Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte: Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Fortentwicklung [1 ed.] 9783428518944, 9783428118946

Die Diskussion über die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte wurde durch den Europäischen Verfass

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Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte: Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Fortentwicklung [1 ed.]
 9783428518944, 9783428118946

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Schriften zum Europäischen Recht Band 116

Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Fortentwicklung

Von Frauke Brosius-Gersdorf

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

FRAUKE BROSIUS-GERSDORF

Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 116

Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihre Fortentwicklung

Von Frauke Brosius-Gersdorf

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11894-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsübersicht Einführung

11

A. Die Geburt der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . .

11

B. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

Erster Teil Die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte

13

A. Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten innerhalb des Anwendungsbereichs des Europäischen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . .

15

B. Der Anwendungsbereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten: Vollzug, Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht . .

17

Zweiter Teil Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE

36

A. Der Regelungsgehalt des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE im Spiegel des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

B. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

Dritter Teil Blick in die Zukunft: Fortentwicklung der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Maßnahmen mit Bezug zu Grundfreiheiten

71

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis Einführung

11

A. Die Geburt der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . .

11

B. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

Erster Teil Die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte A. Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten innerhalb des Anwendungsbereichs des Europäischen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Anwendungsbereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten: Vollzug, Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht . . I. (Administrativer) Vollzug Europäischen Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. (Normative) Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinschaftsgrundrechte als die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten sichernde Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten . . . . 3. Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte diesseits von Eingriffen in Grundfreiheiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

15 17 17 20 21 24 27 31

Zweiter Teil Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE

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A. Der Regelungsgehalt des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE im Spiegel des Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis I.

Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: (Administrativer) Vollzug Europäischen Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: (Normative) Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Offenheit des Wortlauts von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE . . . . . . . . . a) Der Wortsinn des Begriffs „Durchführung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sprachvergleichende Aspekte: Der Begriff „Durchführung“ in der Übersetzung anderer Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Restriktive Bestimmung des Normgehalts des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE wegen der Begrenzung des Anwendungsbereichs der Charta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich“ bei der Durchführung des Rechts der Union? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Terminologische Inkongruenz zwischen Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Offenheit der Entstehungsgeschichte des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Beratungen des Konvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Beratungen des Europäischen Konvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teleologische Auslegung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE . . . . . . . . 4. Systematische Interpretation des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE . . . . .

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Dritter Teil Blick in die Zukunft: Fortentwicklung der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Maßnahmen mit Bezug zu Grundfreiheiten

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungsverzeichnis ABl. Abs. AöR Art. Aufl. Bd. BVerfG bzw. Charta CMLRev. dems. ders. DÖV DVBl. EAG ECJ EG EGKS EGMR EGV E.L.Rev. EMRK EU EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW EWG f. ff. Fn. gem. GG GR

Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Band Bundesverfassungsgericht beziehungsweise Charta der Grundrechte der Europäischen Union Common Market Law Review demselben derselbe Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Atomgemeinschaft European Court of Justice Europäische Gemeinschaft Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Law Review Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte Zeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende fortfolgende Fußnote gemäß Grundgesetz Grundrechte

10 Hrsg. insbes. i. S. d. i. S. v. i. V. m. JuS JZ KOM lit. m. w. N. NJW Nr. NVwZ o. g. Rn. Rs. S. s. scil. Slg. u. u. a. v. a. verb. vgl. VVDStRL VVE

Abkürzungsverzeichnis Herausgeber insbesondere im Sinne des/der im Sinne von in Verbindung mit Juristische Schulung Juristenzeitung Kommission littera mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oben genannte Randnummer Rechtssache Seite siehe scilicet Sammlung und unter anderem vor allem verbundene vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa

Einführung A. Die Geburt der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta),1 das Kernstück und Herz des Vertrags über eine Verfassung für Europa (VVE), wurde innerhalb nur weniger Monate von einem aus Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und des Präsidenten der Europäischen Kommission sowie aus Vertretern des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente zusammengesetzten Konvent erarbeitet.2 Auf dem EU-Gipfeltreffen in Nizza am 7. Dezember 2000 wurde die Charta von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission unterzeichnet und feierlich proklamiert. Der mit der Erarbeitung des Verfassungsvertrags betraute Europäische Konvent übernahm die Charta als Teil II in den Verfassungsvertrag, der am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterzeichnet wurde. Seither befindet sich die Charta in einer Art Dornröschenschlaf, aus dem sie erst mit der Ratifizierung des Verfassungsvertrags durch die Mitgliedstaaten erwachen wird. Die Ratifizierung bestimmt nach Art. IV-447 Abs. 2 über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Verfassungsvertrags: Er tritt zum 1. November 2006 in Kraft, sofern die Mitgliedstaaten bis dahin den Vertrag ratifiziert und die Ratifikationsurkunden bei der Regierung der italienischen Republik hinterlegt haben; anderenfalls tritt der Verfassungsvertrag am ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats in Kraft. Die Charta war bereits während des Prozesses ihrer Entstehung Gegenstand lebhafter rechtswissenschaftlicher Debatten und Diskurse. Das Maß des Interesses an ihr hat sich noch gesteigert, kaum dass sie das Licht der Welt erblickt hat.3 Vor 1

ABl. C 310 vom 16.12.2004, S. 41 ff. Zu dem Zeitdruck, unter dem der Grundrechtskonvent die Charta erarbeitet hat, kritisch S. Alber/U. Widmaier, EuGRZ 2000, 497 (498); P. J. Tettinger, NJW 2001, 1010: „In erstaunlicher Kürze, nur dem Zeitraum einer Schwangerschaft entsprechend, gelang es dem hierfür institutionalisierten Konvent, (. . .) ein insgesamt eindrucksvolles Konvolut (. . .) zu erstellen.“ 3 Zu dem Status und insbesondere der rechtlichen Wirkung der Charta vor Ratifizierung des Verfassungsvertrags v. a. S. Magiera, in: H. Bauer/P. M. Huber/Z. Niewiadomski (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum. Referate und Diskussionsbeiträge des XII. Deutsch-Polnischen Verwaltungskolloquiums vom 20.–22. September 2001 in Warschau, S. 21 (35 ff.); s. ferner B. Beutler, in: H. von der Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), 2

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Einführung

allem die allgemeinen Bestimmungen in Art. II-111 bis Art. II-114 VVE – die vor ihrer Integration in den Verfassungsvertrag als Art. 51 bis Art. 54 Charta firmierten – erfreuen sich der Zuwendung, werden gedreht und gewendet, von allen Seiten betrachtet und mit – meist kritischen – Anmerkungen und Kommentaren bedacht. Neben Fragen des Verhältnisses der Charta zu der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), der Höhe des Schutzniveaus der durch die Charta gewährleisteten Grundrechte und der Beschränkbarkeit der grundrechtlichen Gewährleistungen (Art. II-113 VVE) wird auch die Reichweite der Bindung der Mitgliedstaaten an die in der Charta garantierten Grundrechte diskutiert (Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE). Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE (vormals Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Charta) beschreibt die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte mit den Worten: „Diese Charta gilt (. . .) für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.“ Dementsprechend achten die Mitgliedstaaten gem. Art. II-111 Abs. 1 Satz 2 VVE die Rechte, halten sich an die Grundsätze und fördern deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten.

B. Gegenstand der Untersuchung Die Formulierung in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gibt Anlass zu der Frage, welchen Regelungsgehalt diese Bestimmung aufweist und ob die durch sie statuierte Bindung der Mitgliedstaaten an die in der Charta kodifizierten Grundrechte in Reichweite und Umfang der durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in jahrzehntelanger Kasuistik entwickelten Bindung der Mitgliedstaaten an die (ungeschriebenen) Gemeinschaftsgrundrechte entspricht. Die Beleuchtung dieser Frage setzt zum einen die Vergewisserung über den Stand der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte voraus, wie er sich in der Rechtsprechung des EuGH herausgebildet hat (erster Teil), und verlangt zum anderen die Ermittlung des Regelungsinhalts von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE (zweiter Teil). Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse lässt sich die Frage nach der Kongruenz zwischen Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und der Judikatur des EuGH zur Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten beantworten. Jüngere Entscheidungen des EuGH, namentlich in der Rechtssache Schmidberger, verleiten dazu, einen Blick in die Zukunft der Rechtsprechung des EuGH zu Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE zu wagen und über eine Fortentwicklung der Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Europäischen Union nachzudenken (dritter Teil). Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung und einem Summary. Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl., Art. 6 EUV Rn. 104 ff.; J. Schwarze, EuZW 2001, 517 f.

Erster Teil

Die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte Die bis zum Inkrafttreten des Verfassungsvertrags4 geltenden europäischen Verträge enthalten weder einen geschriebenen Katalog mit Grundrechten der Unionsbürger5 noch verhalten sie sich zu der Frage der Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten.6 Der EuGH hat jedoch in mittlerweile jahrzehntelanger Rechtsprechung einen bunten Strauss von Grundrechten als ungeschriebene Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts entwickelt. Als Quellen des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes hat er vor allem auf die EMRK und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zurückgegriffen.7 Die Grundrechte binden nach der Judikatur des EuGH neben den europäischen Einrichtungen und Organen auch die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, jedoch nicht in gleichem Umfang: Während die europäischen Stellen den Gemeinschaftsgrundrechten grundsätzlich uneingeschränkt unterliegen, werden die Mitgliedstaaten durch sie nur insoweit verpflichtet, als 4 Zu dem „Mehrwert“ des geschriebenen Katalogs an Grundrechten in der Charta gegenüber dem Grundrechtsschutz durch den Europäischen Gerichtshof S. Magiera, in: D. H. Scheuing (Hrsg.), Europäische Verfassungsordnung, S. 117 (119 ff.). 5 Zu der Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union von der Geltung ungeschriebener grundrechtlicher Gewährleistungen bis zur Geburt des Grundrechtskatalogs der Charta S. Magiera, in: H. Bauer/P. M. Huber/Z. Niewiadomski (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum. Referate und Diskussionsbeiträge des XII. Deutsch-Polnischen Verwaltungskolloquiums vom 20.–22. September 2001 in Warschau, S. 21 (22 ff.); R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 ff. 6 Eine Regelung zur Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte findet sich in Art. 6 Abs. 2 EUV ausschließlich für die Europäische Union. 7 Grundlegende Entscheidungen des EuGH zur Ableitung und Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft sind die Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 ff. [Stauder], die Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 ff. [Internationale Handelsgesellschaft] und die Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff. [Nold]; einen Überblick über den Prozess der Entwicklung der ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte gibt B. Beutler, in: H. von der Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl., Art. 6 EUV Rn. 51 ff., auch zu den vom EuGH entwickelten Grundrechten im Einzelnen; s. ferner J. Kühling, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (586 ff.); S. Magiera, DÖV 2000, 1017 (1018); T. Kingreen/R. Störmer, EuR 1998, 263 (271 ff.); T. Kingreen, JuS 2000, 857 (858 ff.); I. Pernice, NJW 1990, 2409 (2412 ff.); N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 47 ff.; H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 179 ff.; M. Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (520 ff.); M. Zuleeg, EuGRZ 2000, 511 ff.

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

sie „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“8 handeln. Nur innerhalb dieses Schnittbereichs gemeinschaftsrechtlich determinierter nationaler Rechtsakte sind die Mitgliedstaaten nach der Judikatur des EuGH an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gebunden. Keine Anwendung finden die Gemeinschaftsgrundrechte dagegen auf rein innerstaatliche Maßnahmen, also auf legislative, exekutive und judikative Akte der Mitgliedstaaten in Bereichen, die weder durch primäres noch durch sekundäres Gemeinschaftsrecht vorbestimmt sind. In diesem Bereich außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts müssen die Mitgliedstaaten ihr Handeln nicht an den Gemeinschaftsgrundrechten ausrichten, sondern sind (nur) an die Grundrechte im innerstaatlichen (Verfassungs-)Raum gebunden. Diese Beschränkung des Geltungsbereichs der Gemeinschaftsgrundrechte auf den gemeinschaftsrechtlich determinierten Handlungsbereich der Mitgliedstaaten hat ihren Grund darin, dass die Grundrechte in der Europäischen Union die Bürger ausschließlich vor unberechtigten Übergriffen der öffentlichen Gewalt in ihren Freiheitsraum bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht – und nicht bei der Anwendung nationalen Rechts – schützen. Die Rechtsräume der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten markieren die Grenzen für die zwei nebeneinander stehenden, voneinander zu unterscheidenden (Verfassungs-)Rechtsordnungen, innerhalb derer das Handeln der jeweiligen Hoheitsträger jeweils unterschiedlichen Legitimationsgesetzen unterliegt. Innerhalb des supranationalen Staatenverbunds9 stehen sich Mitgliedstaaten und Europäische Union indes nicht beziehungslos gegenüber, sondern bilden konzentrische Kreise, in deren Schnittmenge das Handeln der Mitgliedstaaten durch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben determiniert ist, sei es, dass europäisches Primärrecht in den Raum der Mitgliedstaaten reicht, sei es, dass der innerstaatliche Bereich durch sekundärrechtliche Bestimmungen determiniert ist. Wie dieser gemeinschaftsrechtlich geprägte Schnittbereich im Einzelnen zu definieren ist und welche mitgliedstaatlichen Maßnahmen darunter fallen, ist zwar bislang nicht verbindlich geklärt. Der EuGH hat aber allgemeine Formeln entwickelt, die der Abgrenzung des ausschließlich innerstaatlichen Regelungsraums ohne Bezug zum Gemeinschaftsrecht von Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts dienen (s. A.). Dabei lassen sich in der Rechtsprechung des EuGH unterschiedliche Konstellationen erkennen, in denen der EuGH das Handeln der Mitgliedstaaten am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte misst (s. B.). Grob unterteilt unterscheidet der EuGH drei Fallgruppen, die sowohl in Gegenstand als auch in dogmatischer Begründung ihrer Zuordnung zum „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ un8

Hierzu im ersten Teil unter A. Zu der Rechtsnatur der Europäischen Union statt vieler M. Herdegen, Europarecht, S. 70 ff.; P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 55 ff. 9

A. Grundrechtsbindung im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts

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terschiedlicher Natur sind: zum einen den (administrativen) Vollzug Europäischen Gemeinschaftsrechts (s. B. I.); zum anderen die (normative) Umsetzung von Gemeinschaftsrecht (s. B. II.); zum dritten die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten (s. B. III.).

A. Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten innerhalb des Anwendungsbereichs des Europäischen Gemeinschaftsrechts Der EuGH verwendet in seiner Rechtsprechung zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, die sich namentlich in den Rechtssachen Cinéthèque, Demirel, Society for the Protection of Unborn Children Ireland, Annibaldi und ERT widerspiegelt, im Wesentlichen gleich lautende Formulierungen, mit denen er den ausschließlich innerstaatlichen, nicht gemeinschaftsrechtlich determinierten Raum, in dem die Mitgliedstaaten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts nicht gebunden sind, von dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrecht, in dem die Mitgliedstaaten zur Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte verpflichtet sind, abgrenzt: In der Rechtssache Cinéthèque, in der der EuGH über die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit einer französischen Regelung zu Sperrfristen für die Verbreitung von Kinofilmen auf Videokassetten zu befinden hatte, lehnte der Gerichtshof eine Kontrolle dieser Regelung am Maßstab des Gemeinschaftsgrundrechts der Meinungsfreiheit mit den Worten ab, er habe „zwar für die Einhaltung der Grundrechte auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts zu sorgen“, könne „jedoch nicht prüfen, ob ein nationales Gesetz, das (. . .) zu einem Bereich gehört, der in das Ermessen des nationalen Gesetzgebers fällt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist“.10 Diese Trennlinie zwischen mitgliedstaatlichen Regelungen innerhalb und außerhalb des Gebiets des Gemeinschaftsrechts bestätigte der EuGH in der Rechtssache Demirel, in der es um die Auslegung eines zwischen der EWG und der Türkei unterzeichneten Assoziierungsabkommens ging. Er verwies auf sein Urteil Cinéthèque und stellte bezogen auf die Geltung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens fest, dass er „zwar für die Beachtung der Grundrechte im Bereich des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen (habe), aber nicht prüfen (könne), ob eine nationale Regelung, die nicht im Rahmen des Gemeinschaftsrechts liegt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist“.11

10 11

EuGH, verb. Rs. 60/84 und 61/84, Slg. 1985, 2605 (2627 Rn. 26) [Cinéthèque]. EuGH, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719 (3754 Rn. 28) [Demirel].

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

Seine Prüfungskompetenz für nationale Rechtsakte der Mitgliedstaaten verneinte der EuGH mit ähnlichen Formulierungen in der Rechtssache Society for the Protection of Unborn Children Ireland, in der eine irische Regelung auf dem Prüfstand des Gemeinschaftsrechts stand, die Werbung in Irland für Abtreibungskliniken im Ausland verbot. Der EuGH stufte die ärztliche Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen zwar als Dienstleistung ein, verneinte aber eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs durch das irische Werbeverbot und lehnte daher seine Zuständigkeit zur Prüfung der irischen Regelung am Maßstab des Grundrechts der Meinungs- und Informationsfreiheit ab. Zur Begründung führte er aus, er könne dem vorlegenden Gericht die für die Beurteilung der Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten nötigen Auslegungskriterien nur an die Hand geben, „wenn eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt“; dagegen besitze „er diese Zuständigkeit nicht hinsichtlich einer nationalen Regelung, die nicht in den Bereich des Gemeinschaftsrechts fällt“.12 Auf derselben Linie liegt die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache Annibaldi, in der ihm ein italienisches Gericht Fragen zu der Auslegung des Gemeinschaftsrechts für nationale Maßnahmen vorlegte, die einem Grundstückseigentümer die landwirtschaftliche Nutzung seines Grundstücks aus Gründen des Schutzes der Umwelt und von Kulturgütern untersagten. Nach Ansicht des EuGH fielen die nationalen Maßnahmen nicht „in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“.13 Er lehnte es daher ab, dem vorlegenden Gericht Auslegungshinweise zur Beurteilung der Vereinbarkeit der nationalen Maßnahmen mit den Gemeinschaftsgrundrechten zu geben. Für zuständig zur Überprüfung eines mitgliedstaatlichen Rechtsakts am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte erklärte sich der EuGH dagegen in der Rechtssache ERT, die eine griechische Regelung zum Fernsehmonopol eines griechischen Rundfunkveranstalters betraf. Der EuGH nahm Bezug auf die Rechtssachen Cinéthèque und Demirel und antwortete dem vorlegenden Gericht, dass er zwar „eine nationale Regelung, die nicht im Rahmen des Gemeinschaftsrechts ergangen ist, nicht im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention beurteilen“ könne. Fiele „eine solche Regelung dagegen „in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“, habe „der Gerichtshof (. . .) dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es

12 EuGH, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685 (I-4741 Rn. 31) [Society for the Protection of Unborn Children Ireland]. 13 EuGH, Rs. C-309/96, Slg. 1997, I-7493 (I-7510 Rn. 13) [Annibaldi]; weitere Judikate, in denen der Europäische Gerichtshof dieselbe oder eine ähnliche Formulierung verwendet sind die Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629 (I-2646 Rn. 18: „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“) [Kremzow] und die Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909 (I-2919 Rn. 12: „Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts“) [Maurin].

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können“.14

B. Der Anwendungsbereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten: Vollzug, Umsetzung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht Sind die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, wenn sie „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ handeln, lassen sich innerhalb dieses „Anwendungsbereichs“ insgesamt drei verschiedene (Unter-)Fallgruppen unterscheiden: der (administrative) Vollzug von Gemeinschaftsrecht (s. I.), die (normative) Umsetzung von Gemeinschaftsrecht (s. II.) und die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten (s. III.) durch die Mitgliedstaaten. I. (Administrativer) Vollzug Europäischen Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH handeln die Mitgliedstaaten bei dem administrativen Vollzug des Gemeinschaftsrechts im innerstaatlichen Raum innerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts und sind daher an die (ungeschriebenen) gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte gebunden. Diese Judikatur stößt im Schrifttum auf nahezu ungeteilte Zustimmung.15 In diesen Bereich des innerstaatlichen Vollzugs von Gemeinschaftsrecht fällt zum einen der direkte Vollzug unmittelbar verbindlicher gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben durch nationale Stellen, sei es, dass sie unmittelbar geltende Verordnungen vollziehen, sei es, dass sie ausnahmsweise unmittelbar wirkende Richtlinien anwenden.16 Zum anderen ist der mittelbare Vollzug von Gemein14

EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 (I-2964 Rn. 42) [ERT]. Vgl. stellvertretend T. Jürgensen/I. Schlünder, AöR 121 (1996), 200 (209); A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 245 ff.; A. Weber, NJW 2000, 537 (542). 16 Ob die Mitgliedstaaten auch dann an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, wenn ein Akt sekundären Gemeinschaftsrechts nicht besteht und sie unmittelbar verbindliches Primärrecht vollziehen, ist bislang ungeklärt; gegen eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei dem Vollzug primären Gemeinschaftsrechts plädiert J. Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 88 f.; dafür sprechen sich aus N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 37; T. Jürgensen/I. Schlünder, AöR 121 (1996), 200 (210 f.); A. Weber, NJW 2000, 537 (542); differenzierend zwischen Vollzug mit und ohne Durchführungsermessen der Mitgliedstaaten W. Schaller, Die EUMitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 40 f. u. 43 f. 15

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

schaftsrecht erfasst, der die Anwendung von in Umsetzung Europäischen Gemeinschaftsrechts – typischerweise von Richtlinien – erlassenen nationalen Rechts meint.17 In beiden Fällen nehmen die Mitgliedstaaten die Rolle von Vollzugsstellen der Europäischen Union ein und agieren als „verlängerter Arm“18 auf einer unteren Ebene innerhalb des Administrativsystems der Europäischen Union, weshalb diese Situation auch als „agency situation“19 oder als „Auftragsverwaltung“20 bezeichnet wird. Das Gemeinschaftsrecht ragt insoweit in die mitgliedstaatliche Rechtssphäre hinein, überlagert den nationalen Rechtsakt und bindet die Mitgliedstaaten bei dem Vollzugsakt in gleicher Weise wie die Organe und Einrichtungen der Europäischen Union bei dem Erlass des zu vollziehenden Gemeinschaftsrechtsakts an die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte. Ob und inwieweit die Mitgliedstaaten bei dem innerstaatlichen Vollzug von (sekundärem) Gemeinschaftsrecht einen Ermessens- oder sonstigen Gestaltungsspielraum besitzen oder die innerstaatliche Anwendung durch den gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakt bis ins Detail vorherbestimmt ist, ist nach Ansicht des EuGH für die Grundrechtsgeltung unerheblich; auch soweit den nationalen Staaten ein Gestaltungsspielraum zusteht, sind sie verpflichtet, diesen unter Berücksichtigung der Erfordernisse des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes auszufüllen.21 Leitentscheidungen des EuGH, in denen er die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von Gemeinschaftsrecht entwickelt hat, sind die Urteile in den Rechtssachen Klensch, Wachauf, Bostock, Graff und Karlsson, die sämtlich die Durchführung von durch EG-Verordnungen festgesetzten Milchquoten zum Gegenstand hatten. Die Formulierungen, die der EuGH zur

17 Zu dieser Unterscheidung unmittelbaren und mittelbaren Vollzugs von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten H.-W. Rengeling, in: J. Ipsen/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, S. 225 (238); M. Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (527); I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes, S. 91; zu der Kategorie der Grundrechtsbindung bei Auslegung und Anwendung von in Umsetzung europäischer Richtlinien erlassenen nationalen Rechts noch im ersten Teil unter B. II.; eine andere Terminologie präferiert W. Schroeder, AöR 129 (2004), 3 (10 ff.), der zwischen „zentraler“ und „dezentraler“ Durchführung von Gemeinschaftsrecht differenziert. 18 Vgl. auch U. Everling, EuR 1990, 195 (212 f.); H.-W. Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 190; M. Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (527); C. Tomuschat, EuR 1990, 340 (344 f.). 19 So prägnant J. H. H. Weiler, in: N. A. Neuwahl (Hrsg.), The European Union and Human Rights, S. 51 (67 ff.). 20 So I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes, S. 91. 21 EuGH, Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955 (I-982 f. Rn. 14 ff.) [Bostock]; s. auch T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 6 EUV Rn. 57; H.-W. Rengeling, in: J. Ipsen/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, S. 225 (238).

