. In diesen »Erfahrungszuflüssen« liegen die Wurzeln von Pathologien der Bindung.

■ Bindende Pathologie Stevens und Price haben darauf hingewiesen, dass manche psychopathologischen Phänomene beim Menschen sich nur innerhalb eines sozialen Kontextes entfalten können, und nennen diese Krankheiten »In Group Disorders«. Hierzu zählen sie manche psychopathologischen Phänomene der affektiven Erkrankungen, gewisse Persönlichkeitsstörungen und vor allem die Angststörungen. Bei einigen dieser Störungen scheint die Psychopathologie eine Signalfunktion an andere Menschen zu enthalten. Sie sind als Bindungsversuch aufzufassen, da der Betroffene mit seiner »Störung« entweder versucht, andere sozial zu übervorteilen, beispielsweise bei manisch expansivem Verhalten mit überblähtem Selbstbewusstsein, oder eine Beziehung zu einem schutzgebenden Menschen sucht, welcher Sicherheit und Halt verspricht. Am deutlichsten ist dies bei den Angst- und Panikstörungen zu beobachten. Menschen mit Panikstörungen flüchten sich oft zu Halt und Geborgenheit versprechenden Personen, wie zum Beispiel dem Partner oder auch einem Arzt. Allein unfähig, den häuslichen Bereich oder die Klinik zu verlassen, ist dies durchaus in Begleitung eines »Bodyguards« möglich. Die Angst wird dann durch den Schutz und Sicherheit versprechenden Begleiter gebunden, da gleichzeitig Bindung gewährleistet wird. Therapeuten wissen, wie schwer manchmal dieser sekundäre Krankheitsgewinn der Beziehungssicherheit und -konstanz überwunden werden kann, da ein autonomeres Verhalten die in der Pathologie sichergestellte Bindungszuverlässigkeit lockert. Ähnliches sehen Neese und Williams im

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depressiven Verhalten. Ihrer Ansicht nach ist das depressive Erleben und Verhalten eine evolutionär entwickelte Strategie, nach Ressourcenverlust eine Neuorientierung für sich und die Gruppe innerhalb hierarchischer Systeme mit dem aktuellen Ausdruck gänzlicher Anspruchslosigkeit zu ermöglichen. Das pathologisch Depressive ist nach dieser Ansicht ein entgleister und überschießender gesunder Mechanismus der Psyche. Bei unseren äffischen Vorfahren war der erwähnte Ressourcenverlust zum Beispiel der Verlust eines hohen sozialen Status. Bei Gorillas, bei denen etwa alle zwei bis vier Jahre das sich über diesen Zeitraum allein reproduzierende Anführer-Männchen meist nach zähem Kampf und Auseinandersetzung abgesetzt wird, verhält sich dieser entthronte ehemalige Anführer ebenfalls von einem bestimmten Zeitpunkt an passiv abwartend. Er sitzt dann nichts fordernd da, frisst kaum, lehnt sich nicht mehr gegen seinen Nachfolger auf. Handelt er nicht auf diese quasi depressive Weise, wird er von seinem Nachfolger oder anderen adulten Männchen der Gruppe unter Umständen getötet (Sommer u. Ammann 1998). Die entsprechende »depressive« Körperhaltung besitzt bei Tieren und wohl auch beim Menschen Signalfunktion und mobilisiert beim Gegenüber Hilfestellungsmotivation. Dabei signalisiert der depressive Mensch keinen expliziten Bindungswunsch nach außen, wie wir ihn bei den Angststörungen kennen gelernt hatten, er verhält sich vielmehr so, als sei er zwar in der Gruppe, aber ohne jeglichen Anspruch. Er ist und isst nichts, er fordert nichts, bedroht aufgrund seiner fehlenden Ansprüche niemanden, er bleibt passiv anwesend, ohne im sozialen Spiel der Kooperation und Taktierung aktiv mitzumachen. Angebote der Hilfestellung werden sogar abgelehnt, die Unveränderlichkeit des eigenen Zustands nach außen und innen vehement verteidigt, dennoch liegt unterschwellig, »unbewusst« der Wunsch nach sozialer Beteiligung, nach Beziehung und Bindung vor. Nicht selten werden die Bindungshabenden verdeckt beneidet. Die Psychoanalyse beschreibt diesen nicht bewussten Anteil depressiver Menschen in dem Phänomen der Gegenübertragung der Behandler. Diese spüren häufig einen aggressiven Impuls gegenüber dem Patienten, den die Angehörigen, oft mit einem schlechten Gewissen behaftet, ebenfalls erleben. Gedeutet wird dies als projektive Iden-

