Bildwerke für Kanonissen?: Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts [1 ed.] 9783412515805, 9783412515782

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Bildwerke für Kanonissen?: Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783412515805, 9783412515782

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Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung

Julia von Ditfurth, Adam Stead (Hg.)

BILDWERKE FÜR KANONISSEN? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts

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Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 2 herausgegeben von Klaus Gereon Beuckers, Vivien Bienert, Jörg Bölling, Julia von Ditfurth, Maria Julia Hartgen, Tobias Kanngießer, Hedwig Röckelein, Esther-Luisa Schuster und Adam Stead



Julia von Ditfurth, Adam Stead (Hg.)

Bildwerke für Kanonissen?

Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstiftskirchen des 13. und 14. Jahrhunderts Beiträge zur zweiten Tagung des Forums für Frauenstiftsforschung

vom 3. bis 4. November 2018

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Köln, St. Maria im Kapitol, Grabplatte der Plektrudis. © Ulrich Knapp, Leonberg. Umschlaggestaltung: hawemannundmosch, Berlin Das Logo für das Forum für Frauenstiftsforschung wurde entworfen von Lukas von Bülow, Berlin

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51580-5



Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Heiligenverehrung in den Frauenstiften St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula in Köln im 13. und 14. Jahrhundert

Tobias Kanngießer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung/Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sancta Plectrudis Regina? Die Gründerin von St. Maria im Kapitol zu Köln: Eine Spurensuche am Ort

Heribert Müller. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung/Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

„Crux sub odaeo miraculosa“. Leidenskruzifixe in Frauenkonventen: Der Gabelkruzifixus von St. Maria im Kapitol in Köln

Vivien Bienert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung/Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Funktion, Bedeutung und Modifizierung mittelalterlicher Lettner in Frauenstiftskirchen am Beispiel der ehemaligen Lettner von St. Marien und Pusinna in Herford und St. Ursula in Köln

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Adam Stead. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Zusammenfassung/Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

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|  Inhalt Mittelalterliche Taufgefäße in Frauenstiften – Überlegungen zur Spezifik des Denkmalbestands

Jörg Widmaier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Zusammenfassung/Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Das Vesperbild in der klösterlichen Frauenfrömmigkeit des 14. Jahrhunderts mit besonderem Augenmerk auf der sogenannten Pietà corpusculum

Ludmila Kvapilová-Klüsener. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Zusammenfassung/Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Monumentale Stiftermemoria um 1300: Lebensgroße Gründerfiguren in niedersächsischen Frauenklöstern und Damenstiften

Jens Reiche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung/Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bildnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Das ‚Forum für Frauenstiftsforschung‘ widmete seine zweite Tagung dem Thema „Bildwerke für Kanonissen? Neue Bildwerke und Heiligenverehrung in Frauenstifts­ kirchen des 13. und 14. Jahrhunderts“. Wieder kamen Vertreterinnen und Vertreter der Fächer Kunstgeschichte, Geschichte, Archäologie, Theologie, Liturgie- und Musikwissenschaft am ersten Novemberwochenende in Köln zusammen und diskutierten kunsthistorische Fragestellungen zu Frauenkonventskirchen. Nachdem bei der ersten Tagung der Kirchenraum als bauliche Hülle mit seinen Grenzen und Schwellen untersucht wurde, war der Fokus nun auf die Ausstattung gerichtet, die im 13. und 14. Jahrhundert in die Kirchen von Frauenstiften und Frauenklöstern kam. Eine zentrale, übergeordnete Frage war, ob sich in dieser Zeit, angeregt durch geistige Strömungen wie der Mystik, eine veränderte Frömmigkeit und Heiligenverehrung in den Bildwerken niedergeschlagen hat, ob diese neue Typen und/oder Motive ausbildeten und ob sie in einem bestimmten Aspekt frauenspezifisch sind. Dabei lag das Augenmerk auf unterschiedlichen Objekttypen, wie beispielsweise Lettnern, Taufgefäßen oder Gründer- bzw. Stifterfiguren. Mit mehreren Beiträgen zu den stadtkölnischen Frauenstiften, deren Heiligenverehrung und ausgewählter Bildwerke, bildete der Tagungsort Köln thematisch einen geografischen Schwerpunkt, während die Beiträge zu den obengenannten Objekttypen wie auch zu Vesperbildern die Betrachtung um andere Gebiete erweiterten, von Westfalen über Niedersachsen bis hin zum heutigen Belgien und dem süddeutschen Raum. Ein großer Dank geht an alle Mitglieder und Gäste des ‚Forums für Frauenstiftsforschung‘, die die Tagung sowie die vorliegende Publikation inhaltlich gestaltet haben: Klaus Gereon Beuckers, Vivien Bienert, Jörg Bölling, Erika von Bülow, Julia Maria Hartgen, Tobias Kanngießer, Ludmila Kvapilová-Klüsener, Heribert Müller, Joachim Oepen, Anna Pawlik, Alheydis Plassmann, Hedwig Röckelein, Jens Reiche, Esther-Luisa Schuster und Jörg Widmaier. Zudem danken wir den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften des Kunsthistorischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, insbesondere Katharina Pawlak, für die tatkräftige Unterstützung bei der Tagung sowie der Publikation. Sowohl den Autorinnen und Autoren als auch dem Team des Verlages Böhlau, hier insbesondere Kirsti Doepner, sind wir zu großem Dank verpflichtet, dass sie alle so diszipliniert an den Texten gearbeitet haben und der zweite Tagungsband rechtzeitig zur dritten

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|  Vorwort

Tagung des Forums Anfang November 2019 vorliegt. Anna Pawlik und Marc Peez übernahmen während der Tagung freundlicherweise den öffentlichen Abendvortrag „Schöne Jungfrauen zu Ehren der hl. Klara. Kunsthistorische und kunsttechno­ logische Beobachtungen zum Kölner Klarenaltar“. Unser Dank gilt ebenfalls Peter Füssenich, der die Veranstaltung des Abendvortrags im Kurienhaus am Kölner Dom ermöglichte. Klaus Gereon Beuckers und Esther-Luisa Schuster trugen mit Vorträgen zu Reliquienschreinen bzw. figürlichen Grabmälern in Frauenstiftskirchen wesentlich zu den auf der Tagung erörterten Fragestellungen bei. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Pfarrgemeinde St. Maria im Kapitol und des Hauses Hermann-Josef in Köln, einer Jugendhilfeeinrichtung in Trägerschaft der Stiftung ‚Die Gute Hand‘, danken wir für die Möglichkeit, auch unsere zweite Tagung in deren Räumlichkeiten und damit unmittelbar an der ehemaligen Frauenstiftskirche St.  Maria im Kapitol ausrichten zu dürfen. Gleichermaßen ist der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein großer Dank für die Finanzierung von Netzwerk und Publikation auszusprechen. Wie der erste Tagungsband ist auch der vorliegende zweite ein Gemeinschaftswerk der Netzwerkmitglieder und -gäste und Zeugnis des wissenschaftlichen Austausches zwischen Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen, der – so hoffen wir – auch auf den kommenden Tagungen des ‚Forums für Frauenstiftsforschung‘ eine Fortsetzung finden wird. Kiel und Köln, im Frühjahr 2019 Julia von Ditfurth und Adam Stead

Heiligenverehrung in den Frauenstiften St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula in Köln im 13. und 14. Jahrhundert Tobias Kanngießer

„Ganz allgemein ist zu bemerken, dass der Besitz von Heiligenreliquien und der Kult um die Heiligen für geistliche Institutionen im Mittelalter von höchster Relevanz war, nicht nur in ihrer Gründungsphase“.1 Eine Gemeinschaft von religiösen Frauen oder Männern sicherte die Verehrung und Memoria der am Ort verehrten heiligen Frauen und Männer.2 Die folgende Darstellung beschäftigt sich mit der Frage der Heiligenverehrung in Frauenstiften im 13. und 14. Jahrhundert und sucht nach speziellen Formen ihrer Ausgestaltung. Bei der Untersuchung eröffnen sich zu Beginn einige Problemstellungen, die mit der Auswahl a) der Konvente und b) der Heiligen einhergehen: a. Im Alten Reich gab es mit Essen (St.  Cosmas und Damian), Quedlinburg (St. Servatius) und Gandersheim (St. Anastasius und Innozenz) drei bedeutende 1 Hedwig Röckelein: Gründungsbauten von Frauenstiften und früher Reliquienkult. Eine Problemskizze anhand der Stiftskirchen Gandersheim und Vreden, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter, hg.  v. Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 21–34, hier S. 21. – Vgl. dazu allgemein Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 21997 (EA 1994). 2 Seit 1994 existiert ein ‚Arbeitskreis für hagiographische Fragen‘, der sich regelmäßig trifft und dessen Ergebnisse teilweise in der Reihe ‚Beiträge zur Hagiographie‘ veröffentlicht wurden. So z.B.: Dieter Bauer (Hg.): Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 5), Stuttgart 2007. – Ders. u.a. (Hg.): Heilige – Liturgie – Raum (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 8), Stuttgart 2010. – Gordon Blennemann/Klaus Herbers (Hg.): Vom Blutzeugen zum Glaubenszeugen? Formen und Vorstellungen des christlichen Martyriums im Wandel (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 14), Stuttgart 2014. – Andrea Beck/Klaus Herbers/Andreas Nehring (Hg.): Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktionen (Beiträge zur Hagiographie, Bd. 20), Stuttgart 2016.

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|  Tobias Kanngießer

reichsunmittelbare Damenstifte. Die Stadt Köln kann für den Untersuchungszeitraum ebenfalls mit drei Konventen aufwarten: St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St.  Ursula. Für das Erzbistum Köln muss der Kreis um das bereits genannte Frauenstift in Essen erweitert werden. Nicht im Erzbistum, aber doch teilweise in seinen Suffraganbistümern gelegen, waren Elten, Geseke, Gernrode, Freckenhorst, Meschede. Zudem wären weitere Stifte im süddeutschen Raum zu nennen. b. In der Auswahl der Heiligen sind die je eigenen Heiligen des Ortes in den Blick zu nehmen. Zu berücksichtigen sind die Heiligen, die eine allgemeine Bedeutung für den Konvent hatten, im Zusammenhang mit der Gründung standen oder auf dem Stiftsgelände aufgefunden wurden. Die Errichtung von Altären und die Altarpatrozinien des 13./14. Jahrhunderts werden nicht berücksichtigt, da die Altarstiftungen zumeist auf eine Gründung extra conventum zurückgehen und somit keine Rückschlüsse auf das Anliegen der Heiligenverehrung der Konvente erlauben, da die Intention bei den Stiftern lag. Unter Berücksichtigung der beiden genannten Auswahlkriterien bietet es sich an, die drei in Köln gelegenen Damenstifte näher zu betrachten: Sie haben ähnliche Voraussetzungen in Bezug auf Gründungszeit, Ausstattung etc. Alle lagen auf dem Stadtgebiet Kölns. Und sie verfügten über Reliquien und Überreste von Heiligen und Personen, die für den Ort von Bedeutung waren. Allerdings ergibt sich sowohl in der synchronen als auch in der diachronen Zusammenschau eine sehr disparate Ausgangsposition für einen Vergleich, da sich die Quellenlage höchst unterschiedlich darstellt. Existiert z.B. für einen Konvent eine schriftliche Überlieferung zur Heiligenverehrung für das 13./14. Jahrhundert, so fehlt sie für die Vorgängerzeit. Aus dem Fehlen allein lassen sich keine eindeutigen Schlüsse für eine nicht existente Verehrung oder eine nicht stattgefundene Veränderung vor oder nach dem Untersuchungszeitraum ableiten. Ebenso ist der Vergleich der Konvente miteinander schwierig, da die vorliegenden Überlieferungen der ehemaligen Stifte sehr unterschiedlich sind – so gibt es keine selben Quellengattungen für alle Konvente aus der gleichen Zeit, wie z.B. Libri Ordinarii.3 So müssen verschiedene Quellen3

Vgl. zur Gattung des Liber Ordinarius: Jürgen Bärsch: Liber ordinarius. Zur Bedeutung eines liturgischen Buchtyps für die Erforschung des Mittelalters, in: Archa Verbi 2 (2005), S.  9–58. – Tilmann Lohse: Stand und Perspektiven der Liber ordinarius-Forschung, in: Liturgie in mittelalterlichen Frauenstiften. Forschungen zum Liber Ordinarius, hg. v. Klaus Gereon Beuckers (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 10), Essen 2012, S. 215–255.

Heiligenverehrung in den Frauenstiften St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula in Köln   |

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gattungen unter der oben genannten Fragestellung für verschiedene Orte in den Blick genommen werden. Unter den gerade genannten Bedingungen stellen die vorzustellenden Ergebnisse einen Werkstattbericht dar, der Anregung und Grundlage für weitere Forschungen und Vergleiche sein kann. So werden im Folgenden die Verehrung von Heiligen, am Ort gefundenen Reliquien und Gründungspersönlichkeiten der Konvente St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula vorgestellt. Mit einem Ausblick zur Heiligenverehrung von St. Severin in Köln werden die Ergebnisse in den Kontext einer männlichen Kommunität kurz angedeutet, ergänzt und ausgeweitet.

Heiligenverehrung in St. Maria im Kapitol

Im 13. und 14. Jahrhundert war der Bau von St. Maria im Kapitol im Wesentlichen abgeschlossen und hatte sein noch heute größtenteils erkennbares Aussehen.4 Zu dieser Zeit war die Umwandlung vom angenommenen Benediktinerinnenkloster in ein Damenstift abgeschlossen. Die Ausstattung des Inneren lässt sich anhand verschiedener Quellen teilweise nachvollziehen, z.B. die Altartopografie, verschiedene Retabel und Grabmäler, Reliquienschreine und die Orte der Kanonissen und Kanoniker. Nicht immer sind die Aufstellungsorte eindeutig lokalisierbar oder das genaue Aussehen rekonstruierbar. Der Chor der Kanonissen befand sich im Westen der Kirche und der der Kanoniker im Ostchor.5 Neben dem Hochaltar St. Maria im Hochchor (geweiht 1065) spielen die Grabmäler der Gründerin von St. Maria im Kapitol, Plektrudis (verst. nach 717), und deren Verwandte Notburgis (verst. um 700) eine Rolle. Der einzige bekannte Reliquienschrein ist der des heiligen Vitalis (verst. um 60). Schriftliche Zeugnisse aus dem 13. und 14.  Jahrhundert, die die Liturgie beschreiben oder in der Liturgie verwendet wurden, fehlen. Unter Verwendung der Beschreibung Kölns des Kölner Geistlichen und Historiografen Aegidius Gele-

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Eine herausragende Ausnahme bilden die sogenannte Hardenrath-Kapelle im Winkel zwischen südlicher Zwickelkapelle und Südkonche sowie die Hirtz-Kapelle im Winkel zwischen Ostkonche und nördlicher Zwickelkapelle, die beide im 15.  Jahrhundert errichtet worden sind. Vgl. dazu die neueste Rekonstruktion von Klaus Gereon Beuckers: St. Maria im Kapitol zu Köln als Frauenkonventskirche, in: von Ditfurth/Bienert 2018 (wie Anm. 1), S. 127– 162, hier S. 147.

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nius (1595–1656) von 1645,6 des Liturgischen Handbuchs des Vikars Heinrich Berchem (bezeugt zwischen 1630 bis nach 1635) an St.  Maria im Kapitol7 und edierter Kalendarien aus Totengedenkbüchern des Stifts8 und weiterer Kalendarien9 lassen sich vorsichtige Rückschlüsse auf die Heiligenverehrung in St. Maria im Kapitol für den Untersuchungszeitraum ziehen.

Die Verehrung des heiligen Vitalis Der heilige Vitalis wurde auch als Nebenpatron in St. Maria im Kapitol verehrt, es handelt sich um den heiligen Vitalis von Ravenna, dessen Festtag am 28. April begangen wird. In den von Joachim Oepen ausgewerteten Nekrologen des Stifts wird er in allen sieben Handschriften erwähnt, in vier Exemplaren ist er auch als Patron der Kirche bezeichnet.10 Im Handbuch Berchem (1634) wird das Fest mit tres lectiones begangen.11 Das Aussehen des Schreins des heiligen Vitalis ist nicht überliefert. Aegidius Gelenius beschrieb ihn als „ex auro & argenta fabricata“,12 einen Standort überliefert er nicht,13 im 14. und 15.  Jahrhundert hat der Schrein vermutlich hinter dem Hochaltar gestanden.14 Im Zusammenhang mit der Liturgie des Stifts und der 6 Aegidius Gelenius: De admiranda, sacra, et civili magnitudine Coloniae Agrippinensis Augustae Ubiorum Urbis libri IV, Köln 1645, S. 323–332. 7 Handbuch Berchem, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Best. St. Maria im Kapitol A II 16, fol. 101r–112v. Die Eintragungen des Memorienkalenders sind als Handschrift G ediert bei: Joachim Oepen: Die Totenbücher von St. Maria im Kapitol zu Köln. Edition und personengeschichtlicher Kommentar (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 32), Siegburg 1999. Vgl. zur Beschreibung des Memorienkalenders: Ebd., S. 79–82. 8 Vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 7), S. 79–82. 9 Eine Auswertung zum Kölner Festkalender verschiedener Handschriften wurde bereits 1910 vorgelegt: Georg Zilliken: Der Kölner Festkalender. Seine Entwicklung und seine Verwendung zu Urkundendatierungen. Ein Beitrag zur Heortologie und Chronologie des Mittelalters, in: Bonner Jahrbücher 119 (1910), S. 13–157. 10 In den Nekrologen C (1512–1518), E (um 1590), F (um 1590) und G (1634) des Stifts wird er als „patronus ecclesie in Capitolio“ bezeichnet. – Oepen 1999 (wie Anm. 7), S. 145. 11 Für einen Patron der Kirche scheint das gering zu sein, hat aber den gleichen Status wie andere Sonntage und Apostelfeste. 12 Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 326. 13 Vgl. Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 326. 14 Vgl. Angela Kulenkampff: Die Marienbruderschaft von St.  Maria im Kapitol und ihre Bedeutung für das kirchliche Leben in vortridentinischer Zeit (ca. 1350–1634), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 60 (1989), S. 1–29, hier S. 10. Es war wohl mit der

Heiligenverehrung in den Frauenstiften St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula in Köln   |

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Kölner Kirche wurde der Schrein mehrfach erwähnt. So wurde er im 17. Jahrhundert bei Umgängen in der Kirche und um das Stift mitgeführt.15 Bei der Übertragung des Dreikönigsschreins vom alten in den neuen Dom am 27. September 1322 wurde er ebenfalls mitgetragen.16 Für St. Maria im Kapitol ist eine Vitalisbruderschaft der Blaufärber nachgewiesen, die ihre kirchliche Zulassung jedoch erst nach dem Konzil von Trient im 16. Jahrhundert erhalten hat.17

Die Plektrudisverehrung Plektrudis gilt als Gründerin einer geistlichen Frauengemeinschaft auf dem Kapitolshügel. Als solche kam ihr eine herausragende Stellung für die nachfolgenden Generationen weiblicher Religiosen an diesem Ort zu und sie hat eine besondere Verehrung erfahren.18 Eine Verehrung als Heilige ist nur in Köln und Essen belegt.19 Frömmigkeit der Zeit nicht mehr vereinbar, dass der Schrein auf dem Hochaltar gestanden habe, dort stand stattdessen ein Vesperbild, vgl. Ebd. Hugo Rahtgens vermutet einen kostbaren spätromanischen Reliquienschrein, vgl. Hugo Rahtgens (Bearb.): Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln. St. Gereon – St. Johann Baptist – die Marienkirchen – Gross St. Martin (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 7.1; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2.1), Düsseldorf 1911, hier S. 273. Das Metall des Schreins wurde 1795 versteigert. – Vgl. Ebd. – Der Verbleib der Reliquien ist nicht bekannt. Ebenso ist auch nicht nachvollziehbar, wie die Reliquien nach St. Maria im Kapitol kamen. 15 Vgl. Kulenkampff 1989 (wie Anm. 14), S. 11 f., Anm. 38. 16 Vgl. Jakob Torsy: Achthundert Jahre Dreikönigenverehrung in Köln, in: Kölner Domblatt 23/24 (1964), S.  15–162, hier S.  18 f. Unter der Annahme einer von 1634 überlieferten Prozessionsordnung aus St. Pantaleon nimmt Torsy an, dass der Schrein an zwölfter Stelle mitgeführt wurde. – Vgl. Ebd. – Weiterhin wird die Prozession von 1322 ausgewertet: Jakob Schlafke: Wallfahrt im Erzbistum Köln, Köln 1989, S. 5. – Anton Legner: Kölner Heilige und Heiligtümer. Ein Jahrtausend europäischer Reliquienkultur, Köln 2003, S. 80–83. 17 Vgl. Kulenkampff 1989 (wie Anm.  14), S.  5. – Bei Gelenius ist die Bruderschaft nicht aufgezählt. 18 Vgl. dazu zunächst den Beitrag von Heribert Müller in diesem Band sowie Heribert Müller: Sancta Plectrudis Regina? Eine Spurensuche in St. Maria im Kapitol zu Köln, in: Eleganz und Performanz. Von Rednern, Humanisten und Konzilsvätern, Festschrift für Johannes Helmrath zum 65.  Geburtstag, hg.  v. Christian Jaser/Harald Müller/Thomas Woelki, Köln/Wien/Weimar 2018, S. 141–170. 19 Martin Seidler: Das spätromanische Grabmal der Plektrudis. Kritische Betrachtung der bisherigen kunsthistorischen Thesen aufgrund des konservatorischen Befundes, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 187–194, hier S. 187. Martin Seidler beruft sich in seiner Aussage auf die Beschreibung bei Hugo Rahtgens, vgl. Rahtgens 1911 (wie Anm. 14), S. 191.

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|  Tobias Kanngießer

In den Totenbüchern des Stifts wird an ihrem Gedenktag, dem 10. August, des heiligen Märtyrers Laurentius gedacht und ihrer Stellung als Gründerin: „Memoria Plectrudis regine, fundatricis huius ecclesie; …“20 und „Hic fit memoria sancte Plec­ trudis fundatricis et cantantur vigilie hora prima“.21 Eine aus dem 12. Jahrhundert überlieferte, allerdings stark anzuzweifelnde Allerheiligenlitanei nennt Plektrudis (und Notburgis) als Heilige.22 Die Gestaltung des spätromanischen Plektrudisgrabes mit einer Grabplatte unter Verwendung von „Formen und Motiven, die auch Gestaltungsmerkmale der Reliquienschreine im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts sind“23 lässt auf eine Verehrung von Plektrudis als Heilige schließen. Darüber hinaus finden sich vereinzelt Hinweise auf eine Bezeichnung Plektruds als Heilige.24 Sie kann zwar als eine als Heilige verehrte Gründerin aus höchster Gesellschaftsschicht bezeichnet werden, eine Steigerung ihres Kultes ist allerdings unter diesen Voraussetzungen nicht möglich.25 Das Grab der Plektrudis befand sich im jetzigen Kirchenbau vermutlich von Beginn an im westlich gelegenen Joch vor dem Kreuzaltar.26 Demzufolge gab es keine Verlegung der Grabstätte, die den Schluss einer Konzentrierung oder Verstärkung der Plektrudisverehrung im 13. Jahrhundert zulässt. Die Nähe des Grabmals zum Kanonissenchor und die ausgezeichnete Lage in der Längsachse der Kirche27 müssen somit für die Qualität der Plektrudisverehrung ausreichen. 20 Oepen 1999 (wie Anm. 7), S. 193, Nr. 222, Handschrift A, 13./14. Jahrhundert. 21 Oepen 1999 (wie Anm. 7), Handschriften C–E, 16. Jahrhundert. 22 Vgl. dazu den Beitrag von Heribert Müller in diesem Band. 23 Seidler 2009 (wie Anm. 19), S. 191. 24 Vgl. Müller 2018 (wie Anm. 18), S. 151 und seinen Beitrag in diesem Band. 25 Vgl. Müller 2018 (wie Anm. 18). 26 Vgl. zur Diskussion der Grablege: Fried Mühlberg: Grab und Grabdenkmal der Plektrudis in St. Marien im Kapitol zu Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 24 (1962), S. 21–96. – Ulrike Bergmann: Die gotische Grabplatte der Plektrudis in St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 3 (1988), S. 77–88. – Friedrich Dahm: Die romanische Grablege der Plectrudis in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol, in: Festschrift Hermann Fillitz, hg. v. Martina Pippal (Aachener Kunstblätter, Bd.  60), Köln 1994, S.  211–222. – Und zuletzt Seidler 2009 (wie Anm.  19). – Joachim Oepen unterstützt die These, dass das Plektrudisgrab nicht erst in der Vierung zu suchen sei und im 13. Jahrhundert verlegt wurde, sondern sich seit dem 8. Jahrhundert im Mittelschiff der Kirche befand, vgl. dazu: Joachim Oepen: Das liturgische Totengedenken an St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 219–236, hier S. 233. 27 Hanns Peter Neuheuser: Liturgische Raumerschließung und Heiligenverehrung, in: Bauer u.a. 2010 (wie Anm. 2), S. 183–216, hier S. 187.

Heiligenverehrung in den Frauenstiften St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula in Köln   |

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Textzeugen wie z.B. eine Heiligenlegende oder entsprechende Texte, die in der Liturgie verwendet wurden, sind aus St. Maria im Kapitol nicht überliefert, auch nicht in der Sammlung Analecta Hymnica. Diese Indizien erlauben den Rückschluss, dass eine Verehrung Plektrudis’ an ihrem Grab anzunehmen ist, jedoch kaum die Grenzen des Stifts überschritten hat, geschweige denn Einzug in den Heiligenkalender der kölnischen Kirche gefunden hat.

Die Notburgisverehrung Notburgis war eine Nichte von Plektrudis.28 War der Kult um Plektrudis nicht zum Heiligenkult steigerbar, so kann sie als Ersatzheilige herangezogen werden. Die Gebeine von Notburgis wurden vermutlich im 12. Jahrhundert bei Bauarbeiten im Süden des Immunitätsbereichs von St. Maria im Kapitol an einer bereits bestehenden Kapelle gefunden. Für selbige ist ein Notburgispatrozinium erstmals 1163/67 belegt. Der Gedenktag der Heiligen ist der 31. Oktober, der Tag ihrer Beisetzung.29 In der bereits im Zusammenhang mit der Plektrudisverehrung erwähnten Allerheiligenlitanei des 12. Jahrhunderts ist Notburgis (zusammen mit Plektrudis) genannt. Aus dem 13. Jahrhundert ist eine Vita überliefert30 – und damit ein wichtiger Hinweis auf einen möglichen Versuch der Heiligsprechung. Die gefundenen Gebeine von Notburgis wurden zusammen mit anderen Reliquien seit 1303 in einem Schrein in der eben genannten Notburgiskapelle (später die Kirche St. Peter und Paul) aufbewahrt.31 Außer der weniger vertrauenswürdigen Allerheiligenlitanei sind keine liturgischen Texte ihrer Verehrung überliefert. In den Nekrologen des Stifts wird ihr

28 Zu Notburgis vgl. ebenfalls Müller 2018 (wie Anm. 18), S. 151 und seinen Beitrag in diesem Band. Siehe auch Helga Hemgesberg: Die ehemalige Peter- und Paulskirche auf dem Kapitol in Köln (St. Notburgis), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 59 (1988), S. 19–38. 29 Vgl. Hemgesberg 1988 (wie Anm. 28), S. 28. 30 De S. Noitburge virgine Coloniae Agrippinae, ed. Remigius De Buck, in: Acta Sanctorum, Octobris Tomus XIII, Paris 1883 (ND 1970). 31 Vgl. Hemgesberg (wie Anm. 28), S. 30. – Ludwig Arntz/Heinrich Neu/Hans Vogts (Bearb.): Die ehemaligen Kirchen, Klöster, Hospitäler und Schulbauten der Stadt Köln (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 7.3; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2.3, Ergänzungsband), Düsseldorf 1937, S. 348–350. Verbleib von Schrein und Reliquien ist unklar.

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Name unter oben genanntem Datum nicht aufgeführt,32 auch nicht in anderen Kalendarien Kölner Handschriften.33

Fazit Der heilige Vitalis scheint im Leben des Stifts keine außerordentliche Bedeutung gehabt zu haben, weder in der hier zu untersuchenden Zeit noch davor oder danach. Seine stadtkölnische Bedeutung wird in der Mitführung seiner Reliquien bei der Weihe des Domchores 1322 zusammen mit den Reliquienschreinen anderer Kölner Stifts-, Kloster- und Pfarrkirchen deutlich. Sein angenommener Platz an zwölfter Stelle lässt ihn im Rang gegenüber anderen unbedeutend erscheinen. Die Verehrung von Plektrudis und Notburgis als zwei Heiligen, die in engem Zusammenhang mit der Gründung der Gemeinschaft stehen, lässt sich schwer bis gar nicht nachweisen, wobei die nachgewiesene Vita für Notburgis einen Hinweis auf eine mögliche Heiligsprechung darstellt. Eine spezifische Verehrung der Heiligen des Ortes St. Maria im Kapitol kann für die Frauenkommunität nicht nachgewiesen werden. Die Heiligen waren innerhalb des Konventes von Bedeutung. Ihre Rolle über das Frauenstift hinaus war weniger beachtlich und sie wurden nicht durch maßgebliche Verehrung gewürdigt.

Heiligenverehrung in St. Cäcilien

St. Cäcilien ist als Ort einer Frauenkommunität seit dem letzten Drittel des 9. Jahrhunderts nachweisbar, mögliche Vorgängerbauten eines christlichen Kultortes existierten frühestens seit dem 8.  Jahrhundert.34 Ihre bis heute im Wesentlichen erhaltene Gestalt erhielt die Kirche im 12. Jahrhundert. Bereits ins 10. Jahrhundert fällt die Ausführung einer Krypta mit darüber liegendem rechteckigen Westchor. Der Anbau einer Kapelle im Norden erfolgte im 13. Jahrhundert. Zunächst als ad32 Vgl. Oepen 1999 (wie Anm. 7), hier S. 235 f., Nr. 304. 33 Vgl. Zilliken 1910 (wie Anm. 9), hier S. 36–127. 34 Vgl. Elisabeth Maria Spiegel: St.  Cäcilien. Die Ausgrabungen. Ein Beitrag zur Baugeschichte, in: Köln: Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg.  v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd.  1), Köln 1984, S. 209–234, hier S. 222.

Heiligenverehrung in den Frauenstiften St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula in Köln   |

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liges Damenstift nachweisbar übernahmen Ende des 15. Jahrhunderts AugustinerChorfrauen Kirche und Stiftsgebäude. Als Heilige des Ortes sind für St. Cäcilien Evergislus (amt. um 589/90, verst. 590/94) und Paulinus Levita (verst. um 750?) von besonderer Bedeutung.

Die Verehrung des heiligen Evergislus Das Fest des heiligen Evergislus wird am 24. Oktober begangen.35 Er ist ein heiliger Bischof von Köln aus dem 6. Jahrhundert, der auf einer Reise nach Tongern von Wegelagerern ermordet worden ist. Im 10. Jahrhundert wurde er von Erzbischof Brun (amt. 953–965) nach Köln überführt und seine Gebeine zur Verehrung dem Stift St. Cäcilien überlassen, wo zu der Zeit die Schwester Bruns, Berthsuita, Äbtissin (962 bezeugt) war. Vermutlich steht der Bau der Krypta im Westen mit dem darüber liegenden Frauenchor in diesem Zusammenhang. Der Reliquienschrein befindet sich heute in der benachbarten Pfarrkirche St.  Peter, wohin er nach Aufhebung des Klosters gelangte. Die Metallarbeiten wurden im 19.  Jahrhundert neu ausgeführt. Der noch erhaltene mittelalterliche Holzkern stammt aus dem 12.  Jahrhundert, eine Urkunde von 1270, mit Siegel und Unterschrift von Albertus Magnus (um 1200–1280) als Bischof von Regensburg (amt. 1260–1262), belegt die ordnungsgemäße Schließung des Schreins.36 Bei einer Schreinsöffnung 2011 entdeckte Textilien stammen aus dem 10.–15. Jahrhundert.37 Weder ein aus dem Ende des 15. Jahrhunderts überlieferter Liber Ordinarius noch Aegidius Ge-

35 Vgl. für eine ausführliche Darstellung zu Leben, Legendenbildung und Verehrung des heiligen Evergislus Hendrik Hülz: Bischof Evergislus. Ein Kölner Heiliger und seine Bedeutung in Geschichte und Gegenwart (Libelli Rhenani, Bd. 16), Köln 2006 und Heinz Finger: St. Evergislus, in: Heilige Kölner Bischöfe. Ausst. Kat. Diözesan- und Dombibliothek Köln, hg. v. Heinz Finger/Werner Wessel (Libelli Rhenani, Bd. 44), Köln 2013, S. 77–86. – Vgl. zur Legende auch Wilhelm Levison: Bischof Eberigisil von Köln, in: Festschrift Albert Brakmann, Weimar 1931, S. 40–63. 36 Vgl. Joachim Oepen: St. Cäcilien/St. Peter. Die Öffnung des Evergislusschreins in St. Peter, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 31 (2016), S. 113–115, hier S. 113 f. 37 Vgl. Ulrike Reichert/Annemarie Stauffer: Die Textilien aus dem Schrein des heiligen Evergislus, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 31 (2016), S. 117–131.

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lenius geben Auskunft über den Standort des Schreins.38 Der Ordinarius führt einen Altar mit Evergisluspatrozinium im Nonnenchor auf.39 Aus den Jahren 1449 und 1645 existieren Belege für eine Evergislusbruderschaft der Maler und Glaser in St. Cäcilien.40 Von 1226 datiert eine Urkunde, in der festgehalten ist, dass der Pfarrer von St. Peter für die Prozession der Pfarrei am Sonntag nach Fronleichnam die mitzuführenden Reliquien von St. Cäcilien bei der Äbtissin zu erbitten habe.41 Im September 1322 wurde der Reliquienschrein des heiligen Evergislus bei der Domchorweihe an 13. Stelle mitgetragen.42

Die Verehrung des heiligen Paulinus Levita Paulinus Levita ist „vielleicht [...] der eigentümlichste Kölner Heilige“, dessen „Ver­ ehrung offenbar niemals über St. Cäcilien hinausgekommen“43 ist. Sein Fest ist am 4. Mai. Die Gebeine wurden im 13. Jahrhundert bei Bauarbeiten im Umfeld der Kirche gefunden.44 Auf der Nordseite der Kirche wurde eine Kapelle zu seinen Ehren erbaut, zu deren Vollendung 1261 ein Ablass erteilt wurde.45 Sie wurde aber 38 Vgl. Tobias Kanngiesser: Hec sunt festa que aput nos celebrantur. Der Liber Ordinarius von Sankt Cäcilien, Köln (1488) (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 44), Siegburg 2017, S. 157 f. – Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 358 f. 39 Vgl. Kanngiesser 2017 (wie Anm. 38), S. 103–106, 226. 40 Vgl. Rebekka von Mallinckrodt: Struktur und kollektiver Eigensinn. Kölner Laienbruderschaften im Zeitalter der Konfessionalisierung (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 209), Göttingen 2005, S. 100. – Hans-Joachim Kracht/Jakob Torsy: Reliquiarium Coloniense (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 34), Siegburg 2003, S. 247, Nr. 309D (mit entsprechenden Quellenangaben). 41 Diese Urkunde ist im Original verloren und als Abdruck überliefert: Nicolaus Michel: Das alte freiherrliche Kanonissenstift St. Cäcilien in Köln, Saarlouis 1914, S. 156–158. 42 Vgl. Torsy 1964 (wie Anm. 16), S. 19. 43 Heinz Erich Stiene: Von Ägyptischen Tagen und wohltätigem Staub. Untersuchungen zum Festkalender und zu den Offizien im Antiphonar der Anna Hachenberch (Museum Schnütgen, C 44a-b), in: Analecta Coloniensia. Jahrbuch der Diözesan- und Dombibliothek Köln 13/14 (2013/14), S. 69–136, hier S. 98 f. 44 So berichtet es Aegidius von Orval in seiner Geschichte der Lütticher Bischöfe, die er zwischen 1247 und 1251 verfasste: Aegidius von Orval: Gesta Episcoporum Leodiensium, hg. v. Joh. Heller, in: Gesta saec. XIII., hg. v. Georg Waitz (u.a.) (Monumenta Germaniae Historica, Scriptores 25), unveränderter Nachdruck der Ausgabe Hannover 1880, Stuttgart 1964, S. 1–129, hier S. 20 und Michel 1914 (wie Anm. 41), S. 10. 45 Vgl. Friedrich Wilhelm Oediger (Hg.): Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter Bd. 1: 313–1099 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 21), Bonn 1961, S. 289, Nr. 2153.

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erst 1324 fertiggestellt und erhielt einen Altar zu Ehren des Heiligen.46 In der einsetzenden Legendenbildung wird er zunächst als Schüler des dritten Bischofs von Trier, Maternus (verst. um 328), bezeichnet.47 Nach Aegidius Gelenius hatte der heilige Paulinus sein Martyrium um 750 in Konstantinopel erlitten48 – eine Darstellung, die im Widerspruch zur Geschichte der Lütticher Bischöfe von Aegidius von Orval (13. Jahrhundert) steht. Wie viele andere Kölner Heilige auch, hat er in der spätmittelalterlichen Sequenz Gaude felix Agrippina einen Platz erhalten. Einen Reliquienschrein hat es bereits im Mittelalter gegeben, aber weder Aussehen noch Aufstellungsort sind überliefert.49 Heute befindet sich ein Schrein aus dem 19.  Jahrhundert mit den Gebeinen des Heiligen in St.  Peter.50 Für die Prozession am Sonntag nach Fronleichnam durch den Sprengel von St.  Peter musste der Pfarrer – wie für Evergislus auch – die Gebeine des heiligen Paulinus Levita bei der Äbtissin von St. Cäcilien erbeten.51 Auch dieser Schrein wurde 1322 mit in den neuen Dom getragen, an achter Stelle.

Fazit Während der heilige Evergislus ein nach St. Cäcilien translationierter Heiliger war, wurden die Gebeine von Paulinus in der Umgebung der Kirche gefunden. Die Reliquienschreine beider wurden bei der Weihe des Domchores 1322 mitgetragen. Ebenso wurden die zwei Schreine am Sonntag nach Fronleichnam durch die Pfarrei St. Peter getragen. Die im Evergislusschrein gefundenen Textilien zeugen von seiner Bedeutung und bekunden, wie wertvoll die Reliquien waren. Sie reihen sich in die bekannte Tradition der Beigabe von Textilien in Reliquienschreinen.52 46 Vgl. Michel 1914 (wie Anm. 41), S. 84. 47 Vgl. von Orval 1964 (wie Anm. 44), S. 20. 48 Vgl. Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 359 f. Gelenius nennt keine Quellen, auf die er sich beruft. 49 Vgl. Erhard von Winheim: Sacrarium Agrippinae. Hoc est Designatio Ecclesiarum Coloniensium, Praecipuarum Reliquiarum: Quarundam itidem Antiquitatum memorabilium, Köln 1607, S. 118. – Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 359. 50 Jörg-Holger Baumgarten: Kölner Reliquienschreine (Köln entdecken, Bd. 3), Köln 21986 (EA 1985), S. 150 f. 51 Vgl. Michel 1914 (wie Anm. 41), S. 156–158. 52 Vgl. dazu Sabine Schrenk/Ulrike Reichert: Die Textilien aus dem hölzernen Schrein in St. Severin, in: Der hl. Severin von Köln. Verehrung und Legende, Befunde und Forschungen zur Schreinsöffnung von 1999, hg.  v. Joachim Oepen u.a. (Studien zur Kölner Kir-

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Heiligenverehrung in St. Ursula

Im Jahr 922 wurde St.  Ursula als Damenstift eingerichtet und mit aus Gerresheim geflohenen Kanonissen besetzt. Zuvor war dort ein Kanonikerstift.53 Bis in die Barockzeit war die Kirche als Kirche der heiligen 11.000 Jungfrauen bekannt. Die noch heute erhaltene Kirche hat ihr wesentliches Aussehen seit dem Ende des 13. Jahrhunderts.54 Damalige Baumaßnahmen folgten dem Fund zahlreicher Reliquien der ursulanischen Heiligenschar, die im 12. Jahrhundert auf dem ager ursulanus entdeckt worden waren. Mit dem zu dieser Zeit errichteten neuen Hochchor wurde ein „in Architektur umgesetztes gläsernes Reliquiengehäuse“55 mit elf großbahnigen Fenstern geschaffen. Unterhalb der Fenster befinden sich Nischen für Reliquien. Mit dem Neubau des Chores wurde auch der Hauptaltar neu geschaffen, von dem sich bis heute ein hölzernes Schreinsgehäuse für insgesamt drei Reliquienschreine erhalten hat: Für den Schrein der heiligen Ursula (4. Jahrhundert?) in der Mitte, und jeweils ein Fach rechts und links für den Schrein des heiligen Aetherius (4.  Jahrhundert?) und des heiligen Hippolytus (verst.  235). Nach vorne waren die Gehäuse mit Gittertüren verschlossen. An der Rückseite waren die Schreine durch eine Eisenkette gesichert. Die Reliquienschreine ruhten in dem Gehäuse auf freistehenden Säulen hinter dem Altarblock. So wurde es von vorne wie ein Retabel wahrgenommen, unter dem man auf der Rückseite darunter durchgehen konnte. Der Chor der Kanonissen befand sich auf der Westempore.56

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chengeschichte, Bd. 40), Siegburg 2011, S. 215–371. – Tracy Niepolt/Hedwig Röckelein: Frühmittelalterliche Seiden und Authentiken aus St. Ursula in Köln, in: Seide im früh- und hochmittelalterlichen Frauenstift. Besitz, Bedeutung, Umnutzung, hg. v. Thomas Schilp/Annemarie Stauffer (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 11), Essen 2013, S. 199–231. Vgl. Karen Künstler-Brandstädter: St. Ursula, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 11 (1996) [Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2], S. 208–224, hier S. 208. Die Fertigstellung des Hochchores wird für 1287 angenommen, ist jedoch erst 1322 bezeugt, vgl. Klaus Gereon Beuckers: Köln: Die Kirchen in gotischer Zeit. Zur spätmittelalterlichen Sakralbautätigkeit an den Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen in Köln (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 24), Köln 1998, S. 312. Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 53), S. 212. Vgl. Adam Stead: Raum im Raum – Bemerkungen zu Querhausemporen in Frauenstiftskirchen im 11. und 12. Jahrhundert, in: von Ditfurth/Bienert 2018 (wie Anm. 1), S. 71– 96, hier S. 93–96. – Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (Große Kunstführer, Bd. 207), Regensburg 2000, S. 73–80.

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Von dort aus ist eine Sicht auf die Schreine und den Altar möglich.57 Neben diesen drei genannten Heiligen sind für St. Ursula der heilige Valerius (4. Jahrhundert?) und die heilige Viventia (verst. 639/40) von Bedeutung. Beide hatten ihre Grabstätte in der Kirche. Gelenius erwähnt in seinem Schatzverzeichnis die drei Schreine von Ursula, Aetherius und Hippolytus an erster Stelle.58 In der sich anschließenden Aufzählung der Heiligenfeste, die in St. Ursula gefeiert wurden, zählt er Ursula, Cordula, Hippolytus und Viventia, mit dem Zusatz, dass deren Grab zu sehen ist, auf.59

Die Verehrung der heiligen Ursula und Aetherius Das Fest der heiligen Ursula wird am 21.  Oktober begangen. Der Ursulaschrein stammt in seinem Ursprung aus der Zeit um 1160, sein jetziges Aussehen erhielt er am Ende des 19. Jahrhunderts. In dem Schreinsgehäuse hinter dem Hochaltar stand er in der mittleren Position. Bereits im 12. Jahrhundert setzte eine reiche Legendenbildung ein.60 Von der weiten Verehrung der heiligen Ursula künden viele liturgische Texte.61 Im Liber Ordinarius des Stifts aus dem Ende des 14. Jahrhunderts ist ihr Festtag jedoch nicht enthalten.62 In einem Memorienbuch des Stifts63 57 Eventuell existierte an der Schwelle zwischen Kirchenschiff und Langchor eine Querschranke bzw. ein Lettner. Vom Damenchor im Westen könnte, je nach Höhe des Lettners, eine Sicht auf Altar und Reliquienschreine möglich gewesen sein. Vage Hinweise zu einer Querschranke finden sich in der Literatur bei Kosch 2000 (wie Anm. 56), S. 80. Siehe zur Frage nach einem Lettner auch den Beitrag von Adam Stead in diesem Band. 58 Vgl. Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 336. 59 Vgl. Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 337. 60 Hier sei auf die „Offenbarungen über das heilige Heer der Kölner Jungfrauen“ von Elisabeth von Schönau verwiesen: Elisabeth von Schönau: Werke, eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Peter Dinzelbacher, Paderborn u.a. 2006, S. 145–163. 61 Ein Blick in den Index der Analecta Hymnica liefert zahlreiche Funde mittelalterlicher Textzeugnisse: vgl. Analecta Hymnica medii aevi, Register, Bd. 2, hg. v. Max Lütolf, Bern/München 1978. 62 Der Liber Ordinarius ist ediert bei Gertrud Wegener: Der Ordinarius des Stiftes St. Ursula in Köln, in: Aus kölnischer und rheinischer Geschichte. Festschrift Arnold Güttsches, hg. v. Hans Blum (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd.  29), Köln 1969, S. 115–132. 63 J[ohann] B[aptist] Dornbusch: Das Memorienbuch des Stiftes S. Ursula zu Köln, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 28/29 (1876), S. 49–85. Das Memorienbuch wurde am Ende des 15. Jahrhunderts begonnen und bis ins 18. Jahrhundert fortgeführt, ihm lag vermutlich eine ältere Handschrift zugrunde, vgl. Ebd., S. 50. Die inhaltlichen

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sind für den Tag sieben zu betende Tagzeiten genannt und eine Seelmesse; zudem wurde gemeinschaftlich Weizen geteilt.64 Das Fest findet sich in den von Georg Zilliken ausgewerteten Kalendarien in fast allen Handschriften.65 In welcher Form der Kanonissenkonvent das Fest begangen hat, bleibt offen. Der heilige Aetherius ist der legendäre Verlobte von Ursula, dessen Fest mit dem der heiligen Ursula zusammenfällt. Gelenius erwähnt nur seinen Schrein, nicht aber seinen Festtag.66 In den Texten, die in den Analecta Hymnica ausgewertet wurden, findet sich kein Registereintrag zu seinem Namen.67 Die Reliquienschreine der heiligen Ursula und Aetherius wurden 1322 zur Weihe des Domes mitgetragen, wobei der Aetheriusschrein an erster Stelle mitgeführt wurde und der Ursulaschrein vor dem Dreikönigsschrein an 16. Stelle.68

Die Verehrung des heiligen Hippolytus Die Reliquien des heiligen Hippolytus brachten die aus Gerresheim geflohenen Kanonissen 922 mit. Der Schrein befand sich ebenfalls hinter dem Hochaltar, damit dürfte er die gleiche Bedeutung für die Gemeinschaft der Kanonissen an St. Ursula gehabt haben wie Ursula und Aetherius. Sein Fest ist im Erzbistum Köln seit dem 9./10. Jahrhundert nachweisbar.69 Im Ordinarius des Stifts ist er nicht eingetragen, im Memorienbuch ist festgehalten, wie die Kanoniker, Vikare und Schüler den Tag begangen haben: mit einer Vesper, einer Seelmesse und dem gemeinschaftlichen Verteilen von Weizen.70 Der mittelalterliche Schrein ist verloren, die Reliquien beAusführungen sind aus Sicht der Kanoniker geschrieben. Die Handschrift befindet sich im Archiv des Erzbistums Köln: Memorienbuch, Historisches Archiv des Erzbistums Köln, Best. Stift St. Ursula A II 1, p. 3–52. 64 Vgl. Dornbusch 1876 (wie Anm. 63), S. 76. In den weiteren Ausführungen zu diesem Tag findet sich der Eintrag, dass die Äbtissin die Kanoniker einlädt, es bleibt offen zu was; und die Reliquien der hl. Cordula zu ihrem Altar getragen werden und später zurück in die Goldene Kammer. Das Fest der hl. Cordula ist am 22. Oktober, also am Folgetag, sodass eine Aufstellung ihrer Reliquien auf ihrem Altar durchaus Sinn ergibt. Anschließend erhielten die Kanoniker sowie die jungen Jungfrauen Geld, vgl. Ebd. 65 Vgl. Zilliken 1910 (wie Anm. 9), S. 108 f. 66 Vgl. Gelenius 1645 (wie Anm. 6), S. 336 f. 67 Vgl. Lütolf 1978 (wie Anm. 61). 68 Vgl. Torsy 1964 (wie Anm. 16), S. 19. 69 Vgl. Zilliken 1910 (wie Anm. 9), S. 90 f. 70 Vgl. Dornbusch 1876 (wie Anm. 63), S. 72. Hinzugenommen werden sollte auch der Eintrag am Tag der heiligen Ursula, Ebd. S. 76 und hier Anm. 64.

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finden sich seit 1953 wieder in der Gerresheimer Stiftskirche St. Margareta. Bei der Chorweihe des Domes 1322 wurde sein Reliquienschrein an dritter Stelle mitgetragen.71

Die Verehrung des heiligen Valerius Der heilige Valerius war der Legende nach ein spanischer König, der zur Schar der heiligen Ursula gehörte. Sein Gedenktag wird am 14. Februar begangen. Die Beschreibung seines Festes findet sich im Ordinarius von St. Ursula, dort wird der Heilige allerdings mit „Valentinus“ bezeichnet.72 Im Memorienbuch ist der Tag ebenfalls mit „Valentinus“ angegeben, in den weiteren Ausführungen wiederum findet sich „Translatio Sancti Valerii“.73 Da das Fest ansonsten im Erzbistum Köln nicht bezeugt ist, kann hier von einem Eigenfest des Ursulastifts ausgegangen werden.74 Anhand der Angaben des Ordinarius‘ stiegen die Kanonissen an diesem Tag von ihrem Chor herab und feierten an dem Ort die Messe, wo der heilige Valerius ruht.75 Dies muss, mit den Angaben aus dem Memorienbuch ergänzt, der Allerseelenaltar gewesen sein.76

Die Verehrung der heiligen Viventia In St. Ursula existiert ein steinerner Sarkophag der heiligen Viventia, die „in Sankt Ursula als heilig verehrt“ wurde.77 Die kleine Größe des Hochgrabes, das sich am originalen Ort vor einem Pfeiler im Westen der Kirche befindet, lässt auf ein Kind schließen, das der Tradition zufolge die dritte Tochter Pippins des Älteren war.78

71 Vgl. Torsy 1964 (wie Anm. 16), S. 19. 72 Vgl. Wegener 1969 (wie Anm. 62), S. 120. 73 Vgl. Dornbusch 1876 (wie Anm. 63), S. 57 f. 74 Vgl. Wegener 1969 (wie Anm. 62), S. 120, Anm. 22. 75 Vgl. Wegener 1969 (wie Anm. 62), S. 120. 76 Vgl. Dornbusch 1876 (wie Anm. 63), S. 57. Der Allerseelenaltar ist mit dem Kreuzaltar vor dem Hochchor gleichzusetzen. An diesem Ort erhielten die Kanonissen am Aschermittwoch das Aschenkreuz. – Vgl. Wegener 1969 (wie Anm. 62), S. 121. 77 Künstler-Brandstädter 1996 (wie Anm. 53), S. 211. 78 Wegener 1969 (wie Anm. 62), S. 121, Anm. 24.

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Ihre Bestattung in der Kirche ist schon um 1250 belegt.79 Im bereits erwähnten Memorienbuch findet sich ihr Eintrag am 17.  März, nach der Jungfrau Gertrud von Nivelles (verst. 659).80 Eine anderweitige Tradition ihrer Verehrung findet sich nicht in liturgischen Texten des 13./14. Jahrhunderts.81

Fazit St. Ursula war im Besitz von heiligen Leibern, die im Zusammenhang der örtlichen Tradition standen. Inwiefern die unterschiedlichen Stellen, an denen die Reliquienschreine der heiligen Aetherius, Hippolytus und Ursula bei der Prozession von 1322 getragen wurden, einen Rückschluss über deren Bedeutung innerhalb der städtischen Liturgie zulassen, muss offen bleiben.82 Schriftliche Zeugnisse zur Heiligenverehrung in St. Ursula aus dem 13./14. Jahrhundert finden sich in Bezug auf den Ort bzw. den Konvent nur wenig. Liturgische Textzeugen zur Verehrung der heiligen Ursula und ihren Jungfrauen, die auf eine über den Konvent von St. Ursula hinausgehende Verehrung hindeuten, finden sich zahlreich. Für das Stift waren die beiden Eigenfeste von Viventia und Valerius von Bedeutung.

Ergebnissicherung und Ausblick

Jedes der drei beschriebenen Stifte war im Besitz eigener und spezieller Heiliger. Darunter finden sich als Heilige verehrte Gründerinnen (Plektrudis) oder Heilige, deren Leiber im Umfeld der Kirche gefunden wurden (Notburgis, Paulinus Levita, Ursula, Aetherius, Valerius, Viventia) sowie einem Konvent zur Traditions79 Vgl. Ludwig Arntz u.a. (Bearb.): Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln. S. Ursula, Ursulinenkirche, S. Elisabeth, S. Maria Ablass, Kartause. Deutz und die übrigen Vororte, die Friedhöfe (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 7.3; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2.3), Düsseldorf 1934, S. 54. – Aegidius von Orval 1964 (wie Anm. 44), S. 34. 80 Vgl. Dornbusch 1876 (wie Anm. 63), S. 60. Der dort genannte Ort der Tumba ist gegenüber des Armariums. 81 Vgl. die Auswertung bei Georg Zilliken, bei dem sich kein Eintrag in den Kalendarien am 17. März findet: Zilliken 1910 (wie Anm. 9), S. 54 f.; ebenso findet sich der Name nicht im Register der Analecta Hymnica. – Vgl. Lütolf 1978 (wie Anm. 61). 82 Darüber hinaus wäre überhaupt nach der Bedeutung dieser Ordnung zu fragen, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eine angenommene Prozessionsordnung für 1322 handelt, vgl. Torsy 1964 (wie Anm. 16), S. 19.

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sicherung überlassene Heilige (Evergislus), Heilige, die zum Ursprungsort einer Gemeinschaft gehörten (Hippolytus) und schließlich ein Heiliger, der als Nebenpatron einer Kirche fungierte (Vitalis). Eine Heiligenverehrung, die sich anhand schriftlicher Zeugnisse festmachen oder sogar detailliert beschreiben ließe, ist äußerst dürftig. Die heute noch erhaltenen Dinge sind hauptsächlich Reliquienschreine, die bereits aus einer früheren Zeit als der zu untersuchenden datieren. Die wenigen schriftlichen Zeugnisse stammen überwiegend aus dem Ende des Untersuchungszeitraums, basieren aber vermutlich auf älteren Zeugen bzw. Traditionen. Der Personenkreis, der die Heiligen verehrte, ist nicht immer eindeutig auf die jeweiligen Frauenkonvente reduzierbar. Die beiden genannten Memorienbücher aus St. Maria im Kapitol und St. Ursula entstanden im Kreis der Kanoniker. Und mindestens die Schreine der heiligen Ursula, Aetherius und Hippolytus waren so aufgestellt, dass sie von konventsfremden Personen verehrt werden konnten. Es ist auch eher davon auszugehen, dass sie diese exponierte Stellung innehatten, weil konventsfremde Personen in die Kirche kamen und die heiligen Leiber verehrten. Jeder Konvent hat dafür Sorge getragen, dass die Verehrungstradition am jeweiligen Ort kontinuierlich fortbestand und gesichert war. Insgesamt bleibt ein Vergleich der drei Konvente unter einer frauenkonventsspezifischen Fragestellung schwierig, da das Quellenmaterial sehr unterschiedlich in Bezug auf Gattung, Umfang und Entstehungszeit ist. Dennoch ziehe ich den Schluss, dass es keine Heiligenverehrung gab, die spezifisch für einen Frauenkonvent war. Mit einem kurzen Blick auf die Kirche und Konvent der Kanoniker an St. Severin soll dies deutlich werden. Die Verehrung des heiligen Severin, die Orte, an denen seine Reliquien in der Kirche aufgestellt waren und verehrt wurden, Baugeschichte und Legendenbildung sind sehr gut aufgearbeitet.83 Es zeigt sich, dass es eine enge Verknüpfung von Baumaßnahmen, Umbettung der Reliquien und dem neuen Aufstellungsort selbiger gibt. Hierbei korrelieren veränderte Aufstellungs-

83 Vgl. Wilhelm Schmidt-Bleibtreu: Das Stift St. Severin in Köln (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd.  16), Siegburg 1982. – Oepen 2011 (wie Anm.  52). – Hinzu kommt die Tagung ‚Neues zu St.  Severin. Interdisziplinär zwischen Spätantike und Neuzeit‘ am 14./15.09.2018 in Köln. Dabei wurden die jüngsten Ergebnisse, die im Rahmen der Renovierung von St. Severin 2014–2017 entstanden sind, vorgestellt. Die Veröffentlichung der Beiträge ist im nächsten Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln geplant.

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orte, Baumaßnahmen und Legendenbildung.84 Eine Zunahme der Legendenbildung lässt sich für die Schar der heiligen Ursula durch zahlreiche Knochenfunde auf dem ager ursulanus feststellen. Dadurch kam es zum Neubau des Chores von St.  Ursula. Ebenso entstand in St.  Cäcilien eine Legende zum heiligen Paulinus Levita nachdem seine Gebeine im Umfeld der Kirche gefunden worden waren. In St. Maria im Kapitol setzte nach der Auffindung der Gebeine der heiligen Notburgis eine Legendenbildung im Zuge einer möglicherweise angestrebten Heiligsprechung ein. Meiner versuchten Antwort auf die Frage nach einer spezifischen Heiligenverehrung in Frauenstiften mit dem äußerst kurz gehaltenen Hinweis auf ähnliche Phänomene in St.  Severin sollten weitere Mikrostudien folgen. So wäre der Blick auf die anderen Kölner Kollegiatskirchen männlicher Gemeinschaften zu erweitern. Ebenso können Zeitraum und Region ausgeweitet werden. Zudem ließe sich der Blick um weibliche und männliche Konvente klösterlicher Gründungen erweitern. Heiligenverehrung hängt vom jeweiligen Ort ab und lässt sich nicht in frauen- und männerkonventsspezifische Formen einteilen. Es wäre mehr nach den Bedingungen, Gegebenheiten und Voraussetzungen eines jeweiligen Ortes zu fragen, unabhängig vom Geschlecht der Kommunitätsmitglieder.

Zusammenfassung

In der Stadt Köln gab es im 13./14.  Jahrhundert drei Frauenstifte, St.  Maria im Kapitol, St.  Cäcilien und St.  Ursula, deren Gründungen in die Zeit vor das Jahr 1000 datiert werden. Durch eine Beschränkung auf drei Frauenstifte in einer Stadt können für alle Kommunitäten ähnliche Bedingungen für den Kreis von Bürgern und Klerus sowie das städtische Umfeld angenommen werden. Alle drei Konvente blicken zum Untersuchungszeitraum auf eine über 300-jährige Geschichte zurück. Sie verfügten über einen ansehnlichen Besitz von Reliquien oder Überresten von bedeutenden Persönlichkeiten, die im Zusammenhang mit den Gründungen standen oder im Umfeld der Konvents- und Kirchenbauten gefunden wurden. St. Ursula hatte durch die Auffindung der ursulanischen Heiligenschar wohl den umfangreichsten Reliquienbesitz, der sich in der Ausstattung und deren Vergegenwärtigung in der Kirche bemerkbar machte. Die Verehrungstradition der Heiligen 84 Bernd Päffgen: Grab und Schrein des hl. Severin in ihrem architektonischen Kontext vom 5. bis 13. Jahrhundert, in: Oepen 2011 (wie Anm. 52), S. 373–439.

Heiligenverehrung in den Frauenstiften St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula in Köln   |

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und Gründerinnen sicherten in dem hier angezeigten Untersuchungszeitraum des 13. und 14. Jahrhunderts inzwischen spätere Generationen geistlicher Frauen. Wie bei St. Ursula wurden auch im Umfeld von St. Maria im Kapitol und St. Cäcilien Reliquien gefunden. Während es für Notburgis in St. Maria im Kapitol noch einen familiären Zusammenhang mit der Gründerin Plektrudis gibt, so lässt sich für den heiligen Paulinus Levita keine Verbindung zur Gründung von St. Cäcilien finden. Neben den bereits genannten Heiligen oder Gründungspersönlichkeiten besaßen alle drei Konvente weitere Reliquien, die für die Gemeinschaft von Bedeutung waren. Am Beispiel der Konvente St. Maria im Kapitol, St. Cäcilien und St. Ursula werden jeweils die Heiligen und Gründerinnen vorgestellt und nach Spuren ihrer Verehrungstradition gesucht. Die Ausgangslage der Quellen stellt sich für alle drei Orte sehr unterschiedlich dar. So kann weder für die Heiligen oder Gründerinnen noch für die unterschiedlichen Konvente auf die gleiche Quellengattung zurückgegriffen werden. Stattdessen wird versucht aus unterschiedlichen Quellen eine Verehrungstradition zu rekonstruieren. Mit einem kurzen Blick auf die Verehrung des heiligen Severin in der gleichnamigen Kölner Kirche wird der Fokus von den drei Frauenstiften um die Verehrungstradition eines Heiligen in einem Kölner Männerstift erweitert.

Summary

In the 13th and 14th centuries there were three female collegiate churches in the city of Cologne, St. Maria im Kapitol, St. Cecilia, and St. Ursula, whose foundation dated back to the time before the year 1000. By limiting the focus to three female collegiate foundations in a single city, one can assume a similar set of circumstances with regard to the circle of citizens and clergy as well as the urban milieu. In the period examined here, all three churches could look back on a history spanning more than three hundred years. They were in the possession of considerable holdings of relics or the remains of important individuals who were connected with the churches’ foundation or whose remains were found on the site of the church and its conventual buildings. Owing to the discovery of the remains of St. Ursula and the 11,000 Virgins, the church of St. Ursula surely possessed the most comprehensive gathering of relics, which found representation in the church’s furnishings and visualisation of the relics. During the period of the 13th and 14th centuries investigated in this essay, it was later generations of religious women who ensured

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continuity in the tradition of veneration of the saints and female founders. As with the church of St. Ursula, relics were also discovered in the vicinity of the churches of St. Maria im Kapitol and St. Cecilia. While in the case of Notburgis at St. Maria im Kapitol a familial connection still existed with the foundress Plectrude, a connection cannot be ascertained between St. Paulinus Levita and the foundation of St. Cecilia’s. Alongside the aforementioned saints or founder figures, all three churches possessed further relics that were of significance to the community. Focusing on the examples of St. Maria im Kapitol, St. Cecilia, and St. Ursula, this essay introduces the saints and female founders of each church and uncovers traces of their tradition of veneration. The three sites differ markedly with respect to available sources that could serve as a point of departure for investigation. Accordingly, it is not possible to make recourse to the same type of source for either the saints and foundresses or the different foundations. Rather, this paper attempts to reconstruct a tradition of veneration from different sources. By means of a brief look at the veneration of St. Severin in the church of the same name in Cologne, the focus on the city’s three female collegiate foundations is expanded to include the tradition of veneration of a male saint in one of Cologne’s male collegiate foundations.

Sancta Plectrudis Regina? Die Gründerin von St. Maria im Kapitol zu Köln: Eine Spurensuche am Ort Heribert Müller

Es ist eigentlich erstaunlich, dass St. Maria im Kapitol, dieser auf Fundamenten des römischen Tempels errichtete Solitär unter den romanischen Kirchen Kölns, der Gottesmutter und nur ihr geweiht ist, obgleich deren Gründerin Plektrud, Gattin des karolingischen Hausmeiers Pippin des Mittleren, eigentlich alle Voraussetzungen erfüllte, um – wie etwa eine Gertrud von Nivelles, Tochter des Maiordomus Pippin des Älteren – Adelsheilige und so (Mit)Patronin an eigener Grabstätte zu werden.1 Doch erst mit dem späteren 12.  Jahrhundert werden Bemühungen um ihre Verehrung als Heilige fassbar, deren Spuren sich dann aber bis in die Neuzeit verfolgen lassen, wobei das vorherige, fast fünf Jahrhunderte währende völlige Schweigen der Quellen natürlich Rätsel aufgibt. Sieht man einmal von einem 1956 aus dem Boden des Mittelschiffs gehobenen und heute im Umgang der Ostkonche stehenden merowingerzeitlichen Sarkophag ab, der Plektrud indes nur mit hoher Wahrscheinlichkeit zugeschrieben werden kann, so setzt die Überlieferung erst mit einer frühestens auf 1150/60, in jedem Fall aber in die zweite Hälfte des 12.  Jahrhunderts datierbaren romanischen Grabplatte mit der Inschrift S.  Plec­ 1

Dieser Beitrag erschien in etwas veränderter Form zuerst in Jaser, Christian u.a. (Hg.): Eleganz und Performanz. Von Rednern, Humanisten und Konzilsvätern. Johannes Helmrath zum 65. Geburtstag, Wien u.a. 2018, S. 141–170. Die Veröffentlichung in der thematisch ganz anders ausgerichteten Festschrift erklärt sich aus dem Umstand, dass Adressat und Autor, beide Kölner von Geburt, sich St. Maria im Kapitol seit jeher verbunden fühlen. Für seine Zustimmung zur Neuveröffentlichung bleibt also Johannes Helmrath zu danken wie auch dem Böhlau-Verlag (Frau Dorothee Rheker-Wunsch), bei dem Festschrift und der vorliegende Band erschienen sind. Einem anderen Kölner, Dr. Joachim Oepen, dem seit den Tagen seiner Dissertation (siehe hier Anm. 14b) St. Maria im Kapitol verbundenen stellvertretenden Direktor des Historischen Archivs des Erzbistums Köln (im Folgenden: HAEK), danke ich für Rat und Hilfe und dafür, dass er mir bei der Veröffentlichung generös den Vortritt überließ, obwohl auch er an dem hier behandelten Thema arbeitete. Kundige Stütze bei der Erstellung der Druckvorlage waren Sabine Strupp M. A. (Freiburg im Breisgau) und Annette Strupp (Frankfurt am Main). – Für die Veröffentlichung im vorliegenden Tagungsband wurde die Zitationsweise des Festschrift-Aufsatzes im Wesentlichen beibehalten und unterscheidet sich daher von den anderen Beiträgen dieses Bandes.

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trudis Regina ein (Abb.  1), zu der dann um 1300 eine weitere, gotische kommt, die sie mit Krone und als Kirchstifterin zeigt (Abb. 2).2 Will man sich nicht mit der Feststellung einer Kultkontinuität in schweigender Tradition begnügen,3 so gilt es manchen Fragen, angefangen eben von der Fundation durch Plektrud über die Gründe für ihre unvermutet-plötzliche Aktualität in den Quellen des späteren 12. Jahrhunderts bis hin zu ihrem weiteren Nachleben nachzugehen, wobei sich neue Probleme und Merkwürdigkeiten – dies sei vorab gesagt – auftun werden bis hin zu einem grotesk anmutenden Plektrud-Umbettungstourismus innerhalb ihrer Kirche in den letzten Jahrhunderten.