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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Begründung der Grundrechtsgeltung für die Mitgliedstaaten in diesem Vollzugsbereich verwendet, gleichen sich im Wortlaut nahezu vollkommen: In der Rechtssache Klensch bejahte der EuGH seine Kompetenz zur Kontrolle luxemburgischer Rechtsakte, durch die gemeinschaftsrechtliche Verordnungen vollzogen wurden, am Maßstab des Diskriminierungsverbots aus Art. 40 Abs. 3 EGV mit den Worten, dass dieses „auch für die Mitgliedstaaten verbindlich (sei), wenn diese die Marktorganisation durchführen“ (Anm.: hier und im Folgenden Hervorh. durch Verf.).22 Für eine über das Diskriminierungsverbot hinausgehende generelle Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei dem Vollzug von EGVerordnungen sprach sich der EuGH in der Rechtssache Wachauf aus. Er stellte fest, dass „auch die Mitgliedstaaten diese Erfordernisse (scil.: des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung) bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten“ hätten und „diese, soweit irgend möglich, in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden“ müssten.23 Anknüpfend an die Entscheidung Wachauf befasste sich der EuGH mit der Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von EG-Verordnungen auch in der Rechtssache Bostock, in der es um die Vereinbarkeit einer britischen Maßnahme mit dem gemeinschaftsrechtlichen Eigentumsgrundrecht und dem Diskriminierungsverbot ging. Der Gerichtshof begründete seine Prüfungskompetenz damit, dass „auch die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten“ hätten.24 Die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte bei dem Vollzug von Verordnungen bestätigte der EuGH ferner in der Rechtssache Graff, welche die Vereinbarkeit einer deutschen Regelung zum Vollzug einer EG-Verordnung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Diskriminierungsverbot des Art. 40 Abs. 3 EGV zum Gegenstand hatte. Der Gerichtshof urteilte, dass „nach ständiger Rechtsprechung (. . .) auch die Mitgliedstaaten die Erfordernisse, die sich aus dem Schutz der Grundrechte und -prinzipien in der Gemeinschaftsrechtsordnung ergeben, bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten“ hätten und „diese deshalb, soweit irgend

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EuGH, verb. Rs. 201/85 und 202/85, Slg. 1986, 3477 (3507 Rn. 8) [Klensch]. EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 (2639 f. Rn. 19) [Wachauf]; in der englischen Fassung lautet diese Formulierung des EuGH: „Since those requirements (scil.: of the protection of fundamental rights in the Community legal order) are also binding on the Member States when they implement Community rules, the Member States must (. . .) apply those rules in accordance with those requirements.“, s. hierzu F. G. Jacobs, E.L.Rev. (2001) 26, 331 (333). 24 EuGH, Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955 (I-983 Rn. 16) [Bostock]. 23

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

möglich, in Übereinstimmung mit den genannten Erfordernissen anwenden“ müssten (. . .)“.25 Abermals stand die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Verordnungen schließlich in der Rechtssache Karlsson im Zentrum der Entscheidung. Unter Hinweis auf seine Entscheidung in der Rechtssache Bostock wiederholte der EuGH seinen Standpunkt, dass „die Mitgliedstaaten (. . .) bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen aber auch die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung beachten“ und „diese deshalb soweit wie möglich in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden“ müssten.26 II. (Normative) Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten Ob neben dem innerstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht auch die Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien durch die Mitgliedstaaten in den „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ fällt, innerhalb dessen sich die Tentakel der Gemeinschaftsgrundrechte auf die Mitgliedstaaten erstrecken, war bislang kaum Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen. Soweit ersichtlich, hat der EuGH eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte bisher lediglich für die (Auslegung und) Anwendung der in Umsetzung von Richtlinien ergangenen nationalen Rechtsakte angenommen.27 Die einschlägigen Entscheidungen betreffen bei genauer Betrachtung nicht die normative Umsetzung von Richtlinien, sondern den administrativen Vollzug von in nationales Recht umgesetztem Gemeinschaftsrecht. Ob eine Bindung der Mitgliedstaaten an die europäischen Grundrechte auch bereits auf der Vorstufe, für Umsetzungsakte von Richtlinien selbst gilt, hat der EuGH bislang nicht entschieden.28

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EuGH, Rs. C-351/92, Slg. 1994, I-3361 (I-3379 Rn. 17) [Graff]. EuGH, Rs. C-292/97, Slg. 2000, I-2737 (I-2774 Rn. 37) [Karlsson]; die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von sekundärem Gemeinschaftsrecht betraf auch die Rechtssache C-63/93, Slg. 1996, I-569 (I-610 Rn. 29) [Duff] – der Gerichtshof verwendet darin ebenfalls die Formulierung „Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen“. 27 EuGH, verb. Rs. C-74/95 und C-129/95, Slg. 1996, I-6609 (I-6637 Rn. 25 f.) [X]; Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 (3986 Rn. 13) [Kolpinghuis Nijmegen]. 28 In die Richtung einer Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien deutet allenfalls das Urteil des EuGH in der Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 ff. [Johnston] – hierzu J. Kühling, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (607 Fn. 102); J. H. H. Weiler/N. Lockhart, CMLRev. (1995) 32, S. 579 (609); s. auch die Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325 (I-6358 f. Rn. 26–28) [Marks & Spencer]. 26

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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Im Schrifttum wird die Frage der Adressierung der Gemeinschaftsgrundrechte an die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien kontrovers diskutiert. Das Spektrum der Ansichten reicht von der grundsätzlichen Ablehnung einer Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten29 über die uneingeschränkte Befürwortung einer solchen Bindung30 bis hin zu dem differenzierenden Standpunkt, dass die Gemeinschaftsgrundrechte nur für nationale Umsetzungsakte zum Tragen kommen, die durch die umzusetzende Richtlinie bis ins letzte Glied determiniert sind, hingegen nicht für nationale Umsetzungsmaßnahmen gelten sollen, die in Ausfüllung von – durch die Richtlinie belassenen – Spielräumen der Mitgliedstaaten ergehen.31 III. Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten Die dritte Fallgruppe, für die der EuGH eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bejaht, betrifft nationale Maßnahmen im Anwendungsbereich der im EG-Vertrag geregelten wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten, also der Warenverkehrsfreiheit (Art. 23 ff. EGV),32 der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 ff. EGV),33 der Niederlassungs- (Art. 43 ff. EGV)34 und der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EGV)35 sowie der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 56 ff. EGV)36. Berufen sich die Mitgliedstaaten auf im Ge29 So T. Jürgensen/I. Schlünder, AöR 121 (1996), 200 (211 f.); T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 6 EUV Rn. 59; E. Klein, VVDStRL 50 (1991), S. 56 (83 f.); T. Kingreen/R. Störmer, EuR 1998, 263 (281). 30 So K. D. Borchardt, in: Lenz (Hrsg.), EU- und EG-Vertrag, Kommentar, Art. 220 EGV Rn. 35; J. Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 84 f.; S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 20 ff.; J. Kühling, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (608 f.); I. Pernice, NJW 1990, 2409 (2417); W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 38 ff.; C. Tomuschat, EuR 1990, 340 (344 ff.); A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 84 ff.; I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes, S. 94 ff. 31 So H. Dreier, in: dems. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 1 Abs. 3 Rn. 12; A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 54 ff.; E. Klein, VVDStRL 50 (1991), S. 56 (83 f.); G. Nicolaysen, EuR 1989, 215 (220 f.); H.-W. Rengeling, in: J. Ipsen/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, S. 225 (238 f.); ders., Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 189 f.; M. Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (527 f.). 32 Die Warenverkehrsfreiheit hat in dem Verfassungsvertrag ihren Platz in Art. III130 Abs. 2, III-151 ff. 33 Vgl. Art. III-130 Abs. 2, III-133 ff. VVE. 34 Vgl. Art. III-130 Abs. 2, III-137 ff. VVE. 35 Vgl. Art. III-130 Abs. 2, III-144 ff. VVE.

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

meinschaftsrecht vorgesehene Ausnahmebestimmungen, um Eingriffe in Grundfreiheiten zu rechtfertigen, sind sie nach der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet, die Gemeinschaftsgrundrechte zu beachten. Dogmatisches „Einfallstor“ für die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte in diesem Bereich mitgliedstaatlichen Handelns ist die jeweilige Ausnahmeregelung im Gemeinschaftsrecht, auf die sich die Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung des betreffenden Eingriffs in Grundfreiheiten berufen. Wegweisend ist insoweit die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ERT.37 Der EuGH sah in dem griechischen Fernsehmonopol einen Eingriff in die europäische Dienstleistungsfreiheit ausländischer Fernsehveranstalter und stellte – im Anschluss an seine allgemeine Formulierung zu der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ – fest: „Insbesondere wenn ein Mitgliedstaat sich auf (. . . scil.: die Ausnahmebestimmungen im EG-Vertrag) beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, ist diese im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen. Die (scil.: im EG-Vertrag) vorgesehenen Ausnahmen können daher für die betreffende nationale Regelung nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat“.38 Die Kompetenz zur Überprüfung nationaler Rechtsakte, die in Grundfreiheiten eingreifen, am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte reklamiert der EuGH dabei nicht nur, wenn sich die Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung ihres Handelns auf die im EG-Vertrag normierten Ausnahmetatbestände stützen39 (vgl. etwa Art. 30, 45, 46, 55 [i. V. m. 45, 46] und 58 EGV),40 sondern auch, wenn sie sich auf die vom EuGH entwickelten ungeschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Schranken der „zwingenden Erfordernisse“41 bzw. der „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“42 berufen. Die Bindung der Mitgliedstaaten an 36

Vgl. Art. III-130 Abs. 2, III-156 ff. VVE. Auf diese Entscheidung wurde bereits im ersten Teil unter A. eingegangen. 38 EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 (I-2964 Rn. 43) [ERT]. 39 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 (I-2964 Rn. 42) [ERT]; zu der – umstrittenen – Frage, ob die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nur bei Berufung auf Ausnahmetatbestände der Grundfreiheiten gebunden sind oder ob eine solche Grundrechtsbindung auch im Rahmen von Bereichsausnahmen, wie beispielsweise Art. 39 Abs. 4 und Art. 45 EGV, zum Tragen kommt, s. die Nachweise in Fn. 48. 40 Vgl. Art. III-154, III-139 u. III-140, III-150 (i. V. m. Art. III-139 u. III-140 VVE) und Art. III-158 VVE. 41 Diesen ungeschriebenen Ausnahmegrund der „zwingenden Erfordernisse“ hat der EuGH in der Rs. 120/78 entwickelt, Slg. 1979, 649 (662 Rn. 8) [REWE]. 42 Zu der ungeschriebenen Schranke der „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 (I-4197 f. Rn. 37) [Gebhard]. 37

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts besteht außerdem sowohl für nationale Maßnahmen mit diskriminierendem Charakter als auch für Rechtsakte mit (lediglich) beschränkender Wirkung für die Grundfreiheiten.43 Leitet sich die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten stets über denselben „Transmissionsriemen“,44 nämlich über die gemeinschaftsrechtliche Ausnahmebestimmung als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Grundfreiheiten ab, ist die Funktion, in der der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte in den nationalen Bereich hineinwachsen lässt, nicht dieselbe, sondern eine jeweils unterschiedliche: Zum einen kommen die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten (s. 1.), zum anderen als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten (s. 2.) zum Tragen. Beide Fallgruppen, in denen der EuGH mitgliedstaatliche Rechtsakte am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte überprüft, sind gekennzeichnet durch Eingriffe nationaler Einrichtungen und Organe in Grundfreiheiten, die die Erforderlichkeit einer Rechtfertigung nach sich ziehen. Die Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte ist insofern eng verbunden, um nicht zu sagen: untrennbar verknüpft mit der Beeinträchtigung der wirtschaftliche Tätigkeit schützenden Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts und der dadurch ausgelösten Rechtfertigungslast der Mitgliedstaaten.45 Der Einbruch der Mitgliedstaaten in den durch die Grundfreiheiten des EG-Vertrags gewährleisteten Freiheitsraum der Unionsbürger öffnet das Tor zum Gemeinschaftsrecht und löst die Bindung der Mitgliedstaaten an die vom EuGH entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte aus, die entweder als (weitere) Schranken neben die Schranken der Grundfreiheit treten oder selbst einen Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen der Grundfreiheiten liefern. In diesem Bereich der Anwendung Europäischen Gemeinschaftsrechts sind die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden und reklamiert der EuGH für sich die Kompetenz, nationale Maßnahmen am Maßstab der Grundrechte des Gemeinschaftsrechts zu überprüfen. Im Schrifttum stößt diese vom EuGH entwickelte Kategorie der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten auf ein geteiltes Echo.46 Unter Berufung auf den 43 Die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte in Fällen beschränkender Maßnahmen der Mitgliedstaaten hat der EuGH etwa in der Rs. C-23/93, Slg. 1994, I-4795 ff. [TV10] bejaht. 44 So die Begrifflichkeit von T. Kingreen/R. Störmer, EuR 1998, 263 (282). 45 Zu der sich andeutenden neueren Entwicklung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts unabhängig von einer Beeinträchtigung der wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten zu bejahen, noch im ersten Teil unter B. III. 3. 46 Zu dem um die Grundrechtsbindung bei Beschränkungen der Grundfreiheiten kreisenden Streit S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 84; P. Eeckhout, CMLRev. (2002) 39, 945 (977 f.); W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte,

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

die Mitgliedstaaten „begünstigenden“ Charakter der im EG-Vertrag vorgesehenen oder als ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht geltenden Ausnahmebestimmungen wird eine Kontrolle nationaler Rechtsakte, die in Grundfreiheiten eingreifen, zum Teil abgelehnt.47 Nach anderer, dem EuGH beipflichtender Ansicht bewirken die gemeinschaftsrechtlichen Ausnahmebestimmungen, die den Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten dienen, eine Öffnung des Gemeinschaftsrechts, durch welche die Gemeinschaftsgrundrechte auf den nationalen Bereich einstrahlen und die Mitgliedstaaten in ihrem Handeln binden.48 Zu der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Maßnahmen im Schutzbereich von Grundfreiheiten im Einzelnen: 1. Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten Zum einen zieht der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte als Mittel zur Begrenzung mitgliedstaatlicher Regelungen heran, die Grundfreiheiten beschränken. Er misst den Grundrechten Bedeutung als Schranken-Schranken zu, die zusätzlich zu den – geschriebenen oder ungeschriebenen – Schranken der Grundfreiheiten zum Tragen kommen.49 In dieser Funktion begrenzen die S. 50; A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 53 ff.; zu der Frage, was sedes materiae einer solchen Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte ist, W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1456 f.); S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 96 ff.; H.-W. Rengeling, DVBl. 2004, 453 (463); M. Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (523 ff.). 47 So etwa T. Jürgensen/I. Schlünder, AöR 121 (1996), 200 (216); T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 6 EUV Rn. 62; ders., JuS 2000, 857 (865); M. Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (528 f.). 48 So namentlich W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 50 f., der zwischen Ausnahmeregelungen als Rechtfertigungsgründen und Ausnahmeregelungen als tatbestandlichen Bereichsausnahmen differenziert; ebenso A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 90 ff.; s. ferner A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 58 ff.; zu der weiteren im Schrifttum geführten Diskussion, ob und inwieweit gemeinschaftsrechtlich determinierte, grundrechtlich gebundene Tätigkeit der Mitgliedstaaten daneben auch an den innerstaatlichen Grundrechten der Mitgliedstaaten zu messen ist oder ob nationale Grundrechte insoweit hinter den europäischen Grundrechten „zurücktreten“, I. Pernice, NJW 1990, 2409 (2417); H.-W. Rengeling, in: J. Ipsen/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, S. 225 (242); ders., Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 190; R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 182 ff.; A. Weber, NJW 2000, 537 (542); I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes, S. 93 ff. 49 Zu dieser Terminologie der „Schranken-Schranken“ auch D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, S. 134 f.; A. Wallrab, Die

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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Grundrechte die den Mitgliedstaaten im EG-Vertrag oder als ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht eröffnete Möglichkeit, von Ausnahmeregelungen der Grundfreiheiten Gebrauch zu machen, da sich diese Ausnahmebestimmungen ihrerseits an den Gemeinschaftsgrundrechten messen lassen und deren freiheitssicherndem Gehalt genügen müssen. Der EuGH zieht die Grundrechte insoweit in ihrer klassischen Abwehrfunktion als status negativus heran und überprüft die Rechtsakte der Mitgliedstaaten nicht nur am Maßstab der Grundfreiheiten respektive deren Schrankenbestimmungen, sondern auch am Maßstab der Grundrechte, die eine zusätzliche „Rechtfertigungshürde“ für die Mitgliedstaaten bilden.50 Die den Grundfreiheiten gesetzten Schranken sind ihrerseits im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte auszulegen, werden also durch diese begrenzt, so dass die Grundrechte die durch die Grundfreiheiten gewährten Garantien verstärken und Eingriffe der Mitgliedstaaten in die wirtschaftlichen Freiheiten der Unionsbürger zähmen. In beiden Fällen, sowohl bei der Kontrolle nationaler Rechtsakte am Maßstab der Grundfreiheiten als auch bei der Betrachtung ihrer Vereinbarkeit mit den Gemeinschaftsgrundrechten, nimmt der EuGH grundsätzlich eine umfassende, zweigestufte Prüfung vor, die nach der Feststellung eines Eingriffs in die Grundfreiheit bzw. das Grundrecht die Untersuchung dessen Rechtfertigung umfasst. Als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten zog der EuGH die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts namentlich in der eingangs genannten Entscheidung in der Rechtssache ERT heran. Der Gerichtshof sah in dem griechischen Fernsehmonopol zugunsten inländischer Rundfunkveranstalter eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs ausländischer Fernsehveranstalter und prüfte, ob die in Art. 66 i. V. m. Art. 56 EGV vorgesehene Ausnahme, auf die sich der griechische Staat zur Rechtfertigung der Beschränkung berief, im konkreten Fall mit dem in Art. 10 EMRK verbürgten Grundrecht der Meinungsfreiheit in Einklang stand.51 Die abwehrrechtliche Dimension der Gemeinschaftsgrundrechte hob der EuGH auch in seinem Urteil Kommission ./. Deutschland hervor. Zugrunde laVerpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 46; A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 57. 50 In dieser Funktion als status negativus hat der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte etwa in der Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 (I-2964 Rn. 43) [ERT] herangezogen; ebenso in der Rs. C-62/90, Slg. 1992, I-2575 (I-2609 Rn. 23) [Kommission ./. Deutschland]; s. ferner die Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (I-3717 Rn. 24) [Familiapress]; vgl. zu dieser Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten in der Judikatur des EuGH auch S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 20 ff.; W. Schaller, Die EUMitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 58 ff. 51 Vgl. EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 (I-2964 Rn. 43 ff.) [ERT].

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

gen der Entscheidung deutsche Regelungen, die Privatpersonen die Einfuhr von in Deutschland verschreibungspflichtigen Arzneimitteln selbst in einer dem üblichen persönlichen Bedarf entsprechenden Menge verboten. Der EuGH sah in den deutschen Vorschriften eine Beschränkung des freien Warenverkehrs und prüfte, ob das Einfuhrverbot durch die Ausnahmebestimmung des Art. 36 EWGV gerechtfertigt war, die eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen gestattet. Im Rahmen dieser Prüfung kontrollierte der EuGH die nationalen Regelungen auch am Maßstab der Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz des Arztgeheimnisses. Im Ergebnis verneinte er zwar eine Verletzung dieser Grundrechte, erklärte aber die durch die deutsche Regelung bewirkte Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit gleichwohl für nicht gerechtfertigt.52 Schließlich bemühte der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte als SchrankenSchranken der Grundfreiheiten auch in einem Urteil jüngeren Datums, in der Rechtssache Carpenter, in der er über die Vereinbarkeit einer britischen Ausweisungsverfügung mit der Dienstleistungsfreiheit des Gemeinschaftsrechts zu befinden hatte. Der EuGH sah in der Ausweisung einer philippinischen Staatsangehörigen einen Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit ihres britischen Ehemannes, weil dieser seiner mit Reisen in andere Mitgliedstaaten verbundenen geschäftlichen Tätigkeit wegen des mit der Ausweisung seiner Ehefrau verbundenen Verlustes seiner Kinder- und Hausbetreuung nur noch eingeschränkt nachgehen konnte. Im Rahmen der Prüfung, ob dieser Eingriff durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt war, führte der EuGH aus, dass sich ein Mitgliedstaat nur dann auf eine Regelung zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit berufen könne, wenn sie mit den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts in Einklang stehe. In dem konkreten Fall sah der Gerichtshof in der auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützten Ausweisungsverfügung einen Eingriff in das Grundrecht des Herrn Carpenter auf Achtung seines Familienlebens, der nicht durch die Schranken des Grundrechts gedeckt sei. Die Ausweisung der Ehefrau des Herrn Carpenter verstieß daher im Ergebnis gegen die Dienstleistungsfreiheit des EG-Vertrags.53

52 EuGH, Rs. C-62/90, Slg. 1992, I-2575 (I-2609 Rn. 23 ff.) [Kommission ./. Deutschland]; s. ferner das Urteil des EuGH in der Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (I-3717 Rn. 24) [Familiapress] – hierzu auch noch im ersten Teil unter B. III. 2. 53 EuGH, Rs. 60/00, Slg. 2002, I-6279 (I-6317 ff. Rn. 28 ff., insbes. Rn. 46) [Carpenter]; kritisch zu dieser Entscheidung M. Ruffert, EuR 2004, 165 (178).

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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2. Gemeinschaftsgrundrechte als die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten sichernde Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten In dieser Funktion als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten erschöpft sich der Gehalt der Gemeinschaftsgrundrechte indes nicht. Der EUGH zieht die Gemeinschaftsgrundrechte vielmehr – und dies bildet die zweite (Unter-)Gruppe – bei der Überprüfung nationaler Rechtsakte, die in Grundfreiheiten eingreifen, auch als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten heran.54 In dieser Funktion setzen die Grundrechte der Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei Eingriffen in Grundfreiheiten keine Grenzen, sondern sichern im Gegenteil die Handlungsmacht der Mitgliedstaaten, indem sie die bestehenden Beschränkungsmöglichkeiten konkretisieren und damit gleichsam selbst einen Rechtfertigungstitel für Eingriffe in Grundfreiheiten bilden. Als Lieferant staatlicher Schutzpflichten zugunsten von Freiheiten Dritter oder objektiv-rechtlicher Wertentscheidungen stellen die Grundrechte für die Mitgliedstaaten eine Möglichkeit dar, Eingriffe in Grundfreiheiten zu legitimieren. Insofern konkretisieren sie die geschriebenen Ordnungsvorbehalte des EG-Vertrags oder begründen ungeschriebene „zwingende Erfordernisse“ bzw. „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ und verkörpern auf diese Weise ein gemeinschaftsrechtlich zulässiges Ziel nationaler Rechtsakte, die wirtschaftliche Grundfreiheiten beschränken.55 Die Grundrechte fungieren als Legitimations- und Ermächtigungstitel für die Mitgliedstaaten, den durch die Grundfreiheiten geschützten Freiheitsraum der Unionsbürger zu begrenzen und Eingriffe in diese Freiheiten zu rechtfertigen. Soweit sich aus den Grundrechten eine Pflicht zum Schutz des grundrechtlichen Freiheitsraums der Unionsbürger ergibt, sind die Mitgliedstaaten nicht nur berechtigt, sondern können in Wahrnehmung dieser Schutzpflicht sogar verpflichtet sein, die Ausübung von Grundfreiheiten zu beschränken.56 Obgleich die Grundrechte in dieser Konstellation die Handlungsmacht der Mitgliedstaaten nicht begrenzen, sondern ihnen einen Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in Grundfreiheiten liefern, ist dogmatisch gleichwohl die Kategorie 54 Soweit diese Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte im Schrifttum vereinzelt als „immanente Schranken“ der Grundfreiheiten bezeichnet wird, trägt dies deswegen nicht, weil die Grundrechte insoweit nicht als eigenständiger gesonderter Schrankentypus, sondern (nur) als Spezifizierung der bestehenden – geschriebenen oder ungeschriebenen – Beschränkungsmöglichkeiten der Grundfreiheiten zum Tragen kommen. 55 Vgl. zu dieser Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Rechtfertigungstitel für Beschränkungen der Grundfreiheiten in der Judikatur des EuGH auch S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, S. 30 ff.; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 58 ff. 56 Ebenso D. Ehlers, in: dems. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 83.

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte und nicht eine jenseits mitgliedstaatlicher Grundrechtsbindung bestehende „Ausstrahlungswirkung“57 der Grundrechte als Teil einer „einheitlichen europäischen Werteordnung“ angesprochen. Denn eine Berufung auf grundrechtliche Gewährleistungen zum Schutz von Freiheiten der Unionsbürger oder objektiv-rechtlicher Rechtswerte ist den Mitgliedstaaten nur erlaubt, wenn sie an die Grundrechte gebunden, also zum Schutz der grundrechtlichen Freiheitsverbürgungen verpflichtet oder wenigstens berechtigt sind.58 Lassen sich erste Ansätze in der Judikatur des EuGH für die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten bereits in dem Urteil in der Rechtssache Rutili erkennen,59 hat der EuGH die Grundrechte in dieser Funktion später namentlich in Entscheidungen zu der Vereinbarkeit von Mediengesetzen verschiedener Mitgliedstaaten mit dem Gemeinschaftsrecht herangezogen. In der Rechtssache Collectieve Antennevoorziening Gouda erkannte der EuGH in einer niederländischen Medienvorschrift, welche die Übertragung von aus anderen Mitgliedstaaten gesendeten Rundfunkprogrammen in Kabelnetzen an besondere Voraussetzungen knüpfte, einen Eingriff in den freien Dienstleistungsverkehr betroffener Kabelnetzbetreiber und Rundfunkveranstalter. Er beschäftigte sich mit der Möglichkeit einer Rechtfertigung dieses Eingriffs und verneinte sie im Ergebnis. Dabei führte der Gerichtshof grundsätzlich aus, dass die Aufrechterhaltung eines pluralistischen Rundfunkwesens, der die niederländische Regelung dienen sollte, wegen ihres „Zusammenhangs“ mit der durch Art. 10 EMRK garantierten Meinungsfreiheit prinzipiell einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ begründe, der eine Beschränkung des Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen könne.60 Der EuGH zog das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK insoweit als Schranke der Dienstleistungsfreiheit, also als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Grundfreiheit heran, wobei er auf eine über die abwehrrechtliche

57

So aber A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 48. Ebenso W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1457); anders dagegen W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 109 ff. und S. 181 ff., der eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte als Rechtfertigungstitel für Eingriffe in Grundfreiheiten verneint, weil die Mitgliedstaaten nach der Judikatur des EuGH nur „berechtigt“, nicht aber „verpflichtet“ seien, die Gemeinschaftsgrundrechte schützend tätig zu werden; ebenfalls in diese Richtung deutend P. Eeckhout, CMLRev. (2002) 39, 945 (978). 59 EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219 ff. [Rutili]; s. hierzu auch das Grünbuch der Kommission „Fernsehen ohne Grenzen“ vom 14.06.1984, KOM (84), S. 127, in dem die Kommission feststellt, der EuGH habe durch die im Urteil Rutili aufgestellten Grundsätze „die Verbindung zwischen den Freiheiten des EWG-Vertrags und den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention hergestellt“. 60 EuGH, Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007 (I-4043 Rn. 23) [Collectieve Antennevoorziening Gouda]. 58

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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Dimension hinausgehende objektiv-rechtliche Bedeutungsschicht der Meinungsfreiheit rekurrierte.61 Als Rechtfertigungsgrund für Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit durch die Mitgliedstaaten kam das Grundrecht der freien Meinungsäußerung aus Art. 10 EMRK auch in der Rechtssache TV10 zum Tragen, in der sich erneut eine medienrechtliche Vorschrift der Niederlande auf dem Prüfstand befand, welche für die Verbreitung von Rundfunksendungen in den Niederlanden unterschiedliche programminhaltliche Anforderungen an niederländische Rundfunkveranstalter einerseits und an ausländische Veranstalter andererseits vorsah. Der EuGH wiederholte seine Erwägungen aus der Rechtssache Collectieve Antennevoorziening Gouda, dass Gründe der Kulturpolitik wie die durch das niederländische Mediengesetz verfolgte Schaffung eines pluralistischen Rundfunkwesens im Allgemeininteresse liegende Ziele darstellten, welche eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen könnten, und erklärte die Regelung des niederländischen Mediengesetzes im Ergebnis für mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar.62 Sowohl in der Funktion des status positivus als auch in einer abwehrrechtlichen Dimension bemühte der EuGH das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK in der Rechtssache Familiapress. In diesem Verfahren hatte ein österreichisches Gericht dem EuGH u. a. die Frage vorgelegt, ob das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer Regelung des österreichischen Gesetzes über unlauteren Wettbewerb auf einen deutschen Presseverlag entgegen stehe, die den Vertrieb von Druckwerken, die Gewinnspiele oder Preisrätsel enthalten, in Österreich untersagte, während das deutsche Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb keine vergleichbare Vorschrift enthielt. Ausgehend von der Feststellung, dass die österreichische Regelung den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtige, rekurrierte der EuGH auf das mit dem österreichischen Gesetz verfolgte Ziel, für Medienvielfalt als Mittel zur Wahrung des Rechts der freien Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK Sorge zu tragen, und sah darin ein „zwingendes Erfordernis“, das eine Beschränkung des freien Warenverkehrs grundsätzlich rechtfertigen könne. Insoweit maß er dem Grundrecht der Meinungsfreiheit – ebenso wie in den Entscheidungen Collectieve Antennevoorziening Gouda und TV10 – eine objektiv-rechtliche Dimension bei und sah darin eine Schranke zur Rechtfertigung der Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit.63 Darüber hinaus prüfte der EuGH in einem weiteren Schritt, ob 61 Ebenso J. Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 101; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 107. 62 EuGH, Rs. C-23/93, Slg. 1994, I-4795 (I-4832 Rn. 18 f. u. I-4833 ff. Rn. 23 ff. [TV10]. 63 EuGH, Rs. 368/95, Slg. 1997, I-3689 (I-3715 Rn. 18) [Familiapress]; vgl. auch bereits die Entscheidung des EuGH in der Rs. C-148/91, Slg. 1993, I-487 (I-518