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tifikation unbewusster, aggressiver Neidtendenzen des Patienten durch den Behandler, der Behandler also stellvertretend für den Patienten dessen aggressive Impulse erlebt, da der Patient sich und anderen diese Gefühle im Rahmen der Depression nicht oder noch nicht zuzumuten wagt.

■ Schlussbemerkung Die Psychiatrie ist die einzige medizinische Disziplin, die sich permanent neu erfindet. Deshalb erfährt sie bei manchem brüske Ablehnung aufgrund ihrer Unwissenschaftlichkeit, anderenorts gewinnt sie deshalb ihren besonderen Charme, weil ihr Verstehen und ihr Interpretationsbemühen von vielen Faktoren auch außerhalb der Medizin befruchtet wird. Schon Kurt Schneider hat deshalb darauf hingewiesen, dass es ein einheitliche Gebiet »Psychiatrie« nicht gebe, sondern nur »den Psychiater« (Schneider 1992). Der genannte Dualismus ist die Faszination meines Fachs, obwohl es innerhalb der verschiedenen Grundströmungen teilweise erhebliche Ab- und Ausgrenzungsbemühungen gibt. Dies liegt teilweise daran, dass der philosophische Leib-Seele-Dualismus bis heute in die Psychiatrie hineinwirkt und es zwischen einem eher biologischen und einem psychodynamischen Verstehen scheinbar keinen bedeutsamen gemeinsamen Nenner gibt. Bowlbys Bindungstheorie fand diesen gemeinsamen Nenner in den »psychobiologischen« Wurzeln der Psychoanalyse und der Ethologie der damaligen Zeit. Der Psychiatrie und ihren verschiedenen Strömungen würde eine Vereinheitlichung zu einem gemeinsamen Nenner meiner Ansicht nach gut tun, ohne dass hierdurch wichtige Erkenntnisse oder Schwerpunkte der eigenen Sichtweise aufgegeben werden müssten. Gleichgültig, was man in der Entstehung des Pathologischen als prima causa ansieht: die Genetik, wie es die biologische Psychiatrie tut, die frühe Kindheit, die für die Psychoanalyse und die Bindungstheorie so bedeutsam ist, Jugend und Erwachsenenalter, die für lerntheoretische Konzepte im Vordergrund stehen, oder die aktuelle gesellschaftliche Situation, auf die die Sozialpsychiatrie ihr Hauptaugenmerk richtet; alle Strömungen

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müssen eines einräumen: Der Mensch ist das Produkt der Evolution, und es mehren sich die Hinweise, dass wir trotz unseres kulturellen Überbaus weiterhin von unserem evolutionären Erbe beeinflusst werden. Unsere Genetik, unsere Prägungsfähigkeit im Kindesalter, unsere Bindungsmuster, unsere Lernfähigkeit und Konditionierbarkeit sowie unsere Beeindruckbarkeit durch soziale Strukturen sind das Ergebnis dieses evolutionären Prozesses und sind auf einem evolutionären Hintergrund zu begreifen.