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Seidler, Martin: Das spätromanische Grabmal der Plektrudis, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009) (Interdisziplinäre Beiträge zu St. Marien im Kapitol zu Köln), S. 187–194. – Dahm, Friedrich: Die romanische Grablege der Plectrudis in der Kölner Kirche St.  Maria im Kapitol, in: Pippal, Martina u.a. (Hg.): Festschrift Hermann Fillitz, Köln 1994 (Aachener Kunstblätter, 60), S. 211–222. – Sauer, Christine: Fundatio und Memoria. Stifter und Klostergründer im Bild 1100–1350, Göttingen 1993 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 109), S.  186  f. – Bergmann, Ulrike: Die gotische Grabplatte der Plektrudis in St.  Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 3 (1988), S. 77– 88. – Mühlberg, Fried: Grab und Grabdenkmal der Plektrudis in St. Marien im Kapitol zu Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 24 (1962), S. 21–96. – Zuletzt kurz Stehkämper, Hugo/Dietmar, Carl D.: Köln im Hochmittelalter 1074/75–1288, Köln 2016 (Geschichte der Stadt Köln, 3), S.  243, 413. – Auf die Darstellung der gotischen Reliefplatte bezieht sich die 1990 im Rahmen des Figurenprogramms am Kölner Rathausturm in der Reihe ‚Herrscher und herrschergleiche Persönlichkeiten‘ angebrachte Plektrudstatue: Dreher, Bernd: Plektrudis, in: Kier, Hiltrud u.a. (Hg.): Köln: Der Ratsturm. Seine Geschichte und sein Figurenprogramm, Köln 1996 (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, 21), S. 392 f. – Zum Sarkophag Riemer, Ellen: Merowingerzeitliche Funde im Stadtgebiet von Köln, in: Kölner Jahrbuch 39 (2006), S. 266, 365 f. (mit Verweis auf Ristow). – Mühlberg, S. 21–23, 25, 28, sowie Ders.: St. Marien im Kapitol zu Köln. Beobachtungen und Einsichten, redaktionell bearb. von Hiltrud Kier, Köln o. J. [2006], S. 3. – Zuletzt Beuckers, Klaus Gereon: St. Maria im Kapitol zu Köln als Frauenkonventskirche, in: von Ditfurth, Julia/Bienert, Vivien (Hg.): Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter, Köln 2018 (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, 1), S. 146. – Vgl. hier Anm. 23. 3 So Borger, Hugo: Die Abbilder des Himmels in Köln. Kölner Kirchenbauten als Quelle zur Siedlungsgeschichte des Mittelalters, Köln 1979, S.  250. – Vgl. Kitschenberg, Matthias: Die Kleeblattanlage von St.  Maria im Kapitol zu Köln. Ihr Verhältnis zu den kirchlichen Trikonchen des frühen Christentums und des Frühmittelalters sowie die Frage nach der Entstehung des allseitigen Umganges (Diss. Bochum), Köln 1990 (36. Veröffentlichung der Abteilung Architektur des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln), S. 19.

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Abb. 1: Köln, St. Maria im Kapitol, Grabplatte der Plektrudis (2. Hälfte 12. Jahrhundert).

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Abb. 2: Köln, St. Maria im Kapitol, Grabplatte der Plektrudis (um 1300).

Zu den klösterlichen Anfängen in St. Maria im Kapitol zu Köln

Ohne Plektrud keine Herrschaft der Karolinger – so ließe sich vereinfacht und zugespitzt formulieren, da wahrscheinlich erst die Ehe mit ihr Pippin dem Mittle-

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ren den Wiederaufstieg im Majordomat nach dem Grimoald-Desaster eröffnete.4 Ihren Besitz und ihr Vermögen, die sie als Tochter der Irmina von Oeren und des Pfalzgrafen/Seneschall Hukbert wie Schwester der Adela von Pfalzel und damit als Sproß einer von der Mosel bis an Niederrhein und Maas mächtigen austrasischen Adelsfamilie in diese Verbindung einbrachte, verstand sie in eine außerordentlich starke Mitbeteiligung an Pippins Regiment umzusetzen, wodurch im Übrigen der Osten Austrasiens mit dem Rheinland und Köln als dessen Vorort innerhalb des Frankenreichs erheblich an Gewicht gewann. So suchte sie denn auch nach dem Tod ihres Gatten 714 von Köln aus über mehr als zwei Jahre die Nachfolge im Hausmeieramt in ihrem Sinn, d.h. zugunsten ihrer Enkel, allen voran des unmündigen Theudoald, zu lenken. Dagegen erhob sich der aus einer Verbindung Pippins mit einer Lütticher Adeligen stammende und schon im Mannesalter stehende Karl Martell, der seinen Sukzessionsanspruch dank zunehmender Unterstützung, vor allem aus der Heimat seiner Mutter, nach gewaltsamen Auseinandersetzungen in Köln schließlich 717 durchzusetzen vermochte.5 Plektrud, in den wenigen Quellen der Zeit wie dem Liber Historiae Francorum oder dem ersten Fortsetzer Fredegars gerade in jenen Jahren der pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise durchaus im Fokus, entschwindet seitdem aus deren Blick und sollte, wie gesagt, erst wieder im 12. Jahrhundert steinernes Profil in der Kapitolskirche gewinnen, alsbald aber als deren Gründerin auch mehrfach in schriftlichen Zeugnissen begegnen. Doch ist jenes Schweigen über ein halbes Jahrtausend nur Überlieferungszufall? Wurden die frühen Dokumente auf dem Kapitol Opfer des großen Stadtbrands von 1150?6 Oder fiel Plektrud gezielter damnatio memoriae durch Karl Martell zum Opfer?7 Und suchten obendrein, so ließe sich des Weiteren fragen, auch die Nachfahren 4

Zum allgemeinen historischen Hintergrund knapp und konzis Schieffer, Rudolf: Die Karolinger, Stuttgart 52014 (Urban-Tb, 441). 5 Hierzu Müller, Heribert: Köln und die Lande an Rhein und Maas zur Zeit Plektruds und Pippins des Mittleren: am Rande des Frankenreichs?, in: Francia 44 (2017), S.  1–28 (mit Quellen und Literatur). 6 Stehkämper/Dietmar: Köln (wie Anm. 2), S. 418. – Krings, Ulrich: St. Maria im Kapitol. Die Bautätigkeit des Mittelalters und der Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Kier, Hiltrud/Krings, Ulrich (Hg.): Köln. Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, Köln 1984 (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, 1), S. 357. – Rahtgens, Hugo: Die Kirche St. Maria im Kapitol zu Köln, Düsseldorf 1913, S. 44. 7 Eine Möglichkeit, die m.  W. bislang nur erwogen wurde von Prinz, Friedrich: Frühes Mönchtum im Frankenreich. Kultur und Gesellschaft in Gallien, den Rheinlanden und Bayern am Beispiel der monastischen Entwicklung (4. bis 8. Jahrhundert), Darmstadt 21988, S. 503.

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des Siegers als Familie vergessen zu machen, dass sie ihren Verbleib an der Macht über Plektrud einer anderen Sippe als der eigenen verdankten? Wir wissen es nicht, doch mag zumindest für die Anfänge von St.  Maria im Kapitol von Belang sein, dass in Plektruds Familie Klöster und Klostergründungen, zum Teil auf römischem Fundament, Tradition hatten. So stand ihre Mutter Irmina im trierischen Oeren einer auf römischen Getreidespeichern errichteten Abtei vor, und ihre Schwester Adela gründete in Pfalzel nahe Trier, mit Unterstützung einer anderen Schwester Regentrud, ihr Kloster in einer spätrömischen Palastanlage.8 Vielerorts tat man sich durch Klosterstiftungen hervor: Man denke an die von Irmina gestiftete Abtei Echternach oder an die Fundierung von Prüm durch Bertrada die Ältere, eine weitere Schwester Plektruds, die ihrerseits gemeinsam mit ihrem Gatten Pippin dem Mittleren Echternach privilegierte und an dessen Gründungen Kaiserswerth und Susteren entscheidenden Fundationsanteil hatte.9 Mit Matthias Werner ist schließlich davon auszugehen, dass „die für Plek­ trud überlieferte Gründung von St. Marien im Kapitol wohl eine Reihe von persön­ lichen Besitzungen Plektruds in der engeren oder auch weiteren Umgebung Kölns“ voraussetzt.10 In der Tat liegt das frühe Gut des Konvents zwischen Bonner Raum und Kalkar fast ausschließlich in einer Region, in welcher der Besitz der Irmina/ Hukbert-Sippe weitaus größer als derjenige der Pippiniden war.11 Dass Plektrud 8 Grundlegend Werner, Matthias: Adelsfamilien im Umkreis der frühen Karolinger. Die Verwandtschaft Irminas von Oeren und Adelas von Pfalzel. Personengeschichtliche Untersuchungen zur frühmittelalterlichen Führungsschicht im Maas-Mosel-Gebiet, Sigmaringen 1982 (Vorträge und Forschungen, Sonderband 28), der allerdings neben Plektrud, der Tochter Irminas und Hukberts, die – nach vorherrschender Meinung der einschlägigen Forschung wenig wahrscheinliche – Möglichkeit der Existenz einer zweiten zeitgenössischen Trägerin dieses Namens nicht ausschließen will. – Vgl. Müller: Köln und die Lande (wie Anm.  5), S.  7. – Zur Tradition der Gründungen, für die zudem schlicht der dabei mögliche Rückgriff auf vorhandene römische Bausubstanz eine Rolle gespielt haben wird, siehe auch Gauthier, Nancy/Hellenkemper, Hansgerd: Cologne, in: Gauthier, Nancy u.a. (Hg.): Topographie chrétienne des cités de la Gaule des origines au milieu du VIIIe siècle, t. XII: Province ecclésiastique de Cologne (Germania secunda), Paris 2002, S. 66. – Gauthier, Nancy: L’ évangélisation des pays de la Moselle. La province romaine de Première Belgique entre Antiquité et Moyen Âge (IIIe–VIIIe siècles), Paris 1980, S. 279 f., 294, 323 f. 9 Müller: Köln und die Lande (wie Anm. 5), S. 16 f. – Zu Susteren vgl. zuletzt auch Cornelius Hopp: Die ehemalige Frauenstiftskirche Susteren. Studien zur Architektur des 11. Jahrhunderts, Münster 2014 (Schriften aus dem Kunsthistorischen Institut der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, 8), zur Gründungsgeschichte S. 16–24. 10 Werner: Adelsfamilien (wie Anm. 8), S. 249, Anm. 329. 11 Gechter, Marianne: Quellen zur Entstehungsgeschichte von Kirche und Stift, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009) (Interdiszipli-

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– möglicherweise im Bund mit ihrem Ehemann12 – als Gründerin anzusehen ist, belegen neben der zweiten, sie mit einem Kirchmodell in der Hand als Fundatorin ausweisenden Grabplatte, wie gesagt, gleich mehrere schriftliche Zeugnisse, so die ausgangs des 12. Jahrhunderts auf dem Kapitol entstandenen und nach dem späteren Aufbewahrungsort der Handschrift benannten Historiae Francorum Stein­ veldenses, deren Bericht über die Gründung (im Gegensatz zum ansonst die Con­ tinuatio Fredegarii ausschreibenden Text) Eigengut darstellt, oder die 1217/18 im nahen St.  Pantaleon verfasste Recensio B der Kölner Königschronik: „Erat huic [Pippin] uxor nobilissima et sapientissima nomine Plectrudis, que etiam Colonie in capitolio egregiam ecclesiam in honore sancte Dei genitricis Marie construxit, sancti­ moniales ad serviendum Deo et beate virgini illic constituens“.13 Einer Urkunde von näre Beiträge zu St. Marien im Kapitol zu Köln), S. 40 f. (mit Verweis auf eine – ungedruckt gebliebene – Beobachtung von Joachim Oepen, dass die Strukturen des frühen Grundbesitzes auf die karolingische Villikationsverfassung zurückgehen dürften). – Nach zwar erst im 18. Jahrhundert aufgezeichneter, sich indes auf ältere Nachrichten stützender Tradition soll der Besitz von St. Maria im Kapitol zu Keyenberg (bei Erkelenz) direkt auf Plektrud zurückgehen, die dortige Kirche von ihrem und Pippins Vertrautem Suitbert geweiht worden sein: Werner, Adelsfamilien (wie Anm. 8), S. 249, Anm. 329. – Ewig, Eugen: Frühes Mittelalter, Düsseldorf 21980 (Rheinische Geschichte, 12), S. 77. 12 Gelenius, Aegidius: De admiranda, sacra, et civili magnitudine Coloniae Claudiae Agrippinensis Augustae Ubiorum Urbis, libri IV, Köln 1645, S. 324, berichtet von Bildnissen Plektruds und Pippins in der Kirche, unter denen sich eine u.a. rura, vasallos, praedia plura auflistende Inschrift befand, welche die beiden St. Maria im Kapitol schenkten. – Vgl. auch Gechter: Quellen (wie Anm. 11), S. 40. 1866 noch unter der Orgel bezeugt, wurden sie 1868/71 im Zuge der Restaurierung des Langhauses zerstört: Düntzer, Heinrich: Das Capitol, die Marienkirche und der alte Dom zu Köln, in: Bonner Jahrbücher. Jahrbücher des Vereins von Alterthumsfreunden im Rheinlande 39/40 (1866), S. 92 f. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 93 mit Anm. 262. – Zur Echtheit der Inschrift (unter speziellem Rekurs auf Honnefer Besitzungen) Ewig, Eugen: Das Bistum Köln im Frühmittelalter (1954, ND), in: Ewig, Eugen: Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952–1973), hg. v. Hartmut Atsma, Bd. 2, Zürich/München 1979 (Beihefte der Francia, 31/2), S. 117 mit Anm. 147. – Ders.: Rheinischer Besitz westfränkischer Kirchen (1958, ND), in: ebd., S. 184, Anm.  8. – Siehe auch Gechter, S.  47, Anm.  100. – Hemgesberg, Helga: Die ehemalige Peter- und Paulskirche auf dem Kapitol in Köln, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 59 (1988), S. 36. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 93. 13 Historiae Francorum Steinveldenses, ed.  Georg Waitz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores (in Folio) 13, Hannover 1881 (ND 1985), S. 728. – Chronica regia Coloniensis, ed. Georg Waitz, Hannover 1880 (ND 2008) (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 18), S. 12. – Vgl. Gechter: Quellen (wie Anm. 11), S. 39. – Kitschenberg: Kleeblattanlage (wie Anm. 3), S. 12 f. – Hlawitschka, Eduard: Zu den klösterlichen Anfängen in St. Maria im Kapitol zu Köln, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 31 (1966/67), S. 1, Anm. 1. – Mühlberg: Grab

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1283 über die Stiftung eines Maria Magdalena-Altars zufolge befand sich dieser Altar im östlichen Langhaus nahe der Vierung „ad caput sepulchri quondam Bli­ trudis reginae fundatricis eiusdem loci“, und auch das älteste, um 1300 entstandene Memorienbuch gedenkt Plektruds als „fundatricis huius ecclesiae“, als die sie ebenfalls kurz zuvor der als Kanoniker an St. Maria im Kapitol tätige Alexander von Roes in seinem ‚Memoriale‘ erwähnt.14 Die Liste der Belege ließe sich unschwer über das ausgehende Mittelalter bis in die frühe Neuzeit des Stifts fortsetzen („fun­ datrix dieses stiffts“15), doch sagen sie alle nichts über die Form der Gründung aus.

(wie Anm. 2), S. 23. – Speziell zu den Historien Werner, Matthias: Der Lütticher Raum in frühkarolingischer Zeit. Untersuchungen zur Geschichte einer karolingischen Kernlandschaft, Göttingen 1980 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 62), S. 426–430. 14 a) Druck der Urkunde bei Schäfer, Heinrich: Das Alter der Parochie Klein S.  Martin – S. Maria im Kapitol und die Entstehungszeit des Marienstiftes auf dem Kapitol zu Köln, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 74 (1902), S. 98–101, Zitat: S. 99. – Abb. bei Oepen, Joachim: Das liturgische Totengedenken an St.  Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009) (Interdisziplinäre Beiträge zu St. Marien im Kapitol zu Köln), S. 227. – Vgl. Beuckers, St. Maria im Kapitol (wie Anm. 2), S. 148. – Mühlberg[, Fried]: Der Sarkophag der Plek­trudis, in: Kölner Jahrbuch für Vor-  und Frühgeschichte 7 (1964), S.  71  f. – Ders.: St.  Marien (wie Anm. 2), S. 3. – Ders.: Grab (wie Anm. 2), S. 24 f., 86. – Bergmann: Grabplatte (wie Anm. 2), S. 78. – Rahtgens, Hugo: Katholische Pfarrkirche zu St. Maria im Kapitol (ehem. Stiftskirche), in: Clemen, Paul (Hg.): Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln – Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln, Bd.  2, Düsseldorf 1911 (ND 1980) (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, VII/1), S.  245 [im Folgenden zit.: Rahtgens, Kunstdenkmäler]. – b) Memorienbuch: Oepen, Joachim: Die Totenbücher von St. Maria im Kapitol zu Köln, Siegburg 1999 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 32), S.  193  f. n.  222. – Walterfang, Anna Maria Friederike: Studien zur Geschichte des Stiftes St.  Maria im Kapitol zu Köln, Diss. (Masch.-schrift) Bonn 1920, S. 3 (Ein Exemplar der Arbeit befindet sich im HAEK unter der Signatur CP 16,9). – c) Roes: Memoriale de prerogativa Romani Imperii, in: Alexander von Roes: Schriften, hg.  v. Herbert Grundmann/Hermann Heimpel, Stuttgart 1959 (ND 1985) (Monumenta Germaniae Historica. Staatsschriften des späteren Mittelalters, I/1), c. 21 (S. 118). 15 So bezeugt etwa 1482 eine Urkunde des Kölner Erzbischofs Hermann von Hessen, Plektrud sei in eadem ecclesia [Maria in Kapitol] in eius medio sicuti fundatricem decet honorifice sepultam: Schäfer, Heinrich: Das Pfarrarchiv von St. Maria im Kapitol, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 83 (1907), n. 434. – Vgl. Bergmann: Grabplatte (wie Anm. 2), S. 80. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 23. – Rahtgens: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 245. – Keussen, Hermann: Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, Bd. 1, Bonn 1910/18 (ND 1986), S. 46a. – Frühe Neuzeit: Gechter: Quellen (wie Anm. 11), S. 40 mit Anm. 94 (Zitat).

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Der Behauptungen und Vermutungen hierzu – Kloster, Stift, Eigen- und Pfarrkirche – sind viele, und einige Autoren lassen dazu Unterschiedliches, teilweise in ein- und derselben Publikation, verlauten.16 Bietet nun eine Passage aus Ruotgers Vita des Erzbischofs Brun von Köln (953–965) eine Lösung, die Eduard Hlawitschka 1966/67 zur Grundlage einer Studie machte, welche bis heute geradezu kanonische Geltung besitzt und deren Titel hier als Kapitelüberschrift bewusst aufgegriffen wurde? Bei Ruotger heißt es in der Sache wie im Satzbau etwas kryptisch: „De ancillis Dei, quę in monasterio sanctę Mariae divinę religionis fuerant deditę, deque canonicis ad sancti Andreę apostoli ecclesiam translatis, et si qua erant huius­ modi, scrupulum quidem reliquit non modicum …“17. Mit Hlawitschka und schon Friedrich Wilhelm Oediger ist in der Tat davon auszugehen, dass Brun nicht nur die auf dem Kapitol lebenden Kanoniker in das von ihm begründete Andreasstift versetzte, sondern auch Nonnen aus dem lothringischen Remiremont, wie weitere Zeugnisse erweisen, an diesen Ort brachte. Schon wenig später bestätigen Abbatiate der Schwestern Bertrada und Adelheid von Vilich den Status von St. Maria im Kapitol als Benediktinerinnenkloster.18 Indes wurde Brun hier nie, sehr wohl 16 Siehe etwa Dietmar, Carl/Trier, Marcus: Colonia. Stadt der Franken vom 5. bis 10. Jahrhundert, Köln 22011, S. 128 (Eigenkirche), 182 (Kloster). – Auch Eugen Ewig ging einmal von einem Kloster, dann wieder von einem Stift aus, u.a. in: Die fränkischen Teilreiche im 7.  Jahrhundert (1953, ND), in: Ewig, Eugen: Gallien, Bd.  1, München 1976, S.  225, Anm. 208 (Stift) – Kirche und Civitas in der Merowingerzeit (1960, ND), in: Gallien, Bd. 2, S. 14 (Kloster). – Nach Schäfke, Werner: St. Maria im Kapitol, in: Köln III, Mainz 1980 (Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern, 39), S. 26, errichtete Plektrud einen Frauenkonvent, nach Schäfke: Kölns romanische Kirchen. Architektur, Geschichte und Ausstattung, Köln 1996, S. 143, war ebendies nicht der Fall. 17 Ruotgeri Vita Brunonis archiepiscopi Coloniensis, ed. Irene Ott, Weimar 1951 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum. Nova series, 10), c.  34 (S. 34). Cf. Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 1: 313–1099, bearb. v. Friedrich Wilhelm Oediger, Bonn 1954–61 (ND 1978) (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, 21/1), n. 469. – Hlawitschka: Anfänge (wie Anm. 13); ihm zuletzt noch zustimmend Mühlberg: St. Marien (wie Anm. 2), S. 3, 31. 18 Hlawitschka: Anfänge (wie Anm. 13). – Oediger, Friedrich Wilhelm: St. Maria im Kapitol und Remiremont. Bemerkungen zu einem Kollektar des 12. Jahrhunderts (1961/62, ND), in: Oediger, Friedrich Wilhelm: Vom Leben am Niederrhein. Aufsätze aus dem Bereich des alten Erzbistums Köln, Düsseldorf 1973, S. 60–83. – Bertrada/Adelheid: Gechter: Quellen (wie Anm. 11), S. 33 f. (unter Rekurs auf die Vita Adelheidis). – Vgl. bereits Levison, Wilhelm: Zur Geschichte der Kanonissenstifter (1908/11, ND), in: Levison, Wilhelm: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze, Düsseldorf 1948, S. 504– 506. – Nach ihm Walterfang: Studien (wie Anm. 14b), S. 551. – Jüngst auch Beuckers, St. Maria im Kapitol (wie Anm. 2), S. 132–137 (Die Vita Adelheidis und die Verfassung des Konventes von St. Maria im Kapitol).

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dagegen Plektrud verehrt, was sie und eben nicht den Erzbischof – so treffend Marianne Gechter – als Fundatorin ausweist.19 Nur ist auch damit die Frage nach der Gründungsform nicht beantwortet. Für Hlawitschka muss eine hofherrliche Pfarrkirche in einem pippinidisch-karolingischen Hofbezirk am Anfang gestanden haben.20 Ob sich indes eine Adelige von Plektruds Rang wirklich mit dem Rückzug in die Eigenkirche eines Hofs begnügt haben wird, scheint doch zweifelhaft21 – es sei denn, man will darin eine demütigende Strafmaßnahme des Stiefsohns sehen. Aufgrund von Begriffen wie ancillis Dei, monasterio oder später sanctimoniales lässt sich natürlich kein eindeutiger Status definieren, umso weniger als Bruns Vita 250 und die Königschronik 500 Jahre nach der Gründung geschrieben wurden. Doch scheinen sie zumindest auf eine bereits bestehende und nicht erst durch Brun geschaffene, wie auch immer geartete Gemeinschaft zu deuten; man beachte zudem das fuerant deditę in Bruns Vita. Und schließlich bleibt im Kontext der Gründungsfrage an die nach wie vor gültige Feststellung Wilhelm Levisons zu erinnern, dass bei Vereinigungen von Sanktimonialen bis weit ins 8.  Jahrhundert von einer großen Mannigfaltigkeit klösterlicher Lebensformen und Regeln – darunter der Benediktregel –, doch nicht von Stiften auszugehen ist, für die, worauf auch Oediger hinweist, mit der Aachener Regel erst 816 als Stichjahr zu gelten hat.22 Demnach scheint Etliches darauf hinzuweisen, dass die „klösterlichen Anfänge in St. Maria im Kapitol zu Köln“ nicht mit Hlawitschka auf Brun, sondern bereits auf eine ihrerseits durch familiäre Tradition geprägte Gründerin Plektrud zurückgehen, mithin ein monastischer Ursprung anzunehmen steht, in die kein Kölner Bischof involviert war, was auch das Fehlen von St.  Maria im Kapitol in der Guntharschen Güterumschreibung von 866 erklärt. Von der Möglichkeit solchen Ursprungs gingen im Übrigen bereits Keussen und später Oediger – dieser in einer Stellungsnahme zu Hlawitschkas 19 Gechter: Quellen (wie Anm. 11), S. 38 f. 20 Hlawitschka: Anfänge (wie Anm.  13), S.  15  f. – Seinerzeit bin ich selbst im Anschluss an Hlawitschka noch von einer auf einem Hofgut errichteten Eigenkirche ausgegangen: Müller, Heribert: Köln, fränk.-karolingische Zeit, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde 17 (2000), S. 93. 21 Als m. W. bislang Einzige hat Gechter: Quellen (wie Anm. 11), S. 44, solchen Zweifel artikuliert. 22 Levison: Geschichte (wie Anm. 18), S. 490, 497, 499, 501 u.ö. – Nach ihm Walterfang: Studien (wie Anm. 14b), S. 4. – Oediger: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 18), S. 66 f. (Nachwort zum ND).

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Aufsatz – aus, ohne dass dies m.  W. von der Forschung aufgenommen wurde.23 Brun dürfte also wohl in eine bereits bestehende Kommunität eingegriffen haben, wobei er insbesondere die auf dem Kapitol zur geistlichen Versorgung der Insassinnen tätigen Kanoniker ins Visier nahm. Ob aber jene Frauen zum Zeitpunkt von Bruns Intervention noch immer der Benediktregel folgten oder im bzw. seit dem späten 9.  Jahrhundert – vielleicht nach einem durch den Normanneneinfall bedingten Unterbruch? – eine Kanonissengemeinschaft bildeten, und somit möglicherweise auf dem Kapitolshügel ein Bruns Missfallen erregendes Doppelstift existierte, das bleibe wohlgemerkt dahingestellt.24 Hierfür könnte im Übrigen der Umstand sprechen, dass das wohl kurz vor diesem Zeitpunkt in der Nachbarschaft gegründete Cäcilienstift bisweilen als monasterium vetus, Maria im Kapitol dagegen als (wiederbegründetes) monaste­

23 Keussen, Hermann: Der Ursprung der Kölner Kirchen S.  Maria in Capitolio und Klein S.  Martin. Eine methodisch-kritische Untersuchung, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst 22 (1903), S. 27. – Oediger: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 18), S. 66 f. (Nachwort zum ND), der allerdings hinzufügt: „Aber bei dem fast völligen Fehlen aller Zeugnisse, bislang auch der archäologischen, werden wir wohl noch weiter im Dunkeln tappen“. – Unsere archäologischen Kenntnisse über den ‚Plektrudisbau‘ basieren wesentlich auf einer 1956 von Otto Doppelfeld entsprechend den damaligen Möglichkeiten durchgeführten Ausgrabung: Fundbericht [19]56.36 St.  Maria im Kapitol, in: Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte 7 (1964), S. 67–71. – Vgl. Kühnemann, Eberhard/Binsfeld, Wolfgang: Die Grabungen im Kapitolbezirk, in: ebd. 8 (1965/66), S.  46–53. – Siehe auch Mühlberg: St. Marien (wie Anm. 2), S. 3 f. – Neu, Stefan: St. Maria im Kapitol. Die Ausgrabungen, in: Kier/Krings (Hg.): Köln. Die romanischen Kirchen (wie Anm. 6), S. 341. – Für Kubach, Erich/Verbeek, Albert: Romanische Baukunst an Rhein und Maas, Bd. 1, Berlin 1976, S.  558, wurden aufgehende Mauern des römischen Kapitols im vorbrunschen bzw. -romanischen Bau nicht nur für die Kirche, sondern auch den sich anschließenden Konvent verwendet. – Ob eine Dicke der Fundamentwände des Westchors von nur 95 cm in diesem Bau nicht der damals bei Nonnengemeinschaften für Westemporen üblichen entsprach, wie Mann, Albrecht: Kölns ottonische Kirchen, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 29/30 (1954/55), S. 109–111, behauptete, bleibe dahingestellt. – Siehe dagegen Kitschenberg: Kleeblattanlage (wie Anm. 3), S. 21. 24 Diese Möglichkeit erwog Päffgen, Bernd: Die rheinischen Stifte (I), in: Geschichte in Köln 16 (1984), S.  58, Anm.  46. – Stein, Frederick Marc: The Religious Women of Cologne: 1120–1320, Diss. (Masch.-schrift) Yale 1977, S.  I–6, konstatiert in seiner (fehlerreichen) Arbeit, dass St. Maria im Kapitol zur Zeit von Bruns Intervention ‚definitely‘ ein Stift gewesen sei. (Ein Exemplar der Untersuchung befindet sich unter der Signatur CG a/b im HAEK, dort wurde wohl auch die Seitenzählung der unpaginierten Arbeit vorgenommen).

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rium novum bezeichnet wird.25 Fazit: Klösterlicher Ursprung wahrscheinlich, klösterliche Kontinuität unsicher. Auch bleibe dahingestellt, ob die von Hlawitschka ins Spiel gebrachten Pfarrrechte von St. Maria im Kapitol in einer einfachen Kirchstiftung Plektruds gründeten. Denn es ist von einer Kirchenfamilie St. Marien sowie St. Peter und Paul auf dem Kapitolshügel auszugehen, wobei letztere sich zu einer von besagten Kanonikern getragenen Annexkirche mit Pfarrfunktion entwickelte. Im 12. Jahrhundert sollte diese Funktion an die nördlich der Abtei gelegene, auf Initiative und Kosten von Pfarrmitgliedern aus der südlichen Rheinvorstadt errichtete Kirche Klein St.  Martin übergehen. Zum einen führte das zum zeitweiligen Verfall der alten Pfarrkirche, zum anderen erwuchs hieraus lang währender, in einem großen Prozess 1299/1300 gipfelnder und sich bis ins 14. Jahrhundert fortziehender Streit zwischen der Gemeinde und einer Äbtissin, die ihrer Kirche einen Teil der pa­ rochialen Rechte wie Taufe, Eheschließung und Totenamt vorbehielt und sie von ihren Kanonikern ausüben ließ, mit denen sie auch immer wieder unter Berufung auf ihr Patronatsrecht die Pfarrerstelle an Klein St. Martin zu besetzen suchte. Die personell wie durch Zuwendungen und Gedächtnisse aufs Engste mit St.  Maria im Kapitol verbundenen, reich begüterten Familien aus der Rheinvorstadt dürften ihrerseits eine der renommiertesten Adressen in Stadt und Erzbistum als ‚Pfarrkirche für die großen Gelegenheiten‘ gern und generös genutzt haben. Eduard Hegel ist zuzustimmen, dass frühe Pfarrfunktionen und klösterliche Anfänge keineswegs einander ausschließen müssen, wobei jene sich hier eben von St. Peter und Paul her erklären und bei besagten Akten in der vornehmen Haupt- und Mutterkirche fortlebten.26 25 Zur monasterium vetus/novum-Problematik zuletzt Gechter: Quellen (wie Anm.  11), S. 36, die dabei jedoch von Hlawitschkas These einer Klostergründung auf dem Kapitol erst durch Brun ausging. – Siehe auch Päffgen: Stifte (wie Anm. 24), S. 58, Anm. 46. – Zu den Anfängen von St. Cäcilien kurz Diederich, Toni: Stift – Kloster – Pfarrei. Zur Bedeutung der kirchlichen Gemeinschaften im Heiligen Köln, in: Kier/Krings (Hg.): Köln: Die romanischen Kirchen (wie Anm. 6), S. 37. 26 a) St. Peter und Paul/Anfänge von Klein St. Martin: Wulf, Tobias: Die Pfarrgemeinden der Stadt Köln. Entwicklung und Bedeutung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit, Siegburg 2012 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 42), S.  28  f. – Stehkämper, Hugo: Bürger und Kirchen in Köln im Hochmittelalter, Köln 2007 (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, 45), S. 65. – Groten, Manfred: Von der wunderbaren Größe Kölns oder: Was war das Besondere an der Kölner Stadtverfassung des 12. Jahrhunderts?, in: Janssen, Wilhelm/Wensky, Margret (Hg.): Mitteleuropäisches Städtewesen in Mittelalter und Neuzeit. Edith Ennen gewidmet, Köln u.a. 1999, S. 48. – Hemgesberg: Peter- und Paulskirche

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Die südlich von St. Marien am Kreuzgang gelegene Nebenkirche der Abtei aber sollte nunmehr, und d.h. einmal mehr seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als eine dem Pfarrer von Klein St. Martin unterstehende St. Notburgiskapelle fungieren. Notburgis wiederum war eine Nichte der Plektrud, die ein „monasterium, quod puellarum dicitur in honorem gloriosissimae virginis Marie construxit … et ibi­ dem cum filia sororis suae, sancta Noitburga, laudabilem vitam Domino persolvebat“. So die Notburgisvita, deren älteste Handschrift aus dem 13. Jahrhundert datiert; sie beruht nach eigener Aussage auf einem „Libellus reginae nostrae Plec­trudis“, einer verlorenen Vorlage auch für die erwähnten Historiae Francorum Steinveldenses wie noch für das 1640 von dem Kölner Kanoniker und Historiografen Aegidius Gelenius publizierte Compendium vitae b. Plectrudis ex manuscripto Capitolij Co­ loniensis.27 1163/67 ist das Notburgispatrozinium erstmals belegt; damals müssen – vielleicht im Zuge von Arbeiten an der baufälligen Kirche – die Gebeine der Heiligen aufgefunden worden sein, die schließlich 1303 in einen in der Stiftskirche aufgestellten Schrein gelegt wurden, der zudem „corpus sacerdotis, militis, clerici et famuli, qui fuerunt de familia et curiales s. Plectrudis“ barg.28 Plektrud und Notbur(wie Anm. 12), S. 22, 37. – Oediger, Friedrich Wilhelm: Das Bistum Köln von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Köln 1964 (ND 1991) (Geschichte des Erzbistums Köln, 1), S.  295 mit Anm.  135. – Ders.: Die älteste kirchliche Einteilung der Stadt Köln (1954/55, ND), in: Oediger: Leben (wie Anm. 18), S. 14. – Allenfalls als fantasievoll lassen sich die Ausführungen von Heinrich K. Schäfer zu den angeblich spätrömisch-frühmerowingischen Anfängen der Pfarreien St. Peter und Paul wie auch Klein St. Martin bezeichnen: Kirchen und Christentum in dem spätrömischen und frühmittelalterlichen Köln, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 98 (1916), S. 97–99, 101. – b) Streit: Keussen, Hermann: Der Rotulus von St. Maria im Kapitol vom Jahr 1300, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 35 (1914), S. 95–211 (Edition der Prozessakten). – Vgl. Wulf, S.  67–72. – Kurze, Dietrich: Pfarrerwahlen im Mittelalter, Köln/Graz 1966 (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, 6), S. 342–352. – Schäfer, Heinrich  K.: Beiträge zur Kölner Topographie und Kirchengeschichte, in: Römische Quartalschrift 18 (1904), S. 85–95. – c) Hegel, Eduard: Die Entstehung des mittelalterlichen Pfarrsystems der Stadt Köln, in: Zimmermann, Walter (Hg.): Kölner Untersuchungen. Festgabe zur 1900-Jahrfeier der Stadtgründung, Ratingen 1950 (Die Kunstdenkmäler im Landesteil Nordrhein, Beih. 2), S. 73 f. 27 Vita S. Notburgis virginis, ed. Remigius De Buck, in: Acta Sanctorum, Octobris Tomus XIII, Paris 1883 (ND 1970), c. 3, S. 843 (1. Zitat); c. 4, S. 843 (2. Zitat). – Zum Libellus als Vorlage für die Historien Werner: Lütticher Raum (wie Anm. 13), S. 426 f., für Gelenius siehe unten S. 44 f. 28 Hemgesberg: Peter- und Paulskirche (wie Anm. 12), S. 27–30 (Zitat: S. 30). – Oediger: Bistum (wie Anm. 26a), S. 295, Anm. 135 (Patrozinium 1163/67). – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 28. – Siehe auch Arntz, Ludwig u.a. (Bearb.): Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln – Ergänzungsbd.: Die ehemaligen Kirchen, Klöster, Hospitäler und Schulbauten der

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gis wurden zudem beide in einer zwischen 1183 und 1190 entstandenen Allerheiligenlitanei angerufen.29 Solche Parallelität ist hier kein Zufall, sie lässt gegen Ende des 12. Jahrhunderts unternommene Anstrengungen zur Kanonisation Plektruds und ihrer Nichte annehmen.

Plektrud: Gründerin, Heilige und Königin

Die älteste schriftliche Überlieferung, wie sie in dem zwar verlorenen, indes eben über die Steinfelder Frankengeschichten und auch noch über besagtes Werk des Gelenius aus dem 17.  Jahrhundert erschließbaren Libellus reginae nostrae Plec­ trudis begegnet, zeichnet sich nach dem übereinstimmenden Urteil zweier Sachkenner wie Matthias Werner und Joachim Oepen durch besondere Glaubwürdigkeit aus, da sie Plektruds Verdienst als Fundatorin und nicht deren Heiligkeit in den Vordergrund rückt, denn im Rahmen einer Heiligenvita hätte sie sich nur allzu leicht zu einer Gründerin jenseits aller Historizität stilisieren lassen.30 Ihr Fazit: Gründerin von St. Maria im Kapitol ja, Heilige wohl kaum. Zumal Plektrud in der Tat weder schreins- noch vitenwürdig war, ihre Gebeine also nie erhoben wurden und nie eine Kanonisation erfolgte.31 Jene älteste Tradition verstand sich Stadt Köln, Düsseldorf 1937 (ND 1980) (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, VII/3), S. 348–350. 29 Oediger: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 18), S. 64, 83 (Edition). – Vgl. Gechter: Quellen (wie Anm. 11), S. 38. Gegen Oedigers Datierung der Litanei meldet Oepen erhebliche, auch von Kollegen wie Toni Diederich geteilte Bedenken paläografischer Art an (mündl. Mitteilung am 4.IX.2017); er nimmt, wie schon Schäfer: Beiträge (wie Anm. 26b), S. 164, eine Entstehung um 1300 an. Dennoch behält die Litanei auch in diesem Fall als ein Zeugnis der Plektrud- und Notburgisverehrung auf dem Kapitol ihren Wert. 30 Werner: Lütticher Raum (wie Anm.  13), S.  430, Anm.  123. – Oepen: Totenbücher (wie Anm. 14b), S. 15. – Sauer: Fundatio (wie Anm. 2), S. 186 f., erweckt den irrigen Eindruck, es habe sich aller Kürze zum Trotz um eine ‚komplette‘ Vita gehandelt. 31 Dagegen zierte ein 1322 belegter Vitalisschrein nach Gelenius’ Zeugnis den Hochaltar von St. Maria im Kapitol, wo der Märtyrer später auch als – indes wenig profilierter – Kopatron belegt ist und eine nach ihm benannte Bruderschaft noch im 17. Jahrhundert zugelassen wurde. – Vgl. Gelenius: De admiranda … magnitudine (wie Anm. 12), S. 326. – Kulenkampff, Angela: Die Marienbruderschaft von St. Maria im Kapitol und ihre Bedeutung für das kirchliche Leben in vortridentinischer Zeit, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 60 (1988), S. 3, 5. – Dies.: St. Maria im Kapitol. Dreikonchenanlage und Binnenchor der Stiftskirche im 17. und 18. Jahrhundert, in: Kier/Krings (Hg.): Köln. Die romanischen Kirchen (wie Anm. 6), S. 383. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 76, 78. – Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 193. – Obwohl der Schrein bei Prozessionen mitge-

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also mehr als Gründungsbericht denn als Vita, und es lässt sich nur spekulieren, warum eine solche nie verfasst wurde: Lastete wirklich jene damnatio memoriae, also karolingisches Verdammungsurteil auf Plektrud, deren Kampf um die Sukzession man als „unangebrachte Zügelführung einer Frau“ empfunden haben mag? Wusste man – bis auf die in später Kölner bzw. Lütticher Überlieferung gründende Darstellung einer stellvertretend und entsagend für ihren ehebrecherischen Gatten Büßende – vielleicht auch einfach zu wenig über sie, was sich in einen geistlichen Vitenrahmen hätte fügen lassen?32 Ob das Fehlen klösterlicher Kultur am Ort nach Plektruds Tod es nie zur Abfassung eines Lebens kommen ließ, und ob nach dem für 950/60 postulierten Statuswechsel von St. Maria im Kapitol zur Abtei die große Zeit der Heiligenkreationen bereits vorüber war, wie Hlawitschka vermutet, dürfte nach obigen Ausführungen über die anzunehmenden klösterlichen Anfänge wenig wahrscheinlich sein. Überdies lassen sich Kanonisationen und Kultverdichtungen vom 10. bis ins 12. Jahrhundert in einer Fülle nachweisen, die selbst noch Gestalten der Frühe wie etwa den im Köln des 7. Jahrhunderts wirkenden und 1168 translatierten Bischof Kunibert einschließen konnte.33 Im späteren 12. Jahrhundert rückt dann zeitgleich mit der fundatrix aber auch die zwar vitenlose, so doch heilige Plektrud in den Fokus, wie die erwähnte – in ihrer paläografischen Datierung freilich nicht unumstrittene – Allerheiligenlitanei und die Inschrift S.  Plectrudis am oberen Rand der romanischen Grabplatte zeigen, die zudem hinter ihrem Haupt einen Muschelnimbus in der Art eines Heiligenscheins aufweist (Regina, ,deplatziert‘ im Innenfeld stehend, wurde anscheiführt wurde und der Heilige um 1630 in dem auch für die Vitalisbruderschaft wichtigen Amtsbuch des Heinrich Berchem (siehe unten Anm. 40) oftmals und auch als Zweitpatron belegt ist (HAEK: A II 16, fol. 11r/v, 12r, 15r/v, 16r, 18r, 24r, 28r), soll der Tag des Märtyrers laut Kulenkampff nicht zu den festa solemniora des Stifts gehört haben: St. Maria im Kapitol, S. 388 f.; Anm. 18. – 1798 taucht der Schrein in einem von Ferdinand Franz Wallraf erstellten Verzeichnis des zum Verkauf anstehenden Kirchensilbers auf und wurde dann auch bald darauf eingeschmolzen: Ebd., S. 387. – Dies.: Die Inventarisation der Schätze der Kölner romanischen Stiftskirchen in der Zeit der Säkularisation 1798–1802, in: Legner, Anton (Hg.): Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln [Ausstellungskatalog Köln], Bd. 2, Köln 1985, S. 190 f. 32 Müller: Köln und die Lande (wie Anm. 5), S. 22 f. (mit Quellen und Literatur). – Zitat: Schieffer: Karolinger (wie Anm. 4), S. 36. 33 Hlawitschka: Anfänge (wie Anm. 13), S. 19. – Nach ihm u.a. Kitschenberg: Kleeblattanlage (wie Anm.  3), S.  16  f. – Zu Kuniberts Translation 1168 siehe Schmid, Wolfgang: Von den Heiligen Drei Königen zum Heiligen Rock. Die Formierung der rheinischen Kultlandschaft im 11. und 12. Jahrhundert, in: Geschichte in Köln 63 (2016), S. 115 f. – Sauer: Fundatio (wie Anm. 2), S. 108.

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nend später zugefügt; die Figur selbst trägt keine königliche Insignie).34 Dieser Zeitpunkt scheint kein bloßer Überlieferungszufall, sondern dürfte seinen konkreten – noch zu erörternden – kölnischen Hintergrund haben. Doch bleibt vorab und generell zu konstatieren, dass der einschlägigen Sancta-Belege relativ wenige sind, sie sich aber in loser Kontinuität bis weit in die Neuzeit fortsetzen. So vermerkt die älteste Überlieferung des Memorienbuchs des Stifts, wie erwähnt, zum 10.VIII. zwar nur das Fest der Gründerin und Königin Plektrud, doch wird später auch der Heiligen gedacht; zudem ist von einem „scyphus sanctae Plectrudis“ in einem nachträglich angebundenen Kellereibuch des 15. Jahrhunderts die Rede, in dem am Sonntag Exsurge den Kanonissen und Kanonikern Wein gereicht wurde.35 (Eine Memoria außerhalb von St. Maria im Kapitol lässt sich nur für das mit dem Konvent eng verbundene Stift Essen nachweisen).36 Durch Schreinsüberlieferung ist für 1305 und 1308 ein Paulusaltar „iuxta sepulchrum sanctae Plectrudis“ ebenso bezeugt wie von 1315 an eine am Kapitol bestehende Heilig Kreuzbruderschaft, für die als Empfänger und Verteiler eines Erbzinses der Rektor des Maria MagdalenaAltars beim Grab der heiligen Plektrud fungierte,37 welche nach dem Verfasser 34 Zur Allerheiligenlitanei und ihrer Datierung vgl. oben Anm.  29, zur romanischen Grabplatte oben Anm. 2. Nach Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 42, soll Plektrud einstmals über ihrem steinernen Schleier einen metallenen Kronreif getragen haben, zu dessen Fixierung zwei links und rechts über den Schläfen eingeritzte Kerben gedient hätten – eine Spekulation, für die sich kein bestätigender Anhalt findet: Seidler: Grab (wie Anm. 2), S. 113. Dagegen Mühlberg, ebd., überzeugend zum Muschelnimbus als Zeichen der Heiligkeit durch Verweis auf weitere Beispiele. 35 Oepen: Totenbücher (wie Anm. 14b), S. 193 f. n. 222. – Vgl. Ders.: Plektrud in Köln: Die Stadt im Machtkampf der Karolinger, in: Rosen, Wolfgang/Wirtler, Lars (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 1: Antike und Mittelalter. Von den Anfängen bis 1396/97, Köln 1999, S. 77. – Zum scyphus (HAEK A II 13, fol. 105v, 110v) siehe Schäfer: Alter (wie Anm. 14a), S. 99, und Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 77. Für neuerliche Prüfung und Präzisierung danke ich Joachim Oepen. 36 Mühlberg: St. Marien (wie Anm. 2), S. 3. – Ders.: Grab (wie Anm. 2), S. 78. – Kitschenberg: Kleeblattanlage (wie Anm.  3), S.  13. – Werner: Lütticher Raum (wie Anm.  13), S. 429 f. Anm. 117, 123. – Rahtgens: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 191. – Schäfer: Alter (wie Anm. 14a), S. 91. 37 a) 1305/08: Keussen: Topographie (wie Anm.  15), Bd.  1, S.  45b. – Vgl. Dahm: Grablege (wie Anm. 2), S. 211. – Bergmann: Grabplatte (wie Anm. 2), S. 80. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 27. – b) Heilig Kreuzbruderschaft/Altar: Quellen zur Geschichte der Kölner Laienbruderschaften vom 12. Jahrhundert bis 1562/63, bearb. v. Klaus Militzer, Bd. 2, Düsseldorf 1997 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, 71/2), n. 76 (S. 905–907). Spätestens seit 1305/08 befand sich indes das Grab an anderer Stelle (vgl. hier Anm. 63); offenbar rekurrierte man aber auf die alte, enge Beziehung zur heiligen Plektrud.

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der Koelhoffschen Chronik (1499) in ihrer Gründung schon zu Lebzeiten „in alre hillichkeit ein moder aller armer elendiger ind bedroefder minschen“ gewesen war38. Seit 1445/46 verteilte das Stift am Sankt-Plektrudentag einen Malter Weizen an die Armen; davon und von weiteren Zuwendungen an die Kanonissen und Kanoniker und deren Personal wie auch von Feierlichkeiten am Grab der „Seeligen [!] Fun­ datrix Plectrudis Königin“ an ihrem Festtag ist ebenso die Rede in einem um 1600 verfassten Führer durch das kirchliche Jahr im Stift.39 Ausführlich auf diese Feierlichkeiten wird später auch Heinrich Berchem, Rektor und Vikar des Aegidiusaltars, in seinem zwischen 1630 und 1636 geführten Amtsbuch eingehen. Danach erstreckten sie sich sogar über mehrere Tage und begannen oder schlossen mit der Aufstellung einer großen Kerze am Grab durch die Schuhmacherzunft am Sonntag vor bzw. nach dem Fest. Berchem zählt den 10.VIII. allerdings nicht zu den festa solemniora des Stifts; es ist keine Rede von einer Heiligenverehrung, die in einer Prozession Ausdruck gefunden hätte, sehr wohl dagegen von der Gründerin und Königin Plektrud.40 Für Aegidius Gelenius, den besagten Hofhistoriografen des Kölner Erzstifts und Kanoniker an St. Andreas, ein unhaltbarer Zustand, den er 1640 mit einer eigenen Schrift zu ändern suchte (Par Sanctorum Svvibertus et Plectrudis post Mille­ narium fere Annum Illustratum meditatione historica Aeg. Gelenii).41 Darin sprach er sich für eine Kanonisation der von ihm als sancta und beata bezeichneten Plek38 Cardauns, H[ermann]/Schröder, C[arl Gustav Theodor] (Hg.): Die cronica van der hilliger stat van Coellen 1499, in: Die Chroniken der niederrheinischen Städte. Cöln, Bd. 2 = Historische Commission bei der Königl. [Bayer.] Academie der Wissenschaften (Hg.): Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 13, Leipzig 1876 (ND 1968), S. 398. 39 1445/46: Gechter, Marianne: Kirche und Klerus in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter, Wiesbaden 1983 (Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 28), S. 149 (der Reichtum des Stifts gründete primär auf Getreide: S. 146, vgl. 172). – Um 1600: Kulenkampff: Marienbruderschaft (wie Anm. 31), S. 21 (mit Quelle). 40 HAEK, A II 16, fol. 7r (moderne Paginierung: S. 57): „Collegium saeculare nobile ac liberum a serenissima Plectrude Regina Franciae … Regis Pippini coniuge fundatum“ (Eine spätere Hand fügte ergänzend bei Plektrud ducissa am Rand hinzu, ohne aber Regina zu streichen). – Vgl. auch Schäfer: Beiträge (wie Anm. 26b), S. 163 f. – Kulenkampff: Marienbruderschaft (wie Anm. 31), S. 21 f. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 77. 41 Köln 1640 – Die Schrift gliedert sich in a) Vita et Annales S. [!] Plectrudis Pipini Crassi Heristalli maioris domus Franciae repudiatae coniugis, fundatricis praenobilis Capitolij B. V. Mariae Coloniensis, deinde viduae sanctissimae [!], et a morte opinione beatitatis clarae (24 S.) – b) Clypeus Svvibertinus, iacula, quae in scriptorem vitae S. Svviberti contorquentur, avertens (14 S.).

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trud aus, weil sie dem von ihr geförderten – und seinerseits kanonisierten – angelsächsischen Missionar Suitbert doch an Rang und Würde gleichkomme („ca­ nonizatus et tanto honore adhuc dum carens ... B. Plectrudis princeps“).42 Neben seinem erwähnten Compendium vitae b. Plectrudis, das auf die verlorene Urform der Gründungsnotiz zurückgeht, führt Gelenius auch mehrere Carmina von Köln aufsuchenden Adeligen der Zeit als Zeugnisse einer Plektrudverehrung an, so ein Epitaphium sanctae Plectrudis und eine Ode Sepulchrum eius gloriosum erit, deren Verse „Si Carolus magnis dicatur MAGNUS ab actis / Plectrudis dici MAXIMA iure potest“ die literarische Qualität charakterisieren mögen.43 Anlass für drei dieser Gedichte war der in einem der Kirche benachbarten Kelterhaus befindliche SanktPlektrudenbrunnen, von dessen Wasser Pilger und Kranke zum Zeichen ihrer Devotion und in Hoffnung auf Heilung ihrer Gebrechen tränken, wie sie natürlich auch das Grab der heiligen Gründerin aufsuchen würden („in Ecclesiae navi Mau­ soleum in quo sacra eius ossa spectantur et a devoto populo honorantur“), in deren Umgebung zu Lebzeiten Wunder geschehen seien, ohne dass sie aber je selbst solche gewirkt hätte.44 Gelenius widmete diese Schrift dem Kölner Nuntius Fabio Chigi – dem späteren Papst Alexander VII. –, stellte aber darin keinen klaren und eindeutigen Antrag auf Kanonisation; das etwas gekünstelt-disparat wirkende Sammelsurium – vielleicht weniger aus eigenem Antrieb denn im Auftrag des Konvents verfasst? – zeitigte denn auch keine Folgen. Im Gegenteil, als man sich gut 90 Jahre später (seitens des Stifts?) offenbar u.a. mit Gelenius’ Dossier um eine Aufnahme Plektruds in die Acta Sanctorum bemühte, lautete die – 1735 im zweiten Augustband veröffentlichte – Antwort der Bollandisten, nur auf Grundlage dieses Materials und „paucis popularibus Beatae, Sanctae et Divae titulis“ könne man dem Anliegen nicht stattgeben, zumal für einen Heiligenkult konstitutive Elemente wie 42 So Gelenius in seiner Widmung der Schrift an den Kölner Nuntius Fabio Chigi. 43 Par Sanctorum, S. 21 f. (Compendium), 22 f. (Carmina), Zitat: 23. Ebenfalls bei Gelenius: De admiranda … magnitudine (wie Anm. 12), S. 325, 328 f. – Vgl. Oepen: Totenbücher (wie Anm. 14b), S. 24. – Kulenkampff: Marienbruderschaft (wie Anm. 31), S. 20 mit Anm. 57, 22. Ansonsten bliebe noch auf ein Plektrud preisendes Gedicht in Hexametern wohl aus dem 16. Jahrhundert in HAEK II 559, fol. 1r–2r, hinzuweisen. Historische Notizen in dem kleinen Konvolut (f. 4r/v) wiederholen Altbekanntes wie die aus dem Hochmittelalter stammende ‚Chalpaida-Pippin-Lantbert-Karl Martell‘-Geschichte (dazu Müller: Köln und die Lande [wie Anm. 5], S. 22 f.). 44 Par Sanctorum, S. 18–20; Zitat: 18 – De admiranda … magnitudine (wie Anm. 12), S. 330: „fons ille extra Basilicam in privatae domus vinaria cella nomen S. Plectrudis adhuc retinet, et sanitatis recuperandae augendaeque devotionis causa ab Aegris et Peregrinis bibitur“.

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Elevation, Reliquienausstellung, Martyrologeinträge u.ä.m. fehlten. Würden nicht entsprechende Belege nachgereicht, so der Redaktor, „non video licitum esse in­ ter Sanctos in hoc opere collocare“ (Bei Notburgis, hinter deren Historizität sich ein veritables Fragezeichen setzen lässt, sollte man weit weniger streng verfahren, wurde sie, von der indes eine – obendrein ihre Jungfrauenschaft bezeugende – Vita vorlag, doch 1883 in die Acta Sanctorum aufgenommen).45 Man reichte nichts nach, hielt aber am Ort wohl bis zum Ende des Stifts still und beharrlich an der sancta und beata fest, wie etwa die der 1758/66 im barocken Stil neu errichteten Plektrudgrabstätte beigegebene Inschrift auf einer hölzernen, noch auf Erzbischof Clemens August zurückgehenden Kartusche zeigt, die am heutigen Grab wieder angebracht wurde.46 Trotz alldem besteht wohl kein Zweifel, dass man – bis auf das spätere 12. Jahrhundert – den Nachweis einer Heiligkeit der Gründerin auf dem Kapitol offenbar als cura posterior betrachtete. Von Seiten eines im 12./13. Jahrhundert zur Lebensform eines adeligen Damenstifts übergehenden Konvents, der immerhin zu den vornehmsten und begütertsten Instituten der Kölner Kirche überhaupt zählte und Kölner Geschlechter wie die Jude, Kleingedank, Scherfgin, Hardevust, Overstolz oder Lyskirchen als ,Mannen von Lehen‘ und Gönner über Generationen hinter sich wusste – die gotische Reliefplatte dürfte Konstantin von Lyskirchen zu verdanken sein – scheinen in dieser Hinsicht in der Folgezeit keine entschiedenen und entscheidenden Impulse mehr ausgegangen zu sein,47 wofür auch der Um45 Acta Sanctorum, Aug. t. II, Antwerpen 1735 (ND 1970), S. 607, dazu kurz Gugumus, Johann Emil: Plettrude, in: Biblioteca Sanctorum 10 (1968), Sp.  169. – Stadler, Joh[ann] Evang[elist]/Ginal, J[ohann] N[epomuk] (Hg.): Vollständiges Heiligen-Lexikon, Bd.  4, Augsburg 1875, S. 947. Zur Vita der Notburgis siehe hier Anm. 27. 46 a) Bis heute begegnet Plektrudis durchaus in einigen Heiligenlexika wie der ‚Biblioteca Sanctorum‘ (vgl. hier Anm.  45) und vor allem in denjenigen, für die der frühere Kölner Erzbistumsarchivar Jakob Torsy (mit)verantwortlich zeichnet: Lexikon der deutschen Heiligen, Seligen, Ehrwürdigen und Gottseligen, Köln 1959, Sp. 448 („Klug und weise, fromm und wohltätig, aber geprüft durch schweres Leid“). – Ders./Kracht, Hans-Joachim: Der große Namenstagskalender, Freiburg im Breisgau u.a. 2008, S. 280. Natürlich sind hier auch die heilige Notburgis (Sp. 417 bzw. S. 382) und die selige Äbtissin Ida (Sp. 248 bzw. S. 413) vermerkt; zu letzterer siehe unten Anm. 67. – b) Text der Inschrift bei Rahtgens: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 246. 47 a) Umwandlung des Klosters in ein Stift: Oepen: Totenbücher (wie Anm. 14b), S. 15. – Kulenkampff: Marienbruderschaft (wie Anm.  31), S.  2 (mit späterem Ansatz). – Päffgen: Stifte (I) (wie Anm. 24), S. 47. – Oediger: Bistum (wie Anm. 26a), S. 418. – b) Zum Rang des Stifts heißt es in dessen Statuten (14. Jahrhundert): „Item ecclesia … est senior et dignior omnium ecclesiarum domino[a]rum seu canonico[a]rum et ideo vocata est Capitolium“ (§19);

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stand spricht, dass für keinen der mittelalterlichen Altäre in St. Maria im Kapitol Reliquien von Plektrud bezeugt sind, die auch nicht unter den immerhin 24 Pa­ tronen der Hardenrath-Kapelle des 15. Jahrhunderts begegnet.48 Verebbte jener in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts einsetzende Elan in Sachen Kanonisation schon in der ersten Hälfte des folgenden, weil das Stift – so Hugo Stehkämper – aus bislang ungeklärten Gründen in eine Krise geriet, die sich u.a. in merklich rückläufigen Zuwendungen jener führenden Familien spiegelt?49 Eine andere mögliche und m. E. überzeugendere Erklärung wäre aber auch, dass man aufs Ganze schlicht zufrieden war mit dem Patrozinium einer Himmelskönigin und mit einer Königin als Gründerin, die als Regina – ob nun in der zitierten Urkunde von 1283, dem Memorialbuch, den Stiftsstatuten oder noch im Handbuch Berchems und in einem Protokoll aus dem Jahr 1666 – immer wieder und weitaus häufiger denn als Sancta tituliert wurde und als solche auch auf besagter „Item domina abbatissa … est primitiva et dignior abbatissa omnium abbatissarum totius dioc. Coloniensis et debet habere et habet locum superiorem in capitulo Maioris ecclesiae pre aliis abbatissis“ (§28): Schäfer: Pfarrarchiv (wie Anm. 15), S. 100. – Vgl. Oepen, S. 16. – Beuckers, Klaus Gereon: Rex iubet – Christus imperat. Studien zu den Holztüren von St. Maria im Kapitol und zu den Herrscherdarstellungen vor dem Investiturstreit, Köln 1999 (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, 42), S. 130. – Schieffer, Theodor: Regesta pontificum Romanorum. Germania Pontificia, vol.  VII: Provincia Coloniensis, p. I: Archidioecesis Coloniensis, Göttingen 1986, S. 167. – Diederich: Stift (wie Anm. 25), S. 36 f. – Oediger, S. 345. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 83, Anm. 232. – Rahtgens: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 191 f. – c) Geschlechter: Stehkämper: Bürger (wie Anm. 26a), S. 65 f. – Groten, Manfred: Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung, Köln u.a. 1995 (Städteforschung, A 36), S. 194 f. – Diederich, S.  36. Dementsprechend bildete die Marienbruderschaft vom silbernen Bild und zur großen Glocke (ca. 1345–1563) mit ihrem hohen Anteil von Mitgliedern aus den Geschlechtern eine der exklusivsten Konfraternitäten Kölns: Militzer (Bearb.): Quellen, Bd. 2 (wie Anm. 37b), n. 77 (S. 908–957), vgl. Bd. 1, Düsseldorf 1997, S. LXII, LXIX. – d) (Konstantin von) Lyskirchen/Grabplatte: Oepen: Totengedenken (wie Anm.  14a), S.  228. – Dahm: Grablege (wie Anm.  2), S.  216. – Bergmann: Grabplatte (wie Anm.  2), S.  84. – Mühlberg, S.  36. – Rahtgens, S.  240, 242. – Skeptisch gegenüber dieser Zuordnung Seidler: Grabmal (Anm. 2), S. 192. 48 Kulenkampff: Marienbruderschaft (wie Anm.  31), S.  4–6. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 78. 49 Stehkämper: Bürger (wie Anm. 26a), S. 66, vgl. 222. In den zwanziger und dreißiger Jahren sah sich die Äbtissin auch zu erheblichen Konzessionen an die Parochianen von Klein St. Martin genötigt: Stehkämper: ebd. – Wulf: Pfarrgemeinden (wie Anm. 26a), S. 67. – Groten: Köln (wie Anm. 47c), S. 88. – Schäfer: Pfarrarchiv (wie Anm. 15), n. 11, 14 (zu 1223 und 1230). Im Fall Stehkämpers bleibt allerdings kritisch nach Umfang bzw. Vollständigkeit des berücksichtigten Quellenmaterials zu fragen (Hinweis von Joachim Oepen).

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gotischer Grabplatte ihre Darstellung fand. Dass sie in Wirklichkeit überhaupt keine Königin gewesen war, ist dabei unerheblich, gehörte Plektrud als Gattin Pippins des Mittleren doch zu den Karolingern und damit zur stirps regia schlechthin. Entsprechend galt für den römisch-deutschen König und Kaiser denn auch laut Stiftsstatuten: „in primitivo adventu suo Colonie debet visitare ecclesiam b. Virginis in Capitolio et ei offerre zyndonum ad signandam ecclesiam predictam ab impera­ toribus, regibus et principibus fundatam“50. (Mit einer Krone auf dem Haupt trat übrigens die Äbtissin selbst bis 1794 bei festlichen Anlässen wie dem mit einer Prozession zum Kapitol begangenen Bürgermeisterwechsel in Erscheinung).51 Höheren Gründerrang konnte in Köln jedenfalls nur St.  Gereon mit Kaiserin Helena für sich in Anspruch nehmen.52 Eine nach wie vor ausstehende und wohl auch nicht erwartbare Stiftsgeschichte53 würde sicherlich neue Aufschlüsse lie50 Belege für Plectrudis regina aus dem 16.  Jahrhundert bei Heinrich Berchem: Oepen: Totenbücher (wie Anm. 14b), S. 123, 245; zu Berchems Memorienkalender ebd., S. 80; zum Protokoll von 1666 siehe unten Anm.  65 (Rahtgens) – Statuten: Schäfer: Pfarrarchiv (wie Anm. 15), S. 101 (§33) (Zitat). – Vgl. Oepen: Totenbücher (wie Anm. 14b), S. 16. – Nach Mühlberg: St. Marien (wie Anm. 2), S. 28, soll allein dem Herrscher der Zugang zur Westempore vorbehalten gewesen sein. 51 Weyer, Johann Peter: Bildliche Darstellung und geschichtliche Nachrichten über die Kirchen in Köln [1852], in: Schäfke, Werner (Hg.): Weyer, Kölner Alterthümer, Bd.  1, Köln 1993, S. 13. 52 Bergmann: Grabplatte (wie Anm. 2), S. 79. Jene von Gelenius überlieferte Stifterinschrift in St. Maria im Kapitol (De admiranda … magnitudine [wie Anm. 12], S. 324) scheint sich in ihren ersten Versen auf eine ebensolche, Helena rühmende, in St. Gereon zu beziehen: Düntzer: Capitol (wie Anm. 12), S. 93. – Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 34 f., Anm. 9. Als Vorfahrin Kaiser Maximilians I. begegnet Plektrud 1518 in einem Holzschnitt des Augsburger Künstlers Leonhard Beck: Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 93. 53 Nach Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. IV, bereitete Heinrich K. Schäfer zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Geschichte von Kloster und Stift vor, die aber – wegen der an seinen Aufsätzen zur Thematik u.a. von Hermann Keussen und Otto Oppermann geäußerten scharfen Kritik? – nie erschien. Es hat im Übrigen seinen Grund, wenn bislang kein einziges Kölner Institut im Rahmen der ‚Germania Sacra‘ bearbeitet wurde. Welche Materialfülle erfasst sein will, zeigt exemplarisch die auf über 900 Seiten ‚nur‘ über die Wirtschaftsgeschichte von St. Aposteln handelnde Dissertation von Wolfgang Rosen: Die Ökonomie des Kölner Stiftes St. Aposteln. Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis 1802, Köln 2016 (Rheinisches Archiv, 158); vgl. dazu Müller, Heribert, in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 437 f. – Der Kernbestand der Überlieferung zu St. Maria im Kapitol befindet sich im Kölner Diözesanarchiv, ist also nicht von den Folgen des Einsturzes des Stadtarchivs 2009 betroffen; siehe Diederich, Toni/Helbach, Ulrich (Red.): Das Historische Archiv des Erzbistums Köln. Übersicht über seine Geschichte, Aufgaben und Bestände, Siegburg 1998 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 31), S. 288–291.

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fern, doch scheint fraglich, ob sich über manch zusätzliche Belege für Plektrud vornehmlich als Gründerin und Königin und (wohl weniger) als Heilige hinaus Grundsätzliches am hier skizzierten Bild ändern würde.

Plektrud: heilig im heiligen Köln des 12. Jahrhunderts

An einer wichtigen Stelle – eben jenem wiederholt ‚auffälligen‘ späteren 12. Jahrhundert – lässt es sich indes genauer konturieren und zwar ausgerechnet mit Blick auf den ansonst eher sekundären Faktor sanctitas. Köln erlebte in jenem Saeculum eine bis dahin ungekannte Akkumulation von Sakralkapital an darob zwangsläufig miteinander konkurrierenden Orten.54 Da war zunächst zwischen Ursula- und Kunibertstift der ager Ursulanus, wo die Auffindung und Ausbeutung von Jungfrauenreliquien geradezu industrielle Ausmaße annahm und dies unter wesentlicher Beteiligung eines Klosters Deutz, das seinerseits seit Mitte des 12.  Jahrhunderts den Kult seines Gründers Heribert mit Erfolg auf- und ausbaute. Hinzu kam die Entdeckung von Grab und Leichnam Gereons 1121 durch einen ohnehin reliquienhalber Köln aufsuchenden Norbert von Xanten, was in der Folge die Zahl neu aufgefundener Märtyrer der Thebäischen Legion bis auf 6666 anwachsen ließ. Der Kölner Heiligenhimmel wurde immer größer und erhielt schließlich mit der Überführung der Gebeine der Heiligen Drei Könige durch Erzbischof Rainald von Dassel 1164 zudem neue und höchste Qualität (worüber die von ihm ebenfalls mitgebrachten sterblichen Überreste der makkabäischen Brüder und von deren Mutter Salomone nicht vergessen seien). Wurden die Nonnen – oder schon Kanonissen? – des Kapitols damals Augenzeuginnen des denkwürdigen Einzugs in Köln, da er später, vielleicht gar erst im 19. Jahrhundert aufkommender Überlieferung zufolge seinen Weg durch jene zur Stiftsimmunität führende Pforte südöstlich des Chors

54 Über das Folgende Schmid: Von den Heiligen Drei Königen (wie Anm. 33), S. 97–128. – Müller, Heribert: Köln – ein Erinnerungsort des Christentums in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 122 (2011), S. 59–61. – Burkhardt, Stefan: Mit Stab und Schwert. Bilder, Träger und Funktion erzbischöflicher Herrschaft zur Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas. Die Erzbistümer Köln und Mainz im Vergleich, Ostfildern 2008 (Mittelalter-Forschungen, 22), S. 482–485. – Sauer: Fundatio (wie Anm. 2), S. 187 f. – Zuletzt Plassmann, Alheydis: Über die Nützlichkeit von Heiligen: Die Translation der Hl.  Drei Könige und die Erhebung der Gebeine Karls d. Großen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 82 (2018), S. 37–52.