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

die zur Rechtfertigung der Warenverkehrsbeschränkung angeführten „zwingende Erfordernisse“ mit den Gemeinschaftsgrundrechten, namentlich dem Recht der Meinungsfreiheit in Einklang stehen. Der EuGH stellte fest, dass das österreichische Vertriebsverbot die Meinungsfreiheit beeinträchtige und gab dem vorlegenden Gericht die zur Prüfung von Rechtfertigungsgründen für den Grundrechtseingriff erforderlichen Kriterien an die Hand. Insoweit rekurrierte der Gerichtshof auf die abwehrrechtliche Funktion der Meinungsfreiheit und legte das zur Rechtfertigung des Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit benannte zwingende Erfordernis der Medienvielfalt (als objektiv-rechtliches Ziel der Meinungsfreiheit) im Lichte des Grundrechts der Meinungsfreiheit in ihrer Funktion als status negativus aus.64 Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung diente mithin im Rahmen der Prüfung einer Rechtfertigung des Eingriffs in die Warenverkehrsfreiheit als beides: als Eingriffe in Grundfreiheiten rechtfertigende Schranke auf der einen Seite und als Schranken-Schranke zur Domestizierung des Eingriffs und zur Begrenzung der Rechtfertigungsmöglichkeit auf der anderen Seite. Schließlich verwies der EuGH auf die Gemeinschaftsgrundrechte als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe der Mitgliedstaaten in die Grundfreiheiten jüngst in der Rechtssache Schmidberger. In diesem Verfahren hatte der Gerichtshof über die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit der einem Verein mit umweltpolitischer Zielsetzung von österreichischen Behörden (stillschweigend) erteilten Genehmigung einer Versammlung auf der Brenner-Autobahn zu entscheiden. Die Versammlung hatte zu einer mehrstündigen Verkehrsblockade auf der Autobahn geführt, gegen die sich betroffene Spediteure vor österreichischen Gerichten zur Wehr gesetzt hatten. Der EuGH sah in der Genehmigung der Versammlung eine Beeinträchtigung des Rechts auf freien Warenverkehr der Spediteure, die durch die Grundrechte der Demonstranten auf Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit, deren Schutz die Genehmigung der Versammlung diente, gerechtfertigt sei. Zur Begründung führte der EuGH aus, der Schutz dieser Grundrechte stelle ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet sei, eine Beschränkung von Grundfreiheiten wie der Warenverkehrsfreiheit zu rechtfertigen. Die Abwägung zwischen den kollidierenden Freiheiten der Spediteure einerseits und der Demonstranten andererseits ergebe, dass die Grundrechte der Demonstranten Vorrang genössen.65

Rn. 9 f.) [Veronica Omroep Organisatie], in der der Gerichtshof in der Schaffung eines pluralistischen Rundfunkwesens im Allgemeininteresse liegende Ziele der Kulturpolitik sah, die eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen könnten; auch insoweit misst der EuGH dem Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK objektiv-rechtliche Bedeutung zu und sieht darin einen Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die Grundfreiheiten. 64 EuGH, Rs. 368/95, Slg. 1997, I-3689 (I-3717 Rn. 24 ff.) [Familiapress]. 65 EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (I-5711 Rn. 46 ff.) [Schmidberger].

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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3. Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte diesseits von Eingriffen in Grundfreiheiten? Ob eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte über die o. g. Fallgruppen hinaus besteht und ihr auch diesseits von Beschränkungen der Grundfreiheiten das Wort zu reden ist, ist bislang nicht verbindlich geklärt. Für ein extensives Verständnis des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“ und eine Entkoppelung der Grundrechtsbindung von Eingriffen der Mitgliedstaaten in die Grundfreiheiten sind in jüngerer Vergangenheit vor allem Generalanwälte bei dem Europäischen Gerichtshof eingetreten. In Schlussanträgen plädierten sie wiederholt für eine solche Extension der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten: Namentlich der Generalanwalt bei dem EuGH F. G. Jacobs betonte in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Konstantinidis, in dem ein in Deutschland niedergelassener griechischer Staatsbürger die Korrektur der Schreibweise seinen Namens im Heiratsbuch begehrte, der Gemeinschaftsbürger dürfe davon ausgehen, dass, „wohin er sich in der Europäischen Gemeinschaft zu Erwerbszwecken auch begibt, stets im Einklang mit der gemeinsamen Ordnung von Grundwerten behandelt“ werde; das Erfordernis einer Kontrolle mitgliedstaatlicher Akte am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte folge aus dem Status der Gemeinschaftsbürger als „civis europeus sum“.66 In dieselbe Richtung (vor-) stoßend vertrat der Generalanwalt F. G. Jacobs in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bickel und Franz die Auffassung, die Unionsbürger könnten sich gegenüber anderen Mitgliedstaaten, in deren Gebiet sie sich aufhalten oder bewegen und ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, auf das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit berufen. In dieser Weise vorgewagt, warf er – noch einen Schritt weitergehend – die grundsätzliche Frage auf, ob der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts auch unabhängig von der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit eröffnet sei, und bedeutete, dass „möglicherweise (. . .) die Zeit gekommen (sei), um auch diese Frage zu bejahen“.67 Auf derselben Linie liegen die Ausführungen des Generalanwalts A. La Pergola in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Martínez Sala, in der es um die Frage ging, ob eine deutsche Vorschrift, die die Gewährung von Erziehungsgeld an Angehörige anderer Mitgliedstaaten, welche sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, von der Vorlage einer förmlichen Aufenthaltserlaubnis abhängig machte, mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Generalanwalt

66 Schlussanträge des Generalanwalts F. G. Jacobs in der Rs. C-168/91, Slg. 1993, I-1191 (I-1211 f. Rn. 46) [Konstantinidis]. 67 Schlussanträge des Generalanwalts F. G. Jacobs in der Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 (I-7645 Rn. 23) [Bickel und Franz].

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

A. La Pergola knüpfte ebenfalls an die Unionsbürgerschaft und das damit verbundene, in Art. 18 EGV68 verankerte Recht an, sich in der gesamten Union frei zu bewegen und aufzuhalten; er leitete daraus ab, dass sich Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit in anderen Mitgliedstaaten Gebrauch machen, gegenüber diesem Staat auf das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Diskriminierung berufen dürften.69 Auf der Grundlage einer solchen Anknüpfung an den Aufenthalt und die Bewegung von Unionsbürgern in anderen Mitgliedstaaten in Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit bestünde eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte unabhängig davon, ob sie in den durch die wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten des EG-Vertrags geschützten Freiheitsraum der Bürger eingreifen. Anknüpfungspunkt für die Öffnung des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“, innerhalb dessen die Mitgliedstaaten den Gemeinschaftsgrundrechten verpflichtet sind, wäre nicht die Beschränkung wirtschaftsbezogener Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten, sondern vielmehr der Bezug zu dem allgemeinen Recht auf Freizügigkeit70 der Unionsbürger, das unabhängig von wirtschaftlicher Betätigung gewährleistet ist.71 Auf der Grundlage 68

Vgl. nunmehr Art. I-10 Abs. 1 Satz 2 lit. a) VVE. Schlussanträge des Generalanwalts A. La Pergola in der Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 (I-2702 ff. Rn. 18 ff.) [Martínez Sala]; für eine Ausdehnung des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“ und eine Kontrolle mitgliedstaatlicher Rechtsakte ohne unmittelbaren Bezug zu den Grundfreiheiten plädiert im Ergebnis auch B. Beutler, in: H. von der Groeben/J. Thiesing/C.-D. Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl., Art. F Rn. 81, der sich für eine „Systematisierung der Grundrechtskontrolle nach Stufen der Regelungsintensität“ des Gemeinschaftsrechts ausspricht, die „bei unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht daher stärker wäre als bei seiner Durchführung“; anderer Auffassung J. Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 113 ff. 70 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4. 2004, ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 77 ff., welche das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf Aufenthalt und Bewegung im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten umfassend regelt und von den Mitgliedstaaten bis zum 30.4.2006 umzusetzen ist, bezeichnet die Freizügigkeit von Personen als „eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts“ (s. den 2. Erwägungsgrund), erkennt darin aber auch das „elementare und persönliche Recht“ eines jeden Unionsbürgers“ (s. Erwägungsgründe 1 und 11); für die rechtliche Qualifizierung der Freizügigkeit als „unionsbürgerliche Grundfreiheit“ spricht sich auch D. H. Scheuing, EuR 2003, 744 ff., (insbes. 744 u. 761 f.) aus; zu der Diskussion um die rechtliche Einordnung des Rechts auf Freizügigkeit S. Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, Art. 18 EGV Rn. 10, der u. a. eine Qualifizierung Freizügigkeitsrechts als „individuelles und persönliches Grundrecht“ erörtert. 71 Zu der von wirtschaftlicher Tätigkeit unabhängigen Gewährleistung des allgemeinen Rechts auf Freizügigkeit S. Magiera, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, Art. 18 EGV Rn. 9; ebenso M. Haag, in: H. von der Groeben/J. Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, Art. 18 EGV Rn. 2; R. Streinz, Europarecht, § 2 Rn. 52 u. § 12 Rn. 654; zu den Unterschieden zwischen den wirtschaftsbezogenen Grundfreiheiten und dem nicht wirtschaftsbezogenen Recht auf Freizügigkeit D. H. Scheuing, EuR 2003, 744 (763 ff.). 69

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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eines solchen Verständnisses erfolgte eine Kontrolle mitgliedstaatlicher Rechtsakte am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte, wenn Unionsbürger, die sich auf dem Territorium eines anderen Mitgliedstaats aufhalten oder bewegen, durch eine Maßnahme dieses Mitgliedstaats in einer durch die Gemeinschaftsgrundrechte geschützten Rechtsposition betroffen werden. Dogmatischer Ansatzpunkt für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte ist insoweit nicht die Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Ausnahmebestimmungen durch die Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Eingriffen in die wirtschaftszentrierten Grundfreiheiten, sondern die Beschränkung des in Art. 18 EGV garantierten Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit, das sie – auch losgelöst von wirtschaftlichen Tätigkeiten – zum Aufenthalt und zur Bewegung in anderen Mitgliedstaaten berechtigt; einer Behinderung von durch die Grundfreiheiten verbürgten wirtschaftlichen Betätigungen durch den zur Grundrechtsprüfung Anlass gebenden nationalen Rechtsakt bedarf es nicht.72 Diesem Ansatz ist der EuGH – zumindest in der Rechtssache Konstantinidis – nicht gefolgt.73 Der EuGH ging auf den Standpunkt des Generalanwalts F. G. Jacobs in der Rechtssache Konstantinidis mit keiner Silbe ein und ließ die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte unerwähnt. Er sah in der Ablehnung des Begehrens des Klägers, die Schreibweise seines Namens zu ändern, durch die nationalen Behörden mangels ausreichendem Wirtschaftsbezug keinen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit und nahm daher eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte nicht vor.74 Insoweit entsprach er der von ihm bereits in früheren Judikaten ausdrücklich vertretenen Auffassung, dass eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte diesseits von Eingriffen in Grundfreiheiten nicht bestehe.75 Zarte Andeutungen für eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts und Entfesselung der Grundrechtsbindung von Eingriffen der Mitgliedstaaten in wirtschaftliche Tätigkeit schützende Grundfreiheiten der 72 Vgl. ebenso W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 104. 73 Ebenso J. Kühling, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (610 Fn. 112), der zu Recht darauf hinweist, der EuGH habe der Auffassung des Generalanwalts F. G. Jacobs in der Rechtssache Konstantinidis die Gefolgschaft verwehrt, da er einen „wirtschaftlichen Nachteil“ als verbindendes Element zum Gemeinschaftsrecht verlangt habe. 74 EuGH, Rs. C-168/91, Slg. 1993, I-1191 ff. [Konstantinidis]. 75 s. etwa die Ausführungen des EuGH in der Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4733 (I4741 Rn. 31) [Society for the Protection of Unborn Children Ireland]; s. ferner Rs. C299/95, Slg. 1997, I-2629 (I-2645 Rn. 15 f.) [Kremzow], in der der EuGH die Kontrolle eines österreichischen Strafurteils am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte unter Hinweis darauf ablehnte, dass der Fall „keinerlei Bezug zu einer der durch die Freizügigkeitsbestimmungen des Vertrags geregelten Situationen“ (I-2645 Rn. 16) aufweise und daher „nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ (I-2646 Rn. 18) falle.

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1. Teil: Grundrechtsbindung nach der Judikatur des EuGH

Unionsbürger lassen sich aber – jedenfalls bei „wohlwollender“ Interpretation – zwei Judikaten des EuGH jüngeren Datums entnehmen, in denen die Geltung des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots für die Mitgliedstaaten im Zentrum stand. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang insbesondere die Rechtssache Martínez Sala. Der EuGH überprüfte darin die streitgegenständliche deutsche Regelung zum Erziehungsgeld für Angehörige anderer Mitgliedstaaten im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland am Maßstab des Diskriminierungsverbots des Art. 6 EGV, ohne dass ein Eingriff in wirtschaftliche Grundfreiheiten der Frau Martínez Sala vorlag. In seiner Begründung knüpfte der EuGH an den Status der Frau Martínez Sala als Unionsbürgerin an und erklärte, dass sich ein Unionsbürger, „der sich (. . .) rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, in allen vom sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts erfassten Fällen auf Artikel 6 des Vertrages berufen“ könne.76 Auf derselben Linie liegt die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Bickel und Franz, in der der italienische Staat zwei Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, gegen die er Strafverfahren eingeleitet hatte, die Benutzung der deutschen Sprache als Verfahrenssprache verwehrte, obwohl dieses Recht zur Wahl der Muttersprache Angehörigen des italienischen Staats zustand. Das vorlegende Gericht befasste den EuGH mit der Frage, ob die Grundsätze der Nichtdiskriminierung aus Art. 6 EGV sowie das Recht der Unionsbürger, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, gebieten, dass einem Unionsbürger in Strafverfahren in einem anderen Mitgliedstaat das Recht gewährt wird, das Verfahren in seiner Sprache zu führen, wenn dieses Recht den Staatsangehörigen des das Strafverfahren führenden Staates gewährt wird. Der EuGH schlug abermals den Bogen zu der Freiheit der Unionsbürger, sich in anderen Mitgliedstaaten aufzuhalten und zu bewegen, und erklärte, dass Personen, die von diesem Recht Gebrauch machen, einen Anspruch gegen die Mitgliedstaaten auf Gleichbehandlung nach Art. 6 EGV hätten.77 Es ist nicht zu verkennen, dass sich der EuGH in diesen Entscheidungen mit Meilenschritten dem Standpunkt der Generalanwälte F. G. Jacobs und A. La Pergola angenähert und den Schlüssel zum Tor des (Anwendungsbereichs des) Gemeinschaftsrechts mehr in einer Beschränkung des von wirtschaftlicher Tätigkeit losgelösten Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger denn in Beeinträchtigungen der binnenmarktbezogenen Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten gesehen hat. Gleichwohl genügen diese ersten vorsichtigen Schritte wohl nicht, um bereits von einem soliden Gang zu sprechen, der die siamesische Verbin76

EuGH, Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 (I-2725 Rn. 61 u. 63) [Martínez Sala]. EuGH, Rs. C-274/96, Slg. 1998, I-7637 (I-7655 f. Rn. 15 ff.) [Bickel und Franz] – insoweit ist der EuGH, anders als in der Rechtssache Konstantinidis, den Schlussanträgen des Generalanwalts F. G. Jacobs inhaltlich nahe getreten. 77

B. Reichweite des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts

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dung zwischen der Geltung der europäischen Grundrechte für Rechtsakte der Mitgliedstaaten und der Rechtfertigung von Beschränkungen der durch Grundfreiheiten geschützten wirtschaftlichen Tätigkeiten der Unionsbürger auflöste und durch die Grundrechtsgeltung im Rahmen von Beschränkungen des Rechts der Unionsbürger, sich im gesamten Unionsraum aufzuhalten und frei zu bewegen, ersetzte. Ob sich diese ersten Anzeichen einer Auflösung der Amalgamierung zwischen Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten und Beschränkung von Grundfreiheiten verdichten, ob also der Europäische Gerichtshof diesen Weg weiter beschreitet und die Anknüpfung an das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger über die Diskriminierungsverbote des EG-Vertrags hinaus auch auf die (übrigen) Gemeinschaftsgrundrechte erstreckt, bleibt abzuwarten. Dass ungeachtet dieser Unsicherheit und der Frage der dogmatischen Überzeugungskraft des Rekurses auf das Freizügigkeitsrecht zur Begründung der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten ohnehin andere dogmatische Wege zur Verfügung stehen, um einen effektiven Grundrechtsschutz für die Unionsbürger zu gewährleisten, wird noch an anderer Stelle gezeigt.78

78

Hierzu im dritten Teil.

Zweiter Teil

Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE Geht der Europäische Gerichtshof von einer Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ aus und unterscheidet er insofern zwischen der administrativen Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen, der normativen Umsetzung von Gemeinschaftsrecht und der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten, könnte Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten auf einzelne – den Administrativvollzug und möglicherweise auch die Normumsetzung bezeichnende – Fallgruppen zurückstutzen. Eine solche Vermutung legt der Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE nahe, wonach die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt – eine Formulierung, die der Europäische Gerichtshof nahezu ausnahmslos im Zusammenhang mit dem Vollzug von Gemeinschaftsrecht verwendet.79 Ob sich diese durch die Formulierung in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE angeregte Annahme bewahrheitet und die Charta auf Konfrontationskurs zu der Rechtsprechung des EuGH geht oder ob Charta und Judikatur des EuGH in trautem Einklang stehen, wird im Schrifttum unterschiedlich beurteilt (s. A.) und lässt sich letztlich nur unter Rückgriff auf die klassischen hermeneutischen Auslegungsmethoden ermitteln (s. B.).

A. Der Regelungsgehalt des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE im Spiegel des Schrifttums Die um die Reichweite des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE rankende Diskussion kann als Paradebeispiel dafür gelten, wie unterschiedlich die Anwendung 79 Ebenso S. Magiera, in: H. Bauer/P. M. Huber/Z. Niewiadomski (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum. Referate und Diskussionsbeiträge des XII. Deutsch-Polnischen Verwaltungskolloquiums vom 20.–22. September 2001 in Warschau, S. 21 (31), der prägnant formuliert: „Mit der Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechtecharta ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts wird nur eine Teilformulierung aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs übernommen.“

A. Meinungsstand im Schrifttum

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der Methoden zur Auslegung von Normen gehandhabt wird und welche divergierenden Ergebnisse die Norminterpretation hervorzubringen vermag. Geschuldet ist die Spannbreite der vertretenen Auffassungen und die Vielzahl der vorgetragenen Argumente dreierlei: dem mehrdeutigen Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE, der zu verschiedenen Deutungen der Motive der Chartaväter bereitwillig einladenden Genese dieser Vorschrift und – nicht zuletzt – wohl auch dem Standpunkt, der gegenüber der Judikatur des EuGH zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten jeweils eingenommen wird. Die zur Bestimmung des Normgehalts von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE vorgetragenen Auffassungen reichen von der Interpretation, Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE kodifiziere die Judikatur des EuGH in unveränderter Weise,80 über den Standpunkt, die Charta schränke die in der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen der Bindung der Mitgliedstaaten an die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte – mehr oder minder – ein,81 bis hin zu diplomatischen Willensbe80 So S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 60 ff.; S. Griller, in: A. Duschanek/S. Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, S. 131 (139 f.); N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 37 ff.; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 212 ff.; A. Weber, DVBl. 2003, 220 (223); A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 67 ff.; ebenso wohl A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 202, die der in der Charta gewählten Formulierung wegen der neben der Durchführung von Gemeinschaftsrecht bestehenden weiteren Fallvarianten in der Judikatur des EuGH attestiert, sie greife zu kurz; im Ergebnis offen C. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (2: „Für die Mitgliedstaaten wird mit der Wendung ,Durchführung des Gemeinschaftsrechts‘ eine Formulierung aus der Rechtsprechung des EuGH aufgegriffen, ohne dass die Fragen der Grenzen der Bindung an Gemeinschaftsgrundrechte bei Regelungen im Bereich der Grundfreiheiten und bei der Durchführung von Richtlinien berührt oder gar gelöst werden.“); ebenso offen P. Eeckhout, CMLRev. (2002) 39, 945 (977: „The Charter, however, does not expressly refer to this type of application (scil.: the application of derogations from EC law requirements or of exceptions and justifications for measures hindering free movement in the internal market by member states), and the negotiation documents do not reveal whether this is a deliberate omission or not.“). 81 So M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 2 ff.; G. de Búrca, E.L.Rev. (2001) 26, 126 (136 f.); W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 ff.; C. Calliess, EuZW 2001, 261 (266), zumindest im Hinblick auf die Formulierung in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE; T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 6 EUV Rn. 61; H.-W. Rengeling, in: J. Ipsen/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, S. 225 (241 ff.); ders., DVBl. 2004, 453 (463); R. Streinz, in: dems. (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, Art. 47 GR-Charta Rn. 1 u. Art. 51 GR-Charta Rn. 9; P. J. Tettinger, NJW 2001, 1010 (1010 u. 1014) A. Zimmermann, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zwischen Gemeinschaftsrecht, Grundgesetz und EMRK, S. 23, bezogen auf die Formulierung in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE; vgl. auch M. Ruffert, EuR 2004, 165 (176 ff.), der zwischen geschriebenen Schranken der Grundfreiheiten (keine Durchführung von Gemeinschaftsrecht) und immanenten Schranken (Durchführung von Gemeinschafts-

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

kundungen wie der, dass Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE „jedenfalls keine Erweiterungstendenzen“ innewohnten.82 Umstritten ist dabei in erster Linie, ob Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die Charta respektive die Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten in den Fällen der Berufung auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmebestimmungen von Grundfreiheiten zur Anwendung bringt,83 nur in zweiter Linie auch, ob die Grundrechte für die nationalen Einrichtungen und Organe bei der Umsetzung von Richtlinien gelten.84 Dagegen besteht Einigkeit darüber, dass der in Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE mit dem Verweis auf die „Durchführung des Rechts der Union“ umschriebene Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten bei dem administrativen (unmittelbaren und mittelbaren) Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Regelungen durch die Mitgliedstaaten eröffnet ist.85 So unterschiedlich die Ergebnisse der Interpretationen zu Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE namentlich in Bezug auf die Geltung dieser Norm für Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten sind, so verschiedenartig sind die zur Begründung vorgetragenen Argumente: Soweit eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgelehnt wird, die Grundrechte der Charta bei der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten zu beachten, wird diese Auffassung zum Teil darauf gestützt, dass der Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE den Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten auf die „Durchführung“ des Rechts der Union recht) differenziert; S. Alber/U. Widmaier, EuGRZ 2000, 497 (498 u. 501) sehen den durch Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE eröffneten Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten auf die „Umsetzung des europäischen Rechts“ beschränkt, indes ohne Erläuterung, wie sich diese Annahme mit dem Wortlaut der Norm verträgt. 82 So J. Kühling, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (610). 83 Dazu bereits die Nachweise in Fn. 80 bis 82. 84 Bejahend M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 27; C. Calliess, EuZW 2001, 261 (267); M. Ruffert, EuR 2004, 165 (177); A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 66 f. 85 Vgl. nur M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 28; P. Eeckhout, CMLRev. (2002) 39, 945 (975 f.); J. Kühling, in: A. von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (607); N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 37; M. Ruffert, EuR 2004, 165 (177); W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 215 f.; A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 66; P. J. Tettinger, NJW 2001, 1010, entnimmt Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Durchführung von Unionsrecht nur insoweit, als mitgliedstaatliche Rechtsakte inhaltlich vollständig durch Gemeinschaftsrecht determiniert sind.

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beschränke, wozu mitgliedstaatliche Eingriffe in Grundfreiheiten selbst bei großzügiger Interpretation nicht zählten; entgegenstehende – historische, systematische oder teleologische – Gesichtspunkte könnten die durch den Wortlaut markierte (unüberwindbare) Grenze nicht zu Fall bringen.86 Andere Vertreter der – im Ergebnis – selben Ansicht sehen sowohl in dem Wortlaut als auch in der Entstehungsgeschichte des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE Anhaltspunkte dafür, dass die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung der Staaten an die Erfordernisse des europäischen Grundrechtsschutzes auf die Fälle des Verwaltungsvollzugs (sowie der Umsetzung) gemeinschaftsrechtlicher Regelungen reduziert werden sollte.87 Die Verfechter des gegenteiligen Standpunkts, die in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE eine vollständige Inkorporation der Judikatur des EuGH zur Geltung der Grundrechte für die Mitgliedstaaten erblicken, sehen – ebenso wie einige Vertreter der restriktiven Interpretation des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE – einen Widerspruch zwischen dem Wortlaut der Norm einerseits, der den Anwendungsbereich der Grundrechte auf die administrative und normative Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Stellen beschränke sowie dem teleologischen Horizont88 und/oder dem historischen89 Hintergrund der Vorschrift andererseits, der für eine vollständige Übernahme der von dem EuGH entwickelten Fallgruppen zur Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten stehe; dieser Widerspruch wird – anders als von den Vertretern der restriktiven Deutung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE – zugunsten des Normzwecks bzw. des Willens der Väter der Charta aufgelöst.