■ Literatur Brüne, M.; Ribbert, H. (2001): Evolutionsbiologische Konzepte in der Psychiatrie. Frankfurt a. M. Dunbar, R. (1988): Primate Social Systems. London. Dornes, M. (2000): Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt a. M. Eccles, J. (1999): Die Evolution des Gehirns. Die Erschaffung des Selbst. München. Fabrega, H. (2002): Origins of Psychopathology. New Brunswick. Foley, R. (2000): Menschen vor Homo sapiens. Wie und warum unsere Art sich durchsetzte. Stuttgart. Gilbert, P.; Bailey, K. (Hg.) (1999): Genes on the Couch. Hillsdale. Harlow, H.; Dodsworth, R.; Harlow, M. (1965): Total Social Isolation in Monkeys. Proceedings of the National Acadamy Science 54: 90–96. Heinz, A. (2002): Anthropologische und evolutionäre Modelle in der Schizophrenieforschung. Berlin. Macdonald, D. (Hg.) (2003): Enzyklopädie der Säugetiere. Königswinter. McGuire, M.; Troisi, A. (1998): Darwinian Psychiatry. New York. Neese, R. M.; Williams, G. C. (1995): Why We Get Sick. New York. Novack, M.; Harlow, H. (1975): Social Recovery of Monkeys Isolated for the First Year of Live: Rehabilation and Therapy. Developmental Psychology 11: 453–465. Preiter, M. (2003): Evolutionäre Mythen in der Psychiatrie. Unveröffentlichtes Manuskript. Schneider, K. (1992): Klinische Psychopathologie. 14. Aufl. Stuttgart. Schröpel, M. (1990): Gesellige Affen. Frankfurt a. M. Sommer, V.; Ammann, K. (1998): Die großen Menschenaffen. Die neue Sicht der Verhaltensforschung. München. Stevens, A.; Price, J. (1996): Evolutionary Psychiatry. London. Voland, E. (2000): Grundriss der Soziobiologie. Heidelberg. Waal de, F. (2002): Der Affe und der Sushimeister. Das kulturelle Leben der Tiere. München, Wien.

■ Martin Urban Bindung – eine Grunddimension menschlicher Existenz

Es ist wohl nicht übertrieben, von Freuds Entdeckung des Unbewussten als einer »Kopernikanischen Wende« unserer Sicht vom Menschen zu sprechen. Die Erkenntnis, dass das Handeln des Menschen, unter der Oberfläche unseres Alltagsbewusstseins, von unbewussten Strömungen und Inhalten beeinflusst wird (wobei die Sexualität eine besondere Rolle spielt und als natürliches Grundbedürfnis quasi legitimiert wird), hat nicht nur unsere theoretischen Vorstellungen von der Persönlichkeit des Menschen, von seelischer Gesundheit und Krankheit tief greifend verändert, sondern auch unser alltägliches Leben nachhaltig beeinflusst. Das gilt nicht nur für die Praxis der Krankenbehandlung, sondern auch für Bereiche wie Erziehung, Rechtsprechung, Familie und Partnerschaft, Kultur und Politik. Der Vergleich mag zunächst überzogen klingen, aber es scheint mir ernsthaft der Überlegung wert, ob nicht die Bindungstheorie von John Bowlby – wenn sie denn in ihrer ganzen Tragweite erkannt und rezipiert würde – eine ähnlich bedeutsame Wende einleiten könnte. Beginnend mit der Renaissance hat sich im Bereich der abendländischen Kultur ein Menschenbild etabliert, das stark von den Idealen des Humanismus geprägt ist: Individualität, Autonomie, Unabhängigkeit des Urteils und der Entscheidung. Es kann in keiner Weise darum gehen, diese Vorstellungen und Werte infrage zu stellen; wohl aber kann man fragen, ob sie nicht der Ergänzung bedürfen, um uns als Einzelne und unsere Gesellschaft vor allemal gefährlicher Einseitigkeit zu bewahren. So zum Beispiel, wenn Bindungsangst oder gar Bindungsunfähigkeit zu einem Zeitphänomen wird (im Zeitalter der Singles!) und andererseits offen-

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sichtlich vorhandene Bindungsbedürfnisse vor allem junger Menschen von Sekten, politischen Parteien und ideologischen Gruppen missbraucht werden. – In der Begegnung mit Menschen aus Osteuropa oder orientalischen Ländern spüren wir, dass dort die Bindungen in der Familie und an die Familie noch wesentlich stärker sind als im Allgemeinen bei uns. Zeugt das nun von einer niedrigeren Kulturstufe, in der die Individuation weniger vorangeschritten ist – oder fehlt uns vielleicht doch auch etwas? Es ist wohl kein Zufall oder bloße Ironie des Schicksals, wenn selbst der Begründer der Bindungstheorie, Bowlby persönlich, dem Irrtum unterlag, das Verhalten von Kindern mit dem Bindungsmuster »A« als besonders »autonom« und reif einzustufen, während er später feststellen musste, dass es sich um einen – zwar noch nicht pathologischen, aber doch keineswegs idealen – Kompensationsversuch früh erfahrener Bindungsunsicherheit handelt, sozusagen um eine frühreife »Scheinselbstständigkeit«, die auf einem Mangel beruht und daher wenig Stabilität garantiert. Blicken wir von da aus wieder auf unsere Gesellschaft und die Phänomene unserer Zeit: Wie viel der heute gern herausgestellten Selbstständigkeit unserer Zeitgenossen beruht auf einer echten, aus Bindungssicherheit erwachsenen Autonomie und wie oft handelt es sich um Kompensation von Bindungsunsicherheit?