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der Kirche genommen haben soll, die im 14. Jahrhundert einen wegen ihres Figurenschmucks ‚Dreikönigenpförtchen‘ genannten Nachfolger fand?55 Klar aber war in jedem Fall: „Die Hl.  Drei Könige lösten im Kölner Erzbistum einen regelrechten Wettbewerb um sakrales Kapital aus. Die kostbaren Reliquien hatten die Gewichte sakraler Macht gründlich verschoben, und viele geistliche In­ stitutionen mussten ihre Heilswirksamkeit erneut unter Beweis stellen“.56 Was lag näher, als ihren Gründern durch Erhebungen, Translationen und Schreine, durch Viten, Mirakel und echte wie gefälschte Kanonisationsbullen neuen Glanz der Heiligkeit zu verleihen? St.  Kunibert machte 1168 den Anfang, gleichzeitig erreichten die Bemühungen um den Klosterheiligen in Deutz um 1165/70 ihren Höhepunkt und Abschluss mit der Vollendung des Heribertschreins, 1183 wurde Erzbischof Anno II. heiliggesprochen und ein Schrein für seine Siegburger Gründung und Grabstätte angefertigt. Seit dem späten 12. und noch im 13. Jahrhundert verstärkte auch St.  Pantaleon seine Bemühungen, den erzbischöflichen Gründer Brun als heilig darzustellen.57 Ein guter Platz in der Kölner Sakraltopografie wollte 55 Bock, Ulrich/Wagner, Rita, in: Beer, Manuela u.a. (Hg.): Die Heiligen Drei Könige: Mythos, Kunst und Kult [Ausstellungskatalog Köln], München 2014, n.  58 (S.  159–161), n.  65 (S.  178). – Baumgarten, Jörg: Das Dreikönigenpförtchen, in: Die Heiligen Drei Könige. Darstellung und Verehrung [Ausstellungskatalog Köln], Köln 1982, S. 126–130. – Rahtgens: Kunstdenkmäler (wie Anm.  14a), S.  223–227. – Keussen: Topographie (wie Anm. 15), Bd. 1, S. 52. Wenn der Zug tatsächlich nicht vom Rhein aus oder über den alten cardo maximus seinen Weg zum Dom nahm, wollte man damit vielleicht die Könige zur ersten Verehrung der Gottesmutter auf das Kapitol führen? Oder folgte man einem Zeremoniell für den Herrscheradventus in Köln (vgl. oben bei Anm. 50)? Beides erwog Beuckers: Rex iubet (wie Anm. 47b), S. 130 f., 134, der mich auch darauf hinwies, dass der südliche Flügel der Vorhalle in dieser Zeit neu erbaut wurde. Es sei aber einschränkend angemerkt, dass im 19. Jahrhundert kolportiert wurde, bei der Geschichte handle es sich um eine Erfindung aus dem Umkreis von Joseph de Noël, dem Gründungsdirektor des Wallrafianum, der, als das Tor in den dreißiger Jahren abgerissen zu werden drohte, damit beim preussischen Kronprinzen – dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. – erfolgreich für den Erhalt bzw. die dann 1842 ausgeführte Restaurierung des Monuments plädiert habe: Bock, S. 160. – Baumgarten, S. 127. Sehr stark auf den legendarischen Charakter hebt auch ab Finger, Heinz: Die Translation der Dreikönigsreliquien 1164. Ihre politischen und kirchenpolitischen Hintergründe und die mittelalterliche Dreikönigsverehrung in Köln, in: Finger, Heinz/Wessel, Werner (Hg.): Die Heiligen Drei Könige. Die Translation ihrer Gebeine und ihre Verehrung in Köln, Köln 2004 (Libelli Rhenani, 53), S. 46 f. 56 Burkhardt: Stab (wie Anm. 54), S. 482. 57 a) Kunibert: siehe oben Anm.  33. – b) Heribert: Sinderhauf, Monica: Die Abtei Deutz und ihre innere Erneuerung. Klostergeschichte im Spiegel des verschollenen Codex Theoderici, Vierow/Greifswald 1996 (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, 39), S.  127–168. – Müller, Heribert: Heribert, Kanzler Ottos  III. und Erzbischof von Köln,

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errungen, behauptet und gesichert sein, zumal sich so von Pilgerscharen bis hin zu Stiftungen mannigfach materieller Nutzen generieren und mehren ließ.58 Auf dem Kapitolshügel reagierte man gleich doppelt auf die Herausforderung: mit den heiligen Plektrud und Notburgis (wobei man ja obendrein die Gründerin zu den Vorfahren des soeben, 1165, in Aachen wiederum auctoritate metropolitani Colo­ niensis, also von Rainald von Dassel heiliggesprochenen Karl dem Großen zählen konnte). Obendrein gab man sich mit dem erstmals 1189 belegten Zusatz in Ca­ pitolio ein unter den Marienkirchen unverwechselbares Profil.59 Nur wenig mehr als ein Jahrhundert nach dem Neubau der Kirche mit seiner Dreikonchenanlage kam es damals auch zu bemerkenswerten neuerlichen Bauaktivitäten: Sie standen zwar nicht allesamt in diesem Kontext der Konkurrenz; so machten nachgebende Fundamente am Osthang der Kirche umfassende Sicherungsmaßnahmen unabdingbar. Auch könnte der große Stadtbrand von 1150 für das Kapitol Folgen gezeitigt haben. Doch Weiteres kam hinzu: St. Peter und Paul wurde als Kapelle der heiligen Notburgis renoviert, um 1175 erfuhr die dreiteilige Westturmgruppe samt Köln 1977 (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, 33), S. 319–321. – Über den Schrein zuletzt mit teilweise neuen Thesen Seidler, Martin: Der Schrein des Heiligen Heribert in Köln–Deutz, Regensburg 2016. – c) Anno II.: Schmid: Von den Heiligen Drei Königen (wie Anm. 33), S. 117 f. – Sauer: Fundatio (wie Anm. 2), S. 187 f. – Wisplinghoff, Erich: Das Erzbistum Köln 2: Die Benediktinerabtei Siegburg, Berlin/New York 1975 (Germania Sacra, N. F. 9), S. 11, 107 – Legner, Anton (Hg.): Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter [Ausstellungskatalog Köln], Köln 1975, S. 23, 65, 192. – d) Brun: Gädeke, Nora: Zeugnisse bildlicher Darstellung der Nachkommenschaft Heinrichs I., Berlin/New York 1992 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung, 22), S.  165–169, 175  f., 182. Auch wenn Brun in eine heiligmäßige Aura gerückt wurde, unterblieb – wie im Falle Plektruds – die (allerdings 1870 durch Approbation ‚nachgeholte‘) förmliche Erhebung: Sauer, S. 189. 58 Schwarz, Marianne: Heiligsprechungen im 12.  Jahrhundert und die Beweggründe ihrer Urheber, in: Archiv für Kulturgeschichte 39 (1957), S. 43–62. 59 a) Zum Bezug von Kölner Akt (1164) und Aachener Kanonisation (1165) neben Plassmann, Nützlichkeit (wie Anm. 54), auch Finger: Translation (wie Anm. 55), S. 55–57. Im Fall solcher ‚Ansippung‘ Plektruds an Karl  des  Großen war offensichtlich ihr Part in der Sukzessionskrise entweder vergessen oder wurde verdrängt. – b) ecclesia( )beatae Mariae que est in Capitolio: Lacomblet, Theodor Joseph (Hg.): Urkundenbuch für die Geschichte des Niederrheins ..., Bd.  4, Düsseldorf 1858 (ND 1966), n.  63 (S.  687). – Vgl. Gechter, Quellen (wie Anm. 11), S. 31. – Schieffer: Regesta (wie Anm. 47b), S. 166. – Rahtgens: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 189. – Zum wohl noch auf das Ende des 12. Jahrhunderts zurückgehenden entsprechenden Siegel Schäfer: Beiträge (wie Anm. 26b), S. 96.; vgl. Mühlberg: St. Marien (wie Anm. 2), S. 31. – Als erster Autor verwendete Caesarius von Heisterbach um 1220/25 den Begriff: Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 2. – Keussen: Topographie (wie Anm. 15), Bd. 1, S. 45b.

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Glockenturm neue Gestaltung, und ebenfalls noch im 12. Jahrhundert erfolgten die Erneuerung des Oberbaus der Querschiffapsiden wie wohl auch des Unterbaus des Vierungsturms. Es wurden ein neuer Kreuzgang und nicht zuletzt die beiden (1832 abgebrochenen) Vorhallen der Eingänge zur Kirche in der Nord- und Südkonche angelegt (im so geschützten Scheitelportal der Nordkonche waren übrigens die berühmten romanischen Türflügel des 11.  Jahrhunderts angebracht, die das sich zur Stadt hin öffnende Haupttor bildeten).60 Die in die Kirche Eintretenden befanden sich mithin sogleich im Umgang des Triconchos: Waren sie damit auch direkt auf einem Prozessionsweg, in dessen Zentrum, d.h. etwas entfernt in der Vierung, Plektruds Grab lag? Dies vermutete schon Hugo Rahtgens, der vor über einem Jahrhundert St. Maria im Kapitol für die ‚Kunstdenkmäler der Rheinprovinz‘ inventarisierte. Seine These einer Prozessionskirche61 zu Plektruds Ehren gewänne noch erheblich an Plausibilität, wenn sich das Grab im Umgang selbst und zwar im Scheitel der die Apsis bildenden Ostkonche situieren ließe und zwar schon seit dem Bau des salischen Triconchos oder aber seit der – in unserem Kontext besonders relevanten – zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als die Tumba mit der romanischen Platte bedeckt wurde: Die zu sanktifizierende Gründerin wäre ins zentrale Blickfeld sowohl der im Ostteil der Kirche tätigen Kanoniker als auch der Nonnen bzw. Kanonissen im Westen gerückt, und der Weg aller in das Heiligtum Eintretenden hätte direkt zu ihr geführt. Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext Ausführungen von Friedrich Dahm, wonach die mit der Platte geschmückte Tumba auch gar nicht frei in der Vierung gestanden haben kann, weil sie ein Nischen- oder Arkosolgrab war. Denn lediglich ein einziger der vier die Rahmenaußenseiten bildenden Wülste ist palmettenrelifiert, nämlich derjenige auf der dem Betrachter zugewandten Schauseite des eben in einer Nische untergebrachten Grabs. Nur bot die gerundete Ostkonche keinen entsprechenden Platz, wie er dagegen sehr wohl mit einer Apsisnische in 60 Stehkämper/Dietmar: Köln (wie Anm. 2), S. 412. – Kaiser, Jürgen: Die großen romanischen Kirchen in Köln, Köln 22017, S. 109. – Beuckers: Rex iubet (wie Anm. 47b), S. 133 f. – Krings: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 357, 359. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 42. – Rahtgens: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 194. – Zur romanischen Tür siehe neben Beuckers auch Stracke, Wolfgang: St. Maria im Kapitol Köln. Die romanische Bildtür, Köln 1994. – Für einen Haupteingang in der Südkonche plädierte dagegen Mühlberg: St. Marien (wie Anm. 2), S. 31. 61 Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 94, 192–194. – Ähnlich auch Nyssen, Wilhelm: Heiliges Köln. Wallfahrten zu den Heiltümern der Frühzeit, Köln 1975, S. 90 f. – Als unbelegbare These abgelehnt von Kitschenberg: Kleeblattanlage (wie Anm. 3), S. 168 f., 194. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 77.

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der Krypta zur Verfügung stand, wo das Grab 1870 eine neue, weitere Heimstatt finden sollte: Eine Materialuntersuchung 2002 ergab denn auch, dass der Palmettenschmuck an der Außenseite erst bei dieser Gelegenheit gefertigt wurde und mithin alle Spekulationen über eine im Ortssinn zentrale und zentrierte Heiligenverehrung Plektruds im 12. Jahrhundert hinfällig sind.62

Plektrud: eine translozierte und verschwundene Königin (14. – 21. Jahrhundert)

Das Grab wird sich also, der erwähnten Urkunde von 1283 entsprechend, damals noch im östlichen Langhaus der Kirche nahe der Vierung befunden haben, wurde jedoch spätestens 1305/08, wie die zitierte Schreinsüberlieferung belegt, wegen des von Daniel Jude gestifteten Altars oder auch wegen neuen Chorgestühls und (gotischen) Lettners in das Mittelschiff vor den seit 1304 mit dem Gabelkreuz ausgestatteten Kreuzaltar auf Höhe der ersten Langhauspfeiler transloziert, wo es 1482 nach dem Zeugnis des Kölner Erzbischofs und noch 1645 nach dem des Aegidius Gelenius seinen Platz hatte: „Mausoleum in media navi Ecclesiae … exhibet re­ liquias corporis divae Plectrudis“63. Es liegt auf der Hand, dass die kurz vor oder um 1300 wohl in der Kölner Dombauhütte gefertigte und dem Stil der Epoche entsprechende gotische Platte eben für diesen neuen Grabort bestimmt war, um 62 Dahm: Grablege (wie Anm. 2), S. 211–222. Zur Materialuntersuchung Maul, Georg: Restaurierungsbericht. Das spätromanische Grabmal der Plektrudis, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 196  f. (vgl. unten Anm. 69). – Klaus Gereon Beuckers, einer der besten kunsthistorischen Kenner der Kirche, stimmte zunächst Dahms These zu: Rex iubet (wie Anm. 47b), S. 138 f., um sich später generell gegen eine Prozessions- und Wallfahrtsfunktion des Konchenumgangs auszusprechen: Der salische Neubau von St.  Maria im Kapitol. Zum Baukonzept in seinem historischen Kontext, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 49–70, hier S. 54 f. – Beuckers hat übrigens jüngst auch neue Aufschlüsse zu Lage und Disposition des Kanonissenchors geliefert: Beuckers, St.  Maria im Kapitol (wie Anm. 2), S. 137–158. 63 Belege zu 1283, 1305/08 und 1482 siehe Anm. 14a, 37a, 15. Zu 1645 Gelenius: De admiranda … magnitudine (wie Anm.  12), S.  328 (Zitat). – Vgl. Bergmann: Grabplatte (wie Anm. 2), S. 80. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 88. – Vieles deutet darauf hin, dass damals jener – von Otto Doppelfeld aufgefundene – merowingerzeitliche Kalksteinsarkophag (vgl. Anm. 2, 23), Plektruds sehr wahrscheinliche Ruhestätte, an diesem Ort eingelassen wurde und – unabhängig von allen weiteren Translozierungen des Grabs wie auch ohne sterbliche Überreste – bis zu seiner Wiederentdeckung 1956 ebenda verblieb: Krings: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 366. – Mühlberg: Sarkophag (wie Anm. 14a), S. 72.

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Plektrud fortan als kirchstiftende Gründerin und gekrönte Königin und weniger als Heilige ins Bild zu rücken64. „Stifterinne und Königinne“ wird sie auch in jenem Protokoll genannt, das für 1666 die neuerliche Verlegung des Grabs hinter den Kreuzaltar und unter den (Renaissance)Lettner vermerkt.65 Vielleicht sollte damit zudem ihre Position als Heilige, die sie ja trotzdem immer und auch noch war, weiter zurückgenommen werden: der Rückzug aus der exponierten Lage im Mittelschiff als unausgesprochene Degradierung im Gefolge der Übernahme von die Verehrung gerade nicht kanonisierter Personen als Heiliger restriktiv handhabenden Beschlüssen des Tridentinum durch eine Kölner Diözesansynode des Jahres 1662?66 Ein Jahrhundert später ging es dann Schlag auf Schlag: 1758 wurden von Erzbischof Clemens August Mittel für Tumben im barocken Stil der Zeit gestiftet, woran erhaltene Inschriften auf Holzkartuschen erinnern. Diese Tumben fanden nur acht Jahre später im Zuge umfangreicher Baumaßnahmen und Neuanordnungen vor dem nord- bzw. südöstlichen Vierungspfeiler Aufstellung: Es handelt sich wohlgemerkt um zwei Grabmale, nämlich für Plektrud wie nunmehr auch für die ezzonische Äbtissin Ida, Erbauerin der salischen Kirche, deren Grabstätte sich bis dahin an der Nordwand der Kirche befunden hatte. Derweil wurde die romanische Platte – nach einem Jahrhundert neuerlicher Verwendung bis 1758 auf Plektruds Grab?

64 Hierzu grundlegend Bergmann: Grabplatte (wie Anm.  2). – Vgl. Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 31. Eine für möglich gehaltene Identifizierung der Figur mit Äbtissin Ida halte ich für wenig überzeugend; so auch nur Seidler: Grabmal (wie Anm. 2), S. 192, 194. – Hagendorf-Nussbaum, Lucie: St. Maria im Kapitol Köln, Regensburg 2014 (Schnell-Kunstführer, 2830), S. 23; vgl. auch Krings: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 366. Ebenso irrig erscheint mir die vor allem von Mühlberg vertretene These, beide Platten seien auf dem Grab übereinandergelegt worden: Grab (wie Anm. 2), S. 87–92. – Vgl. Schäfke: Romanische Kirchen (wie Anm. 16), S. 156. – Siehe dazu auch treffend Bergmann, S. 80. 65 Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 190 f. (mit Zitat aus Protokoll). – Ders.: Kunstdenkmäler (wie Anm.  14a), S.  246. – Vgl. Beuckers: St.  Maria im Kapitol (wie Anm. 2), S. 161. – Oepen: Totengedenken (wie Anm. 14a), S. 232. – Seidler: Grabmal (wie Anm. 2), S. 192. – Bergmann: Grabplatte (wie Anm. 2), S. 80. – Kulenkampff: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 31), S. 383. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 23 f. 66 Decreta et statuta dioecesanae synodi Coloniensis sub Maximiliano Henrico archiepiscopo Coloniensi anno 1662 celebratae, Köln 1667, e. g. p. I, tit. III, caput II, § 5 (S. 16) – p. I, tit. VIII, caput I, § 2 (S. 41). – Vgl. Molitor, Hansgeorg: Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe, Köln 2008 (Geschichte des Erzbistums Köln, 3), S. 258, 442. – Siehe auch (ohne Belege) Kulenkampff: Marienbruderschaft (wie Anm. 31), S. 21 f. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 92 f., 95.

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– an der Außenwand der Ostkonche unterhalb des Scheitelfensters angebracht.67 Mit der säkularisationsbedingten Umwandlung des Stifts in eine Pfarrkirche stand schon der nächste Umzug an: Die beiden barocken Denkmale erhielten 1818 ihren Platz am westlichen Ende des Mittelschiffs; nach deren Abbruch 1868 traten Plektrud und Ida den Weg in die Krypta an. In deren südlicher Apsis befand sich fortan das Grab der Gründerin in einem wohl zeitgenössischen Sarkophag, der wieder von der romanischen Grabplatte bedeckt war.68 Indes auch in der Stille der Geburtsgrotte des kölnischen Bethlehem sollte ihre Heimat nicht von Dauer sein. Nach der Zerstörung der Kirche im Zweiten Weltkrieg trennte man die Bildplatte von der palmettengeschmückten Tumba, um sie, wie auch die gotische Reliefplatte, in die Seitenwände der Oberkirche einzulassen. Erst 2002 kam es nach umfänglicher Sicherung, Konservierung und Dokumentation zu deren Wiedervereinigung, und in dieser Form erhielt das Grabmal mit romanischer Platte samt ‚clementinischer‘ Inschrift seinen heutigen Platz in der Nische unterhalb eines Fensters im nördlichen Seitenschiff auf der Höhe zwischen zweitem und drittem Langhauspfeiler, während das – 2002 ebenfalls restaurierte – gotische Bildnis der StifterKönigin sich in die Rückwand der Vorhalle des Langhauses eingelassen findet.69 67 Dahm: Grablege (wie Anm. 2), S. 213, 219. – Krings: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 370. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 25, 27, 96 f. – Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 192. – Ders.: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 245. – Zur Anbringung der romanischen Platte an der Außenwand der Ostkonche Dahm, S.  213  f. – Beuckers: Rex iubet (wie Anm. 47b), S. 139. – Bergmann, Ulrike: Grabplatte der Plektrudis, in: Legner (Hg.): Ornamenta Ecclesiae (wie Anm. 31), Bd. 2, S. 334. Dass sie das Grab zwischen den Translozierungen von 1666 bis 1766 bedeckte, vermuteten Bergmann: Grabplatte (wie Anm. 2), S. 81 sowie Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 39; dies kann aber nur bis 1758 der Fall gewesen sein, da die – fotografisch belegte – bauchige Form der Tumba (siehe etwa Mühlberg: Grab [wie Anm.  2], S.  95, Abb.  43; vgl. Weyer: Darstellung [wie Anm.  51], S. 39, Taf. 9) keine Anbringung der Platte mehr erlaubte. Das Grab Plektruds und das der als Seligen verehrten Ida sind seitdem an allen neuen Standorten stets parallel angeordnet geblieben; dieses befindet sich heute im südlichen Seitenschiff auf der Höhe jenes, das im nördlichen seinen Platz fand (vgl. Anm. 69). 68 Dahm: Grablege (wie Anm.  2), S.  213. – Bergmann: Grabplatte der Plektrudis (wie Anm. 67), S. 334. – Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 27, 39. – Rahtgens: St. Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 192. – Ders.: Kunstdenkmäler (wie Anm. 14a), S. 246. – Zu 1818 auch Schäfer: Pfarrarchiv (wie Anm. 15), S. 98 (n. 521). – Kracht, Hans-Joachim/Torsy, Jakob (Hg.): Reliquiarium Coloniense, Siegburg 2003 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 34), S. 434 (n. 626). 69 Seidler: Grabmal (wie Anm. 2), S. 192. Zur Restaurierung beider Platten 2002: Maul: Restaurierungsbericht (wie Anm. 62), S. 194–197 (romanisches Grabmal), 197–200 (gotische Reliefplatte).

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Nur: Das Grab ist leer, denn die sterblichen Überreste Plektruds in Gestalt eines offensichtlich gut erhaltenen Skeletts, das bis dahin alle Translozierungen überstanden hatte, wurden im März 1945 aus dem Nordwestturm der Kirche gestohlen, wohin man sie in den letzten Kriegsmonaten verbracht hatte … .70

Plektrud: Facetten einer Existenz im Spiegel der Zeiten

Was bleibt, ist mithin ein Kenotaph, ist das Schweigen der Steine. Einigen Mediävisten und Angehörigen der kleinen Innenstadtpfarrei auf dem Kapitolshügel mag ihr Name noch geläufig sein – zu ihrer Zeit hatte es dagegen noch geheißen: „matrona … suo consilio atque regimine cuncta sese agebat“71 – , doch aufs Ganze dürfte er so unbekannt sein wie den Kölnern jene kleine, nach ihr benannte Gasse im Schatten der Kirche, von Plektrudisstraßen an einigen rheinischen Orten, wo das Stift einst begütert war, ganz zu schweigen. Wenigstens war sie aber wohl ohne größere Diskussionen ‚gesetzt‘, als es 1990 um ihre Aufnahme in das Figurenprogramm des Kölner Rathausturms ging und darüber heftiger Streit um eine dabei zu erfüllende Frauenquote ausbrach. Ihre unstrittige historische Bedeutung für das Gewicht Kölns und des Rheinlands im austrasischen Frankenreich, insbesondere aber für den Fortbestand des pippinidischen Majordomats und damit für den Aufstieg der Karolinger wird, zumindest aus deren Sicht, durch ihr unziemliches, einer Frau unangemessenes Agieren im Kampf um die Nachfolge ihres Gatten verdunkelt (allerdings denke man an die Rolle manch merowingischer Königin). Noch ein Jahrhundert nach den Ereignissen hieß es auf Seiten der Sieger: „Plectrudis … Carolum a legitima paterni imperii gubernatione prohibebat, ipsa cum infantulo mu­ liebri consilio tanti regni habenas tractare presumebat. Quod dum crudelius quam oportet astu femineo disponere decreverat …“72. Auf die Frage, ob Karl Martell und darüber hinaus dessen Familie ebendarum ihre damnatio memoriae betrieben, 70 Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 27, 96 (S. 27, Anm. 27 zum fotografisch belegten Zustand des Skeletts). – Vgl. Bergmann: Grabplatte (wie Anm.  2), S.  81. – Krings: St.  Maria im Kapitol (wie Anm. 6), S. 372. – Hlawitschka: Anfänge (wie Anm. 13), S. 14. 71 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici libri IV – Continuationes, ed.  Bruno Krusch, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. 2, Hannover 1888 (ND 1984), c. 8 (S. 173). 72 Annales Mettenses priores, ed.  Bernhard von Simson, Hannover/Leipzig 1905 (ND 2003) (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 10), ad a. 714 (S. 19 f.).

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wissen wir ebenso wenig eine Antwort wie auf die nach dem Grund des Fehlens einer Vita. Galt ihre bewegte Existenz als mitregierende Gattin Pippins des Mittleren und als nach dessen Tod Hoheit über die Sukzession beanspruchende Regentin späteren und stärker verchristlichten Generationen als nicht gerade exemplarisches Muster für ein heiligmäßiges Leben? Sollte es dennoch eine Erinnerung an die Fundatorin oder gar Ansätze eines Plektrudkults in St.  Maria im Kapitol gegeben haben, so dürften Unterbrüche in der frühen Geschichte ihrer Gründung hierfür nicht gerade förderlich gewesen sein. Allerdings müssten eigentlich jene in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts deutlich werdenden Bemühungen um eine Verehrung als Heilige die Existenz einer gewissen Tradition voraussetzen, die für uns jedoch wegen des Fehlens oder Verlusts einschlägiger Überlieferung nicht greifbar ist. Diese sich nunmehr abzeichnenden Bestrebungen sind sicherlich aus dem intensiven, mit der Überführung der Dreikönigsreliquien 1164 seinen Höhepunkt erreichenden Wettbewerb der geistlichen Institute Kölns um einen durch Hausheilige gesicherten guten Platz in der Sakraltopografie der Stadt zu erklären. Seitdem finden sich immer wieder bis in die Neuzeit hinein Belege für eine sancta Plectrudis, allerdings in nicht gerade dichter Folge. Nie ist zudem die Rede von Wundern an ihrem Grab, nie war dieses das Ziel eines populären Kults, der sich im Übrigen ein halbes Jahrtausend nach ihrem Tod und angesichts vielfältiger Kölner Konkurrenz nur schwerlich noch hätte entwickeln können. Somit spricht auch nichts für die These, dass der Triconchos von St.  Maria im Kapitol zum Zweck einer Plektrudverehrung durch Prozessionen errichtet worden ist. Allerdings weist der salische Kirchbau mit seiner berühmten Kleeblattanlage auf eine zweite Tradition, die sich mit dem Abbatiat der Ezzonin und Kaiserenkelin Ida (vor 1049–1060) verknüpft und mit der Umwandlung des Klosters in ein Stift des Adels an Profil und Stärke gewann: Man stellte die Kirche mit ihren architektonischen Zitierungen der Kaiserstätten von Aachen im Westbau und von Speyer in der Krypta als „ab imperatoribus, regibus et principibus fundatam“ dar.73 Damit wurde aus der ,Entrücktheit einer Heiligen‘, wie sie das romanische Grabmal zeigt, in der Folge die ‚Hoheit einer Königin‘, die sich in der gotischen Reliefplatte spiegelt74 (worauf allerdings bereits der Zusatz regina auf jener deutet – die historische Faktizität spielte hierbei, wie gesagt, keine Rolle, wenn man die Gründerin unter Karls des Großen Ahnen einreihen konnte). Der himmlischen 73 Zitat: wie Anm. 50. Vgl. Mühlberg: St. Marien (wie Anm. 2), S. 9, 25, 28. – Kitschenberg: Kleeblattanlage (wie Anm. 3), S. 17. 74 Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 43.

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Königin als Patronin entsprach mithin eine irdische als Gründerin, ohne dass man den Anspruch auf deren Heiligkeit je ganz aufgegeben hätte, wie noch die 1640 um eine Kanonisation werbende Schrift des Aegidius Gelenius erweist. Nur verfocht man ihn nicht mit entschiedener Konsequenz; vielleicht hatte auch schon jene von Stehkämper konstatierte Krise des Stifts in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts den Elan der – ohnehin von außen durch die Kölner Konkurrenz aufgedrängten – Kanonisationsabsichten vorangegangener Jahrzehnte abebben lassen. Der königlichen Fundatorin gebührte jedenfalls Vorrang vor der heiligen, wie wohl auch noch die erwähnte Verlegung des Grabs 1666 zeigt, das seit Jahrhunderten seinen zentralen Platz im Mittelschiff der Kirche hatte, nun aber im Wortsinn zurückgesetzt wurde, nachdem 1662 ein Kölner Konzil die Dekrete des Tridentinum und damit auch dessen die Heiligenverehrung nicht kanonisierter Personen einschränkende Bestimmungen vor Ort umgesetzt hatte. Gewiss haben auch andere Faktoren wie bauliche Veränderungen, liturgische Erfordernisse, Umgruppierungen des sakralen Apparats nach dem Erwerb neuer Ausstattungsgegenstände und nicht zuletzt ein sich in der Tumbagestaltung spiegelnder gewandelter Zeitgeschmack bei den jeweiligen Translozierungen eine Rolle gespielt, die vom 18.  Jahrhundert bis in unsere Gegenwart fast schon an einen Verschiebebahnhof denken lassen. Mit einem Schrein, wie ihn der Konvent ja für Vitalis und Notburgis besaß, hätte sich jedenfalls der anfallende Verlegungsaufwand minimieren lassen. Allein das Fehlen scheint ein weiteres Mal Zögerlichkeit bei der Sanktifikation zu signalisieren. Oder aber sollte das Festhalten an der Grabesform vielmehr für einen bewussten Entscheid zugunsten des Andenkens an eine vom Stift zur Königin erhobene Plektrud stehen? Dies vermutete jedenfalls der frühere Kölner Stadtkonservator Fried Mühlberg, nach dem gerade das Grab für „die Legitimierung des königlichen An­ spruchs der Stifterin bei der Rivalität mit den antiken Märtyrern und den neuen Hei­ ligen der hohen Domkirche“ gestanden haben könnte.75 Will wohl sagen: Die nach dem elitären Selbstverständnis des Konvents singuläre Stellung der Gemeinschaft auf dem Kapitol mag, zumindest im schreinträchtigen Hoch- und Spätmittelalter, in Plektruds Grab als Distinktionsmerkmal ihren adäquaten Ausdruck gefunden haben.76 In jedem Fall aber war dem Stift eine Königin letztlich mehr wert als eine

75 Mühlberg: Grab (wie Anm. 2), S. 86. 76 Wobei einschränkend anzumerken bleibt, dass das Gründergrab in der Kirche im Prinzip ja ein natürliches und wesentliches Modell des Adelsgrabs darstellt; siehe etwa Zotz, Thomas: Adelsgräber in Kirchen im Früh- und Hochmittelalter, vornehmlich im deutschen Südwes-

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– offensichtlich schwer durchzusetzende – Heilige in einem an Heiligen ohnehin überreichen Köln.

Zusammenfassung

Die Gründung eines Heiligtums auf dem Kölner Kapitolshügel im frühen 8. Jahrhundert durch Plektrud, die Witwe des karolingischen Hausmeiers Pippin des Mittleren, hat immer schon die Frage nach dessen Status stellen lassen. Plektruds Familientradition und andere Indizien legen nahe, dass es sich wohl um ein Kloster handelte, dessen Fundationsgeschichte sich indes erst mit einer in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen Überlieferung abzeichnet. An deren Anfang steht die romanische Grabplatte der Stifterin, deren Inschrift sie erstmals S(ancta) nennt; eine Bezeichnung, die alsbald auch in Schriftzeugnissen begegnet. Hintergrund der Bemühungen um eine eigene Kloster- bzw. Stiftsheilige – auch Notburgis, eine angeblich mit Plektrud auf dem Kapitol lebende Nichte, schloss man darin ein – war wohl jener zu Köln im früheren 12. Jahrhundert anhebende Wettbewerb der kirchlichen Institute um Sakralkapital, um konkrete, auch und gerade Hausheilige ‚aktivierende‘ Heilsakkumulation; eine Entwicklung, die mit der Überführung der Reliquien der Heiligen Drei Könige 1164 ihren Höhepunkt erreichte. Doch schon mit und seit dem 13. Jahrhundert sind Belege für Plektrud als Heilige in zwar steter, so doch nur mehr loser Folge zu verzeichnen. Indizien für einen Kult am Ort lassen sich nicht festmachen, vereinzelten späteren Bestrebungen wie etwa von Aegidius Gelenius war keinerlei Erfolg beschieden. Stattdessen wurde Plektrud – neben dem durchgängigen Attribut Fundatrix – seitdem zunehmend der Titel Regina zuerkannt, und als solche stellt sie denn auch die um 1300 gefertigte gotische Grabplatte dar (auf der romanischen scheint Regina nachträglich zugefügt worden zu sein). Historizität spielte dabei keine Rolle; ausschlaggebend war, dass Plektrud als Vorfahrin Karls des Großen zur stirps regia schlechthin gehörte. Offenbar lag dem zu den vornehmsten Instituten der Kölner Kirche schlechthin zählenden Konvent mehr daran, neben der Himmelskönigin als Patronin über eine irdische Gründerin im Königsrang – und damit am Ort über ein Alleinstellungsmerkmal – zu verfügen, als nach fünf Jahrhunderten zu versuchen, eine weitere Heilige in einem an Heiligen ohnehin überreichen Köln nachträglich ten, in: Jarnut, Jörg u.a. (Hg.): Gräber im Kirchenraum. 6. Archäologisch-historisches Forum, Paderborn 2015 (Mittelalter-Studien, 26), S. 174, 179, 194.

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durchzusetzen. Und verlieh nicht obendrein eine Königin dem Selbstverständnis des Konvents adäquaten Ausdruck, wie es sich etwa auch im Herrscherstätten wie Aachen und Speyer zitierenden Bauprogramm aus salischer Zeit oder in einschlägigen Bestimmungen der Stiftsstatuten des 14. Jahrhunderts spiegelt?

Summary

The foundation of a Christian sanctuary on the site of the Capitoline temple in Cologne in the early 8th century by Plectrude, widow of the Carolingian maior domus Pepin of Heristal, has always raised the question about its status. The tradition of Plectrude’s family and other indications suggest that it was likely a monastery, one whose foundation history, however, first begins to emerge only in the historical tradition that arose in the second half of the 12th century. At its beginning stands the Romanesque tomb slab of the foundress, the inscription on which calls her – for the first time – S(ancta), a designation which is also encountered soon afterwards in textual sources. The background for these endeavours for a saint associated specifically with the monastery/collegiate church – these also included Notburgis, one of Plectrude’s nieces who supposedly lived with her on the Capitoline hill – was likely the competition, which arose earlier in the 12th century, amongst Cologne’s religious institutions for sacred capital. In other words: for a concrete accumulation of the sacred which also, and especially, worked to ‘activate’ a religious house’s group of patron saints – a development which reached its pinnacle with the translation of the relics of the three Magi in 1164. As early as the 13th century, however, and then afterwards, indications concerning Plectrude’s sanctity, though continuous, follow only in a less concentrated manner. Indications suggesting a cult at the church cannot be ascertained, and later, isolated efforts such as those of Aegidius Gelenius to establish one were without success. Rather, Plectrude henceforth increasingly received – alongside the constant designation Fundatrix – the title of Regina, and is then depicted as such on the Gothic tomb slab created around 1300 (the word Regina on the Romanesque slab appears to have been added later). In all this, historicity played no role; the crucial factor was that Plectrude, as an ancestor of Charlemagne, belonged to the stirps regia par excellence. The convent, which counted among the most prestigious institutions in the Church of Cologne, was clearly concerned more with possessing alongside the Queen of Heaven an earthly foundress of royal rank as a patron, and thus a characteristic to distinguish

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it locally, than it was with attempting, five centuries later, to subsequently promote another saint in a Cologne which already boasted so many saints. And, beyond that, did a queen not give adequate expression to the convent’s self-understanding as also reflected, for instance, in its programmatic church building of the Salian era, which cites places with imperial ties like Aachen and Speyer, or in corresponding determinations in the foundation’s statutes from the 14th century?

„Crux sub odaeo miraculosa“. Leidenskruzifixe in Frauenkonventen: Der Gabelkruzifixus von St. Maria im Kapitol in Köln Vivien Bienert

Der Gabelkruzifixus von St. Maria im Kapitol in Köln (Abb. 3) „gehört seit alters“, so Hugo Rahtgens in seiner 1913 veröffentlichten Baumonografie, „zu den po­ pulären Hauptmerkwürdigkeiten der Kirche“.1 Das dürfte nicht zuletzt auf die expressive Darstellung von Christus zurückzuführen sein, die Rahtgens aufgrund seiner historistisch geprägten Sichtweise im Kunstdenkmäler-Inventar von 1911 bereits befremdet hat.2 Angesichts dieser „herb naturalistischen Auffassung“ hielt er es für „ausgeschlossen, dass das gegenwärtige Kruzifix vor der 2. Hälfte des 14. Jh. entstanden und somit noch das vom J. 1304 ist.“3 In dem Jahr, genauer gesagt am Barbaratag (4. Dezember) 1304, soll es nach einer verlorenen Inschriftentafel am Kreuz („in tabella appensa inscriptione“), die durch das Traktat Staurologia Colo­ niensis von Aegidius Gelenius (1595–1656) aus dem Jahr 1636 überliefert ist, anlässlich seiner Einsegnung durch Weihbischof Heinrich (verst. 1312) mit zahlreichen wertvollen Reliquien ausgestattet worden sein: „ANNO DOMINI MCCCIV. in die B. Barbarae Virginis & Martyris. Haec Crux veneranda, benedicta est à ve­ 1 Hugo Rahtgens: Die Kirche S. Maria im Kapitol zu Köln, Düsseldorf 1913, S. 191, Anm. 1. – Klaus Gereon Beuckers sei für seine große, unermüdliche Unterstützung bei dem vorliegenden Beitrag ganz herzlich gedankt. 2 Hugo Rahtgens (Bearb.): Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln. St. Gereon – St. Johann Baptist – die Marienkirchen – Gross St. Martin (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 7.1; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2.1), Düsseldorf 1911, zu St. Maria im Kapitol S. 177–276, hier S. 242: „Es [das Kruzifix von St. Maria im Kapitol] gehört zu der Gruppe von Kruzifixen, bei denen gleichsam als Versinnbildlichung des Prophetenwortes das Unansehnliche der Gestalt Jesu und das Qualvolle seines Todes in drastischer Betonung und Übertreibung zum Ausdruck kommt.“ – Zu Rahtgens’ Urteil vgl. auch Wolfgang Stracke: St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 11 (1996) [Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2], S. 79– 103, hier S. 91. 3 Rahtgens 1911 (wie Anm. 2), S. 243.

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|  Vivien Bienert Abb. 3: Köln, St. Maria im Kapitol, Gabelkruzifixus (1907).

nerabili Patre Domino Henrico, Rodestonensi Episcopo, auctoritate Decani & Capituli Coloniensis, gerente vices in Pontificalibus, sede per mortem Domini VVicboldi Col­ oniensis Archiepiscopi vacante. Impositae verò sunt subscriptae reliquiae venerandae Cruci praefatae, à praedicto Domino Henrico, die suae Consecrationis prenotato.“4 4 Aegidius Gelenius: Staurologia Coloniensis in qua De S.S. per Diocesin Coloniensem sparsis Crucibus, repetitis ex omni Antiquitate considerationibus, disseritur, Köln 1636, Nr. 23, S. 37–41, hier S. 38. Es folgen ein hierarchisch sortiertes, 32-teiliges Reliquienverzeichnis, eine 40-tägige Ablassgewährung und eine Restaurierungsnotiz („Renovatum anno 1582“). – Zu dem überlieferten Einsegnungsdatum vgl. auch Aegidius Gelenius: De admiranda, sacra, et civili magnitudine Coloniae Claudiae Agrippinensis Augustae Ubiorum Urbis, libri IV, Köln 1645, S.  329  f., Nr.  VI. – Josephus Hartzheim: Bibliotheca Coloniensis, in

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Von Gelenius stammt auch eines der ältesten bekannten Zeugnisse zur Auf­ stellung oder Anbringung des Kruzifixes. Es findet sich in seinem Buch De admi­ randa, sacra, et civili magnitudine Coloniae aus dem Jahr 1645 und zitiert seine bereits neun Jahre zuvor erschienene Beschreibung: „Crux sub odaeo miraculosa de qua haec in Staurologia Coloniensi scripsi […]“.5 Ob der Kruzifixus ursprünglich mit einer Chorschranke oder gar einem Lettner in Verbindung stand, ist unklar, da der von Gelenius erwähnte Lettner („odae[um]“) erst 1523/25 im niederländischen Mecheln fertig- bzw. in St. Maria im Kapitol in Köln aufgestellt wurde und die Annahme eines (quellenmäßig nicht gesicherten) Vorgängers in der Forschung umstritten ist.6 Auch Quellenbelege zu der ursprünglichen Aufstellung/Anbringung des Werkes fehlen oder sind unbekannt.

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qua vita et libri typo vulgati et manuscripti recensentur omnium Archi-Dioeceseos Coloniensis, Köln 1747, S.  121. – Wilhelm Kisky (Bearb.): Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 4: 1304–1332 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 21), Bonn 1915 (ND 1964), Nr. 36, S. 7. – Rahtgens 1911 (wie Anm. 2), S. 242 f. zitierte den Inhalt nach Büllingen: Chroniken und Darstellungen 181, Urkunden, Inschriften und Notizen, die ehemaligen Kirchen und Kapellen der Stadt Köln betreffend, Bd. 1, Köln 1847, S. 138 (Manuskript im Historischen Archiv der Stadt Köln). Gelenius 1645 (wie Anm. 4), S. 329, Nr. VI. – Vgl. Gelenius 1636 (wie Anm. 4). Gelenius 1645 (wie Anm. 4), S. 329. – Zum (Renaissance-) Lettner vgl. u.a. Johann Peter Balthasar Kreuser: Kölns alte Kirchen in Andeutungen, in: Kölner Domblatt. Amtliche Mittheilungen des Central-Dombau-Vereins mit geschichtlichen, artistischen und literarischen Beiträgen 123 (1844), o.S. [2–4, hier S. 3]. – Wilhelm Ewald: Der Lettner von St. Maria im Kapitol zu Köln, in: Zeitschrift für christliche Kunst 16 (1903), Sp. 257–272. – Rahtgens 1911 (wie Anm. 2), S. 229–233. – Gisela Matthes: Der Lettner von St. Maria im Capitol zu Köln von 1523, Diss. Bonn 1967 [masch.], hier S. 26. – Hans Peter Hilger: St. Maria im Kapitol zu Köln (Rheinische Kunststätten, Heft 59), Neuss 61985, S. 18 f. – Gisela MülhensMatthes: Zur Rückversetzung des Lettners zwischen die westlichen Vierungspfeiler, in: Köln: Die Romanischen Kirchen in der Diskussion 1946/47 und 1985, hg. v. Hiltrud Kier/ Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 4), Köln 1986, S. 239–259. – Stracke 1996 (wie Anm. 2), S. 95 f. – Lucia Hagendorf-Nussbaum: St. Maria im Kapitol. Kirche des Damenstifts, seit 1802 Pfarrkirche, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 20 (2005) [Kölner Kirchen und ihre Ausstattung in Renaissance und Barock, Bd. 3], S. 114–174, hier S. 146–154. – Sybille Fraquelli: St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 25 (2010) [Die romanischen Kirchen im Historismus, Bd. 1], S. 269–317, hier S. 311. – Susanne Ruf: Die Stiftungen der Familie Hardenrath an St. Maria im Kapitol zu Köln (um 1460 bis 1630). Kunst, Musikpflege und Frömmigkeit im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bd. 8), Korb 2011, S.  358–362. – Thesy Teplitzky: Geld, Kunst, Macht. Eine Kölner Familie zwischen Mittelalter und Renaissance, Köln 2012, S. 98–121. – Zur Annahme eines Vorgänger-Lettners um 1300 vgl. insb. Fried Mühlberg: Crucifixus Dolorosus. Über Bedeutung und Herkunft

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Einen von der Forschung bisher nicht wahrgenommenen Hinweis auf seinen ursprünglichen Aufstellungs-/Anbringungsort gibt das Bildwerk aber selbst, das neben seiner auf die individuelle Versenkung in die Leiden Christi und die Teilhabe am Mysterium des Opfertods (compassio) ausgerichteten, expressiven Nahansicht auch über eine (beabsichtigt) gemäßigtere Fernansicht verfügt, die für eine Präsentation des etwa lebensgroßen Kruzifixes an einem Lettner oder einer Chorschranke geradezu prädestiniert erscheint.7 In der gleichzeitigen Ausrichtung auf Nah- und Fernansichtigkeit mag auch eine Erklärung für die gesteigerte Expressivität des Werkes liegen, dessen spezifische Rhetorik im Folgenden im baulichen Kontext der Kölner Frauenkonventskirche St. Maria im Kapitol und ihrer Ausstattung sowie Nutzung analysiert werden soll. Aus dieser Analyse lassen sich auch Anhaltspunkte für die Datierung und die in der Forschung kontrovers diskutierte Herkunftsfrage des Gabelkruzifixes gewinnen.

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des gotischen Gabelkruzifixes, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte 22 (1960), S. 69–86, hier S. 73, Anm. 23. – Fried Mühlberg: Grab und Grabdenkmal der Plektrudis in St. Marien im Kapitol zu Köln, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte 24 (1962), S. 21–96, hier S. 28, 38 und 86 f. – Ulrich Krings: St. Maria im Kapitol. Die Bautätigkeit des Mittelalters und der Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Köln: Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg.  v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 345–380, hier S. 366 f. – Angela Kulenkampff: St. Maria im Kapitol. Dreikonchenanlage und Binnenchor der Stiftskirche im 17. und 18. Jahrhundert, in: Kier/ Krings 1984 (wie oben), S. 381–391, hier S. 382 mit Anm. 13. – Ulrike Bergmann: Die gotische Grabplatte der Plektrudis in St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 3 (1988), S. 77–88, hier S. 80. – Stracke 1996 (wie Anm. 2), S. 87 mit Anm. 89, der sogar vermutete, dass sich Reste des steinernen Vorgänger-Lettners möglicherweise noch erhalten haben könnten. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie oben), S. 137. – Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (Große Kunstführer, Bd. 207), Regensburg ²2005 (EA 2000), zu St. Maria im Kapitol S. 64–73, hier S. 68. – Zur aktuellen Lettner-Forschung allgemein vgl. auch Thierry Greub: Der Lettner – Ort liturgischer Performanz, der Rechtssprechung und medialen Inszenierung. [Tagungsbericht zu] Der mittelalterliche Lettner: Quelle, Befund, (Be)Deutung. Studientag an der Fakultät für Architektur, Arbeitsbereich Baugeschichte und Denkmalpflege der Universität Innsbruck, 27./28.4.2017, in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 71 (2018), S. 87–93. Kruzifixhöhe: 175  cm, Spanne: 123  cm, Tiefe: 39  cm; Gabelkreuzhöhe: 300  cm, Spanne: 175 cm, Tiefe: 9 cm. Vgl. Hans-Wilhelm Schwanz: Zur Technologie des Crucifixus dolorosus in St. Maria im Kapitol in Köln, in: Godehard Hoffmann: Das Gabelkreuz in St. Maria im Kapitol zu Köln und das Phänomen der Crucifixi dolorosi in Europa (Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege, Bd. 69; Studien zu Kunstdenkmälern im Erzbistum Köln, Bd. 2), Worms 2006, S. 151–164, hier S. 151.

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Zum Forschungsstand

Rahtgens’ Datierung des Kapitolskruzifixes in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts fand in der Forschung seit 1911 kaum Zuspruch.8 Meist wurde in ihm das Ende des Jahres 1304 eingesegnete „Crux veneranda“ aus der bei Gelenius überlieferten Inschrift gesehen, wofür Fritz Witte unter Bezugnahme auf Rahtgens’ Inventar-Eintrag noch im selben Jahr, 1911, in seiner kurzen Abhandlung mit dem sprechenden Titel Der große Kruzifixus in Maria im Kapitol zu Köln und sein Alter ausdrücklich plädiert hatte.9 Als Argument für die Entstehungszeit des Kruzifixes um 1300 führte Witte unter anderem die Kreuzform (Gabelkreuz) sowie „die noch mit der romanischen Kunst zusammenhängende Stilisierung der Haare und das klar als perizonium behandelte breite Gurtband“ an.10 Das Urbild des in der Inschrift als wundertätig („veneranda“) bezeichneten Kruzifixes vermutete er in Italien, wo Franz von Assisi (verst. 1226) „in seiner engen persönlichen Beziehung zum Gekreuzigten, die in der Compassio seiner Stigmatisation gipfelt, […] einem neuen, dem realistischen Kruzifix den Weg gebahnt“ habe.11 Ausschlaggebend für den Kruzifixtypus speziell des Rheinlandes waren für ihn beispielsweise Texte des deutschen Mystikers Heinrich Seuse (verst. 1366), denen

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Vgl. Werner Schäfke: Kölns romanische Kirchen. Architektur, Ausstattung, Geschichte, Köln ³1985, S. 178 f., die Datierung S. 179. – Ob sich Rahtgens bei seiner Spätdatierung auf die ältere Forschung stützte, ist unklar. Vgl. etwa Fried Lübbecke: Die gotische Kölner Plastik (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 133), Straßburg 1910, S. 100–108, hier S. 105–107, die folgenden Zitate S. 105 und 107, der das Kruzifix von St. Maria im Kapitol zu den Werken des „gesteigerten Realismus“ der Zeit um 1375 bis 1425 zählte, die er folgendermaßen charakterisierte: „[…] Zwar entbehrt die Gruppe dieser Werke jedes tieferen, seelischen Gehaltes: kaum wird es Trost und Erbauung spenden, jedoch wird es auch in dem stumpfen Hirn die Erinnerung an die Erlösertat des unschuldig Gemarterten wecken müssen.“ – Vgl. dagegen Ewald 1903 (wie Anm. 6), Sp. 270, der in ihm „das von Gelen [Gelenius] seiner vielen Wunder wegen hochgefeierte Kruzifix […]“ sah. 9 Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 38. – Fritz Witte: Der große Kruzifixus in Maria im Kapitol zu Köln und sein Alter, in: Zeitschrift für christliche Kunst 24 (1911), Sp. 357–358 mit Taf. XII (Sp. 355–356). 10 Witte 1911 (wie Anm.  9), Sp.  358. Als Beispiel für das Vorkommen von Gabelkreuzen schon im 13.  Jahrhundert verwies er auf das Kanzelrelief von Nicola Pisano im Dom zu Siena, das er vor 1278 datierte. 11 Witte 1911 (wie Anm. 9), Sp. 357. – Vgl. hierzu auch Ernst Benz: Christliche Mystik und christliche Kunst. (Zur theologischen Interpretation mittelalterlicher Kunst), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 12 (1934), S. 22–48, hier S. 41–44.

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er Initialcharakter zuschrieb.12 Eine 1911 bereits in Teilen angeführte Textstelle aus Seuses Büchlein der ewigen Weisheit gab Witte deshalb 1920 etwas ausführlicher wieder, bevor er zum Kruzifix von St. Maria im Kapitol überleitete und auch seine neun Jahre zuvor geäußerte Ansicht zur Datierung des Werkes detaillierter ausführte und in einen größeren Zusammenhang stellte: „Da ich an dem hohen Ast des Kreuzes für dich und alle Menschen aus unergründlicher Liebe gehenkt ward, da ward meine ganze Gestalt gar jämmerlich verwandelt. Meine klaren Augen erloschen und verdrehten sich; … denn mein göttliches Haupt war von Schmerz und Unge­ mach geneigt. … Siehe, da verstarb meine schöne Gestalt so gänzlich, als ob ich ein Aussätziger wäre und die schöne Weisheit nie gewesen wäre. … Siehe, meine rechte Hand war durchnagelt, meine linke durchschlagen, mein rechter Arm zerspannt, und mein linker gar schmerzhaft zerdehnt, mein rechter Fuß durchgraben und mein lin­ ker greulich durchhauen. Ich hing in Ohnmacht und großer Müdigkeit meiner göttli­ chen Gebeine. Alle meine zarten Glieder wurden unbeweglich an den harten Galgen gepreßt. Mein heiliges Blut nahm in seinen Nöten manchen wilden Ausbruch, davon mein sterbender Leib verronnen und blutig war, was einen jämmerlichen Anblick gab. Sieh, ein klägliches Ding: mein junger, schöner, blühender Leib begann sich zu entfärben, zu verdorren und zu darben. Der müde zarte Rücken hatte an dem rauhen Kreuz eine harte Lehne, mein schwerer Leib sank nieder; mein ganzer Körper war über und über voll Wunden und Schmerzen – und das alles trug mein liebendes Herz liebevoll“.13 Bei der Frage nach dem Ursprungsland der Leidenskruzifixe dachte er 1920 „an den Süden oder an slavisch beeinflußte Länder […]“.14 Wittes 1911 geäußerte Vermutung nach einem italienischen Ur- oder Vorbild des Kölner Gabelkruzifixes teilte Eugen Lüthgen 1915 sowie zwei Jahre später.15 12 Witte 1911 (wie Anm. 9), Sp. 357 f. – Vgl. dagegen Ursula Weymann: Die Seusesche Mystik und ihre Wirkung auf die bildende Kunst, Berlin 1938, die zu dem Schluss kam, dass Seuses Bildvorstellungen unabhängig von Werken der Bildenden Kunst zu sehen seien. 13 Fritz Witte: Mystik und Kreuzesbild um 1300, in: Zeitschrift für christliche Kunst 33 (1920), S. 117–124, das Zitat S. 118. 14 Witte 1920 (wie Anm.  13), S.  124. – Zur östlichen Einwirkung vgl. auch unterstützend Erich Wiese: Ein Mystiker-Kruzifixus in Breslau, in: Der Cicerone. Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers 14 (1922), S. 32–35, hier S. 35. 15 G. Eugen Lüthgen: Die Wirkung der Mystik in der Kölner und der niederrheinischen Bildnerei gegen Ende des 14.  Jahrhunderts, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft 8 (1915), S.  223–237, hier S.  230. – Eugen Lüthgen: Die niederrheinische Plastik von der Gotik bis zur Renaissance. Ein entwicklungsgeschichtlicher Versuch (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 200), Straßburg 1917, zu dem Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol insb. S. 151–160, hier S. 157 f. – Vgl. dagegen G. Eugen Lüthgen: Neuerwerbungen des

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Auch bei der Identifizierung und Datierung des Kapitolskruzifixes folgte er Witte und verwies auf die Kantigkeit der stilisierten Körperformen des Gekreuzigten, deren Ausdrucksstärke auf einem hohen Maß an Abstraktion beruhe und in ihrer geringen Körperlichkeit der Mystik entspreche; der Herstellungsort des Kruzifixes könne Köln gewesen sein.16 Bei Wilhelm Pinders Datierung des Kapitolkruzifixes auf das Jahr 1301 im ersten Teil seines 1924 erschienenen Überblickwerks über Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance könnte es sich um einen Druckfehler handeln, da die einzige konkret bekannte Jahreszahl, die sich mit der Entstehung des Kruzifixes verbinden lässt, das sekundär überlieferte Einsegnungsjahr 1304 ist.17 Möglicherweise ging Pinder aber auch tatsächlich von einer früheren Entstehung des Kruzifixes aus. Die Inspirationsquelle für diesen Kruzifixtypus sah er in der mystischen Literatur und griff das im Zusammenhang mit Gabelkruzifixen auch in der nachfolgenden Forschung immer wieder herangezogene SeuseZitat von Witte auf.18 Wie aktuell der bereits 1911 von Witte angenommene Entstehungszusammenhang des rheinischen Kruzifixtypus mit der mystischen Literatur auch noch im Jahr 1928 war, zeigt der Aufsatz von Josef Sauer, in dem der Kruzifixus von St. Maria im Kapitol in Köln als ein Höhepunkt der „grausigen Realistik“ beispielhaft angeführt wird.19 Da ein konkreter Entstehungszusammenhang zwischen Kunstgewerbe-Museums der Stadt Köln, in: Der Cicerone. Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers 6 (1914), S. 521–533, hier S. 527 f., wo Lüthgen „das französisch-belgische Schönheitsgefühl mit dem überströmenden rheinischen Gefühlsgehalt vermischt“ sah. – Zur Herleitung des Gabelkruzifixes aus Frankreich und Belgien vgl. auch Walter Passarge: Das deutsche Vesperbild im Mittelalter (Deutsche Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 1), Köln 1924, S. 34 f. 16 Lüthgen 1915 (wie Anm.  15), hier insb.  S.  228–231 und 236. – Lüthgen 1917 (wie Anm. 15), hier insb. S. 151–158. 17 Wilhelm Pinder: Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, 1. Teil (Handbuch der Kunstwissenschaft), Wildpark-Potsdam 1924, S. 96. – Vgl. auch Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 38. – Von einem Druckfehler ausgegangen ist Godehard Hoffmann: Der Crucifixus dolorosus in St. Maria im Kapitol zu Köln. Neue Erkenntnisse nach seiner Restaurierung und ihre Bedeutung für die Kunst des frühen 14.  Jahrhunderts, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 15 (2000), S. 9–82, hier S. 11. – Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 27. 18 Pinder 1924 (wie Anm. 17), S. 95 f. 19 Josef Sauer: Mystik und Kunst unter besonderer Berücksichtigung des Oberrheins, in: Kunstwissenschaftliches Jahrbuch der Görresgesellschaft 1 (1928), S. 3–28, hier S. 25 f., das Zitat S. 26.

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beiden jedoch nicht nachgewiesen werden konnte (Seuses Büchlein der ewigen Weisheit entstand beispielsweise erst zwischen ca. 1327 und 1330 und Seuse selbst kam erst gegen 1320 nach Köln), kam Max Strucken in seiner Dissertation über Literarische und Künstlerische Quellen des Gabel-Kruzifixus aus demselben Jahr, 1928, zu dem Schluss, dass die mittelalterliche christliche Mystik nicht die alleinige Quelle dieses Kruzifixtypus sein könne.20 Dafür sprach sich auch Hanns Swarzenski sieben Jahre später aus und verwies auf die ikonografische Vorbildung des ältesten, von ihm – wohl nach Pinder – auf das Jahr 1301 datierten Gabelkruzifixes von St. Maria im Kapitol in der Malerei.21 Strucken veranschlagte hingegen eine Datierung des Werkes bis in die 1330er Jahre hinein.22 Die von Géza de Francovich im Rahmen seiner polyzentrisch aufgemachten Entwicklungsgeschichte der Leidenskruzifixe 1938 vertretene Datierung des Kölner Kapitolskruzifixes um 1300 bzw. von 1300 bis 1304 stütze sich auf dem bei Pinder angegebenen Entstehungsjahr 1301, wenngleich er – anders als Pinder – das Gabelkruzifix nicht als eine Innovation der deutschen oder rheinländischen Skulptur betrachtete, sondern von einem italienischen Einfluss auf das Werk etwa durch das Kanzelrelief von Giovanni Pisano in S. Andrea in Pistoia (1298/1301) ausging und Vorläufer des Kölner Kruzifixes in Italien und Westfalen ausmachte.23 Entscheidenden Anteil an der Durchsetzung der in der Forschung teilweise geringfügig voneinander abweichenden Datierung des Kapitolskruzifixes Anfang des 14.  Jahrhunderts hatte neben der sekundären inschriftlichen Überlieferung des Einsegnungsdatums auch der ihm im Gesamttypus verwandte Leidenskruzifixus, der sich nachweislich seit 1528 in der südfranzösischen Kathedrale St. Jean 20 Max Strucken: Literarische und Künstlerische Quellen des Gabel-Kruzifixus, Düsseldorf 1928, S. 11. 21 Hanns Swarzenski: Quellen zum deutschen Andachtsbild, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 4 (1935), S.  141–144, hier S.  141: „[…] alle diese ‚Erfindungen‘ erweisen sich als Glieder einer langen ikonographischen Entwicklung, die schon in zeitlich vorangehenden Denkmälern der Malerei ihre feste, für die betreffenden plastischen Werke bezeichnende For­ mulierung erhalten haben.“ Als Beleg verwies er auf das Missale des Abtes Berthold von Weingarten (amt. 1200–1235), das in einer O-Initiale ein Gabelkruzifix enthält (abgebildet Ebd., S. 144, Abb. 9). 22 Strucken 1928 (wie Anm. 20), S. 57 f. 23 Géza de Francovich: L’origine e la diffusione del crocifisso gotico doloroso, in: Kunstgeschichtliches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 2 (1938), S. 143–261, hier S. 145 f. und 157  f. Nach ihm soll das „Crux veneranda“ schon vor seinem sekundär durch Gelenius 1636 (wie Anm.  4), S.  38 überlieferten Einsegnungsjahr 1304 wundertätig gewesen sein. Das älteste Gabelkruzifix Westfalens, das Kruzifix der Lambertikirche zu Coesfeld, datierte de Francovich auf S. 165 f. mit Fig. 110 (S. 165) um 1290–1300.

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in Perpignan befindet und in dessen Reliquiendepositum im Rücken offenbar im Jahr 1864 ein Pergamentstreifen gefunden wurde, auf dem zu lesen war, dass die Überweisung der Reliquien am Tag des heiligen Mauritius und seiner Begleiter (22. September) 1307 stattgefunden habe.24 Aufgrund der großen Ähnlichkeit mit dem Kruzifix von St. Maria im Kapitol vermutete Frederik B. Deknatel für dieses Werk 1938 bereits eine rheinische Herkunft.25 Im Katalog der Ausstellung Meister­ werke aus den Kölner Museen von 1946 findet sich die (nicht weiter begründete) Datierung des Kapitolskruzifixes in das Jahr 1305.26 Als die Innovation in der rheinländischen Skulptur betrachtete Fried Mühlberg das im Jahr 1304 eingesegnete Gabelkruzifix von St.  Maria im Kapitol in Köln und sprach ihm 1960 „Weltgeltung“ zu, in einem weiteren Aufsatz feierte er das Kruzifix als „einzig datierte[s] Werk“.27 „Der überall anzutreffende Kölner Ty­ pus, eben der von St. Marien im Kapitol“, sei „durch lokalstilistische Abwandlungen vielfach verschleiert.“28 Die Innovation des Kapitolskruzifixes machte Mühlberg hauptsächlich an der Gabelform des Kreuzes, deren älteste bekannte Zeugnisse aus Köln stammten, fest.29 Rolf Wallrath folgend bezeichnete er das Gabelkru24 Vgl. Marcel Durliat: Le dévot crucifix de Perpignan, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch. Westdeutsches Jahrbuch für Kunstgeschichte 18 (1956), S. 132–142, insb. S. 136–138; der original lateinische Wortlaut, der dem Schriftcharakter nach aus dem 14. Jahrhundert stammen soll und heute nicht mehr lesbar ist, hier S. 137: „Anno Domini MCCC septimo, die sancti Mauricii et sociorum ejus, posite fuerunt hic reliquie iste.“ – Naturwissenschaftliche Untersuchungen des Pergamentstreifens und der Reliquien bestätigten die genannte Datierung. Zu einer 1995 durchgeführten Restaurierung vgl. zusammenfassend Isabelle Despéramont/ Olivier Poisson: Der Dévôt-Christ von Perpignan. Beobachtungen anlässlich der Restaurierung von 1995, in: Neue Forschungen zur gefassten Skulptur des Mittelalters. Die gotischen Crucifixi dolorosi (Kölner Beiträge zur Restaurierung und Konservierung von Kunstund Kulturgut, Bd. 14), hg. v. Ulrike Bergmann, München 2001, S. 74–83, der französische Originaltext S. 83–88. 25 Frederik B. Deknatel: Le dévôt crucifix de Perpignan, in: Gazette des beaux-arts. Courrier européen de l’art et de la curiosité 19 (1938), S. 111–116, hier S. 111 mit Fig. 1 und S. 116. – Vgl. dagegen Durliat 1956 (wie Anm. 24), S. 137 f., der das Kruzifix einem westfälischen Meister zuschrieb. 26 Herbert Hoffmann (Bearb.): Meisterwerke aus den Kölner Museen und der Württembergischen Staatsgalerie Stuttgart, Tübingen 1946, Kat. Nr. 169, S. 46. 27 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 69 f., das Zitat S. 69. – Fried Mühlberg: Zwei rheinische Kruzifixe der Gotik, in: Jahrbuch der rheinischen Denkmalpflege 23 (1960), S.  179–205, hier S. 190. 28 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 70. 29 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 83. Als erstes bekanntes Beispiel für ein Gabelkruzifix führte er hier das Dachrelief am Albinusschrein aus St. Pantaleon in Köln von 1186 an. Den von Géza de Francovich vertretenen Pisano-Einfluss lehnte er entschieden ab.

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zifix als ein „devotionales Kultbild der Mystik“.30 Der angestammte Aufstellungs-/ Anbringungsort solcher Kruzifixe dürfe in Kapitelkirchen unter dem Lettner am Kreuzaltar gewesen sein, wie es in St.  Maria im Kapitol „mindestens für das 17.  Jahrhundert nachweisbar“ sei und was möglicherweise sogar „den ursprüng­ lichen Zustand bis dahin bewahrt“ habe.31 Aus der Zugehörigkeit zum Kreuzaltar schloss Mühlberg, „daß das Gabelkruzifix in den Mittelpunkt des Volksgottesdiens­ tes am Pfarraltar gerückt ist, dem bis zum Beginn der Neuzeit gleichsam zweiten Hauptaltar in jedem Gotteshaus“.32 1962 formulierte Mühlberg dann: „Die crux miraculosa wurde gleichzeitig mit einem Lettner 1304 geweiht, der die Versetzung des Plektrudisgrabmals aus der Vierung hinter dem Lettner vor ihn in das Mittelschiff wünschenswert erscheinen ließ.“33 Stifter von allen dreien, also dem Gabelkruzifix, dem Lettner und dem Plektrudisgrabmal, sollte seiner (Wunsch-) Vorstellung nach der Patrizier Konstantin von Lyskirchen gewesen sein.34 Monika von Alemann-Schwartz folgte bei der Datierung und stilistischen Einordnung in ihrer 1976 vorgelegten Dissertation weitgehend Mühlberg und hielt das ihrer Meinung nach aus der Zeit vor 1304 stammende Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol in Köln für den „Prototyp der rheinisch-Kölnischen crucifixi dolorosi“.35 Michael  J.  Liebmann hob das Kapitolskruzifix 1982 als „[e]ines der frühesten und ausdrucksvollsten Beispiele, das später viele Male nachgeahmt wurde […]“, besonders hervor.36 Gut zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Mühlbergs These zur Aufstellung des Gabelkruzifixes am Kreuzaltar sprach Ulrich Krings 1984 von „der Ausgren­ zung des liturgischen Kernbereichs“ durch den Einbau einer (nicht erhalten geblie30 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 77. 31 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 72 f., die Zitate S. 73. Zum Vergleich verwies er hier auf das um 1250 datierte Kruzifix am Westlettner des Naumburger Doms, das – entsprechend der Charakteristika des neuen Kruzifixtypus – ohne Nimbus und Suppedaneum dargestellt sei, dafür aber noch über die beiden Assistenzen Maria und Johannes verfüge. Ein Altarbezug sei allerdings fraglich. – Mehr zu den Charakteristika des Leidenskruzifixes und zum Anbringungs-/Aufstellungsort siehe unten. 32 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 73. 33 Mühlberg 1962 (wie Anm. 6), S. 86 f., das Zitat S. 87. – Vgl. auch Ebd., S. 28 und 38. – Bergmann 1988 (wie Anm. 6), S. 81. 34 Mühlberg 1962 (wie Anm. 6), S. 87. – Vgl. auch Bergmann 1988 (wie Anm. 6), S. 84. 35 Monika von Alemann-Schwartz: Crucifixus Dolorosus. Beiträge zur Polychromie und Ikonographie der rheinischen Gabelkruzifixe, Diss. Bonn 1976 [masch.], speziell zum Kruzifix von St. Maria im Kapitol in Köln S. 61–66 und S. 354 f., das Zitat hier S. 354. 36 Michael J. Liebmann: Die deutsche Plastik 1350–1550, Leipzig 1982, S. 39.