86 So W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1454 ff.); T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 6 EUV Rn. 61. 87 So M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 2 ff.; G. de Búrca, E.L.Rev. (2001) 26, 126 (128 ff.); H.-W. Rengeling, in: J. Ipsen/E. Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, S. 225 (241 ff.); ders., DVBl. 2004, 453 (463); M. Ruffert, EuGRZ 2004, 466 (467 f.) u. ders., EuR 2004, 165 (176 ff.), der allerdings auch darauf hinweist, dass die Erläuterungen der Präsidien der Konvente auf die weite Formel der Rechtsprechung Bezug nähmen; R. Streinz, in: dems. (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, Art. 47 GR-Charta Rn. 1 u. Art. 51 GR-Charta Rn. 9. 88 So A. Weber, DVBl. 2003, 220 (223), der eine „sinnorientierte Auslegung“ der Charta anmahnt. 89 So S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 61 f.; S. Griller, in: A. Duschanek/S. Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, S. 131 (139 f.); N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 37; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 212 ff.; A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 67 ff.

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

B. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH? Sowohl der Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE als auch seine Entstehungsgeschichte geben einigen Spielraum zur Interpretation. Beide, die grammatikalische Fassung und die Genese des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE, werden im Folgenden ebenso in den Blick genommen wie die ratio dieser Vorschrift und der systematische Zusammenhang der Norm im Regelungssystem des Verfassungsvertrags. Der auf diese Weise erschlossene Normbereich des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gibt die Antwort darauf, ob die in der Rechtsprechung des EuGH herausgebildeten Fallgruppen zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten sämtlich oder nur teilweise in den Anwendungsbereich der Charta fallen. I. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: (Administrativer) Vollzug Europäischen Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten Die administrative Durchführung europäischen Gemeinschaftsrechts, d.h. der direkte Vollzug unmittelbar verbindlicher Verordnungen oder – ausnahmsweise unmittelbar anwendbarer – Richtlinien sowie der mittelbare Vollzug transformierter Richtlinien, unterfällt dem mit der „Durchführung“ des Unionsrechts beschriebenen Geltungsbereich des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE, in dem die Charta respektive die darin verbürgten Grundrechte für die Mitgliedstaaten Anwendung finden. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und dessen Kontrastierung mit der die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug europäischen Gemeinschaftsrechts prägenden Terminologie des EuGH.90 Die insoweit maßgebliche Wendung „bei der Durchführung des Rechts der Union“ erfasst grammatikalisch (auch) den Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Regelungen durch die Mitgliedstaaten. Darüber hinaus spricht die Entstehungsgeschichte der Norm für eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von Gemeinschaftsrecht.91 Die Freilegung des historischen Hintergrunds von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE enthüllt, dass der mit der Erarbeitung der Charta betraute Konvent jedenfalls in dem Bereich des Vollzugs europäischen Gemeinschaftsrechts eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten begründen wollte, wie sie der EuGH entwickelt hat und in mittlerweile ständiger Rechtsprechung vertritt. Insoweit rezipiert Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die – insbesondere durch die Entscheidungen Klensch, Wachauf, 90 91

Dazu noch im zweiten Teil unter B. III. 1. Hierzu im Einzelnen im zweiten Teil unter B. III. 2.

B. Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH?

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Bostock und Graff geprägte – Rechtsprechung des EuGH und bindet die Mitgliedstaaten bei dem innerstaatlichen Vollzug von Gemeinschaftsrecht an die Grundrechte der Charta.92 II. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: (Normative) Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten Dem Normbereich des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE dürfte prinzipiell auch die weitere – in der Rechtsprechung des EuGH nicht eindeutig entwickelte, aber im Schrifttum diskutierte – Fallgruppe mitgliedstaatlichen Handelns im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, die Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht, unterfallen.93 Ungeachtet der in der Literatur umstrittenen Frage, ob die Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten in diesem Bereich der Umsetzung von Richtlinien zum Tragen kommen und – sofern die Grundrechtsbindung grundsätzlich bejaht wird – in welchem Umfang der nationale Transformationsakt einer Kontrolle am Maßstab der Grundrechte unterliegt,94 steht der Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE einer solchen Einbeziehung der Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich der Charta und damit ihrer Kontrolle am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte offen gegenüber. Die Formulierung, dass die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich „bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt, erfasst nicht nur den Vollzug, sondern auch die Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen.95 In beiden Fällen führen die Mitgliedstaaten Unionsrecht durch, im ersten Fall durch Ausführung unmittelbar verbindlicher Gemeinschaftsrechtsakte im innerstaatlichen Raum, im zweiten Fall durch Umsetzung transformationsbedürftiger Regelungen in nationales Recht. Die Entstehungsgeschichte des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE ist dagegen insoweit unergiebig, da sich in den Dokumenten des Konvents keine Hinweise darauf finden, ob der Konvent diese Fallgruppe der Richtlinienumsetzung bei der Erarbeitung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE vor Augen hatte und ob er sie in den Normgehalt dieser Vorschrift einbeziehen wollte.96 92 Im Ergebnis ebenso die nahezu einhellige Auffassung im Schrifttum, s. hierzu die Nachweise in Fn. 85. 93 Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE wird im Ergebnis ebenso wie hier überwiegend bejaht, s. hierzu bereits die Nachweise in Fn. 84. 94 Zu diesem Meinungsstreit im ersten Teil unter B. II. 95 Zu dieser grammatikalischen Auslegung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE im Einzelnen noch im zweiten Teil unter B. III. 1. 96 Auf die Entstehungsgeschichte des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE wird im zweiten Teil unter B. III. 2. eingegangen.

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

III. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE: Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten Im Gegensatz zu dem Vollzug und der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht könnte die weitere, dritte Fallgruppe, in der der EuGH das Handeln der Mitgliedstaaten am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte überprüft, von dem in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE festgelegten Anwendungsbereich der Charta ausgenommen sein. Angesprochen ist der Schnittstellenbereich zwischen nationalem und europäischem Recht, in dem sich die Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Grundfreiheiten auf – geschriebene oder ungeschriebene – Ausnahmetatbestände des Gemeinschaftsrechts berufen. Ob die Mitgliedstaaten bei solchen Beschränkungen der Grundfreiheiten innerhalb des Anwendungsbereichs der Charta handeln und daher die durch die kodifizierten Gemeinschaftsgrundrechte gezogenen Grenzen beachten müssen, ist umstritten. Der Streit entzündet sich an dem Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und entflammt an der Entstehungsgeschichte dieser Norm.97 Indes geben weder die Wortlautauslegung (s. 1.) noch die Materialien zu Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE (s. 2.) verlässlichen Aufschluss über die Reichweite dieser Bestimmung. Vielmehr beinhalten ihr Telos (s. 3.) und ihre systematische Einbettung (s. 4.) den Schlüssel zur Ermittlung des Normgehalts; sie allein erhellen den Anwendungsbereich der Charta nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und legen den Blick frei auf Umfang und Reichweite der Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta. Das Ergebnis vorweggenommen: Sowohl teleologische Gründe als auch systematische Erwägungen sprechen dafür, dass Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die Mitgliedstaaten nicht nur bei dem Verwaltungsvollzug und der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht, sondern auch bei nationalen Rechtsakten, durch die Staaten den Gewährleistungsbereich von Grundfreiheiten einschränken, an die Grundrechte der Charta bindet. Dies gilt jedenfalls insoweit, als die Gemeinschaftsgrundrechte den Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten dienen, also gewährleistungsbegrenzend neben diese Freiheiten treten. Im Einzelnen: 1. Offenheit des Wortlauts von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE a) Der Wortsinn des Begriffs „Durchführung“ Nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gilt die Charta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. Das zur Bestim97 Zu den verschiedenen Standpunkten im Schrifttum und den zu ihrer Begründung vorgetragenen Argumenten bereits im zweiten Teil unter A.

B. Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH?

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mung des Anwendungsbereichs der Charta hier maßgebliche Wort „Durchführung“ erfasst nach seinem Wortsinn98 beides, sowohl den Vollzug und die Umsetzung europäischen Gemeinschaftsrechts als auch die Anwendung von – geschriebenen oder ungeschriebenen – Ausnahmebestimmungen des Gemeinschaftsrechts, die eine Einschränkung der Grundfreiheiten erlauben. Synonyme für den in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gewählten Begriff „Durchführung“ sind „Anwendung“, „Vollzug“, „Umsetzung“, „Realisierung“, „Verwirklichung“ oder „Ausführung“.99 Das erste Synonym („Anwendung“) entspricht der Terminologie des EuGH zur Umschreibung des gesamten grundrechtsgebundenen Bereichs mitgliedstaatlichen Handelns – und namentlich der Anwendung von Ausnahmeregelungen zur Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten;100 das zweite kennzeichnet die vom EuGH entwickelte Fallgruppe des Verwaltungsvollzugs europäischen Gemeinschaftsrechts; das dritte deutet auf die Umsetzung von Richtlinien hin. Bei isolierter Betrachtung des Wortlauts von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE steht dieser mithin sämtlichen genannten Deutungsmöglichkeiten offen gegenüber. Als „Durchführung“ von Unionsrecht lässt sich dreierlei verstehen: zum einen der administrative Vollzug von Gemeinschaftsrecht, zum anderen die Durchführung von Richtlinien durch Umsetzung in nationales Recht und zum dritten die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten. Nicht nur bei dem Vollzug von Verordnungen und unmittelbar anwendbaren Richtlinien sowie bei der Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht, sondern auch im Rahmen der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten führen die Mitgliedstaaten Gemeinschaftsrecht durch,101 nämlich in Gestalt der geschriebe98 Zu der Bedeutung der grammatikalischen Auslegung als Interpretationsmethode des Gemeinschaftsrechts J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 145 ff.; I. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 128 f. 99 Bezüglich der Begriffe „Verwirklichung“ und „Ausführung“ ebenso – und das weitere Synonym „in die Tat umsetzen“ hinzufügend – A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 66; W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1455 mit Fn. 31), hingegen sieht die Begriffe „Durchführung“ und „Anwendung“ zwar ebenfalls als Synonyme an, verwehrt sich aber gegen eine Gleichsetzung der Begriffe „Anwendung“ und „Anwendungsbereich“: „Insofern sei hervorgehoben, dass es etwas gänzlich anderes bedeutet, wenn die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Unionsrecht die Grundrechte der GRCH zu beachten haben oder ob sie diese zu beachten haben, wenn ihr Handeln in den Anwendungsbereich des Unionsrecht fällt.“; vgl. auch W. Schroeder, AöR 129 (2004), 3 (9). 100 Zu dieser Judikatur des EuGH im ersten Teil unter A. und B. 101 Anderer Ansicht S. Griller, in: A. Duschanek/S. Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, S. 131 (139); W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 213; A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 67, die eine Qualifizierung der Berufung der Mitgliedstaaten auf Ausnahmeklauseln des EG-Vertrags für

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

nen Ausnahmebestimmungen des EG-Vertrags oder der ungeschriebenen „zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses“. Anknüpfungspunkt für die Durchführung des Rechts der Union ist insoweit nicht der mitgliedstaatliche „Eingriff“ in die Grundfreiheiten,102 sondern die Inanspruchnahme der Ausnahmebestimmungen im Gemeinschaftsrecht zu den Grundfreiheiten, auf die sich die Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung ihrer Maßnahmen berufen.103 Eine Begrenzung des Sinngehalts des Begriffs „Durchführung“ auf bestimmte – nur den administrativen Vollzug und/oder die normative Umsetzung von Gemeinschaftsrecht kennzeichnende – Bedeutungen stützt die grammatikalische Auslegung des Begriffs der „Durchführung“ i. S. d. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE nicht. b) Sprachvergleichende Aspekte: Der Begriff „Durchführung“ in der Übersetzung anderer Mitgliedstaaten Für ein solches „extensives“ Verständnis des Normgehalts von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE, das „Durchführung“ als „Anwendung“ des Rechts der Union und damit in einem umfassenden Sinne versteht, lässt sich auch der – sprachvergleichende – Blick auf die Fassungen dieser Norm in den Sprachen der anderen europäischen Mitgliedstaaten fruchtbar machen, von denen hier ein knappes halbes Dutzend herausgegriffen sei. Dem deutschen Wort „Durchführung“ entspricht in der englischen Fassung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE das Wort „implementation“, was sich mit „Durchführung“ oder „Ausführung“ ebenso übersetzen lässt wie mit „Vollzug“, „Umsetzung“104 oder „Anwendung“105. In der französischen Fassung heißt es „mettent en oeuvre“, also „Gebrauch machen“, „anwenden“ oder „ausführen“, und die Italiener nennen mit dem Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE unvereinbar ansehen, da die Mitgliedstaaten insoweit nicht Gemeinschaftsrecht ausführten, sondern in Wahrnehmung eigener Zuständigkeiten handelten. 102 So aber W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1455). 103 In diese Richtung weist auch P. Eeckhout, CMLRev. (2002) 39, 945 (977); differenzierend M. Ruffert, EuR 2004, 165 (177 f.), der die Inanspruchnahme von im EGVertrag normierten Ausnahmeklauseln durch die Mitgliedstaaten nicht als „Durchführung“ von Gemeinschaftsrecht qualifiziert, in der Berufung auf immanente Schranken hingegen eine „Durchführung“ von Gemeinschaftsrecht „im weiteren Sinne“ sieht. 104 Vgl. in diesem Zusammenhang den Entwurf des Präsidiums des Konvents zum Anwendungsbereich der Charta (Vorschlag des Präsidiums des Konvents vom 23.6.2000, Charta 4383/00, Konvent 41), der in der deutschen Fassung lautete, dass die Charta „auf die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Umsetzung des Rechts der Union“ Anwendung finden soll, während die englische Fassung die Formulierung „(. . .) exclusively when they implement Union law (. . .)“ vorsah; hierzu noch im zweiten Teil unter B. III. 2. a). 105 Vgl. auch den Entwurf des Präsidiums des Konvents zum Anwendungsbereich der Charta (Vorschlag des Präsidiums des Konvents vom 8.3.2000, Charta 4149/00, Konvent 13), der in der deutschen Fassung lautete: „Die Bestimmungen dieser Charta richten sich (. . .) an die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“,

B. Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH?

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„Durchführung“ klanghaft „nell’attuazione“, also „Verwirklichung“ oder „Ausführung“. In der spanischen Version erklingt das deutsche Wort „Durchführung“ als „aplicar“, was ins Deutsche übersetzt „anwenden“ heißt, und die niederländische Fassung lautet „ten uitvor brengen“, was „zur Ausführung bringen, „zur Anwendung bringen“ oder „zur Durchführung bringen“ entspricht. Die grammatikalische Interpretation der verschiedenen Sprachfassungen des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE stützt damit eine extensive, sowohl den Vollzug und die Umsetzung europäischen Gemeinschaftsrechts als auch die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten einbeziehende Bestimmung des Anwendungsbereichs der Charta. c) Restriktive Bestimmung des Normgehalts des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE wegen der Begrenzung des Anwendungsbereichs der Charta für die Mitgliedstaaten „ausschließlich“ bei der Durchführung des Rechts der Union? Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem weiteren Begriff in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE „ausschließlich“ oder dessen (systematischem) Zusammenhang mit der Wendung „bei der Durchführung des Rechts der Union“. Die Bedeutung dieser Einschränkung des Anwendungsbereichs der Charta in Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE lässt sich grammatikalisch auf unterschiedliche Weise erfassen. Interpretieren lässt sich diese Formulierung „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ zum einen dergestalt, dass sie Handlungen der Mitgliedstaaten, die keine Durchführung darstellen, außerhalb des Anwendungsbereichs der Charta verweist, was auf einen „engen“ Begriff der Durchführung deuten könnte. Insoweit akzentuierte man den Bezug zwischen den Worten „ausschließlich“ und „Durchführung“ – erkannte dem Wort „ausschließlich“ also eine adjektivische Stellung zu und blendete den Zusammenhang mit den weiteren Begriffen „des Rechts der Union“ aus. Zum anderen ist – bei In-Bezugsetzung der Worte „ausschließlich“ und „des Rechts der Union“, also bei einem eher adverbialen Verständnis des Begriffs „ausschließlich“ – auch eine andere Deutung denkbar, derzufolge Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 den Geltungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten auf die Anwendung von Unionsrecht – in Abgrenzung zu der Anwendung nationalen Rechts – beschränkte. Je nachdem, welche der in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE enthaltenen Worte man akzentuiert bzw. welche Begriffspaare man bildet, ergeben sich verschiedene Lesarten und damit unterschiedliche grammatikalische Auslegungsergebnisse. Anhaltspunkte dafür, dass eine der genannten Lesarten Vorzug

während die englische Fassung die Formulierung „(. . .) when implementing Community law (. . .)“ vorsah; hierzu noch im zweiten Teil unter B. III. 2. a).

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

verdient, lassen sich mit Hilfe der grammatikalischen Deutung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE nicht gewinnen. d) Terminologische Inkongruenz zwischen Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und der Rechtsprechung des EuGH Eine restriktive Interpretation des durch Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE eröffneten Anwendungsbereichs der Charta, wonach mit der „Durchführung“ des Rechts der Union ausschließlich der – unmittelbare und mittelbare – Administrativvollzug von Gemeinschaftsrecht erfasst ist, legt aber der Vergleich mit der Terminologie des EuGH in seiner Rechtsprechung zum Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten nahe.106 Der EuGH verwendet das Wort „Durchführung“ fast ausschließlich – und insoweit nahezu durchgängig – im Zusammenhang mit der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei dem verwaltenden Vollzug von Gemeinschaftsrecht. Namentlich in den Rechtssachen Klensch, Wachauf, Bostock, Graff und Karlsson, die sämtlich die Anwendung von Verordnungen durch die Mitgliedstaaten betrafen, wiederholte der EuGH stereotyp die Formulierung, dass die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung bei der „Durchführung“ der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten hätten.107 Im Gegensatz dazu findet sich diese Formel von der „Durchführung“ des Gemeinschaftsrechts in Entscheidungen des EuGH, in denen er sich mit der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zu befassen hatte, nicht. Vielmehr beschreibt der EuGH – beispielsweise in der Rechtssache ERT – die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Grundrechte, wenn sie sich auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmeregelungen zur Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten berufen, mit den Worten, dass solche nationalen Regelungen „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ lägen, innerhalb dessen die Gemeinschaftsgrundrechte auch für die Mitgliedstaaten gelten.108 Dies gilt sowohl für jene Entscheidungen, in denen der EuGH die Grundrechte als die Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten begrenzende Schranken-Schranken der 106 Soweit in der Literatur vertreten wird, dass sich aus dem Wortlaut des Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE eine Beschränkung der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten auf den Administrativvollzug von (sekundärem) Gemeinschaftsrecht ergebe, wird diese Auffassung überwiegend auf diesen Aspekt der Wortlautauslegung, den Vergleich zwischen der Formulierung in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und der Terminologie des EuGH gestützt, so etwa M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 24; G. de Búrca, E.L.Rev. (2001) 26, 126 (137); A. Zimmermann, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union zwischen Gemeinschaftsrecht, Grundgesetz und EMRK, S. 23. 107 Vgl. die Darstellung der Judikatur des EuGH im ersten Teil unter B. I. 108 Dazu im ersten Teil unter B. III.

B. Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH?

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Grundfreiheiten zur Anwendung bringt, als auch für solche Judikate, in denen er die Grundrechte als die Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten sichernde Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten heranzieht. Die grammatikalische Interpretation des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE ergibt damit insgesamt folgendes Bild: Bei isolierter Betrachtung der Vorschrift steht ihr Wortlaut einer extensiven Interpretation offen gegenüber, die unter dem Begriff der „Durchführung“ von Unionsrecht sowohl die „Anwendung“ als auch den „Vollzug“ oder die „Umsetzung“ gemeinschaftsrechtlicher Regelungen versteht, so dass nicht nur der administrative Vollzug, sondern auch die normative Umsetzung von Gemeinschaftsrecht und die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten erfasst wäre. Öffnet man den Blickwinkel und stellt der Terminologie des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die des EuGH in seiner Rechtsprechung zum Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten gegenüber, kehrt sich das Ergebnis der grammatikalischen Auslegung gleichsam um und reduziert sich der in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE festgelegte Anwendungsbereich der Charta auf einen Ausschnitt aus der Judikatur des EuGH: den administrativen Vollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten. In der Addition ergibt die grammatikalische Interpretation des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE damit ein zweideutiges und mithin offenes Bild,109 das seinen Betrachter auf die weiteren Auslegungsmethoden zur Bestimmung des Normgehalts des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE verweist.110 2. Offenheit der Entstehungsgeschichte des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE Gibt der Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE keinen verbindlichen Aufschluss über den konkreten Normgehalt der Bestimmung, wirft der Blick auf die Materialien kein helleres Licht in das Dunkel, in das die Formulierung dieser Vorschrift den Anwendungsbereich der Charta hüllt. Ungeachtet der grundsätzlichen Frage, welches Gewicht der Entstehungsgeschichte für die Ermittlung des Normgehalts gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften zukommt und welchen Rang die historische Interpretation auf der Bedeutungsskala der Auslegungsmethoden einnimmt,111 lassen sich weder aus den Sitzungsprotokollen des 109 Einen offenen Wortlaut nimmt im Ergebnis auch N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 37, an. 110 Selbst sofern man in dem Wortlaut des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE eine Einschränkung der Rechtsprechung des EuGH und eine Beschränkung der Geltung der Charta für die Mitgliedstaaten auf die Konstellationen des Vollzugs (und der Umsetzung) von Gemeinschaftsrecht sehen wollte (so die in Fn. 86 u. 87 genannten Vertreter aus dem Schrifttum), geböten teleologische Gründe eine Extension des Normbereichs, der sich damit auch auf die Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch die Mitgliedstaaten erstreckte, s. hierzu noch im zweiten Teil unter B. III. 3.

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Konvents und des Europäischen Konvents noch aus den gemeinsamen Erläuterungen der Präsidien beider Konvente oder sonstigen Dokumenten eindeutige Hinweise auf die mit der Regelung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE verfolgten Absichten der Normväter entnehmen. a) Die Beratungen des Konvents Der Verständigung im Konvent auf die Horizontalbestimmung, die den Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten festlegt, gingen zahlreiche Debatten und Formulierungsvorschläge voraus, als deren Ergebnis man sich auf die Vorschrift des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs der Charta verständigte, die später von dem Europäischen Konvent in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE übernommen wurde. Insgesamt wurden im Konvent nicht weniger als ein gutes Dutzend verschiedener Entwürfe zur Regelung des Anwendungsbereichs der Charta unterbreitet: In einem ersten Informationspapier, das die horizontalen Fragen der Charta thematisierte, griff das Sekretariat des Konvents zur Umschreibung des Geltungsbereichs der Charta für die Mitgliedstaaten auf die Terminologie des EuGH zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ zurück, die der Gerichtshof als Oberbegriff für die (Unter-)Fallgruppen des Vollzugs (und der normativen Umsetzung) gemeinschaftsrechtlicher Regelungen sowie der Rechtfertigung mitgliedstaatlicher Beschränkungen der Grundfreiheiten verwendet.112 Eine andere Formulierung für die Regelung des Geltungsbereichs der Charta – als Teil der Präambel oder als Art. 1 – schlug das Präsidium des Konvents in einem ersten Entwurf vor. Der Entwurf sah vor, dass die Charta „für die Mitgliedstaaten nur bei der Umsetzung oder Anwendung des Unionsrechts verbindlich“ ist.113 In den Erläuterungen des Entwurfs erklärte das Präsidium, dieser allgemeine Artikel ziele „darauf ab, klar zum Ausdruck zu bringen, dass der Anwendungsbereich der Charta auf die Europäische Union beschränkt ist und zu vermeiden, dass die Charta auf die Mitgliedstaaten angewandt wird, wenn diese aufgrund ihrer eigenen Befugnisse handeln. Er stützt sich auf die Recht-

111 Hierzu J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 246 ff.; N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 37, die in den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents lediglich „unverbindliche“ Hinweise sieht; I. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 131 f. 112 Informationspapier des Sekretariats des Konvents vom 20.1.2000, Charta 4111/00. 113 Die englische Fassung dieses Entwurfs lautete „(. . .) only where the latter transpose or apply (. . .)“; die französische Fassung enthielt die Formulierung „(. . .) lorsqu’il transposent ou appliquent le droit de l’Union (. . .)“.

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sprechung des Gerichtshofs, die in der Rechtssache Cinéthèque (. . .) und in jüngster Zeit in der Rechtssache Kremzow (. . .) zum Ausdruck kommt“.114 In einem späteren Entwurf präzisierte das Präsidium nicht nur den Standort dieser Horizontalbestimmung der Charta – in Art. 1 –, sondern schlug auch eine andere Fassung vor, die lautete: „Die Bestimmungen dieser Charta richten sich (. . .) an die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“.115 Abermals einen anderen Standort – in Artikel H.1 – und eine (geringfügig) andere Formulierung erhielt die Regelung durch den anschließenden ersten Gesamtvorschlag des Präsidiums für die horizontalen Bestimmungen der Charta. Anknüpfend an den vorangegangenen Entwurf wurde die Begrenzung des Anwendungsbereichs der Charta für die Mitgliedstaaten herausgehoben und bestimmt, dass sie „ausschließlich bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“116 an die Charta gebunden sind. Unter Bezug auf die Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Wachauf 117 und Karlsson118 begründete das Präsidium des Konvents diesen Entwurf damit, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ gelte.119 Auf den Hinweis des Vertreters der niederländischen Regierung K. Altes, der Begriff des „Gemeinschaftsrechts“ sei zu eng gewählt, änderte das Präsidium seinen Entwurf abermals und erstreckte den Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten – als Regelung in Art. 46 Abs. 1 – auf „ausschließlich im Geltungsbereich des Rechts der Union“ liegende Rechtsakte.120 Diese neue Formulierung gab nun für mehrere Mitglieder des Konvents Anlass zu Kritik, die sich in diversen Änderungsvorschlägen artikulierte. Als Reaktion auf den Entwurf plädierten etwa der dänische Vertreter im Konvent J. Olsen121 und sein Landsmann sowie Vertreter des Europäischen Parlaments 114 Vorschlag des Präsidiums des Konvents vom 15.2.2000, Charta 4123/00, Konvent 5. 115 Vorschlag des Präsidiums des Konvents vom 8.3.2000, Charta 4149/00, Konvent 13; die englische Fassung dieses Entwurfs lautete „(. . .) when implementing Community law (. . .)“, die französische Fassung enthielt die Formulierung „(. . .) lorsqu’il mettent en oeuvre le droit communautaire (. . .)“. 116 Vorschlag des Präsidiums des Konvents vom 18.4.2000, Charta 4235/00, Konvent 27. 117 EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 ff. [Wachauf]. 118 EuGH, Rs. C-292/97, Slg. 2000, I-2737 ff. [Karlsson]. 119 Begründung des Präsidiums des Konvents zum Vorschlag vom 18.4.2000, Charta 4235/00, Konvent 27. 120 Vorschlag des Präsidiums des Konvents vom 16.5.2000, Charta 4316/00, Konvent 34; in der englischen Fassung lautete der Entwurf „(. . .) within the scope of Union law (. . .)“, die französische Formulierung hieß „(. . .) dans le champ d’application du droit communautaire (. . .)“.