■ Das Neue an der Bindungstheorie Was ist das Neue an der Bindungstheorie? Ist sie nicht einfach eine Ausformung oder Erweiterung dessen, was die Psychoanalyse über die Bedeutung der frühen Mutterbeziehung, über orale Phase und primäre Symbiose herausgearbeitet hat? Sicher gibt es hier Verbindungen und Ähnlichkeiten, und einige Autoren wie zum Beispiel Winnicott (1965) haben manches vorausgenommen, was den Konzepten der Bindungstheorie sehr nahe steht: die Vorstellung vom Therapeuten als Halt gebender Beziehungsperson, vom »containment« und von Ich-stützender Therapie. Aber es muss doch festgehalten werden, dass das von Bowlby beobachtete und beschriebene Bindungsverhalten grundsätzlich nicht aus der Trieb-

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theorie im Sinne Freuds – und das heißt: aus der Libido-Theorie – ableitbar ist. Im Gegenteil: Schon in den berühmten harlowschen Experimenten mit Rhesusaffen konnte gezeigt werden, dass in Angst auslösenden Situationen Explorationsverhalten und auch Futtersuche bei den jungen Äffchen sofort unterbrochen wurde und sie nur noch die Nähe der Schutz gebenden Mutter – sogar in Form einer leblosen Attrappe – suchten (Harlow u. Harlow 1969). Bindungsbedürfnis und libidinöse Bedürfnisse schließen sich also in bestimmten Situationen aus, mit klarer Dominanz des Bindungsbedürfnisses. Dies ist ja auch evolutionsbiologisch sinnvoll: Es dient der Existenzsicherung.

■ Von der monistischen zur triadischen Triebstruktur Freud selbst hatte 1920 mit seiner Schrift »Jenseits des Lustprinzips« seine erst so vehement verfochtene monistische Trieblehre verlassen und neben der Libido den »Todestrieb« als zweite, angeborene Triebquelle menschlichen Verhaltens eingeführt. Der Name mutet ein wenig mythologisch an; was Freud beschreibt, ist aggressives Verhalten von Kindern, das nicht mehr mit der Libidotheorie vereinbar oder aus dieser ableitbar erschien. Gewiss hat menschliche Aggressivität häufig eine zerstörerische Seite, doch fragt sich, ob das der Kern ihres Wesens ist. Ohne hier näher die sehr unterschiedlichen und einander widersprechenden Aggressionstheorien erörtern zu wollen, möchte ich auf die plausiblere Deutung verweisen, nach welcher Aggression als eine grundlegend konstruktive Potenz zu verstehen ist, als die Fähigkeit oder der Antrieb zur Selbstverteidigung und Selbstbehauptung, die erst im Fall des Misslingens dieser Funktionen in destruktive Angriffslust oder gar Zerstörungswut umschlägt (so etwa Ammon 1970). Aber sicher ist Freud zuzustimmen, dass es sich hierbei um ein biologisch angelegtes Antriebssystem mit entsprechend vorgeformten Verhaltensmustern handelt, das nicht aus der Libido abgeleitet werden kann, sondern als eigenständiger »Trieb« zu verstehen ist. Es ist die biologische Wurzel des für die Persönlichkeitsentwicklung so wichtigen

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Bereichs, der sich mit Begriffen wie Autonomiestreben, Freiheitsbedürfnis und Individuation umreißen lässt. Neben diese beiden tritt nun als drittes, ebenfalls biologisch grundgelegtes Antriebssystem, also als dritter angeborener »Trieb« des Menschen: das von Bowlby beschriebene Bindungssystem. Wir könnten ihn – passend zu libido und aggressio – adhaesio nennen (von lateinisch adhaerere = anhängen, haften). Wie die anderen beiden wird auch dieser angeborene Trieb in jedem Individuum entsprechend seiner Lerngeschichte unterschiedlich ausgeformt, erleidet seine »Triebschicksale«. Er ist offenbar über die Kindheit hinaus wirksam und bestimmt unser Verhalten, wenn auch im Normalfall nicht mehr so dominant wie in der frühen Kindheit. Dies bezeugen Phänomene wie die Trauerreaktion bei Verlust einer nahe stehenden Person, die – erst in der Übertreibung pathologische, aber eigentlich »normale« – Trennungsangst oder der spontan engere Zusammenschluss von Menschen in Not und Gefahrensituationen.