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benen) Schranke hinter dem Kreuzaltar anlässlich der Einsegnung des Gabelkruzifixes im Jahr 1304.37 Dieses auf dem Kreuzaltar aufgestellte, wundertätige Kruzifix bildete für ihn seit dem 14. Jahrhundert „das eigentliche ‚Zentrum‘ der Kirche“ und sei schulbildend für die vielen „im 14. Jh. in Köln oder unter Kölner Einfluß“ entstandenen (Nachfolge-)  Werke gewesen.38 An dem Lettner des 16.  Jahrhunderts hätte es dann hinter dem Altarretabel des Kreuzaltars gehangen.39 Es ist das Verdienst von Angela Kulenkampff, die Innenraumveränderungen des 17. und 18. Jahrhunderts von St. Maria im Kapitol 1984 anhand der Quellen überprüft zu haben.40 Dabei kam sie hinsichtlich des Gabelkruzifixes auch auf den von Krings im selben Band bereits skizzierten Vorzustand seiner Anbringung zu sprechen und machte auf die Erwähnung eines Lettners in einem Schatzverzeichnis von St. Maria im Kapitol aus dem Jahr 1405 aufmerksam, den sie mit der sekundär überlieferten Einsegnung des Kruzifixes zu Anfang des 14. Jahrhunderts in Verbindung brachte.41 Anders als Krings ging sie jedoch davon aus, dass der Kruzifixus an diesem Lettner – wie an seinem Nachfolger – gehangen hatte und erst 1666 auf den Kreuzaltar gestellt wurde.42 Den Anbringungsort an dem Lettner von 1523/25 präzisierte Hans Peter Hilger in den Rheinischen Kunststätten 1985.43 Um seine Verbindung mit dem Kreuzaltar zu unterstreichen, verwies er noch auf den ihm zufolge Anfang des 14. Jahrhunderts entstandenen Kelch im Kirchenschatz von St. Maria im Kapitol, der auf seinem Fuß die Darstellung eines Gabelkruzifixes zwischen den beiden Assistenzen Maria und Johannes zeigt.44 Neben der direkten Kölner Parallele in Perpignan sei der Kapitolskruzifixus „der Prototyp für eine große Zahl von Nachfolgewerken bis in das frühe 15. Jh.“ gewesen.45 37 Krings 1984 (wie Anm.  6), S.  366. – Vgl. auch Friedrich Dahm: Die romanische Grablege der Plectrudis in der Kölner Kirche St. Maria im Kapitol, in: Aachener Kunstblätter 60 (1994) [Festschrift für Hermann Fillitz zum 70. Geburtstag], S. 211–222, hier S. 211 f., der davon ausging, dass im Jahr der Einsegnung des Kruzifixes die gesamte Anlage (Lettner, Kreuzaltar mit Kruzifix und Plektrudisgrabmal) fertig gewesen sein müsste. 38 Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 366. 39 Vgl. Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 368 f. 40 Kulenkampff 1984 (wie Anm. 6). 41 Kulenkampff 1984 (wie Anm.  6), S.  382, Nr.  1.1.3. – Vgl. auch Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 38. – Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 368 f. Genaueres siehe unten. 42 Kulenkampff 1984 (wie Anm. 6), S. 382 f. 43 Hilger 1985 (wie Anm.  6), S.  18  f.: „In der Mittelachse zwischen den Reliefs der Geburt Christi und der Anbetung der Könige war der 1304 geweihte Gabelkruzifixus angebracht.“ 44 Hilger 1985 (wie Anm. 6), S. 27 mit Abb. 22 (S. 21). Auf den Kelch wird weiter unten zurückzukommen sein. 45 Hilger 1985 (wie Anm. 6), S. 27.

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Von der veränderten Aufstellung des Gabelkruzifixes berichtete auch Sabine Czymmek 1988.46 In einem 1989 veröffentlichten Beitrag beschäftigte sich Angela Kulenkampff unter anderem mit der von Gelenius im 17. Jahrhundert überlieferten Beschreibung des wundertätigen Kruzifixes.47 Die meisten der folgenden Nachrichten waren dann von der im Jahr 1991 in den Werkstätten des Rheinischen Amts für Denkmalpflege in der Abtei Brauweiler bei Köln begonnenen Restaurierung des Gabelkruzifixes geprägt, die – wie Wolfgang Stracke 1996 in dem Doppelband der Colonia Romanica zur mittelalterlichen Ausstattung der Kölner Kirchen schrieb – unter anderem ergeben habe, dass das Kreuz und der Gekreuzigte von St. Maria im Kapitol aufgrund von ungenutzten, zusätzlichen Bohrlöchern, die neben der möglicherweise veränderten Armhaltung des Gekreuzigten auf einen größeren (Vorgänger-) Korpus schließen lassen, ursprünglich nicht zusammengehört hätten.48 Als Alternative zu der in der älteren Forschung vertretenen Spätdatierung des Kruzifixes, die er in diesem Zusammenhang ansprach, wies er auf eine mögliche Zweitverwendung der Balken des Kreuzes hin.49 Godehard Hoffmanns Fundbericht aus dem Jahr 2000 ergänzte Strackes Angaben noch um die Entdeckung von insgesamt zwei mittelalterlichen Fassungen (die stark verschmutzte und vergraute neuzeitliche Drittfassung wurde abge­ nommen) und einer nur geringen Übereinstimmung der im Kruzifixus nachweislich enthaltenen Reliquien mit den bei Gelenius verzeichneten.50 Letzteres veranlasste 46 Sabine Czymmek: Schattenrisse – Zur barocken Ausstattung von St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 3 (1988), S. 99– 111, hier S. 100. 47 Angela Kulenkampff: Die Marienbruderschaft von St. Maria im Kapitol und ihre Bedeutung für das kirchliche Leben in vortridentinischer Zeit (ca. 1350–1634), in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 60 (1989), S. 1–29, zu dem Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol S. 5, 9, 11, Anm. 34 und S. 15–17, hier S. 15–17. – Vgl. auch Gelenius 1645 (wie Anm. 4), S. 329 f., Nr. VI. 48 Stracke 1996 (wie Anm.  2), S.  87. – Vor der Restaurierung waren im Jahr 1985 bereits Schäden durch Holzwurmbefall und abblätternde Fassungsschichten vor Ort provisorisch gesichert worden. Vgl. Christa Schulze-Senger: Vorbemerkung zum Kruzifix aus St. Maria im Kapitol zu Köln, in: Bergmann 2001 (wie Anm. 24), S. 30–31, hier S. 30. 49 Stracke 1996 (wie Anm. 2), S. 87 f. – Ob der Gekreuzigte von St. Maria im Kapitol ursprünglich an einem Gabelkreuz gehangen hat, ist vor allem deshalb interessant, da sich diese vorrangig im Rheinland nachweisen lassen und in der Forschung eine Gruppierung nach Kreuzformen vorgenommen wurde. Vgl. Strucken 1928 (wie Anm. 20). 50 Godehard Hoffmann: Der Crucifixus dolorosus aus St. Maria im Kapitol zu Köln. Neue Erkenntnisse anläßlich seiner Restaurierung, in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunst-

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ihn, an der Datierung des Werkes bzw. der Zuverlässigkeit der Quelle zu zweifeln.51 In seinem ebenfalls im Jahr 2000 erschienenen Beitrag Der Crucifixus dolorosus in St. Maria im Kapitol zu Köln. Neue Erkenntnisse nach seiner Restaurierung und ihre Bedeutung für die Kunst des frühen 14. Jahrhunderts ging er von einer Entstehung vor 1312, dem angenommenen Sterbejahr des in der Inschrift erwähnten Weihbischofs Heinrich, aus.52 Diese Datierung wiederholte er in seiner Monografie 2006, wobei er hier noch hinzufügte, dass eine Entstehung des Werkes vor 1304 und damit wohl im ausgehenden 13. Jahrhundert nicht auszuschließen sei.53 In einem Aufsatz 2017 schrieb er schließlich: „Die lange Zeit angenommene Datierung des Kapitolskruzifixes in das Jahr 1304 kann nicht mehr als gesichert gelten, dennoch ist seine Entstehung vor 1312 sehr wahrscheinlich.“54 Aufgrund der fehlenden stilistischen Voraussetzungen für die Darstellung des Gekreuzigten in Köln könnte das Werk nach dem letzten Stand von Hoffmann durch einen Wanderkünstler (aus Italien?) geschaffen worden sein, wobei die im Rheinland bevorzugt genutzte Holzsorte Nussbaum auf Köln als Herstellungsort hindeute.55 Seine ursprüngliche Anbringung und Bestimmung blieben unklar.56 wissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 53 (2000), S. 241–246, hier S. 242–244. – Vgl. auch Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 39 f. 51 Hoffmann 2000 (wie Anm.  50), S.  244  f. – Vgl. dagegen Klaus Gereon Beuckers: Die spätstaufische Langhauswölbung von St. Maria im Kapitol in Köln, in: Zugänge zu Archäologie, Bauforschung und Kunstgeschichte – nicht nur in Westfalen. Festschrift für Uwe Lobbedey zum 80.  Geburtstag, hg.  v.  Mareike Liedmann/Verena Smit, Regensburg 2017, S. 207–220, hier S. 216 f., Anm. 47. – Zu den genannten Funden vgl. auch Godehard Hoffmann: Der Crucifixus dolorosus in St. Maria im Kapitol zu Köln – Neue Funde, in: Bergmann 2001 (wie Anm. 24), S. 47–56. 52 Hoffmann 2000 (wie Anm. 17), S. 23. – Vgl. auch Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 38. – Selbst wenn die angedachte Datierungsverschiebung nur gering erscheinen mag, so hätte sie durchaus Auswirkung auf die Stellung des Kapitolskruzifixes als mögliches Urbild. 53 Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 38: „[…] Es ist nicht auszuschließen, daß das Kapitolskru­ zifix schon vor 1304 entstand, und damit könnte es auch ein Werk des ausgehenden 13. Jahr­ hunderts sein!“ 54 Godehard Hoffmann: Das Leidenskruzifix im Westchor von St. Georg, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 32 (2017), S. 69–78, hier S. 69. 55 Hoffmann 2017 (wie Anm. 54), S. 69. – Vgl. auch Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 41–45, hier insb. S. 45. – Sechs Jahre zuvor zog er auch einen Import in Betracht. Vgl. Hoffmann 2000 (wie Anm. 17), S. 75. 56 Vgl. Hoffmann 2000 (wie Anm. 17), S. 23–33. – Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 39–41, das folgende Zitat S. 40. Gegen eine „verborgene“ Unterbringung etwa in der Benediktkapelle spreche die große Nachfolge, die der Kruzifixus in Köln und im Rheinland erfahren habe. – Zu den Leidenskruzifixen vgl. auch Robert Didier: Crucifixus Dolorosus. À propos

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Als wichtigstes Ergebnis in Reaktion auf das anlässlich der Restaurierung des Kapitolskruzifixes im November 1999 von der Kölner Fachhochschule veranstaltete Kolloquium zu den Crucifixi dolorosi fragte Robert Suckale 2004 „ob nicht dies Werk […] ursprünglich für einen Beginenkonvent geschaffen und erst später [nach Schließung des von einem Beginenkonvent geleiteten Jodokusstifts im 16. Jahrhundert?] in die Stiftskirche übernommen wurde.“57 Seine stilkritische Analyse bestätigte die Entstehung im Jahr 1304 (oder früher), wobei Suckale in dem Kruzifix von Perpignan keine direkte Parallele zum Kölner Stück sah; vergleichbarer schien ihm der spätestens 1311 genannte, wundertätige Kruzifixus im Dom zu Palermo.58 Den Herkunftsort des Künstlers vermutete er am Oberrhein, ging aber angesichts des verwendeten Nussbaumholzes von einer Herstellung in Köln aus.59

Der Gabelkruzifixus und seine kunsthistorische Stellung

„Das Bildwerk des toten, wundenübersäten Gekreuzigten am Astkreuz in der ehema­ ligen Damenstiftskirche St. Maria im Kapitol in Köln“, so Robert Suckale, „gehört zu der Art von Werken, die noch heute die Betrachtenden so ergreifen, ja erschau­ ern machen, dass es angemessener erscheint, davor zu verstummen als darüber zu reden.“60 Dabei wird das heutige Erscheinungsbild (Abb. 4) laut der im Jahr 2001 abgeschlossenen Restaurierung stark durch die – vor allem aufgrund des Grüntons im Inkarnat und der Flächigkeit der Blutläufe – nach 1400 datierte Zweitfassung geprägt, bei der die Anzahl der Wundmale offenbar vermehrt und die Blutläufe durch Applikationen wie etwa textile Schnüre plastisch aufgetragen wurden, wäh-

d’une sculpture mosane. Création et production, in: Le plaisir de l’art du Moyen Âge. Commande, production et réception de l’oeuvre d’art, Paris 2012, S. 592–600. 57 Robert Suckale: Der Kruzifix in St.  Maria im Kapitol – Versuch einer Annäherung, in: Femmes, art et religion au Moyen Âge, hg. v. Jean-Claude Schmitt, Straßburg 2004, S. 87– 101, hier S. 96. Einleitend hierzu verwies er darauf, dass Kölner Frauenstifte eigene Beginenhäuser gegründet hätten. 58 Suckale 2004 (wie Anm. 57), S. 98. – Zu dem Palermitaner Leidenskruzifix vgl. zusammenfassend Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 121 f. mit Abb. 116 und 117 (S. 118 und 119). 59 Suckale 2004 (wie Anm.  57), S.  96–98. – Zu Suckales stilkritischer Analyse vgl. Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 3: Gotik, hg. v. Bruno Klein, München 2006, Kat. Nr. 106, S. 362 f. (Gerhard Lutz). 60 Suckale 2004 (wie Anm. 57), S. 87.

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rend die mittelalterliche Erstfassung weniger dramatisch gestaltet war.61 Diese Steigerung des Ausdrucks und Betonung des Körperhaften durch das Überzeichnen von Wundmalen, das sich überregional auch bei Vesperbildern findet, wirkt nicht oder nur eingeschränkt auf Fernsicht, wohl aber bei näherer Betrachtung wie überhaupt das Bildwerk auf die Entfernung hin sogar ein gewisses Maß an Ruhe ausstrahlt.62 Das liegt unter anderem an dem Hängemotiv, bei dem der Gekreuzigte angesichts der Anwinkelung in den Armen nicht wirklich hängt, sondern Körperspannung zeigt und die Hände auf die Entfernung hin wie erhoben erscheinen. Von der Körperhaltung her ist er also noch nicht gestorben, was durch die nicht geschlossenen Augen und den stierenden Blick eindeutig bestätigt wird. Das unterscheidet ihn beispielsweise vom Gero-Kruzifix (um 975) im Kölner Dom, bei dem der Gekreuzigte angesichts des heruntergesackten Körpers und des weit vorgewölbten Bauchs im Todesmoment darstellt ist.63 Die markante Falte des Lendenschurzes am rechten Oberschenkel des Kapitolskruzifixes sowie die Schurzknotung könnten aber auf das Gero-Kruzifix anspielen bzw. dieses möglicherweise sogar zitieren. In der Figurenanlage des Gekreuzigten von St.  Maria im Kapitol wurde eine Ausdruckssteigerung durch eine Erweiterung des Holzblocks mittels Anleimungen erzielt. So ist das Haupt in mehreren Teilen angestückt, wobei das Gesicht oberhalb 61 Zu den Fassungen vgl. Hoffmann 2000 (wie Anm. 50), S. 242 f. mit Abb. 2 (S. 243; Rest der Erstfassung). – Hoffmann 2000 (wie Anm.  17), S.  14–16. – Hoffmann 2001 (wie Anm. 51), S. 47. – Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 30–35 mit Abb. 11 (S. 29; Rest der Erstfassung). – Hoffmann 2017 (wie Anm. 54), S. 73. – Zur Datierung der Zweitfassung vgl. Hans-Wilhelm Schwanz: Zur Technologie des Crucifixus dolorosus in St.  Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 15 (2000), S. 83–88, hier S. 88 mit Abb. 8. – Hans-Wilhelm Schwanz: Zur Technologie des Crucifixus dolorosus in St. Maria im Kapitol, in: Bergmann 2001 (wie Anm. 24), S. 32–46, hier S.  45 mit Abb.  19. – Schwanz 2006 (wie Anm.  7), S.  163. – Vgl. dazu auch Hoffmann 2000 (wie Anm. 50), S. 243. – Hoffmann 2000 (wie Anm. 17), S. 16. – Hoffmann 2001 (wie Anm.  51), S.  53. – Hoffmann 2006 (wie Anm.  7), S.  35. – Hoffmann 2017 (wie Anm. 54), S. 73. – Schwanz hatte 1993 angefangen, die auf den historischen Aufnahmen dokumentierte Drittfassung abzunehmen. Vgl. Schwanz 2000 (wie oben), S. 85–88. – Schulze-Senger 2001 (wie Anm. 48), S. 31. – Schwanz 2006 (wie Anm. 7), S. 159–163. 62 Von einer „einheitlicheren und ruhigeren Gesamtwirkung“ der Erstfassung bei einer Betrachtung aus größerer Distanz berichtete Hoffmann 2001 (wie Anm. 51), S. 47. – Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass das Gesicht sowie die Hände und Füße sehr detailliert ausgearbeitet sind, sich an Lendenschurz, Armen, Beinen und Thorax aber noch leichte Bearbeitungsspuren erkennen lassen. 63 Vgl. grundlegend Reiner Haussherr: Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des Gerokreuzes, Diss. Bonn 1963 [masch.].

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|  Vivien Bienert Abb. 4: Köln, St. Maria im Kapitol, Gabelkruzifixus (2001).

der Oberlippe wie eine Maske aufgeleimt wurde und durch die auf Untersicht angelegte, tiefe Senkung des Hauptes auf die rechte Brusthälfte nur unmittelbar vor der Figur von der Seite wahrnehmbar ist (Abb. 5); auch das rechte Knie, der rechte Lendenschurzzipfel und die Ferse des linken Fußes sind angesetzt.64 Innovativ ist deshalb auch weniger die Frontal- als vielmehr die Seitenansicht der Figur, bei der das Vorkragen der benannten Körperteile und des teilweise verlorenen Stoffzipfels 64 Vgl. Schwanz 2000 (wie Anm. 61), S. 83 f. mit Abb. 1 und 2 (S. 83 und 84). – Schwanz 2001 (wie Anm. 61), S. 33–35, insb. Abb. 1 und 2 (S. 34 und 35). – Schwanz 2006 (wie Anm. 7), S. 151–153, insb. Abb. 139 und 140 (S. 152 und 153). Letztere Anstückung ist nicht nur verleimt, sondern auch genagelt.

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Abb. 5: Köln, St. Maria im Kapitol, Gabelkruzifixus (2001).

deutlich zum Ausdruck kommt. Dieser dreidimensionale Ansatz lässt sich – anders als in der Forschung mitunter angenommen – nicht aus der Malerei herleiten, die tendenziell frontal ausgerichtet ist.65 In der französisch geprägten Tafelmalerei des 13. Jahrhunderts etwa findet die Brechung im Unterkörper des Gekreuzigten durch eine extrem starke Anwinkelung der Beine statt, während die Oberkörperanlage weitgehend gerade gestaltet und nur in der Seite (Seitenwunde) gebrochen bzw. inszeniert ist.

65 Zur Herleitung aus der Malerei vgl. etwa Swarzenski 1935 (wie Anm. 21), S. 141.

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Beim Kapitolskruzifix betrifft die Brechung auch den Oberkörper, dessen Überlängung an die Chorpfeilerfiguren im Kölner Dom (1290–1300) erinnert:66 Die expressive Ausmergelung des Körpers mit dem stark eingezogenen Bauch steht in Kontrast zu dem stark ausladenden Brustkorb des Gekreuzigten mit den tief eingeschnittenen Rippen und der deutlich erkennbaren Eintiefung des Brustbeins (beim Gero-Kruzifix korrespondiert das Haupt mit dem vorgewölbten Bauch). Die fast schon fratzenhafte Mimik des schmerzverzerrten Antlitzes (Abb. 6) mit den übermäßig hochgezogenen, schräg gestellten Augenbrauen sowie der linearen Stilisierung der Augenzeichnung, der geöffnete Mund und die weit auseinander stehenden Augen unterstreichen das Leidensmoment. Es wurde Naturalismus und Ansichtigkeit geschaffen, die nicht mit Körperlichkeit zu messen ist und zu Beginn des 14. Jahrhunderts neu und bis zu einem gewissen Maß auch singulär erscheint. Zum Vergleich sei hier auf das Bronzegrabmal des 1302 verstorbenen Augsburger Bischofs Wolfhard von Roth (amt.  1288–1302) im Augsburger Dom verwiesen, dessen Rhetorik Gemeinsamkeiten aufweist, ohne jedoch von einer gemeinsamen Werkstatt oder Hand ausgehen zu wollen.67 In Bezug auf die Wolfhards-Grabplatte von Naturalismus zu sprechen, ist allerdings nicht ganz unproblematisch, da es sich in diesem Fall um eine sehr stilisierte Rhetorik bzw. Ausdrucksform handelt (es wird quasi ‚Körper gezeigt‘), die teilweise auch dem Material geschuldet ist. Das Beispiel macht aber deutlich, dass es Anfang des 14. Jahrhunderts durchaus Bildwerke mit einer dem Kapitolskruzifix vergleichbaren Ästhetik gab. Insgesamt ist die historisch tradierte Datierung des Kapitolskruzifixes in das Jahr 1304 somit kunsthistorisch plausibel und nachvollziehbar.68 Die Voraussetzungen für solche Formulierungen ungewöhnlicher Expressivität waren gegeben. Die Radikalisierung in der Darstellung des Gekreuzigten beschränkte sich dabei keineswegs nur auf Frauenkonvente, wie etwa die um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Kreuzigungsgruppe am Westlettner des Naumburger Doms (Abb. 7) bezeugt, auf die unter anderem Fried Mühlberg 1960 hinsichtlich der Charakteristika oder Merkmale des neuen Kruzifixtypus, dessen Prototyp der Kapitolskruzifixus darstelle, bereits hingewiesen hat.69 Der Kruzifixus von St. Maria 66 Zur Datierung vgl. Robert Suckale: Die Kölner Domchorstatuen. Kölner und Pariser Skulptur in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, in: Kölner Domblatt. Jahrbuch des ZentralDombau-Vereins 44/45 (1979/80), S. 223–254. 67 Zum Grabmal vgl. Hans Körner: Grabmonumente des Mittelalters, Darmstadt 1997, insb. S. 157 f. mit Abb. 117 (S. 157; Gesamtansicht S. 114, Abb. 88). 68 Vgl. Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 38. 69 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 72 f.

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Abb. 6: Köln, St. Maria im Kapitol, Detail des Gabelkru­ zifixus (2001).

im Kapitol in Köln sei dabei nicht nur das früheste bekannte Werk, sondern weise darüber hinaus bereits auch alle Merkmale dieses Typus auf, die Mühlberg wie folgt aufzählte: „[…] der Schmerzensreiche am Gabelholz mit seiner aus einem Seil gedrehten Dornenkrone, das grüne Kreuz, dessen Stamm und Schräghölzer Astknoten oder Astansätze aufweisen; das Fehlen von Nimbus und Suppedaneum. Eigentümlich für den Gekreuzigten von St. Maria im Kapitol sind die wulstigen Nagelwunden an Händen und Füßen. Sie haben häufig Nachahmung gefunden.“70 Die zusätzlichen Bohrlöcher an den Kreuzarmen (Abb. 8) könnten ihrer Form nach teilweise zur Anbringung der zwei auf einem Kupferstich aus der Zeit um 1680 dokumentierten, schwebenden Engel gedient haben, worauf bezüglich der Anbringung noch 70 Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 69 f. – Vgl. auch Mühlberg 1960 (wie Anm. 27), S. 190.

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Abb. 7: Naumburg, Dom, Kreuzigungsgruppe am Westlettner.

zurückzukommen sein wird. Die annährend mittig gesetzten, eckigen Löcher schräg oberhalb der runden Bohrungen, die durch die Kreuzarme hindurch zu gehen scheinen, ließen sich vielleicht sogar mit einer Halterung in Verbindung bringen. Dass der Kapitolskruzifixus jedenfalls schon zu Anfang an einem Gabelkreuz gehangen hat, geht aus einer Darstellung auf dem Fuß des Kelchs aus dem

„Crux sub odaeo miraculosa“. Leidenskruzifixe in Frauenkonventen  | Abb. 8: Köln, St. Maria im ­Kapitol, linke Hand des ­Gabelkruzifixus mit zu­ sätzlichen Bohrlöchern am Kreuzarm (1992).

Abb. 9: Köln, St. Maria im ­Kapitol, Gabelkruzifixus auf dem Kelchfuß.

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Kirchenschatz von St. Maria im Kapitol (Abb. 9) hervor.71 Die Wahl dieses Typus in St. Maria im Kapitol könnte mit einer lokalen Bildtradition zusammenhängen, da sich an der Apsis des südlichen Seitenschiffs der Krypta eine Wandmalerei mit Gabelkruzifix aus dem 12. Jahrhundert befand, auf die bereits Rahtgens hingewiesen hat.72 Der Kruzifixus lässt sich nicht aus der klassischen Bildtradition der Kölner Kruzifixdarstellungen herleiten, sondern stellte eine Setzung dar, die für unglaubliches Aufsehen gesorgt haben muss und innerhalb kürzester Zeit eine weite Verbreitung im Kölner Umland fand.73 Durch seine Einzigartigkeit in der „Ausdruckskraft und der Radikalität seiner künstlerischen Form“ scheint er nach Ulrike Bergmann jedenfalls „Lichtjahre von den als unmittelbar verwandt gesehenen Nachfolgewerken, etwa den Kreuzen in Andernach, Kendenich oder Bocholt, entfernt […].“74 Eine formal eigenständige, nahezu zeitgleiche Schöpfung stellt ebenso der im Ausdruck verwandte, in das Jahr 1307 datierte Kruzifixus von Perpignan dar, der keinesfalls von demselben Künstler stammt, im Gesamttypus ihm aber vergleichbar ist und vielleicht eine ähnliche Herkunft aufweist.75

71 Vgl. Hilger 1985 (wie Anm. 6), S. 27 mit Abb. 22 (S. 21; Gesamtansicht). – Zu dem Kelch vgl. auch Rahtgens 1911 (wie Anm.  2), S.  269 mit Fig.  192 (Gesamtansicht). – Johann Michael Fritz: Goldschmiedekunst der Gotik in Mitteleuropa, München 1982, Kat. Nr. 78, S. 195 f. mit Abb. 78 (Gesamtansicht). – Sabine Czymmek: St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 23 (2008) [Die Kölner Romanischen Kirchen – Schatzkunst, Bd. 2], S. 9–59, hier S. 24 f. mit Abb. (S. 24). 72 Rahtgens 1911 (wie Anm.  2), S.  252–254 mit Fig.  181. – Vgl. auch Paul Clemen: Die romanische Monumentalmalerei in den Rheinlanden (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 32), Düsseldorf 1916, S. 241 f. mit Fig. 181. – Anne Behrend-Krebs: Die ottonischen und romanischen Wandmalereien in St. Gereon, St. Maria im Kapitol und St. Pantaleon in Köln, Münster 1994, S. 254 f. mit Abb. 158–160. 73 Zur Nachfolge des Kapitolskruzifixes im Rheinland vgl. zusammenfassend Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 75 f. 74 Ulrike Bergmann: Die gotischen Crucifixi dolorosi. Forschungsstand und Fragen, in: Bergmann 2001 (wie Anm. 24), S. 9–29, hier S. 14. – Zu den von ihr genannten Nachfolgewerken vgl. zusammenfassend Hoffmann 2000 (wie Anm. 17), S. 39–42 mit Abb. 9–11. – Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 50–64 mit Abb. 34–52. 75 Zu dem Kruzifix in Perpignan vgl. insb. Deknatel 1938 (wie Anm. 25) mit Fig. – Durliat 1956 (wie Anm. 24) mit Abb. 104–108. – von Alemann-Schwartz 1976 (wie Anm. 35), S. 384 f. – Despéramont/Poisson 2001 (wie Anm. 24) mit Abb. 1–10. – Hoffmann 2000 (wie Anm. 17), S. 45–47 mit Abb. 15 (S. 46). – Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 127–130 mit Abb. 125–129. Statt Nussbaum- wurde hier für die Skulptur allerdings Lindenholz verwendet.

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Zum Anbringungs-/Aufstellungsort

Der Gabelkruzifixus ist heute an der Ostwand der nördlichen Eckkapelle des Dreikonchenchores von St. Maria im Kapitol über dem Stephanusaltar angebracht. In der wohl Ostern des Jahres 1950 in Nutzung genommenen Notkirche im damals abgetrennten, nördlichen Seitenschiff hing der Kruzifixus über dem Altar an der provisorischen Trennwand zum östlichen Trikonchos.76 Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bildete er – wie historische Aufnahmen belegen – das zentrale Ausstattungsstück des vor dem nordöstlichen Vierungspfeiler aufgestellten und von Nikolaus Elscheidt (1835–1874) vor 1874 geschaffenen Kreuzaltars (Abb.  10):77 Den historistischen Altarunterbau (mittlerer Steinblock und zwei kleine neuromanische Säulchen, Mensa und Mensastützblock sowie Leuchterbank) zierte ein predellenartiger Aufsatz mit sieben Darstellungen der Legende des Kreuzes Christi aus vergoldeter Bronze vor blauemailliertem Grund. Über der mittleren Kreuzigungsdarstellung, die durch ihr größeres Format und den Rundbogenabschluss ausgezeichnet war, erhob sich der Gabelkruzifixus als Retabel. Nach außen hin optisch wie räumlich abgeschlossen wurde der Kreuzaltar durch eine Vorhangkonstruktion an vier gusseisernen Vertikalstäben, deren Enden in spiralförmig eingerollte Blattranken ausliefen, welche die horizontalen Vorhangstangen hielten. Als Grundlage für diese Altargestaltung dürfte Elscheidt ein von August Essenwein (1831–1892) oder Matthias Goebbels (1836–1911) überlieferter Altarentwurf gedient haben.78

76 Zur Notkirche vgl. zusammenfassend Ulrich Krings/Otmar Schwab: Köln: Die Romanischen Kirchen. Zerstörung und Wiederherstellung (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd.  2), Köln 2007, S.  379  f. mit Abb.  33 (Ulrich Krings). – Nach Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Hg.): Köln: Die Romanischen Kirchen im Bild. Architektur – Skulptur – Malerei – Graphik – Photographie (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 3), Köln 1984, zu St. Maria im Kapitol S. XXXV–XXXVIII mit Abb. 454–536 (S. 222–259), hier Abb. 536 (S. 259) wurde die Aufnahme im Juli 1950 aufgenommen. 77 Zum Elscheidtschen Kreuzaltar vgl. Klaus Wolf: St.  Maria im Kapitol und das 19.  Jahrhundert. Kontinuität und Wandel einer romanischen Kirche in Köln, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere das alte Erzbistum Köln 202 (1999), S. 193–228, hier S. 217. – Fraquelli 2010 (wie Anm. 6), S. 302 f. – Vgl. etwa auch die kurze Erwähnung bei Rahtgens 1911 (wie Anm. 2), S. 228. 78 Zu dem Entwurf vgl. Fraquelli 2010 (wie Anm. 6), S. 302, Abb. 36.

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Abb. 10: Köln, St. Maria im Kapitol, Choransicht mit dem Elscheidtschen Kreuzaltar vor dem nordöstli­ chen Vierungspfeiler (1907).

Die wohl älteste bekannte Fotografie des Kircheninnenraums (Abb. 11), die nach Beginn einer Erneuerung des Inneren zwischen 1866 und 1868 entstanden sein dürfte, gibt den Vorzustand wieder:79 Der Gabelkruzifixus stand demnach zen­ tral vor der rundbogigen Nische eines Ädikula-Retabels über dem mit Eckvoluten und zweistufigem Podest versehenen, sarkophagartig geschweiften Unterbau des – ebenso wie der Elscheidtsche Nachfolger – am nordöstlichen Vierungspfeiler positionierten Kreuzaltars. Flankiert wurde der Kruzifixus von zwei vor den seitlichen Pilastern mittig angebrachten, adorierenden Engeln; auf dem Gesims befanden sich zwei Putti. Den Auszug des Altars bildete eine große Strahlenglorie. Seine Neuerrichtung dürfte 1777 erfolgt sein. Ob der neue Kreuzaltar diese Position am nord79 Zur Bedeutung der Fotografie und ihrer Datierung vgl. Hilger 1985 (wie Anm. 6), S. 20, Abb.  20 (Abbildungsunterschrift). – Silke Eberhardt: Der ehemalige barocke Hochaltar von St. Maria im Kapitol, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 15 (2000), S. 126–136, hier S. 127 mit Anm. 1 und Abb. 1 (S. 126) mit Abbildungsunterschrift.

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Abb. 11: Köln, St. Maria im Kapitol, Choransicht mit dem Kreuzaltar vor dem nordöstlichen Vierungs­ pfeiler (1866/68).

östlichen Vierungspfeiler allerdings sofort oder erst nach der Versetzung der vorher an den östlichen Vierungspfeilern aufgestellten Plektrudis- und Ida-Tumben an das nord- und südwestliche Ende der Kirche zwischen 1818 und 1838 eingenommen hat, ist in der Forschung umstritten.80 In zwei Kapitelsprotokollen vom 18. Septem80 Zu dem Kreuzaltar aus dem 18. Jahrhundert vgl. insb. Kulenkampff 1984 (wie Anm. 6), S. 386. – Czymmek 1988 (wie Anm. 46), S. 104 und 106 f. – Eberhardt 2000 (wie Anm. 79), S. 134. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 6), S. 142 f. – Fraquelli 2010 (wie Anm. 6), S. 302. – Zur Annahme der temporären Tumbenaufstellung am nord- und südöstlichen Vierungspfeiler vgl. Mühlberg 1962 (wie Anm. 6), S. 94. – Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 370. – Zu den Tumben allgemein vgl. zudem Czymmek 1988 (wie Anm. 46), S. 103 f. und 106 f.

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ber 1765 und vom 22. September 1777 wurde seine (geplante) Position mit „auf die Seithe vorm gegitter des hohen Altares“ bzw. mit „oben an dem Chor-gegitter“ festgehalten.81 Das könnte nach Ulrich Krings und Angela Kulenkampff das Gitter vor dem Hochaltar zwischen den östlichen Pfeilern des Zwischenjochs gemeint haben, so dass der Altar in diesem Fall zunächst am Pfeilerpaar hinter dem nordöstlichen Vierungspfeiler aufgestellt gewesen wäre.82 Eine hierfür erforderliche Versetzung des auf beiden Seiten offenbar zweireihigen Chorgestühls der Kanoniker scheint aber nicht erfolgt zu sein.83 Sabine Czymmek verwies zudem darauf, dass es nach einer zeitgenössischen Quelle außer dem Gitter vor dem Hochaltar auch ein Gitter oder Geländer zur Trennung des Kanonikerchors von der Vierung gegeben habe und die beiden Tumben somit ursprünglich an den westlichen Vierungspfeilern aufgestellt gewesen sein könnten.84 Die beiden Engel zu Seiten des Gabelkruzifixus dürften von dem barocken oder barockisierten Kreuzaltar übernommen sein, für die wahrscheinlich zusätzliche Bohrlöcher am Kreuz angebracht werden mussten (s.o.). Dieser wurde nach der am 28. Juli 1765 beschlossenen und am 1. August 1765 vertraglich fixierten Versetzung des (Renaissance-) Lettners in das westliche Mittelschiff 1765/66 abgebrochen und durch den oben angesprochenen Kreuzaltar von 1777 ersetzt.85 Seine Gestalt ist aus einem um 1680 datierten Stich des Kupferstechers G. C. Stich (Abb. 12), der in der Grafischen Sammlung des Kölnischen Stadtmuseums (Inv. Nr. HM 1923/46) aufbewahrt wird, bekannt.86 Der Gabelkruzifixus bildete demnach bereits damals den Mittelpunkt der Ausstattung des Kreuzaltars. Er stand aufgesockelt auf einem 81 Archiv des Erzbistums Köln, St. Maria im Kapitol, A II, 7e, Kap. Prot. v. 18.9.1765. – Historisches Archiv der Stadt Köln, St. Maria im Kapitol, Akten 8a, Kap. Prot. v. 22.9.1777. Beide zit. n. Czymmek 1988 (wie Anm. 46), S. 106. 82 Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 370. – Kulenkampff 1984 (wie Anm. 6), S. 386. – Vgl. auch Fraquelli 2010 (wie Anm. 6), S. 302. – Vgl. dagegen Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 6), S. 142 f. 83 Vgl. Czymmek 1988 (wie Anm. 46), S. 106. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 6), S. 142 f. 84 Czymmek 1988 (wie Anm. 46), S. 106 f. 85 Zum barocken oder barockisierten Kreuzaltar vgl. Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 6), S. 137. – Zum Abbruch des Altars vgl. auch Kulenkampff 1984 (wie Anm. 6), S. 386. – Die beiden Kapitelsprotokolle (Archiv des Erzbistums Köln, St. Maria im Kapitol, A II, 7e, Kap. Prot. v. 28.7.1765 und A II, 7e, Kap. Prot. v. 1.8.1765) finden sich nach dem Original zit. bei Matthes 1967 (wie Anm. 6), S. 13. 86 Die bei Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 368 und Schwanz 2001 (wie Anm. 61), S. 38 abgedruckte Datierung des Kupferstichs in das 18. Jahrhundert bzw. in das Jahr 1792 bezieht sich auf den Kupferstich eines Gebet- oder Pilgerzettels (Grafische Sammlung des Kölnischen Stadtmuseums, Inv. Nr. A 1 3/590 a, siehe unten).

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Abb. 12: Köln, St. Maria im ­Kapitol, Kreuzaltar mit dem Gabelkruzifixus vor dem (Renaissance-) Lettner (G. C. Stich, um 1680).

niedrigen Aufsatz über der breit gelagerten Mensa des blockhaften Kreuzaltars mit einstufigem Podest. Zentral über dem Kruzifix war ein dreiseitig gebrochener, ­schmaler Baldachin mit drei bekrönenden Wappen angebracht, von dem eine sich nach unten hin verbreiternde Stoffdraperie ausging. Oben wurde diese von zwei schwebenden, unten von zwei an den äußeren Kanten des Altaraufsatzes stehenden Engeln arrangiert bzw. gehalten.87 Die beiden schwebenden oder adorieren87 Wie oder woran der Baldachin befestigt war, ist unklar bzw. dem Kupferstich nicht zu entnehmen. Möglicherweise war er über das Pfingstloch herabgelassen. Theoretisch könnte es

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Abb. 13: Köln, St. Maria im Kapitol, Langhausinneres nach Osten mit dem Kreuzaltar vor dem nordöst­ lichen Vierungspfeiler (Johann Peter Weyer, um 1850).

sich auch nur um einen Festtagsschmuck gehandelt haben, der beispielsweise bei Exequienfeiern, wie etwa derjenige für Kaiser Karl VI. am 15. Dezember 1740, in St. Maria im Kapitol angebracht wurde. Vgl. Leonard Ennen: Zur Geschichte der Wahl und Krönung des Kaisers Karl VII., in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiöcese Köln 17 (1866), S. 65–88, hier S. 76: „[…] das Doxal oben her, wie auch die Stie­ gen gantz überzogen, das untere Theil aber gleichs denen eysernen Stangen offen gelassen und die herabsenkende Tapeten gleich in denen Bogen beyderseitigen Kreutzes in der Mitten außeinander gezogen und an den Capitellen beiderseitigen Säulen festgemacht, die Säulen aber, so nit von dem an beyden Seithen des Eingangs gestellten alten Gerüst abgeschlossen wurden, seynd gantz mit schwartz überzogen worden, auch das außstehende Werk am Salva­ toris Chörgen und seynd die Oeffnungen zwischen diesen Bogen ungefähr halbmannhoch mit Hölzer abgeschlossen und schwarzes Tuch darüber biß auff die Erd gehend gehenkt worden [Hervorhebungen von der Verfasserin].“ – Vgl. auch Angela Kulenkampff: Die Exequienfeier für den Römischen Kaiser Karl VI. in der Kirche St. Maria im Kapitol in Köln, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 57 (2010), S.  211–217.

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den Engel finden sich in ähnlicher Position an dem Kreuzaltar von 1777 wieder. Neben der Fotografie des Kircheninnenraums von 1866/68 haben sich zudem ein Aquarell der Sammlung Johann Peter Weyers aus der Zeit um 1838 sowie eine im Kölnischen Stadtmuseum (Inv. Nr. HM 1925/29) aufbewahrte, kolorierte Bleistift- und Federzeichnung von ihm aus der Zeit um 1850 (Abb. 13) erhalten, die eine Ansicht des Langhausinneren von St. Maria im Kapitol nach Osten mit freiem Blick auf den Kreuzaltar vor dem nordöstlichen Vierungspfeiler zeigen. Auch hier flankieren zwei schwebende Engel das Gabelkruzifix. Interessant ist, dass sich auf Weyers Zeichnung und Aquarell kein Triumphkreuz findet. Da die auf den historischen Aufnahmen zwischen den östlichen Vierungspfeilern aufgehängte Triumphkreuzgruppe von Nikolaus Elscheidt erst von 1870/71 oder 1873 stammt, hätte es sich hierbei noch um das heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befindliche und von Manuela Beer in ihrer Dissertation über die Triumphkreuze des Mittelalters um 1160 datierte Kreuz mit seinem (nach Beer) 1210/20 ersetzten Haupt handeln müssen.88 Bei der Exequienfeier für Kaiser Karl VI. am 15. Dezember 1740 war dieses Kreuz noch in Nut– Die Schilderung einer Exequienfeier für einen Kölner Bürgermeister im Jahr 1471 gibt über das Aussehen des Kreuzaltars vor der Barockisierung keine Auskunft. Vgl. Leonard Ennen: Die Beerdigung des Kölner Bürgermeisters Johann von Breide 1471, in: Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiöcese Köln 16 (1865), S. 176–181. 88 Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert, Regensburg 2005, Kat. Nr. 58, S. 661–664 mit Abb. 339 und 340; zur Triumphkreuzgruppe von Elscheidt aus dem 19.  Jahrhundert S.  244  f. mit Abb.  140 (S. 245). – Vgl. u.a. auch Walter Josephi: Die Werke plastischer Kunst (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums), Nürnberg 1910, Kat. Nr. 203, S. 101 f. mit Abb. (S. 101) und älterer Literatur. – Rahtgens 1911 (wie Anm. 2), S. 239. – Heinz Stafski/Egon Verheyen: Das Triumphkreuz aus St. Maria im Kapitol, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1963, S. 13–22 mit Abb. 1–3. – Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik in Köln, Ausst. Kat. Schnütgen-Museum Köln/Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln, hg. v. Anton Legner, 3  Bde., Köln 1985, hier Bd.  2, Kat.  Nr.  E  101, S.  335–337 mit Abb. (S.  336; Günther Bräutigam). – Hilger 1985 (wie Anm. 6), S. 17 und 19. – Sabine Czymmek: Vom ‚Kunstgarten Gottes‘. Schicksale des alten Kölner Kircheninventars im 19. Jahrhundert, in: Kier/Krings 1986 (wie Anm. 6), S. 321–344, hier S. 340 mit Fig. 101 (S. 341). – Stracke 1996 (wie Anm.  2), S.  85 mit Abb.  7. – Wolf 1999 (wie Anm.  77), S.  218  f. mit Abb.  1 (S. 218), S. 225, Abb. 2 und S. 228. – Kosch 2005 (wie Anm. 6), S. 65 mit Abb. (S. 72). – Frank Matthias Kammel: Kreuz und Kruzifixus, in: Mittelalter. Kunst und Kultur von der Spätantike bis zum 15. Jahrhundert, hg. v. Germanischen Nationalmuseum Nürnberg (Die Schausammlungen des Germanischen Nationalmuseums), Nürnberg 2007, S. 125–137, hier S. 132 f. mit Abb. 120 (S. 131) und Kat. Nr. 192, S. 403.

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zung.89 Auf einer Ansicht des Kircheninnenraums von Sulpiz Boisserée aus dem Jahr 1833 oder früher fehlt es bereits.90 Seine Entfernung könnte der Dualität von Gabel- und Triumphkreuz geschuldet sein, die auch schon vor der Verlegung des Kreuzaltars an den nördöstlichen Vierungspfeiler bestanden haben dürfte.91 Der in dem Kupferstich aus der Zeit um 1680 wiedergegebene Kreuzaltar befand sich vor der westlichen Mittelöffnung des Lettners von St. Maria im Kapitol. Die ursprüngliche Aufstellung des (Renaissance-)  Lettners zwischen den westlichen Vierungspfeilern ist durch die anlässlich der Festlegung einer Sitzordnung bei Exequienfeiern für Kölner Bürgermeister entweder 1722 oder 1764 entstandene Grundriss-Skizze des Binnenchors (Ostkonche mit vorgelagertem Zwischenjoch, Kanonikerchor und Vierung) gesichert.92 In seiner Ausstattung entspricht die in dem Kupferstich aus der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts dokumentierte Aufstellung des Gabelkruzifixes auf dem Kreuzaltar dem in einem überlieferten Kapitelsprotokoll vom 15. April 1666 beschriebenen, veränderten Zustand, der unter anderem im Zusammenhang mit den Reformforderungen des Konzils von Trient (1545–1563) zu sehen ist: „Nachdem durch gottselige Eingebung einige dessen Ehren Eiferer zu deren Fortsetzung und die­ ser hochlöbl. Collegiat-Kirchen mehreren Zierraths dahin bewog, vorerst das alte Cruzifix hinter dem Seelenaltar umb und uff selbigen Altar zu setzen und dadurch des Hohen Altars Prospect einigermaßen frey zu machen, und selbige den Vorschlag gethan, daß es zu mehrer Gottes Ehre und der Kirchen Zierath gereiche, wann dero gottseligsten Andenkens dieser hochrühml. Collegiat-Kirchen Stifterinne und Königinne Plectrudis vor genanntem Seelenaltar stehendes Grab hinter selbi­ 89 Vgl. Ennen 1866 (wie Anm. 87), S. 76: „[…] das obere Kreutz der Kirchen aber nit wie vor Alters an dem Chor abgeschlossen, sondern oben under dem Gesimbs an beyden Seiten rund­ umb mit einer schwartzen Tapeten, so eben bis über die Capitellen der Säulen herabgienge, außspallirt, […]“. 90 Sulpiz Boisserée (Hg.): Denkmale der Baukunst vom 7ten bis zum 13ten Jahrhundert am Nieder-Rhein, München ²1844 (EA 1833), zu St. Maria im Kapitol S. 2–6 mit Taf. 2–9, hier Taf. 2: Ansicht des Innern von St. Maria auf dem Kapitol in Köln (I. Bergmann litho.). 91 Vgl. hierzu Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 73 f. – Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 379, Anm. 91. – Beer 2005 (wie Anm. 88), S. 224–226. 92 Vgl. Ewald 1903 (wie Anm. 6), Sp. 267 f., Abb. 4 (Umzeichnung). – Kulenkampff 1984 (wie Anm. 6), S. 385, Fig. 193. – Czymmek 1988 (wie Anm. 46), S. 100, Abb. 2. Auch wenn diese Skizze Fehler aufweist (die Vierung ist beispielsweise nicht quadratisch, sondern rechteckig eingezeichnet), geht aus ihr klar hervor, dass die Lettnerfront zum Langhaus zwischen die westlichen Vierungspfeiler eingepasst war. – Zur ursprünglichen Aufstellung des Lettners vgl. auch Matthes 1967 (wie Anm. 6), S. 26–35. – Mülhens-Matthes 1986 (wie Anm. 6).

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gen transferiert würde […] Und nachdem Ihro Hochwürden [der Generalvikar Paul Aussem im Auftrag der Äbtissin] zu erkennen gegeben, daß man solche vor dem Seelen-Altar weg und hinter selbigen zu bringen gemeint sei […] auch den Ort ange­ wiesen, haben Ihro Hochw. solches laudiert und geordnet, daß das Grab den langen Weg dem Hohenaltar zu hinter den Seelenaltar […] zu stellen sei.“93 Zur Verbesserung der Sicht auf den Hochaltar werden in dem zitierten Protokoll zwei Änderungen angesprochen: Zum einen wurde das ursprünglich hinter dem Seelenaltar (= Kreuzaltar) aufgestellte, alte Kruzifix auf den selbigen Altar gesetzt. Und als zweites sollte das Plektrudis-Grab von seiner Position vor dem Seelen- oder Kreuzaltar hinter diesen gestellt werden. Der verstellte Prospekt des Hochaltars störte die neuen Sehgewohnheiten, was in dieser Zeit auch häufig dazu führte, dass Lettner durch Gitteranlagen ersetzt wurden. In St.  Maria im Kapitol erfolgte dem Protokoll nach eine Veränderung in zwei Schritten, die den Lettner selbst im 17. Jahrhundert aber nicht berührten. Unklar ist, welche Perspektive das Kapitelsprotokoll von 1666 beschreibt und was genau damals die Sichtachse gestört hat. Für ersteres kommt eigentlich nur das Kirchenschiff oder der Frauenchor in Frage, da der im Protokoll angesprochene Blickpunkt logischerweise im Langhaus gelegen haben muss. Auf der Sichtachse vom Langhaus zum Hochaltar lagen der Maria-Magdalenenaltar mit dem Plek­ trudis-Grabmal und der Kreuzaltar.94 Dass der Gabelkruzifixus von St. Maria im Kapitol die Sicht vom Kirchenschiff oder Frauenchor auf den Hochaltar derart verstellt haben könnte, ist nur schwer vorstellbar. Das umso mehr, als der Kruzifixus

93 Archiv des Erzbistums Köln, St.  Maria im Kapitol, A  II, 7a, Kap.  Prot.  v.  15.4.1666. Zit. n. Rahtgens 1913 (wie Anm. 1), S. 190 f. [Hervorhebungen von der Verfasserin]. – Die Beschlüsse des Tridentinums waren auf der Kölner Synode von 1662 für verbindlich erklärt worden. Vgl. August Franzen: Der Wiederaufbau des kirchlichen Lebens im Erzbistum Köln unter Ferdinand von Bayern, Erzbischof von Köln 1612–1650, Münster 1941, S. 346. 94 Zur Stiftung des Maria-Magdalenenaltares im Jahr 1283 und seiner Lage östlich vom Plek­ trudisgrab und westlich vom Kreuzaltar vgl. Heinrich Schäfer: Inventare und Regesten aus den Kölner Pfarrarchiven, Bd. 3 (Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, Bd. 83), Köln 1907, Nr. 38, S. 11. – Zur Gesamtdisposition vgl. zuletzt Klaus Gereon Beuckers: St. Maria im Kapitol zu Köln als Frauenkonventskirche, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen in Frauenkonventskirchen im Mittelalter, hg. v. Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 127–162 mit Plan S. 147.

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durch sein Versetzen auf den Kreuzaltar letztlich lediglich etwas höher aufgestellt wurde.95 Es stellt sich also die Frage, womit der Kreuzaltar zuvor ausgestattet gewesen war, denn möglicherweise hat nicht der nach dem zitierten Kapitelsprotokoll zunächst hinter dem Altar aufgestellte Gabelkruzifixus, sondern seine ehemalige Ausstattung die Sichtachse gestört. Der Forschung nach dürfte der Kreuzaltar mit dem von Nicasius und Georg Hackeney zusammen mit ihren Ehefrauen Christina Hardenrath und Sibilla van Merle gestifteten und von Joos van Cleve nach 1515, wohl um 1520 bis 1525, gemalten Triptychon ausgestattet gewesen sein, das 1827 aus der Sammlung Boisserée in die Alte Pinakothek nach München gelangte.96 Das Triptychon zeigt auf der Mitteltafel den Marientod, auf den Seitentafeln sind die Stifter und ihre Namenspatrone dargestellt und auf den Flügelaußenseiten finden sich die heiligen Christophorus, Sebastian und Rochus sowie die heilige Anna Selbdritt. Die Annahme, dass das Triptychon auf dem Kreuzaltar aufgestellt gewesen sei, fußt auf der Beschreibung der Kirchenschätze („monumenta Ecclesiae Capitolinae B.M. Virginis“) von Gelenius 1645, in der es unter Punkt fünf im Zusammenhang mit der Stiftung des 1523 vollendeten Lettners unter anderem heißt: „[…] opus est novum splendidumque odaeum marmoreum in quo ara cum picturâ celebratâ ob ex­

95 Nicht ganz eindeutig ist in diesem Zusammenhang die Angabe aus der ausführlich abgedruckten Schilderung der Exequienfeier in St.  Maria im Kapitol für Kaiser Karl  VI. am 15.  Dezember 1740 bei Ennen 1866 (wie Anm.  87), S.  73: „Vor dem Creutz neben dem Creutzaltar fünf Lichteren […]“. 96 Vgl. hierzu insb. Rahtgens 1911 (wie Anm. 2), S. 228 und 260 f. – Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 73, Anm. 23. – Matthes 1967 (wie Anm. 6), S. 11. – Horst Vey: Südniederländische Künstler und ihre kölnischen Auftraggeber, in: Jaarboek van het Koninklijk Museum voor schone Kunsten Antwerpen 1968, S. 7–32, hier S. 10 f. mit Fig. 2 (S. 10). – Krings 1984 (wie Anm. 6), S. 368 f. – Stracke 1996 (wie Anm. 2), S. 96 mit Abb. 32 (S. 99). – Wolf 1999 (wie Anm.  77), S.  198. – Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm.  6), S.  138–141 mit Abb. 17–21. – Thesy Teplitzky: Joos van Cleve: Zwei Triptychen mit dem Tod Mariae. Überlegungen zu den Altären aus der Hackeneyschen Hauskapelle und St. Maria im Kapitol und zu ihrer Beziehung zum Haus Habsburg, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 24 (2009), S. 303–315, hier S. 304 mit Abb. 3 (S. 305). – Teplitzky 2012 (wie Anm. 6), S. 119–121 mit Abb. S. 120 f. – Zu dem Triptychon allgemein vgl. auch Martin Schawe: Joos van Cleve (Joos van der Beke): Marientod, in: Alte Pinakothek. Ausgewählte Werke, red. v. Nina Schleif (Pinakothek-DuMont), München 2005, S. 92 mit Abb.

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cellentiam artis.“97 Susanne Ruf wies 2011 darauf hin, dass anhand von Gelenius’ Formulierung nicht zu entscheiden sei, ob sich der Altar mit dem Triptychon auf oder vor dem Lettner befunden habe.98 Die Ikonografie sprach für sie eher gegen eine Aufstellung des Triptychons auf dem Kreuzaltar.99 Vor dem Hintergrund des Kapitelsprotokolls von 1666 und einer Wallfahrtsrechnung des Franciscus Funk von 1630/31, in der es heißt „Item in der heilig­ tumbfart gehabt und verbrandt auff dem Creutzaltar vor unser lieber Frawen bilt 9 Waxkertzen“, wäre es aber gut vorstellbar, dass sich das Triptychon auf dem Kreuzaltar befunden hat.100 Von seinen Maßen her (Mitteltafel: 1,32 m × 1,54 m, Flügel: 1,32 m × 0,73 m) hätte es jedenfalls perfekt vor die mittlere der drei Öffnungen des Lettners gepasst, dessen Bündelpfeiler eine Höhe von 3,70 m aufweisen, und hätte an dieser Stelle die Sicht auf den Hochaltar ziemlich verstellt.101 Das Stifterbild wäre damit unter den oben am Lettner in Medaillons angebrachten Wappen, die teilweise an den Außenflügeln wiederholt werden, aufgestellt gewesen. Da der Kreuzaltar etwas vor dem Lettner stand, wäre durch die Aufstellung des Retabels zwischen dem Lettner und dem Kreuzaltar ein Binnenraum abgeteilt worden. Hier kommt der Gabelkruzifixus ins Spiel. Dieser hat sich nach der Angabe in Punkt sechs von Gelenius’ Beschreibung 1645 unter dem Lettner befunden: „VI. Crux sub odaeo miracolosa […]“.102 Das bestätigt auch ein Eintrag des Vikars Heinrich Berchem im sogenannten Handbuch von 1634, wo es heißt, dass am Tag Mariae Lichtmeß (2. Februar) die Kerzen zwischen neun und zehn Uhr abends von dem wochhabenden Kanoniker unter dem Lettner bei dem Kreuz geweiht werden („Cerei intra nonam et decimam horam benedicuntur sub toxali iuxta crucifixum“).103 Diese Angabe ist sachlich unmissverständlich: Die erste Ortsangabe unter dem Lettner umfängt gedanklich die zweite Äußerung bei dem Kreuz, wobei das unter mit Blick auf das Kapitelsprotokoll von 1666 auch einen Standort 97 Gelenius 1645 (wie Anm. 4), S. 329, Nr. V. – Deutsche Übersetzung von Ruf 2011 (wie Anm. 6), S. 361, Anm. 1492: „Ein neuartiges und glänzendes Werk ist der Lettner aus Mar­ mor, auf/vor dem ein Altar mit berühmter Malerei wegen seiner hervorragenden Kunst steht.“ 98 Ruf 2011 (wie Anm. 6), S. 361. 99 Ruf 2011 (wie Anm. 6), S. 361 f. 100 Die Rechnung zit. n. Ewald 1903 (wie Anm. 6), Sp. 269. 101 Die Maße des Triptychons nach Hagendorf-Nussbaum 2005 (wie Anm. 6), S. 138. – Zur Höhe der Bündelpfeiler des Lettners vgl. Matthes 1967 (wie Anm. 6), S. 18. 102 Gelenius 1645 (wie Anm. 4), S. 329, Nr. VI. – Clemens M. M. Bayer sei für freundliche Gespräche und Hinweise zu dem Quellenmaterial ganz herzlich gedankt. 103 Archiv des Erzbistums Köln, St. Maria im Kapitol, A II, 16. Zit. n. Kulenkampff 1989 (wie Anm. 47), S. 26 und 27.

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etwas vor dem Lettner bezeichnen kann. Gabelkruzifixus und Altar sind dort im assoziativen Sprachgebrauch zusammen gesehen worden. Das lässt vermuten, dass der Kruzifixus und der Altar auf jeden Fall in einem nicht allzu weit entfernten räumlichen Verhältnis zueinander standen. Die Aufstellung oder Anbringung des Gabelkruzifixes war offenbar autonom. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Kruzifixus stand von unten gestützt auf einem Sockel oder aber er hat an Ketten oder Stäben vom Lettner gehangen. Für die zweite Variante sprechen die 1903 von Wilhelm Ewald bezeugten Klammern am ursprünglichen westlichen Mittelstück des (Renaissance-) Lettners, die Zwischenelemente wie Ketten oder Stäbe gehalten haben könnten.104 Gisela Matthes ergänzte 1967 Ewalds Angaben, indem sie zusätzlich zu den Haken in den Sockeln zweier Pilaster im darunterliegenden Architravstück noch vier zugesetzte Dübellöcher erkennen konnte.105 Bei einer ungefähren Höhe von vier Metern von dort bis zum Boden dürfte das drei Meter hohe Kreuz nicht sehr weit über Augenhöhe am Lettner gehangen haben, womit die Möglichkeit einer sehr körperhaften Nahansichtigkeit gegeben gewesen wäre.106 Wie nahansichtig und greifbar derartige Bildwerke mitunter waren, veranschaulicht die bereits genannte Kreuzigungsgruppe des Westlettners im Naumburger Dom.107 Während man in Naumburg nach dem Messopfer beim Auszug durch die linke Lettneröffnung (rechts von Christus) dem Gekreuzigten wohl ins Angesicht und damit das Opfer leibhaftig sehen konnte, ist dies in St. Maria im Kapitol in Köln jedoch nicht vorstellbar, da das Haupt des Gekreuzigten hier zu tief auf der Brust liegt und sein Angesicht lediglich von der anderen Seite sichtbar gewesen sein dürfte. Geht man von der Abteilung eines Binnenraums zwischen dem Lettner und dem Kreuzaltar durch die Aufstellung des oben genannten Triptychons auf dem Altar in St. Maria im Kapitol aus, dann wäre diese Binnen- oder Mehrräumigkeit auf das Kruzifix ausgerichtet gewesen und ließe sich mit der von Carola Jäggi 104 Ewald 1903 (wie Anm. 6), Sp. 270, Anm. 18. 105 Matthes 1967 (wie Anm. 6), S. 26. 106 Zur Kreuzhöhe vgl. Schwanz 2006 (wie Anm. 7), S. 151. 107 Zur Kreuzigungsgruppe vgl. u.a. zuletzt Peter Bömer: Der Westlettner des Naumburger Doms und seine Bildwerke. Form- und funktionsgeschichtliche Studien, Regensburg 2014. – Andreas Huth: Frühgotische Grosskreuze in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, o.O. [Wettin-Lobejün] 2015, S. 172–195 und 221–224. – Heiko Brandl/Matthias Ludwig/ Oliver Ritter: Der Dom zu Naumburg (Die Bau- und Kunstdenkmäler von Sachsen-Anhalt; Beiträge zur Denkmalkunde, Bd. 13), 2 Bde., Regensburg 2018, hier Bd. 1, S. 527–530, Nr. 9.1.9–9.1.11.

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für verschiedene Frauenkonvente anhand von Quellenmaterial skizzierten, mystischen Frauenfrömmigkeit in Verbindung bringen.108 Diese fand teilweise auch im Frauenchor selbst an mobilen und immobilen Ausstattungsstücken wie beispielsweise Kruzifixen oder Marienbildern statt, die gleichsam als Dialogpartner kommunizierten.109 Christus wurde als im Bildwerk präsent, die Skulptur als lebendig verstanden. Das setzt voraus, dass die Bilder greifbar nah waren. In diesem Zusammenhang sei auch an die Legende erinnert, nach der Bernhard von Clairvaux (1090–1153) die Vision hatte, dass der Korpus eines Kruzifixus, vor dem er betete, sich zu ihm herabbeugte und ihn umarmte. Eine Legende um das Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol besagt, dass sich das Haupt des Gekreuzigten allmählich immer tiefer auf die Brust senke und bei der Berührung der Jüngste Tag anbrechen solle.110 Aus den Quellen geht ebenso hervor, dass derartige Bildwerke im Kirchenraum etwa auch in Notsituationen aufgesucht wurden.111 Hier ging es nicht um das Bild als Medium einer Jenseitsschau oder als Meditationsobjekt, sondern um die Gleichsetzung von Bild und Abbild, von Darstellung und Dargestelltem. Dreidimensionalen Werken kam hier aufgrund ihrer gesteigerten Lebensnähe bzw. ihres ‚Vergegenwärtigungspotentials‘ naturgemäß ein stärkerer Stellvertretercharakter zu als zweidimensionalen Werken. In Vitenberichten werden solche Bildwerke 108 Carola Jäggi: „Sy bettet och gewonlich vor únser frowen bild…“: Überlegungen zur Funktion von Kunstwerken in spätmittelalterlichen Frauenklöstern, in: Schmitt 2004 (wie Anm. 57), S. 63–86. – Carola Jäggi: Frauenklöster im Spätmittelalter. Die Kirchen der Klarissen und Dominikanerinnen im 13.  und 14.  Jahrhundert (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 34), Petersberg 2006, S. 309 f. 109 Vgl. Jäggi 2004 (wie Anm. 108), S. 74. 110 Vgl. dazu Gelenius 1645 (wie Anm.  4), S.  329  f. – Deutsche Übersetzung von Kulenkampff 1989 (wie Anm. 47), S. 15 f.: „Es [das Gabelkruzifix von St. Maria im Kapitol] wird nämlich gerühmt wegen der Vielzahl von übernatürlichen Gnadentaten, weil es Christus zeigt, vom Scheitel bis zur Fußsohle von Wunden und Blut gezeichnet, und dadurch die Gemüter der Betrachter durch eine gesteigerte Frömmigkeit erschauern läßt […]. Sorgfältige Betrachter stellen an ihm [dem Kreuz] fest, daß im Lauf der Zeit das Haupt mehr und mehr herabsinkt und der Körper durch sein Gewicht gleichsam nach unten gezogen wird. Während die Nägel, die die Füße und Handflächen durchbohren, fest angeheftet bleiben, zieht sich der Körper nach unten und die Wunden der Handflächen vergrößern sich. Die Füße liegen offen vor Augen, zerrissen von den Nägeln und zerstochen von den Hieben, von der Mitte bis zu den äußersten Fußspitzen mit Falten und Schrunden bedeckt … Das Abbild des Erlösers, das an diesem Kreuz hängt, ist bedeckt von Steinen, Münzen, Ketten und anderen Weihegaben.“ – Zur Legende allgemein vgl. etwa auch von Alemann-Schwartz 1976 (wie Anm. 35), S. 354. 111 Vgl. Jäggi 2004 (wie Anm. 108), S. 72–75. – Jäggi 2006 (wie Anm. 108), S. 309 f.

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meist in Verbindung mit übersinnlichen Erlebnissen einzelner Konventsangehöriger erwähnt.112 Das deckt sich mit der Bezeichnung des Kupferstichs aus der Zeit um 1680, unter dem steht: „Vera effigies miraculosi crucifixi B. M. Virginis in Capitolio Coloniae.“ Diese findet sich zudem auch unter dem bereits erwähnten Kupferstich eines Gebet- oder Pilgerzettels aus der Zeit um 1792 (Abb.  14), der das als wundertätig verehrte Gabelkruzifix vor dem Dreikonchenchor der Marienkirche zeigt.113 In der verloren gegangenen Inschriftentafel am Kreuz wurde es außerdem als wundertätig („veneranda“) bezeichnet, wofür auch die erwähnten Steine, Münzen, Ketten etc. an dem Kreuz sprechen.114 Durch seinen Standort am Lettner, abgeschirmt durch das Altarretabel Joos van Cleves hätte der Gabelkruzifixus den Frauen einerseits die Möglichkeit eines privaten ‚Zwiegesprächs‘ mit dem Gekreuzigten gegeben, gleichzeitig hätte sich das Bildwerk aber auch mit einem breiten Publikum teilen lassen. Das mittelalterliche Triumphkreuz scheint nach dem folgenden Zitat von 1740 wie das Triumphkreuz von Elscheidt aus dem 19. Jahrhundert damals nicht zwischen den westlichen, sondern zwischen den östlichen Vierungspfeilern angebracht gewesen zu sein: „[…] das obere Kreutz der Kirchen aber nit wie vor Alters an dem Chor abgeschlossen, sondern oben under dem Gesimbs an beyden Seiten rundumb mit einer schwartzen Tapeten, so eben bis über die Capitellen der Säulen herabgienge, außspallirt, […]“.115

112 Vgl. hierzu allgemein Suckale 2004 (wie Anm. 57), S. 92 f. – Vgl. auch beispielhaft Christian Folini: Katharinental und Töss. Zwei mystische Zentren in sozialgeschichtlicher Perspektive, Zürich 2007, insb. S. 341–347. 113 Vgl. hierzu allgemein Werner Freitag: Sichtbares Heil – Wallfahrtsbilder in Mittelalter und Neuzeit, in: Imagination des Unsichtbaren. 1200 Jahre Bildende Kunst im Bistum Münster, Ausst. Kat. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster, hg. v. Géza Jászai, 2 Bde., Münster 1993, hier Bd. 1, S. 122–146. – Aus dem Jahr 1792 vgl. auch Friedrich Carl Gottlob Hirsching: Historisch-Geographisch-Topographisches Stiftsund Closter-Lexicon, Bd.  1: A–D, Leipzig 1792 (ND Hildesheim 1972), zu St. Maria im Kapitol S. 814 f. 114 Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 38. – Vgl. Gelenius 1645 (wie Anm. 4), S. 330. 115 Ennen 1866 (wie Anm. 87), S. 76. – Vgl. dagegen Mühlberg 1960 (wie Anm. 6), S. 73 f., der eine Funktionsverschmelzung von Gabel- und Triumphkreuz in Betracht zog. – Beer 2005 (wie Anm. 88), S. 224–226 erschien „eine Ersetzung des hochmittelalterlichen, offenbar sehr geschätzten Triumphkreuzes durch einen crucifixus dolorosus an gleicher Stelle im Kir­ chenraum äußerst unwahrscheinlich“.