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J.-P. Bonde122 dafür, die Bezugnahme auf die Mitgliedstaaten vorerst ganz zu streichen und die Frage ihrer Einbeziehung in den Anwendungsbereich der Charta auf später zu vertagen. Der Gesandte der britischen Regierung L. Goldsmith schlug vor, zu der Formulierung „bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts“ zurückzukehren.123 In eine ähnliche Richtung wies der Vertreter der französischen Regierung und stellvertretende Vorsitzende des Konvents G. Braibant mit seinem Vorschlag, die Mitgliedstaaten „ausschließlich im Rahmen der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts“ an die Charta zu binden, da die Wendung „im Geltungsbereich des Rechts der Union“ nicht nur zu weit gefasst, sondern auch zu ungenau formuliert sei.124 Wiederum eine andere Fassung präferierte der Vertreter der Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland J. Gnauck, der in der Formulierung „im Geltungsbereich des Rechts der Union“ die Gefahr einer zu weitgehenden Bindung der Mitgliedstaaten sah; diese Gefahr bestehe insbesondere, wenn die Union von einer Handlungsermächtigung noch keinen Gebrauch gemacht habe. J. Gnauck schlug daher vor, den Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten mit den Worten „ausschließlich bei der Umsetzung und Durchführung des Gemeinschaftsrechts“ zu regeln.125 Schließlich kritisierte der deutsche Vertreter I. Friedrich, die Definition „im Geltungsbereich des Rechts der Union“ könne dahingehend (miss-)verstanden werden, dass die Mitgliedstaaten auch bei der Behandlung innerstaatlicher Sachverhalte an die Charta gebunden seien. Er beantragte, die Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta nur festzuschreiben, „soweit diese unmittelbar Unions- oder Gemeinschaftsrecht anwenden“.126 Das Präsidium des Konvents ließ diese Vielzahl der Änderungsanträge nicht unbeeindruckt. Es kehrte zu einem seiner früheren Formulierungsentwürfe zurück, der vorsah, dass die Charta „auf die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Umsetzung des Rechts der Union“ Anwendung finden soll.127 Doch auch mit dieser Formulierung hatte es – zumindest in der deutschen Fassung – kein Bewenden. In dem ersten Gesamtentwurf der Charta wurde in der deutschen Fassung der Begriff „Umsetzung“ durch „Durchführung“ ersetzt und der Anwendungsbereich der Charta nunmehr – als Art. 49 Abs. 1 – mit den Worten beschrieben: „Diese Charta gilt für (. . .) die Mitgliedstaaten ausschließ121

Änderungsantrag Nr. 370, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000. Änderungsantrag Nr. 371, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000. 123 Änderungsantrag Nr. 372, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000. 124 Änderungsantrag Nr. 375, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000. 125 Änderungsantrag Nr. 377, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000. 126 Änderungsantrag Nr. 378, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000. 127 Vorschlag des Präsidiums des Konvents vom 23.6.2000, Charta 4383/00, Konvent 41; die englische Fassung des Entwurfs lautete „(. . .) exclusively when they implement Union law (. . .)“, die französische Fassung hieß „(. . .) exclusivement dans la mise en oeuvre du droit de l’Union (. . .)“. 122

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lich bei der Durchführung des Rechts der Union“.128 Im Gegensatz hierzu blieben die englische und die französische Sprachfassung des Vorentwurfs129 unberührt; sie wurden unverändert in Art. 49 Abs. 1 des Entwurfs der Charta übernommen. An dieser Formulierung wiederum stieß sich der Delegierte des österreichischen Nationalrates C. Einem. Er trat dafür ein, die Mitgliedstaaten „nicht nur bei der unmittelbaren Durchführung, sondern immer im Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union an die Rechte und Freiheiten der Charta“ zu binden, um dem „Grundgedanken eines einheitlichen europäischen Grundrechtsraumes (. . .) umfassend Rechnung zu tragen“. Dieser einheitliche europäische Grundrechtsraum sollte nach seiner Ansicht dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass die Charta „für die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Rechts der Europäischen Union“ gilt.130 Ebenfalls kritisch gegenüber der letzten Entwurfsfassung des Konventspräsidiums äußerte sich das Mitglied des Deutschen Bundestags P. Altmeier in informellen Sitzungen des Konvents zur Koordinierung der Vertreter der nationalen Parlamente. P. Altmaier beanstandete die – in Art. 49 – gewählte Terminologie unter Hinweis darauf, dass es in der deutschen Sprache einen klaren Unterschied zwischen den Begriffen „Durchführung“ und „Anwendung“ gebe; Richtlinien würden durchgeführt und Verordnungen angewandt. Er gab zu Bedenken, dass ein großer Teil des Anwendungsbereichs entfiele, wenn die Charta Gültigkeit nur in Bezug auf die Durchführung des Rechts der Union beanspruchen sollte. Er regte daher – ebenso wie der österreichische Abgeordnete C. Einem – an, die Terminologie zu überdenken131 und den Geltungsbereich der Charta auf das Handeln der Mitgliedstaaten „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu erweitern.132 Diese beiden letzten Vorstöße zur Änderung des Entwurfs der Regelung zum Anwendungsbereich der Charta blieben indes ohne Gehör. Das Präsidium hielt an seinem letzten Regelungsvorschlag unverändert fest, der als Art. 51 Abs. 1 Satz 1 vom Konvent in den Entwurf der Charta übernommen wurde.

128 Vorschlag des Präsidiums des Konvents in dem ersten Gesamtentwurf der Charta vom 28.7.2000, Charta 4422/00, Konvent 45. 129 Vgl. Fn. 127. 130 Nachzulesen bei N. Bernsdorff/M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 360. 131 Bericht der 16. informellen Konventssitzung (Koordinierungssitzung der Vertreter der nationalen Parlamente) zur Erarbeitung einer EU-Charta der Grundrechte am 11./12.9.2000 in Brüssel, abgedruckt in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 362. 132 Bericht der 17. informellen Konventssitzung (Koordinierungssitzung der Vertreter der nationalen Parlamente) zur Erarbeitung einer EU-Charta der Grundrechte am 25./26.9.2000 in Brüssel, abgedruckt in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 380.

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

Der Streifzug durch die Entstehungsgeschichte der Charta zeigt, dass die Entwürfe im Konvent zur Normierung des Geltungsbereichs der Charta von anfänglichen Formulierungen, die typischerweise die Transformation von Richtlinien in nationales Recht prägen („Umsetzung“), über Vorschläge reichten, die im Wortlaut den Äußerungen des EuGH entsprachen, mit denen er den gesamten grundrechtsgebundenen Raum mitgliedstaatlichen Handelns – einschließlich der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten – beschreibt („im „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“); schließlich mündete die Arbeit des Konvents in eine Formulierung, die der Terminologie des EuGH zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von Verordnungen entspricht („Durchführung“). Aus welchen Gründen die letztlich gewählte Formulierung Eingang in die Charta fand und in welchem Umfang die Mitglieder des Konvents dadurch die Mitgliedstaaten an die Charta respektive die Grundrechte binden wollten, erhellt aus den Beratungen des Konvents nicht: Der erste Entwurf des Präsidiums enthüllt, dass der Konvent die Begriffe „Umsetzung und Anwendung“ als inhaltlich unterschiedlich besetzt ansah, da anderenfalls ihre kumulative Aufzählung nicht erforderlich gewesen wäre. Demgegenüber verwendet der EuGH den Begriff „Anwendung(-sbereich)“ des Gemeinschaftsrechts im Zusammenhang mit der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten als Oberbegriff für „Durchführung“ (sowie „Umsetzung“) von Gemeinschaftsrecht und „Rechtfertigung von Beschränkungen von Grundfreiheiten“, die einen jeweils unterschiedlichen Ausschnitt der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten markieren. Die Regelungsabsichten der Chartaväter werden nicht klarer, sondern (noch) nebulöser, bezieht man den Verweis des Präsidiums des Konvents auf die Urteile des EuGH zu den Rechtssachen Cinéthèque und Kremzow in die Deutungsbemühungen ein. Zwar ging es in beiden Fällen um die Frage, ob der „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ betroffen ist und die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind. In keinem Fall ging es jedoch um Aspekte der Grundrechtsbindung bei der „Umsetzung“ von Gemeinschaftsrecht. Das Urteil in der Rechtssache Kremzow hatte vielmehr die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für mitgliedstaatliche Maßnahmen im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zum Gegenstand;133 die Bezugnahme des Präsidiums auf dieses Urteil lässt den Schluss zu, dass der Konvent auch solche mitgliedstaatlichen Rechtsakte als „Umsetzung“ oder „Anwendung“ ansah und dem Geltungsbereich der Charta unterstellen wollte.134

133

Hierzu im ersten Teil unter B. III. 3. Fn. 75. Vgl. auch T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EUVertrag und EG-Vertrag, Art. 6 EUV Rn. 61 Fn. 165. 134

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Auf wiederum andere Entscheidungen nahm das Präsidium indes zur Begründung seiner Formulierung in dem ersten Gesamtvorschlag für die horizontalen Bestimmungen der Charta („ausschließlich bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts“) Bezug. Es erläuterte den Begriff „Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ mit dem Hinweis auf die Judikate Wachauf und Karlsson, die beide die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von EGVerordnungen betreffen,135 was sich als Anhaltspunkt dafür werten lässt, dass der Anwendungsbereich der Charta auf dieses Feld mitgliedstaatlicher Maßnahmen begrenzt sein sollte.136 Grund für die erneute Änderung des Regelungsentwurfs zum Anwendungsbereich der Charta in die Formulierung „ausschließlich bei der Umsetzung des Rechts der Union“ war die – durch die zwischenzeitliche Änderung in den Entwurf „ausschließlich im Geltungsbereich des Rechts der Union“ entfachte – Kritik mehrerer Mitglieder, die in jener Fassung die Gefahr einer zu weitgehenden Bindung der Mitgliedstaaten sahen. Der Reaktion des Präsidiums des Konvents auf diese Kritik lässt sich entnehmen, dass es bewusst von seinem vorherigen Entwurf Abstand nehmen wollte, die Mitgliedstaaten im gesamten Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts an die Charta und ihre Grundrechte zu binden, und statt dessen die Charta für die Mitgliedstaaten nur in einem Teilausschnitt – der „Umsetzung“ – des Gemeinschaftsrechts zur Anwendung zu bringen gedachte. Aus welchen Gründen schließlich später der Begriff „Umsetzung“ durch den der „Durchführung“ ersetzt wurde, geht aus den Konventsmaterialien nicht hervor. Letztlich könnten hierfür sprachliche Erwägungen, konkret: die Angleichung der deutschen Fassung an die englische Formulierung „(. . .) exclusively when they implement Union law (. . .)“ sowie an die französische Fassung „(. . .) exclusivement dans la mise en oeuvre du droit de l’Union (. . .)“ den Ausschlag gegeben haben, da man möglicherweise der Auffassung war, dass diese englische bzw. französische Fassung mit „Durchführung“ statt mit „Umsetzung“ zutreffender übersetzt würde. Eine Deutungsalternative ist, dass der Konvent mit der Streichung des Wortes „Umsetzung“ zugunsten des Begriffs „Durchführung“ die Terminologie des EuGH aus dessen Urteil in der Rechtssache Karlsson137 übernehmen wollte, welches nur wenige Monate zuvor ergangen war.138 Dass die Rechtssache Karlsson den Vollzug von Verordnungen durch einen Mitgliedstaat zum Gegenstand hatte, könnte dabei eine eher untergeordnete – wenn nicht sogar keine – Rolle gespielt haben, wenn sich nämlich der Konvent 135

Dazu im ersten Teil unter B. I. Zu einer anderen Deutungsmöglichkeit für die Bezugnahme auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache Karlsson noch sogleich. 137 Zu diesem Judikat des EuGH und der darin verwendeten Terminologie bereits im ersten Teil unter B. I. sowie noch sogleich. 138 Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Karlsson datiert vom 13.4.2000. 136

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schlicht deswegen an der Terminologie des EuGH in der Rechtssache Karlsson orientierte, weil sie zum Zeitpunkt der Konventsberatungen139 die jüngste Entscheidung des Gerichtshofs zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte darstellte.140 Aus der Erfolglosigkeit der anschließenden Vorstöße der österreichischen Delegierten C. Einem und des Mitglieds des Deutschen Bundestags P. Altmaier, die Formulierung „Durchführung“ im Interesse einer umfassenden Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta durch die Worte „im Anwendungsbereich“ des Unionsrechts zu ersetzen, lässt sich die These stützen, dass der Konvent den Geltungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten bewusst nicht in diesem Sinne erweitern, sondern auf einen Teilbereich des Gemeinschaftsrechts – dessen Durchführung – begrenzen wollte. Aus den Beratungen des Konvents zur Charta lassen sich damit letztlich Argumente für beides gewinnen: zum einen für eine Einbeziehung der durch den EuGH entwickelten Fallgruppe der Grundrechtsverpflichtung der Mitgliedstaaten bei der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten in den Anwendungsbereich der Charta und zum anderen für eine Restriktion der Geltungsreichweite der Charta auf die „Durchführung“ des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten in Gestalt des Vollzugs von Verordnungen. Für das erste Auslegungsergebnis lässt sich vor allem die Bezugnahme des Konvents auf die Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Kremzow fruchtbar machen; für die zweite – restriktive – Interpretation streitet der Verweis auf die Rechtssache Wachauf – dagegen eher nicht der Verweis auf die Rechtssache Karlsson –, die Abstandnahme von früheren Entwürfen des Präsidiums zur Beschreibung des Geltungsbereichs der Charta zugunsten der Formulierung „Durchführung“ als Reaktion auf entsprechende Kritik und „Warnungen“ von Konventsmitgliedern vor einer Ausuferung der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten141 und letztlich das Festhalten des Konvents an dem Begriff „Durchführung“ trotz nachdrücklicher Aufforderungen zur sprachlichen Erweiterung des Geltungsbereichs der Charta. b) Die Beratungen des Europäischen Konvents Auf eine extensive Interpretation des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE, die den Anwendungsbereich der Charta in einem umfassenden Sinne versteht, dem 139 Der Entwurf des Vorschlags des Präsidiums des Konvents, in dem der Begriff „Umsetzung“ durch „Durchführung“ ersetzt wurde, stammt vom 28.7.2000, s. Fn. 128. 140 Für diese Deutung spricht sich S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 152, aus. 141 In diese Richtung deutet auch C. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (2 mit Fn. 7); ebenso M. Ruffert, EuGRZ 2004, 466 (467).

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sämtliche in der Rechtsprechung des EuGH zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte entwickelten Gruppen unterfallen, deuten die Äußerungen von Mitgliedern des mit der Erarbeitung des Verfassungsvertrags beauftragten Europäischen Konvents hin. Der Europäische Konvent übernahm den Vorschlag des Konvents zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs der Charta unverändert – als Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 – in die Verfassung, setzte sich aber bei seinen Beratungen im Vorfeld mehrfach mit einzelnen Aspekten dieser Horizontalbestimmung auseinander. Namentlich der französische Vertreter M. Petite legte in einem Beitrag zur Frage der Verbindlichkeit der Charta nach ihrer Einbeziehung in die Verfassung dar, die vom Konvent erarbeitete Formulierung in Art. 51 Absatz 1 des Entwurfs der Charta greife die derzeitige Rechtsprechung des EuGH zur Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte auf die Handlungen der Mitgliedstaaten auf; die von der Kommission und vom Gerichtshof diesbezüglich bislang verfolgte äußert vorsichtige Linie werde daher auch nach Einbeziehung der Charta weiter gelten.142 Diese Äußerung, die im Europäischen Konvent unwidersprochen blieb, ist ein (weiteres) Indiz dafür, dass der Europäische Konvent die Rechtsprechung des EuGH zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten insgesamt und uneingeschränkt in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE kodifizieren wollte. c) Die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents Hinweise auf die Regelungsabsichten des Konvents geben schließlich die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs der Charta – in der aktualisierten Fassung der Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents zu Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE –, obgleich auch sie letztlich die bestehenden Ungereimtheiten nicht beseitigen. In den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, denen das Präsidium selbst „als solchen zwar keinen rechtlichen Status“ beimisst, in ihnen aber „ein nützliches Interpretationswerkzeug“ sieht, „das dazu dient, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen“,143 heißt es wörtlich: „Was die Mitgliedstaaten betrifft, so ist der Recht142 Europäischer Konvent 223/02 vom 31.7.2002, Kurzniederschrift über die Sitzung vom 23.7.2002. 143 Vgl. die Vorbemerkung zu den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, Charta 4473/00, Konvent 49 vom 11.10.2000 in der durch das Präsidium des Europäischen Konvents aktualisierten Fassung vom 18.7.2003, Konvent 828/03; zu der Frage der Verbindlichkeit der Erläuterungen der Charta durch das Präsidium T. Kingreen, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, Art. 6 EUV Rn. 61 Fn. 165, der sich für eine Berücksichtigung der Erläuterungen des Präsidiums im Rahmen der genetischen Auslegung ausspricht; vgl. auch S. Griller, in: A. Duschanek/S. Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, S. 131 (139: Heranziehung der Erläuterungen „als historisches Material zur Klärung von Zweifelsfragen“); W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungs-

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sprechung des Gerichtshofs eindeutig zu entnehmen, dass die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln (Urteil vom 13. Juli 1989, Wachauf, Rechtssache 5/88, Slg. 1989, S. 2609; Urteil vom 18. Juni 1991, ERT, Slg. 1991, I-2925; Urteil vom 18. Dezember 1997, Rechtssache C-309/96, Annibaldi, Slg. 1997, S. I-7493). Der Gerichtshof hat diese Rechtsprechung wie folgt bestätigt: ,Die Mitgliedstaaten müssen bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen aber auch die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung beachten.‘ (Urteil vom 13. April 2000, Rechtssache C-292/97, Slg. 2000, S. I-2737 Randnr. 37). Diese in der Charta verankerte Regel gilt natürlich sowohl für die zentralen Behörden als auch für die regionalen oder lokalen Stellen sowie für die öffentlichen Einrichtungen, wenn sie das Unionsrecht anwenden.“144 Die ausdrückliche Bezugnahme des Präsidiums nicht nur auf die Rechtssache Wachauf und das Urteil des EuGH vom 13. April 2000 – die Rechtssache Karlsson –, sondern auch auf die Rechtssache ERT spricht dafür, dass der Konvent mit der Formulierung in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE – dem vormaligen Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Charta – die Mitgliedstaaten nicht nur bei dem Vollzug von EG-Verordnungen – um dem es in der Rechtssache Wachauf und Karlsson ging – an die Grundrechte der Charta binden wollte, sondern als „Durchführung des Rechts der Union“ auch solche Maßnahmen der Mitgliedstaaten betrachtete, die – wie in der Rechtssache ERT – gestützt auf Ausnahmebestimmungen des EG-Vertrags die Ausübung der Grundfreiheiten einschränken. Verstärkend tritt hinzu, dass das Präsidium die Formulierung in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE mit den Worten erläutert, die Mitgliedstaaten seien zur Einhaltung der Grundrechte verpflichtet, „wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln“ bzw. „wenn sie das Unionsrecht anwenden“. In den Augen des Präsidiums stellen diese Formulierungen mithin Synonyme für den Begriff „Durchführung“ in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE dar. Die Wendungen „Handeln im Anwendungsbereich des Unionsrechts“ und „Anwendung“ von Gemeinschaftsrecht entsprechen indes eben jener Terminologie, mit der der EuGH – namentlich in den Rechtssachen Society for the Protection of Unborn adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 214: „Auslegungshilfen der Grundrechtecharta“; A. Weber, DVBl. 2003, 220 (223); A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 68 f.; zurückhaltend J. Schwarze, EuR 2003, 535 (563: „Der rechtliche Gehalt des Hinweises auf die Erläuterungen des Präsidiums ist jedoch deutlich begrenzt.“); gegen verbindliche Rechtswirkungen der Erläuterungen des Konventspräsidiums für die Auslegung der Bestimmungen der Grundrechtecharta jedenfalls bei entgegenstehendem Wortlaut der Norm W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1455 f.). 144 Charta 4473/00, Konvent 49 vom 11.10.2000 in der durch das Präsidium des Europäischen Konvents aktualisierten Fassung vom 18.7.2003, Konvent 828/03.

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Children Ireland, ERT und Annibaldi – sämtliche Fallgruppen mitgliedstaatlichen Handelns im Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte umschreibt, zu denen auch jene Konstellationen zählen, in denen sich die Mitgliedstaaten auf – geschriebene oder ungeschriebene – Ausnahmebestimmungen berufen, um Regelungen zu rechtfertigen, die Grundfreiheiten des EG-Vertrags beschränken.145 Zweifel an dem Willen des Konvents, mit der in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gefundenen Formulierung die Judikatur des EuGH zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten in einem umfassenden Sinne zu rezepieren, weckt dagegen der Verweis des Präsidiums auf das Urteil vom 13. April 2000 in der Rechtssache Karlsson als „Bestätigung“ der Rechtsprechung des EuGH in den Judikaten Wachauf, ERT und Annibaldi. Da jedenfalls die Urteile Wachauf und ERT nicht dieselben, sondern verschiedene Felder des Handelns der Mitgliedstaaten im Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte betreffen, ließe sich argumentieren, dass die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Karlsson – welche die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei dem Vollzug von Verordnungen zum Gegenstand hat – nur eine Bekräftigung der Rechtsprechung in der Rechtssache Wachauf, nicht hingegen eine Bestätigung des Urteils ERT – das die Grundrechtsbindung bei Maßnahmen im Anwendungsbereich von Grundfreiheiten betrifft – darstellt. Auch könnte dies die Befürchtung nähren, dass der Konvent bei den Beratungen der Charta frei von Detailwissen um den Inhalt der Judikate war, auf die er verwies. Jedoch ließe sich der Hinweis auf diese Reihe von Urteilen des EuGH auf der anderen Seite auch in der Weise deuten, dass das Präsidium des Konvents mit seinem Hinweis auf die Rechtssache Karlsson als Bestätigung der Urteile Wachauf, ERT und Annibaldi nicht auf die einzelnen – in den Urteilen jeweils unterschiedlichen – Fallgruppen der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung, sondern lediglich auf die generelle Linie in der Judikatur des EuGH zur Geltung der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte für die Mitgliedstaaten Bezug nehmen wollte, die der Gerichtshof letztlich in jeder dieser Entscheidungen bestätigt und zu deren Erläuterung das Präsidium die genanten Entscheidungen insoweit nur beispielhaft herausgegriffen hätte. Eine solche Lesart stützte die These, dass der Konvent den Anwendungsbereich der Charta für die Mitgliedstaaten in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH festlegen und nicht auf einzelne (Teil-)Bereiche beschränken wollte. Aus der historischen Auslegung lassen sich damit sowohl Anhaltspunkte für eine restriktive, auf die Durchführung von Verordnungen beschränkte Interpretation des Regelungsgehalts von Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gewinnen als auch Hinweise für ein extensives Verständnis des Anwendungsbereichs der Charta entnehmen, dem die Mitgliedstaaten auch dann unterfielen, wenn sie 145

Hierzu im ersten Teil unter A. und B.

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nicht gemeinschaftsrechtliches Sekundärrecht, sondern Primärrecht in Gestalt von Ausnahmebestimmungen der Grundfreiheiten anwenden.146 Je nachdem, welche Entwürfe, Vorschläge und Äußerungen des Konvents man akzentuiert, schlägt das Pendel zugunsten der einen (auf die Durchführung von Verordnungen begrenzten) oder anderen (auf mitgliedstaatliche Maßnahmen im gesamten Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bezogenen) Auslegung des Geltungsbereichs der Charta aus. Ausgeschlossen erscheint weder diese noch jene Deutung und letztlich auch nicht das bei Durchsicht der Materialien aufkeimende Gefühl, dass der Konvent – mit Ausnahme einzelner Mitglieder – bei der Erarbeitung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE ohne eine detailgenaue Kenntnis der Judikatur des EuGH auskommen musste. Eindeutig und mit einiger Sicherheit lässt sich der Wille des Konvents mit Hilfe der Entstehungsgeschichte des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE nicht ermitteln.147 3. Teleologische Auslegung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE Für eine Einbeziehung der Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich der Charta nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE, wenn sie sich auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmebestimmungen zur Rechtfertigung von Beschränkungen der 146 Vgl. auch S. Magiera, in: H. Bauer/P. M. Huber/Z. Niewiadomski (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum. Referate und Diskussionsbeiträge des XII. Deutsch-Polnischen Verwaltungskolloquiums vom 20.–22. September 2001 in Warschau, S. 21 (32), der zutreffend darauf hinweist, dass die Entstehungsgeschichte der Charta insoweit wechselnde Formulierungen aufweise und auch in den von dem Konvent in Bezug genommenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zwar „fallbezogen nur von Durchführung“ die Rede sei, der Europäische Gerichtshof in diesen Judikaten jedoch wiederum auf seine frühere Rechtsprechung verweise, die auch den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts einbeziehe; ebenso ders., in: D. H. Scheuing (Hrsg.), Europäische Verfassungsordnung, S. 117 (127 f.). 147 Da sich das Ergebnis der historischen Auslegung als offen präsentiert und namentlich nicht im Widerspruch zu der grammatikalischen Auslegung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE steht, kann die Frage, welche Bedeutung der historischen Auslegung für die Ermittlung des Normgehalts der Charta zukommt und wie ihr Verhältnis zu den weiteren Auslegungsmethoden, insbesondere der grammatikalischen Interpretation, zu bestimmen ist, dahinstehen. Angesichts der Bestimmung in der Präambel der Grundrechtecharta, wonach die Charta – namentlich im Zusammenhang mit den durch den EuGH entwickelten Rechten, welche die Charta bekräftigt – „unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen, die unter der Leitung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents aktualisiert wurden“, auszulegen ist und der Regelung in Art. II-112 Abs. 7 VVE, der bestimmt, dass „die Erläuterungen (. . .) als Anleitung für die Auslegung der Charta der Grundrechte verfasst wurden“ und „von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen“ sind, lassen sich die Erläuterungen des Präsidiums allerdings kaum mit einer Nebenrolle bei der Chartainterpretation abspeisen. Zu diese Frage eingehend J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 246 ff.; A. Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 539; I. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 128 ff.