■ Ein verändertes Menschenbild und seine Auswirkungen Wenn wir diese dritte Triebkraft als gleichberechtigt neben den beiden anderen anerkennen, ergeben sich zweifellos bedeutsame Auswirkungen auf unser Bild vom gesunden wie vom kranken Menschen. Dieses veränderte Menschenbild wiederum muss und wird entsprechende Veränderungen in unserer Einstellung und unserem Verhalten uns selbst und dem Mitmenschen gegenüber nach sich ziehen. Nur einige Bereiche seien hier andeutungsweise umrissen.

■ Erziehung Durch Bowlbys Forschungen haben wir ein neues Verständnis für die Bedeutung von »Bindungssicherheit« und den prägenden Charakter der diesbezüglichen frühen Erfahrungen des Kindes be-

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kommen. Es hat demnach nichts mit Verwöhnung zu tun, wenn Eltern in den ersten Lebensjahren jede längere Trennung des Kindes von seiner Bezugsperson vermeiden und mit Anzeichen von überfordernden Trennungsängsten sehr sensibel umgehen. Entgegen den Parolen einer verbreiteten Hauruck-Pädagogik (etwa nach dem Motto »Gelobt sei, was hart macht!«) werden dadurch durchaus keine pathologischen Anklammerungsbedürfnisse gezüchtet oder infantile Haltungen zementiert, im Gegenteil: Nur bei hinreichend erfahrener Bindungssicherheit entwickelt das Kind jene emotionale Stabilität, die es befähigt, seinem gleichzeitig vorhandenen Explorationsdrang zu folgen, sich schrittweise in die Fremde hinauszuwagen, Kreativität und Autonomie zu entwickeln, während Bindungsunsicherheit diese Entwicklung in unterschiedlichem Maß einschränken oder nahezu blockieren kann, mit pathologischen Symptombildungen verschiedenster Art. Wie lange und in welchem Ausmaß diese verlässliche Näheerfahrung notwendig ist, ist schwer in Zahlen anzugeben; jedenfalls sicher mehr, als die Pädagogik vergangener Jahrzehnte angenommen hatte. Fünfjährige Kinder oder gar noch jüngere ohne vertraute Bezugsperson in Kindergruppen für drei Wochen an die Nordsee zu schicken war jedenfalls – wie wir aus den Erzählungen mancher erwachsener Patienten erfahren können – eine Fehlentscheidung und bedeutete für die Kinder ein traumatisches Erlebnis. Freilich ist Bindungssicherheit nicht einfach die automatische Frucht einer physikalischen Anwesenheit der Bezugsperson; entscheidend wichtig ist vielmehr die Qualität des Kontaktes und des elterlichen Verhaltens. Bowlby hat sie mit dem Stichwort Feinfühligkeit umrissen; es ist das sorgsame Beobachten und Eingehen auf die jeweils aktuellen Bedürfnisse des Kindes. Die moderne BabyForschung hat – über Bowlbys Konzepte hinaus – viel dazu beigesteuert, diesen Begriff zu füllen, und aufgezeigt, welch enorme Auswirkung dies auf die Entwicklung grundlegender Persönlichkeitseigenschaften wie Kommunikationsfähigkeit, Emotionalität, Ich-Bewusstsein und Selbstwertgefühl hat (z. B. Stern 1985). Fonagy (1998) hat den Bogen noch weiter gespannt und gezeigt, wie die Entwicklung der »Mentalisierung«, das heißt der Fähigkeit, die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, entscheidend von positiven Bindungserfahrungen abhängig ist. Dies aber ist die Wurzel