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Abb. 14: Köln, St. Maria im Kapitol, crux miraculosa vor dem Dreikonchenchor der Kirche.

Schluss

Da der (Renaissance-) Lettner inschriftlich von 1523 stammt, kann sich der Gabelkruzifixus nicht gleich an diesem befunden haben. Ein Vorgänger-Lettner oder eine Chorschranke ist erst in einem Schatzverzeichnis von St.  Maria im Kapitol

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aus dem Jahr 1405 bezeugt: „Item eyn kulden balck bonen den letler.“116 Seit wann es diese Abschrankung gegeben hat, ist unbekannt. Am ehesten würde sich wegen der bereits aufgestellten Gerüste dafür die Zeit der Einwölbung des Langhauses in den 1240er Jahren anbieten.117 An der Schranke könnte der Kruzifixus gehangen und ursprünglich den Prospekt für den Kreuzaltar gebildet haben.118 Die Größe und die mittelalterlichen Fassungen des Kapitolskruzifixes sprechen jedenfalls für eine gleichzeitige Ausrichtung auf Nah- und Fernansichtigkeit. Die Gabelform des Kreuzes scheint in St. Maria im Kapitol eine längere Tradition gehabt zu haben, jedenfalls fand sie in einer Wandmalerei aus dem 12. Jahrhundert sowie in einer Goldschmiedearbeit aus der ersten Hälfte des 14.  Jahrhunderts Verwendung.119 Zusätzlich lässt sich das Triumphkreuz aus der Zeit um 1160, das Anfang des 13. Jahrhunderts eine Modernisierung erfahren hat, angesichts seiner seitlichen Ansätze an den Kreuzbalken als stilisiertes Astkreuz lesen und in dem Schatzverzeichnis von 1405 findet sich der nicht näher zuzuordnende Eintrag: „Item crucem cum ligno sancte crucis“, bei dem es sich aber wohl um ein Metallkreuz mit einem Holzpartikel des ‚Wahren Kreuzes‘ (lignum sancte crucis) und nicht um das Gabelkruzifix gehandelt haben dürfte.120 In England hingegen wurde – wie eine Quelle von 1306 nahelegt – die Errichtung von Gabelkruzifixen unter Strafe verboten.121 116 Historisches Archiv der Stadt Köln, Akten 3e, Schatzverzeichnis von St. Maria im Kapitol von 1405. Für die freundliche Überlassung seiner Transkription sei Joachim Oepen ganz herzlich gedankt. – Vgl. auch Kulenkampff 1984 (wie Anm. 6), S. 382 mit Anm. 13: „gul­ den balck bowen den lecter“. 117 Zur Langhauswölbung vgl. Beuckers 2017 (wie Anm. 51). 118 Ob es – wie Kulenkampff 1989 (wie Anm.  47), S.  29 annahm – sogar einen Vorgänger gegeben haben könnte, ist fraglich. Das Kruzifix von 1244 meinte möglicherweise auch das monumentale Triumphkreuz. Vgl. Richard Knipping (Bearb.): Die Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter, Bd. 3.1: 1205–1261 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. 21), Bonn 1909 (ND 1964), Nr. 1153, S. 170: „an die Äb­ tissin A[gnes] und den Konvent von S. Maria in Capitolio zu Köln: bestätigt eine Anordnung der Äbtissin Agnes, der Dechantin Margareta, der Kustodin Hildegardis und des Konvents über die in sollempni dedicatione, que est ante crucem ecclesie nostre, et indulgentia durante erfallenden Oblationen, unter Inserierung der betreffenden Urkunde vom 6. Juli 1244 [Hervorhebungen von der Verfasserin].“ 119 Vgl. Anm. 71 und 72. 120 Historisches Archiv der Stadt Köln, Akten 3e, Schatzverzeichnis von St. Maria im Kapitol von 1405 (wie Anm. 116). – Vgl. hierzu auch Hoffmann 2006 (wie Anm. 7), S. 40. – Zu dem Triumphkreuz vgl. Anm. 88. 121 Vgl. F. Liebermann: Ein deutscher Bildhauer in London 1306, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 33 (1910), S. 550.

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Ein derart ungewöhnliches Werk lässt zum Abschluss noch die Frage nach der Stifterin oder dem Stifter aufkommen. Für Robert Suckales These, dass der Gabelkruzifixus aus dem Jodokusstift nach St. Maria im Kapitol gekommen sein könnte, gibt es keine Belege.122 Darüber hinaus vermutete Wolfgang Stracke in Äbtissin Hadwig von Wickrath (amt.  1245–1304) die Stifterin des Kruzifixes.123 Diese war am 13. Juli 1304 gestorben und im Frauenchor von St. Maria im Kapitol begraben worden; ihre Grabplatte befindet sich an der nördlichen Westwand des Mittelschiffs.124 In der durch Gelenius 1636 überlieferten Ablassgewährung heißt es über sie folgendermaßen: „Allen denen, die diesen Ort in frommem Gedenken an den Gekreuzigten aufsuchen und die schützende Hilfe des Hl. Kreuzes inständig erfle­ hen, dabei auch in ihren Gebeten die Erinnerung an die Herrin Hadewigis, die einst Äbtissin dieses Ortes war, festhalten – allen jenen soll, so oft sie an einzelnen Tagen reumütig darum bitten, ein Ablaß von 40 Tagen gnädiglich gewährt werden.“125 Es dürfte demnach Teil ihrer memoria gewesen sein.

Zusammenfassung

Mit dem Gabelkruzifixus von St. Maria im Kapitol etablierte sich in Köln ein neuer Kruzifixtypus, der sich aus der klassischen Bildtradition kaum herleiten lässt. Dennoch hat es gerade in St. Maria im Kapitol offenbar bereits früher Darstellungen von Kruzifixen am Gabelkreuz gegeben, die in dem neuen Kruzifixus durch eine expressive Leidenszeichnung zu einem Höhepunkt der europäischen Skulptur formiert wurden. Seine rasche und breite Nachfolge in Köln und dem Umland zeugt von seiner Prominenz, die ihn bald als wundertätig verehrtes Bildwerk auszeichnete.

122 Suckale 2004 (wie Anm. 57), S. 96. 123 Stracke 1996 (wie Anm. 2), S. 89. – Zur Äbtissin vgl. Joachim Oepen: Die Totenbücher von St. Maria im Kapitol zu Köln. Edition und personengeschichtlicher Kommentar (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, Bd. 32), Siegburg 1999, S. 475 f. 124 Vgl. Rahtgens 1911 (wie Anm. 2), S. 247 f. 125 Gelenius 1636 (wie Anm. 4), S. 40: „Omnibus igitur locum istum ob memoriam Crucifixi piè visitantibus, & S. Crucis patrocinia imploraentibus, nec non & memoriam in orationibus suis Dominae Hadeluigis huius loci quondam Abatissae habentibus, singulis diebus quoties expetierint, quadragintae Indulgentiarum de iniunctae poenitentia misericorditer relaxantur.“ – Deutsche Übersetzung zit. n. Kulenkampff 1989 (wie Anm. 47), S. 17.

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Dabei kennzeichnet den Kruzifixus eine überraschende Dualität: Die Vergegenwärtigung des Leidens durch die Überzeichnung der Wundmale und die übersteigerte Leidensmimik erschließt sich vor allem in der Nah- und Untersicht, bei einer näheren und damit individuelleren Betrachtung des Bildwerks. In der Fernsicht ist die Haltung des Gekreuzigten angesichts des wenig ausgeprägten Hängemotivs und seiner erhobenen Hände deutlich gemäßigter und fast ruhig. Diese Divergenz, die durch die mittelalterliche Zweitfassung noch verstärkt wurde, reagiert auf den ursprünglichen Anbringungsort des nahezu lebensgroßen Kruzifixes, das aufgrund von Schriftquellen beispielsweise 1645 bei Aegidius Gelenius an dem (Renaissance-) Lettner von 1523/25 als Prospekt für den Kreuzaltar gehangen hat. Abgeschirmt durch das Altarretabel von Joos van Cleve auf dem Kreuzaltar entstand so dahinter ein Raum der individuellen Betrachtung in Nahansicht, während auf die Fernsicht aus dem Langhaus vor allem die gemäßigte Darstellung als ‚Hinterfangung‘ des Kreuzaltars wirkte. Schon vor der Aufstellung des Renaissance-Lettners hat es an dieser Stelle eine Abschrankung gegeben, die in einem Schatzverzeichnis von St. Maria im Kapitol aus dem Jahr 1405 sicher bezeugt ist. Vermutlich ging diese Lettner- oder Schrankenanlage schon auf die Zeit der Einwölbung des Langhauses in den 1240er Jahren zurück. Es spricht vieles dafür, dass der Kruzifixus von Anfang an für eine Aufhängung an der Chorschranke konzipiert wurde, wie sie 1645 bezeugt ist, und so immer mit dem Kreuzaltar in Verbindung stand. Er dürfte gemäß der von Gelenius 1636 am Kreuz überlieferten Inschriftentafel am Barbaratag (4. Dezember) 1304 durch Weihbischof Heinrich (verst.  1312) eingesegnet worden sein. Die zuletzt vorgetragenen jüngeren Datierungen sind kunsthistorisch nicht überzeugend und widersprechen den Quellen. Einer Ablassgewährung nach war der Kruzifixus Teil einer Memorialstiftung der am 13.  Juli  1304 verstorbenen Äbtissin Hadwig von Wickrath (amt. 1245–1304).

Summary

With the forked cross (Gabelkruzifix) of St. Maria im Kapitol a new type of crucifix was established in Cologne that is nearly unprecedented in previous image traditions. Nonetheless, at St. Maria im Kapitol in particular, representations of Christ crucified on a fork-shaped cross appear to have existed earlier, which in the new representation of the crucified Christ were shaped into a key monument of Euro-

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pean sculpture through the expressive characterisation of suffering. The sculpture’s rapid and wide reception in Cologne and the surrounding region bears witness to its prominence, which soon led to its veneration as a miracle-working sculpture. The figure of the crucified Christ is marked by a surprising duality: the visualisation of suffering achieved through the exaggeration of the wounds and the drastic facial expression of suffering is apparent above all when the work is viewed at close and from below, that is, when seen from nearby and thus on a personal, more individual level. When the work is seen from afar, the crucified Christ’s pose is significantly more moderate and almost serene owing to the restrained rendering of his hanging on the cross and his raised hands. This divergence, which was intensified by the second layer of polychromy added in the Middle Ages, represents a response to the original place of display of the nearly life-sized crucifix, which according to textual sources, such as Aegidius Gelenius’ 1645 account, was suspended from the (Renaissance-style) choir screen of 1523/25 as a backdrop for the Cross altar. Shielded by the altarpiece by Joos van Cleve on the Cross altar, a space for personal viewing of the crucifix at close quarters thus came into being behind the Cross altar, whereas the more moderate representation in particular produced its effect as a background for the Cross altar when seen from a distance in the nave. A screen of some sort had already existed in the spot of the Renaissance screen prior to its installation; it is securely documented in a list of the treasury holdings at St. Maria im Kapitol dating from 1405. Presumably, this choir screen or wall-like enclosure dated back to the 1240s, when the nave was provided with stone vaults. It seems very likely that the crucifix was conceived from the start for presentation on this earlier screen arrangement, as is attested later in 1645, and thus that it was always connected with the Cross altar. According to a plaque with an inscription recorded on the cross by Gelenius in 1636, the crucifix was likely consecrated in 1304 by the auxiliary bishop Heinrich (d. 1312) on the feast day of St. Barbara (4 December). The late datings of the work proposed in the recent literature fail to convince from an art-historical perspective and are also contradicted by the sources. According to the promulgation of an indulgence, the crucifix was part of a memorial donation of the abbess Hadwig von Wickrath (in office 1245–1304), who died on 13 July 1304.

Funktion, Bedeutung und Modifizierung mittelalterlicher Lettner in Frauenstiftskirchen am Beispiel der ehemaligen Lettner von St. Marien und Pusinna in Herford und St. Ursula in Köln Adam Stead

In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Lettnerforschung einen bemerkenswerten Aufschwung erfahren. Monografien, Aufsätze und Tagungen haben das Wissen über Typologie und Nutzung mittelalterlicher Lettner erheblich erweitert und zugleich Möglichkeiten und Grenzen bei der Rekonstruktion erhaltener und verlorengegangener Lettner in den Fokus gerückt.1 Sah die ältere Forschung in dem Lettner vor allem eine am Choreingang platzierte Barriere zwischen Klerus und Laien, so hat die jüngere Forschung ein weitaus differenzierteres Bild von der Stellung des Lettners im mittelalterlichen Kirchenraum gezeichnet. Über die trennende 1

Eine Aufstellung sämtlicher jüngerer Titel ist an dieser Stelle kaum möglich, es sei auf Arbeiten verwiesen, die Übersichten anbieten und zugleich die in diesem Absatz skizzierten Tendenzen der neueren Forschung vertreten: Monika Schmelzer: Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum. Typologie und Funktion (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte, Bd. 33), Petersberg 2004. – Heinrich Magirius: Der Lettner im Kirchenraum des hohen und späten Mittelalters. Überlegungen zu seiner Typologie und Gestaltung, in: Die gebrauchte Kirche. Symposium und Vortragsreihe anlässlich des Jubiläums der Hochaltarweihe der Stadtkirche Unserer Lieben Frau in Friedberg (Hessen) 1306–2006, hg. v. Norbert Nußbaum (Arbeitshefte des Landesamtes für Denkmalpflege Hessen, Bd. 15), Stuttgart 2010, S. 127–140. – Monika Schmelzer: „Das man es oben uff dem lathener bruchen und legen solle…“. Die Funktion der mittelalterlichen Lettner und zur Frage der Lettner in Pfarrkirchen, in: Nussbaum 2010 (wie oben), S. 141–154. – Jacqueline E. Jung: The Gothic Screen: Space, Sculpture, and Community in the Cathedrals of France and Germany, ca. 1200–1400, Cambridge 2013. – Der aktuelle Forschungsstand knapp zusammengefasst unter Wiedergabe der Ergebnisse der 2017 in Innsbruck abgehaltenen Lettnertagung von Thierry Greub: Der Lettner – Ort liturgischer Performanz, der Rechtsprechung und medialen Inszenierung. [Tagungsbericht zu] Der mittelalterliche Lettner: Quelle, Befund, (Be) Deutung. Studientag an der Fakultät für Architektur, Arbeitsbereich Baugeschichte und Denkmalpflege der Universität Innsbruck, 27./28.4.2017, in: Kunstchronik. Monatsschrift für Kunstwissenschaft, Museumswesen und Denkmalpflege 71 (2018), S. 87–93.

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Funktion hinaus wird betont, wie der mittelalterliche Lettner den Kirchenbau in verschiedene Funktionsbereiche untergliederte und somit die Rezeption von Kirchenraum, liturgischen Handlungen und Bildwerken maßgeblich steuerte. Nicht nur die Entstehungs-, sondern auch die Modifizierungsgeschichte mittelalterlicher Lettner über die longue durée bis hin zu den Umständen ihrer Beibehaltung bzw. Beseitigung in der Neuzeit hat die jüngere Forschung in den Blick genommen. In dem bisherigen Forschungsdiskurs zu mittelalterlichen Lettnern haben Beispiele aus Frauenstiftskirchen eine marginale Stellung eingenommen. Erste Überlegungen zu diesem Thema stellte Monika Schmelzer an.2 Dabei wies sie mit Recht auf die räumliche Besonderheit von Frauenstiftskirchen im ehemaligen Reichsgebiet hin, in denen sich der Kanonissenchor ab dem 12. und 13. Jahrhundert überwiegend auf einer Empore befand – bevorzugt, aber nicht immer in einem der Querhausarme.3 Demnach waren Kanonissen in der Zeit des Aufkommens der Lettner ab dem späten 12.  Jahrhundert vielerorts bereits von anderen Personengruppen in der Kirche abgetrennt, sei es von im Hochchor agierenden Klerikern oder von Laien im Langhaus. Lettner in Frauenstiftskirchen mit Frauenemporen lassen sich daher nicht als weitere Modalität der Separierung der Kanonissen von Klerikern auffassen, wie Schmelzer überzeugend schlussfolgerte. Darüber hinaus wies Schmelzer auf die seltene Überlieferung von mittelalterlichen Lettnern in Frauenkonventskirchen hin und vermutete, dass viele Frauenkonvente möglicherweise ohne einen Lettner ausgekommen seien.4 Eine Ausnahme könnten ihrer Meinung nach allerdings weibliche Kommunitäten gewesen sein, in denen „[…] mehrere Kleriker zur Betreuung der Nonnen bzw. Stiftsdamen anwesend waren, sich die Männer zum gemeinsamen Stundengebet im Chor versammelten und außerdem zeitweise Laien in der Kirche anwesend waren“.5 Damit wären für Frau2 Vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 152 f. und S. 164. 3 Vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 153. – Zu Querhausemporen in Frauenstiftskirchen vgl. grundlegend Irmingard Achter: Querschiff-Emporen in mittelalterlichen Damenstiftskirchen, in: Jahrbuch der Rheinischen Denkmalpflege 30/31 (1985), S. 39–54. – Der aktuelle Forschungsstand zusammengefasst in Adam Stead: Raum im Raum – Bemerkungen zu Querhausemporen in Frauenstiftskirchen im 11.  und 12.  Jahrhundert, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter. Beiträge zur ersten Tagung des Forums für Frauenstiftsforschung vom 4.  bis 5.  November 2017, hg.  v.  Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 71–96, hier S. 72–77. 4 Vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 152. 5 Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 152.

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enstifte Rahmenbedingungen gegeben, die zur Errichtung eines Lettners zur Abtrennung des Hochchores vom Langhaus als Laienkirche geführt haben könnten. Wie Schmelzer betonte, handelte es sich bei ihren Überlegungen um eine erste Auseinandersetzung mit dem Thema der mittelalterlichen Lettner in Frauenstiftskirchen sowie um eine provisorische Materialsammlung. So verwies sie auf lediglich ein Beispiel, einen mutmaßlichen Lettner in der Frauenstiftskirche St. Anastasius und Innocentius in Gandersheim.6 Im Folgenden soll es um zwei ehemalige mittelalterliche Lettneranlagen in Frauenstiftskirchen gehen: Die Lettneranlagen von St. Marien und Pusinna in Herford und von St. Ursula in Köln. Der Fokus auf diese Fallbeispiele ergibt sich aus der vergleichsweise günstigen Überlieferungslage zu beiden Lettnern, die nicht nur in mittelalterlichen und neuzeitlichen Schriftquellen, sondern auch in Bildquellen und anhand von archäologischen Funden bzw. Baubefunden greifbar sind. Beide Lettner lassen sich aus diesen Indizien zum Teil rekonstruieren und datieren. Mit beiden Lettneranlagen lassen sich sehr wahrscheinlich auch Bildwerke, wenngleich erst im Spätmittelalter entstandene, in Verbindung bringen. Damit ist eine Analyse ihrer Funktion, Bedeutung und Modifizierung aus der Perspektive aktueller Forschungsansätze zu mittelalterlichen Lettnern möglich. Aus ihnen lässt sich ein vorläufiges, die Überlegungen Schmelzers ergänzendes Bild über die Stellung von mittelalterlichen Lettnern in zwei hochrangigen Frauenstiftskirchen gewinnen. Dieses Bild soll als Baustein zu einer noch zu schreibenden Gesamtdarstellung der Thematik dienen, die auch mittelalterliche Lettner in anderen Frauenstiftskirchen7 sowie eventuell noch unbekannte Beispiele zu berücksichtigen hätte. 6 Vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 153 mit dem Katalogeintrag auf S. 167 f. Dort wird als Beleg für einen Lettner in Gandersheim eine Quelle von 1570 zitiert, in der Julius Herzog zu Braunschweig-Wolfenbüttel (amt. 1568–1589) den Abbruch von den „Muren vor dem Kore“ fordert, damit er von seinem Sitz im Chor in das Langhaus hinein sehen könne. Daraus wird allerdings nicht ersichtlich, ob es sich bei den „Muren“ tatsächlich um einen Lettner im Sinne einer mit begehbarer Bühne ausgestatteten Schrankenanlage handelte. – Schmelzer (Ebd., S. 153 und 176) spricht den wahrscheinlich im 13. oder 14. Jahrhundert entstandenen ehemaligen Lettner der Kirche St.  Blasii in Fredelsloh als weiteres Beispiel eines mittelalterlichen Lettners in einer Frauenstiftskirche an. Es handelt sich aber hierbei sehr wahrscheinlich um ein Augustinerchorfrauenstift und nicht um ein weltliches Frauenstift. 7 Dazu zählen St. Bonifatius in Freckenhorst, St. Hippolyt in Gerresheim, St. Maria im Kapitol in Köln und möglicherweise St. Quirinus in Neuss. Es folgen hier Hinweise mit Verweisen auf weiterführende Literatur: Freckenhorst: Dort wird ein mit dem Kirchspielaltar in Verbindung stehender „postgank“ (d.h. Apostelgang) 1550 und ein „Apostelgang“ 1626 erwähnt, der 1750 abgerissen wurde; vgl.  Uwe Lobbedey: Bemerkungen zur ursprüngli-

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Der Lettner von St. Marien und Pusinna in Herford

Zur Rekonstruktion und Datierung Unter Äbtissin Gertrud II. zur Lippe (amt. 1217–1239) wurde um 1220 an St. Marien und Pusinna in Herford (gegr. 789) mit dem Bau einer ambitionierten neuen Stiftskirche begonnen (Abb. 15).8 Die Ostteile, die ältesten Teile des spätromanischen Baues, setzen sich aus einem einschiffigen, ursprünglich zweijochigen Chor (Erweiterung um das Ostjoch 1. Hälfte 15. Jahrhundert) und einem Querhaus zusammen. Von den Chorflankenräumen ist nur der nördliche bauzeitlich. Die im

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chen liturgischen Nutzung der Stiftskirche zu Freckenhorst, in: Freckenhorst 851–2001. Aspekte einer 1150jährigen Geschichte, hg.  v.  Klaus Gruhn (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Kreises Warendorf, Bd.  38), Warendorf-Freckenhorst 2000, S.  31–44, hier S.  36. – Gerresheim: Ein „Toxal“ ist dort 1669 überliefert; vgl. Julia von Ditfurth: Die neuzeitlichen Nachträge im Gerresheimer Evangeliar und die Ausstattungsgeschichte der Damenstiftskirche im 17. und 18. Jahrhundert, in: Das Gerresheimer Evangeliar. Eine spätottonische Prachthandschrift als Geschichtsquelle, hg. v. Klaus Gereon Beuckers/Beate Johlen-Budnik (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters, Bd. 1), Köln/Weimar/Wien 2016, S. 183–206, hier S. 189. – St. Maria im Kapitol: In einem Schatzverzeichnis von 1405 ist von einem „gulden balck bowen den lecter“ die Rede, bei dem „lec­ ter“ könnte es sich um einen Vorgängerlettner des Renaissancelettners aus dem 16. Jahrhundert handeln; vgl.  Angela Kulenkampff: St. Maria im Kapitol. Dreikonchenanlage und Binnenchor der Stiftskirche im 17. und 18. Jahrhundert, in: Köln. Die Romanischen Kirchen. Von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, hg. v. Hiltrud Kier/Ulrich Krings (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 1), Köln 1984, S. 381–391, hier S. 382 mit Anm. 13. – Zu den Lettnern von St. Maria im Kapitol vgl. ebenfalls den Beitrag von Vivien Bienert in diesem Band. – Zu Neuss vgl. Erika Kirchner-Doberer: Die deutschen Lettner bis 1300, Diss. Wien 1946 [masch.], S.  78  f., die einen Kryptenlettner dort rekonstruiert. – Allein diese Auflistung zusammen mit den im vorliegenden Beitrag diskutierten Beispielen lässt erahnen, dass Lettner in mittelalterlichen Frauenstiftskirchen möglicherweise etwas häufiger vorgekommen sein könnten als bislang angenommen. Zur Baugeschichte der Stiftskirche im 13. Jahrhundert vgl. umfassend Ralf Dorn: Die Kirche des ehemaligen Damenstifts St. Marien und Pusinna in Herford. Architektur unter den Edelherren zur Lippe, Petersberg 2006, S. 26–52. – Zu den Amtsdaten Gertruds vgl. Bernhard Suermann: Das Pusinnastift zu Herford. Aspekte einer mittelalterlichen Grundherrschaft in Westfalen (Westfalen in der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühzeitlichen Landesgeschichte, Bd. 24; Herforder Forschungen, Bd. 26), Münster 2015, S. 338. – Zur Gründung vgl. Art. „Herford – Reichsabtei“, in: Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung, Teil 1: Ahlen–Mühlheim, hg.  v.  Karl Hengst (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Bd.  44; Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte, Bd. 2), Münster 1992, S. 404–412, hier S. 404 f. (Meinhard Pohl).

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Abb. 15: Herford, ehem. Frauenstiftskirche St. Marien und Pusinna, Grundriss mit Einzeichnung der Lage des Lettners und des Kreuzaltars.

Nordquerhausarm befindliche Kanonissenempore, von einem kreuzgratgewölbten Unterbau getragen, stammt ebenfalls aus der Bauzeit. Das dreischiffige Langhaus ist als monumentale Hallenkirche konzipiert; seine westlichen Teile wurden erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts fertiggestellt. Der Lettner von St.  Marien und Pusinna wurde besonders spät, erst 1870 im Zuge von Renovierungsarbeiten abgerissen.9 Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass er in seiner bis dahin überkommenen Form detailliert überliefert ist, und zwar in zwei Zeichnungen, auf die Ralf Dorn aufmerksam gemacht hat (Abb. 16 und 17).10 Den Zeichnungen zufolge befand sich der Lettner am Choreingang. Auf der frontalen Ansicht ist eine Chortreppe mit zwei Stufen zu sehen, die zwischen dem höher gelegenen Chorraum und dem niedrigeren Fußbodenniveau des Langhauses vermittelte. Seitlich eines zentrierten, mit einer Altarstufe versehenen Lettneraltars befanden sich in der Trennmauer zwei Durchgänge. Die den Altar rahmende Ädikula-Konstruktion mit einem von Säulen getragenen Architrav weist frühneuzeitliche Formen auf, die auf eine Entstehung dieses Teils des Lettners wohl im 16.  Jahrhundert hindeuten.11 Dass die frontale Ansicht keine vollstän9 Zum Abriss vgl. Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 81. 10 Vgl. Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 81. 11 Vgl. Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 81.

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dige Aufnahme des Lettners in seiner damaligen Gestalt darstellt, zeigt der Längsschnitt, der eine auf der Lettnerbühne ruhende Orgel wiedergibt, die 1692 vom Obergeschoss der sogenannten Beichtkammer im südlichen Chorflankenraum auf den Lettner und 1870 nach dem Abbruch des Lettners auf eine neu errichtete Westempore verlegt wurde.12 Die Zeichnungen zeigen freilich wenig, was auf eine mittelalterliche Entstehung des Lettners schließen lassen würde. Auf eine Entstehung der Lettneranlage während der Bautätigkeit des 13. Jahrhunderts deuten jedoch erhaltene Teile der Lettnerausstattung sowie Baubefunde hin: Noch erhalten ist der in den Zeichnungen wiedergegebene Lettneraltar, der jetzt frei in der Vierung steht.13 Der Blockaltar wird einvernehmlich in die Bauzeit der Stiftskirche datiert.14 Die Vorderseite des Altars ist mit zwei vertieften Feldern in profilierter Rahmung verziert, die Schmalseiten mit je einem Feld. Noch erkennbar sind in den Feldern der Vorderseite die Umrisse von zwei abgearbeiteten Reliefs, links eine stehende Figur, rechts ein Kreuz. Die Ausschmückung des Altars mit einem skulptierten Kreuz könnte auf ein Kreuzpatrozinium hindeuten und den in den Zeichnungen wiedergegebenen Lettneraltar als den ehemaligen Kreuzaltar ausweisen. Dorn hat zudem auf Baubefunde im Bereich der östlichen Vierungspfeiler verwiesen, die sehr wahrscheinlich in Beziehung zu dem Lettner zu setzen sind. So befindet sich in der Südwand des Chores hinter dem südöstlichen Vierungspfeiler in mehreren Metern Höhe eine zugemauerte, heute durch Putz bedeckte Bogenöffnung, deren Machart in das 13. Jahrhundert weist und die Dorn überzeugend als Zugang zur ehemaligen Lettnerbühne deutet.15 Ein Versprung in den Basen der östlichen Vierungspfeiler hängt seines Erachtens wohl auch mit der Errichtung des Lettners an 12 Zur Verlegung der Orgel 1692 vgl.  Dorn 2006 (wie Anm.  8), S.  99. – Zur nochmaligen Verlegung 1870 vgl. Ebd., S. 102, Anm. 41. 13 Der Altar ist abgebildet bei Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 82, Abb. 116. 14 Vgl. Josef Braun: Der christliche Altar in seiner geschichtlichen Entwicklung. Bd. 1: Arten, Bestandteile, Altargrab, Weihe, Symbolik, München 1924, S. 326 und 328. – Marita Heinrich: „Sei gegrüßt, Maria… Du bist würdig, Königin des Himmels genannt zu werden“. Kirchenkunst, Stifts- und Klosterschatz, in: Fromme Frauen und Ordensmänner. Klöster und Stifte im heiligen Herford, hg. v. Olaf Schirmeister (Herforder Forschungen, Bd. 10; Religion in der Geschichte, Bd. 3), Bielefeld/Gütersloh 2000, S. 323–399, hier S. 334. – Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Nordrhein-Westfalen II: Westfalen, hg. in Zusammenarbeit mit der LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen und dem Institut für vergleichende Städtegeschichte unter wissenschaftlicher Leitung von Ursula Quednau, Berlin/München 22016 (EA 2011), S. 429. 15 Vgl. Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 38 und 82.

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Abb. 16: Herford, ehem. Frauenstiftskirche St. Marien und Pusinna, Planzeichnung mit Lettner, um 1870.

dieser Stelle zusammen.16 Matthias Wemhoff verwies außerdem auf ein neben dem südöstlichen Vierungspfeiler situiertes Fundament, das möglicherweise vom Lettner stammt.17 Ein weiterer Hinweis auf den Lettner befindet sich in einer Urkunde, die die Überweisung eines Erbes 1304 an zwei Altäre in der Stiftskirche überliefert.18 Die Altarpatrozinien werden im Urkundentext zwar nicht genannt, sind jedoch in einer Rückschrift des 14./15. Jahrhunderts aufgeführt: „S(pectat) ad altare sancti Vincentii et ad altare Omnipotentis dei apud ambonem“19. Demnach befand sich im 16 Vgl. Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 102, Anm. 48. 17 Vgl. Matthias Wemhoff: Das Damenstift Herford. Die archäologischen Ergebnisse zur Geschichte der Profan- und Sakralbauten seit dem späten 8. Jahrhundert (Denkmalpflege und Forschung in Westfalen, Bd. 24), 3 Bde., Bonn 1993, hier Bd. 2, S. 166 (zu Fund 3023). – Vgl. dagegen Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 71, Anm. 59, der diesen Befund als einen möglichen Fundamentrest von einer provisorischen Trennwand deutet. 18 Der Text der Urkunde ist abgedruckt in Westfälisches Urkundenbuch, Bd. 9: Die Urkunden des Bistums Paderborn 1301–1325. Lieferung 1: 1301–1310, bearb. v. Joseph Prinz, Münster 1972, Nr. 282, S. 119 f. 19 Zit. n. Westfälisches Urkundenbuch (wie Anm. 18), Bd. 9, Lieferung 1, Nr. 282, S. 120.

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Abb. 17: Herford, ehem. Frauenstiftskirche St. Marien und Pusinna, Längsschnitt der Kirche mit Lettner, um 1870.

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14./15. Jahrhundert ein ambo in der Stiftskirche. In ihrer Auswertung der mittelalterlichen Schriftquellen hat Schmelzer auf das häufige Vorkommen des Wortes ambo als Bezeichnung für Lettner hingewiesen, das auch in Verbindung mit erhaltenen Lettnern nachzuweisen ist.20 Dieser von frühchristlichen bzw. frühmittelalterlichen Leseanlagen abgeleitete Begriff erklärt sich nicht zuletzt aus der Nutzung der Lettnerbühne für die Evangeliumslesung.21 Dass ambo auch in Herford einen Lettner mit Lesebühne bezeichnet, erscheint angesichts des von Dorn nachgewiesenen Zugangs zur Lettnerbühne in der Südwand des Chores sehr wahrscheinlich.22 Unklar bleibt allerdings das genaue Verhältnis von dem „Altar des allmächtigen Gottes“ (altare Omnipotentis dei) zum ambo. Dass sie in enger räumlicher Beziehung zueinander standen, geht jedenfalls aus der Präposition apud hervor. Trotz der späteren Überformung des Lettners mit der frühneuzeitlichen Ädikula und des Umbaus zur Orgelbühne lassen die Zeichnungen des späten 19. Jahrhunderts eine im 13.  Jahrhundert entstandene Lettnersituation in Umrissen erkennen: Ein zwischen den östlichen Vierungspfeilern positionierter Lettner mit zentriertem Kreuzaltar, zwei Durchgängen und begehbarer Bühne. Zum genauen Lettnertypus lässt sich bei dem derzeitigen Kenntnisstand wenig sagen. In jedem Fall entspricht der Herforder Lettner dem für mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum am häufigsten überlieferten Grundtypus mit zwei Türen um einen zentralen Kreuzaltar.23

20 Vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 11 mit den Katalogeinträgen zu den dort genannten Beispielen. – So wird u.a. der erhaltene Hallenlettner aus dem 2. Drittel des 14. Jahrhunderts (mit hölzernem Aufbau von 1477 aus der Werkstatt Bernd Notkes) im Lübecker Dom als ambo bezeichnet, vgl. Ebd., S. 181. 21 Vgl. hierzu Schmelzer 2010 (wie Anm. 1), S. 147. 22 Zu diesem Punkt vgl. hingegen Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 101 und S. 103, Anm. 49: Er verweist zwar auf die Urkunde von 1304, vermutet jedoch, dass der ambo sich „in unmit­ telbarer Nähe zum Lettner befunden haben oder auf diesem selbst aufgestellt gewesen sein [wird]“ (Zitat auf S.  101). Im Hinblick auf die vielfach belegte Verwendung des Begriffs ambo zur Bezeichnung von mittelalterlichen Lettnern erscheint es m. E. wahrscheinlicher, dass ambo hier den Lettner selbst meint. 23 Zur Verbreitung dieses Grundtypus vgl. Schmelzer 2010 (wie Anm. 1), S. 146. – Jung 2013 (wie Anm. 1), S. 32.

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Funktion, Bedeutung, Modifizierung Bei St. Marien und Pusinna handelte es sich um eine Frauenstiftskirche, die gleichzeitig als Pfarrkirche diente.24 Mit der Feier von Konventsmessen und Pfarrgottesdiensten waren vier Kanoniker betraut,25 die zudem dem Stiftskapitel angehörten; ob die Kanoniker darüber hinaus gemeinsam das Stundengebet verrichteten, ist nicht sicher, aber vorstellbar. Zum Stiftsklerus gehörten ebenfalls Diakone, Subdiakone, Vikare, Kapläne und Benefiziaten; insgesamt geht man von zwanzig bis dreißig an der Stiftskirche tätigen Geistlichen aus.26 Die Kanonissen waren vom Männerkonvent durch ihre Empore im nördlichen Querhausarm abgetrennt, sodass das Vorhandensein des Lettners in Herford wie auch in anderen Frauenstiftskirchen nicht auf die Separierung der Frauen von den Klerikern zurückzuführen ist. Auf ihrer Empore verrichteten die Kanonissen ihr Chorgebet, zudem konnten sie von dort aus die im Hochchor zelebrierten Konventsmessen verfolgen, wenngleich nur akustisch.27 Der Lettner war vielmehr dafür notwendig, um die größere Anzahl an Geistlichen im Hochchor von den Pfarrangehörigen als dritter Personengruppe im Kirchenraum zu separieren: Durch den Lettner wurde der Hochchor mit dem Hochaltar und dem Gestühl der Kleriker von dem Langhaus als Laienkirche abgetrennt, damit die Stiftskleriker im Hochchor ungestört das Hochamt feiern und möglicherweise auch dort das Stundengebet verrichten konnten.28 Eine mit Herford vergleichbare Situation gab es übrigens auch in der Frauenstiftskirche St. Bo24 Zur Stiftspfarrei vgl. Michael Freiherr von Fürstenberg: „Ordinaria loci“ oder „Monstrum Westphaliae“? Zur kirchlichen Rechtsstellung der Äbtissin von Herford im europäischen Vergleich (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte, Bd.  29), Paderborn 1995, S. 156. 25 Zu den Kanonikern vgl. von Fürstenberg 1995 (wie Anm. 24), S. 156 f. – Suermann 2015 (wie Anm. 8), S. 152–154. 26 Vgl.  von Fürstenberg 1995 (wie Anm.  24), S.  156  f. – Suermann 2015 (wie Anm.  8), S. 153. 27 Zur akustischen Teilhabe an der Messe durch Kanonissen auf Querhausemporen vgl. zuletzt Stead 2018 (wie Anm. 3), S. 76 f. – Vgl. hingegen Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 85: Er postuliert, dass Äbtissin und Konvent möglicherweise Messen am Hochaltar von der Oberkapelle im nördlichen Chorflankenraum, die sich zum Hochchor hin durch einen Bogen öffnet, visuell verfolgt haben könnten. Ob dieser Raum tatsächlich so benutzt wurde, lässt sich jedoch nicht sagen. 28 So bereits Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 81: „Dieser [der Lettner] trennte das Sanktuarium, welches nur den Klerikern des Stiftes vorbehalten war, vom Laienraum der Kirche“. – Ob der Hochchor ausschließlich Klerikern vorbehalten war, lässt sich allerdings nicht sagen. Der Liber Ordinarius aus St. Ursula vom Ende des 14. Jahrhunderts, der eine zeitweilige Präsenz

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nifatius in Freckenhorst: Dort befand sich die Frauenempore im Südquerhausarm, womit die Kanonissen von den wohl sechs oder sieben im Hochchor agierenden Stiftskanonikern abgegrenzt waren, während der zwischen den westlichen Vierungspfeilern positionierte Lettner mit dem Pfarraltar Vierung und Hochchor gegenüber dem als Pfarrkirche dienenden Langhaus abschirmte.29 Über eine bloß trennende Funktion hinaus lässt sich die bedeutende Rolle des Herforder Lettners in der Untergliederung des Kirchenraums in einzelne Funktionsbereiche erkennen, so wie dies von der jüngeren Forschung auch für Lettner in anderen Zusammenhängen konstatiert wird. Wurde der Hochchor durch den Lettner zu einem prinzipiell dem Stiftsklerus vorbehaltenen Raum, so entstand mit dem Lettner und dem Kreuzaltar am östlichen Ende des Langhauses zugleich das liturgische Zentrum der im Langhaus gelagerten Pfarrkirche. Liturgische Quellen aus der Erbauungszeit der Kirche und des Lettners sind zwar nicht überliefert, doch diente der mit dem Lettner verbundene Kreuzaltar wie andernorts höchstwahrscheinlich als Volksaltar für Pfarrgottesdienste.30 Eine Nutzung der Lettnerbühne für Wortverkündigungen ist ebenfalls zu vermuten: Dies wird durch vielfache Analogiebeispiele für diese bei mittelalterlichen Lettnern gut dokumentierte Funktion nahegelegt,31 zudem deutet die oben angesprochene Bezeichnung des Lettners als ambo in Verbindung mit dem von Dorn festgestellten Zugang zur Bühne ebenfalls darauf hin. Somit ist für den Lettner in Herford eine Funktion als räumliche und visuelle Kulisse der Pfarrliturgie zu konstatieren – als „Rahmen und Retabel für den Volksaltar“32, wie Schmelzer diese Funktion in Verbindung mit mittelalterlichen Lettnern in Pfarrkirchen treffend beschrieben hat. Möglicherweise spielte der Kreuzaltar auch eine Rolle in der Konventsliturgie. Auf die Nutzung von Kreuzaltären als Handlungsorten der Stiftsliturgie in ranghoder Kanonissen im Hochchor im Rahmen der Osterliturgie dokumentiert, ermahnt hinsichtlich solcher Schlussfolgerungen zu Vorsicht. Zu St. Ursula siehe unten. 29 Zur liturgischen Raumdisposition in Freckenhorst vgl. Lobbedey 2000 (wie Anm. 7), insb. S.  34–37. – Zu der ehemaligen Querhausempore vgl. zuletzt Stead 2018 (wie Anm.  3), S. 87–90. Zum Abbruch des Lettners im Jahr 1750 vgl. zuletzt Julia von Ditfurth: Wandel der Strukturen. Barockisierungsprozesse in Damenstifts- und Frauenklosterkirchen in Westfalen, Regensburg 2016, S. 261–269. 30 Vgl. Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 98, der ebenfalls eine Nutzung des Kreuzaltars als Gemeindealtars vermutet. – Zum Lettneraltar bzw. Kreuzaltar als Volksaltar im Allgemeinen vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 149. 31 Zur Nutzung der Lettnerbühne für Schriftlesungen vgl.  Schmelzer 2004 (wie Anm.  1), S. 144 f. – Dies. 2010 (wie Anm. 1), S. 147. 32 Schmelzer 2010 (wie Anm. 1), S. 145.

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hen Frauenstiftskirchen – wie Herford dies auch war – weisen die Libri Ordinarii aus Institutionen wie St. Cosmas und Damian in Essen (2. Hälfte 14. Jahrhundert) und St.  Ursula in Köln (Ende  14.  Jahrhundert) hin, woraus die Bedeutung des Kreuzaltars etwa als Station in Prozessionen und als Stätte von Konventsmessen hervorgeht.33 Diese zusätzliche Nutzung dürfte auch der Kreuzaltar in St. Marien und Pusinna im Rahmen der liturgischen Abläufe des Konvents erfahren haben. Dann hätte der Lettner zeitweise auch als monumentale Kulisse der Stiftsliturgie gedient. Dabei wäre es den Kanonissen möglich gewesen, von ihrer Empore im Nordquerhausarm aus am Kreuzaltar gefeierte Messen aus nächster Nähe zu verfolgen.34 Sehr wahrscheinlich ist eine Stelle in einer Schenkungsurkunde aus dem Jahr 1466, die eine Kerzenstiftung durch den Herforder Bürger Johann Fockele an die Stiftskirche überliefert, auf die Lettneranlage zu beziehen.35 Danach schenkte Fockele „[…] ein Grundstück zu den Lichtern der heiligen Apostel, welche in der frei­ weltlichen Kirche in Herford nahe und vor dem großen Kreuz in der Halle und an besagter Kirche stehend, zu leuchten und zu brennen pflegen“ („ad lumina beatorum apostolorum, quae in ecclesia Hervordensi prope et ante magnam crucem in capsa et ante eandem ecclesiam positam lucere et ardere solent“36). Bei den in der Urkunde genannten Aposteln handelt es sich vermutlich um Skulpturen der zwölf Apostel, die nahe einem über dem Lettner angebrachten, nicht näher datierbaren Triumphkreuz (magna crux) aufgestellt waren, womöglich an einer am Lettner angebrach33 Zur Einbeziehung des Kreuzaltars in die Stiftsliturgie in Essen vgl.  Jürgen Bärsch: Die Feier des Osterfestkreises im Stift Essen nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius (zweite Hälfte 14.  Jahrhundert). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Ortskirchen (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 6), Münster 1997, z.B. S. 143 f. (Prozession der Kanoniker und Kanonissen zum Kreuzaltar) und S. 239 f. (Station vor dem am Kreuzaltar aufgestellten Kreuz). – Zur Nutzung des Kreuzaltars von St. Ursula in Köln siehe unten. 34 Vgl. Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 98, der auf eine Teilhabe der Kanonissen an den am Kreuzaltar zelebrierten Messen verweist. 35 Die Stelle ist auszugsweise wiedergegeben bei Wilhelm Hoffbauer: Zur Geschichte der kirchlichen Gebäude des Stiftes Herford [Manuskript von 1857], gedruckt in: Julius Normann: Herforder Chronik: Sagen und Geschichtsbilder aus der Vergangenheit von Stift und Stadt. Ein Beitrag zur Heimatkunde, Herford 1910, S.  176–188, hier S.  184. – Auf diese Quelle verwies Dorn 2006 (wie Anm. 8), S. 102 f., Anm. 48, der die Stelle zwar auf den Lettner bezog, sie aber mit einer anderen, 1451 durch Johann von dem Bussche erfolgten Schenkung verwechselte. 36 Zit. n. Hoffbauer 1857 (wie Anm. 35), S. 184 (dort der lateinische Text mit dt. Übersetzung).

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Abb. 18: Herford, ehem. Frauenstiftskirche St. Marien und Pusinna, drei Apostel, Holz, um 1460–1470 (?).

ten Brüstung bzw. auf einem Balken über dem Lettner. Die Ausschmückung von Lettneranlagen mit skulptierten Apostelfiguren ist im erhaltenen und überlieferten Denkmalbestand gut belegt und steht hinter dem Begriff „Apostelgang“, der häufig als Bezeichnung für Lettner in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Schriftquellen zu finden ist.37 Lichtstiftungen in Verbindung mit Bildwerken am Lettner,

37 Beispielhaft, um im Kontext von Frauenkonventen zu bleiben, seien die erhaltenen Apostelreliefs aus dem 14. Jahrhundert von der Brüstung des ehemaligen Lettners in Fredelsloh genannt; vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 176 (Katalogeintrag zu Fredelsloh). – Zum Begriff Apostelgang als Bezeichnung für den Lettner vgl. Ebd., S. 11. – Géza Jászai deutet auch die Fragmente von um 1460 datierten Apostelfiguren als Beleg für einen ehemaligen Lettner in der ehemaligen Benediktinerinnenklosterkirche St. Maria und Johannes Baptist in Vinnenberg, vgl. Géza Jászai: Rezension von: Karl Hengst (Hg.): Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung. Veröffentlichung der Historischen Kommission für Westfalen XLIV, Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte Bd.  2. Teil  1: Ahlen-Mühlheim, Münster 1992, 642 Seiten; Teil 2: Münster-Zwillbrock, Münster 1994, 800 Seiten, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 71 (1993), S. 335–338, hier S. 338.

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besonders mit Triumphkreuzen,38 lassen sich häufig nachweisen, sodass sich das Beispiel Herford auch hierin gut in allgemeine Tendenzen um mittelalterliche Lettner eingliedern ließe. In der Herforder Münsterkirche sind in der Tat neun spätgotische Apostelfiguren erhalten (Abb. 18). Die Bestimmung der rund 100 cm großen39 Holzskulpturen ist nicht überliefert. Plausibel erscheint – wie Theodor Denecke dies scheinbar ohne Kenntnis der Quelle von 1466 bereits in Erwägung zog – eine Anbringung der Figuren als Teil einer mit dem Lettner in Verbindung stehenden Apostelreihe.40 Eine fundierte Einordnung der in der Literatur nur sehr flüchtig beachteten Skulpturen steht noch aus; sie werden übereinstimmend als spätgotisch angesehen, wobei die bisherigen Datierungen sich zwischen einer allgemeinen Datierung in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts41 und einer gegen Ende des 15. Jahrhunderts42 bewegen. Vor dem Hintergrund der Quelle von 1466 wäre jedoch eine Entstehung der Skulpturen konkret um diese Zeit und eine Identifizierung der Figuren mit den in der Lichterschenkung genannten Aposteln in der Nähe des Triumphkreuzes in Betracht zu ziehen. Vielleicht wurde die Stiftung des Bürgers Fockele durch die Entstehung der Apostelfiguren für die Lettneranlage überhaupt erst angeregt. Auf eine Veränderung der Lettneranlage in der Frühen Neuzeit deutet schließlich die oben angesprochene, in der Zeichnung mit der frontalen Ansicht des Lettners dargestellte Ädikula um den Kreuzaltar hin. Möglicherweise gab der

38 Vgl. hierzu Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 146. – Dies. 2010 (wie Anm. 1), S. 150. 39 Vgl. Albert Ludorff: Die Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Herford (Die Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen, Bd. 24), Paderborn 1908, S. 35, der als Maße für drei der Apostel (vgl. Ebd. Taf. 31) 97 bis 100 cm angibt. 40 Vgl. Theodor Denecke: Führer durch die Münsterkirche zu Herford, hg. v. Herforder Verein für Heimatkunde, Herford 1949, S. 16 und 33 f. Er schreibt knapp auf S. 16: „Vor dem Lettner auf einem brückenartigen hölzernen Gang, der auf drei Säulen ruhte, waren die zwölf Apostel aufgestellt. Sie sind heute, soweit erhalten, an den Mittelschiff-Pfeilern angebracht“. Woher seine Annahme eines hölzernen, von Säulen getragenen Ganges stammt, ist nicht ersichtlich. – Vgl. ebenfalls, Denecke folgend, Heinrich 2000 (wie Anm. 14), S. 341 f. – Dorn 2006 (wie Anm.  8), S.  82 und 102  f., Anm.  48. – Vgl.  hingegen Dehio 2016 (wie Anm. 14), S. 429, wo ohne weitere Begründung von einer Bestimmung der Skulpturen als Altarfiguren ausgegangen wird. 41 Vgl. Denecke 1949 (wie Anm. 40), S. 16. Er verbindet die Figuren mit denen des steinernen Taufbeckens in der Münsterkirche, das er wiederum (S. 21) in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert. 42 Vgl. Dehio 2016 (wie Anm. 14), S. 429: „E. 15. Jh“.

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Wandel des Stifts 1565 in ein evangelisches Damenstift43 den Impuls, den Lettner beizubehalten und ihn neu, in zeitgemäßen Formen der Renaissance zu gestalten. Hierin folgte das Frauenstift Herford der allgemeinen Tendenz zur Beibehaltung von Lettnern in protestantischen Kirchen, denn in diesen „[…] wurden die Langhäuser als Predigträume genutzt, das Raumgefüge ohne den abgetrennten Chor entsprach den Nutzungsanforderungen des evangelischen Gottesdienstes besser“, wie Schmelzer es formulierte.44 Womöglich wurden die spätgotischen Apostelfiguren in Zusammenhang mit der Entstehung der Ädikula vom Lettner entfernt, wobei der für Herford überlieferte Bildersturm 1532, bei dem Bilder und andere Ausstattungsgegenstände beseitigt wurden,45 ebenfalls einen möglichen Kontext für die Abnahme der Figuren darstellen könnte.46 Wie bereits oben erwähnt, wurde die Orgel 1692 vom Obergeschoss der sogenannten Beichtkammer im südlichen Chorflankenraum auf die Lettnerbühne verlegt. Auch in der Nutzung der ehemaligen Lettnerbühne als Plattform für die Orgel passt das Frauenstift Herford gut in das Gesamtbild von Lettnern in nachreformatorischen geistlichen Gemeinschaften, für die die nachträgliche Umfunktionierung von Lettnern zu Orgelbühnen häufig nachweisbar ist.47

Der Lettner von St. Ursula in Köln

Zur Rekonstruktion und Datierung Im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts entstand an St. Ursula in Köln (Frauenstift gegr. 922) ein repräsentativer neuer Kirchenbau, der eine kleinere, seit der Spät­ 43 Vgl. hierzu Art. „Herford – Reichsabtei“, in: Westfälisches Klosterbuch 1992 (wie Anm. 8), S. 404–412, hier S. 405 (Meinhard Pohl). 44 Vgl.  Monika Schmelzer: Mittelalterliche Lettner als Wort-Verkündigungsorte?, in: Das Münster 58 (2005), S. 359–368, hier S. 366. 45 Vgl.  Alfred Cohausz: Anmerkungen zum Herforder Bildersturm im Jahre 1532, in: Paderbornensis Ecclesia. Beiträge zur Geschichte des Erzbistums Paderborn. Festschrift für Lorenz Kardinal Jaeger zum 80.  Geburtstag am 23.  September  1972, hg.  v.  Paul-Werner Scheele, München/Paderborn/Wien 1972, S. 207–221, hier S. 216 (Bericht über den Bildersturm 1532): „[…] belde, luchter, kerssen u. anders uth der kerken genommen“. 46 So, allerdings ohne Beleg, Denecke 1949 (wie Anm.  40), S.  16: „Der reiche Schmuck der Kirche […] fiel dem Bildersturm zum Opfer. Der wertvolle Kirchenschatz verschwand, den Apostelgang riß man ab“. – Vgl. ähnlich Heinrich 2000 (wie Anm. 14), S. 342. 47 Vgl. hierzu Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 156. – Dies. 2005 (wie Anm. 44), S. 364.

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Abb. 19: Köln, ehem. Frauenstiftskirche St. Ursula, Grundriss nach der Wiederherstellung der Nach­ kriegszeit mit Lage von Lettner, Kreuzaltar, Ursulagrab und Taufstein.

antike sukzessiv erweiterte Vorgängerkirche ersetzte (Abb. 19).48 Die romanische Stiftskirche verfügte über einen wohl zweijochigen Chor ohne Krypta im Osten, der sich an ein mit Querarmemporen ausgestattetes Querhaus anschloss.49 Das Langhaus wurde mit Seitenschiffemporen versehen, auf der Empore im Westbau befand sich der Kanonissenchor. Im Zuge eines Umbaus im späten 13. Jahrhundert wurde der romanische Chor durch den jetzigen gotischen Chor ersetzt (Abb. 20).50 Zeitgleich oder kurz danach wurde das ursprünglich flachgedeckte Mittelschiff eingewölbt und eine Marienkapelle in der Form eines zweiten Seitenschiffes an das 48 Zur Baugeschichte des romanischen Kirchenbaues vgl.  Karen Künstler: St.  Ursula. Der Kirchenbau des 12. Jahrhunderts und seine Ausgestaltung bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Kier/Krings 1984 (wie Anm.  7), S.  523–545, hier S.  523–531 mit Berücksichtigung der Korrekturen zur Gestalt des Chores durch Klaus Gereon Beuckers: Köln: Die Kirchen in gotischer Zeit. Zur spätmittelalterlichen Sakralbautätigkeit an den Kloster-, Stifts- und Pfarrkirchen in Köln (Stadtspuren – Denkmäler in Köln, Bd. 24), Köln 1998, S. 312 und Gernot Nürnberger: Die Ausgrabungen in St. Ursula zu Köln, Diss. Bonn 2000 [masch.], online publiziert 2002, http://hss.ulb.uni-bonn.de/2002/0006/0006.htm [26.07.2018], S. 79–82. 49 Zu den Querhausemporen, die im 17. Jahrhundert im Zuge der Barockisierung der Kirche abgebrochen wurden, vgl. zuletzt Stead 2018 (wie Anm. 3), S. 94–96. 50 Zur Bautätigkeit des ausgehenden 13.  Jahrhunderts vgl.  Beuckers 1998 (wie Anm.  48), S. 312–315.

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Abb. 20: Köln, ehem. Frauenstiftskirche St. Ursula, Blick von der Westempore nach Osten.

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südliche Seitenschiff des romanischen Baues angefügt. Bis auf einige Umbauten im Spätmittelalter blieben die romanischen und gotischen Bauteile in ihrer gegen Ende des 13. Jahrhunderts erreichten Gestalt bis zur Barockisierung der Stiftskirche Mitte des 17. Jahrhunderts weitgehend unverändert.51 In Zusammenhang mit der Barockisierung von St. Ursula sind zwei Textquellen entstanden, die Nachweise für den ehemaligen Lettner liefern und damit den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit diesem bilden. So berichten die Kölner Historiografen Aegidius Gelenius (1595–1656) und Hermann Crombach (1598–1680) in den Jahren 1645 bzw. 1647 vom Abbruch des alten Kreuzaltars und des Lettners im Jahr 1642.52 Altar und Lettner werden von den beiden Geschichtsschreibern am Ansatz des gotischen Chores verortet: Nach Gelenius befanden sie sich „prope ingressum chori“53, laut Crombach „ad initium chori“54. Der Abriss von Lettner und Kreuzaltar wurde vorgenommen, um – so die Historiografen – eine bessere Sichtbarkeit des neuen, bereits um 1640 errichteten Hochaltars vom Langhaus aus zu erzielen.55 Somit fügt sich das Frauenstift St. Ursula wie Herford auch gut in eine allgemeine Lettnertendenz ein – in diesem Falle aber in die der Abtragung von Lettnern in katholischen Kirchen in der Barockzeit, um die Sicht auf den Hochaltar und die Eucharistie im Tabernakel freizugeben.56 Dies gilt übrigens auch für den ehemaligen Lettner in der Frauenstiftskirche St. Hippolyt (heute Pfarrkirche St. Margareta) in Gerresheim: Laut einem Visitationsbericht von 1669 51 Zu den baulichen Veränderungen im Spätmittelalter vgl. Beuckers 1998 (wie Anm. 48), S.  315  f. – Zur Barockisierung vgl. umfassend Marion Opitz: St.  Ursula. Kirche des Damenstifts (seit 1804 Pfarrkirche), in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 20 (2005) [Kölner Kirchen und ihre Ausstattung in Renaissance und Barock, Bd. 3], S. 408–434, hier insb. S. 408–416. 52 Vgl. Ludwig Arntz u.a. (Bearb.): Die kirchlichen Denkmäler der Stadt Köln. S. Ursula, Ursulinenkirche, S. Elisabeth, S. Maria Ablass, Kartause. Deutz und die übrigen Vororte, die Friedhöfe (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz, Bd. 7.3; Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln, Bd. 2.3), Düsseldorf 1934 (ND 1980), S. 20 mit Verweis auf diese beiden Schriftquellen. 53 Aegidius Gelenius: De admiranda, sacra, et civili magnitudine Coloniae Claudiae Agrippinensis Augustae Ubiorum Urbis libri IV, Köln 1645, S. 336. 54 Hermann Crombach: Vita et Martyrium S. Ursulae et Sociarum undecim millium Virginum, 2 Bde., Köln 1647, hier Bd. 1, S. 484. 55 Vgl. Gelenius 1645 (wie Anm. 53), S. 336. – Crombach 1647 (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 484. – Zum barocken Hochaltar, der 1888 abgebrochen wurde, vgl. Opitz 2005 (wie Anm. 51), S. 411–413. 56 Zu dieser Tendenz vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 156. – Dies. 2005 (wie Anm. 44), S. 366.

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sollte er abgebrochen werden, und zwar so wie bereits geschehen in der Stiftskirche St. Ursula, die in der Quelle ausdrücklich als Vorbild für die Barockisierung in Gerresheim genannt wird.57 An die Stelle des Lettners von St. Ursula trat ein Chorgitter.58 Zeitgleich wurde ein neuer Kreuzaltar eingerichtet, der zusätzlich ein Kunibertpatrozinium erhielt.59 Das Patrozinium hängt mit der Legende zusammen, wonach der heilige Kunibert während seiner Amtszeit als Bischof von Köln (amt. 617/623–663?) das Grab der heiligen Ursula bei einer Messfeier in St.  Ursula entdeckt haben soll. Als Altarbild des neuen Kreuzaltars diente möglicherweise ein noch erhaltenes Gemälde mit dem Auffindungswunder, das gemeinhin in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts datiert wird (Abb. 21).60 Marion Opitz hat zuletzt gefragt, ob „es sich bei dem Zelebrationsaltar [im Gemälde] um einen Kreuzaltar vor dem Lettner“61 handeln könne. In Hinblick auf die Bogenstellung im Hintergrund, die wohl die nördliche Langhausarkade von St. Ursula darstellen soll, ist diese Deutung aus topografischer Sicht durchaus plausibel. Bis zu den baulichen Veränderungen der Querhausarme Mitte des 17. Jahrhunderts setzten sich die romanischen Langhausarkaden bis zu den östlichen Vierungspfeilern fort, sodass es sich bei dem im Gemälde dargestellten Handlungsraum um den Vierungsbereich handeln könnte.62 Allerdings ist fraglich, ob das Gemälde das Erscheinungsbild des Lettners wahrheitsgetreu dokumentiert. Die ausgesprochen schlichte Gestaltung lässt eher auf eine vereinfachte und abstrahierte Darstellung des Lettners als Barriere zwischen Chor und Langhaus schließen: Der Lettner hat die Form einer einfachen Mauer, weist keinen Durchgang zum Hochchor auf und ist mit einem Gesims in scheinbarer Fortführung des Gesimses über der Arkade ausgestattet; zudem fehlt über dem Gesims eine Lettnerbühne. Belegen die neuzeitlichen Text- und Bildquellen die Existenz des Lettners, so liefern sie keine Hinweise auf seine Datierung, Typologie oder Nutzung. Um diese Fragen zu beantworten, müssen Indizien aus dem archäologischen bzw.  bauar-

57 Vgl. hierzu von Ditfurth 2016 (wie Anm. 7), S. 190 f. 58 Zum Chorgitter vgl. Opitz 2005 (wie Anm. 51), S. 409. 59 Zum barocken Kreuzaltar vgl. Opitz 2005 (wie Anm. 51), S. 413 f. 60 Zum Gemälde vgl. Opitz 2005 (wie Anm. 51), S. 413 f. 61 Opitz 2005 (wie Anm. 51), S. 414. 62 Zur Rekonstruktion des romanischen Langhauses vgl.  Künstler 1984 (wie Anm.  48), S. 528. – Zu den Veränderungen an den romanischen Querarmen Mitte des 17. Jahrhunderts vgl. Opitz 2005 (wie Anm. 51), S. 408.

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Abb. 21: Köln, ehem. Frauenstiftskirche St. Ursula (derzeit Leihgabe im Museum Schnütgen), Auffin­ dung des Grabes der heiligen Ursula durch den heiligen Kunibert, Öl auf Eichenholz, 1. Hälfte 17. Jahr­ hundert.

chäologischen Befund, liturgischen Quellen und erhaltenen Denkmälern zusammengeführt und in Bezug auf die ehemalige Lettneranlage ausgewertet werden. Zuerst wird es sinnvoll sein, die Ausgangslage der romanischen Stiftskirche sowie mögliche Vorstufen des Lettners kurz zu vergegenwärtigen. Über eine Schrankenanlage am Choransatz im 12. Jahrhundert ist nichts überliefert. Einen Hinweis auf eine Chorschranke an dieser Stelle im 13. Jahrhundert vor der Errichtung des

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gotischen Chorneubaues geben möglicherweise die zehn in St. Ursula erhaltenen Schiefertafeln mit gemalten Darstellungen von sitzenden Aposteln. Die Malereien werden stilistisch ins zweite Drittel des 13.  Jahrhunderts datiert.63 Die Erwähnung einer Altarweihe, wohl des Kreuzaltars, im Jahr 1224 (tatsächlich fand die Weihe 1225 statt) durch den Bischof Walter von Carlisle (amt. 1224–1246) in einer Inschrift auf der Rückseite der Philippus-Tafel könnte, wie vielfach von der Forschung angenommen, auf eine Anbringung der Tafeln an einer Querschranke hindeuten, die sich am Choransatz hinter dem Kreuzaltar befand und wohl bereits um 1225 in Zusammenhang mit dem Altar entstand.64 Der gotische Chorneubau wiederum wurde unmittelbar an das romanische Vierungsjoch angebaut. Dabei wurden die beiden östlichen Vierungspfeiler zu gotischen Bündelpfeilern umgearbeitet, was höchstwahrscheinlich auch eine Umgestaltung des gesamten Schwellenbereichs zwischen Hochchor und Vierung mit sich brachte. Die Errichtung des neuen Chores bildet daher einen möglichen Kontext für den Einbau eines gotischen Lettners unter Beseitigung der vermutlichen älteren Chorschranke am Choransatz. Leider fallen die bisherigen Bodenfunde und Baubefunde, die auf eine zeitgleiche Entstehung des Lettners mit dem gotischen Chor hindeuten würden, spärlich aus. Gernot Nürnberger hat auf einen ausgegrabenen Mauerrest im ersten Chorjoch hingewiesen, den er als „möglicherweise […] in Beziehung zu einem zu rekonstruierenden Lettner oder einer Schrankenan­ lage zu setzen“65 deutete. Der Befund lässt sich jedoch über eine Bestimmung als „romanisch oder jünger“66 hinaus nicht näher datieren, sodass nicht sicher ist, ob er einer romanischen Schrankenanlage oder einem gotischen Lettner zuzuordnen ist. Hinsichtlich des Aufgehenden vermutete Fried Mühlberg bereits 1970, dass die im nordwestlichen Chorwinkel untergebrachte gotische Spindeltreppe (siehe

63 Zur Datierung vgl. zuletzt Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, Ausst. Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn/Ruhrlandmuseum Essen, hg. v. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn/ Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, Kat. Nr. 48, S. 204 f. (Ulrike Surmann). 64 So bereits Arntz u.a. 1934 (wie Anm. 52), S. 51 und 65 f. – Zur Rekonstruktion der vermutlichen Querschranke vgl.  Clemens Kosch: Kölns Romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter (Großer Kunstführer, Bd.  207), Regensburg 2000, S.  80 mit dem Grundriss auf S. 74. – Zur Deutung der Tafeln als Teil einer Chorschranke vgl. zuletzt auch Nürnberger 2002 (wie Anm. 48), S. 82 f. – Kat. Bonn/Essen 2005 (wie Anm. 63), Kat. Nr. 48, S. 205 (Ulrike Surmann). 65 Nürnberger 2002 (wie Anm. 48), S. 101 zu Fund B074. 66 Nürnberger 2002 (wie Anm. 48), S. 197 zu Fund B074.

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Abb. 19) „auf die Lettnerempore führte“67. Allerdings führte Mühlberg keinen Beleg für diese Annahme an, die daher hypothetisch, aber nachvollziehbar bleibt.68 Mit dem Liber Ordinarius von St. Ursula aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert ist eine mittelalterliche Textquelle überliefert, die im Hinblick auf den Lettner bislang nicht herangezogen wurde.69 Eine für die Lettnerfrage aufschlussreiche Stelle betrifft die Abläufe in der Osternacht. Für die visitatio sepulchri versammelten sich die Kanonissen und Stiftskanoniker im Hochchor, „in novo choro“, um das dort aufgebaute Heilige Grab.70 Nach dem Wettlauf der Jünger zum Grab verließen die Kanonissen den Hochchor und gingen auf ihren Chor auf der Westempore, den „chorum superiorem“, hinauf.71 Der Zelebrant begab sich gleichzeitig auf den „ambo“ hinauf – „officiante diei ascendente ad ambonem“ – , von wo aus er „Chris­ tus Dominus resurrexit“ dreimal anstimmte; darauf folgte das dreifache Responsorium der Kanonissen aus ihrem Chor.72 Damit lässt sich auch für St. Ursula der in Verbindung mit mittelalterlichen Lettnern häufig anzutreffende Terminus ambo73 nachweisen, der offenbar – soviel lässt sich aus ascendente herauslesen – hochgelegen war. Wie andernorts bezeichnet ambo hier am wahrscheinlichsten einen mit Bühne ausgestatteten Lettner. Somit gewänne auch die Vermutung Mühlbergs, die Spindeltreppe im nordwestlichen Chorwinkel habe auf eine Lettnerbühne ge67 Fried Mühlberg: St.  Ursula in der kölnischen Kirchenbaukunst der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, in: Festschrift für Gert von der Osten zum 60. Geburtstag am 17. Mai 1970, Köln 1970, S. 39–76, hier S. 66. – Diese Deutung auch, jedoch mit einem Fragezeichen versehen, bei Künstler 1984 (wie Anm. 48), S. 532. 68 Das Mauerwerk vor dem Treppenschacht weist oberhalb des Gesimses zwischen Sockelund Fenstergeschoss augenscheinlich Spuren von Veränderungen auf, die zur Vermauerung eines hier platzierten, rechteckigen Zugangs von der Spindeltreppe zu einer Lettnerbühne passen könnten; ihre zeitliche Stellung muss jedoch geklärt werden. Im Treppenschacht lässt sich das Mauerwerk an der betreffenden Stelle aufgrund einer abdeckenden Mörtelschicht nicht näher untersuchen. Für die Organisation eines Ortstermins in St. Ursula sei Dr. Anna Pawlik herzlich gedankt. 69 Gertrud Wegener: Der Ordinarius des Stiftes St. Ursula in Köln, in: Aus kölnischer und rheinischer Geschichte. Festgabe Arnold Güttsches zum 65. Geburtstag gewidmet (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd. 29), Köln 1969, S. 115–132, Edition S. 118–132. – Zur Entstehungszeit vgl. Ebd., S. 116–118. 70 Wegener 1969 (wie Anm. 69), S. 127: „In nocte sancte Pasche parum post mediam noctem domina abbatissa domicellabus dominis in novo choro iuxta sepulchrum congretatis […]“. 71 Wegener 1969 (wie Anm. 69), S. 128: „Deinde ascendant puelle chorum superiorem […]“. 72 Wegener 1969 (wie Anm.  69), S.  128: „[…] officiante diei ascendente ad ambonem, qui, dum domicelle fuerint in choro superiore, cantabit ter gradatim Christus Dominus resurrexit domicellabus respondentibus ter Deo gracias […]“. 73 Zum Terminus siehe Anm. 20.