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Grundfreiheiten der Unionsbürger berufen, streiten entschieden teleologische Erwägungen.148 Ausweislich der Beratungen des mit der Erarbeitung der Charta befassten Konvents und des mit der Ausarbeitung des Verfassungsvertrags betrauten Europäischen Konvents war die konkrete Formulierung der Regelung in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs der Charta bzw. in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE von dem Bestreben getragen, den Mitgliedstaaten die Furcht vor einer (weiteren) Einschränkung ihrer Souveränität durch die Europäische Union zu nehmen. Namentlich in der Integration der Charta in den rechtsverbindlichen Vertragstext der Europäischen Verfassung sahen die Mitgliedstaaten die Gefahr, dass die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte in weitem Umfang auch für nationale Rechtsakte zum Tragen kommen und im Ergebnis einen Kompetenzzuwachs der Union sowie – als Kehrseite – einen Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten bewirken könnten.149 Diese Bedenken sollten durch eine eher restriktiv anmutende Fassung der Horizontalbestimmungen der Charta, die die für sämtliche Grundrechte geltenden grundsätzlichen Fragen der Anwendung und Auslegung regeln, namentlich durch die Formulierung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE zerstreut werden. Dieses Motiv des Konvents, den Mitgliedstaaten durch eine zurückhaltende Umschreibung des Anwendungsbereichs des Charta in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die Sorge um eine Ausdehnung der Kompetenzen der Gemeinschaft auf nationale Regelungsbereiche zu nehmen, lässt sich zum einen aus der Vielzahl der Entwürfe des Präsidiums des Konvents zu Art. 51 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs der Charta sowie den begleitenden Debatten, Änderungsanträgen und Stellungnahmen der Konventsmitglieder herauslesen; in ihnen trat wiederholt und klar die Absicht zu Tage, den Anwendungsbereich der Charta zuvörderst auf die Europäische Union zu beziehen und eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta bei Handeln auf Grund eigener, nationaler Befugnisse zu vermeiden.150

148 Zu der Bedeutung der teleologischen Auslegung als Interpretationsmethode des Gemeinschaftsrechts J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 198 ff.; I. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 130 f. 149 Ebenso S. Alber/U. Widmaier, EuGRZ 2000, 497 (501); S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 55 u. 150 ff.; G. de Búrca, E.L.Rev. (2001) 26, 126 (136 f.); C. Calliess, EuZW 2001, 261 (266); C. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (2); S. Griller, in: A. Duschanek/S. Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa. Die Europäische Union nach Nizza, S. 131 (144); A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 68; N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 37; M. Ruffert, EuR 2004, 165 (178); J. Schwarze, EuR 2003, 535 (563); A. Wallrab, Die Verpflichteten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 201 f.

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Zum anderen wurde auf diese Funktion des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE auch während der Verfassungsberatungen des Europäischen Konvents explizit hingewiesen. In der sechsten Sitzung der Arbeitsgruppe „Charta/EMRK“, welche die Auswirkungen einer Einbeziehung der Charta in die Verträge zum Gegenstand hatte und in deren Zuge der Vorsitzende der Gruppe A. Vitorino Vorschläge für technische Anpassungen der horizontalen Artikel der Charta unterbreitete, brachten Mitglieder des Europäischen Konvents zum Ausdruck, dass es auf der Grundlage dieser Änderungen für sie sehr viel einfacher sei, ihre nationalen Regierungen und Parlamente für eine Aufnahme der Charta in die Verträge zu gewinnen.151 In der letztendlichen Wortwahl in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE spiegelt sich mithin die Sorge der Mitgliedstaaten vor einer Ausdehnung der Kompetenzen der Gemeinschaft und einen Bedeutungsverlust der nationalen (Verfassungs-) Ordnungen als Folge rechtsverbindlicher Geltungskraft der Charta wider. Die Befürchtung der Mitgliedstaaten, es könne zu einem (weiteren) Souveränitätsverlust kommen, und die damit einhergehenden Bestrebungen, einer Ausweitung der Kompetenzen der Europäischen Union entgegenzutreten und namentlich der Jurisdiktionsgewalt des EuGH Grenzen zu setzen, veranlasste den Grundrechtskonvent, die Horizontalbestimmung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE in ein „bescheidenes“ Gewand zu kleiden und sie den Mitgliedstaaten als Garant gegen eine Aushöhlung ihrer Kompetenzen vorzustellen. Pointiert: Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE diente als Lockvogel, um den Mitgliedstaaten die Unterzeichnung der Charta „schmackhaft“ zu machen. Mit diesen Motiven und Zwecken, die die Entstehung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE und seine konkrete Formulierung prägten, verträgt sich eine Absage an die Geltung der Grundrechte für die Mitgliedstaaten bei Maßnahmen im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten nicht – wenigstens nicht bei solchen mitgliedstaatlichen Rechtsakten, die Grundfreiheiten der Unionsbürger zum Schutze grundrechtlicher Gewährleistungen einschränken. Die Grundrechte kommen insoweit als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten gewährleistungsbegrenzend zum Tragen und bilden einen Rechtfertigungsgrund 150 s. etwa die Begründung des Präsidiums des Konvents zu seinem Entwurf vom 15.2.2000, Charta 4123/00, Konvent 5; die Änderungsanträge Nr. 370, Charta 4372/ 00, Konvent 39 vom 16.6.2000; Nr. 371, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000; Nr. 372, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000; sowie ferner die Änderungsanträge Nr. 375, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000; Nr. 377, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000 sowie Nr. 378, Charta 4372/00, Konvent 39 vom 16.6.2000 und deren jeweilige Begründungen; s. auch den als Reaktion auf diese Änderungsvorschläge unterbreiteten Entwurf des Präsidiums des Konvents vom 23.6. 2000, Charta 4383/00, Konvent 41; hierzu insgesamt bereits im zweiten Teil unter B. III. 2. 151 Europäischer Konvent 351/02 vom 17.10.2002, Kurzniederschrift über die Sitzung der Gruppe II (Charta/EMRK) vom 7.10.2002.

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für Eingriffe der Mitgliedstaaten in Grundfreiheiten der Bürger. Wollte man die Geltung der Grundrechte für die Mitgliedstaaten bei Maßnahmen im Gewährleistungsbereich der Grundfreiheiten ablehnen und den Anwendungsbereich der Charta nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE auf den Vollzug von Verordnungen und die Umsetzung von Richtlinien beschränken, verschlösse man den Mitgliedstaaten – mangels Grundrechtsbindung – den Rekurs auf die Grundrechte zur Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten und verkürzte damit ihren Handlungsspielraum. Um die Argumentation am Beispiel der Rechtssache Schmidberger zu verdeutlichen: Könnten sich die Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Handlungen, die Grundfreiheiten beschränken, nicht auf Grundrechte des Gemeinschaftsrechts berufen, wären ihnen Maßnahmen wie die Sperrung der BrennerAutobahn für Zwecke einer Versammlung verwehrt, durch die Grundfreiheiten von Wirtschaftsteilnehmern der Europäischen Union (wie der Spediteure) im Interesse nicht wirtschaftlicher – geistig, sozial oder politisch motivierter – Freiheiten der Bürger (wie der Demonstranten) beschränkt werden. Eine solche Beschneidung der Handlungsmacht der Mitgliedstaaten trüge nicht zur Beschwichtigung ihrer Sorge vor einem Kompetenzzuwachs der Europäischen Union und einer Beeinträchtigung ihrer Souveränität bei, sondern gösse im Gegenteil Öl in die Wogen mitgliedstaatlicher Verfassungsskepsis und schürte die Ängste vor einer rechtsverbindlichen Geltung der Charta als Bestandteil der Europäischen Verfassung.152 Unter teleologischen Gesichtspunkten muss daher die Regelung des Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE in einem weiten Sinne interpretiert werden und müssen sämtliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die im Sinne der Rechtsprechung des EuGH „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ – bzw. in Zukunft des Unionsrechts – liegen, dem Geltungsbereich der Charta unterfallen. An die Grundrechte gebunden sind die Mitgliedstaaten nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags, demzufolge nicht nur bei administrativem Vollzug und normativer Umsetzung von Unionsrecht, sondern auch, wenn sie sich zur Rechtfertigung von Eingriffen in Grundfreiheiten auf die im Vertrag normierten oder in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten ungeschriebenen Ausnahmegründe berufen, die dem Schutz von Grundrechten des Gemeinschaftsrechts – als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten – dienen.153 152 Anderer Auffassung – indes ohne Begründung – M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 24: Für eine „bewusste und vom abschließenden Konsens des Konvents getragene Einschränkung (scil.: des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE) gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des EuGH (. . .) sprechen Sinn und Zweck der Bestimmung“. 153 Zu den prozessualen Folgen einer solchen Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, namentlich der Frage des Kooperationsverhältnisses zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH bei der Kontrolle nationaler Rechts-

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Dagegen vermögen teleologische Erwägungen die Geltung der Grundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten für die Mitgliedstaaten nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE nicht zu begründen. Denn in dieser Funktion begrenzen die Grundrechte den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten, so dass ihre Geltung nicht dazu beitragen kann, bestehende Ängste der Mitgliedstaaten vor einem Souveränitätsverlust abzubauen. 4. Systematische Interpretation des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE Neben den teleologischen Erwägungen sprechen ferner systematische Überlegungen154 dafür, Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE in einem weiten Sinne zu interpretieren und als „Durchführung des Rechts der Union“ auch Rechtshandlungen der Mitgliedstaaten anzusehen, die in Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Ausnahmebestimmungen Grundfreiheiten der Unionsbürger beschränken. Ebenso wie der teleologische Zusammenhang vermag indes auch das systematische Umfeld des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die Grundrechte der Charta für die Mitgliedstaaten nur insoweit zur Geltung zu bringen, als ihre Funktion als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten, also als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe der Mitgliedstaaten in Grundfreiheiten, angesprochen ist. Zwar lassen sich aus dem Zusammenhang mit anderen Bestimmungen des Verfassungsvertrags, die den Begriff der „Durchführung“ ebenfalls nennen (s. etwa Art. I-17, I-33 Abs. 1, I-41 Abs. 5, I-54 Abs. 4, II-95, II-112 Abs. 5, III117-121, III-126, III-160, III-177, III-183-185, III-205-206 und III-228 Abs. 2 VVE), angesichts der Vielfältigkeit der grammatikalischen Einbettungen und der Unterschiedlichkeit der Regelungsbereiche, in denen der Begriff verwendet wird, nur schwerlich Anhaltspunkte für die Auslegung dieses Worts in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gewinnen. Weiter hilft aber die systematische Auslegung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE im Lichte der (Gesamt-)Architektur der Europäischen Union als Bürger- und Wertegemeinschaft. Sie liefert den entscheidenden Grund dafür, dass die Mitgliedstaaten zur Beachtung der Grundrechte der Charta auch dann verpflichtet sind, wenn sie in Grundfreiheiten eingreifen und sich zur Rechtfertigung auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmevorakte am Maßstab der Grundrechte, statt vieler S. Alber/U. Widmaier, EuGRZ 2000, 497 (500 ff.); D. Ehlers, in: dems. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 89 ff.; W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473 (476 f.), insbesondere auch zu der Frage des Zeitpunkts einer Vorlageverpflichtung nationaler Gerichte an den EuGH; W. Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 199 ff.; I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes, S. 111 ff. 154 Zu der Bedeutung der systematischen Auslegung als Interpretationsmethode des Gemeinschaftsrechts J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 172 ff.; I. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 129 f.

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schriften stützen, die ihrerseits durch grundrechtliche Garantien konkretisiert sind: Die Vorschrift des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE ist systematisch eingebettet in den Gesamtzusammenhang der Verfassung und – als horizontale (Klammer-) Regelung – funktional bezogen auf die in den vorangehenden Artikeln der Charta normierten (Grund-)Rechte. Die Erarbeitung und Unterzeichnung der Charta – als Teil des Verfassungsvertrags – markiert den (vorerst) letzten Schritt auf dem Weg von der Gründung der Europäischen Union als Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft zu einer Rechte- und Werteunion der Bürger: Im Zentrum des europäischen Gedankens der Nachkriegszeit stand die Schaffung eines europäischen Bundes, der wirtschaftliche Stabilität, Sicherheit und Frieden in Europa garantierte. Das Fundament zur Errichtung einer Wirtschaftsunion in Europa bildete die Gründung der drei Europäschen Gemeinschaften durch den am 18.4.1951 unterzeichneten Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und die Römischen Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) vom 25.3.1957, welche zum 1.1.1958 in Kraft traten.155 Als Motor und Herzstück der europäischen Wirtschaftszone entwickelte die Kommission Ende der 70er Jahre ein Binnenraumkonzept, das die Schaffung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes mittels Abbaus bestehender Handelshemmnisse vorsah. Dieses Ziel sollte namentlich durch die Beseitigung der Beschränkungen des Warenverkehrs sowie der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr erreicht werden. Maßgebliches Mittel zur Erreichung dieses Ziels war die Installation der vier Grundfreiheiten im EG-Vertrag, denen als Gewährleistungen des freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs bis heute konstituierende Bedeutung für die Entwicklung des einheitlichen Binnenmarktes zukommt.156 Die Grundfreiheiten sind final auf die wirtschaftliche Integration, den gemeinsamen Binnenmarkt, bezogen. Als „Marktfreiheiten“ haftet ihnen eine spezifisch ökonomische Sicht an; sie zielen auf den Abbau der durch die Unterschiedlichkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen bedingten wirtschaftlichen Hindernisse in der Europäischen Union und die Verwirklichung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes mit freien Verkehrs- und Wirtschaftsströmen.157 155 Zu diesen Anfängen der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion R. Bieber, in: dems./A. Epiney/M. Haag (Hrsg.), Die Europäische Union, S. 37 ff.; M. Herdegen, Europarecht, S. 39 ff.; P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, S. 13 ff.; R. Streinz, Europarecht, § 2 Rn. 7 ff. 156 U. di Fabio, JZ 2000, 737 (740: „Einer der machtvollen Hebel gegen die Beharrungskräfte der Mitgliedstaaten ist die Gewährung der Grundfreiheiten.“). 157 D. Ehlers, in: dems. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 1; T. Kingreen/R. Störmer, EuR 1998, 263 (266).

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In dieser wirtschaftlichen Ausrichtung der Europäischen Union, namentlich den Grundfreiheiten der Bürger, erschöpfen sich indes der europäische Gedanke und die europäischen Verträge heute nicht mehr. Spätestens seit Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht am 7.2.1992, der später durch den Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 und den Vertrag von Nizza vom 26.2.2001 fortgeschrieben wurde,158 trat die Idee der Umgestaltung und Entwicklung der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaften zu einer immer engeren Union der Völker Europas159 offen zu Tage. Durch den Vertrag von Maastricht wurde die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion gegründet und der Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe gehoben. Namentlich die Unionsbürgerschaft fand durch den Vertrag von Maastricht – zunächst als Art. 8, später als Art. 17 – Eingang in den EG-Vertrag. Mit ihr ist eine Vielzahl von Rechten verknüpft, wie namentlich – um nur einige Beispiele zu nennen – die Reisefreiheit, das von wirtschaftlicher Betätigung unabhängige Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union,160 das Kommunalwahlrecht und das Wahlrecht zum Europäischen Parlament.161 Das Institut der Unionsbürgerschaft, das allgemeine Recht auf Freizügigkeit und nicht zuletzt die Entwicklung des Grundrechtsschutzes in Europa, den zunächst der EuGH in langen Jahren der Rechtsprechung begründet und ausgebaut hat und der nunmehr als geschriebener Katalog in Teil II des Verfassungsvertrags verankert ist, markieren den vorläufigen Höhepunkt des Ausbaus der Union von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Union gemeinsamer Werte und Rechte, die den Bürger nicht nur als „Marktbürger“ begreift, der Freiheiten allein im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Tätigkeit genießt, sondern dem subjektive Rechte als Individuum kraft seines Menschseins zukommen.162 Anders als die Grundfreiheiten sind die Gemeinschaftsgrundrechte nicht als Marktrechte, sondern als Menschenrechte konzipiert, die den Unionsbürgern einen grundsätzlich umfassenden Freiheitsraum gewähren und sie – unabhängig von der Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeiten oder wirtschaftlicher Zusammenhänge – gegen Übergriffe europäischer (und nationaler) Einrich158 Zu diesen europäischen Verträgen eingehend R. Streinz, Europarecht, § 2 Rn. 53 ff. 159 Vgl. Art. 1 EUV. 160 Die enge Verbindung zwischen der Unionsbürgerschaft gem. Art. 17 EGV und dem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 18 EGV veranschaulicht auch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004, ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 77 ff., s. nur den 1. Erwägungsgrund (S. 78): „Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der Union das elementare und persönliche Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (. . .) frei zu bewegen und aufzuhalten.“ 161 Vgl. R. Streinz, Europarecht, § 2 Rn. 55 ff. 162 W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473 (474); S. Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Europäischen Gemeinschaft, S. 205; R. Streinz, Europarecht, § 12 Rn. 654 f.

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tungen und Organe mit umfassenden Abwehr- und Leistungsansprüchen ausstatten.163 Diesen Wandel von der wirtschaftlichen Gemeinschaft zur politischen Union der Bürger spiegelt sinnbildlich die Präambel der Charta wider, derzufolge die Europäische Union „den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns (stellt), indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet“. Dabei gewährleistet die Union beides, „den freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit“ und „den Schutz der Grundrechte“, dessen „Stärkung“ die Sichtbarmachung der Grundrechte in der Charta dient. Dementsprechend „bekräftigt“ die Charta die Rechte, die sich v. a. aus den Europäischen Verträgen, der EMRK und aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ergeben. Die Charta stellt das Individuum mithin um seiner selbst, seiner geistigen, sozialen ebenso wie politischen Fähigkeiten und Bedürfnisse willen und nicht (primär) als Träger wirtschaftlicher Freiheiten in den Mittelpunkt des Handelns der Union. Nicht (nur) die Herstellung des Gemeinsamen Marktes, sondern (vor allem) der Schutz der Grundrechte der Bürger in Europa bildet die raison d’être und das Integrationsziel der Europäischen Union. Mit dem Grundrechtskatalog der Charta garantiert die Union ihren Bürgern ein System von Rechten umfassender Art, denen als subjektive Abwehr- und Leistungsrechte ebenso Bedeutung zukommt wie als objektive Werteordnung und -fundament für Europa.164 Die europäische Charta ist „kein bloßes Credo wirtschaftsliberaler Grundüberzeugungen“, sondern fordert die „fundamentale Rechtsbindung zur Sicherung individueller Freiheit“, und zwar nicht nur im Sinne einer Freiheit der Bürger als Wirtschaftssubjekte, sondern im Sinne allumfassender Freiheit.165 Anders als die auf die Verwirklichung des Binnenmarkts bezogenen Grundfreiheiten verfolgen die Grundrechte nicht das Ansinnen, die grenzüberschreitende Handlungsfreiheit der Binnenmarktteilnehmer zu sichern, sondern haben zum Ziel, die Bürger vor Eingriffen auch in nicht wirtschaftsbezogene, geistig, kulturell oder politisch motivierte Freiheiten zu schützen. Punktum: Die heutige Europäische Union ist mehr als ein gemeinsamer Markt oder eine besondere Freihandelszone;166 sie ist ein Raum einheitlicher Werte und Rechte, der den Bürger kraft seines Menschseins in das Zentrum ihres Handelns stellt. In einer politischen Union, die neben dem Binnenmarktziel nach neuen Quellen materieller Legitimität sucht, nehmen die Grundrechte als Zentralnormen des europäischen Verfassungsverbundes einen herausragen163 164 165 166

T. Kingreen/R. Störmer, EuR 1998, 263 (276). Vgl. E. Pache, EuR 2001, 475 (478); M. Schröder, JZ 2002, 849 (852 f.). U. di Fabio, JZ 2000, 737 (740). So auf den Punkt gebracht von E. Pache, EuR 2001, 475 (478).

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den Platz ein.167 Mit diesem grundlegenden Wandel der Idee und Freiheitskultur der Europäischen Union vertrüge es sich nicht, wenn man die Mitgliedstaaten, die sich zur Rechtfertigung von Maßnahmen, die Grundfreiheiten beeinträchtigen, auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmebestimmungen der Grundfreiheiten in Gestalt einer Konkretisierung durch die Grundrechte berufen, aus dem Anwendungsbereich der Charta nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE entlassen und damit von der Pflicht zur Beachtung der den individuellen Freiheitsraum der Bürger sichernden Gemeinschaftsgrundrechte entbinden wollte. Wären die Mitgliedstaaten nicht gehalten, bei dem Erlass von Rechtsakten, die den durch die Grundfreiheiten geschützten wirtschaftlichen Betätigungsfreiraum der Unionsbürger verkürzen, auf grundrechtlich geschützte Positionen – des Trägers der betreffenden Grundfreiheit oder anderer Unionsbürger – Rücksicht zu nehmen, würde wirtschaftsorientierten Betätigungen gegenüber Freiheitsausübungen ohne Wirtschaftsbezug Vorrang eingeräumt und müssten grundrechtlich geschützte Belange a priori zurücktreten. Dies gilt wenigstens für solche Konfliktfälle zwischen – durch Grundfreiheiten einerseits und Grundrechte andererseits geschützten – Positionen, in denen die Mitgliedstaaten Grundfreiheiten zum Schutze und im Interesse grundrechtlicher Belange (Dritter) einschränken, die Grundrechte also als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten den Rechtfertigungsgrund für den Eingriff in die Grundfreiheiten bilden. Wäre es den Mitgliedstaaten in dieser Konstellation – mangels Bindung – verwehrt, sich auf Gemeinschaftsgrundrechte zur Rechtfertigung ihres Handelns zu berufen, würden die Grundfreiheiten und die dadurch geschützten Wirtschaftstätigkeiten gegenüber den Grundrechten und den durch sie gewährleisteten nicht (notwendig) wirtschaftlichen Freiheitsausübungen privilegiert. Wären die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nicht gebunden, wären sie weder berechtigt noch verpflichtet, sich schützend und fördernd vor die Grundrechte zu stellen und zu diesem Zweck wirtschaftsbezogene Tätigkeiten der Unionsbürger einzuschränken. Nationale Maßnahmen müssten sich ausschließlich an den Grundfreiheiten messen lassen – ob sie gegen Gemeinschaftsgrundrechte verstoßen bzw. ob der Schutz grundrechtlicher Belange eine Beschränkung der Grundfreiheiten erfordert, wäre ohne Belang. Die Folgen einer solchen Verkürzung des Grundrechtsschutzes in der Union werden anschaulich am Beispiel von durch den EuGH entschiedenen Fällen, in denen der Gerichtshof mitgliedstaatliche Maßnahmen einer Kontrolle am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zugeführt hat, welche ihm auf der Grundlage eines restriktiven Verständnisses des Anwendungsbereichs der Charta nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE verwehrt wäre. So hätte der EuGH beispielsweise in der Rechtssache Schmidberger, in der er über die Vereinbarkeit einer Genehmigung einer Versammlung auf der Brenner-Autobahn durch österreichi167

M. Ruffert, EuGRZ 2004, 466 (471).

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sche Behörden mit dem Gemeinschaftsrecht zu befinden hatte, der Warenverkehrsfreiheit der Spediteure gegenüber der Versammlungsfreiheit der Demonstranten Vorrang einräumen müssen und – diametral zu seiner Entscheidung vom 12.6.2003 –168 die Sperrung der Brenner-Autobahn für Zwecke der Demonstration als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar erklären müssen, wäre die Republik Österreich an die Grundrechte nicht gebunden gewesen. Die handelnde österreichische Behörde hätte sich bei der Entscheidung über die Genehmigung der Versammlung, durch die der freie Warenverkehr auf der Brenner-Autobahn behindert wurde, zur Rechtfertigung der Versammlungsgenehmigung nicht auf die Erforderlichkeit des Schutzes der Versammlungsfreiheit der Demonstranten berufen können und der EuGH hätte keine Zuständigkeit besessen, den mitgliedstaatlichen Rechtsakt am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu kontrollieren. Der Weg wäre versperrt gewesen, die Genehmigung der Versammlung auf der Brenner-Autobahn an dem Versammlungsgrundrecht der Demonstranten zu messen und dieses Grundrecht als (Konkretisierung der) Schranke der Warenverkehrsfreiheit der Spediteure zur Rechtfertigung des Eingriffs in diese Grundfreiheit heranzuziehen. Das Recht der Spediteure auf freien Warenverkehr hätte gegenüber den Versammlungsinteressen der Demonstranten a priori Vorrang beansprucht, ohne dass die Möglichkeit einer Güterabwägung bestanden hätte. Wollte man den Anwendungsbereich der Charta nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE auf Handlungen der Mitgliedstaaten in Vollzug oder Umsetzung von Gemeinschaftsrecht beschränken und sie zur Beachtung der Grundrechte nicht verpflichten, wenn sie sich für Beschränkungen des Freiheitsraums der Marktbürger auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmeregelungen der Grundfreiheiten berufen, privilegierte man wirtschaftliche Freiheit gegenüber nicht wirtschaftlicher – geistig, sozial oder politisch motivierter – Freiheit, ohne dass im Einzelfall eine Abwägung der kollidierenden Güter und ein gerechter Ausgleich möglich wäre. Damit würde die in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich vorangetriebene Abkehr von der (reinen) Wirtschaftsunion und Hinentwicklung zur immer engeren Union der Völker Europas, in der der Unionsbürger nicht – primär – als Wirtschaftssubjekt, kraft wirtschaftlicher Leistungen, sondern kraft seiner Individualität und seines Menschseins Freiheiten genießt und im Zentrum den Handelns der Union steht, desavouiert und der erreichte Integrationsstand untergraben. Im Ergebnis sprechen die genannten systematischen Erwägungen dafür, dass auch nach Inkrafttreten des Verfassungsvertrags respektive des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 die Mitgliedstaaten (weiterhin) dem Anwendungsbereich der Charta unterliegen und an die Grundrechte gebunden sind, wenn sie in Grundfreiheiten 168 Zu dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Schmidberger bereits im ersten Teil unter B. III. 2.