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echten sozialen Verhaltens und empathischer Anteilnahme. Ohne diese Fähigkeit wird der Mensch zum Psychopathen und das Zusammenleben von Menschen zum Albtraum. – Solche Erkenntnisse sind von höchster Relevanz für die seelische Gesundheit des Einzelnen wie der Gesellschaft, sie müssten noch viel mehr ins allgemeine Bewusstsein transportiert werden und gehören nicht nur in das Programm von Elternseminaren und Gesundheitsmagazinen, sondern auch in den Stoffplan jeder Normalschule. Im Bereich der Psychiatrie bewegen wir uns hier auf heiklem Terrain, denn nach Klaus Dörners programmatischem »Freispruch der Familie« (Dörner et al. 1985) droht hier eine Rückkehr alter Vorurteile und Selbstvorwürfe: »Also sind doch die/wir Eltern an allem schuld!?« Um es an dieser Stelle kurz zu sagen: Jeder, der eigene Kinder großgezogen hat, weiß, dass wir nie alles richtig gemacht haben. Und neben vielen schicksalhaften Umständen, die einem Kind mehr Trennungs- oder Mangelerfahrungen beschert haben mögen, als es verkraften konnte, steht ein Versäumnis unserer Profession, der Psychologen, Pädagogen und Ärzte: dass sie das, was sie über die Bedeutung früher Bindung schon immer wussten oder schrittweise entdeckten, nicht laut genug weitergesagt zu haben. Mit diesen Bemerkungen ist natürlich längst nicht alles getan; hier gibt es reichlich Stoff für Tagungen, Elterngespräche und vielleicht am besten: Trialog-Veranstaltungen mit Betroffenen, Angehörigen und Professionellen.

■ Soziale Beziehungen Zahlreiche Untersuchungen der Bindungsforschung haben gezeigt, dass das spätere Sozialverhalten grundlegend beeinflusst ist von den frühen Bindungserfahrungen beziehungsweise den daraus resultierenden »Bindungsstilen«. Natürlich nicht im Sinne einer hundertprozentigen Determinierung, wohl aber im Sinne einer »Prägung«, die gewisse Grundtendenzen festschreibt, die nicht leicht zu verändern sind. Die Beschreibung der unterschiedlichen »Erwachsenen-Bindungs-Prototypen« von Strauss und Lobo-Drost (1999) demonstriert diese Zusammenhänge sehr anschaulich. Die Vermeidung enger Beziehungen, nicht nur im Sinne von

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Partnerschaft, auch als Freundschaften etwa unter Gleichgeschlechtlichen, oder die Schwierigkeit, solche Beziehungen stabil zu erhalten, erscheinen aus der Perspektive der Bindungstheorie klar als Mangel; sie enttarnt den »einsamen Helden« als einen Bedürftigen. Umgekehrt werden der Wert und die Bedeutung von Freundschaften untermauert und die Bedeutung von Bindung als bleibendes legitimes Grundbedürfnis auch für den Erwachsenen belegt. Jeder, der einen guten Freund sucht oder verloren hat, weiß dies: wie wichtig es ist, jemanden zu haben, »auf den man sich verlassen kann« (sichere Basis) und »der mich versteht« (Feinfühligkeit). »Eines Freundes Freund zu sein« gehört für Schiller zu den Quellen des Glücks (Ode »An die Freude«). Dass Bindung und Autonomie keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern sich wechselseitig bedingende und ergänzende Qualitäten menschlicher Existenz sind, ist eine wesentliche Erkenntnis, die sich aus der Bindungstheorie ergibt und deren Bedeutung weit über den Bereich der Pädagogik hinaus von fundamentaler Tragweite ist. Nicht zuletzt natürlich auch für die Psychotherapie (welcher Schule auch immer), für deren Methodik und Zielvorstellung. Echte Autonomieentwicklung setzt positive Bindungserfahrungen voraus, sonst würde der Mensch klammern oder fliehen, was beides kein Zeichen innerer Freiheit ist; und der echt autonome Mensch kann und möchte sich auch wieder binden – was seiner inneren Freiheit keinen Abbruch tut. Einer besonderen Überlegung bedarf die Partnerschaft im Sinne einer Liebesbeziehung. Was hält Partnerschaften zusammen? Ist es wirklich, wie Freud meinte, der Wunsch nach wiederkehrender sexueller Triebbefriedigung, der Paare zusammenhält? Die tägliche Erfahrung scheint das Gegenteil zu beweisen: Wenn die Faszination des Neuen in einer Paarbeziehung verblasst ist, erweist sich die Libido eher als gefährlicher Sprengsatz, der zum Ehebruch führen kann. Was die Paare zusammenhält, ist doch wohl eher eine »Bindungsbeziehung« im Sinne der bowlbyschen Theorie, und ob eine solche zustande kommt und wie gut sie hält, hängt wohl mehr davon ab, ob die beiden Partner genügend sichere Bindungsmuster entwickelt haben, als von erotischen Reizen. Freilich gibt es auch seltsam »verhakte« Beziehungen, die trotz vielfältigem Frust auf einer oder beiden Seiten oder gegenseitig zugefügtem Leid er-