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führt, an Relevanz, wobei anders geartete Zugänge wie im Lettnerbau integrierte Treppen, mehrfach im erhaltenen Denkmalbestand belegt,74 nicht auszuschließen sind. Vor dem Lettner ist der von Gelenius und Crombach erwähnte Kreuzaltar zu rekonstruieren. In ihrer geschichtlichen Untersuchung zum Stift St. Ursula lokalisierte Gertrud Wegener den gotischen Kreuzaltar „links am Aufgang zum Chor“75, d.h. nördlich der Mittelachse. Allerdings gab sie keine weiterführende Begründung für diese Verortung an. Vermutlich basierte ihre Annahme auf einer Angabe aus dem Jahr 1366, wonach der Kreuzaltar sich in der Nähe des Grabes der heiligen Ursula – „apud tumbam s. Ursule“76 – befunden haben soll. Die legendäre Grabstelle der heiligen Ursula befindet sich im Nordquerhausarm nahe der Vierung; in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstand an dieser Stelle ein Hochgrab zur Auszeichnung der Grabstätte.77 Die Nennung dieser in seiner kultischen Bedeutung herausragenden Grabstätte zur Verortung des Kreuzaltars ist wohl allgemein als Hinweis auf die Lage des Kreuzaltars im Vierungsbereich zu verstehen und nicht zwingend als Hinweis auf eine Lage nördlich der Mittelachse. Dafür spricht die unzweideutige Angabe bei Crombach, dass der alte Kreuzaltar vor seinem Abbruch „ad initium chori in medio“78 stand, d.h. in der Mittelachse. Eine zentrale Lage des Kreuzaltars vor dem Lettner legt auch eine Stelle im Ordi­ narius nahe, die eine Kreuzesprozession der Äbtissin zusammen mit den Stiftskanonikern während der Osternacht überliefert. Äbtissin und Kanoniker umkreisen zuerst den Hochaltar, begeben sich sodann aus dem Hochchor, und zwar „iuxta altare apud baptisma“79. Gemeint ist der ehemalige Nebenaltar in der südlichen Nebenapsis, der Johannes Baptist geweiht war und sich gegenüber dem Taufstein 74 Beispielhaft hierfür seien die Lettner in Naumburg (Westlettner, um 1250) und Oberwesel (2. Drittel 14. Jahrhundert) genannt, vgl. Jung 2013 (wie Anm. 1), S. 42, Abb. 36 (Naumburg) und S. 55, Abb. 46 (Oberwesel). 75 Gertrud Wegener: Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln (Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins, Bd.  31), Köln 1971, S.  207. – Vgl. Wegeners Verortung des Kreuzaltars folgend Opitz 2005 (wie Anm. 51), S. 410. 76 Historisches Archiv der Stadt Köln, Schreinsbuch 125, fol. 125; die Quelle zitiert von Arntz u.a. 1934 (wie Anm. 52), S. 51 (dort das Zitat). 77 Zum Ursulagrab vgl. Arntz u.a. 1934 (wie Anm. 52), S. 57. 78 Crombach 1647 (wie Anm. 54), S. 484: „Ara quidem, ad quam S. Cunibertus sacris operatus est, mille ad aetatem vsque nostram annis, ad initium chori in medio“. 79 Wegener 1969 (wie Anm. 69), S. 128: „[…] et domini et domina abbatissa sumant crucem circuendo summum altare sic exeant chorum iuxta altare apud baptisma debite circuendo per consequens monasterium ad ambitum […]“.

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im Südquerhausarm befand.80 Die Nennung von einer bestimmten Seite, von wo aus die Prozession den Hochchor verlassen sollte, könnte auf zwei Durchgänge im Lettner schließen lassen, einen nördlichen und einen südlichen. Dies wäre mit einem gemittelten Kreuzaltar gut vereinbar und entspräche auch typologisch der für mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum typischen Gestalt mit zwei Türen um einen zentralen Kreuzaltar.81 Aus den verstreuten Indizien kann mit gebotener Vorsicht die Lettneranlage von St. Ursula folgendermaßen rekonstruiert werden: Mit zentriertem Kreuzaltar, zwei Durchgängen und begehbarer Bühne, die womöglich aber nicht zwingend über die Spindeltreppe im nordwestlichen Chorwinkel erschlossen wurde. Mit der Erwähnung des Lettners als ambo im Ordinarius vom Ende des 14. Jahrhunderts ist außerdem ein terminus ante quem für den Lettner gegeben, wobei eine Entstehung im späten 13.  Jahrhundert in Verbindung mit dem gotischen Chorneubau am plausibelsten erscheint.

Funktion, Bedeutung, Modifizierung Wie für Herford so stellt sich auch für St. Ursula die Frage nach Gründen für die Errichtung eines Lettners in der Frauenstiftskirche. Mit fünf Kanonikaten gab es dort eine ähnliche Zahl an Kanonikern wie in Herford.82 Ihre Hauptaufgabe bestand in der Zelebration von Hochamt und Seelenmessen.83 Ob sie zudem gemeinsam das Stundengebet verrichteten, ist nicht klar, aber vorstellbar.84 Der Kanonissenchor von St. Ursula befand sich seit dem 2. Viertel des 12. Jahrhunderts auf der Westempore, fernab des Hochchores, sodass auch hier das Vorhandensein des Lettners sich nicht aus der Separierung der Kanonissen von den Kanonikern erklären lässt. Bei St.  Ursula handelte es sich allerdings im Unterschied zu Herford nicht um eine Frauenstiftskirche mit Pfarrfunktion: Als Pfarrkirche diente seit dem 10. Jahrhundert die Kirche St. Maria Ablass, die dem Ursulastift inkorporiert

80 Zu diesem Altar und dem Taufstein vgl. Kosch 2000 (wie Anm. 64), S. 78–80. 81 Siehe Anm. 23. 82 Zur Zahl der Kanoniker vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 75), S. 107. 83 Vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 75), S. 108. 84 Vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 75), S. 109: „Ob und wieweit die Kanoniker auch am Chorge­ bet der Kanonissen teilnahmen, geht aus den Quellen nicht hervor“.

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war.85 Der Einbau eines Lettners lässt sich daher nicht auf eine duale Funktion als Stifts- und Pfarrkirche zurückführen. Dennoch könnte die Anwesenheit von Laien in der Kirche ein Grund für die Errichtung des Lettners in St. Ursula gewesen sein. Durch den ab dem 12. Jahrhundert stetig wachsenden Kult der heiligen 11.000 Jungfrauen ist von einer hohen Präsenz von Einheimischen und Pilgern in der Stiftskirche auszugehen, auch in der Nähe der Vierung bzw. des Choreingangs aufgrund der in diesem Bereich gelegenen Grabstätte der heiligen Ursula.86 Wie bereits die vermutlich ältere Chorschranke, so hätte auch der Lettner den störungsfreien Vollzug der Konventsmesse am Hochaltar und vielleicht auch des Stundengebets der Kanoniker ermöglicht. Bei einer möglichen bauzeitlichen Entstehung könnte der Lettner zudem eine wichtige Stellung im Raumkonzept des gotischen Chorbaues eingenommen haben. Neben seiner liturgischen Funktion als Ort der Konventsmesse wurde der Hochchor gleichsam „als ein großes architektonisches Reliquiar“87 konzipiert, wie Anton Legner es formulierte. Zahlreiche Reliquiennischen unter den elf Chorfenstern nahmen Reliquien der 11.000 Jungfrauen auf.88 Die Hauptreliquien des Stifts, die der Kirchenpatronin Ursula, ihres Bräutigams Aetherius sowie des heiligen Hippolytus, dessen Gebeine bei der Stiftsgründung aus Gerresheim nach St.  Ursula überführt wurden, wurden in ihren Reliquienschreinen hinter dem neuen Hochaltar auf einem von Säulen getragenen Unterbau aufgestellt, und dort durch ein hölzernes Schreinsgehäuse geschützt.89 Durch den Lettner wurde der Hochchor zu einem allseitig abgeschirmten Raum, in dem in den Schreinen Geschichte, Status und Sakralität der Stiftskirche besonders konzentriert waren. Der Lettner war deshalb vermutlich von erheblicher Signifikanz für die Wahrnehmung der Bedeutung des Chorraums bei den Kanonikern, und wohl auch bei den Kanonissen zu jenen wenigen Anlässen, bei denen sie sich nach dem Ordinarius im Hochchor aufhiel85 Vgl. Lucie Hagendorf-Nussbaum: St. Maria Ablaß (St. Maria ad Indulgentias), in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 29 (2014) [Die mittelalterlichen Kölner Pfarrkirchen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Geschichte – Architektur – Ausstattung, Bd. 2], S. 41–52, hier S. 41–44. 86 Zur Entwicklung des Kultes ab dem 12.  Jahrhundert vgl.  Frank Günter Zehnder: Sankt Ursula. Legende, Verehrung, Bilderwelt, Köln 1985, S. 36–41, 69–72. 87 Anton Legner: Kölner Heilige und Heiligtümer. Ein Jahrtausend europäischer Reliquienkultur, Köln 2003, S. 208. 88 Zu den Reliquiennischen vgl. Legner 2003 (wie Anm. 87), S. 207 f. – Zur Heiligenverehrung in St. Ursula vgl. auch den Beitrag von Tobias Kanngiesser in diesem Band. 89 Zum Schreinsgehäuse und dem Unterbau vgl. Legner 2003 (wie Anm. 87), S. 208.

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ten.90 Vielleicht war es auch Pilgern möglich, den Lettner zu bestimmten Zeiten zu passieren, um die Reliquienschreine aufzusuchen. Darauf könnte die erhöhte Plattform hindeuten, die ein Hindurchschreiten unter den Schreinen durch Pilger möglich gemacht hätte.91 Mit dem Lettner gab es zudem am östlichen Ende des Langhauses einen architektonischen Einbau, der eine monumentale Kulisse für den Kreuzaltar bildete. Als solche wurde der Lettner durch die am Kreuzaltar gefeierten Messen häufig liturgisch inszeniert. Nach dem Hochaltar dürfte es sich bei dem Kreuzaltar um den zweitwichtigsten Altar in St.  Ursula gehandelt haben.92 Ein dem Kreuzaltar zugeordneter Vikar ist zum ersten Mal 1322 urkundlich bezeugt,93 die Vikarie kann jedoch auch etwas älter sein. Der Kreuzaltar wurde auf vielfältige Weise in die Liturgie der Stiftskirche eingebunden. Neben den regelmäßigen Messen des Vikars war der Kreuzaltar ein Ort der Memoria der Stiftsmitglieder: So stiftete beispielsweise die Äbtissin Aleidis von Virneburg (amt. 1332–1334) 1334 eine Rente für eine Memorialmesse am Kreuzaltar.94 Eine von der Stadt Köln gestiftete Freitagsmesse am Kreuzaltar ist für 1493 belegt.95 Zudem ist von einzelnen Konventsmessen am Kreuzaltar auszugehen. Wenn der mehrfach im Ordinarius als „altare animarum“ bezeichnete Altar den Kreuzaltar meint, was hinsichtlich der Nutzung des Kreuzaltars für Memorialmessen und Analogiebeispielen96 plausibel erscheint, dann wurden dort die erste Weihnachtsmesse und die Messe am Festtag des heiligen Valerius, eines spanischen Königs aus dem Gefolge Ursulas, zelebriert.97 Auf 90 Neben der Präsenz der Kanonissen im Hochchor in der Osternacht (siehe oben) ist auch im Ordinarius überliefert, dass sie sich dort am Gründonnerstag versammelten, um der Messe beizuwohnen und die Vesper zu beten; vgl. hierzu Wegener 1971 (wie. Anm. 75), S. 120 und 125. 91 Vgl. Kosch 2000 (wie Anm. 64), S. 80. – Legner 2003 (wie Anm. 87), S. 208. 92 Vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 75), S. 207: „Unter den Altären der Ursulakirche nahm der Kreuzaltar als eigentlicher Seelsorgealtar eine hervorgehobene Stellung ein“. 93 Vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 75), S. 207. 94 Vgl.  Wegener 1971 (wie Anm.  75), S.  207. – Zu den Amtsdaten der Aleidis vgl.  Ebd., S. 183. 95 Vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 75), S. 131 und 207. 96 So wird beispielsweise der Lettneraltar im Lübecker Dom in einer Urkunde 1261 als „altare animarum“ bezeichnet, vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 181: „sub ambone ad altare animarum“. 97 Zu diesen Messen vgl. Wegener 1971 (wie Anm. 75), S. 123 (erste Weihnachtsmesse) und S. 124 (Messe am Fest des heiligen Valerius). – Das Grab des Valerius befand sich beim „al­ tare animarum“: vgl. Ebd., S. 124 und 129 f. – Zur Verehrung des heiligen Valerius vgl. den Beitrag von Tobias Kanngiesser in diesem Band.

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die Nutzung der Lettnerbühne für Gesang im Rahmen der Konventsliturgie in der Osterzeit wurde bereits oben verwiesen. Die Bezeichnung ambo deutet zudem, wie in Herford und andernorts, auf eine Nutzung der Lettnerbühne für Schriftlesungen hin. Neben dem Kreuzaltar sind sehr wahrscheinlich als weiterer Bestandteil der Lettnerausstattung zwei spätgotische Figuren von Maria und Johannes Evangelista anzusprechen, die heute in erhöhter Lage auf Konsolen an den östlichen Vierungspfeilern aufgestellt sind (Abb. 22). Die Haltung und die Gewandformationen, insbesondere von Maria, zeigen Verbindungen zu Marien- und Johannesfiguren aus dem Umkreis des in Köln tätigen Meisters Tilman, was eine Entstehung der Figurengruppe um 1490–1500 nahelegt.98 Größe und Gestik der Figuren weisen auf eine Zugehörigkeit zu einer ehemaligen Kreuzigungsgruppe hin, wie bereits mehrfach von der Forschung erkannt wurde, allerdings ohne dass weiterführende Gedanken zum ursprünglichen Aufstellungskontext der Figuren samt dem verlorengegangenen Kruzifix geäußert worden sind.99 Zeitgleiche Analogiebeispiele und bildliche Darstellungen von Lettnern, wie etwa die in einem Gemälde Jacob van Utrechts wiedergegebene Kreuzigungsgruppe auf dem Lettner des Frankfurter Domes (Abb. 23),100 lassen konkret an eine Bestimmung der Figuren als Teil einer mit dem Lettner zusammenhängenden Triumphkreuzgruppe denken. Ob diese spätgotische Kreuzigungsgruppe eine ältere, ebenfalls mit dem Lettner in Verbindung stehende Triumphkreuzgruppe ersetzte, ist nicht bekannt, aber vorstellbar. Jedenfalls bedeutete die Hinzufügung der Bildwerke zur Lettneranlage eine Modifizierung und Anpassung der Anlage an um 1500 herrschende Tendenzen in der lokalen Skulptur. Über die Aufstellung der Skulpturen – ob auf einem Balken bzw. Bogen über dem Lettner oder direkt auf der Lettnerbrüstung wie etwa im Gemälde

98 Zur Einordnung und Datierung vgl. Reinhard Karrenbrock: Kölner Bildschnitzerwerkstätten des späten Mittelalters (1400–1540). Zum Forschungsstand, in: Museum Schnütgen. Die Holzskulpturen des Mittelalters II, 1: 1400 bis 1540. Teil 1: Köln, Westfalen, Norddeutschland, bearb. v. Reinhard Karrenbrock (Sammlungen des Museum Schnütgen, Bd. 5), Köln 2001, S. 9–79, hier S. 44. 99 Vgl. Charles Eugene von Nostitz: Late Gothic Sculpture of Cologne, Diss. New York 1978 [masch.], Bd. 2, Nr. 76a und 76b, S. 399 (mit der Maßangabe von 1,45 m für beide Figuren). Laut ihm wurden die Figuren im 19.  Jahrhundert bzw.  am Anfang des 20.  Jahrhunderts überfasst. – Karen Künstler-Brandstädter: St. Ursula, in: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fördervereins Romanische Kirchen Köln 11 (1996) [Kölner Kirchen und ihre mittelalterliche Ausstattung, Bd. 2], S. 208–224, hier S. 217. 100 Zum Gemälde vgl. Schmelzer 2004 (wie Anm. 1), S. 36 f.

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Abb. 22: Köln, ehem. Frauenstiftskirche St. Ursula, Assistenzfiguren der heiligen Maria und des heiligen Johannes von der ehemaligen Triumphkreuzgruppe, Holz, um 1490–1500.

van Utrechts dargestellt – kann keine Aussage gemacht werden.101 In jedem Fall ist wie bei erhaltenen Triumphkreuzgruppen von einer Positionierung auf einer Achse mit dem Kreuzaltar auszugehen. In der jüngeren Lettnerforschung wird mit Recht auf die bedeutende Rolle von Triumphkreuzgruppen in der Rezeption von mittelalterlichen Lettneranlagen verwiesen. Aufgrund des Bildthemas war der inhaltliche und liturgische Bezug zwischen der Kreuzigungsgruppe über dem Lettner als Veranschaulichung des Kreuzestodes Christi und dem Kreuzaltar und den dort zelebrierten Messen besonders

101 Zu den verschiedenen Aufstellungsmöglichkeiten von Triumphkreuzgruppen in Zusammenhang mit Lettnern vgl. Manuela Beer: Triumphkreuze des Mittelalters. Ein Beitrag zu Typus und Genese im 12. und 13. Jahrhundert. Mit einem Katalog der erhaltenen Denkmäler, Regensburg 2005, S. 285. – Magirius 2010 (wie Anm. 1), S. 134–136.

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Abb. 23: Jacob van Utrecht, Der heilige Bernhard von Clairvaux im Dom zu Frankfurt, Detail mit Lett­ ner und Triumphkreuzgruppe, 1. Viertel 16. Jahrhundert.

augen- und sinnfällig.102 Spätestens mit der spätgotischen Kreuzigungsgruppe gab es auch in St. Ursula ein solches sinnstiftendes Beziehungsgeflecht zwischen Kreuzaltar und Kreuzgruppe. Das verlorengegangene Kruzifix stellte eine bildliche Vergegenwärtigung des Leibes dar, der am Kreuzaltar verwandelt wurde. Darüber hinaus lieferten die gefühlsbetonten Reaktionen von Maria und Johannes auf die Kreuzigung ein Vorbild für eine emotionelle Anteilnahme des Betrachters am Kreuzesgeschehen. Bei der Feier vom Hochamt am Hochaltar hätte die monumentale Figuration der Kreuzigung zudem das sich hinter dem Lettner abspielende Mysterium für anwesende Laien bildhaft vor Augen geführt, während diese selbst wohl wenig vom Geschehen durch Öffnungen im Lettner sehen und vor allem die Gesänge hören und Weihrauch riechen konnten.103 So ist anzunehmen, dass die Lettneranlage von St. Ursula in ihrer Gesamtheit aus Architektur und Ausstattung 102 Vgl. hierzu Beer 2005 (wie Anm. 101), S. 282–287. – Magirius 2010 (wie Anm. 1), S. 131, 134 und 138. – Jung 2013 (wie Anm. 1), S. 46–53. 103 Zur Mystifizierung von der im Hochchor gefeierten eucharistischen Feier durch Lettneranlagen vgl. Schmelzer 2010 (wie Anm. 1), S. 144 f. – Jung 2013 (wie Anm. 1), insb. S. 72–80.

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von wesentlicher Bedeutung für die Wahrnehmung der liturgischen Abläufe in der Stiftskirche war, und zwar sowohl bei den vor dem Lettner abgehaltenen Zeremonien als auch bei jenen, die hinter dem Lettner im Hochchor stattfanden.

Fazit

Die ehemaligen Lettneranlagen von St. Marien und Pusinna in Herford und St. Ursula in Köln zeugen von der wichtigen Stellung, die diese architektonischen und liturgischen Einbauten in ihrer jeweiligen Frauenstiftskirche einnahmen. In beiden Fällen, wie in anderen Frauenstiftskirchen auch, lässt sich der Lettner nicht als Modalität der Abgrenzung der Kanonissen von den Klerikern erklären, da die Kanonissen durch die Frauenempore von diesen separiert waren. Vielmehr dienten beide Lettner dazu, eine größere Anzahl an Stiftsklerikern im Hochchor von Laien im Langhaus zu trennen. Hinsichtlich ihrer Funktion und Bedeutung lassen die Lettneranlagen von St. Marien und Pusinna und St. Ursula vielfache Parallelen mit Lettnern aus anderen Zusammenhängen erkennen. Wie andernorts entstand mit dem Lettner ein besonders bedeutsames liturgisches Zentrum im Vierungsbereich der jeweiligen Stiftskirche, vor allem dank der Verbindung des Lettners mit dem Kreuzaltar. Bei den dort gefeierten Messen – ob Pfarr- bzw. Volks-, Memorial-, oder Konventsmessen – wurde der Lettner liturgisch inszeniert, zudem lässt sich bei beiden Lettnern eine Nutzung der Bühne für Lesungen vermuten. Auch andere Nutzungen der Lettnerbühne, wie z.B. zum Anstimmen von Gesängen im Rahmen der Stiftsliturgie von St. Ursula, lassen sich belegen. Spätestens im 15. Jahrhundert wurden beide Lettneranlagen sehr wahrscheinlich mit Bildwerken ausgestattet, in Herford mit einer Apostelreihe, in St. Ursula mit einer Triumphkreuzgruppe. Wie bei der Funktion und Nutzung zeigen sich auch hierin Parallelen zu Lettnern in anderen Kontexten, was ebenfalls für das jeweils unterschiedliche Schicksal der beiden Lettner in nachmittelalterlicher Zeit gilt.

Zusammenfassung

Die jüngere Lettnerforschung hat das Wissen über die Typologie und Nutzung mittelalterlicher Lettner erheblich erweitert und zugleich Möglichkeiten und Grenzen bei der Rekonstruktion erhaltener und verlorengegangener Lettner in

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den Fokus gerückt. In dem bisherigen Forschungsdiskurs haben mittelalterliche Lettner in Frauenstiftskirchen eine marginale Stellung eingenommen. Der vorliegende Beitrag fokussiert die Funktion, Bedeutung und Modifizierung mittelalterlicher Lettner in Frauenstiftskirchen am Beispiel der ehemaligen Lettneranlagen von St.  Marien und Pusinna in Herford und St.  Ursula in Köln. Der Fokus auf diesen Fallbeispielen aus zwei hochrangigen Frauenstiften ergibt sich aus der günstigen Überlieferungslage zu beiden Lettnern, die in mittelalterlichen und neuzeitlichen Schriftquellen, Bildquellen sowie anhand von archäologischen Funden bzw. Baubefunden greifbar sind. Anhand dieser Indizien lassen sich beide Lettner zum Teil rekonstruieren und datieren. Mit beiden Lettneranlagen lassen sich sehr wahrscheinlich auch spätmittelalterliche Bildwerke in Verbindung bringen. In beiden Fällen ist die Errichtung eines Lettners am Choreingang nicht auf die Separierung der Kanonissen von männlichen Geistlichen zurückzuführen, da die Kanonissen in der jeweiligen Kirche durch eine Frauenempore von diesen abgetrennt waren. Wie bei anderen mittelalterlichen Lettnern in Frauenstiftskirchen erklärt sich das Vorkommen auch dieser Lettner aus der größeren Anzahl an Stiftsklerikern in der jeweiligen Frauenstiftskirche, die im Hochchor die Konventsmesse zelebrierten und möglicherweise auch dort das Stundengebet verrichteten, sodass die Abschirmung des Hochchors gegenüber dem Langhaus als Laienraum notwendig wurde. Zugleich entstand mit dem Lettner ein besonders bedeutsames liturgisches Zentrum im Vierungsbereich der jeweiligen Kirche, vor allem dank des vor dem Lettner situierten Kreuzaltars. Neben der liturgischen Inszenierung des Lettners durch die am Kreuzaltar gefeierten Messen wurden die Bühnen beider Lettner wahrscheinlich für Schriftlesungen benutzt, für St.  Ursula lässt sich zudem eine Nutzung der Bühne zum Anstimmen von Gesängen im Rahmen der Konvents­ liturgie belegen. Hinsichtlich ihrer Bildausstattung lassen beide Lettner Parallelen mit Lettnern in anderen Kontexten erkennen. So reiht sich die Gruppe spätgotischer Apostelfiguren in Herford in die Serie von dokumentierten Fällen (auch in Frauenkonventen) von Apostelreihen als Schmuck für den Lettner ein. Die heute auf Konsolen im Chorbogen aufgestellten spätgotischen Figuren von Maria und Johannes Evangelista in St. Ursula lassen sich als Teil einer ehemaligen, auf oder über dem Lettner angebrachten Triumphkreuzgruppe identifizieren. Wie bei anderen Lettnern stellte auch das heute verlorengegangene Kruzifix dieser Kreuzgruppe eine Vergegenwärtigung des Leibes Christi dar, der in den am Kreuzaltar gefeierten Messen

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vor dem Lettner, aber auch in den am Hochaltar zelebrierten Messen hinter dem Lettner verwandelt wurde. Parallelen zu Lettnern in anderen Zusammenhängen zeigen sich zuletzt auch beim Schicksal beider Lettner in nachmittelalterlicher Zeit. In Herford, wo das Frauenstift nach der Reformation in ein evangelisches Damenstift umwandelt wurde, wurde der Lettner bis 1870 beibehalten, modifiziert und schließlich als Orgelbühne umfunktioniert. Die für 1642 dokumentierte Abtragung des Lettners von St. Ursula hingegen fügt sich in die allgemeine Tendenz zur Beseitigung von Lettnern in katholischen Kirchen in der Barockzeit ein.

Summary

Recent research on choir screens has considerably expanded our knowledge about the types and uses of medieval choir screens and has simultaneously drawn attention to possibilities and limits in the reconstruction of extant and lost monuments. Medieval choir screens in female collegiate churches have hitherto occupied a marginal place within this recent discourse. This essay examines the function, significance, and modification of medieval choir screens in female collegiate foundations through focused analysis of the former choir screens in St. Mary and Pusinna in Herford and St. Ursula in Cologne. The focus on these examples from two highranking female foundations issues from the relatively wide range of documentation for both screens, which are traceable in medieval and early modern textual sources, in visual representations, and through archaeological finds and features of their churches’ architectural fabric. Using these indications, both screens can be partially reconstructed and dated. Moreover, late medieval sculptures can most likely be connected with these screens. In both cases, the installation of a screen at the threshold of the liturgical choir did not stem from a need to separate canonesses from male clergy, for at each church the canonesses were already separated from clergymen by means of a gallery. Rather, as with other instances of choir screens in female collegiate churches, the screens can be attributed to the existence of a sizeable cohort of clergymen in each collegiate church who celebrated the conventual mass and perhaps also the canonical hours and who thus required a means of shielding the liturgical choir from lay visitors in the nave.

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At the same time, the choir screen served as a particularly important liturgical site in the crossing of each church, above all owing to the Cross altar located in front of the screen. In addition to the liturgical staging of the screen through masses held at the Cross altar, the platforms of both screens were likely used for liturgical readings and, in the case of St. Ursula, also for the intoning of antiphons during the conventual liturgy. In terms of their sculptural decoration, the screens fit into patterns found amongst screens in other contexts. In Herford, a group of late Gothic apostle figures accords with other documented cases (also in other female communities) of series of apostles as decoration of the screen. At St. Ursula, late Gothic figures of Mary and John the Evangelist, now presented on consoles in the triumphal arch, can be associated with the choir screen as part of a Crucifixion group installed atop or above the screen. As with other choir screens, this group’ s now lost crucifix provided a visualisation of the body of Christ celebrated in the Eucharist both at the Cross altar and at the high altar behind the screen. Finally, both choir screens show connections with screens in other contexts with respect to their post-medieval fate. In Herford, converted after the Reformation into a Protestant female collegiate foundation, the screen was preserved until its demolition in 1870, remodelled, and ultimately used as an organ loft. At St. Ursula, by contrast, the destruction of the screen, documented for 1642, accords with the pattern of removal of choir screens in Catholic churches in the Baroque era.

Mittelalterliche Taufgefäße in Frauenstiften – Überlegungen zur Spezifik des Denkmalbestands Jörg Widmaier

In der Lebensbeschreibung der heiligen Christina (verst. 1224) gibt Thomas von Cantimpré (verst. 1270 oder 1272) im 13. Jahrhundert eine bemerkenswerte Episode aus dem Leben jener jungen Frau wieder, die zeitweise als Reklusin und zuletzt als Halbreligiöse im Benediktinerinnenkloster St. Truden lebte.1 Vom Geiste ergriffen sei Christina kopfüber in das Taufbecken der Pfarrkirche von Wellen (Provinz Limburg) gesprungen.2 Der Bericht verfolgt das Ziel der Konstruktion von Heiligkeit und bedient sich der Vorstellung von den drei Stadien geistlichen Lebens nach Wilhelm von Saint Thierry (verst.  1148).3 Der Sprung in das Taufbecken versinnbildlicht dabei den Übergang der Seele vom animalischen zum verstandesmäßigen-rationalen Stadium. Die Taufe dient den Zeitgenossen als erzählerisches Moment, das Artefakt – dessen Typus zeitgleich in zahlreichen Pfarr-, aber auch Stiftskirchen zur Ausstattung gehörte – ist Instrument des seelischen Aufstiegs und der moralischen Steigerung (Abb. 24). Für das Kloster St. Truden wurde das Gefäß aufgrund der genannten Geschichte so bedeutsam, dass das ArDort heißt es: „Es geschah nämlich eines Tages, dass sie, getrieben durch den Geist, mit äu­ ßerster Entschlossenheit zu einer Kirche in der Stadt, welche Guelleir genannt wurde, floh, und nachdem sie bemerkt hatte, dass der heilige Taufquell geöffnet war, tauchte sie in jenem zur Gänze unter. Nach diesem Vorfall soll sie es dort erreicht haben, dass von da an ihr Lebensziel den Menschen zuliebe gemildert war, ferner behandelte sie diese sanfter und konnte die Ge­ rüche der Menschen besser erdulden und unter den Menschen leben“ (Übersetzung d. Verf.). Vgl. Suzan Folkerts: Voorbeeld op schrift. De overlevering en toe-eigening van de vita van Christina Mirabilis in de late middeleeuwen (Middeleeuwse Studies en Bronnen, Bd. 124), Hilversum 2010, S. 35. 2 Das Taufbecken befindet sich heute im Museum The Met Cloisters in New York (Inv. Nr. 47.101.21) und stellt ein Exemplar jenes kanonisierten Taufgefäßtypus dar, der vor allem in den Bistümern Lüttich, Utrecht und Köln im 12. Jahrhundert regelhaft Verbreitung fand. 3 Vgl. Maria Pretzschner: Sanctae modernae in diebus nostris? Hagiographische Konzeptionen weiblicher vita religiosa im Umfeld der Mendikanten, Diss. Dresden 2015 [masch.], online publiziert 2015, S.  72  f., http://www.qucosa.de/fileadmin/data/qucosa/documents/23268/Dissertation_fertig_PDF.pdf [03.02.2019].

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Abb. 24: Wellen (Provinz Limburg), Taufbecken, 12. Jahrhundert, heute in The Met Cloisters, New York, Inv. Nr. 47.101.21.

tefakt 1890 in den Klosterbesitz überging und dort neben dem Altar der heiligen Christina inszeniert wurde, bevor 1947 der Verkauf zum heutigen Standort nach New York erfolgte.4 Ausgehend von dieser Anekdote möchte der folgende Beitrag das Verhältnis von Taufgefäßen und Frauenstiften beleuchten. Im Zentrum der Untersuchungen stehen dabei jedoch nicht die Heiligenviten oder andere Schriftquellen, sondern die Taufgefäße als Liturgiegeräte, Kunstwerke und im Kirchenraum präsente Medien religiösen Wissens. Gesellschaftliche Zusammensetzung und religiöse Aufgaben in Frauenstiften sind als spezifisches Diskurs- und Forschungsfeld analysierbar. Im Folgenden steht die Frage im Fokus, wie sich diese Zusammenhänge in der Produktion, dem Gebrauch und der Wahrnehmung der zugehörigen Taufgefäße niedergeschlagen haben.

Bestand und Provenienz mittelalterlicher Taufgefäße

Aus dem späteren Mittelalter hat sich eine erstaunliche Menge an Taufgefäßen erhalten. Zwar ist von einer nicht unerheblichen Fehlstelle im ursprünglichen Be4 Jean-Claude Ghislain: A Twelfth-Century Baptismal Font from Wellen, in: Metropolitan Museum Journal 44 (2009), S. 37–46.

Mittelalterliche Taufgefäße in Frauenstiften  |

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stand auszugehen, doch vermitteln die erhaltenen Artefakte einen Eindruck der Vielfältigkeit, beispielweise durch unterschiedliche Materialität, Form, Originalität und auch Programmatik.5 Nur etwa ein Fünftel dieser erhaltenen Taufgefäße ist figürlich gestaltet, das meint mit Ornamenten, Bildern und Inschriften versehen.6 Abgesehen von den theologischen und liturgischen Schriftquellen stellen solche Taufbecken die bedeutendste materielle Quellengruppe des mittelalterlichen Taufsakramentes dar.7 Selbst einfach gestaltete Taufbecken sind als Zeugnisse der Landes- und Kirchengeschichte zu verstehen. Beispielsweise ist der überwiegend erhaltene Bestand hoch- und spätmittelalterlicher Objekte aussagekräftig für die historischen Entwicklungen in einzelnen Regionen. Betrachtet man etwa die historische Kirchenprovinz Köln, so spiegelt das massen- wie regelhafte Auftreten der Quellengruppe ‚Taufbecken‘ im 11. bis 13. Jahrhundert die Ausbildung der flächendeckenden Pfarrsysteme wieder und belegt zugleich die damit einhergehenden Ausstattungsphasen und Stiftungstätigkeiten. Verteilungsmuster und wiederkehrende Artefakttypen erlauben zudem im Einzelfall die Rekonstruktion kirchenrechtlicher Zusammenhänge oder Bezugnahmen. Für einen Überblick zum erhaltenen Bestand mittelalterlicher Taufgefäße steht mittlerweile ein größerer Umfang an Forschungsarbeiten mit primär sammelndinventarisierender Zielsetzung zur Verfügung, die mit ihren jeweiligen Unter-

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Die Synode von Lérida schreibt bereits im Jahr 524 n. Chr. den Stein als ideales Material für die Fertigung von Taufgefäßen vor, schließt weitere Materialien jedoch nicht aus. Ebenso wiederholen es die Canones Reginonis (899), die Synodes ad presbyteres des Retherius von Verona (11. Jahrhundert) und Gratianus (ca. 1150) sowie die Synodalstatuten von Breslau (1446). Auch Durandus von Mende nennt zwar noch Ende des 13. Jahrhunderts den Stein im Sinne seiner christologischen Ausdeutung der Materialität von Taufgefäßen als idealen Rohstoff, stellt jedoch auch die Verwendung anderer vas conveniens frei. Für den erhaltenen mittelalterlichen Bestand an Taufgefäßen in Deutschland hat Silvia Schlegel beispielsweise herausgearbeitet, dass weniger als 10 % aus Metall gearbeitet sind. Vgl. hierzu weiterführend: Silvia Schlegel: Mittelalterliche Taufgefäße. Funktion und Ausstattung (Sensus. Studien zur mittelalterlichen Kunst, Bd. 3), Köln 2012, S. 201. 6 Jörg Widmaier: Artefakt – Inschrift – Gebrauch. Zu Medialität und Praxis figürlicher Taufbecken des Mittelalters, Büchenbach 2016, S. 75. 7 Zudem sind auch kleinere Gefäße für Chrisam oder ähnliche Öle sowie Textilien zu nennen. Vgl. Viktor Heinrich Elbern: Baptizatus et confirmatus. Ein neuer Beitrag zum frühmittelalterlichen Chrismale, in: Fructus operis III. Ausgewählte kunsthistorische Schriften aus den Jahren 1961–2007. Zum 90. Geburtstag des Verfassers, hg. v. Michael Brandt, Regensburg 2008, S. 431–450.

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suchungsräumen einen Großteil Europas abdecken.8 Eine länderübergreifende Perspektive bieten Datenbanken wie ‚Baptisteria Sacra: An Iconographic Index of Baptismal Fonts‘ der Universität Toronto.9 In jüngster Zeit sind vermehrt funktions- und diskursorientierte Arbeiten zu mittelalterlichen Taufgefäßen vorgelegt worden, die sowohl liturgische, geschichtswissenschaftliche wie kommunikationstheoretische Perspektivierungen vornehmen.10 Mit diesem Perspektivwechsel rücken vermehrt Fragen der spezifischen Leistung des Mediums, der Nutzungszusammenhänge und der Inszenierung in den Blickpunkt.

8 Ernst Sauermann: Die mittelalterlichen Taufsteine der Provinz Schleswig-Holstein, Lübeck 1904. – Raphael Ligtenberg: Romaansche doopvonten in Nederland, in: Bulletin van de Nederlandschen Oudheidkundigen 8 (1915), S. 154–190 und S. 236–252. – Lars Petersson Tynell: Skånes medeltida dopfuntar, Stockholm, Bd. 1–4, 1913–1921. – Johnny Roosval: Die Steinmeister Gottlands. Eine Geschichte der führenden Taufsteinwerkstätte des schwedischen Mittelalters, ihrer Voraussetzungen und Begleit-Erscheinungen (Kungliga Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien. Arkeologiska monografier, Bd.  11), Stockholm 1918. – Georg Pudelko: Romanische Taufsteine, Berlin 1932. – Mouritz Mackeprang: Danmarks middelalderlige døbefonte, Højbjerg 1941. – Karl Noehles: Die westfälischen Taufsteine des 12. und 13. Jahrhunderts, Münster 1953. – Ger de Leeuw: Drentse Doopvonten van Bentheimer Zandsteen, Assen 1977. – Folke Nordström: Mediaeval baptismal fonts. An iconographical study (Acta Universitatis Umensis. Umeå studies in the humanities, Bd.  6), Stockholm 1984. – Jadwiga Kuczyńska: Sredniowieczne chrzcielnice kamienne w Polsce, Lublin 1984. – Wolfgang Teuchert: Taufen in Schleswig-Holstein. Taufen in Stein, Bronze und Holz vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Kleine SchleswigHolstein-Bücher, Bd.  37), Heide 1986. – Rudolf Christiner: Mittelalterliche Taufbecken in Österreich. Eine formalgeschichtliche und ikonographische Untersuchung (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz, Bd. 92), Graz 1993. – Colin Stuart Drake: The Romanesque fonts of Northern Europe and Scandinavia, Woodbridge 2002. – Regnerus Steensma: Bentheimer doopvonten en wijwaterbekkens in Nederland, in: Jaarboek voor liturgie-onderzoek 23 (2007), S. 103–120. – Jean-Claude Ghislain: Les fonts baptismaux romans en pierre bleues des ateliers du Namurois (ca. 1150–1175), Ausst. Kat. Musée Provincial des Arts Anciens Namur (Monographies du Musée des Arts Anciens du Namurois, Bd. 44), Namur 2009. – Stefanie Meier-Kreiskott: Spätgotische Taufsteine im deutschen Südwesten, München 2011. – Schlegel 2012 (wie Anm. 5). 9 [online] http://www.library.utoronto.ca/bsi/ [03.02.2019]. – Vgl. hierzu: Harriet M. Sonne de Torrens/Miguel A. Torrens Alzu: Baptisteria sacra: índice iconográfico de pilas bautismales, in: Románico. Revista de arte de amigos del románico 2 (2006), S. 21–23. 10 Schlegel 2012 (wie Anm. 5). – Harriet M. Sonne de Torrens/Miguel A. Torrens Alzu (Hg.): The visual culture of baptism in the Middle Ages. Essays on medieval fonts, settings and beliefs, Farnham 2013. – Widmaier 2016 (wie Anm. 6). – Frances Altvater: Sacramental theology and the decoration of baptismal fonts: incarnation, initiation, institution, Newcastle upon Tyne 2017.

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Funktion und Aufstellungsort mittelalterlicher Taufgefäße

Mittelalterliche Taufgefäße sind Becken mit großem Fassungsvermögen für geweihtes Taufwasser. Die Artefakte dienen primär zur Aufbewahrung11 und Weihehandlung des Wassers und zur Ausspendung des Sakraments.12 Die Taufgefäße des Hoch- und Spätmittelalters sind in ihrer formalen Ausgestaltung, wie beispielsweise die Höhenentwicklung, als Anpassung an die Taufe von Säuglingen zu verstehen. Gleichwohl unterscheiden sich die Artefakte aufgrund von differenzierten liturgischen Funktionen. So bleiben an den diversen Aufstellungsorten verschiedener Kirchentypen – beispielsweise Pfarr-, Stifts- oder Klosterkirche – insbesondere Grad und Häufigkeit ihrer sakramentalen Verwendung zu unterscheiden. Grundlegend ist eine zeitgenössische Differenzierung zwischen alltäglicher Taufhandlung und jenen festtäglichen Weihehandlungen, welche die Weihe des Taufwassers als primäres Ziel haben.13 Die feierlichen Weihe- bzw. Taufhandlungen – an Ostern oder Pfingsten – stehen dabei in einer langen Tradition der ursprünglich verbindlichen Tauftermine und sind Dom-, Stifts- oder Klosterkirchen zuzuschreiben, sofern inkorporierte Pfarreien angeschlossen sind. Ihre Funktion ist also in jedem Fall das Bewahren des geweihten Taufwassers, für einen Teil ist die Weihehandlung am Taufwasser – die benedictio fontis – belegbar, für den Großteil der Artefakte bleibt schließlich auch der Vollzug des Taufsakramentes im pfarrrechtlichen Zusammenhang anzunehmen.14 Die beiden zu unterscheidenden Tauffeiern lassen 11 Auch weitere praktische Aufgaben wie die Entsorgung von geweihten Flüssigkeiten konnten am Taufgefäß geschehen, wenn dieses beispielsweise über einen Abfluss verfügte und so unterirdisch mit einer Sakrarienanlage kombiniert gewesen ist. Vgl. hierzu: Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 62–71. 12 Im Verlauf des Mittelalters haben durch Eintauchen des Körpers (immersio), durch Übergießen (infusio), durch Besprengen (aspersio) oder durch nur partielles Übergießen (affu­ sio) differenzierende Praktiken nebeneinander bestanden. Die tatsächliche Taufpraxis ist deutlich von der theoretisch-theologisch präferierten Symbolik der immersio zu unterscheiden, wie sie sich auch in den liturgischen Quellen durch das Festhalten am Begriff der mer­ sio tradiert hat. Vgl. hierzu Schlegel 2012 (wie Anm. 5), S. 82 f. 13 Silvia Schlegel: Festive vessels or everyday fonts? New considerations on the liturgical functions of medieval baptismal fonts in Germany, in: Sonne de Torrens/Torrens Alzu 2013 (wie Anm. 10), S. 129–147. 14 Andreas Odenthal: Pfarrlicher Gottesdienst vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Eine Problemskizze aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive, in: Die Pfarrei im späten Mittelalter, hg. v. Enno Bünz/Gerhard Fouquet (Vorträge und Forschungen, Bd. 77), Ostfildern 2013, S. 157–212, hier S. 182 sowie S. 203. – Schlegel 2012 (wie Anm. 5), S. 82 f. – Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 41 f.

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sich daher vor allem anhand folgender Merkmale differenzieren: Als Zeitpunkt der repräsentativen Feier ist die Osterzeit angedacht, alternativ kann noch Pfingsten als Tauffest inszeniert werden. Die alltägliche Taufe kennt derartige Zeitfestlegungen nicht. Als Zelebrant für die repräsentative Taufe ist der Bischof anzusehen, dessen Aufgabe vor allem die Taufwasserweihe in der Kathedrale darstellt. Diesem Ritus kann sich eine repräsentative Taufhandlung anschließen, doch werden selbst in der Ostervigil nur wenige Kinder vom Bischof selbst getauft. Denn neben diesem Akt finden immer auch Taufhandlungen durch Priester in den umliegenden Kirchen statt, die vom bischöflichen Taufwasser und Chrisam legitimiert sind. Es wird berichtet, dass der Bischof in der Ostervigil nur wenige Kinder „antaufe“, bevor er die Aufgabe an die umliegenden Pfarreien abgibt.15 Auch Durandus von Mende (verst. 1296) verweist Ende des 13. Jahrhunderts darauf, dass er in seiner Liturgieerklärung, dem Rationale Divinorum Officiorum, die übliche Taufhandlung nicht mehr beschreibe, da diese eben Sache der einfachen Priester und ihrer Pfarreien sei.16 Auch abseits dieser weihenden und sakramentalen Handlungen kommt dem Taufgefäß aufgrund seiner Rolle und Präsenz im Zuge des Taufsakraments ebenso in hohem Maße theologische Implikation und symbolische Bedeutung zu.17 So werden Taufgefäße auch außerhalb des sakramentalen Vollzugs oder der Benediktion zum Ziel von Prozessionen und zum Ort des öffentlichen wie privaten Taufgedächtnisses und Gebets, aber auch zum Zeugnis des Rechtsstatus oder des Abhängigkeitsverhältnisses eines Sakralbaus.18 Taufgefäße sind als Liturgiegeräte in unterschiedlichen Aufstellungsorten wie Pfarr-, Stifts-, Kloster- oder Domkirchen zu finden und zeichnen sich durch sehr unterschiedliche Formen der künstlerischen Ausgestaltung und der inhaltlichen Programmatik aus. Der Taufort kann 15 D.h. dass die alltägliche Taufe auch zeitgleich zur repräsentativen Tauffeier stattfinden konnte und diese sogar ergänzen konnte. Möglicherweise gehörte es sogar konstitutiv dazu, dass dem Antaufen durch den Bischof weitere Taufen in zugehörigen Pfarreien folgten. Vgl. Schlegel 2012 (wie Anm. 5), S. 84 f. und 92 f. 16 Bruno Kleinheyer: Sakramentliche Feiern. 1. Die Feier der Eingliederung in die Kirche, in: Gottesdienst der Kirche, hg. v. Hans Bernhard Meyer u.a. (Handbuch der Liturgiewissenschaft, Bd. 7,1), Regensburg 1989, S. 96–136, hier S. 125. 17 Timoteo J. Ofrasio: The baptismal font. A study of patristic and liturgical texts (Thesis ad lauream, Bd. 149), Rom 1990, S. 70. 18 Andreas Odenthal hat in diesem Zusammenhang auf die altrömische Ostervesper in der Osterwoche verwiesen, die mit einer Prozession zum Taufbrunnen verbunden war und damit eine liturgische „Rolle“ des Taufsteins auch jenseits konkreter Taufen belegt; vgl. Odenthal 2013 (wie Anm. 14), S. 192.

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Abb. 25: Lippstadt-Cappel (Kreis Soest), ehem. Stiftskirche St. Maria und Andreas, Rekonstruktion des Taufortes nach archäologischem Befund sowie mit Taufgefäß aus Lippborg; im Gewölbefeld darüber sind Reste der Majestas Domini zu erkennen.

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darüber hinaus als aufwendige, in den Boden eingetiefte Anlage ausgebildet sein und prominente – das meint etwa erhöhte – Stellen im Kirchenraum einnehmen.19 In der ehemaligen Prämonstratenserinnenklosterkirche in Cappel bei Lippstadt beispielsweise bildet die heute rekonstruierte Taufanlage, die mit aufwendigem Stufenpodest zentral und axial im Kirchenschiff zu liegen kommt, eine Einheit mit der Malerei im Gewölbezwickel, die Reste einer Majestas Domini zeigt (Abb. 25). Diese Form der repräsentativen Raumeinbindung vermittelt ein umfassenderes Bild der materiellen Ausgestaltung der Taufe in Form komplexer und raumgreifender Taufanlagen, als es die Analyse jener, in diesem Punkt, äußerst zurückhaltenden Schriftquellen zu zeigen vermag.

Medialität der mittelalterlichen Taufgefäße

Der vorliegende Beitrag stellt figürliche Taufgefäße vor, deren programmatische Ausstattung im jeweiligen funktionalen und historischen Kontext betrachtet wird. Zwar haben auch nicht figürlich gestaltete Artefakte einen medialen Charakter, da auch hier Funktion, Form und Material bedeutungstragend sein können, jedoch sind die Möglichkeiten der Kontextualisierung deutlich erschwert. Zielt man auf die Frage ab, wie mittelalterliche Taufgefäße als Medien funktionieren, also welche kommunikativen, ästhetischen, rituellen aber auch sozialen Verfahrensweisen mit der Produktion, der Aufstellung, der liturgischen Verwendung und nicht zuletzt mit der Wahrnehmung von Taufgefäßen im 12. und 13. Jahrhundert erprobt wurden, so bietet es sich an, vor allem figürliche Taufgefäße zu analysieren. Lässt sich die Bildpraxis und die Frage der darauf ausgelegten medialen Gestaltung dieser Artefakte anhand der liturgischen Quellen kaum entnehmen, so erscheint es sinnvoll, sich den Taufgefäßen selbst zuzuwenden. Ein Überblick zum erhaltenen Bestand macht deutlich, dass sich die Produktion von Taufgefäßen in zwei zu differenzierenden Verfahrensweisen vollzog. Unterscheiden lassen sich zum einen Einzelanfertigungen für bestimmte Kirchen, die auf konkrete liturgische, kirchengeschichtliche oder politische Gegebenheiten vor Ort angepasst sind. Zum anderen lassen sich Serienproduktionen benennen, die anhand einheitlicher ornamentaler, 19 Abseits der zahlreichen und durchaus zeitlich, räumlich und kulturell zu differenzierenden Äußerungen zum Standort des Taufgefäßes in mittelalterlichen Quellen ermöglichen archäologische Aufschlüsse im Idealfall Aussagen zum Ort und zur Inszenierung der Taufe. Vgl. Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 52 f.

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stilistischer oder auch typologischer Merkmale erkannt und in ganz verschiedenen Aufstellungsorten platziert werden können. Solche Artefakte sind kanonisierte Formen, die entweder durch Werkstattzusammenhang, durch Verbreitung einheitlicher Vorlagen in Musterbüchern oder durch gezielte Angleichung für symbolische Zwecke erklärbar sind.20

Taufe in Frauenhand?

Die Taufhandlung der mittelalterlichen Kirche wird allgemein als sakramentale Handlung traditionell mit der Tätigkeit des Priesters, Klerikers oder Bischofs assoziiert. Gleichwohl ist belegbar, dass auch Frauen Aufgaben im Zuge der Taufe übernommen haben, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlicher Weise und aus ganz unterschiedlichen Motivationen heraus. Einen frühen Hinweis auf diese Tätigkeit bietet die kanonische Rechtssammlung Statuta Ecclesiae Antiqua, die in der zweiten Hälfte des 5.  Jahrhunderts in Gallien erstellt wurde. Dort wird zwar ein generelles Taufverbot für Frauen genannt, zugleich jedoch das kirchliche Amt des weiblichen Diakonats beschrieben. Nur Witwen und Nonnen ist es erlaubt, im Zuge der Taufvorbereitung und der Taufunterweisung in Erscheinung zu treten.21 Auch wenn die Möglichkeit der Einflussnahme vermutlich auf 20 Beispiele sind etwa die sogenannten Bentheimer Taufgefäße, die zum Teil eines Werkstattzusammenhangs entstammen, vermutlich auf gemeinsame Vorlagen zurückgeführt werden können sowie letztlich im 13. Jahrhundert zum Symbol für das Tauf- und Pfarrrecht werden und als solches auch kopiert werden. Vgl. Jörg Widmaier: Sündenmetaphorik in Serie? Zum Aussagepotential der sogenannten Bentheimer Taufbecken als materielles Zeugnis einer mittelalterlichen Taufvorstellung, in: Bentheimer Jahrbuch 2018, S. 261–296. 21 „Viduae uel sanctimoniales, quae ad ministerium baptizandarum mulierum eliguntur, tam instructae sint ad id officium, ut possint aperto et sano sermone docere imperitas et rustica­ nas mulieres, tempore quo baptizandae sunt, qualiter baptizatoris ad interrogata respondeant et qualiter accepto baptismate uiuant“ (Statuta Ecclesiae Antiqua c.100, in: Concilia Gallia, hg. v. C. Munier, Bibliothèque de l’Institut de Droit Canonique de l’Université de Strasbourg Bd. 5, Paris 1960, S. 99). Vgl. hierzu auch Gregor Predel: Vom Presbyter zum Sacerdos. Historische und theologische Aspekte der Entwicklung der Leitungsverantwortung und Sacerdotalisierung des Presbyterates im spätantiken Gallien (Dogma und Geschichte, Bd. 4), Münster 2005, S. 120 f. – Sabrina Meckel-Pfannkuche: Die Rechtsstellung der Kleriker in der Rechtsordnung der lateinischen Kirche. Rechtsgeschichtliche Entwicklung, theologische Begründung und rechtliche Kontur (Kirchen- und Staatskirchenrecht, Bd. 24), Paderborn 2018, S. 46 f. – Robin Jensen: Living water. Images, symbols, and settings of early Christian baptism (Supplements to Vigiliae Christianae. Texts and Studies of Early Christian Life and

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den ländlichen Raum beschränkt und zudem für den Verlauf des Mittelalters eher eine Ausnahme geblieben sein dürfte, hat das weibliche Amt im Zuge der gallischen Taufadministration eine gewisse Nachfolge gefunden. Denn auch in den Frauenstiften Fischbeck an der Weser oder Borghorst bei Steinfurt handelten die Diakonissen im Rahmen der Taufe weiblicher Katechumenen.22 In vormodernen Frauenkommunitäten übernahmen Stiftsdamen und Äbtissinnen regelhaft Funktionen bei der Taufe von neugeborenen Mädchen. In der Frühen Neuzeit treten die geistlichen Frauen dabei vor allem im Amt der Taufpatin in Erscheinung.23 Hier zeigt sich zum einen die politische Dimension der Taufe, wie sie im gesamten Mittelalter generell belegt ist.24 Zum anderen offenbart sich hier eine Form der aktiven Netzwerkbildung wie erfolgreicher Nachwuchsförderung für die weiblichen Stiftskommunitäten. Taufpatenschaften durch Stiftsdamen und Äbtissinnen bahnten auch außerhalb elitärer Kreise frühzeitige Bindungen an die geistliche Gemeinschaft, die nicht selten zur späteren Aufnahme der herangewachsenen Täuflinge in die Kommunität führten.25 Gleichwohl blieb dieses Handeln als Form der sakramentalen Anteilnahme seit der Frühzeit nicht unumstritten: Bereits Caesarius von Arles (verst. 542), Aurelian von Arles (verst. 551) und Donatus von Besançon (verst. 656) verboten den Nonnen, Mädchen aus der Taufe zu heben.26 Ebenso ließ noch Abt Nikolaus Boucherat I. von Cîteaux (verst. 1586) 1573 untersagen, dass Konventualinnen Kinder aus der Taufe hoben.27 Derartige Language, Bd. 105), Boston 2011, S. 154 f. – Gisela Muschiol: Famula Dei. Zur Liturgie in merowingischen Frauenklöstern (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums, Bd. 41), Münster 1994, S. 294 sowie S. 349. 22 Hans-Walter Krumwiede: Das Stift Fischbeck an der Weser. Untersuchungen zur Frühgeschichte 955–1158 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 9), Göttingen 1955, S. 67. – Vgl. zu Borghorst: 1025 Jahre Borghorst, hg. v. Stadt Steinfurt (Steinfurter Schriften, Bd. 24), Steinfurt 1994, S. 47. 23 Dietmar Schiersner: Räume und Identitäten. Stiftsdamen und Damenstifte in Augsburg und Edelstetten im 18. Jahrhundert (Studien zur Germania Sacra N. F., Bd. 4), Berlin 2014, S. 43. 24 Arnold Angenendt: Taufe und Politik im frühen Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 7 (1973), S. 143–168. 25 Schiersner 2014 (wie Anm. 23), S. 43. 26 Muschiol 1994 (wie Anm. 21), S. 350. 27 Maren Kuhn-Rehfus: Das Zisterzienserinnenkloster Wald (Germania Sacra N. F., Bd. 30: Die Bistümer der Kirchenprovinz Mainz. Das Bistum Konstanz, Bd. 3), Berlin/New York 1992, S. 272. – Vergleichbares berichtete auch der Erzbischof aus dem Kloster Montivilliers, in dem die Nonnen eine ihnen eigentlich untersagte geistliche Verwandtschaft durch den Ritus der Taufe eingingen. Vgl. hierzu Eva Schlotheuber: Der Erzbischof Eudes Rugaud,

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Verbote weisen letztlich darauf hin, dass abseits kirchenrechtlicher Norm eben jene Praxis ausgeübt – und aus diesem Grund erst sanktioniert – wurde, sodass auch geistlichen Frauen zumindest ein symbolischer Platz am Taufgefäß zugeschrieben werden kann.

Taufgefäße in mittelalterlichen Frauenstiften

Abseits der gesellschaftlichen Inanspruchnahme des Taufsakraments und seines zum Beitrag berechtigten Personenkreises wirkten geistliche Gemeinschaften in besonderer Weise im Rahmen liturgischer Ausgestaltungen des Kirchenraums auch an den zahlreich belegten Prozessionen, Gedenkfeiern und geistlichen Spielen in spezifischer Weise an den eingebundenen Artefakten. Hier bleibt für Frauen­stifte speziell zwischen sakramentaler und konventualer Liturgie zu unterscheiden.28 Für das Damenstift in Essen ist beispielsweise von Jürgen Bärsch die Feier des Osterfestkreises anhand des dortigen Liber Ordinarius aus der zweiten Hälfte des 14.  Jahrhunderts dargelegt und auf die Rolle des Taufgefäßes im Rahmen von Prozessionen und Weihehandlungen verwiesen worden.29 Stiftsgemeinschaften und Klöster treten zudem vor allem im Hoch- und Spätmittelalter in einem spezifischen Verhältnis zur Institution der Pfarrei in Erscheinung. Zum einen durch an das Stift angeschlossene Pfarrrechte oder Pfarrkirchen, zum anderen durch die Inkorporation von umliegenden Pfarrkirchen, die nicht zuletzt auch in den hier interessierenden sakramentalen Akten abhängig gehalten werden

die Nonnen und das Ringen um die Klosterreform im 13. Jahrhundert, in: Institution und Charisma. Festschrift für Gert Melville zum 65. Geburtstag, hg. v. Franz J. Felten/Annette Kehnel/Stefan Weinfurter, Köln 2009, S. 99–110, hier S. 107. 28 Abseits des Taufsakraments, das in Frauenstiften durch zugeordnete Kanoniker ausgeführt wurde, zugleich aufgrund pfarrrechtlicher Gegebenheiten aber auch für den Konvent von hohem Stellenwert sein konnte, sind hier Prozessionen sowie Memorienfeste zu nennen. Letztere unterliegen in Frauenstiften einer besonderen Ausgestaltung. Vgl. Klaus Gereon Beuckers (Hg.): Liturgie in mittelalterlichen Frauenstiften. Forschungen zum Liber ordinarius (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 10), Essen 2012. 29 Jürgen Bärsch: Die Feier des Osterfestkreises im Stift Essen nach dem Zeugnis des Liber Ordinarius (Zweite  Hälfte 14.  Jahrhundert). Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen, Bd. 6), Münster 1997, S. 179 f.

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konnten.30 Solche Abhängigkeiten und gesellschaftliche Interaktionen stehen auch dann im Blickpunkt, wenn wie im vorliegenden Beitrag die Frage von Form und Bedeutung der Taufgefäße in Damenstiften im Fokus steht. Die Präsenz solcher Liturgiegeräte in Stifts- und Klosterkirchen eröffnet einen bestimmten kirchengeschichtlichen Aspekt, das Vorhandensein der Artefakte in Sakralräumen religiöser Frauengemeinschaften wirft zudem die Frage der sakramentalen Administration, der Binnendifferenzierung und der rituell-konventualen Inanspruchnahme im Kirchenraum auf. Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft hat Katharina Ulrike Mersch 2012 das Thema sozialer Kommunikation skizziert und dabei auch auf mittelalterliche Taufgefäße verwiesen.31 Für die Frauengemeinschaften ist die Frage nach Form und Funktion der Taufgefäße zum einen eng an das spezifische Verhältnis zur kirchenrechtlichen Institution der Pfarrei gebunden, zum anderen an die Möglichkeiten der Ausbildung spezifischer konventualer Formen der Liturgie.32 Konkret gilt es daher zu fragen, welche Rolle Damenstifte als Patronatsherren spielen und wie sich die Inkorporation von Pfarreien durch Frauengemeinschaften oder die Einrichtung einer Frauenkommunität in einer bereits bestehenden Pfarrei auf die Ausstattung mit Liturgiegeräten auswirkte. Mit Konzentration auf Taufgefäße lässt sich zudem generell die Frage nach den spezifischen kirchenrechtlichen, liturgischen und prozessionalen Kontexten stellen, in denen sie platziert und wirksam sind. Quellenkritisch gilt dabei anzumerken, dass in den meisten Fällen für die Beantwortung der gestellten Fragen keine ideale schriftliche Überlieferung vorliegt. Dies gilt es nicht zuletzt dann zu beachten, wenn man sich dezidiert mit einem kleinen Denkmalbestand wie den Taufgefäßen aus Frauenstiftskirchen beschäftigt.33 Denn 30 Vgl. Hedwig Röckelein (Hg.): Frauenstifte, Frauenklöster und ihre Pfarreien (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 7), Essen 2009. 31 Katharina Ulrike Mersch: Soziale Dimensionen visueller Kommunikation in hoch- und spätmittelalterlichen Frauenkommunitäten: Stifte, Chorfrauenstifte und Klöster im Vergleich (Nova Mediaevalia, Bd. 10), Göttingen 2012, S. 72–76. 32 Nathalie Kruppa: Eigenkirche, Patronatsrecht und Inkorporation bei geistlichen Kommunitäten im Bistum Hildesheim im Mittelalter, in: Pfarreien im Mittelalter. Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn im Vergleich, hg.  v. Nathalie Kruppa unter Mitwirkung von Leszek Zygner (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 238; Studien zur Germania Sacra, Bd. 32), Göttingen 2008, S. 271–326. 33 In ihrem grundlegenden Beitrag zu Taufgefäßen in Frauenkonventen zählt Katharina Ulrike Mersch nur 13 erhaltene Artefakte für Frauenkonvente (sowohl Klöster wie Stifte) im heutigen Deutschland auf: Freckenhorst, Alsleben/Gernrode, Schwarzrheindorf, Drübeck, Lip-

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Taufgefäße können als Mobilien ihrem ursprünglichen Wirkungsort entnommen oder verloren sein oder sind nur fragmentarisch überliefert. Beispiele dafür sind etwa die Taufgefäße aus den Stiftskirchen in Alsleben (seit 1865 in Gernrode) oder Nivelles.34 Jene selten aufwendig gestalteten – d.h. auch aufgrund von Inschriften und Bildern konkreter interpretierbaren – Artefakte sind kaum durch archäologische oder schriftliche Quellen in ihren räumlichen Zusammenhängen erschließbar, Aussagen zur ursprünglichen Inszenierung im Kirchenraum und den Dispositionen innerhalb des Funktionsgefüges einer Stiftskirche bleiben daher ungewiss.35 Zunächst ist also ein negatives Resümee zu ziehen. Zwar existiert prinzipiell und theoretisch eine breite Quellenbasis an schriftlicher wie materieller Überlieferung, die für einzelne konkrete Tauforte jedoch so selektiv auf uns gekommen ist, dass manche Fragen für konkrete Objekte unbeantwortet bleiben müssen. Im Folgenden sollen dennoch exemplarisch Fallbeispiele aus Damenstifts- bzw. Klosterkirchen vorgestellt werden. Dabei sind die funktionalen, d.h. sowohl liturgischen wie medialen Zusammenhänge zu skizzieren. Ausgewählt wurden hierfür Taufgefäße, die einen möglichst breiten methodischen Zugriff auf den Denkmalbestand erlauben. Zum einen das Taufgefäß der ehemaligen Damenstiftskirche in Freckenhorst, ein für diesen Aufstellungsort konzipiertes Einzelobjekt, das sich aufgrund des umfassenden Inschriften- und Bildprogramms in besonderem Maße in seiner Spezifik kontextualisieren lässt. Zum anderen eine seriell produzierte Gruppe von Taufgefäßtypen, die weniger spezifisch auf konkrete Aufstellungsorte hin konzipiert wurden, jedoch aufgrund ihrer quantitativen Überlieferung – u.a. der kulturpoldsberg, Drolshagen, Borghorst, Asbeck, Regensburg, Ebstorf, Sangershausen, Zeven und Lüne. Vgl. Katharina Ulrike Mersch: Orte der Interaktion zwischen Frauenkonventen und Pfarrgemeinde: Das Beispiel der Taufsteine, in: Röckelein 2009 (wie Anm. 30), S. 169–190. 34 Jean-Claude Ghislain: Fragments de cuve baptismale romane tournaisienne à Nivelles, in: Bulletin de la Commission royale des monuments et des sites 4 (1974), S. 13–26. Für das Taufgefäß von Nivelles bleibt der ursprüngliche Standort innerhalb des Bezirks der Kirchenfamilie ungewiss, da jener neben der noch bestehenden Stifts- und ehemaligen Grabkirche St. Gertrud auch die Paulus-Kirche der Kanoniker und die Kloster- und Pfarrkirche Notre Dame umfasste. – Vgl. hierzu: Katrinette Bodarwé: „Kirchenfamilien“: Kapellen und Kirchen in frühmittelalterlichen Frauengemeinschaften, in: Herrschaft, Liturgie und Raum. Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen, hg. v. Katrinette Bodarwé/ Thomas Schilp (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 1), Essen 2002, S. 111–131, hier S. 117. 35 Dadurch ist letztlich nur ein geringer Teil der erhaltenen Taufgefäße tatsächlich nach den oben genannten Fragestellungen analysierbar. Auch der vorliegende Beitrag stellt daher hauptsächlich jene Objekte in den Vordergrund, die bereits Mersch skizziert hat. Vgl. Mersch 2009 (wie Anm. 33), S. 169–190.

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räumlichen Verbreitung und regelhaften Anwendung bestimmter Ornament- wie Bildmotive – weitergehende Aussagen zu pfarr- bzw. taufrechtlichen Zusammenhängen ermöglichen.