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

eingreifen und sich zur Rechtfertigung auf die Erforderlichkeit des Schutzes von Grundrechten berufen. Nimmt die Europäische Union den Schutz der Grundrechte ernst, müssen neben den europäischen Einrichtungen und Organen auch die Mitgliedstaaten verpflichtet sein, die Gemeinschaftsgrundrechte zu beachten, wenn sie sich auf Ausnahmebestimmungen der Grundfreiheiten berufen, um Maßnahmen zu rechtfertigen, die in Grundfreiheiten von Unionsbürgern zum Schutz grundrechtlich garantierter Positionen eingreifen. Wenn auch die Europäische Union bislang eher am Anfang als am Ende des Übergangs von der Wirtschaftsgemeinschaft zur grundrechtsgeprägten Rechtsordnung stehen mag, erscheint doch gerade deswegen die Sicherung des bislang erreichten Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union als unverzichtbares Erfordernis für die (weitere) Abkehr von der wirtschaftlichen Sichtweise und die (Fort-) Entwicklung der Europäischen Union zur Rechts- und Wertegemeinschaft. Der durch die Rechtsprechung des EuGH erreichte Stand des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft darf durch den Verfassungsvertrag nicht unterschritten werden; die Privilegierung wirtschaftlicher gegenüber nicht wirtschaftlicher Tätigkeit durch einseitige Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundfreiheiten und Entbindung von den Gewährleistungen der Gemeinschaftsgrundrechte wäre ein Rückschritt in den Entwicklungsstand der Europäischen Union der siebziger Jahre. Die Kontrolle von Akten der Mitgliedstaaten am Maßstab der Freiheitsund Gleichheitsrechte der Charta ist daher zwingend erforderlich, um einen Rückfall in die wirtschaftlich geprägte europäische Identität und Rechtskultur zu verhindern und den individuellen Freiheitsraum der Bürger zu sichern.169 Ebenso wenig wie mit den o. g. teleologischen Gründen lässt sich dagegen die Geltung der Grundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten für die Mitgliedstaaten nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE mit systematischen Erwägungen begründen. In dieser Funktion der Schranken-Schranken treten die Grundrechte nach der Rechtsprechung des EuGH verstärkend neben die Grundfreiheiten und setzten den mitgliedstaatlichen Maßnahmen (zusätzliche) Grenzen. Reduzierte man den Anwendungsbereich der Charta nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE auf das Gemeinschaftsrecht vollziehende Handeln der Mitgliedstaaten – namentlich den Vollzug von Verordnungen –, beraubte man zwar die Grundrechte ihrer (grund-)freiheitssichernden Funktion, eine Besserstellung der Grundfreiheiten gegenüber den Gemeinschaftsgrundrechten würde dadurch aber nicht bewirkt. Denn wären die Mitgliedstaaten – in Folge einer restriktiven 169 Vgl. im Ergebnis ebenso P. Eeckhout, CMLRev. (2002) 39, 945 (977 f.); A. Weber, DVBl. 2003, 220 (223: „Eine sinnorientierte Auslegung legt daher eine Geltung der Charta ,im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts‘ nahe.“); anderer Auffassung M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 24, unter Hinweis auf den „systematischen Zusammenhang“ des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 des Entwurfs der Charta, indes ohne nähere Begründung.

B. Konfrontations- oder Schmusekurs mit der Judikatur des EuGH?

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Bestimmung der Normreichweite des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE – nicht gehalten, Rechtsakte im Gewährleistungsbereich von Grundfreiheiten an den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts in der Funktion von Schranken-Schranken der Grundfreiheiten auszurichten, führte dies zwar dazu, dass ihr Handeln möglicherweise durch die Schranken der betroffenen Grundfreiheit gerechtfertigt und damit von Gemeinschafts wegen nicht zu beanstanden wäre, ohne dass die Grundrechte ihre freiheitssichernde Funktion entfalten könnten. Jedoch würde wirtschaftliche Tätigkeit nicht gegenüber nicht wirtschaftsbezogener Freiheitsausübung privilegiert, sondern die Gemeinschaftsgrundrechte könnten der betroffenen – Wirtschaftstätigkeit schützenden – Grundfreiheit nur nicht verstärkend zur Seite treten. In der Funktion als Schranken-Schranken können die Grundrechte allenfalls zur Verstärkung der Wirtschaftsfreiheiten beitragen; der Wegfall dieser Schutzfunktion bewirkt keine Benachteiligung der Träger grundrechtlicher Freiheiten gegenüber den Inhabern von Grundfreiheiten. Eine Bevorzugung wirtschaftlicher gegenüber nicht wirtschaftsbezogenen Tätigkeiten, die zu der Fortentwicklung der Europäischen Union von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einem Rechts- und Werteverbund in Widerspruch stünde, würde durch das Fehlen einer Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts in ihrer Funktion als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten nicht bewirkt. Um auch insoweit ein Beispiel zu bilden: Wären die Mitgliedstaaten künftig gem. Art. II-111 As. 1 Satz 1 VVE nicht verpflichtet, die Gemeinschaftsgrundrechte der Charta als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten zu beachten, müssten Fälle wie die Rechtssache Carpenter künftig zwar anders entschieden werden: Die Ausweisung der Ehefrau eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, durch die der Ehemann in seiner Dienstleistungsfreiheit betroffen wird, wäre auf die Überprüfung am Maßstab der Dienstleistungsfreiheit beschränkt; hielte die Ausweisungsverfügung dieser Kontrolle stand, weil sie durch die Schranken der Dienstleistungsfreiheit gedeckt ist, wäre ihr unter gemeinschaftsrechtlichen Aspekten nichts zu entgegen; ob sie den durch das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens geschützten Freiheitsbereich des Ehemannes beschnitte, müsste mangels Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte außer Betracht bleiben. Da die Grundrechte in ihrer Funktion als Schranken-Schranken indes für die mitgliedstaatlichen Einrichtungen und Organen eingriffsbegrenzend zum Tragen kommen, wäre eine „Ungleichbehandlung“ von grundrechtlicher Freiheitsausübung und grundfreiheitlicher Wirtschaftstätigkeit mit einer fehlenden Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte in dieser Funktion nicht verbunden. Die Geltung der europäischen Grundrechte für die Mitgliedstaaten in ihrer Funktion als Schranken-Schranken für Eingriffe in Grundfreiheiten lässt sich mithin sub specie des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE weder mit (grammatikalischen, historischen oder) teleologischen noch mit systematischen Erwägungen

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2. Teil: Die Grundrechtsbindung nach dem Verfassungsvertrag

begründen. Insoweit ließe sich allenfalls der Gesichtspunkt der „Einheitlichkeit der Grundrechtsgeltung“ fruchtbar machen: Kommen nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE sowohl unter teleologischen als auch unter systematischen Aspekten die Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten bei Eingriffen in Grundfreiheiten als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten zum Tragen, lässt sich argumentieren, dass sie insoweit „einheitlich“ und „ungeteilt“, ohne Differenzierung nach einzelnen Funktionen zur Anwendung gelangen müssen.

Dritter Teil

Blick in die Zukunft: Fortentwicklung der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Maßnahmen mit Bezug zu Grundfreiheiten Nur wenn man Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE in dem vorgenannten Sinn weit interpretiert und damit das Tor des Gemeinschaftsrechts auch für Maßnahmen der Mitgliedstaaten öffnet, die gestützt auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmebestimmungen die Grundfreiheiten beschränken, ist der Weg für den EuGH frei, das Rad der Rechtsprechung künftig noch ein Stück weiter zu drehen und die Kontrolle nationaler Rechtsakte am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte auszuweiten. Dass eine solche Ausdehnung der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten erforderlich ist, verdeutlichen nicht zuletzt Fälle wie die Rechtssache Schmidberger. Die Gründe hierfür sind folgende: Eine Überprüfung mitgliedstaatlicher Rechtsakte am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte hat der EuGH bislang – bezogen auf die Fallgruppe der Rechtfertigung von Beschränkungen von Grundfreiheiten – nur vorgenommen, wenn Einrichtungen und Organe der Mitgliedstaaten die Grundfreiheiten einschränken und sich zur Rechtfertigung auf (Vertrags-)Bestimmungen berufen, die Eingriffe in Grundfreiheiten erlauben. In diesen Fällen prüft der EuGH, ob die mitgliedstaatliche Maßnahme mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten in Einklang steht, die entweder in der Funktion als Schranken-Schranken die Handlungsmacht der Mitgliedstaaten begrenzen oder als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten handlungserweiternd zum Tragen kommen. Eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte besteht mithin nach der Rechtsprechung des EuGH, die sich in der Regelung des Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE – zumindest bezogen auf die Funktion der Grundrechte als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten – widerspiegelt, in den folgenden Fallkonstellationen: (1) Mitgliedstaaten greifen in Grundfreiheiten eines Unionsbürgers zum Schutz von Gemeinschaftsgrundrechten desselben oder eines anderen Unionsbürgers ein (Fallgruppe: Grundrechte als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten). (2) Mitgliedstaaten greifen in Grundfreiheiten eines Unionsbürgers ein und Grundrechte desselben oder eines anderen Unionsbürgers begrenzen die

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3. Teil: Blick in die Zukunft

Handlungsmacht der Mitgliedstaaten (Fallgruppe: Grundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten). Dagegen hat der EuGH eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Beachtung der Gemeinschaftsgrundrechte in den folgenden Fallkonstellationen bislang nicht ausgesprochen: (3) Mitgliedstaaten greifen in Gemeinschaftsgrundrechte eines Unionsbürgers zum Schutz von Grundfreiheiten desselben oder eines anderen Unionsbürgers ein (Fallgruppe: Grundfreiheiten als Konkretisierung der Schranken der Grundrechte). (4) Mitgliedstaaten greifen in Gemeinschaftsgrundrechte eines Unionsbürgers ein und die Grundfreiheiten desselben oder eines anderen Unionsbürgers begrenzen die Handlungsmacht der Mitgliedstaaten (Fallgruppe: Grundfreiheiten als Schranken-Schranken der Grundrechte). (5) Mitgliedstaaten greifen in Grundrechte eines Unionsbürgers zum Schutz von (anderen) Grundrechten desselben oder eines anderen Unionsbürgers ein (Fallgruppe: Grundrechte als Konkretisierung der Schranken der Grundrechte). (6) Mitgliedstaaten greifen in Grundrechte eines Unionsbürgers ein und (andere) Grundrechte desselben oder eines anderen Unionsbürgers begrenzen die Handlungsmacht der Mitgliedstaaten (Fallgruppe: Grundrechte als Schranken-Schranken der Grundrechte). Im Einzelnen: Zu der Fallgruppe 3: Über die Judikatur des EuGH hinaus (Fallgruppen 1 und 2) sollten die Mitgliedstaaten ihr Handeln auch dann an den Gemeinschaftsgrundrechten ausrichten müssen, wenn sie durch nationale Rechtsakte nicht in Grundfreiheiten eingreifen, um den Schutz grundrechtlicher Garantien zu gewährleisten, sondern umgekehrt den Schutzbereich von Grundrechten beeinträchtigen, um den durch Grundfreiheiten geschützten Interessen der Unionsbürger Rechnung zu tragen (Fallgruppe 3). Anderenfalls würden die Träger der Grundrechte gegenüber den Trägern der Grundfreiheiten benachteiligt, die Berechtigten der Grundfreiheiten gegenüber denen der Grundrechte privilegiert. Das Gemeinschaftsrecht versähe nicht wirtschaftliche Tätigkeit mit einem dünneren Schutzmantel als wirtschaftsbezogene Freiheitsausübung. Dies stünde mit der Entwicklung der Europäischen Union von der binnenmarktbezogenen Wirtschaftsunion zur immer engeren Union der Völker Europas, in der die Unionsbürger nicht – primär – als Wirtschaftssubjekt, sondern als Mensch und Individuum im Mittelpunkt des Handelns stehen, nicht in Einklang. Um zur Verdeutlichung ein weiteres – und letztes – Mal die Rechtssache Schmidberger zu bemühen: Hätten die österreichischen Behörden die Versamm-

3. Teil: Blick in die Zukunft

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lung auf der Brenner-Autobahn nicht genehmigt, sondern stattdessen untersagt und damit den Grundfreiheiten der Spediteure zulasten der Grundrechte der Demonstranten zur Verwirklichung verholfen und hätten österreichische Gerichte den Fall – im Rahmen eines von den Demonstranten angestrengten Klageverfahrens – dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt, läge ein Eingriff in Grundfreiheiten, welche nach der Judikatur des EuGH die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten auslöst, nicht vor. Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs wären die österreichischen Behörden nicht gehalten, den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten der Demonstranten Rechnung zu tragen, und hätte der EuGH die in dem Versammlungsverbot liegende „Beeinträchtigung“ der Grundrechte der Demonstranten nicht zur Abwägung bringen können mit der Warenverkehrsfreiheit der Spediteure, deren Schutz das Versammlungsverbot diente. Der Fall wiese mangels Beschränkung von Grundfreiheiten nicht den für die Grundrechtsgeltung erforderlichen Bezug zum Gemeinschaftsrecht auf, mit der Folge, dass der EuGH eine Kontrolle des Versammlungsverbots am Maßstab der Grundrechte der Meinungsäußerungsund Versammlungsfreiheit der Demonstranten hätte ablehnen müssen. Um eine solche „Ungleichbehandlung“ wirtschaftlicher und nicht wirtschaftlicher Freiheiten zu verhindern, die diametral zu dem Wandel der Europäischen Union von der (bloßen) Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Union gemeinsamer Grundrechte und Grundwerte steht, müssen die Grundrechte auch dann zur Anwendung gelangen, wenn Stellen der Mitgliedstaaten zum Schutze der europäischen Grundfreiheiten Maßnahmen ergreifen, die Unionsbürger an der Ausübung ihrer Grundrechte hindern. Ebenso wie die Mitgliedstaaten an die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts gebunden sind, wenn sie sich zur Rechtfertigung von Maßnahmen, die Grundfreiheiten beschränken, auf die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts berufen, muss eine solche Grundrechtsbindung auch in dem umgekehrten Fall bestehen, wenn mitgliedstaatliches Handeln dem Schutz von Grundfreiheiten dient, die entgegenstehende grundrechtlich geschützte Belange zurücktreten lassen. Anderenfalls hinge die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte und deren Kontrolle durch den EuGH von dem jeweiligen Ergebnis der im Einzelfall zu treffenden Entscheidung, mithin davon ab, ob durch das Handeln der Mitgliedstaaten der wirtschaftlichen Betätigung – und damit den Grundfreiheiten – oder den nicht wirtschaftsbezogenen Tätigkeiten – und somit den Gemeinschaftsgrundrechten – zur Verwirklichung verholfen wird. Ein solcher – mehr oder minder zufallsbezogener, von dem Willen des handelnden Entscheidungsträgers abhängiger – Anknüpfungspunkt vermag weder unter Gleichheitsgesichtspunkten standzuhalten noch verträgt er sich mit der beschriebenen Entwicklung der Europäischen Union zu einer politischen Union der Bürger.170 Vielmehr müssen die Mitglied170

Hierzu im zweiten Teil unter B. III. 4.

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3. Teil: Blick in die Zukunft

staaten verpflichtet sein, beiden, den Grundfreiheiten und den Grundrechten, Rechnung zu tragen, indem sie in eine Abwägung zwischen den betroffenen wirtschaftlichen und nicht ökonomischen Positionen eintreten und ermitteln, welche der kollidierenden Belange – die Grundfreiheiten oder die Grundrechte – im konkreten Fall Vorrang genießen. Nur auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass nicht ökonomisch motivierte grenzüberschreitende Tätigkeit gegenüber nicht wirtschaftsbezogenem Handeln a priori Vorrang genießt und dass der EuGH auch in solchen Konstellationen das mitgliedstaatliche Handeln am Maßstab des Gemeinschaftsrechts überprüft. Zudem mag man aus dem systematischen Zusammenspiel des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE mit der weiteren Regelung in Art. II-112 Abs. 1 Satz 2 VVE das Argument gewinnen, dass die Verfassungsväter diese Kategorie der Grundrechtsgeltung für die Mitgliedstaaten bei Maßnahmen zum Schutz von Grundfreiheiten selbst erkannt und in ihren Willen aufgenommen haben. Gem. Art. II-112 Abs. 1 Satz 2 VVE dürfen Einschränkungen der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten (nur) vorgenommen werden, wenn sie (unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit) erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Will man unter „Freiheiten“ auch die Grundfreiheiten verstehen, klingt in dieser Formulierung die Einschränkbarkeit der in der Charta garantierten Grundrechte an, um den Schutz von (Grund-)Freiheiten anderer zu gewährleisten, ohne dass zwischen dem Handeln der europäischen Einrichtungen und Organe und Maßnahmen der Mitgliedstaaten unterschieden wird. Dogmatisch betrachtet liegt der erforderliche „Transmissionsriemen“, das „Scharnier“ für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts in dieser Konstellation darin, dass sich die Mitgliedstaaten zur „Rechtfertigung“ ihrer Maßnahme auf ihre (Schutz-)Pflicht für die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts berufen, also in dem Bezug des mitgliedstaatlichen Handelns zu den Grundfreiheiten, die insoweit als Begrenzung des durch Grundrechte gewährleisteten Freiheitsraums fungieren. Zu der Fallgruppe 4: Um eine „Ungleichbehandlung“ wirtschaftlicher und nicht wirtschaftlicher Freiheiten zu verhindern und dem Grundsatz der Einheit der europäischen Rechts- und Werteordnung Rechnung zu tragen, wonach die in den europäischen Verträgen enthaltenen Rechtswerte in einem Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung und Begrenzung stehen, liegt es nahe, eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten darüber hinaus auch in solchen Situationen anzuerkennen, in denen das Handeln der Mitgliedstaaten Gemeinschaftsgrundrechte von Unionsbürgern beschränkt und der Schutz von Grundfreiheiten eine Begrenzung des Grundrechtseingriffs fordert (Fallgruppe 4). Dass die Grundrechte die Mitgliedstaaten in dem umgekehrten Fall binden, wenn die öf-

3. Teil: Blick in die Zukunft

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fentliche Gewalt in Grundfreiheiten eingreift und die Grundrechte als Schranken-Schranken gewaltbegrenzend zum Tragen kommen, entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH.171 Um sicherzustellen, dass die Geltung der Grundrechte für die Mitgliedstaaten einheitlich, von dem Ergebnis der im Einzelfall getroffenen Entscheidung des Mitgliedstaats unabhängig bestimmt wird und die Mitgliedstaaten gehalten sind, im Einzelfall kollidierende Interessen und Belange der Unionsbürger im Rahmen einer sorgfältigen Güterabwägung zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten zu ermitteln, sollte eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte auch in der „umgekehrten“ Schranken-Schranken-Konstellation bestehen, wenn die Mitgliedstaaten grundrechtlich geschützte Positionen beschränken und der Eingriff mit Grundfreiheiten kollidiert. Aus diesem Grund ist es erforderlich, dass der EuGH seine Rechtsprechung weiter entwickelt und als „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. v. Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE auch Rechtsakte der Mitgliedstaaten ansieht, die grundrechtliche Positionen im Interesse von Grundfreiheiten der Marktbürger beschränken (Fallgruppe 3) oder in denen die Grundfreiheiten Eingriffen der Mitgliedstaaten in Grundrechte als Schranken-Schranken Grenzen setzen (Fallgruppe 4). Auch solche mitgliedstaatlichen Maßnahmen sollten dem Anwendungsbereich der Charta unterfallen und den Grundrechten der Charta Rechnung tragen. Voraussetzung für diese Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH auf der Grundlage des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE ist allerdings – dies sei zugegeben –, dass man der Regelung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE eine gewisse „Entwicklungsoffenheit“ attestiert und in ihr nicht eine bloße Momentaufnahme der im Zeitpunkt der Verabschiedung der Charta existierenden Rechtsprechung des EuGH sieht.172 Einer solchen Weiterentwicklung der Rechtsprechung des EuGH zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bedürfte es zumindest in den Fällen, in denen Unionsbürger von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen und sich in anderen Mitgliedstaaten aufhalten und/oder bewegen, lediglich dann nicht, wenn der Gerichtshof den in jüngeren Entscheidungen, namentlich in den

171 Hierzu im ersten Teil unter B. III. 1.; zu der Frage, ob diese Rechtsprechung des EuGH zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken für Beschränkungen der Grundfreiheiten durch Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE rezipiert wurde, im zweiten Teil unter B. III. 172 Für eine solche Entwicklungsoffenheit – bezogen auf den Grundrechtskatalog der Charta – M. Schröder, JZ 2002, 849 (851); ablehnend dagegen wohl der französische Vertreter M. Petite in der Sitzung der Arbeitsgruppe „Charta“ des Europäischen Konvents vom 23.7.2002, Europäischer Konvent 223/02 vom 31.7.2002, der die Ansicht vertrat, dass die Formulierung in Art. II-111 VVE die „derzeitige Rechtsprechung betreffend die Anwendbarkeit der gemeinschaftlichen Grundrechte auf die Handlungen der Mitgliedstaaten“ aufgreife und die „vom Gerichtshof diesbezüglich verfolgte äußerst vorsichtige Linie daher auch nach Einbeziehung der Charta“ in die Europäische Verfassung weiter gelten werde.

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3. Teil: Blick in die Zukunft

Rechtssachen Martínez Sala sowie Bickel und Franz angedeuteten Weg fortsetzte und die Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für die Mitgliedstaaten nicht mehr länger an Eingriffe in wirtschaftsbezogene Grundfreiheiten knüpfte, zu deren Rechtfertigung die Staaten auf gemeinschaftsrechtliche Ausnahmebestimmungen zurückgreifen, sondern als Anknüpfungspunkt die Einschränkung des Rechts der Unionsbürger auf Freizügigkeit173 wählte. Auf der Grundlage eines solchen dogmatischen Ansatzpunktes ließe sich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Grundrechte in Fällen zu beachten, in denen sie grundrechtlich geschützte Belange der Unionsbürger zugunsten von Grundfreiheiten zurücktreten lassen (Fallgruppe 3) oder in denen die Grundfreiheiten eine Begrenzung von Grundrechtsbeschränkungen fordern (Fallgruppe 4), damit begründen, dass das mitgliedstaatliche Handeln einen Bezug zu der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit (Art. 18 EGV) aufweist und damit in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.174 Auf der Grundlage eines solchen dogmatischen Standpunktes käme es mithin für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte allein darauf an, dass durch nationale Rechtsakte der Aufenthalt oder die Bewegung von Unionsbürgern in dem Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten berührt wird. Ohne ein abschließendes Urteil über die dogmatische Überzeugungskraft eines solchen – weit reichenden – Ansatzes zu fällen, steht doch bei überschlägiger Betrachtung fest, dass das Band zu der Anwendung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten bei der Anknüpfung an die Freizügigkeit der Unionsbürger ein recht loses ist. Letztlich unterfielen damit sämtliche mitgliedstaatlichen Maßnahmen, die einen Bezug zu grenzüberschreitendem Handeln der Unionsbürger aufweisen, dem Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit dem Geltungsbereich der Grundrechte. Dementsprechend könnten sich die Unionsbürger gegenüber sie betreffenden Rechtsakten der Mitgliedstaaten bereits dann auf den Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte berufen, wenn sie sich außerhalb des eigenen Staates in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union aufhielten oder bewegten und durch Maßnahmen dieses Mitgliedstaats negativ betroffen würden. So müssten etwa staatliche Behörden bei der Entscheidung über das Verbot von Versammlungen die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts beachten, wenn an der Versammlung Bürger anderer Mitgliedstaaten teilnähmen, und zwar selbst dann, wenn das Ergebnis ihrer Entscheidung keinerlei Bezug

173 Zu der rechtlichen Qualifizierung des Freizügigkeitsrechts als (von wirtschaftlicher Tätigkeit unabhängige) Grundfreiheit oder Grundrecht in Fn. 70. 174 Dagegen lässt sich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Gemeinschaftsgrundrechten Rechnung zu tragen, wenn sie grundrechtlich geschützte Positionen zugunsten von Grundfreiheiten einschränken, nicht mit der Rechtsprechung des EuGH in der Entscheidung Carpenter, Rs. 60/00, Slg. 2002, I-6279 ff., begründen. Denn in jenem Fall bejahte der EuGH einen Eingriff in eine Grundfreiheit, woran es in den hier vorliegenden Konstellationen fehlt.

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zu durch die Grundfreiheiten geschützten wirtschaftlichen Tätigkeiten der Versammlungsteilnehmer oder anderer Unionsbürger aufwiese. Eines solchen, den Bezug zum Gemeinschaftsrecht auf das denkbare Minimum reduzierenden Ansatzes bedarf es jedenfalls nicht, um für die hier in Rede stehenden Konstellationen eine Lösung zu finden und eine Pflicht der Mitgliedstaaten, die Gemeinschaftsgrundrechte zu berücksichtigen, auch dann anzunehmen, wenn sie grundrechtlich geschützte Freiheitsbetätigungen der Unionsbürger beschränken, um wirtschaftsbezogenen, durch die Grundfreiheiten gewährleisteten Tätigkeiten zur Verwirklichung zu verhelfen (Fallgruppe 3) oder wenn sie zugleich wirtschaftsbezogene Tätigkeiten betreffen (Fallgruppe 4). Zu den Fallgruppen 5 und 6: Eine Grundrechtbindung der Mitgliedstaaten über die genannten Fallgruppen (1–4) hinaus auch für solche Rechtsakte, die keinerlei Bezug zu den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrecht aufweisen, sondern ausschließlich grundrechtlich geschützte Belange und Interessen der Unionsbürger betreffen (Fallgruppen 5 und 6), vertrüge sich hingegen mit der geltenden Fassung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE wohl nicht. Insoweit dürfte es an der erforderlichen „Durchführung von Unionsrecht“, dem „Scharnier“ zum Anwendungsbereich der Charta, fehlen. Die Anwendung der Charta – respektive der Gemeinschaftsgrundrechte – liefert nicht das die Geltung der Charta und ihrer Grundrechte auslösende Moment.175 Die „Durchführung des Rechts der Union“ i. S. v. Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE ist Voraussetzung für die Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta, die Durchführung der Charta selbst vermag ihre Geltung für die Mitgliedstaaten nicht zu begründen. Als „Recht der Union“ kommen lediglich andere, außerhalb der Charta stehende unionsrechtliche Verträge und Rechtsakte in Betracht.176 Zu einem anderen Ergebnis gelangte man – wenigstens für die Kategorie der Einschränkung von Grundrechten der Unionsbürger zum Schutze anderer Grundrechte (Fallgruppe 5) nur, wenn man der Regelung in Art. II-112 Abs. 1 Satz 2 VVE, wonach die in der Charta garantierten (Grund-)Rechte zum Schutz von (Grund-)Rechten anderer eingeschränkt werden dürfen, eine Adressierung auch an die Mitgliedstaaten entnehmen und damit implizit deren Grundrechtsbindung bei Einschränkungen von Rechten der Unionsbürger zum Schutz anderer grundrechtlicher Garantien als verfassungsrechtlich verankert ansehen wollte. 175 Etwas anderes ließe sich vertreten, wenn man das in Art. 18 EGV gewährleistete Recht auf Freizügigkeit nicht als (nicht wirtschaftsbezogene) Grundfreiheit, sondern als grundrechtliche Gewährleistung ansähe; s. hierzu in Fn. 70. 176 Vgl. auch die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents, Charta 4473/00, Konvent 49 vom 11.10.2000, in der durch das Präsidium des Europäischen Konvents aktualisierten Fassung vom 18.7.2003, Konvent 828/03, zu Art. 51 Abs. 2 des Entwurfs der Charta: „(. . .) versteht es sich von selbst, dass die Einbeziehung der Charta in die Verfassung nicht dahingehend verstanden werden kann, dass sie für sich genommen den als ,Durchführung des Rechts der Union‘ betrachteten Aktionsrahmen der Mitgliedstaaten (. . .) ausdehnt.“; vgl. ferner J. Schwarze, EuR 2003, 535 (562).