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staunlich zäh zusammenhalten. Dabei spielen unsicher-ambivalente Bindungsmuster offenbar eine entscheidende Rolle – wahrscheinlich mehr als eine von der psychoanalytischen Theorie postulierte sadomasochistische Triebbefriedigung. Jedenfalls wäre es an der Zeit, eine neue Typologie von Paarbeziehungen auf dem Hintergrund der Bindungstheorie zu entwerfen, in Ergänzung oder im Kontrast zu J. Willis bekanntem Ansatz (1975), der von der freudschen Phasenlehre der Libido-Entwicklung ausgeht.

■ Bindung in Gruppen und Gesellschaft Der Mensch sucht offenbar spontan und natürlicherweise den Zusammenhalt in überschaubaren Gruppen, früher der Sippe oder des Stamms, heute von Peergroups, Vereinen oder ähnlichen Gebilden. Auch dies hat offenbar mit dem Bindungsbedürfnis des menschlichen Individuums im Sinne der Bindungstheorie zu tun. Jedenfalls gehen interessanterweise Psychoanalytiker davon aus, dass in Therapiegruppen unbewusst die Mutterbeziehung auf die Gruppe übertragen wird (während der Gruppenleiter den Vater repräsentiert). Es ist verlockend, die Phänomene der Gruppenpsychologie und zumal das »Mysterium« der Gruppenkohäsion neu auf dem Hintergrund des menschlichen Bindungsbedürfnisses und seiner unterschiedlichen Ausprägungen zu erforschen. Wie viel Bindungssicherheit braucht der Mensch und wo kann er sie sich holen? Offenbar braucht der Mensch ein Mindestmaß an Bindungssicherheit auch in seinen gesellschaftlichen Bezügen. Der Mangel an solcher Sicherheit in der Arbeitswelt, im sozialen Sicherungssystem und in der politischen Gemeinschaft hat jedenfalls deutlich spürbare Rückwirkungen auf die Individuen, und auch hier scheinen die individuellen Reaktionen von den erworbenen Bindungsmustern abhängig zu sein. Ein umgekehrtes Indiz wäre zum Beispiel der hohe Zusammenhalt von Emigrantengruppen in einer fremden kulturellen Umwelt.

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■ Religion Last, but not least ist hier etwas über die Religion zu sagen, über das Phänomen der religiösen Bindung – was eigentlich eine Tautologie ist, denn das Wort religio scheint von dem lateinischen Wort »re-ligare«, zurückbinden zu kommen. Jedenfalls ist dieser Aspekt vielleicht hilfreicher oder zumindest eine wesentliche Ergänzung zu Freuds Konzept vom »ozeanischen Gefühl«. Es geht hier um das Gefühl des Menschen, im Grunde seiner Existenz gehalten zu sein, eine »sichere Basis« zu haben. Jedenfalls sagen uns die Theologen, dass das biblische Wort »glauben« im hebräischen Urtext diese Grundbedeutung hat, und in den Psalmen beispielsweise finden sich zahlreiche, sehr poetische Bilder für diese Aussage (»Wer im Schutz des Höchsten wohnt«, »Ein’ feste Burg ist unser Gott«, et cetera). Tatsächlich scheint Glaube oder echte Religiosität ein gewisses Maß an Bindungssicherheit als psychologische Voraussetzung zu erfordern; wo diese fehlt, klagen auch religiös erzogene Menschen plötzlich, dass sie »ihren Glauben verloren« hätten. Alle Schattierungen der unterschiedlichen Bindungsstile scheinen sich auch im religiösen Verhalten widerzuspiegeln. Bindung – eine Grunddimension menschlicher Existenz: Weit über den Rahmen der Psychiatrie hinaus regt dieses Thema zum Nachdenken an und wird hoffentlich auch vielfältige weitere Forschungen nach sich ziehen. John Bowlby kommt das Verdienst zu, mit seiner auf systematische Beobachtungen gestützten Theorie nicht nur Müttern, Erziehern und Therapeuten hilfreiche Regeln an die Hand gegeben, sondern unser Menschenbild um eine Dimension bereichert zu haben – gewiss eine uralte, bekannte, aber doch fast vergessene oder unterschätzte.