Das Taufgefäß der ehemaligen Damenstiftskirche St. Bonifatius in Freckenhorst

Prominent und auch vielfach veröffentlicht ist das Taufgefäß der ehemaligen Damenstiftskirche St.  Bonifatius in Freckenhorst, dessen Entstehung aufgrund der beigegebenen Kirchweihinschrift eng an die Erneuerung und Neuausstattung des zuvor – 1116 – durch Brand zerstörten Sakralbau gebunden ist (Abb. 26).36 Der inschriftlich vergegenwärtigte und komputistisch exakt bestimmbare Weiheakt wurde in der Pfingstoktav – also der Woche nach Pfingstsonntag – vorgenommen.37 Im Jahr 1129 fiel dieser Weihetag auf den 4. Juni und damit auf den Vortag des Heiligenfestes des Kirchenpatrons Bonifatius. Der Weihebericht am Taufgefäß ist im Kontext einer zu memorierenden Kirchweihe zu verstehen, das Artefakt selbst also möglicherweise auch im Rahmen von Prozessionen am Jahresgedächtnis der Kirchweihe eingebunden.38 Das Taufgefäß wird so als integraler Bestandteil des liturgischen Raumes im wahrsten Sinne des Wortes in das geweihte Gebäude eingeschrieben. Das Artefakt wird hier zum repräsentativen Zeugnis des Selbstverständnisses einer am Ort ansässigen Kirchengemeinschaft. Zwar lässt sich der Standort des Taufgefäßes nur noch bis in das 17.  Jahrhundert zurückverfolgen, 36 Vgl. Stefan Eugen Soltek: Der Freckenhorster Taufstein, Diss. Bonn 1987 [masch.]. – Géza Jászai: Das Taufbecken zu Freckenhorst, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 43/44 (2004/2005), S. 63–92. – Mersch 2009 (wie Anm. 33), S. 176–183. 37 „+ anno ab incarnat(ione) d(omi)ni mcxxviiii epact(is) xxviii concvrr(entibus) i p(ost) b(issextilem) indict(ione) vii ii non(as) ivn(ii) a venera(bile) ep(iscop)o mimigardevordensi egeberto ordinat(ionis) [sve] anno ii consecratv(m) e(st) hoc templum“ (Im Jahre nach der Menschwerdung des Herrn 1129, 28.  Epakten, 1.  Concurrenten, nach einem Schaltjahr, 7. Indiktion, an den 2. Nonen des Juni (wurde) vom verehrungswürdigen Bischof von Mimigardevord, Egbert, im zweiten Jahre der Ordination diese Kirche [dieser Tempel, Anm. d. Verf.] geweiht). Vgl. hierzu Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 194. 38 In den Frauenstiften nahmen an diesen Prozessionen alle Stiftsgruppen teil, d.h. die Frauen, die Kanoniker und die Scholaren gingen gemeinsam Stationen ab. Zur Rolle dieser Umgänge Jürgen Bärsch: „…processiones et stationes fiunt quatuor modis in monasterio“. Beobachtungen zu Theologie und Liturgie prozessionaler Vollzüge im Liber ordinarius des Frauenstifts Essen, in: Beuckers 2012 (wie Anm. 28), S. 49–70, hier S. 63.

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Abb. 26: Freckenhorst (Kreis Warendorf), ehem. Stiftskir­ che St. Bonifatius, Taufbecken aus Baumberger Sandstein, um 1129, Gesamtansicht.

jedoch zeigen weitere Fragmente einer ursprünglich vorhandenen Raumausstattung, dass das Artefakt Teil einer größeren Ausstattungsphase gewesen ist, die vermutlich im Zuge der Renovierung des Kirchenbaues eingebracht wurde.39 In jedem Fall lässt sich ein Zusammenhang von Kirchweihfeiern und Ostern in langer Tradition zurückverfolgen, der in Form von Prozessionen in Erscheinung treten

39 Hiltrud Westermann-Angerhausen hat in diesem Kontext Skulpturenfragmente aus der Kirche mit der ornamentalen Ausführung des Taufbeckens verglichen und so die These eines gemeinsamen bildhauerischen Werkstattzusammenhangs („Taufstein-Werkstatt“) zur Diskussion gestellt. Vgl. Hiltrud Westermann-Angerhausen: Zur mittelalterlichen Steinplastik der Freckenhorster Kirche, in: Kirche und Stift Freckenhorst. Jubiläumsschrift zur 850. Wiederkehr des Weihetages der Stiftskirche in Freckenhorst am 4. Juni 1979, hg. v. Karl Theodor Kusenberg, Warendorf 1979, S. 120–133, hier S. 123.

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Abb. 27: Abrollung des Taufbeckens von Freckenhorst, Zeichnung von Wilhelm Effmann aus dem Jahr 1889.

kann und sich vermutlich ebenso am Taufgefäß von Freckenhorst vergegenwärtigen lässt.40 Der Zylinder zeigt neben der Inschrift noch zwei Bildreihen, die als Visualisierung des Credos und als metaphorische Darstellung der Sündhaftigkeit gelesen werden können (Abb. 27). Inschrift und Bilderreihen weisen weder denselben 40 Beispiele sind etwa die Kirchweihprozessionen im Trierer Dom, St. Aposteln in Köln oder der Stiftskirche in Essen. Vgl. hierzu Bärsch 2012 (wie Anm. 38), S. 63.

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Startpunkt noch dieselbe Leserichtung auf, wodurch sich ein spezifisches Verschiebungsverhältnis ergibt. So wird an verschiedenen Stellen ein komplexes System intermedialer Bezüge erzeugt, etwa wenn über der inschriftlichen Datumsangabe „nach Fleischwerdung Christi“ mit der Geburtsszene jene Fleischwerdung dargestellt ist. Ebenso deckt sich der räumliche Zusammenhang zwischen inschriftlich genannter Tempelweihe und der darüber befindlichen Szene der Taufe Christi. Dieser Bildzusammenhang wiederum ist im Kontext zeitgleicher theologischer Vorstellungen zu verstehen, denen gemäß die Kirchweihe ebenso eine Taufe des Gebäudes sei, wie das Taufsakrament den Täufling zum Tempel Gottes weihe. Das

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Taufgefäß bedient sich hier der metaphorischen Analogie von Kirchweihe als Monumentaltaufe sowie von Taufhandlung als Tempelwerdung des Menschen. Ungefähr zeitgleich hatte Hugo von St. Viktor (verst. 1141) – auf Basis älterer Theologen wie Remigius von Auxerre (verst.  um 908) oder Ivo von Chartres (verst.  1115) – eben diese Vorstellungen prominent vertreten.41 Das Liturgiegerät spiegelt so einen zeitgenössischen theologischen wie liturgischen Diskurs über den Zusammenhang von Kirchenweihe und Taufhandlung, der sich nicht zuletzt auch auf zeitgleiche Erörterungen über den sittlich-moralischen Aufstieg geistiger Frauen zum Tempel Gottes oder Haus der Weisheit anwenden lässt.42 Dieser Zusammenhang ist beispielsweise aus den entsprechenden Ausführungen im Speculum virgi­ num zu schließen, dessen Darstellung des Tempels der Weisheit mit typologischem Schema zu den biblischen Septenaren sich in weiten Teilen mit dem Bildprogramm des Freckenhorster Taufsteins deckt.43 Analog zur Handschrift sind Text und Bild auch am Taufgefäß ein Mittel der geistlichen Unterweisung und präsentieren eine ausformulierte Tugendlehre.44 Auf die entsprechenden bildgebenden Vorbilder – die Darstellung des Hauses der Weisheit im Speculum – haben Soltek und Jászai 41 Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 315. 42 Die Institutio sanctimonialium, die frühen Regelungen weiblicher religiöser Gemeinschaften, bezeichnen die Jungfrauen als „Tempel des Herrn“ (nach 1.  Kor. 3,16–17). Diese Bezeichnung geht dabei auf Hieronymus zurück; vgl. Institutio Sanctimonialium Aquisgra­ nensis, ed. v. Albert Werminghoff (Monumenta Germaniae Historica, Leges, Concilia Aevi Karolini, Bd. 1), Hannover 1906, S. 452 f. – Vgl. Gisela Muschiol: Liturgie und Klausur. Zu den liturgischen Voraussetzungen von Nonnenemporen, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. v. Irene Crusius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 167; Studien zur Germania Sacra, Bd. 24), Göttingen 2001, S. 129–148, hier S. 140. – Matthäus Bernards: Speculum virginum. Geistigkeit und Seelenleben der Frau im Hochmittelalter (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 16), Köln 21982, S. 186. – Vgl. hierzu auch die Anwendung der Tempelmetapher auf ihre Mitschwestern im Briefverkehr der Hildegard von Bingen: Elisabeth Gössmann: „Ipsa enim quasi domus sapientiae“. Die Frau ist gleichsam das Haus der Weisheit. Zur frauenbezogenen Spiritualität Hildegards von Bingen, in: „Eine Höhe, über die nichts geht“. Spezielle Glaubenserfahrung in der Frauenmystik?, hg. v. Margot Schmidt/Dieter R. Bauer (Mystik in Geschichte und Gegenwart. Abteilung 1: Christliche Mystik, Bd. 4), Stuttgart 1986, S. 1–18. 43 Morgan Powell: The Speculum virginum and the Audio-Visual Poetics of Women’s Religious Instruction, in: Listen, Daughter. The Speculum Virginum and the Formation of Religious Women in the Middle Ages, hg. v. Constant J. Mews, New York 2001, S. 111–135. 44 Es handelt sich dabei um eine didaktische Lehrschrift in Dialogform, welche im 12. Jahrhundert wohl im Kontext der Springiersbacher Reformbewegung für die Ausbildung von Novizinnen religiöser Frauengemeinschaften verfasst worden ist. Vgl. zur aktuellen Forschungsdiskussion um das Speculum: Mersch 2012 (wie Anm. 31), S. 145 f. – Zur Springiersbacher Reformbewegung vgl. Ebd. S. 146 f.

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im Kontext des Freckenhorster Taufbeckens verwiesen, doch galt ihr Augenmerk dabei hauptsächlich der ikonografischen Zuordnung des Taufbeckens zum Motiv des siebensäuligen domus sapientiae (Abb. 28).45 Bemerkenswert ist die im Artefakt vergegenwärtigte inhaltliche Bezugsetzung von Taufe, Tempelweihe und Haus der Weisheit nicht zuletzt auch deshalb, weil hier – analog zur Mönchsweihe – ebenso die Jungfrauenweihe mitgedacht werden kann.46 Die spezifische Medialität des Taufgefäßes zeichnet das Artefakt also gerade in seinem geistigen Milieu aus. Bedenkt man das enge Text-Bild-Verhältnis am Taufgefäß von Freckenhorst, so könnte auch die dargestellte Stifterfigur – ein in Soutane gekleideter Geistlicher – unterhalb des Kreuzes, direkt über dem inschriftlich genannten Weiheakt des Bischofs, ein Beleg für den Einfluss Bischof Egberts (verst. 1132) auf die Entstehung des Artefaktes aber eben auch die geistliche Abhängigkeit des Damenstifts liefern. Konzeptionell erscheint für Freckenhorst bemerkenswert, dass sich die inhaltliche Struktur und der theologische Angebotscharakter der bildkünstlerischen Ausstattung des Artefaktes eher an gebildete BetrachterInnen wendet und sich auch wegen des komplexen theologischen Gehaltes eher mit zeitgleichen Schemata vergleichen lässt. In der performativ-situativen Perspektive liturgischer Praxis konnten diese Zusammenhänge also vor allem durch gelehrte BetrachterInnen rezipiert werden. So ist das Programm des Taufbeckens in seinem spezifischen Kontext, dem Damenstift, auch auf die dortigen sanctimoniales anwendbar. Durch meditative Betrachtung oder memorative Vergegenwärtigung konnten beispielsweise gerade die vor Ort ansässigen Stiftsdamen die im Taufgefäß eingeschriebenen Sinnzusammenhänge entschlüsseln und dabei – gleichsam zeitgenössischer Schemabilder oder Denkmodelle – über Formen der Selbst- und Gotteserkenntnis reflektieren. Den Einfluss theologischen Wissens auf die Ausgestaltung von Taufgefäßen hat jüngst Mersch mit dem Hinweis auf das Taufgefäß aus dem Benediktinerinnenkloster Lippoldsberg erläutert. Dort ist das Bildprogramm zum einen als Belehrung rund um das Taufsakrament zu verstehen und zum anderen auf das 45 Soltek 1987 (wie Anm. 36), S. 362 f. – Jászai 2004/2005 (wie Anm. 36), S. 79. 46 Zum einen bezieht sich dies auf den traditionellen Zusammenhang von Tauftag und Zeitpunkt der Jungfrauenweihe, zum zweiten verweist dies auf die von Bernhard von Clairvaux geäußerte Vorstellung der Profess als zweite Taufe und zum dritten ist hier auf die Bezeichnung der Jungfrauen als „Tempel des Herrn“ (nach 1. Kor. 3,16–17) in der Institutio sanctimonialium zu verweisen. Vgl. hierzu Mirko Breitenstein: Das Noviziat im hohen Mittelalter. Zur Organisation des Eintrittes bei den Cluniazensern, Cisterziensern und Franziskanern (Vita Regularis. Abhandlungen: Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter, Bd. 38), Berlin 2008, S. 347.

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|  Jörg Widmaier Abb. 28: Speculum VirginumHandschrift, nach 1140, heute in London, British Library. Detail: Der Tempel der Weisheit mit Wurzel Jesse, sapientia und Christus sowie mit typologischem Schema zu den biblischen Septenaren, Arundel 44, fol. 114v.

theologische Wissen der Lippoldsberger Klosterbibliothek zurückzuführen bzw. als eine andere mediale Präsenz dieses Wissens zu verstehen.47 47 Inhaltlich knüpft das Artefakt an eine Tauftheologie an, die sich auf Rupert von Deutz (Liber de divinis officiis) sowie auf Hugo von St. Viktor (De sacramentis christianae fidei) zurückführen lässt. Beide Werke sind im über 55 Sammelbände mit über 90 Werken verschiedenster Autoren umfassenden Bestand der Lippoldsberger Bibliothek nachweisbar. Auch das Taufgefäß spiegelt mit seinen komplexen theologischen Inhalten und jener damit verbundenen Verweisstruktur, die sich gerade im liturgischen Gebrauchsmoment zeigte, dieses gebildete Milieu der weiblichen Gemeinschaft wider. – Vgl. auch Julie Hotchin: Women’s Reading and Monastic Reform in Twelfth-Century Germany. The Library of the Nuns of

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Die Freckenhorster Szene der Höllenfahrt Christi verweist auf die Bedeutung der Osterliturgie und lässt sich möglicherweise mit jenen diversen Ausgestaltungsmöglichkeiten in Verbindung bringen, die speziell die Osternacht in Frauenstiften erfahren hat.48 Auch wenn für Freckenhorst die konkreten Gegebenheiten nicht im Einzelnen rekonstruiert werden können, bleibt – beispielsweise im Abgleich entsprechender Handlungen in Stiften wie Essen oder Gandersheim, auf die besondere Rolle der Kanonissen und vor allem der Äbtissin hinzuweisen.49 Funktional wird jene Osterliturgie auch für den Weiheakt des Taufwassers grundlegend gewesen sein.50 Durch die ungewöhnliche, gleichwohl aber nicht völlig unbekannte Reihenfolge von Grabbesuch Mariens und Höllenfahrt entsteht eine spezifische Medialität in den liturgischen Feiern und den geistlichen Spielen der Osternacht.51 Dabei handelt es sich um speziell in den hochrangigen Kirchenbauten anzutreffende liturgische Inszenierungen, welche heilsgeschichtliche Ereignisse wie den Grabbesuch der drei Frauen oder die Höllenfahrt Christi vergegenwärtigen. Im Zuge dieser liturgischen Handlungen wird gerade das Artefakt zum Medium einer Realisierung von Heilsereignissen und Heilshandeln. Innerhalb jener rituellen Lippoldsberg, in: Manuscripts and Monastic Culture. Reform and Renewal in Twelfth-Century Germany, hg. v. Alison I. Beach (Medieval Church Studies, Bd. 13), Turnhout 2007, S. 139–190, hier S. 159. 48 Zur Beschreibung der Osterfeier in Freckenhorst sowie Gandersheim, Essen und Gernrode vgl. Mersch 2012 (wie Anm. 31), S. 65. – Zur Osterliturgie vgl. Bärsch 1997 (wie Anm. 29), S. 179 f. 49 In Gandersheim ist es beispielsweise die Äbtissin selbst, die das Heilige Grab allein zur Kreuzniederlegung betritt. Vgl. Christian Popp: Liturgie im Frauenstift Gandersheim. Zur Überlieferungs- und Textgeschichte sowie zum Quellenwert des Registrum chori ecclesie maioris Gandersemensis, in: Beuckers 2012 (wie Anm.  28), S.  113–130, hier S.  122. – Ebenso hat Bärsch auf die Ähnlichkeiten zwischen Essen und Freckenhorst verweisen. Vgl. Bärsch 1997 (wie Anm. 29), S. 179. – Zur möglichen Funktion des Freckenhorster Westbaues im Rahmen der Osternacht vgl. Klaus Gereon Beuckers: Die Westbauten ottonischer Damenstifte und ihre liturgische Funktion. Eine Skizze, in: Kunst und Kultur in ottonischer Zeit. Forschungen zum Frühmittelalter, hg. v. Andreas Ranft/Wolfgang Schenkluhn (more romano. Schriften des Europäischen Romanik Zentrums, Bd. 3), Regensburg 2013, S. 73– 118, hier S. 95–98. 50 Vgl. Schlegel 2012 (wie Anm. 5), S. 84 f. und 92 f. 51 Vgl. Mersch 2012 (wie Anm.  31), S.  66. – Bärsch 1997 (wie Anm.  29), S.  179. – Zur anachronistischen Reihung der Szenen, wie sie im geistigen Spiel, beispielsweise in Klosterneuburg oder in Muri auftreten, sowie zur Entwicklung des Ritus und der gegenseitigen Beeinflussung von geistlichem Spiel und Liturgie des Descensus ad inferos vgl. Elisabeth Kunstein: Die Höllenfahrtsszene im geistlichen Spiel des deutschen Mittelalters. Ein Beitrag zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Frömmigkeitsgeschichte, Diss. Köln 1972 [masch.], S. 27 f.

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Vollzüge wird die sonst bestehende restringierte Binnenraumstruktur der Damenstifts- und Pfarrkirche gelockert. Kanonissen betreten gemeinsam mit den Klerikern auch jene Teile des Kirchenraumes, welche sonst eher den Laien zugeordnet sind. An dieser Stelle – im Kirchenschiff – fand das Taufgefäß nachweislich im 17.  Jahrhundert seinen Platz, weshalb Mersch zu recht auf das kommunikative Potenzial des Artefaktes hingewiesen hat.52 Darüber hinaus scheint jedoch auch die enge Bezugnahme des Taufbeckenprogrammes zu Inhalten spezifisch konventualer Relevanz – wie beispielsweise der Osternachtliturgie oder jener auf die Stiftsdamen anwendbarer Metaphorik der Tempelweihe – beachtenswert.53

Seriell produzierte Taufgefäße des 12./13. Jahrhunderts im Netzwerk von Damenstiftskirchen

Zylinderförmige Taufgefäße mit Blendarkadenreihen entsprechend dem Typus von Freckenhorst haben sich auch abseits solch aufwendiger Bildgestaltungen in Damenstiften, Klöstern und Pfarrkirchen erhalten. Aufgrund geringerer Bild- und Inschriftengestaltung bleibt der Betrachter dabei auf eine gewisse Assoziationsfähigkeit angewiesen. Dass inhaltliche Setzungen stets mitgedacht werden müssen, zeigt das Beispiel des Taufgefäßes der Stiftskirche von Ottrau-Immichenhain in Hessen, das um 1200 entstanden ist und neben einer Aposteldarstellung und einem Agnus dei auch das Wort „Credo“ in einer Arkade aufführt.54 Das heißt, den einzelnen Bögen werden hier theologische Gehalte eingeschrieben, die es – vergleichbar mit dem Freckenhorster Taufstein – bei der Umrundung des Gefäßes zu erschließen gilt. Weitere Taufgefäße in Stifts- oder Klosterkirchen weiblicher Kommunitäten, wie beispielsweise in Drolshagen, Ilsenburg-Drübeck, Essen-Stoppenberg oder Wetter, bilden sich als einfache kelchförmige Becken mit vier Säulenträgern aus – wobei auch hier die Vierzahl Spielraum für Interpretation bietet.

52 Mersch 2012 (wie Anm. 31), S. 73. 53 In diesem Zusammenhang erscheint die eher dienende untergeordnete Rolle der kleinen Klerikergemeinschaft beachtenswert, welche in Freckenhorst im 12. und 13.  Jahrhundert anzunehmen ist. Vgl. hierzu Thomas Schilp: Frauen und Männer. Kanoniker und Kanonikerkonvent am Frauenstift Essen, in: Beuckers 2012 (wie Anm. 28), S. 91–112, hier S. 111. 54 Vgl. zum Taufgefäß Schlegel 2012 (wie Anm. 5), S. 424. – Zur Stiftskirche siehe Baudenkmale in Hessen: Schwalm-Eder-Kreis Bd. 1, hg. v. Brigitte Warlich-Schenk/Hans Josef Böker (Denkmaltopographie Hessen, Bd. 3), Braunschweig 1985, S. 251.

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Abb. 29: Verbreitungskarte: Verteilung von Taufbecken des Quadrat-Typs (rot) und Rund-Typs (blau) mit Grenzen der Kirchenprovinz Köln sowie deren Bistumsgliederung.

Inhaltlich konkreter bestimmbare Beispiele für eine solche Ausdeutung der Vierzahl im Kontext der Taufe finden sich in Form bestimmter Taufgefäßtypen – also von formal wie ornamental übereinstimmenden, teilweise sogar seriell produzierten Artefakten. Hier ergibt sich die Möglichkeit einer quantitativen Auswertung der Taufgefäße, die aus ganz verschiedenen Kirchentypen stammen können. Im Rhein-Maas-Gebiet gibt das Verbreitungsbild verschiedener Taufgefäßformen (Abb. 29) einen Hinweis darauf, dass kirchenrechtliche Verhältnisse – im Großen wie im Kleinen – auch auf die Ausstattung mit bestimmten, in hoher Auflage verbreiteten Taufgefäßen beeinflussend wirken konnte.55 In geringerer Anzahl haben sich solche Taufgefäße auch in Stifts- oder Klosterkirchen männlicher wie weiblicher Kommunitäten erhalten.56 Dass sich Taufgefäße aus Stifts- oder Kloster55 Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 136. – Ghislain 2009 (wie Anm. 8). 56 Beispielsweise die Taufgefäße in den Stiftskirchen von Amay-Flône, Andenne-Sclay, Bognysur-Meuse (Braux), Corbeny. Vgl. Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 136.

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kirchen jedoch nicht prinzipiell von Taufgefäßen in Pfarrkirchen unterscheiden, könnte letztlich auch durch die Zielsetzung der Auftraggeber, etwa durch Vergegenwärtigung kirchenrechtlicher Abhängigkeiten oder Verbindungen, erklärbar sein. Beispiele liefert etwa die Gruppe der sogenannten Bentheimer Taufgefäße. Einige dieser formal wie stilistisch übereinstimmenden Artefakte, die vermutlich in einer Werkstatt um das heutige Bad Bentheim entstanden sind, haben sich in Stifts- bzw. Klosterkirchen erhalten (Abb.  30).57 Die Exemplare stimmen formal und ornamental mit entsprechenden Taufgefäßen aus Pfarrkirchen überein. Sie gehören zu einer in den Niederlanden und dem heutigen Nordwestdeutschland regelhaft vorkommende Gruppe von Taufgefäßen mit übereinstimmenden Stil- und Dekorformen, wie sie auch bei zeitgleichen Grabplatten ostfriesischer Provenienz anzutreffen sind.58 Solche Taufgefäße lassen sich in einzelnen Fällen über Schriftquellen in ihren regionalen Entstehungszusammenhängen historisch genauer beschreiben. So werden 1221 aus dem Pfarrsprengel der Kirche von Ankum sechs Kirchen als eigenständige Pfarreien ausgepfarrt: Möglicherweise ist es dem Patronatsherrn über jede dieser Kirchen, es handelt sich einheitlich um den Domkantor von Osnabrück, zuzuschreiben, dass all diese Kirchengebäude in dieser Zeit mit einheitlichen Taufgefäßen ausgestattet worden sind.59 Erklärung findet dieses Phänomen der Verteilung von Taufgefäßen im historischen Kontext der Entstehung einer neuen Archidiakonatseinteilung, die auf bischöfliche Initiative im Bistum Münster im ausgehenden 12. Jahrhundert und in Osnabrück, Paderborn und Bremen etwas später entstand.60 Dies schuf ein wirksames Instrument der seelsorglichen Betreuung wie der rechtlichen Aufsicht über die einzelnen Pfarreien. Eine Rolle bei der Archidiakonatsverwaltung spielten auch die Äbtissinnen – bzw. ihre Vertreter, die Dechanten – von Freckenhorst, Überwasser in Münster, Borghorst oder Metelen. Bemerkenswerterweise findet sich gerade in den Damenstiftskirchen Borghorst und Metelen je ein Taufgefäß des Bentheimer Typus (Abb.  31). Beachtenswert ist ebenso der kirchengeschichtliche Zusammenhang, der in Form bürgerlicher Stiftungstätigkeit zwischen den mit entsprechenden Taufgefäßen aus57 So z.B. in Asbeck, Bersenbrück, Großheide-Arle, Steinfurt-Borghorst, Weerselo. Vgl. Widmaier 2018 (wie Anm. 20), S. 261–296. 58 Vgl. Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 215. 59 Ein ähnlich überdurchschnittliches Vorkommen der Bentheimer Taufgefäße lässt sich etwa auch in Kirchen des Archidiakonats Winterswick nachweisen, das dem Probst von St. Ludgeri in Münster zugeordnet war. Vgl. Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 213. 60 Vgl. Widmaier 2016 (wie Anm. 6), S. 221.

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Abb. 30: Metelen (Kreis Steinfurt), ehem. Stifts­ kirche St. Cornelius und Cyprianus, sog. Bentheimer Taufbecken, 13. Jahrhundert.

Abb. 31: Borghorst (Kreis Steinfurt), St. Nikomedes, sog. Bentheimer Taufbecken aus der ehem. Stiftskirche, 13. Jahrhundert.

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gestatteten Sakralbauten in Weerselo, Lohne und Borghorst besteht.61 All diese Hinweise lassen die Frage aufkommen, welche kirchenrechtlichen Implikationen jene scheinbar auf Wiedererkennbarkeit hin ausgelegten Formen oder ornamentale Details auf Taufgefäßen ermöglichen. Thesenhaft kann festgehalten werden, dass Artefakte in großer Stückzahl und in weiten Gebieten Verbreitung fanden und somit möglicherweise aufgrund formaler sowie stilistischer Übereinstimmung die Vergegenwärtigung kirchenrechtlicher Abhängigkeiten ermöglichten.62

Fazit

Für die mittelalterliche Praxis der Taufgefäßnutzung lässt sich die alltägliche Taufe von jener festlichen Liturgie unterscheiden, deren primäres Ziel die Taufwasserweihe ist. In beiden vornehmlich sakramentalen Nutzungskontexten von Taufgefäßen konnten Frauenstifte im Rahmen der Übernahme pfarrrechtlicher Verbindlichkeiten eingebunden sein. Eine Unterscheidung in Tauf- und Weihehandlung an den Artefakten wird vor allem dann relevant gewesen sein, wenn die Vergabe des Taufwassers im Netz taufrechtlich abhängiger Kirchenbauten vollzogen wurde. Die Liturgiegeräte konnten dabei zum Gegenstand und Rechtszeugnis jener Verhältnisse werden. Vorkommen und Verbreitung einiger formal übereinstimmender oder sogar seriell produzierter Taufgefäße könnten in diesem Zusammenhang erklärt werden. Zugleich bleibt im Sinne der Quellenkritik die Frage zu stellen, welche Artefakte sich überhaupt erhalten haben – etwa eingedenk des zu vermutenden Verlustes an Metallobjekten. Auf Basis quantitativer Untersuchungen von figürlichen Taufgefäßen, die anhand wiederkehrender Ornamente eine gewisse Typologie oder Seriation erlauben, scheint bei aller Unsicherheit der Überlieferung und des Forschungsstandes auch die Ausstattungspraxis in einigen Fällen im größeren kulturräumlichen wie kirchenrechtlichen Zusammenhang rekonstruierbar. In diesen Fällen scheint die Aufstellung eines Taufgefäßes auch von Archidi61 Lothar Beinke: Die Familie Twente – Richter, Bürgermeister und Hospitalgründer. Die Geschichte einer Osnabrücker Familie und ihres Hofhauses im 13. und 14.  Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010, S. 29. 62 Eine solche Art kirchenrechtlicher Vergegenwärtigung durch übereinstimmende Typen von Taufgefäßen ist für andere Kontexte nachweisbar: Prominente Beispiele einer kirchenrechtlichen Abhängigkeit spiegeln etwa die formal übereinstimmenden Taufgefäße aus den ehemaligen Stiftskirchen St. Lubentius und Juliana in Dietkirchen/Lahn sowie St. Georg in Limburg/Lahn.

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akonats- oder Pfarrsprengelzugehörigkeit abhängig gewesen zu sein. Hier muss generell von einer Symbolik und Präsenz auch bildloser Artefakte ausgegangen werden, die etwa über bestimmte formale Typen auf konkrete kirchenrechtliche Zusammenhänge hinweist. Die Erforschung von Taufgefäßen lebt von Art und Überlieferung des materiellen Bestandes, dem Forschungsstand und der Interdisziplinarität. Vor allem figürliche Taufgefäße, von denen sich zahlreiche Exemplare auch in Dom-, Stifts-, und Klosterkirchen erhalten haben, können als Medien des Sakramentes und als Objekte sozialer Kommunikation verstanden werden. Anschlussfähige Artefakte aus konkreten Entstehungszusammenhängen eines Frauenstifts sind dagegen seltener überliefert. Im Falle des Taufgefäßes aus der Stiftskirche von Freckenhorst erscheint der Grad bemerkenswert, in dem das Liturgiegerät nicht nur sakramentale Nutzungszusammenhänge spiegelt, sondern gleichsam auch spezifisch konventuale Gebrauchs- und Wahrnehmungsmodi erschließbar macht. Jenem Artefakt stehen einige einfach gestaltete – und zum Teil auch seriell produzierte – Taufgefäße gegenüber, die sich ebenso Stiftskirchen weiblicher Kommunitäten zuordnen lassen. Eine Fokussierung auf jene Liturgiegeräte macht deutlich, dass die Artefakte nicht per se komplexer sind. Im Falle einer entsprechenden Überlieferung sind es aber die Fragestellungen an das Objekt und das Aussagepotenzial desselben.

Zusammenfassung

Für die mittelalterliche Praxis der Taufgefäßnutzung lässt sich die alltägliche Taufe von jener festlichen Liturgie unterscheiden, deren primäres Ziel die Taufwasserweihe ist. In beiden vornehmlich sakramentalen Nutzungskontexten von Taufgefäßen konnten Frauenstifte im Rahmen der Übernahme pfarrrechtlicher Verbindlichkeiten eingebunden sein. Eine Unterscheidung in Tauf- und Weihehandlung an den Artefakten wird vor allem dann relevant gewesen sein, wenn die Vergabe des Taufwassers im Netz taufrechtlich abhängiger Kirchenbauten vollzogen wurde. Die Liturgiegeräte konnten dabei zum Gegenstand und Rechtszeugnis jener Verhältnisse werden. Vorkommen und Verbreitung einiger formal übereinstimmender oder sogar seriell produzierter Taufgefäße könnten in diesem Zusammenhang erklärt werden. Zugleich bleibt im Sinne der Quellenkritik die Frage zu stellen, welche Artefakte sich überhaupt erhalten haben – etwa eingedenk des zu vermutenden Verlustes an Metallobjekten. Auf Basis quantitativer Untersuchungen von

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figürlichen Taufgefäßen, die anhand wiederkehrender Ornamente eine gewisse Typologie oder Seriation erlauben, scheint bei aller Unsicherheit der Überlieferung und des Forschungsstandes auch die Ausstattungspraxis in einigen Fällen im größeren kulturräumlichen wie kirchenrechtlichen Zusammenhang rekonstruierbar. In diesen Fällen scheint die Aufstellung eines Taufgefäßes auch von Archidiakonats- oder Pfarrsprengelzugehörigkeit abhängig gewesen zu sein. Hier muss generell von einer Symbolik und Präsenz auch bildloser Artefakte ausgegangen werden, die etwa über bestimmte formale Typen auf konkrete kirchenrechtliche Zusammenhänge hinweist. Die Erforschung von Taufgefäßen lebt von Art und Überlieferung des materiellen Bestandes, dem Forschungsstand und der Interdisziplinarität. Vor allem figürliche Taufgefäße, von denen sich zahlreiche Exemplare auch in Dom-, Stifts-, und Klosterkirchen erhalten haben, können als Medien des Sakramentes und als Objekte sozialer Kommunikation verstanden werden. Anschlussfähige Artefakte aus konkreten Entstehungszusammenhängen eines Frauenstiftes sind dagegen seltener überliefert. Im Falle des Taufgefäßes aus der Stiftskirche von Freckenhorst erscheint der Grad bemerkenswert, in dem das Liturgiegerät nicht nur sakramentale Nutzungszusammenhänge spiegelt, sondern gleichsam auch spezifisch konventuale Gebrauchs- und Wahrnehmungsmodi erschließbar macht. Jenem Artefakt stehen einige einfach gestaltete – und zum Teil auch seriell produzierte – Taufgefäße gegenüber, die sich ebenso Stiftskirchen weiblicher Kommunitäten zuordnen lassen. Eine Fokussierung auf jene Liturgiegeräte macht deutlich, dass die Artefakte nicht per se komplexer sind. Im Falle einer entsprechenden Überlieferung sind es aber die Fragestellungen an das Objekt und das Aussagepotenzial desselben.

Summary

With regard to the medieval practice of baptismal font use, one must differentiate between routine baptism and the festive liturgy whose primary aim was the blessing of the baptismal water. Collegiate foundations for women could be involved in both of these primarily sacramental contexts of use of baptismal fonts through the assumption of obligations related to parish jurisdiction. A differentiation between the acts of baptising and blessing at the font will have been particularly relevant when the distribution of baptismal water was carried out within a network of church buildings that were dependent with regard to baptismal jurisdiction. The

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liturgical furnishings could, in this context, become an object of such relationships and a demonstration of rights within them. The occurrence and distribution of certain formally coherent or even serially produced baptismal fonts may find an explanation in this connection. At the same time, in line with the method of source criticism, one must ask to what extent objects have even survived – given the presumable loss of fonts made of metal, for instance. On the basis of quantitative analyses of figural fonts whose uniform ornamentation allows us to establish a certain typology or seriation, the practice of furnishing churches with fonts appears capable of being reconstructed in certain cases within a larger cultural-spatial as well as ecclesiastical-legal context – despite all the uncertainties of survival and the state of research. In these cases, the installation of a baptismal font also appears to have been dependent on a church’s belonging to a certain archdeaconry or parish. Here, one must generally assume a symbolism and evocative presence even for artefacts lacking imagery, which by means of specific formal types pointed to concrete ecclesiastical-legal relationships. Research on baptismal fonts depends on the type and documentation of the surviving source material, the state of research, and interdisciplinarity. Particularly figural baptismal fonts, of which numerous examples have also survived in cathedral, collegiate, and monastic churches, can be understood as media of the sacrament and as objects of social communication. Artefacts created specifically for a female collegiate foundation that are capable of being examined from this perspective are less commonly preserved. In the case of the baptismal font from the collegiate church of Freckenhorst, it is notable to what degree this liturgical furnishing not only reflects sacramental functional contexts, but also makes apparent modes of usage and perception specific to the convent. Alongside that artefact, several fonts of simple design – and in part also serially produced – can likewise be assigned to the collegiate churches of female communities. A focus on these objects of the liturgy reveals that the objects themselves are not per se more complex. In cases in which documentation is equivalent to figural fonts, however, the questions raised by the object and its communicative potential are more complex.

Das Vesperbild in der klösterlichen Frauenfrömmigkeit des 14. Jahrhunderts mit besonderem Augenmerk auf der sogenannten Pietà corpusculum Ludmila Kvapilová-Klüsener

Das bildhauerische Vesperbild erfreut sich seit einem Jahrhundert eines regen Interesses der kunsthistorischen Forschung. Fragen nach Beweggründen und Voraussetzungen für dessen Aufkommen, nach Entstehungszeit und -ort, wie auch nach Werkstattzusammenhängen und Meisterfragen werden immer wieder aufgegriffen und durch neue Funde revidiert.1 In diesem Beitrag soll das altbekannte Thema unter einem neuen, bisher nicht diskutierten Gesichtspunkt der Frauenklöster und Damenstifte betrachtet werden. Im Unterschied zu manch anderen frauenspezifischen Kunstwerken des 14. Jahrhunderts, wie etwa Christkindwiegen und Christus-Johannes-Gruppen, waren Vesperbilder nicht ausschließlich für Frauenkonvente bestimmt, sondern sind von Anfang an auch für Männerklöster, Dom- und Pfarrkirchen überliefert. Dennoch scheinen sie in Frauenkonventen eine besondere Verehrung erfahren zu haben. Dies belegen nicht nur die dort zahlreich erhaltenen Beispiele, sondern auch entsprechende, in Schwesternvisionen festgehaltene Beschreibungen. Im Folgenden soll den Fragen nachgegangen werden, worauf das Interesse der Frauen an dieser Darstellung beruht und ob die Exemplare in Frauenkonventen besondere Charakteristika und Motive aufweisen, welche auf Frauenfrömmigkeit hindeuten könn1

Zu den Pionierarbeiten gehören Wilhelm Pinder: Die dichterische Wurzel der Pietà, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 42 (1920), S. 145–163. – Ders.: Die Pietà (Bibliothek der Kunstgeschichte, Bd. 29), Leipzig 1922. – Walter Passarge: Das deutsche Vesperbild im Mittelalter (Deutsche Beiträge zur Kunstwissenschaft, Bd. 1), Köln 1924. – Georg Lill: Die früheste deutsche Vespergruppe, in: Der Cicerone. Halbmonatsschrift für Künstler, Kunstfreunde und Sammler 16 (1924), S. 660–662. – Elisabeth Reiners-Ernst: Das freudvolle Vesperbild und die Anfänge der Pieta-Vorstellung (Abhandlungen der Bayerischen Benediktinerakademie, Bd. 2), München 1939. – Für eine detaillierte Übersicht des bisherigen Forschungsstandes samt neuen Funden und technologischen Untersuchungen vgl. Ludmila Kvapilová: Vesperbilder in Bayern von 1380 bis 1430 zwischen Import und einheimischer Produktion, Petersberg 2017, S. 374 f.

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ten. Die spezifische Disposition von Frauenkonventskirchen wirft zudem Fragen nach originalen Standorten und den damit in Verbindung stehenden liturgischen Funktionen dieser Werke auf.

Zu Entstehung, Inhalt und Bezeichnung des Vesperbildes

Dem aktuellen Kenntnisstand und dem überlieferten Korpus nach präsentiert sich das Vesperbild als eine Erfindung der deutschen Skulptur. Es bleibt zuerst auf deutschsprachige Länder beschränkt, findet ab der Mitte des 14. Jahrhunderts auch in Böhmen, Schlesien und vereinzelt in Belgien Verbreitung, und wird, wie zahlreiche Beispiele in Italien, Frankreich und Spanien belegen, zu Beginn des 15. Jahrhunderts auch dort populär. Als Wiege der Vesperbilder dürfen dabei der fränkisch-thüringische Raum mit Altbayern und der Raum um den Bodensee gelten. Obwohl die frühen Exemplare stilistisch erst dem beginnenden 14. Jahrhundert zuzuordnen sind, deuten schriftliche Quellen auf das Vorhandensein der Darstellung bereits am Ende des 13. Jahrhunderts hin.2 Dargestellt ist die nach der Kreuzabnahme unter dem Kreuz alleingebliebene Maria, die ihren toten Sohn auf ihrem Schoß hält und beweint. Als Gebärerin des Heilands, welche während der Passion mit ihm seelisch mitlitt (compassio) und somit am Erlösungswerk beteiligt war (corredemptio), bietet sie dem gläubigen Betrachter den für ihn geopferten Gottessohn dar. Das beschriebene Passionsereignis findet bei den Evangelisten keine Erwähnung. Es hängt mit der seit dem 12. Jahrhundert stark wachsenden Verehrung der Schmerzhaften Muttergottes zusammen und scheint das Ergebnis eines längeren gedanklichen Entstehungsprozesses zu sein, bei dem jene Stelle im Lukasevangelium, in der Simeon bei der Darbringung im Tempel Maria ihre seelischen Schmerzen bei der Passion ihres Sohnes voraus-

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Außer den in diesem Beitrag genannten Beschreibungen der Vesperbilder in Visionen erwähnt 1645 der Kölner Chronist Aegidius Gelenius eine nicht mehr erhaltene Pietà in der Kölner Karmeliterklosterkirche von 1298: „Statua B. M. Virginis quam Vespertinam et dolo­ rosam compellant, quod Christus e crucis patibulo in matris sinu depositum repraesentet, ad­ positae sunt eidem aliae Sanctarum mulierum statuae“ (Aegidius Gelenius: De admiranda, sacra, et civili magnitudine Coloniae Claudiae Agrippinensis Augustae Ubiorum Urbis libri IV, Köln 1645, S. 484). – Vgl. dazu bereits Georg Dehio: Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 2, Berlin 1921, S. 120. – Reiners-Ernst 1939 (wie Anm. 1), S. 42.

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sagt (Lk 2,34–35), und deren theologische Auslegungen eine entscheidende Rolle spielen.3 In seiner Entstehungszeit wird das Vesperbild volkssprachlich lediglich als ma­ ria pilt oder auf Lateinisch als imago virginis und seltener als triste ymago Beate marie virginis bezeichnet.4 Die beiden heute gebräuchlichen Termini – das ‚Vesperbild‘ und die ‚Pietà‘ – , die in der Kunstgeschichte synonym verwendet werden, sind viel jünger als die Darstellung selbst. Der deutsche Begriff nimmt Bezug auf die klösterlichen Gebetszeiten und geht auf die Aufteilung der Passionsgeschichte auf die Tageszeiten des Breviers zurück, in die bei der Vesper die Kreuzabnahme und Beweinung fallen. In seiner geteilten Form als vesper bild ist der Terminus bereits im 16. Jahrhundert nachweisbar, als ein Wort allerdings erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts.5 Davor war hauptsächlich die Bezeichnung Schmerzhafte Mutter Gottes gebräuchlich, wie es Inschrifttafeln an barocken Altären und zeitgenössische Kupferstiche belegen. Die italienische Bezeichnung pietà, welche das Mitleiden Mariens und des Betrachters zum Ausdruck bringt, übernehmen alle Länder des nicht deutschsprachigen Raumes.

Standorte und Funktionen

Die meisten Vesperbilder befinden sich heute nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext und erfüllen damit nicht mehr ihre damalige Funktion. Sie wurden häufig zu Gnadenbildern auf den neuzeitlichen und modernen Altären umfunktioniert. Oder sie wurden ohne Bezug auf die Liturgie an Kirchenwände angebracht, in Feld- und Hauskapellen, in Nischen an Hausfassaden oder in barocken und modernen Kriegsgedächtnisstätten aufgestellt.

3 Vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 33. 4 Vgl. Friedrich Kobler: „Man nente es trawrige Mariabild“, in: Die Parler und der Schöne Stil 1350–1400. Europäische Kunst unter den Luxemburgern. Resultatband zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der Kunsthalle Köln, hg. v. Anton Legner, Köln 1980, S. 41–44, hier S. 42. – Rosl Laub/Heide Stanicic: Die Pietà von St. Georgenberg in Tirol, in: Restauratorenblätter 18 (1997/98), S. 137–141, hier S. 137. – Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 34. 5 Thomas Noll: Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67 (2004), S. 297–328, hier S. 302 f. – Zu den ersten barocken Beispielen mit der Bezeichnung Vesperbild zählen die Kupferstiche des Wallfahrtsortes Maria Vesperbild aus der Zeit um 1720/1740.

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Im Anschluss an Wilhelm Pinder und Erwin Panofsky werden Vesperbilder in den Nachschlagewerken als Andachtsbilder definiert, also als Bildwerke, die aus szenischen Darstellungen isoliert wurden und der stillen, rein persönlichen Andacht des einzelnen Gläubigen dienten. Sie sollen nicht in die Liturgie eingebunden gewesen sein und sich nicht auf dem Altar, sondern an abgelegenen Orten in der Kirche befunden haben.6 Entgegen dieser Definition sollen im Folgenden drei wichtige Funktionen der Vesperbilder benannt werden, die sich den Quellen und den Werken selbst entnehmen lassen. Da die Quellenlage des 14. Jahrhunderts sehr dünn ist, werden zu einer besseren Vorstellung auch jüngere schriftliche Überlieferungen einbezogen. Erstens waren Vesperbilder Altarbilder. Sie befanden sich auf Marienaltären oder Altären mit einem Corpus-Christi-Patrozinium, worüber manche schriftliche Quellen Auskunft geben. Aus dem Wetzlarer Necrologium von 1389 geht z.B. hervor, dass das dortige Vesperbild auf dem Hauptaltar stand, wofür sowohl die Stiftung einer „perpetuam missam legendam in summo altare de compassione beate virginis marie“ im Jahre 1486 als auch die dort gefeierten Messen zum Gedächtnis des Kreuzes und die Totenmessen sprechen.7 Für das Vesperbild in der Augustiner­chorherrenstiftskirche St. Peter in Fritzlar nimmt Karl E. Demandt an, dass es auf dem im 13. Jahrhundert gestifteten und am 6. Oktober 1385 vom Dekan 6

Vgl. dazu Wilhelm Pinder: Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, 2  Bde., Potsdam 1924, hier Bd.  1, S.  98 über das Vesperbild in Coburg: „nicht gläubiger Menge ausgesetzt, sondern der einsamen Andacht wartend“. – Passarge 1924 (wie Anm. 1), S. 4. – Erwin Panofsky: „Imago Pietatis“, Ein Beitrag zur Typengeschichte des „Schmerzensmannes“ und der „Maria Mediatrix“, in: Festschrift für Max J. Friedländer zum 60. Geburtstage, Leipzig 1927, S. 261–308. – Curt Gravenkamp: Marienklage. Das deutsche Vesperbild im 14. und im frühen 15.  Jahrht. (Maria in Werken der Kunst, Bd.  1), Aschaffenburg 1948, S. 13: „als Gegenstand für die rein persönliche Andacht des sich versenkenden Menschen“. – Reiners-Ernst 1939 (wie Anm. 1), S. 37: „Das deutsche Vesperbild ist in seinen frühesten Gruppen keine Episode der historisch und lebenswarm schildernden Marienklage, sondern eine zeitlose Verbindung der Mutter mit dem Gekreuzigten, ein außerhalb des histo­ rischen stehendes Andachtsbild“. – Gertrud Schiller: Ikonographie der christlichen Kunst. Bd. 2: Die Passion Jesu Christi, Gütersloh 1968, S. 192–195, hier S. 193. – Art. „Vesperbild“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 4, Rom/Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1972, Sp. 450–456 (Johannes H. Emminghaus). – Georg Minkenberg: Die plastische Marienklage. Ein Beitrag zu ihrer Entstehung und ihren geistesgeschichtlichen Grundlagen, Diss. Köln, Aachen 1986, S. 116. – Zur Kritik des Begriffes Andachtsbild vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 248 mit Anm. 987. 7 Fritz Luckhard: Das Wetzlarer Necrologium vom Jahre 1389 (Wetzlarer Geschichtsquellen, Bd. 1), Wetzlar 1925, hier S. 293 f. – Bis 1654 wurde der Nekrolog durch jüngere Hände fortgeführt.

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Elger von Dalwig dotierten „altare beate Marie virginis dolore ante turrim“ stand.8 Es ist schriftlich überliefert, dass die 1414 bestellte und 1415 bezahlte Pietà in der Kirche S. Niccolò in Treviso „[…] sull´altare detto della Pietà“ bzw. „super altare B. Virginis“ stand.9 Auch für das geschnitzte Vesperbild in der Pfarrkirche St. Georg in Dinkelsbühl aus der Zeit um 1390 ist sein ursprünglicher Standort auf einem Marienaltar mehrfach belegt.10 Neben den Marienaltären waren Vesperbilder, wie gesagt, für Altäre mit einem Corpus-Christi-Patrozinium bestimmt. Dies gilt für die sogenannte Vergine del Pianto, die Pietà auf dem Altar in der CorposantoKapelle in der Kathedrale S. Rufino in Assisi, und für jene aus der 1383 erwähnten Kapelle Corporis Christi in St. Magdalena in Breslau.11 Zweitens hatten Vesperbilder eine Funktion in der Karfreitagsliturgie und erfuhren auch innerhalb der Karwoche noch weitere Nutzungen, worauf Befunde mancher Figurengruppen hindeuten. Von diesen Vesperbildern, die die Kunstgeschichte als ‚wandelbar‘ bezeichnet, wird noch weiter unten die Rede sein. Und drittens erfüllten Vesperbilder eine Funktion im Totengedenken. Für das Feiern von Totenmessen bei Altären mit einer Pietà gibt es mehrere Überlieferungen.12 Andersherum gab es im Wiener Stephansdom eine Pietà, die speziell zum Anlass einer Totenmesse auf den Altar gestellt wurde.13 Schließlich scheint die Aufstellung einer Pietà bei einer Begräbnisstätte geläufig zu sein. Sie wird noch im Zusammenhang mit den Vesperbildern in Meran und Landshut-Seligenthal weiter unten thematisiert. Über die genannten Standorte hinaus kommt in Frauenkonventen der Frauenchor als möglicher Aufstellungsort der Vesperbilder hinzu, der sich seit dem 12. Jahr8 Karl E. Demandt: Das Chorherrenstift St. Peter zu Fritzlar. Quellen und Studien zu seiner mittelalterlichen Gestalt und Geschichte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 49), Marburg 1985, S. 540. 9 Wolfgang Körte: Deutsche Vesperbilder in Italien, in: Kunstgeschichtliches Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana 1 (1937), S. 1–138, hier S. 133 (Dokumente und Quellen, Nr. I: Treviso 1414/1415). 10 Vgl. Ludmila Kvapilová: Eine Pietà im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg im Spannungsfeld von Import und einheimischer Produktion, in: Umění 55 (2007), S.  442– 458, hier S. 449–451. 11 Vgl. Körte 1937 (wie Anm. 9), S. 61. – Erich Wiese: Schlesische Plastik vom Beginn des XIV. bis zur Mitte des XV. Jahrhunderts, Leipzig 1923, S. 79. – Albert Kutal: Erwägungen über das Verhältnis der horizontalen und schönen Pietàs, in: Umění 20 (1972), S. 485–520, hier S. 511. 12 Vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 250 f. 13 Maria Capra: Das Vesperbild und seine Bedeutung im Totenkult, in: Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung in Wien 4 (1951/52), S. 12–14.

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hundert meist auf einer Empore befand. Während diese bei den Damenstiftskirchen häufig im Querhaus situiert war, wurde bei den Zisterzienserinnen, Dominikanerinnen und Benediktinerinnen die Empore im Westen der Kirche gebräuchlich.14 Obwohl es für Vesperbilder auf der Frauenempore keine zeitgenössischen Überlieferungen gibt, sprechen manche in der folgenden Übersicht beschriebenen Raumsituationen und vor allem die Nennungen anderer Kunstwerke im Frauenchor für diese Möglichkeit.15 Es lässt sich nicht nachweisen, ob Vesperbilder – ähnlich wie z.B. Kruzifixe und Christkindwiegen – auch für die Zellen der Nonnen bestimmt waren, dies wäre aber bei kleineren Figurengruppen durchaus vorstellbar.

Frauenmystik

Das Aufkommen der neuen Darstellungen in der Bildhauerkunst geht Hand in Hand mit den zeitgenössischen Vorstellungen der Theologie und Frömmigkeit. 14 Vgl. Petra Zimmer: Die Funktion und Ausstattung des Altars auf der Nonnenempore. Beispiele zum Bildgebrauch in Frauenklöstern aus dem 13. bis 16.  Jahrhundert, Köln 21991 (EA 1990), S. 15 f. – Gisela Muschiol: Liturgie und Klausur: Zu den liturgischen Voraussetzungen von Nonnenemporen, in: Studien zum Kanonissenstift, hg. v. Irene Crusius (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 167; Studien zur Germania Sacra, Bd. 24), Göttingen 2001, S. 129–148, dort Kritik an Zimmer: S. 147, Anm. 85: „Die Ausführungen von Petra Zimmer [...] bleiben hinsichtlich liturgischer und ordenshistorischer Fragen unbefriedigend.“ – Zur Disposition des Frauenchores in Stiftskirchen zuletzt Julia von Ditfurth: Chorus dominarum – zum Ort des Frauenchores in frühmittelalterlichen Stiftskirchen und Adam Stead: Raum im Raum – Bemerkungen zu Querhausemporen in Frauenstiftskirchen im 11. und 12.  Jahrhundert, in: Architektur für Kanonissen? Gründungsbauten und spezifische bauliche Veränderungen von Frauenkonventskirchen im Mittelalter. Beiträge zur ersten Tagung des Forums für Frauenstiftsforschung vom 4. bis 5. November 2017, hg. v. Julia von Ditfurth/Vivien Bienert (Veröffentlichungen des Forums für Frauenstiftsforschung, Bd. 1), Köln 2018, S. 35–70 und 71–96. 15 So werden z.B. die Christus-Johannes-Gruppen im Kloster Katharinental und Weiler im Frauenchor genannt. Vgl. dazu Hans Wentzel: Die Christus-Johannes-Gruppen des XIV. Jahrhunderts (Werkmonographien zur bildenden Kunst in Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 51), Stuttgart 1960, S. 23 und 27. – Carola Jäggi: „Sy bettet och gewonlich vor únser frowen bild...“: Überlegungen zur Funktion von Kunstwerken in spätmittelalterlichen Frauenklöstern, in: Femmes, art et religion au Moyen Age, hg. v. Jean-Claude Schmitt, Strasbourg, 2004, S. 63–86, hier S. 66. – Dies., Frauenklöster im Spätmittelalter. Die Kirchen der Klarissen und Dominikanerinnen im 13. und 14. Jahrhundert, Petersberg 2006, S. 247–333. Für weitere Beispiele vgl. Elisabeth Vavra: Bildmotiv und Frauenmystik – Funktion und Rezeption, in: Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 22.–25. Februar 1984 in Weingarten, hg. v. Peter Dinzelbacher/Dieter R. Bauer, Ostfildern 1985, S. 201–230, hier S. 203 f.

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Dabei scheint gerade die Frauenmystik einen großen Beitrag zur Entstehung, Entfaltung und Typologie dieser Bildwerke geleistet zu haben. Was Vesperbilder betrifft, sind insgesamt drei Visionen aus Frauenkonventen überliefert, welche möglicherweise Bezug auf damals existierende, jedoch heute nicht mehr bestehende Figurengruppen nehmen. Das ist genau das Dreifache, was an Männervisionen überliefert ist. Die ersten beiden Visionen haben zwei Zisterzienserinnen im Kloster Helfta am Ende des 13. Jahrhunderts verfasst, womit sie um gut 30 Jahre älter sind als die berühmte Pietà-Vision im Büchlein der Ewigen Weisheit von 1327/1328 des Dominikaners Heinrich Seuse (1295–1366), wo es heißt: „Ich nam min zartes kint uf min schoze und sah in an, – do waz er tot; ich lugt in aber und aber an, do enwas da weder sin noch stimme. Sich, do erstarb min herze aber und mochti von dien totwunden, so es enphieng, in tusent stuk sin zersprungen“16. So berichtet Mechthild von Hackeborn (1241–1298/99) im Liber specialis gratiae über ihre Vision: „Ad vesperas vidit dominum quasi de cruce depositum, et beatam Virginem ipsum in sinu tenentem, sibique dicentem: ‚Ascendes osculare salutifera vulnera dulcissimi Filii mei, quae pro tuo suscepit amore‘“.17 Sie sieht also den vom Kreuz abgenommenen Christus im Schoß Mariens, welche sie auffordert, die heilbringenden Wunden Christi zu küssen. Die zweite Schwester im Kloster Helfta, Gertrud (1256–1301/02), betet vermutlich zur selben Pietà folgendes: „Dolorissima Virgo Maria, admoneo te illius gladii doloris, qui animam tuam pertransivit, quando Filium tuum de cruce deposi­ tum in sinum tuum accepisti lacrimisque totum corpus eius rigasti“.18 Während bei der ersten Beschreibung der Schwerpunkt auf der Verehrung der fünf Wunden lag, ist hier die Schmerzhafte Muttergottes das Zentrum des Geschehens. Ihre Stellung in der Passionsgeschichte wird dabei mit der Schwertprophezeiung des Evangelisten Lukas bekräftigt. 16 Karl Heinrich Bihlmeyer: Seuse. Deutsche Schriften, Stuttgart 1907, S. 101. 17 Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae, Bd. 2: Sanctae Mechtildis Liber Specialis Gratiae, Editum Solesmensium O.S.B. Monachorum, Poitiers 1877, Teil 1, Kapitel XVIII, S. 58. – Übersetzung von Johannes Müller: Leben und Offenbarungen der heiligen Mechtildis und der Schwester Mechtildis von Magdeburg, Buch I, Regensburg 1880, S. 83: „Zu der Ves­ perzeit sah sie den Herrn als vom Kreuze abgenommen. Sie sah auch, wie die Jungfrau Maria ihn in ihrem Schoße hielt; und es sprach die gebenedeite Mutter zu ihr: ‚Tritt herzu und küsse die heilbringenden Wunden meines geliebten Sohnes, die er dir zu Liebe empfangen hat‘ […]“. 18 Gertrudis de Helfta: Preces Gertrudianae, Editio nova altera, recognita a monacho ordinis S. Benedicti archiabbatiae Beuronensis, hg. v. Chrysostomus Stelzer, Freiburg im Breisgau 1919, S. 153.

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Die beiden Helftaer Visionen lassen deutlich den Einfluss des heiligen Bernhard von Clairvaux (1090/91–1153) erkennen, ohne dessen theologisches Werk die Frauenmystik und die Mystik des 14. Jahrhunderts schlechthin wohl kaum denkbar gewesen wären. Insbesondere das Passionstraktat Liber de passione Christi et doloribus et planctibus matris eius beschäftigt sich ausführlich mit der compassio Mariens während der Passion Christi und enthält zahlreiche Motive, welche in Frauenvisionen Niederschlag finden. In dessen sogenannten Mushacke-Ausgabe aus dem 13. Jahrhundert spricht Maria zum ersten Mal den Satz: „In gremio enim modo te mortuum teneo. Tristissima est mater tua“, welcher in den beiden genannten Visionen paraphrasiert wurde.19 Es ist wohl kein Zufall, dass einige frühe Vesperbilderexemplare gerade aus Zisterzienserinnenklöstern stammen. Die dritte Frauenvision scheint hingegen bereits unter dem Einfluss der oben zitierten Vision von Heinrich Seuse entstanden zu sein. Ihre Autorin Elsbeth Stagel (um 1300–1360), Äbtissin des Dominikanerinnenklosters Töss bei Winterthur, war mit Seuse befreundet und führte mit ihm eine lebhafte Korrespondenz. Sie schildert eine Vision der Schwester Mechthild von Stans, die um 1270 lebte, folgendermaßen: „Und do er ir erzaigt wie er ab dem crútz genomen ward und únser frowen an ir schoss ward gelait, do was sin lib und sin antlút als gar jemerlich das sy sprach das niemen da von folliklich sagen mochti“.20 Die Frage, ob diese drei Visionen tatsächlich Bezug auf damals existierende Skulpturen nehmen, kann zwar nicht sicher positiv beantwortet werden, erscheint aber sehr wahrscheinlich, da sämtliche Schwesternvisionen Reaktionen auf vorhandene Kunstwerke sind.

Vesperbilder des 14. Jahrhunderts in Frauenklöstern – eine Übersicht

In der folgenden Übersicht werden knapp 20 Vesperbilder näher betrachtet, die sich hauptsächlich in Frauenklöstern erhalten haben oder in der Forschung mit diesen in Verbindung gebracht werden. In Bezug auf das Thema des Tagungsbandes wird 19 Wilhelm Mushacke (Hg.): Wilhelm, Altprovenzalische Marienklage des XIII. Jahrhunderts, Halle 1890, S. 48. Zur ‚Mushacke-Ausgabe‘ vgl. auch Fritz Rohde: Ein mnd. Gedicht über die Kreuzigung, das Begräbnis und die Auferstehung Christi aus der Königsberger Hs. Nr. 905, Diss. Königsberg in Preußen 1911, S. 94. 20 Das Leben der Schwestern zu Töß beschrieben von Elsbeth Stagel samt der Vorrede von Johannes Meier und dem Leben der Prinzessin Elisabeth von Ungarn, hg. v. Ferdinand Vetter (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 6), Berlin 1906, S. 66.

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der Fokus auf die frühen Beispiele des 14. Jahrhunderts gelegt. Sie werden chronologisch und mit dem Augenmerk auf frauenspezifische Motive betrachtet. Anhand überlieferter Informationen und der Werke selbst als Quelle soll den Fragen nach originalen Aufstellungsorten und Zweckbestimmungen nachgegangen werden.

Vesperbilder des Treppenförmigen Diagonaltypus Gleich zwei ganz frühe Vesperbilder – jene in den Kunstsammlungen der Veste Coburg und im Ursulinenkloster in Erfurt (Abb. 32) – brachte Frank Matthias Kammel hypothetisch mit einem Zisterzienserinnenkloster in Verbindung. Demnach könnte das 1911 auf dem Dachboden der Pfarrkirche von Scheuerfeld gefundene, um 1320/1330 entstandene Coburger Vesperbild aus dem Zisterzienserinnenkloster in Sonnenfeld stammen, das eine Stiftung der Grafen von Henneberg war.21 Berthold  VII.  von Henneberg (1272–1340) zählte zu den wichtigsten Ratgebern Kaiser Ludwigs des Bayern (amt. 1328–1347), aus dessen Werkstätten vermutlich zwei weitere Vesperbilder dieses Typus in Salmdorf und Straubing hervorgegangen sind. Da dieselben Grafen auch das Zisterzienserinnenkloster in Erfurt gestiftet haben, geht Kammel davon aus, dass die dortige Pietà für dieses Kloster bestimmt war.22 Beide Vesperbilder gehören dem sogenannten ‚Treppenförmigen Diagonaltypus‘ an, dessen Name Bezug auf die mehrfach abgestufte Lage des Körpers Christi nimmt. Zusammen mit den stilistisch verwandten Vesperbildern im Naumburger Domschatzgewölbe und aus der Dominikanerkirche in Eger werden diese Vesperbilder zur ‚fränkisch-thüringischen‘ oder ‚mitteldeutschen Gruppe‘ gezählt.23 Sie sind alle aus Pappelholz gefertigt und lebens- bis überlebensgroß. Eine Besonderheit dieser Werke stellt die tiefe Aushöhlung der Seitenwunde dar. Gertrud Schiller nimmt an, dass dorthin – ähnlich wie bei den Grabchristusfiguren – am Karfreitag die Hostie 21 Frank Matthias Kammel: Die mitteldeutschen Vesperbilder und die Iglauer Pietà: Eine Revision unseres Kenntnisstandes, in: Die Pietà aus Jihlava/Iglau und die heroischen Vesperbilder des 14. Jahrhunderts, hg. v. Milena Bartlová, Brno 2007, S. 43–57, hier S. 51 f. 22 Frank Matthias Kammel: Kunst in Erfurt 1300–1360. Studien zu Skulptur und Tafelmalerei, Berlin 2000, S. 191–201. – Ders. 2007 (wie Anm. 21), S. 51 f. 23 Vgl. Kammel 2007 (wie Anm. 21), S. 48 f. – Speziell zum Naumburger Vesperbild vgl. Der Naumburger Domschatz. Sakrale Kostbarkeiten im Domschatzgewölbe, hg. v. Holger Kunde (Kleine Schriften der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz, Bd. 3), Petersberg 2006, Kat. Nr. I 12, S. 97–101 (Markus Hörsch). – Zu einzelnen Vesperbildertypen des 14. Jahrhunderts vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 49 f. und 188 f.

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|  Ludmila Kvapilová-Klüsener Abb. 32: Erfurt, Ursulinenkloster, Vesperbild, um 1330/1340.

niedergelegt wurde.24 Eine Funktion als Tabernakel für konsekrierte Hostien wurde auch bei anderen ikonografischen Themen, etwa der Schreinmadonna, festgestellt.25 24 Schiller 1968 (wie Anm. 6), S. 194. – Vgl. auch Gotické umění v Čechách. Vybraná díla z Alšovy jihočeské galerie [Gotische Kunst in Böhmen. Ausgewählte Kunstwerke der Südböhmischen Alš-Galerie], Prag 1989, Kat. Nr. 2, S. 14 (Hynek Rulíšek). – Zum Begraben der Hostie bei Grabchristusfiguren vgl. Annemarie Schwarzweber: Das Heilige Grab in der deutschen Bildnerei des Mittelalters (Forschungen zur Geschichte der Kunst am Oberrhein, Bd. 2), Freiburg im Breisgau 1940, S. 62. 25 Renate Kroos: „Gotes tabernackel“. Zu Funktion und Interpretation von Schreinmadonnen, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 43 (1986), S. 58–64.

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Abb. 33: Passau, ehem. Benediktinerinnenkloster­ kirche Hl. Kreuz, Vesperbild, um 1420.

Ein jüngeres Beispiel für diese Praxis stellt vermutlich das Vesperbild bei den Benediktinerinnen in Passau aus der Zeit um 1420 dar (Abb. 33). Der Rand der tiefen Wunde ist dort zusätzlich abgestuft und deutet darauf hin, dass sie verschlossen werden konnte. Ob die Seitenwunde lediglich zur Aufbewahrung und/oder zur Schaustellung der Hostie dienen könnte, bleibt offen. Eine Funktion als Reliquienbehälter, wie es für das Fritzlarer Vesperbild nachgewiesen ist, kommt hier eher

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nicht in Frage, da in Fritzlar sowohl die Seitenwunde als auch das seitlich oberhalb von ihr liegende Reliquiendepositorium vorhanden sind.26 Dem späten Treppenförmigen Diagonaltypus aus der Zeit um 1360 gehört das Vesperbild in der Zisterzienserinnenabtei St. Marienstern in der sächsischen Oberlausitz an. Es ist 144 cm hoch, aus Lindenholz geschnitzt und weist teils die originale teils die barocke Fassung mit Retuschen des 20. Jahrhunderts auf. Aus den Quellen des 17. Jahrhunderts geht hervor, dass sich das heute an der sogenannten Chorgasse südlich der Nonnenempore befindliche Vesperbild in der Klausur befand, entweder auf der Nonnenempore oder am heutigen Standort, dem Verbindungsraum zwischen dieser und dem Schafsaal.27 Dass die Nonnenempore auch der primäre Standort des Vesperbildes war, lässt eine Urkunde aus dessen Entstehungszeit mutmaßen. So veröffentlichte Marius Winzeler einen 1369 durch den Prager Erzbischofs Johannes Očko von Wlašim (amt. 1364–1378) ausgestellten Ablass und machte auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem dort genannten Marienaltar und dem Vesperbild aufmerksam. Dieser Ablass von zehn Tagen richtete sich an alle geistlichen Jungfrauen, welche beim Altar der Mutter Gottes auf dem Chor knieend ein Ave Maria beten und die im Kreuzgang beten.28 Es wäre also gut vorstellbar, dass das Vesperbild für diesen Marienaltar geschaffen wurde und somit ausschließlich zur Andacht der Klosterfrauen diente. 26 Uta Reinhold: Das Fritzlarer Vesperbild: ein Meisterwerk mittelalterlicher Schnitz- und Fasskunst, in: Denkmalpflege und Kulturgeschichte 2 (2000), S. 33–38. – Dies.: Das Fritzlarer Vesperbild, in: Frühe rheinische Vesperbilder und ihr Umkreis. Neue Ergebnisse zur Technologie. Ergebnisse der Tagung an der FH Köln (27.–28.10.2006), hg.  v. Ulrike Bergmann (Kölner Beiträge zur Restaurierung und Konservierung von Kunst- und Kulturgut, Bd. 20), München 2010, S. 34–38, hier S. 35. – Vertiefungen sowohl in der Brust Christi als auch Mariens, welche als Reliquiendepositorien zu deuten wären, finden sich auch bei der Pietà im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig (Inv. Nr. Pl. 19) aus dem Ende des 15. Jahrhunderts, lediglich in der Brust Mariens bei der Pietà in Liebfrauenmünster in Halberstadt aus der Zeit um 1410/1420. 27 Heinrich Magirius/Siegfried Seifert: Kloster St.  Marienstern 1248–1973, Leipzig 1974, S. 61. – Zeit und Ewigkeit. 128 Tage in St. Marienstern. Erste Sächsische Landesausstellung, 13. Juni 1998–18. Oktober 1998, Ausst. Kat. Kloster Marienstern, hg. v. Judith Oexle/Markus Bauer/Marius Winzeler, Halle an der Saale 1998, Kat. Nr. 2.32, S. 112 (Marius Winzeler). – Marius Winzeler: Das Große Vesperbild aus St. Marienstern, in: Bartlová 2007 (wie Anm. 21), S. 69–80, hier S. 74 f. 28 Kat. Kloster Marienstern 1998 (wie Anm. 27), Kat. Nr. 2.32, S. 112 (Marius Winzeler). – Winzeler 2007 (wie Anm. 27), S. 75 f. – Ich danke Herrn Dr. Marius Winzeler (Nationalgalerie Prag) für eine ausführliche Auskunft und die Überlassung seiner Zusammenfassung des nicht publizierten Ablasses (Nr. 55) von 1369 im Klosterarchiv St. Marienstern.