Zusammenfassung Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union markiert einen Meilenstein in der Entwicklung der Union von der auf die Verwirklichung des Binnenmarkts bezogenen Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft zu der Union der Bürger, denen durch die Charta erstmals ein geschriebener Katalog an Grundrechten garantiert wird. Der Anwendungsbereich der Charta und ihrer Grundrechte für die Mitgliedstaaten ist in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE geregelt. Diese zentrale Horizontalbestimmung hat der europäische pouvoir constituant indes in ein undurchsichtiges Gewand gehüllt, das den Blick auf Inhalt und Konturen des Anwendungsbereichs der Charta für die Mitgliedstaaten nur nach erheblichen Aufräumarbeiten frei gibt. Die Architektur des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE frei gelegt und die Reichweite der Grundrechtsgeltung für die Mitgliedstaaten bestimmt, bleibt zu hoffen, dass die Mitgliedstaaten den Verfassungsvertrag rechtzeitig zum 1. November 2006 ratifizieren, so dass die Charta der Grundrechte aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und dem Grundrechtsschutz in der Europäischen Union neue Impulse verleihen kann. Zu der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte im Einzelnen: I.

Der EuGH hat den Schutz der Grundrechte in der Union während der letzten Jahrzehnte kontinuierlich ausgebaut und nicht nur die europäischen Einrichtungen und Organe, sondern auch die Mitgliedstaaten bei Handlungen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, die Grundrechte zu beachten. Innerhalb dieses Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts handeln die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH sowohl bei (administrativem) Vollzug (und möglicherweise normativer Umsetzung) von Gemeinschaftsrecht als auch bei der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten. Bei Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten zieht der EuGH die Grundrechte zum einen in einer abwehrrechtlichen Dimension (status negativus), als Schranken-Schranken, heran, in der die Grundrechte Eingriffen der Mitgliedstaaten in Grundfreiheiten Grenzen setzen. Zum anderen rekurriert er auf die Grundrechte auch in der Funktion des status positivus, als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten, in der die Grundrechte den Mitgliedstaaten einen Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in Grundfreiheiten liefern.177

Zusammenfassung

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II. Abweichend von der Terminologie des EuGH zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten innerhalb des „Anwendungsbereichs“ des Gemeinschaftsrechts und entsprechend seiner Formulierung zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte bei dem Verwaltungsvollzug gemeinschaftsrechtlicher Regelungen beschreibt Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta mit den Worten, dass sie „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gelten. Gleichwohl erstreckt Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE den Geltungsbereich der Charta und ihrer Grundrechte auf die Mitgliedstaaten – ebenso wie der EuGH – nicht nur bei dem Vollzug von Verordnungen oder anderem unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht (sowie der normativen Umsetzung von Richtlinien), sondern auch bei der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten. Das gilt zumindest insoweit, als die Grundrechte in ihrer Funktion als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten den Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung von Eingriffen in wirtschaftliche Markttätigkeiten der Bürger dienen.178 1. Dies ergibt sich nicht bereits aus grammatikalischen Erwägungen179 oder aus der Entstehungsgeschichte180 des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE, wohl aber aus den die Norm prägenden Zwecken, die der Konvent mit der Regelung verfolgte.181 Durch die in Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE letztlich gewählte Formulierung wollte der Konvent Befürchtungen der Mitgliedstaaten zerstreuen, die Integration der Charta in den rechtsverbindlichen Vertragstext der Europäischen Verfassung könnte einen Kompetenzzuwachs der Union und einen Souveränitätsverlust für die Mitgliedstaaten bewirken. Mit dieser Zielsetzung verträgt es sich nicht, Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die Grundfreiheiten zum Schutz grundrechtlich gewährleisteter Belange der Unionsbürger beschränken, aus dem Anwendungsbereich der Charta auszuklammern. Denn insoweit erweitern die Grundrechte als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in Grundfreiheiten den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten und eignen daher, Sorgen der Mitgliedstaaten vor einem (weiteren) Souveränitätsverlust entgegen zu treten. 2. Neben diesen teleologischen Aspekten spricht auch der systematische Gesamtzusammenhang, in den Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE gebettet ist, dafür, diese Vorschrift in einem weiten Sinne zu interpretieren und als „Durchführung des Rechts der Union“ auch Rechtshandlungen der 177 178 179 180 181

Erster Teil unter A. und B. Zweiter Teil unter B. Zweiter Teil unter B. III. 1. Zweiter Teil unter B. III. 2. Zweiter Teil unter B. III. 3.

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Zusammenfassung

Mitgliedstaaten anzusehen, die in Anwendung gemeinschaftsrechtlicher Ausnahmebestimmungen Grundfreiheiten der Unionsbürger zum Schutz von Grundrechten beschränken.182 Wollte man den Regelungsgehalt dieser Vorschrift auf den Administrativvollzug von Gemeinschaftsrecht durch die Mitgliedstaaten oder die Richtlinienumsetzung reduzieren und mitgliedstaatliche Maßnahmen, die durch das europäische Primärrecht in Gestalt der Grundfreiheiten geschützte grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit beschränken, nicht am Maßstab der Grundrechte überprüfen, bedeutete dies einen Rückschritt in der Entwicklung der Europäischen Union. Der in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich vollzogene Übergang von der auf den Abbau von Binnenmarktbeschränkungen gerichteten Wirtschafts- und Währungsunion zu einer Union der Völker, in deren Zentrum der Unionsbürger als Träger geistiger, sozialer und politischer Fähigkeiten und Bedürfnisse steht, würde missachtet. Die wirtschaftlich ausgerichteten Grundfreiheiten der Unionsbürger würden gegenüber den nicht (nur) wirtschaftsbezogenen Grundrechten a priori privilegiert, ohne dass im Einzelfall eine Abwägung zwischen den kollidierenden Gütern und ein gerechter Ausgleich möglich wäre. 3. Weder mit einer teleologischen noch mit einer systematischen Interpretation des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE lässt sich dagegen die Geltung der europäischen Grundrechte für die Mitgliedstaaten in ihrer Funktion als Schranken-Schranken für Eingriffe in Grundfreiheiten begründen. Insoweit lässt sich allenfalls der Gesichtspunkt der „Einheitlichkeit der Grundrechtsgeltung“ fruchtbar machen, der die Grundrechte in Gestalt von Schranken-Schranken der Grundfreiheiten als Folge ihrer Geltung als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten für die Mitgliedstaaten zur Anwendung bringt.183 III. Über die bislang von dem EuGH entwickelten Fallgruppen hinaus sollten die Mitgliedstaaten nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE künftig auch dann verpflichtet sein, die Grundrechte der Charta zu beachten, wenn sie Maßnahmen ergreifen, um den durch Grundfreiheiten geschützten Interessen der Marktbürger Rechnung zu tragen und dabei grundrechtlich gewährleistete Belange zurücktreten lassen (Grundfreiheiten als Konkretisierung der Schranken der Grundrechte). Anderenfalls würden die Träger von Grundrechten gegenüber den Trägern von Grundfreiheiten benachteiligt, nicht wirtschaftliche Tätigkeit gegenüber wirtschaftsbezogener Freiheitsausübung mit einem dünneren Schutzmantel versehen. Dies stünde mit der Entwicklung der Europäischen Union zur Union der Völker Europas, in der die Unionsbürger nicht – primär – als Wirtschaftssubjekt im Mittelpunkt des 182 183

Zweiter Teil unter B. III. 4. Zweiter Teil unter B. III. 3. und 4.

Zusammenfassung

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Handelns stehen, nicht in Einklang. Ebenso sollte der EuGH künftig Handlungen der Mitgliedstaaten an den Grundrechten der Charta messen, wenn sie durch die Grundrechte geschützte Freiheiten beschränken und der Schutz wirtschaftsbezogener, durch die Grundfreiheiten gewährleisteter Tätigkeiten eine Begrenzung des Grundrechtseingriffs fordert (Grundfreiheiten als Schranken-Schranken der Grundrechte).184 Der dogmatische Ansatzpunkt für eine solche Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union sollte allerdings nicht – wie sich neuerlich in der Rechtsprechung des EuGH andeutet – in der Anknüpfung an das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger gewählt werden, sondern (nach wie vor) in dem Bezug mitgliedstaatlicher Maßnahmen zu den europäischen Grundfreiheiten respektive deren Ausnahmebestimmungen liegen, die im Rahmen der Entscheidungsfindung abwägend zu berücksichtigen sind.185 Dagegen lässt sich eine Grundrechtbindung der Mitgliedstaaten für Rechtsakte, die keinerlei Bezug zu den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts aufweisen, sei es, dass sie in Grundrechte zum Schutz von (anderen) Grundrechten der Unionsbürger eingreifen (Grundrechte als Konkretisierung der Schranken von Grundrechten), sei es, dass sie Grundrechte der Unionsbürger beschränken und (andere) Grundrechte die Handlungsmacht der Mitgliedstaaten begrenzen (Grundrechte als Schranken-Schranken von Grundrechten), mit der geltenden Fassung des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE wohl nicht in Einklang bringen. Insoweit dürfte es an der erforderlichen „Durchführung von Unionsrecht“, dem „Scharnier“ zum Anwendungsbereich der Charta, fehlen.186

184 185 186

Dritter Teil. Dritter Teil. Dritter Teil.

Summary The Charter of Fundamental Rights of the Union (Charter) represents a landmark in the Union’s development from a single market-related economic and monetary union to a union of citizens for whom for the first time a written catalogue of fundamental rights is guaranteed by the Charter. The scope of application of the Charter and of its fundamental rights for Member States is stipulated in the provision of Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Treaty establishing a Constitution for Europe (Constitution). The European pouvoir constituant has with the provision of Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution wrapped one of the core horizontal provisions in a thick cloak that only after considerable pruning reveals the contents and contours of the scope of application of the Charter for Member States. After having clarified the architecture of Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution and exposed the range of applicability of fundamental rights for Member States, one can only hope that the Member States will ratify the Treaty establishing a Constitution for Europe in time prior to 01 November 2006 so that the Charter of Fundamental Rights can be awakened from its lethargy and give new momentum to the protection of fundamental rights in the European Union. The obligation of Member States to observe the fundamental rights is to be determined as follows: I.

The ECJ has continuously extended the protection of fundamental rights within the Union during the last decades, and has obliged not only the European institutions and bodies, but also the Member States regarding acts in the context of applying Community Law to observe fundamental rights. Within this scope of application of Community Law, the Member States act in accordance with ECJ jurisdiction regarding (administrative) execution (and maybe normative implementation) of Community Law as well as when justifying restrictions of fundamental freedoms. With measures on the part of Member States within the scope of application of the fundamental freedoms, the ECJ draws on fundamental rights on the one hand in a legally defensive dimension (status negativus) in which fundamental rights limit encroachments on fundamental freedoms by Member States (fundamental rights as Schranken-Schranken of fundamental freedoms). On the other hand, the ECJ refers to fundamental rights also in their function of status positivus as a substantiation of the limits of fundamental freedoms in

Summary

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which fundamental rights give Member States a justification for encroachments on fundamental freedoms.187 II. In deviation from ECJ terminology in the context of obliging Member States to observe fundamental rights within the “scope of applicability” of the Community Law, and in accordance with its wording concerning the obligation of Member States to observe fundamental rights in the administrative implementation of Community Law, Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution describes the obligation of Member States to observe fundamental rights of the Charter literally as applying “to the Member States only when they are implementing Union law”. Anyhow, Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution extends the scope of applicability of the Charter and its fundamental rights to Member States – as does the ECJ – not only concerning the implementation of regulations or of other directly applicable Community Law (as well as the normative implementation of directives), but also concerning the justification of limitations of encroachments on fundamental freedoms by Member States. This at least applies to the extent that fundamental rights in their function as a substantiation of the limitations of fundamental freedoms of Member States serve to justify encroachments on the citizens’ economic market activities.188 1. This does not arise already from grammar-related considerations189 or the history of the origin190 of Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution, but rather from the goals which the Convent intended by the wording of Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution.191 By using the wording that was finally chosen for Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution, the Convent wanted to dispel fears among Member States that the integration of the Charter in the legally binding contractual text of the European Constitution could lead to an increase in competences for the Union and loss of sovereignty for Member States. It is not consistent with this objective to exempt from the scope of the Charter’s applicability measures on the part of Member States which limit fundamental freedoms for the protection of fundamental rights of the Union’s citizens. Since in this respect fundamental rights as a justification for encroachments on fundamental freedoms extend the scope of Member States, and hence are suited to dispel concerns of Member States regarding (another) loss of sovereignty. 187 188 189 190 191

See See See See See

Part Part Part Part Part

1, 2, 2, 2, 2,

A. and B. B. B. III. 1. B. III. 2. B. III. 3.

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Summary

2. In addition to these teleological aspects, also the systematic overall context of Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution supports a broad interpretation of this provision, and to consider also those legal acts of Member States as constituting “implementing Union Law” which in applying exemptions from Community Law limit fundamental freedoms of the Union’s citizens for the protection of fundamental rights.192 If one wanted to reduce the regulatory subject matter of this provision to apply to the administrative implementation of Community Law by Member States or the implementation of directives, and wanted not to judge by the yardstick of fundamental rights measures by Member States which limit cross-border economic activity protected by European primary law in the form of the fundamental freedoms, this would represent one step back in the continuous development over the last decades of the European Union from an economic and monetary union focused on the dismantling of limitations of the internal market to a union of the peoples in whose centre the Union’s citizen stands as the holder of intellectual, social and political abilities and needs. Those Union’s citizens’ fundamental freedoms that are guided by an economic rationale would be a priori privileged in comparison to those fundamental rights that are not (only) economy-related, without a consideration of colliding goods and a fair balance being possible in specific instances. 3. Neither a teleological nor a systematic interpretation of Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution can justify the applicability of European fundamental rights for Member States in their function as Schranken-Schranken to encroachments on fundamental freedoms. In this respect, at most the aspect of “uniformity of applicability of fundamental rights” might be used which would apply fundamental rights in their function as limitations of encroachments on fundamental freedoms as a result of their applicability as a substantiation of the limitations of the fundamental freedoms for Member States.193 III. Beyond the case groups developed up to now by the ECJ, Member States according to Article II-111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution should be obliged in the future also to observe the Charter’s fundamental rights if they execute measures in order to take into account the interests of the market citizen that are protected by fundamental freedoms, and in doing so let interests guaranteed by fundamental rights take a back seat (fundamental freedoms as a substantiation of the limitations of fundamental rights). Otherwise, the holders of fundamental rights would be disadvantaged in 192 193

See Part 2, B. III. 4. See Part 2, B. III. 3. und 4.

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comparison to the holders of fundamental freedoms, and non-economic activity compared to the exercise of economic freedom would be provided with a thinner layer of protection. This would not be compatible with the development of the European Union towards a union of the peoples of Europe in which the Union’s citizens are not – primarily – in the centre of attention as economic subjects. Also, the ECJ should judge in the future actions of Member States in accordance with the Charter’s fundamental rights if they limit freedoms that are protected by fundamental rights, and the protection of economy-related activities provided by fundamental freedoms requires a limitation of the encroachment on fundamental rights (fundamental freedoms as Schranken-Schranken of fundamental rights).194 However, the dogmatic starting point for such an advancement of the protection of fundamental rights in the European Union should not be chosen – as recent ECJ jurisdiction would indicate – in the context of the right to free movement of the Union’s citizens, but rather (still) in the relation of measures of Member States regarding European fundamental freedoms and the provisions governing exemptions thereof, that in the course of decision making are to be weighed.195 In contrast, a commitment to fundamental rights by Member States for legal acts that have no relation to the fundamental freedoms of Community Law is probably not compatible with the effective wording of Article II111 Paragraph 1 Clause 1 of the Constitution, be it that they limit fundamental rights intended for the protection of (other) fundamental rights of the Union’s citizens (fundamental rights as substantiation of the limitations of fundamental rights), be it that they limit fundamental rights of the Union’s citizens, and (other) fundamental rights limit the Member States’ power to act (fundamental rights as Schranken-Schranken of fundamental rights). In this respect, the requirement of “implementing Union Law” – the “hinge” to the Charter’s scope of applicability – will not be fulfilled.196

194 195 196

See Part 3. See Part 3. See Part 3.

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Sachverzeichnis Arbeitnehmerfreizügigeit s. Grundfreiheiten Auslegung – grammatikalische A. des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE 42 ff. – historische A. des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE 47 ff. – systematische A. des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE 62 ff. – teleologische A. des Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE 58 ff. – und Beratungen im Europäischen Konvent 54 – und Beratungen im Konvent 48 ff. – und Erläuterungen des Präsidiums des Konvents 55 ff. Ausnahmen s. Schranken Binnenmarkt 34, 63 ff., 72, 78 Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anwendungsbereich für die Mitgliedstaaten 36 ff. – Art. 51 Abs. 1 Satz 1 Charta-Entwurf 12, 47 ff., 58 ff., 79 – Beratung der C. im Europäischen Konvent 54 – Beratung der C. im Konvent 48 ff. – Erläuterungen des Konvents 55 ff.

Präsidiums

des

– und Souveränität der Mitgliedstaaten s. Mitgliedstaaten Dienstleistungsfreiheit s. Grundfreiheiten

EMRK s. Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten Entstehungsgeschichte s. Auslegung, historische Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten 12 f., 25, 28 f. Europäische Union – Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte 13 – Entwicklung von Wirtschafts- und Währungsunion zu politischer Union 63 ff. Europäischer Gerichtshof – Fortentwicklung der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten s. Mitgliedstaaten – Generalanwalt bei dem s. dort – Kompetenz zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Rechtsakte am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte nach Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE 36 ff. – Kompetenz zur Kontrolle mitgliedstaatlicher Rechtsakte am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte nach der Judikatur des 13 ff. – Rechtsprechung zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei Beschränkung von Grundfreiheiten 21 ff. – Rechtsprechung zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei Umsetzung von Richtlinien 20 ff. – Rechtsprechung zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten bei Vollzug von Verordnungen 17 ff. – Rechtsprechung zur Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten im Anwen-

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Sachverzeichnis

dungsbereich des Gemeinschaftsrechts 15 ff. – Rechtssache Annibaldi 15 f., 56 ff. – Rechtssache Bickel und Franz 31 f., 34, 76 f. – Rechtssache Bostock 18 f., 41 f., 46 – Rechtssache Carpenter 26, 69 – Rechtssache Cinéthèque 15 f., 49, 52 f. – Rechtssache Collectieve Antennevoorzienung Gouda 28 f. – Rechtssache Demirel 15 f. – Rechtssache ERT 15 f., 22, 25, 56 f. – Rechtssache Familiapress 29, 26 Fn. 50 – Rechtssache Graff 18 f., 41 f., 46 – Rechtssache Karlsson 18 f., 46, 49, 53 ff. – Rechtssache Klensch 18, 40 f., 46 – Rechtssache Kommission ./. Deutschland 25 ff. – Rechtssache Konstantinidis 31 ff. – Rechtssache Kremzow 49, 52 ff. – Rechtssache Martínez Sala 31 ff., 76 f. – Rechtssache Rutili 28 – Rechtssache Schmidberger 12, 30 f., 61, 66 f., 71, 72 f., – Rechtssache Society for the Protection of Unborn Children Ireland 15 f. – Rechtssache TV10 29 f. – Rechtssache Wachauf 18 f., 40, 46, 49, 53 ff. Europäischer Konvent – Erläuterungen des Präsidiums des 55 ff. – Motive des 54 – und Entstehungsgeschichte des Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE 55 Europäisches Gemeinschaftsrecht – Anwendungsbereich des 13 ff. – Durchführung des 12, 17 ff., 36 ff., 79 ff. – Gemeinschaftsgrundrechte s. dort – Grundfreiheiten s. dort

– (normative) Umsetzung von 20, 38 ff., 51 f., 61, 79 ff. – (administrativer) Vollzug von 17 ff., 40, 43, 46, 51 ff., 61, 68, 79 Freizügigkeit – als Gemeinschaftsgrundrecht 32 Fn. 68 – als Grundfreiheit 32 Fn. 68 – und Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten 31 ff., 75 ff. – und Richtlinie 2004/38/EG s. dort – und Unionsbürgerschaft 31 ff., 64 Gemeinschaftsgrundrechte – als Konkretisierung der Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte 72 ff. – als Konkretisierung der Schranken der Grundfreiheiten 27 ff., 47, 60 ff., 71, 78 ff. – als Schranken-Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte 72 ff. – als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten 24 ff., 30, 46, 62, 68 ff., 71 ff. – als ungeschriebene Gewährleistungen des Gemeinschaftsrechts 12 f., 17 – Bindung der europäischen Einrichtungen und Organe an die 13 – Bindung der Mitgliedstaaten an die s. Mitgliedstaaten – Diskriminierungsverbot 19 f., 31, 34 f. – Eigentumsrecht 19 – Gleichheitsrecht 19, 68 – Meinungsfreiheit 15 f., 25, 28 ff., 73 – staatliche Schutzpflichten 27 – status negativus 25 f., 30, 78, 82 – status positivus 29, 78, 82 – und Grundrechtskatalog 13, 64 f., 78 – und Quellen 13 – Ungleichbehandung von G. und Grundfreiheiten 66 ff., 73 ff. – Versammlungsfreiheit 30, 67 f., 73 Gemeinschaftsrecht s. Europäisches Gemeinschaftsrecht

Sachverzeichnis Generalanwalt – Jacobs 31 ff. – La Pergola 31 ff. – und Rechtssache Konstantinidis 31 ff. Grundfreiheiten – als Konkretisierung der Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte 72 ff. – als Schranken-Schranken der Gemeinschaftsgrundrechte 72 ff. – Arbeitnehmerfreizügigkeit 21 – Bindung der Mitgliedstaaten an Gemeinschaftsgrundrechte bei Beschränkung von G. nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE s. Mitgliedstaaten – Bindung der Mitgliedstaaten an Gemeinschaftsgrundrechte bei Beschränkung von G. nach der Judikatur des EuGH s. Mitgliedstaaten – Dienstleistungsfreiheit 16, 21, 25 f., 28, 63 f., 69 – Freizügigkeit s. dort – Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit 21, 63 f. – Niederlassungsfreiheit 21, 33, 65 – und Ausnahmebestimmungen s. Schranken – und Binnenmarkt s. dort – Ungleichbehandlung von G. und Gemeinschaftsgrundrechten 66 ff., 73 ff. – Warenverkehrsfreiheit 21, 26 f., 29 f., 63, 67 f., 73 – Wirtschaftsbezogenheit 32 ff., 64 ff., 72 ff. Grundrechtecharta s. Charta der Grundrechte der Europäischen Union Grundrechtsbindung – der Europäischen Union s. dort – der Mitgliedstaaten nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE s. Mitgliedstaaten – der Mitgliedstaaten nach der Judikatur des EuGH s. Mitgliedstaaten – Fortentwicklung der G. der Mitgliedstaaten

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Interpretation s. Auslegung Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit s. Grundfreiheiten Konvent – Erläuterungen des Präsidiums des 55 ff. – Motive des 48 ff. – und Entstehungsgeschichte des Art. II111 Abs. 1 Satz 1 VVE 48 ff. Mitgliedstaaten – Begrenzung der Handlungsmacht der 24 ff., 61 f., 71 f., 81 – Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte ohne Eingriff in Grundfreiheiten 71 ff. – Bindung der M. an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Eingriff in Grundfreiheiten nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE 42 ff. – Bindung der M. an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Eingriff in Grundfreiheiten nach der Judikatur der EuGH 21 ff. – Bindung der M. an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Umsetzung von Richtlinien nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE 41 ff. – Bindung der M. an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Umsetzung von Richtlinien nach der Judikatur des EuGH 20 ff. – Bindung der M. an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Vollzug von Verordnungen nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE 40 ff. – Bindung der M. an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Vollzug von Verordnungen nach der Judikatur des EuGH 17 ff. – Erweiterung der Handlungsmacht der 27 ff., 47, 71 f., 81 – Fortentwicklung der Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten 71 ff.

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Sachverzeichnis

– Sorge um Souveränitätsverlust 59 ff., 79 – und Europäische Union 14 Niederlassungsfreiheit s. Grundfreiheiten Ratifizierung – des Vertrags über eine Verfassung für Europa 11, 78 Rechtfertigung s. Schranken Richtlinie – Auslegung und Anwendung von in Umsetzung von R. ergangenen nationalen Rechts 20 – Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Umsetzung von R. nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE s. Mitgliedstaaten – Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Umsetzung von R. nach der Judikatur des EuGH s. Mitgliedstaaten – Umsetzung 20 ff., 41 ff. – Unmittelbare Anwendbarkeit 17, 40, 43 Schranken – Ausnahmebestimmungen der Grundfreiheiten 22 ff., 33, 38, 42 ff., 46, 56 ff., 61 ff., 76, 80 f. – geschriebene und ungeschriebene 22 f., 27, 42 f., 57, 61 – Konkretisierung der S. der Gemeinschaftsgrundrechte durch Gemeinschaftsgrundrechte 72 ff. – Konkretisierung der S. der Gemeinschaftsgrundrechte durch Grundfreiheiten 72 ff. – Konkretisierung der S. der Grundfreiheiten durch Gemeinschaftsgrundrechte 27 ff., 47, 60 ff., 71, 78 ff. Schranken-Schranken – der Gemeinschaftsgrundrechte s. dort – der Grundfreiheiten s. dort

Union s. Europäische Union Unionsbürgerschaft – und Entwicklung der Europäischen Union zur Rechte- und Wertegemeinschaft 64 ff. – und Freizügigkeit s. dort – und Vertrag von Maastricht s. dort Verordnung – Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Vollzug von V. nach Art. II-111 Abs. 1 Satz 1 VVE s. Mitgliedstaaten – Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte bei Vollzug von V. nach der Judikatur des EuGH s. Mitgliedstaaten Vertrag über eine Verfassung für Europa – und Charta der Grundrechte der Europäischen Union 11 f. – und geschriebener Grundrechtskatalog 13, 64 f., 78 – Ratifizierung s. dort Vertrag von Amsterdam 64 Vertrag von Maastricht 64 f. – und Entwicklung der Europäischen Union von der Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft zur Rechte- und Wertegemeinschaft 64 ff. – und Freizügigkeit 64 f. – und Unionsbürgerschaft 64 f. Vertrag von Nizza 64 Warenverkehrsfreiheit s. Grundfreiheiten Wirtschafts- und Währungsunion 63 ff., 78 f. – Entwicklung zur Rechte- und Werteunion 62 ff. Wortlaut s. Auslegung, grammatikalische