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■ Literatur Ammon, G. (1970): Schicksale von Aggression und die emanzipatorische Funktion der Entwicklung von Ich-Autonomie in der psychotherapeutischen Gruppe. In: Ammon, G.: Vorträge 1969–1988. München, 1988, S. 7– 31. Dörner, K.; Egetmeyer, K.; Koenning, K. (Hg.) (1985): Freispruch der Familie. Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last freisprechen. Bonn. Fonagy, P. (1998): Metakognition und Bindungsfähigkeit des Kindes. Psyche 52: 331–368. Freud, S. (1920): Jenseits des Lustprinzips. G. W. Bd. XIII. Frankfurt a. M., S. 3–69. Harlow, H. F.; Harlow, M. K. (1969): Effects of Various Mother-Infant Relationships on Rhesus Monkey Behaviors. In: Foss, B. M. (Hg.), Determinants of Infant Behavior. London, S. 15–36. Stern, D. N. (1985): The Interpersonal World of the Infant. New York (dt.: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart, 1992). Strauss, B.; Lobo-Drost, A. (1999): Erwachsenen-Bindungsprototypen-Rating (EBPR). Eine Methode zur Erfassung von Bindungsqualitäten im Erwachsenenalter, basierend auf dem Adult Attachment Prototype-Rating von Pilkonis. Jena. Willi, J. (1975): Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen – Störungsmuster; Klärungsprozesse – Lösungsmodelle. Reinbek. Winnicott, D. W. (1965): The Maturational Processes and the Facilitating Environment. London (dt.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, München, 1974).

Die Autorinnen und Autoren

Anna Buchheim, Dr. hum. biol. Dipl.- Psych., Psychoanalytikerin, ist Wissenschaftliche Angestellte an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universität Ulm. E-Mail: [email protected] Joachim Glaubrecht, Dr. paed., ist Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) und im Thüringer Landesverband Psychiatrie-Erfahrener. E-Mail: [email protected] Hans-Peter Hartmann, Priv.-Doz. Dr. med., Dipl.-Psych., ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Zentrums für Soziale Psychiatrie Bergstraße, Heppenheim. E-Mail: [email protected] Diether Höger, Dipl.-Psych. Dr., Professor (emerit.) an der Universität Bielefeld, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft. E-Mail: [email protected] Ronald Hofmann, Dr. rer. nat. Dipl.- Psych., Fachpsychologe der Medizin und Psychologischer Psychotherapeut, ist fachlicher Leiter des Lombroso-Instituts für Rechtspsychologie. E-Mail: [email protected] Markus Preiter, Facharzt für Psychiatrie, Oberarzt und Leiter der Memory-Clinic in der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Harburg. E-Mail: [email protected]

Die Autorinnen und Autoren

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Andreas Schindler, Dipl.-Psych. Dr., Psychologischer Psychotherapeut, Systemischer Familientherapeut, ist tätig an der Drogenambulanz und an der Ambulanz für Persönlichkeitsstörungen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. E-Mail: [email protected] Gerthild Stiens, Dr. med., ist Funktionsoberärztin der Gedächtnisambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen. E-Mail: [email protected] Gabriela Stoppe, Prof. Dr. med., ist Ärztliche Leiterin des Bereichs Allgemeine Psychiatrie an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. E-Mail: [email protected] Dipl.-Psych. Martin Urban arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Esslingen und ist Leiter der Betreuten Wohngemeinschaften der Offenen Herberge e.V., Stuttgart. E-Mail: [email protected]

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