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Ein weiteres Vesperbild dieses Typus befand sich bis 1782 im Klarissenkloster in Meran.29 Es ist geschnitzt, 135 cm hoch und steht heute in der Pfarrkirche Mariä Empfängnis in Burgeis in Südtirol. Die der Muttergottes geweihte Klosterkirche war zweigeteilt. Der vom Süden zugängliche Chor war den Minoriten vorbehalten, von denen die Schwestern betreut wurden, während das Langhaus den Laien zur Verfügung stand.30 Die mehrfach umgestaltete und schließlich aufgelöste Klarissenkirche wurde von Herzogin Euphemia (1281–1347), der Ehefrau von Otto III., dem Grafen von Tirol und Herzog von Kärnten und Krain (amt. 1295–1310), gestiftet. Diese wurde 1347 in der Kirche in einem aufwändig gearbeiteten Hochgrab aus Rotmarmor bestattet. Nach Elisabeth Stampfer befand sich das Grab vor dem Lettner und war für die auf der Westempore für das Seelenheil der Stifterin betenden Nonnen sichtbar.31 Die beschriebene Raumsituation deutet gleich auf mehrere mögliche Bestimmungsorte der Meraner Pietà hin. Neben der Nonnenempore und dem Hauptaltar kommt – in Bezug auf die Funktion der Vesperbilder im Totengedenken – ebenfalls die Grablege der Stifterin als Aufstellungsort in Betracht.32

Die seeschwäbische Variante Im Gegensatz zu dem drastisch wirkenden Treppenförmigen Diagonaltypus sind die Vesperbilder des ‚seeschwäbischen Raumes‘ von einer stillen, intimen Gesamtwirkung und einem milderen Gesichtsausdruck geprägt. Zu diesen zählt das Vesperbild aus dem Reuerinnenkloster, seit 1304 Dominikanerinnenkloster, St. Magdalena an den Steinen in Basel, das nach mehrfachen Umzügen im 17. Jahrhundert in das Dominikanerinnenkloster Adelhausen gelangte. Dort ist noch heute die Figur Mariens zu sehen, die mit einer neuen Christusfigur versehen wurde, während der Körper Christi mit den Händen Mariens im Freiburger Augustinermuseum ausgestellt ist.33 29 Vgl. Theodor Müller: Gotische Skulptur in Tirol, Bozen 1976, S. 15, Abb. 27. 30 Vgl. Elisabeth Stampfer: Die mittelalterliche Ausstattung der ehemaligen Meraner Klarissenkirche, Diplomarbeit Universität Wien 2011 [masch.], S. 13 f. 31 Stampfer 2011 (wie Anm. 30), S. 84. Als Beispiel für einen solchen visuellen Bezug nennt Stampfer die Klarissenkirche Santa Chiara in Neapel mit dem Grabmal des Königs von Neapel Robert von Anjou (amt. 1309–1343). 32 Die Aufstellung auf der Nonnenempore schlägt Stampfer 2011 (wie Anm. 30), S. 94 vor. 33 Zu dieser Pietà vgl. Bildwerke des Mittelalters und der Renaissance 1100–1530. Auswahlkatalog Augustinermuseum Freiburg, bearb. v. Detlef Zinke, München 1995, Kat. Nr. 12,

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Aus Adelhausen hat sich noch eine zweite, etwas jüngere Pietà aus der Zeit um 1360/1370 mit originaler Fassung erhalten.34 In der Komposition und im Maßstab erinnert sie an den Treppenförmigen Diagonaltypus, ist aber völlig frei von dessen Pathos und Drastik. Die 1318 verfasste Chronik der Adelhausener Priorin Anna von Munzingen (amt. 1316–1327) ist zwar älter als diese Pietà, vermittelt aber eine gute Vorstellung über die Begierde der Schwestern nach Christus. Demnach befand sich auf dem Hauptaltar im Schwesternchor eine Hostienbüchse und vielleicht sogar ein Christusbild, das von den Schwestern meist als „unser herr marter“35 bezeichnet wurde. Sie gingen zu ihm mit dem Wunsch, seine Passion am eigenen Körper zu spüren und zu erleben, wonach z.B. eine Schwester aus der Nase und dem Mund blutete und eine andere, die „unseren herren marter so sunderlich lieb hatte“36, Stigmata erhielt. Ein andermal erscheint Christus einer Schwester und bringt ihr die Hostie, wonach sie sich „erleichtert“37 fühlt. Aus einem Zisterzienserinnenkloster in Rottenmünster bei Rottweil stammt das Vesperbild in der Rottweiler Pelagiuskirche (Abb.  34). Zusammen mit den Vesperbildern in St. Martin in Bamberg, aus Watterdingen bei Engen und im Rosgartenmuseum in Konstanz zählt es zu den sogenannten ‚wandelbaren Pietàs‘.38 Bei

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S.  36  f. – Johanna Quatmann: Das frühe Vesperbild. Form – Funktion – Fassung, Magisterarbeit Universität Freiburg im Breisgau 1991 [masch.], S. 122 f., Kat. Nr. 15a,b (Ich danke Frau Quatmann für die Bereitstellung). – Wohl Basel, nach Mitte des 14. Jahrhunderts, Weidenholz und Nadelholz, Höhe der Marienfigur: 124,5 cm, Höhe der Christusfigur (Inv. Nr. 11435): 55 cm. Freiburg, Augustinermuseum, Inv. Nr. 11437 (Leihgabe der Adelhausenstiftung), Lindenholz, Höhe: 159 cm. – Vgl. Kat. Freiburg 1995 (wie Anm. 33), Kat. Nr. 10, S. 31 f. (Detlef Zinke). – Barbara Newman: Die visionären Texte und visuellen Welten religiöser Frauen, in: Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, Ausst. Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn/Ruhrlandmuseum Essen, hg.  v. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn/Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, S. 105–117, hier S. 107, Abb. 2. Die Chronik der Anna von Munzingen. Nach der ältesten Abschrift mit Einleitung und Beilagen, hg. v. Dr. J. König, in: Freiburger Diöcesan-Archiv 13 (1880), S. 129–236, hier S. 161–170. – Vgl. Kat. Freiburg 1995 (wie Anm. 33), Kat. Nr. 10, S. 31 f. (Detlef Zinke). – Zur Hostienbüchse bereits Jäggi 2006 (wie Anm. 15), S. 250. In der Chronik der Anna von Munzingen ist wiederholt von einem chor oder cor die Rede, womit der Schwesternchor gemeint ist, sowie von einem altar oder fronalter im Chor. Chronik der Anna von Munzingen (wie Anm. 35), S. 166 und 168 (das Zitat S. 168). Chronik der Anna von Munzingen (wie Anm. 35), S. 169. Vgl. dazu Jürgen Michler/Michaela Burek/Peter Vogel: Eine neuentdeckte frühe Bodensee-Pietà in Meersburg, Teil 1: Kunstgeschichtliche Einordnung und Bedeutung, in: Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung 6 (1992), S.  315–330, hier S.  320  f. und

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Abb. 34: Rottweil, Kirche St. Pelagius, Vesperbild aus dem ehem. Zisterzienserin­ nenkloster Rottenmünster, um 1330.

diesen ist der Körper Christi mit speziellen Holzdübeln auf den Oberschenkeln Mariens angebracht und kann leicht abgenommen werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach fanden diese Vesperbilder Verwendung innerhalb der Karfreitagsliturgie. Anm. 15 – Jürgen Michler: Neue Funde und Beiträge zur Entstehung der Pietà am Bodensee, in: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 29 (1992), S. 29–49, hier S. 32, Anm. 7–9. – Kat. Freiburg 1995 (wie Anm. 33), Kat. Nr. 12, S. 36 f. (Detlef Zinke). – Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin 1998, S.  178–181. – Kvapilová 2017 (wie Anm.  1), S. 251 f.

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Wegen der starren Ausrichtung der Christusarme und des zur rechten Seite zeigenden Lendentuchendes vermutet Jürgen Michler eine weitere Verwendung als Hängefigur des Gekreuzigten.39 Johannes Tripps fügt noch eine dritte Funktion als Grabchristus hinzu. Demnach wurde die Figur Christi (mit beweglichen Armen) zuerst vom Kreuz abgenommen, nach der Verehrung in den Schoß der Muttergottes gelegt und schließlich in dem Ostergrab beigesetzt.40 Eine solche Mehrzweckfunktion ist für Kruzifixe mit schwenkbaren Armen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts überliefert,41 und abnehmbare Jesuskindfiguren gibt es bei thronenden Madonnen bereits im 12. Jahrhundert.42 Ein jüngeres Beispiel einer wandelbaren Pietà aus der Zeit um 1350/1360 hat sich im niederbayerischen Datting erhalten.43 Nicht nur der Körper Christi ist abnehmbar, sondern auch die Arme sind mit den Schultern durch spezielle Dübel verbunden, sodass eine Bewegung in der Vertikalrichtung möglich ist. Die Vesperbilder aus dem Minoritinnenkloster in Muotathal, im Benediktinerinnenkloster St. Andreas in Sarnen und das aus dem ehemalige Beginenkloster und später Franziskanerinnenkloster in Altstätten bei St. Gallen sind einige weitere Beispiele des 14.  Jahrhunderts aus schweizerischen Frauenkonventen.44 Die beiden letztgenannten gehören dem Typus der sogenannten Pietà corpusculum an, auf den nun näher eingegangen wird.

39 Michler/Burek/Vogel 1992 (wie Anm. 38), S. 319. 40 Tripps 1998 (wie Anm. 38), S. 181. 41 Johannes Taubert: Mittelalterliche Kruzifixe mit schwenkbaren Armen. Ein Beitrag zur Verwendung von Bildwerken in der Liturgie, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 23 (1969), S.  79–121 – Gesine Taubert/Ludwig Wolff: Die Marienklagen in der Liturgie des Karfreitages. Art und Zeitpunkt der Darbietung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), S. 607–627, hier S. 608 und 620. 42 Zu einer thronenden Madonna aus dem Kölner Benediktinerinnenkloster St. Mauritius mit abnehmbarem Kind vgl. Kat. Bonn/Essen 2005 (wie Anm. 34), Kat. Nr. 52, S. 207 f. (Robert Suckale). 43 Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 252 und Kat. Nr. K.2.2, S. 294. 44 Vgl. Ilse Futterer: Gotische Bildwerke der deutschen Schweiz 1220–1440, Augsburg 1930, S. 75 f., Abb. 91 und 96. – Leo Broder: Zur Auffindung einer frühgotischen Skulptur im Rheinthal, in: Unsere Kunstdenkmäler. Mitteilungsblatt für die Mitglieder der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte 10 (1959), S. 78–80.

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Pietà corpusculum Während andere Vesperbildertypen nicht ausschließlich als frauenspezifisch betrachtet werden können, stammen nahezu45 alle Vesperbilder des Typus mit dem kindhaft klein gebildeten Leichnam Christi – Pietà corpusculum genannt – aus Frauenklöstern.46 Diese Tatsache hängt vermutlich mit der besonderen Verehrung des Jesuskindes durch Nonnen zusammen, worüber die noch erhaltenen Wiegekinder, Christkindwiegen, sitzende und stehende Jesuskindfiguren wie auch andere Themen der ‚Mutterschaftsmystik‘ Zeugnis abgeben.47 Deren Verehrung und der Umgang mit ihnen finden sich in Nonnenviten und Visionen fantasievoll beschrie45 Bei manchen Vesperbildern des Typus der Pietà corpusculum ist die Herkunft nicht überliefert. Zu diesen zählen z.B. eine Pietà in einer Frankfurter Privatsammlung aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (vgl. dazu Passarge 1924 [wie Anm. 1], S. 50 und 124, Abb. 18) und die bereits erwähnte wandelbare Pietà in der Pfarrkirche St. Martin in Bamberg aus der Zeit um 1340, dessen Herkunft aus der ehemaligen Karmeliterkirche vermutet wird. Darüber hinaus stammt das Vesperbild aus der Werkstatt des Meisters des Erfurter Severi-Sarkophages (um 1360/1370, heute im Angermuseum Erfurt) mit kindhaft kleinem Leichnam Christi aus der ehemaligen Benediktinerkirche St.  Ägidius in Erfurt (vgl. Passarge 1924 [wie Anm. 1], S. 54 und 129, Abb. 23). 46 Zum Typus der Pietà mit kindhaft klein gebildetem Christus vgl. Fritz Witte: Die Skulpturen der Sammlung Schnütgen in Cöln, Berlin 1912, S. 47. – Passarge 1924 (wie Anm. 1), S.  50  f. – Der Terminus Pietà corpusculum stammt von Lech Kalinowski: Geneza Piety šredniowiecznej, in: Polska Akademia Umiejętności, Prace Komisji Historii Sztuki 10 (1953), S. 1–105, hier S. 85 f. 47 Zu den Beispielen des 14. Jahrhunderts zählen die Wiegekinder der Margareta Ebner im Kloster Maria Mödingen und im Kloster Engelberg in Sarnen (beide um 1340/1350) wie auch die Wiege aus einem Kölner Nonnenkloster im Museum Schnütgen (Inv. Nr. A 779, um 1340). Die Münchner Wiege, die früher mit der Wiege von Margareta Ebner identifiziert wurde, erwies sich während einer Untersuchung als eine Zusammenstellung des Historismus. Vgl. dazu Georg Himmelheber: Die Münchner Christkindwiege, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 41 (1984), S. 143–148. Stehende Figuren eines segnenden nackten Jesuskindes sind seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert. Zu den bekanntesten gehören die Figuren von Michel Erhart wie auch die Jesuskinder, die massenhaft in den Werkstätten in Mechelen hergestellt wurden. – Zu den Kunstwerken der Frauenmystik vgl. Vavra 1985 (wie Anm. 15), S. 204. – Jäggi 2004 (wie Anm.  15), S.  63–86, hier S.  66  f. – Brigitte Zierhut-Bösch: Ikonografie der Mutterschaftsmystik. Interdependenzen zwischen Andachtsbild und Spiritualität im Kontext spätmittelalterlicher Frauenmystik, Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien 2008. – Konkret zu Christkindwiegen: Hans Wentzel: Eine Wiener Christkindwiege in München und das Jesuskind der Margareta Ebner, in: Pantheon 18 (1960), S.  276–283. – Ulrike Bergmann: Nur ein Zeugnis der Vergangenheit? Krippenkunst in Deutschland, in: Deutsches Ärzteblatt 81 (1984), S. 3829–3831. – Nina Gockerell: Andachtsmöbel, in: Kleine Möbel. Modell-,

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ben. Sowohl die Jesuskindfiguren als auch jene in Wiegen waren Privateigentum der Nonnen und durften in der Zelle aufgestellt werden. Es waren zuerst erlaubte und erwünschte Geschenke zu Weihnachten, in der Neuzeit meist Geschenke der Familie – auch Trösterlein genannt – zur Einkleidung oder Profess für die Novizinnen, die nicht selten in sehr jungem Alter ins Kloster aufgenommen wurden. So entwickelten die Nonnen eine innige Beziehung zu diesen Bildwerken, welche eine Funktion zwischen Spielzeug und privatem Andachtsbild hatten. Der Gedanke, dass die Maria einer Pietà an die Geburt ihres Kindes denkt, findet sich bei zeitgenössischen Autoren. Nach dem heiligen Bernhardin von Siena (1380–1444) dachte Maria, als sie den Leichnam auf dem Schoß hielt, „die Tage Bethlehem seien wiedergekommen“48. An einer anderen Stelle vergleicht er die Grablegung mit dem Hinlegen des Jesuskindes in die Krippe.49 Dementsprechend stellt Rupert von Deutz (verst. 1135) das seelische Leid Mariens unter dem Kreuz den Geburtsschmerzen gegenüber.50 Birgitta von Schweden (1303–1373) hingegen lässt Maria beim Wickeln des Kindes bereits die Passion erahnen: „Als sie ihn in die Windeln wickelte, betrachtete sie in ihrem Herzen, wie sein ganzer Leib mit scharfen Geißeln zerrissen würde. Und wenn die Jungfrau ihres kleinen Sohnes Hände und Füße leise in die Windeln band, vergegenwärtigte sie sich, wie hart dieselben mit eisernen Nägeln am Kreuze durchbohrt werden sollten […]“.51 Ähnlich wie manche Madonnen mit dem Jesuskind auf dem einen und dem Kreuzzepter auf dem anderen Arm spiegelt auch die Pietà corpusculum die gegenwärtige Vorstellung wider, in welcher Geburt und Tod Christi als eine untrennbare Einheit empfunden wurden. Eine solche Gegenüberstellung findet sich häufig bei französischen Elfenbeindiptycha des 14. Jahrhunderts und z.B. an der bereits erwähnten Christkindwiege im Museum Schnütgen in Köln, die an den Schmalsei-

Andachts- und Kassettenmöbel vom 13.–20. Jahrhundert, hg. v. Georg Himmelheber, München 1979, S. 25–34. 48 Vgl. Witte 1912 (wie Anm. 46), S. 47. – Sermones sancti Bernardini de senis ordinis fratrum minoru[m] de euangelio eterno, Lyon 1489, Predigt  55 („[…] ipsum cogitur ponere in alieno sepulcro quem puerum vagientem in paupere presepio reclinavit“). – Dazu bereits Pinder 1924 (wie Anm. 6), S. 100 – Lill 1924 (wie Anm. 1), S. 660 – Reiners-Ernst 1939 (wie Anm. 1), S. 71–77. 49 Vgl. Witte 1912 (wie Anm. 46), S. 47. 50 Vgl. Rupert von Deutz: Comment. in Joan. Lib. XIII, in: Patrologia Latina, hg. v. JacquesPaul Migne, Bd. 169, Sp. 789. – Vgl. hierzu Kalinowski 1953 (wie Anm. 46), S. 79. 51 Ludwig Clarus: Leben und Offenbarungen der heiligen Brigitta, Regensburg 1856, Bd. 4, S. 79.

Das Vesperbild in der klösterlichen Frauenfrömmigkeit des 14. Jahrhunderts  |

Abb. 35: Eichstätt, Benediktinerinnenkloster St. Walburg, Vesperbild, um 1340/1350.

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|  Ludmila Kvapilová-Klüsener Abb. 36: LandshutSeligenthal, Zisterziense­ rinnenkloster Mariä ­Himmelfahrt, Vesperbild, um 1410.

ten ein Relief mit der Anbetung des Neugeborenen durch die Heiligen Drei Könige und eines mit der Kreuzigung Jesu Christi zeigt. Die Pietà im Benediktinerinnenkloster St. Walburg in Eichstätt (Abb. 35) weist noch ihre Originalfassung auf. Die plastisch im Kreidegrund durchgeführten Applikationen, die sich an den breiten Goldborten der Gewänder und vorne am Sockel befinden, erinnern an die im Rheinland und in Hessen bei Vesperbildern weit verbreitete Rosetten-Ornamentik. Von diesen Werken weicht die Eichstätter Pietà

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allerdings durch die Absenz der Drastik ab. Während Maria mit Tränen und blutrot geweinten Augen als ‚schmerzhaft‘ dargestellt und der Leichnam mit großen Blutstrauben und -tropfen versehen ist, mildert sein kindhaftes Aussehen das drastische Erscheinungsbild ab. Bei der Pietà im Zisterzienserinnenkloster Landshut-Seligenthal (Abb. 36) wird die Pietà corpusculum mit dem ‚Typus mit nach vorn gewandten Leichnam‘ kombiniert. Diesen wendete der Bildhauer der Seligenthaler Figurengruppe bei einer zweiten Pietà in der Pfarrkirche St. Johannes in Nabburg an, bei der der Leichnam verhältnismäßig groß dargestellt ist. Dieser Vergleich lässt die Vermutung zu, dass die Wiedergabe des kleinen Leichnams in Seligenthal auf den Wunsch der Auftraggeberin zurückzuführen sein dürfte. 1646 wird dort auf dem Seelenaltar bei der Begräbnisstätte der Wittelsbacher im Hochchor ein „sonders schönes Vesperbild“ genannt.52 Welches der zwei dort erhaltenen Vesperbilder gemeint ist, kann zwar nicht ermittelt werden, diese Erwähnung bestätigt aber erneut die Nutzung der Vesperbilder im Totengedenken. Seligenthal war das Hauskloster der niederbayerischen Linie der Wittelsbacher, dessen Aufgabe in seiner Gründungszeit das Gedächtnis an die verstorbenen Ehemänner der Herzogin Ludmilla (um 1170–1240), Graf Adalbert III. von Bogen (1165–1197) und Herzog Ludwig I. den Kelheimer (1173–1231) war und zugleich als Grablege für die in Landshut residierenden Wittelsbacher diente.53 Die zweite Seligenthaler Pietà (Abb. 37) befindet sich in der Klosterkirche und ist um 1380/1390 entstanden.54 Sie ist ebenfalls aus Kalkstein gefertigt, jedoch stark beschädigt und ergänzt. Erneuert ist die Gebärde, bei der Maria mit der Linken Christus zärtlich umhalst. Sie gibt den ursprünglichen Zustand wieder, wie der im Haar Christi noch erhaltene originale Zeigefinger Mariens belegt. Diese Gebärde lässt sich als Erfüllung des in Passionstraktaten beschriebenen Wunsches Mariens, den am Kreuz hängenden Christus zu umarmen, verstehen, der sich entsprechend auch in den Schwesternvisionen findet. Dieses für Vesperbilder ungewöhnliche 52 Vgl. Felix Mader (Bearb.): Stadt Landshut mit Einschluß der Trausnitz (Die Kunstdenkmäler von Bayern, Bd. 4, Regierungsbezirk Niederbayern, Bd. 16), München 1927, S. 217. – Friedrich Kobler: Mittelalterliche Werke der bildenden Künste im Kloster Seligenthal, in: Die Zisterzienser. Ordensleben zwischen Ideal und Wirklichkeit. Eine Ausstellung des Landschaftsverbandes Rheinland, Rheinisches Museumsamt, Brauweiler, Ausst. Kat. Krönungssaal des Rathauses, Aachen, hg. v. Kaspar Elm/Peter Joerißen/Hermann Josef Roth, Aachen 1980, S. 379–394. 53 Vgl. dazu Kobler 1980 (wie Anm. 52), S. 379. 54 Vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 165, 270 f. und Kat. Nr. K.1.3, S. 270 f.

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Abb. 37: Landshut-Seligenthal, Zisterzienserinnenklosterkirche Mariä Himmelfahrt, Vesperbild, um 1380/1390.

Motiv kann ebenfalls als mutmaßlicher Sonderwunsch der Auftraggeberin gedeutet werden. Als zwei weitere Beispiele der Pietà corpusculum aus Frauenkonventen können das Vesperbild in der Pfarrkirche St.  Laurentius in Pfaffenhofen55, das aus dem nah gelegenen Benediktinerinnenkloster Altomünster stammen dürfte und dessen

55 Vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 196, 295 und Kat. Nr. K.2.3, S. 295.

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Christuskörper wohl abnehmbar ist, sowie das Vesperbild in der Benediktinerinnenklosterkirche im kroatischen Zadar aus der Zeit um 1430 genannt werden.

Vesperbilder des Horizontalen und Schönen Typus Die folgenden fünf Vesperbilder aus Kalkstein gehören dem ‚Horizontalen‘ und ‚Schönen Typus‘ an und sind zwischen 1370 und 1400 in der Prager Dombauhütte entstanden. Bis auf manche Abweichungen in der Gestik, weisen sie kaum motivische Unterschiede zu den übrigen Werken der genannten Vesperbildertypen auf, die auf Frauenfrömmigkeit hindeuten könnten. Das seit der Auflösung (1782) des Dominikanerinnenklosters St. Anna in Prag vermisste Vesperbild kann aufgrund der Übereinstimmung zwischen dessen Darstellung in der Klosterkirche auf einem barocken Kupferstich von 1672 und der Pietà in St. Jakob in Prag mit dieser identifiziert werden (Abb. 38).56 Ähnlich wie in Seligenthal wird hier durch eine leichte Umarmung eine menschliche Beziehung zwischen Mutter und Sohn in den Vordergrund gestellt, während bei anderen Horizontalen Vesperbildern die eucharistische Komponente oder das Mitleiden Mariens betont werden. Aus der Entstehungszeit der Pietà haben sich im Chor der Klosterkirche Wandmalereien erhalten. Sie zeigen die Sieben Sakramente, die Anbetung der Heiligen Drei Könige sowie eine thematisch entsprechende Beweinung, welche auffällig betont das Zentralmotiv in der Art einer Horizontalen Pietà wiedergibt.57 Die Klosterkirche St. Anna war eine gewölbte Saalkirche mit einem gleich breiten, polygonal abschließenden Chor und einem Turm im Westen. Sie wurde im 14. Jahrhundert in zwei Bauphasen an der Stelle einer älteren Rotunde erbaut. Die von Süden und Norden mit hohen Fenstern beleuchtete Frauenempore nahm vier Joche, also die ganze Länge des Schiffes, sowie die ersten zwei Joche des Chores ein.58 Über den Standort der Pietà in der Barockzeit gibt der oben erwähnte

56 Vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 54, Abb. 21 und 22. – Den barocken Kupferstich mit der Darstellung der Pietà in der Kirche St. Anna entdeckte und publizierte Pavel Vítovský, Amt für Denkmalpflege in Prag: vgl. Jakub Vítovský: Nástěnné malby v bývalém klášterním kostele sv. Anny na Starém Městě v Praze [Wandmalereien in der ehemaligen Klosterkirche St. Anna in Prag], in: Památky a příroda 9 (1976), S. 513–525, Abb. 525. 57 Vítovský 1976 (wie Anm. 56), S. 520. 58 Zur Baugeschichte vgl. Vítovský 1976 (wie Anm. 56), S. 513. – Klára Benešovská: Zrušený kostel sv.  Anny kláštera dominikánek [Die aufgehobene Dominikanerinnenklosterkirche

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Abb. 38: Prag, Pfarrkirche St. Jakob, Pietà aus dem ehem. Dominikanerinnenkloster St. Anna, um 1370–1380.

Kupferstich von 1672 Auskunft. In dessen Inschrift wird sie auf dem Altar des Heiligen Kreuzes genannt, für den sie seit Anfang an bestimmt gewesen sein dürfte. St. Anna], in: Architektura gotická [Gotische Architektur], hg.  v. Klára Benešovská/Petr Chotěbor/Tomáš Durdík, Prag 2001, S. 75, Kat. Nr. 2.013.

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Die Pietà bei den Benediktinerinnen von St. Georg in Prag steht heute als Torso – nachdem sie während eines Hussitenbildersturms verstümmelt wurde – in der Apsis des nördlichen Seitenschiffes der Basilika. Sie entstand wohl im Zusammenhang mit dem Umbau der Basilika unter Kaiser Karl IV. (amt. 1355–1378) von circa 1360 bis 1371. Die Raumsituation der romanischen Kirche mit Emporen geht auf den Neubau der Kirche nach dem Brand im Jahre 1142 zurück, wobei die Nonnenempore während des spätgotischen Umbaus abgetragen und neu errichtet wurde.59 Sie war im Obergeschoss des Westbaus situiert und beiderseits mit Portalen und Stufen mit den Seitenemporen verbunden. Die Empore kommt als ein möglicher Standort der Pietà in Betracht, denn nach Ausweis der Klosterhandschrift Ordo servicii Dei fanden dort liturgische Handlungen statt.60 Die Pietà ist aber genauso gut auf einem der Altäre in der Basilika, etwa einem Marienaltar oder in Bezug auf die plastische Hervorhebung der Blutstropfen auf einem dem Corporis Christi geweihten Altar, zu vermuten. Über die ‚Späthorizontale Pietà‘ in der Klausur des Dominikanerinnenklosters in Feldkirch-Altenstadt (Vorarlberg) können keine Rückschlüsse auf den originalen Standort gezogen werden, da die heutige Klosterkirche errichtet wurde, nachdem die Pietà entstanden war. Wie bei der Pietà aus St.  Anna wird hier anstatt des gängigen Dreihändemotivs eine zärtliche Berührung des Armes Christi durch Maria hervorgehoben. Diese Gebärde findet sich auch bei dem Vesperbild in der Zisterzienserinnenklosterkirche in Kirchheim am Ries (Abb. 39). Es steht heute in der sogenannten Münsterkapelle, auf dem von Äbtissin Bernarda Schneid (amt. 1731–1749) speziell dafür gestifteten Rokoko-Altar. Als ursprünglicher Standort der Pietà kommt neben dem der Muttergottes geweihten Hauptaltar die Grablege der Grafen von Oettingen unter der Nonnenempore in Betracht. Dorthin wurden 1355 die Gebeine der zunächst in der Stifterkapelle bestatteten Klostergründer transferiert. Die bildhauerisch hochwertigen Grabplatten der Stifter an der Wand des Kirchenchors befanden sich zuvor bei dem Ziboriumsaltar in der Grablege.61 Dessen 59 Zur Baugeschichte vgl. Anežka Merhautová: Bazilika sv. Jiří na Pražském hradě [Basilika St. Georg auf der Prager Burg], Prag 1966, S. 41 f. und 53–55. 60 Merhautová 1966 (wie Anm. 59), S. 53. 61 Vgl. Elisabeth Grünenwald: Kloster Kirchheim als Grablege der Grafen von Oettingen, in: Nordschwaben. Der Daniel. Zeitschrift für Landschaft, Geschichte, Kultur und Zeitgeschehen 13 (1985), S. 146–150, hier S. 148. – Vgl. auch Ludmila Kvapilová: Ein Prager Vesperbild in der ehemaligen Zisterzienserinnenklosterkirche Mariä Himmelfahrt in Kirchheim am Ries, in: Rieser Kulturtage. Dokumentation 20 (2014), S. 209–230.

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Abb. 39: Kirchheim am Ries, ehem. Zisterzienserinnenklosterkirche Mariä Himmelfahrt, Vesperbild, um 1390.

­ atrozinium ‚Corporis Christi‘ dürfte ein zusätzlicher Hinweis auf die Aufstellung P des Vesperbildes sein. Über den originalen Standort des Schönen Vesperbildes in der Benedik­ tinerinnenklosterkirche Nonnberg in Salzburg, das heute auf dem nördlichen

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Seiten­altar steht, ist nichts überliefert.62 Der Kirchenbau samt Nonnenempore und Paradies im Westen präsentieren sich in ihren spätgotischen Formen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, geben aber wahrscheinlich die Raumsituation vor dem Brand im Jahre 1423 wieder. Möglicherweise waren es die Benediktiner in Admont, die den Bildhauer für die Pietà vermittelt haben, denn die von dort stammende Pietà (heute im Museum Joanneum in Graz) kommt aus derselben Prager Werkstatt.63 Von Nonnberg aus wurde wiederum das Stift Göss besiedelt, das über Jahrhunderte das Zentrum für die Erziehung und Versorgung der Töchter aus dem steirischen Adel war. Die Abhängigkeit vom Mutterkloster bestätigt auch die von dort stammende Schöne Pietà, die allerdings nicht mehr in Prag, sondern bereits von einem einheimischen Bildhauer geschaffen wurde. Wegen des Tagungsortes des ‚Forums für Frauenstiftsforschung‘ möchte ich diese Übersicht mit der Pietà in der ehemaligen Frauenstiftskirche St.  Ursula in Köln aus der Zeit um 1420/1430 abschließen. Sie gehört zu einem neuen ‚Vesperbildertypus mit nach vorn gewandtem Leichnam‘, der in der ersten Hälfte des 15.  Jahrhunderts in Westfalen und im Rheinland eine große Verbreitung fand.64 Die Pietà aus St. Ursula stellt zugleich das erste Beispiel aus einem Damenstift dar, für welche Vesperbilder erst seit dem 15. Jahrhundert überliefert sind. Ob diese Tatsache das lückenhaft überlieferte Korpus der Skulptur des 14. Jahrhunderts widerspiegelt und den teilweise unbekannten Provenienzen bei Exemplaren in Museen und Privatsammlungen zu verdanken ist oder zu dieser Zeit tatsächlich keine Vesperbilder in Frauenstiften vorhanden waren, lässt sich nicht klären. Allerdings sprechen die in Damenstiften überlieferten Vesperbilder aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die hier aufgrund des im vorliegenden Tagungsband fokussierten Zeithorizontes außen vor bleiben müssen, gegen den hier aufgekommenen Eindruck.

62 Privatbesitz, Kalksandstein, Höhe: 80,5  cm. – Zum Objekt vgl. Inge WoisetschlägerMayer: Die Kunstwerke des Stiftes Göss, in: Stift Göss. Geschichte und Kunst, Wien/ Linz/München 1961, S. 96. – Stabat Mater. Maria unter dem Kreuz in der Kunst um 1400, Ausst.  Kat. Dommuseum Salzburg, Salzburg 1970, Kat.  Nr.  21, S.  69, Abb.  17 (Dieter Grossmann). 63 Vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 59. 64 Vgl. Kvapilová 2017 (wie Anm. 1), S. 190 f.

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Schlussfolgerungen

Obwohl das Vesperbild nicht als ein rein frauenspezifisches Thema betrachtet werden kann, konnten an einer Vielzahl der Figurengruppen aus Frauenkonventen Motive beobachtet werden, welche auf Frauenfrömmigkeit zurückzuführen sind und auf Frauen als Auftraggeberinnen hindeuten. Allen voran zählt dazu die Pi­ età corpusculum, die nahezu ausschließlich aus Frauenkonventen stammt und ein Pendant zur innigen Verehrung des Jesuskindes darstellt. Denn zusätzlich zum allgemeinen zeitgemäßen Interesse an der Passion Christi und der Schmerzhaften Muttergottes scheint in Frauenkonventen noch ein weiterer Faktor bei der Beschaffung eines Vesperbildes von Bedeutung zu sein: Die durch die Kinderlosigkeit der Nonnen verstärkte und sehr innige Verehrung des Jesuskindes in Form der Christkindwiegen und des Trösterleins scheint dort die Brücke zur Pietà corpus­ culum geschlagen zu haben, bei der Christus im Maßstab eines Kindes wiedergegeben ist. Wie die wandelbare Pietà in St. Martin in Bamberg und die Pietà mit dem nach vorn gewandten Leichnam in Landshut-Seligenthal belegen, kann dieser Gedanke auch bei anderen Vesperbildertypen mitschwingen. Auffällig häufig kommen ebenfalls Gebärden vor, bei denen die Muttergottes ihren Sohn umarmt oder zärtlich berührt. Die drei eingangs genannten Funktionen der Vesperbilder lassen sich auch auf Vesperbilder in Frauenklöstern übertragen. Neben der Funktion als Altarbilder in der Kirche deuten die bekannten Informationen über die Vesperbilder im Klarissenkloster in Meran sowie in den Zisterzienserinnenklöstern Seligenthal und Kirchheim am Ries auf deren Funktion im Totengedenken hin. Die Vesperbilder aus dem Zisterzienserinnenkloster Rottenmünster bei Rottweil und in Pfaffenhofen bei Altomünster stellen wiederum zwei Beispiele für die wandelbare Pietà dar, mit der während der Karfreitagsliturgie bestimmte Passionsereignisse anschaulich inszeniert werden konnten. Eine Funktion als Reliquiar wurde bei keinem Exemplar aus dem 14.  Jahrhundert festgestellt, wobei ohne eine restauratorische Untersuchung keine endgültigen Urteile hierzu gefällt werden können. Dagegen deutet die auffällig tief und abgestuft gearbeitete Seitenwunde der Pietà bei den Benediktinerinnen in Passau auf eine weitere Nutzungsmöglichkeit hin, nämlich als Aufbewahrungsort für die konsekrierte Hostie. Außer den Aufstellungsorten auf Altären und bei Begräbnisstätten kommen in Frauenkonventen noch der Frauenchor bzw. die Frauenempore als originaler Standort der Pietà hinzu. Hinsichtlich der Maße scheint eine Aufstellung in der

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Zelle – welche z.B. für Jesuskinder und Kruzifixe überliefert ist – bei den hier behandelten Werken eher unwahrscheinlich.

Zusammenfassung

Obwohl das Vesperbild in seiner Frühzeit auch für Männerklöster, Dom- und Pfarrkirchen überliefert ist und somit nicht als ein rein frauenspezifisches Thema betrachtet werden kann, konnten bei einer Vielzahl der Figurengruppen aus Frauenkonventen Motive beobachtet werden, welche auf Frauenfrömmigkeit und Frauen als Auftraggeberinnen hindeuten. Allen voran zählt dazu die Pietà corpus­ culum, die nahezu ausschließlich aus Frauenkonventen stammt und ein Pendant zu der innigen Verehrung des Jesuskindes darstellt. Denn zusätzlich zum allgemeinen, zeitgemäßen Interesse an der Passion Christi und der Schmerzhaften Muttergottes scheint in Frauenkonventen noch ein weiterer Faktor bei der Beschaffung eines Vesperbildes von Bedeutung zu sein. Die durch Kinderlosigkeit der Nonnen verstärkte und sehr innige Verehrung des Jesuskindes in Form der Christkindwiegen und des Trösterleins scheint dort die Brücke zur Pietà corpusculum geschlagen zu haben, bei der Christus im Maßstab eines Kindes wiedergegeben ist. Auffällig häufig kommen ebenfalls Gebärden vor, bei denen die Muttergottes ihren Sohn umarmt oder zärtlich berührt. Sowohl das Jesuskind als auch das Vesperbild werden in Frauenvisionen häufiger thematisiert, wobei die Visionen der Zisterzienserinnen in Helfta am Ende des 13. Jahrhunderts die ältesten Visionen einer Pietà sind. Die spezifische Kirchenraumaufteilung von weiblichen Konventen wirft zusätzliche Fragen nach originalen Standorten und den damit in Verbindung stehenden liturgischen Funktionen der Vesperbilder auf. Neben der Funktion als Altarbilder in der Kirche deuten die bekannten Informationen über die Vesperbilder im Klarissenkloster in Meran sowie in den Zisterzienserinnenklöstern Seligenthal und Kirchheim am Ries auf deren Gebrauch im Totengedenken hin. Die Vesperbilder aus dem Zisterzienserinnenkloster Rottenmünster bei Rottweil und in Pfaffenhofen bei Altomünster stellen wiederum zwei Beispiele für die wandelbare Pietà dar, mit der während der Karfreitagsliturgie einzelne Passionsereignisse inszeniert werden konnten. Außer den Aufstellungsorten auf Altären und bei Begräbnisstätten kommen in Frauenklöstern noch der Frauenchor bzw. die Frauenempore als ursprünglicher Standort der Pietà hinzu. Hinsichtlich der Maße und teilweise auch

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des Werkstoffs scheint eine Aufstellung in der Zelle – welche z.B. für Jesuskinder und Kruzifixe überliefert ist – bei den hier untersuchten Werken eher unwahrscheinlich. Eine Funktion als Reliquiar konnte bei keinem der hier behandelten Exemplare festgestellt werden, wobei ohne eine restauratorische Untersuchung keine endgültigen Urteile hierzu gefällt werden können. Dagegen deutet die auffällig tief und abgestuft gearbeitete Seitenwunde der Pietà bei den Benediktinerinnen in Passau auf eine weitere Nutzungsmöglichkeit hin, nämlich als Aufbewahrungsort für die konsekrierte Hostie.

Summary

While the Vesperbild in its early stages is also documented in male monastic communities and cathedral and parish churches and thus cannot be seen as a theme restricted exclusively to female audiences, numerous motifs observable in figural groups from female convents point to female piety and women as patrons of the works. This is particularly the case with the so-called Pietà corpusculum, of which known examples come almost exclusively from female convents and which represent a counterpart to the ardent veneration of the Christ Child practiced there. For, in addition to general contemporary interest in the Passion of Christ and the sorrowful Virgin, a further factor appears to have been of importance in the acquisition of a Vesperbild in female communities. There, intense veneration of the Christ Child with such objects as Christ Child cradles and figures (so-called Trösterlein), amplified by the nuns’ childlessness, appears to have established ties with the Pietà corpusculum, in which Christ is rendered in a childlike scale. Gestures of the Virgin embracing or tenderly caressing her son likewise occur frequently. Both the Christ Child and the Vesperbild often feature in the visions of religious women, with the visions of the female Cistercian nuns in Helfta from the end of the 13th century being the oldest visions centred on a Pietà. The specific configuration of church space in female convents raises additional questions about the original locations and, by extension, the liturgical functions of Vesperbilder. Alongside a function as images placed on altars in the church, the known information concerning the Vesperbilder in the Clarissan convent in Meran and in the female Cistercian monasteries of Seligenthal and Kirchheim am Ries suggest that they were used in the commemoration of the dead. The Vesper­

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bilder from the female Cistercian monastery of Rottenmünster near Rottweil and in Pfaffenhofen near Altomünster, in turn, represent two examples of Pietà sculptures which could be manipulated and thus used in the Easter liturgy to stage particular events from the Passion. Beyond a placement on altars and in proximity to places of burial, the women’s choir and gallery represent an additional original location for sculptures of the Pietà in female monasteries. In view of their scale and material, a placement of the works examined here in nuns’ cells – documented for instance for figures of the Christ Child and crucifixes – appears unlikely. A function as a reliquary could not be discerned for any of the examples considered in this essay, though final judgements on this issue cannot be made in the absence of examination by conservators. In contrast, the conspicuously deep side wound of the Pietà of the Benedictine nuns in Passau points to an additional possibility of use, namely as a place for keeping the consecrated host.

Monumentale Stiftermemoria um 1300: Lebensgroße Gründerfiguren in niedersächsischen Frauenklöstern und Damenstiften Jens Reiche

Memoria

Im Mittelalter hatte die Kultur des Gedächtnisses und der Erinnerung an die Toten (Memoria) bekanntlich eine große Bedeutung.1 Sie beruht auf der Vorstellung, dass der Mensch nach dem Tod als Person nicht erlischt, sondern im Jenseits weiter existiert. Zwischen den Lebenden und den Toten gab es sehr enge Verbindungen. Die Menschen beteten für das Heil der Verstorbenen und um die Verkürzung der Qualen ihrer Seelen im Fegefeuer. Geistliche Gemeinschaften galten als besonders effizient in der Praxis des stellvertretenden Gebetsdienstes, da man in ihnen durch die vielen Stundengebete dem biblischen Ideal des Betens ohne Unterlass recht nahekam. So kommt es, dass Stifter für ihr eigenes Seelenheil Klöster und Stifte gründeten und sie reich mit Gütern ausstatteten, die deren Existenz sichern sollten – im Grunde bis zum Jüngsten Tag. Zum Beispiel gründete Agnes von Landsberg (1192/93–1248 oder später), von der weiter unten noch die Rede sein wird, vor 1233 das Zisterzienserinnenkloster Wienhausen bei Celle und 1243 auch noch Isenhagen, das etwa 30 km weiter östlich liegt und zuerst als Zisterzienser-

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Grundlegend: Karl Schmid/Joachim Wollasch (Hg.): Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 48), München 1984. – Rainer Berndt (Hg.): Wider das Vergessen, für das Seelenheil. Memoria und Totengedenken im Mittelalter. Ergebnisse einer internationalen und interdisziplinären Tagung des Hugo von Sankt Viktor-Instituts, die vom 27. bis zum 29. März 2008 im Erbacher Hof in Zusammenarbeit mit der Akademie des Bistums Mainz stattfand (Erudiri sapienta. Studien zum Mittelalter und seiner Rezeptionsgeschichte, Bd.  9), Münster 2013. – Hedwig Röckelein: Die Erinnerungskultur in den Klöstern, in: Schatzhüterin. 200 Jahre Klosterkammer Hannover, Ausst. Kat. Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, 20.4.–12.8.2018, hg. v. Katja Lembke/Jens Reiche, Dresden 2018, S. 90–93.

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männerkloster gedacht war, später aber ebenfalls mit Frauen besetzt wurde.2 In den Gründungsurkunden des Mittelalters kehrt regelmäßig die Formulierung „pro remedio animae“, also für das Seelenheil, wieder, so auch leicht abgewandelt in der Gründungsurkunde für Wienhausen.3 Die Namen der Stifter wurden – zusammen mit verstorbenen Konventsmitgliedern und anderen Personen, denen sich das Kloster oder Stift verbunden fühlte – im Nekrolog zusammengestellt und an ihrem jeweiligen Todestag aufgerufen. Die Gründer (fundatores oder primi fundatores) genossen dabei gegenüber den übrigen Stiftern eine besonders hervorgehobene Stellung, wie man am Beispiel von Agnes von Landsberg im Wienhäuser Totenbuch von 1488 gut sehen kann, wo sie gleich am 1. Januar als erste genannt ist.4

Medien der Stiftermemoria

Entsprechend der Vorstellung, dass sich Gebetsleistungen zählen und in ihrer Wirksamkeit addieren ließen, war es für Stifter von großer Wichtigkeit, sich dem Konvent so oft wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Selbstverständlich war da2 Wolfgang Brandis: Agnes von Landsberg (1192/93–1266). Gründerin der Klöster Wienhausen und Isenhagen, in: Zeiten und Wege, Landsberg als historischer Vernetzungsort sächsischer Geschichte zwischen Mittelalter und Moderne, hg. v. Stefan Auert-Watzig/Henning Mertens, Landsberg 2014, S. 227–249. – Hedwig Röckelein: Agnes von Landsberg und die Gründung der Klöster Wienhausen und Isenhagen, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 232–234. – Zur Gründung von Wienhausen ferner Art. „Wienhausen“, in: Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, hg. v. Ulrich Faust (Germania Benedictina, Bd. 12), Sankt Ottilien 1994, S. 756– 796, hier S. 756–769 (Heiko Leerhoff) und Art. „Wienhausen“, in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, hg. v. Josef Dolle, 4 Bde., Bielefeld 2012, Bd. 3, S.  1518–1529, hier S. 1519–1521 (Wolfgang Brandis). – Zur Gründung von Isenhagen Art. „Isenhagen“, in: Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser 1994 (wie oben), S. 228–267, hier S. 228–238 (Heinz J. Schulze) und Art. „Isenhagen“, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2012 (wie oben), Bd. 2, S. 855–862, hier S. 855–857 (Wolfgang Brandis). 3 „ob remedium peccatorum suorum et mariti sui bone memorie cari uxori Heinrici quondam duxis Saxonie et comitis palatini Rheni“: Urkunde des Bischofs Konrad von Hildesheim, Hildesheim, 24. April 1233, Wienhausen, Klosterarchiv, U - 5 - 9. 4 Wienhausen, Klosterarchiv, Hs  1, Janr.  1–14. – Chronik und Totenbuch des Klosters Wienhausen, eingeleitet und erläutert von Horst Appuhn, Wienhausen 31986 (EA 1968), S.  XXXV. – Kat.  Nr.  82 Totenbuch (Nekrolog), in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm.  1), S. 312 f. (Wolfgang Brandis). – Der tatsächliche Todestag ist unbekannt.

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bei das Grab des Stifters der zentrale Ort der Memoria. Die Stifter hofften, dass Konventsmitglieder, die an ihren Gräbern vorübergingen, ein kurzes Gebet für die Verstorbenen zum Himmel richten würden. Das Grab war auch der Ort von Anniversarfeiern am Todestag. Manche Kirchen entwickelten sich unter diesen Vorzeichen zu Grablegen der Gründerdynastie; besonders eindrucksvoll ist dies z.B. bei den Königen des Frankenreiches und später Frankreichs in der Abteikirche Saint-Denis oder bei den hessischen Landgrafen in der Marburger Elisabethkirche zu sehen. Gemäß der Regel des möglichst häufigen Andenkens war es wichtig, das eigene Grab strategisch günstig zu positionieren, das heißt an Orten, an denen Konventsmitglieder häufig vorbeigingen, oder noch besser am Ort des Gebets selbst oder von Messen. Deshalb war die Mitte des Chors ganz zweifellos der privilegierteste Ort für ein Grab. Allerdings war eine Chorbestattung nicht nur entsprechend teuer, sondern wurde von den meisten Institutionen auch auf wenige Personenkreise beschränkt, etwa Herrscher, Bischöfe oder die Gründer der Institution. Die Zisterzienser waren besonders bekannt für ihre restriktiven Beisetzungsvorschriften – entsprechend groß war der Druck, sie zu lockern, dem der Orden schließlich gegen 1300 mehr und mehr nachgab. Ähnlich vorteilhaft wie Chorgräber selbst waren Gräber hinter dem Chor im Umgang oder vor ihm am Kreuzaltar. Sie waren zudem für Laien leichter zugänglich und eröffneten daher mehr Möglichkeiten für eine eventuelle spätere Verehrung als Heilige. Weitere günstige Orte für Beisetzungen ergaben sich etwa in den Durchgängen zum Chor, die vor und nach jedem Stundengebet und jeder Messe passiert wurden, oder im Kapitelsaal. Schließlich gab es – neben der Sichtbarmachung des Grabes – auch die Möglichkeit, eine Inschrift, ein Wappen oder gar ein Stifterbild auf dem gestifteten Objekt selbst anbringen zu lassen. Entsprechend der Bedeutung der Gegenstände in der Messe waren Retabel und Altargerätschaften, aber auch liturgische Bücher besonders beliebte Stiftungsgegenstände. Wenn die Inschrift durch eine bildliche Darstellung ergänzt wird, ist in der Regel zu sehen, wie der Stifter den Gegenstand demütig überreicht. Solche Darstellungen können sich unter Umständen sogar auf ganze Kirchengebäude beziehen, dann ist der dargebrachte Gegenstand eine Kirche. Im Bild blieben die Stifter stellvertretend präsent.

204 |  Jens Reiche Ausprägungen monumentaler Stiftermemoria im 13. und frühen 14. Jahrhundert

Zwischen der geistlichen Institution und ihren Stiftern bestand also ein enges, geradezu symbiotisches Verhältnis, dessen Wechselseitigkeit, wie wir noch sehen werden, sich nicht auf die materiellen Leistungen der Stifter einerseits und die Fürbitte des Konvents andererseits beschränkte. Die allermeisten sichtbaren Zeichen der Memoria sind dabei von den Stiftern oder ihren Nachkommen selbst gesetzt worden.5 Im sächsischen Raum ist jedoch im Laufe des 13. Jahrhunderts eine besondere monumentale Form der Memoria im Kirchenraum entwickelt worden, die auf Initiative der geistlichen Institutionen selbst zurückgeht. Wie bei fast allen großen Innovationen des 13. Jahrhunderts kommt der erste Impuls für diese Sonderform aus Frankreich. Hinzuweisen ist dabei zuallererst auf die Königsgalerien an den Westfassaden der Kathedralen, wo die fränkischen und französischen Könige gleich massiert als ganze Kollegien von Stiftern auftreten, allen voran Paris (1210er Jahre),6 aber auch Amiens (vor 1243)7 und Reims (nach 1255, doch sind bereits in den 1230er Jahren an den Querhäusern Königsfiguren aufgestellt worden).8 In Paris war dies gerechtfertigt, weil es sich um die Kathe­ drale der Hauptstadt und die königliche Kirche schlechthin handelte, in Reims wegen der Funktion als Krönungskirche. Während die Königsgalerien einen gewissen generischen Charakter haben, ist der Verweis auf einen konkreten Stifter beim 5

Hierzu grundlegend Christine Sauer: Fundatio und Memoria. Stifter und Klostergründer im Bild 1100 bis 1350 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 106), Göttingen 1993. – Claudia Kunde: Stiftung und Memoria. Der Stifter im Bild, in: Der Naumburger Meister. Bildhauer und Architekt im Europa der Kathedralen. Ausst. Kat. Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2011, Naumburg, 29. Juni 2011 bis 02. November 2011, im Auftrag der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz hg. v. Hartmut Krohm/Holger Kunde, 3 Bde., Petersberg 2011, Bd. 2, S. 798–810. 6 Dieter Kimpel/Robert Suckale: Die gotische Architektur in Frankreich 1130–1270, München 1985, S. 527. – Dany Sandron: La cathédrale de Reims, nouvelle synthèse architecturale et plastique à l’aube du XIIIe siècle, in: La cathédrale de Reims, hg. v. Patrick Demouy, Paris 2017, S. 147–161, hier S. 158 f. 7 Kimpel/Suckale 1985 (wie Anm. 6), S. 503. – Dany Sandron: Amiens. La cathédrale, Paris 2004, S. 32–34 und 64. – Claudine Lautier: Les deux galeries des rois de la cathédrale de Chartres, in: Bulletin monumental 169 (2011), S. 41–64. 8 Kimpel/Suckale 1985 (wie Anm. 6), S. 532 f. – Claudia Kunde/Václav Vok Filip: Das Instrumentarium der „ersten Stifter“: Physiognomie, Gebärden, Bekleidung, Schmuck, Waffen, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 973–997, hier S. 976. – Sandron 2017 (wie Anm. 6), S. 158–160.

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Childebert aus St-Germain-des-Prés in Paris unverkennbar. Die als Pfeilerfigur des Portals zum zwischen 1239 und 1244 erbauten Refektorium geschaffene Skulptur galt schon um 1800 dem französischen Kunsthistoriker und Archäologen Alexandre Lenoir als Bildnis des merowingischen Königs und Gründers der Abtei, der auch in der zugehörigen Kirche beigesetzt wurde.9 Während das Refektoriumsportal von St-Germain in der Klausur lag, tragen die fast gleichzeitig (vor 1237) entstandenen Skulpturen der Adamspforte am Bamberger Dom10, darunter die Figuren des in der Kirche bestatteten Gründerpaars des Doms, Kaiser Heinrichs II. und seiner Frau Kunigunde, einen deutlich für die Öffentlichkeit bestimmten und für sie das Innere der Kirche anzeigenden, geradezu bewerbenden Charakter. Auch im sächsischen Raum finden sich etwa zur gleichen Zeit die ersten großen Stifterdarstellungen im Außenraum: Im Giebel der Vorhalle der Goslarer Stiftskirche (sogenannter Dom) wurden um 1230/40 unter Maria und seitlich der drei Kirchenpatrone Simon, Judas und Matthias zwei Kaiser oder Könige mit Kirchenmodellen als überlebensgroße Stuckfiguren dargestellt, einer davon sicher der Stiftsgründer Kaiser Heinrich III.11 Eine Schlüsselstellung für den sächsischen Raum nehmen die kurz vor der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Naumburger Stifterfiguren ein.12 Im Westchor des neugebauten Doms wurden zwölf lebensgroße, farbig gefasste Figuren von im frühen 11. Jahrhundert lebenden Stiftern aufgestellt, also aus der Zeit der Verlegung des Bistums von Zeitz nach Naumburg 1028. Die Figuren stehen recht frei vor den Wanddiensten, sind höfisch elegant gekleidet – dazu passt auch die Gestik – und tragen ostentativ die Insignien ihres Ranges und ihrer Macht: Schilde mit (erneuerten) Wappen, Kronen und Schwerter. Der Aufstellungsort an einem der 9

Kat. Nr. XIX.1 Stifterfigur des Königs Childebert, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 1500 f. (Pierre-Yves Le Pogam). 10 Robert Suckale: Die Bamberger Domskulpturen. Technik, Blockbehandlung, Ansichtigkeit und die Einbeziehung des Betrachters, in: Ders.: Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, hg. v. Peter Schmidt/Gregor Wedekind, München/Berlin 2003, S. 175–253, hier S. 228–239. – Zu den Reimser Einflüssen in Bamberg vgl. ferner Ulrike Heinrichs: Die Skulpturenzyklen der hochgotischen Kathedrale von Reims und ihre Ausstrahlung im deutschsprachigen Raum. Überlegungen zur Chronologie und zu den Prozessen der Stilentwicklung, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 359–381. 11 Klaus Niehr: Die mitteldeutsche Skulptur der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Artefact, Bd. 3), Weinheim 1992, S. 213–216. 12 Kat. Naumburg 2011 (wie Anm.  5), besonders  Kat.  Nr.  X.13–24 Stifterfiguren, Bd.  2, S.  913–945 (Jeannine Dahlem/Monika Hegenberg/Beatrix Leisner/Kathrin Meukow/ Philipp Steinkamp/Sabrina Strohwald).

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beiden Versammlungsorte des Domkapitels zeugt ebenso wie die Zwölfzahl von äußerster inhaltlicher Aufladung des Programms, das zudem durch den Lettner und die Glasfenster eine heilsgeschichtliche Dimension erhält. Daher muss man von vornherein auch von einer sehr bewussten Auswahl der Dargestellten ausgehen. Es handelt sich durchgängig um Stifter, aus deren Familien – vor allem die Ekkehardiner und Wettiner, aber mit Graf Syzzo auch die Schwarzburger – auch die damals aktuellen Mitglieder des Domkapitels und der Bischof stammten, also die Auftraggeber des Westchors und des Skulpturenzyklus.13 Die Auswahl der Stifter ist in Naumburg nicht fest an einen Begräbnisort in der Kirche selbst gebunden, denn vier von ihnen sind andernorts beigesetzt. In einer Urkunde von 1249 nahmen Bischof Dietrich II. und das Domkapitel diejenigen, die nach dem Vorbild der ersten Stifter („primi ecclesie nostre fundatores“) zur Vollendung des Doms beisteuerten, in ihr Gebetsandenken auf.14 Die engen Übereinstimmungen der in dieser Urkunde aufgelisteten ersten Stifter mit der für den Westchor getroffenen Auswahl lassen darauf schließen, dass das Skulpturenprogramm zu dieser Zeit zumindest fertig konzipiert, wahrscheinlich sogar aufgestellt war. Seit langem ist bekannt, dass die Stifterfiguren im Chor des um 1250 begonnenen Doms von Meißen ein unmittelbarer Reflex des Naumburger Zyklus sind.15 Allerdings ist das Programm dort auf vier Figuren reduziert, von denen die beiden rechts die Dompatrone Johannes Evangelist und der heilige Donatus sind; links stehen die ersten Gründer des Bistums, Kaiser Otto I. und seine Frau Adelheid. Weniger bekannt, wenngleich ebenfalls offensichtlich in der Naumburger Nachfolge stehend, ist der wohl kurz vor oder um 1300 entstandene Zyklus in der Stiftskirche (sogenannter Dom) von Nordhausen.16 Es handelt sich um sechs Figuren, an der nördlichen Chorwand drei Frauen, darunter sicher die Hauptgründerin, Mathilde, mit dem Kirchenmodell, sodass gegenüber an der Südwand ihr Mann, 13 Holger Kunde: Mainz – Naumburg – Meißen. Der Naumburger Meister und seine Auftraggeber, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 566–581, hier S. 573–576. 14 Kat.  Nr. VIII.13 Bischof Dietrich  II. und das Naumburger Domkapitel nehmen alle, die nach dem Vorbild der ersten Stifter zur Vollendung des Doms beisteuern, in ihre Gemeinschaft und ihre Gebete auf, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 753–757 (Holger Kunde). 15 Markus Hörsch: Die Meißner Skulptur des Naumburger Meisters, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 1301–1312. 16 Antje Middeldorf-Kosegarten: Die Stifterfiguren in Nordhausen, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 63 (2009), S. 65–102. – Markus Hörsch: Zur Rezeption der Skulpturen des Naumburger Meisters, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 1428–1443, hier S. 1438–1441.

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König Heinrich  I., und die ebenfalls als Gründer genannten Kaiser Otto  I. und Otto II. zu vermuten sind, neben Mathilde deren Frauen. Hingegen sind die Stifterskulpturen in niedersächsischen Frauenklöstern und Damenstiften bisher überwiegend unter stilgeschichtlichen Gesichtspunkten im Kontext der Naumburger Innovation betrachtet und auch nicht als Gesamtphänomen einer spezifischen Form von Memoria erkannt worden.17 Die Gründung von Kloster Wienhausen durch Agnes von Landsberg ist schon eingangs erwähnt worden.18 Die Tochter des wettinischen Grafen der Ostmark war mit Heinrich dem Langen von Braunschweig, Pfalzgraf bei Rhein (um 1173/74– 1227), verheiratet und gründete nach dessen Tod die Klöster Wienhausen und Isenhagen. Nach der Wienhäuser Überlieferung soll sie dort beigesetzt sein; ihr Todesjahr liegt nach 1248.19 Einige Jahrzehnte nach ihrem Tod setzte das Kloster seiner Gründerin eine lebensgroße, farbig gefasste Steinskulptur (Abb.  40–41).20 Die Gründerin schaut uns an und hält mit der Rechten das Klostermodell, während sie mit der Linken ihren Mantel rafft und locker nach dem Tasselband greift – ganz ähnlich wie die Reglindis in Naumburg, aber auch wie mehrere andere Skulpturen des späten 13. Jahrhunderts, z.B. die Grabfigur der 1282 gestorbenen Margarethe von Dänemark in Doberan, die ebenfalls eine Brosche auf der Brust trägt.21 Die Figur der Agnes ist jugendlich idealisiert. Neben generischen Bezügen zu den beiden genannten anderen Skulpturen sind ihre regionalen Werkstattbezüge hervorzuheben. Auffällig ist vor allem die Nähe zu der Statue eines nicht identifizierbaren Herzogs in der Braunschweiger Stiftskirche,22 die bis in Einzel17 So Kerstin Hengevoss-Dürkop: Skulptur und Frauenkloster. Studien zu Bildwerken der Zeit um 1300 aus Frauenklöstern des ehemaligen Fürstentums Lüneburg (Artefact, Bd. 7), Berlin 1994. – Kurt Bauch: Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts, Berlin/New York 1976, S. 169 mit Anm. 362 S. 338. 18 Siehe Anm. 2. 19 Zum Todesjahr der Agnes Röckelein 2018 (wie Anm. 2), S. 233 mit Anm. 1. – Siehe auch Chronik und Totenbuch 1986 (wie Anm. 4), Anm. 15 S. XII f. 20 Höhe 172  cm, Inv.  Nr.  WIE  Dd  001. – Zu der Figur Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), besonders S. 1–19. – Juliane von Fircks: Statue der Klosterstifterin Agnes von Landsberg, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 94–97. 21 Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 13–15. – Zur Grabfigur der Margarethe siehe Juliane von Fircks: Memoria und politische Repräsentation – Das Grabmal Königin Margarethes von Dänemark (†1282) in der Zisterzienserkirche zu Doberan, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 112–125. 22 Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 5–7. – Kat. Nr. 184 Standfigur eines Herzogs (?), in: Otto IV. Traum vom welfischen Kaisertum, Ausst. Kat. Braunschweigisches Landesmuseum – Dom St. Blasii – Burg Dankwarderode Braunschweig vom 8. August bis 8. No-

208 |  Jens Reiche Abb. 40: Wienhausen, Kloster, Figur der Grün­ derin Agnes von Landsberg (3. Drittel 13. Jahr­ hundert).

heiten der Gesichtsgestaltung geht, auch wenn die Agnes insgesamt schlanker ist und das Faltenbild – bedingt durch die langen Gewänder – wesentlich komplexer. Ferner war sicher im weiteren Sinne auch die Madonna im Querhaus des Magdeburger Doms vorbildlich.23 Ohne diese Stilvergleiche hier extensiv betreiben zu wollen, scheint in diesem Kontext eine Datierung der Agnes ab etwa 1270 denkbar. Die ursprüngliche Aufstellung der Figur ist leider nicht bekannt. Kerstin Hengevoss-Dürkop will aus Bearbeitungsspuren an den Seiten und auf der Rückseite schließen, die Agnes sei ehemals eine liegende Grabfigur gewesen, und unter ihrem Kopf habe sich ein Kissen befunden, das nachträglich abgearbeitet worden sei.24 Diese Überlegung ist nicht richtig, vielmehr lässt die in Bosse stehengebliebene Rückseite auf eine Nischenaufstellung schließen. Dass die Rückseite ursprünglich ist, woran man angesichts der groben Ausführung zunächst durchaus berechtigte Zweifel haben darf, konnte

vember 2009, hg. v. Bernd Ulrich Hucker, Petersberg 2009, S. 493–495 (Gerhard Lutz). 23 Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 7–15. 24 Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 73–75.

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Abb. 41: Wienhausen, Kloster, Figur der Gründerin Agnes von Landsberg (3. Drittel 13. Jahrhundert).

bei der jüngsten Untersuchung eindeutig festgestellt werden.25 Die irrtümliche Zuweisung ist umso verständlicher, als zwischen denkmalhaften Stifterfiguren und Grabfiguren im engeren Sinne gestalterisch kein wirklicher Unterschied besteht. Leider ist der Begräbnisort der Agnes in Wienhausen nicht zuverlässig bekannt; immerhin ist jedoch im 16.  Jahrhundert ein Messingsarg in der Nähe der Taufe nachgewiesen, also öffentlich zugänglich in der Gemeindekirche.26 Nicht weit davon entfernt könnte auch die Figur ursprünglich gestanden haben. Heute ist sie 25 Johannes Mädebach: Zum ursprünglichen Erscheinungsbild der Stifterstatue Agnes, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 235 f. 26 Isenhagener Urkunde von 1540: Urkundenbuch des Klosters der Mutter Maria zu Isenhagen (Lüneburger Urkundenbuch, 5. Abteilung), hg. von dem Ausschusse des Historischen

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Abb. 42: Wienhausen, Grundriss des Erdgeschosses der Klosteranlage 1723 (Ausschnitt) mit den vier bekannten Standorten der Agnesfigur. Wienhausen, Klosterarchiv, A I, 5.

in der Südwestecke des Kreuzgangs aufgestellt, hatte aber bis vor einigen Jahren ihren Ort in der Agneshalle genannten Erdgeschosshalle unter dem Nonnenchor. 1723 ist sie im Sommerremter bezeugt, bis 1942 dann in einer Nische neben dem Eingang zum Nonnenchor (Abb. 42).27 Vereins für Niedersachsen, Hannover 1870, Nr. 676 S. 265–268, hier S. 266. – Dazu Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), Anm. 17 S. 73–75. 27 Inventarium des Stifts und Klosters Wienhausen. Von Beweg- und unbeweglichen Güthern, Revenüen, Baarschaften, auch was daßelbe in nießlichem Gebrauch hat, 1723, Wienhausen, Klosterarchiv, A I, 5. – Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 3 mit Anm. 4 f.

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Abb. 43: Wienhausen, Kloster, Wandmalereien im Obergeschoss des Westflügels des Kreuzgangs: Agnes von Landsberg, Margaretha von Schönin­ gen und Dietrich von Prome als Stifter (um 1307–1315).

Agnes wurde im Kloster wenig später noch ein weiteres Mal dargestellt, nämlich im Westflügel des Kreuzgangs in einem gemalten Stifterbild der Äbtissin Margaretha von Schöningen (amt. 1302–1317) und des Propstes Dietrich von Prome (amt. 1307–1315/16) für den Neubau des Klosters.28 Dort steht sie links neben diesen beiden Stiftern und überreicht als Gründerin ein Klostermodell an die beiden Klosterpatrone, Maria und den heiligen Alexander (Abb. 43).29 28 Sabine Wehking: Die Inschriften der Lüneburger Klöster: Ebstorf, Isenhagen, Lüne, Medingen, Walsrode, Wienhausen (Die Deutschen Inschriften, Bd. 76), Wiesbaden 2009, Nr. 3 S. 42–44. 29 Wahrscheinlich ist auch mit den beiden inmitten einer Personengruppe in den gegen 1335 entstandenen Gewölbemalereien des Wienhäuser Nonnenchors hervorgehobenen Figuren,

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|  Jens Reiche Abb. 44: Heiningen, Klosterkirche St. Peter und Paul, Figuren der Klos­ tergründerinnen Hildeswid und Al­ burg (4. Viertel 13. Jahrhundert).

Das Kanonissenstift und seit 1126 Augustinerchorfrauenstift Heiningen soll um das Jahr 1000 durch eine gewisse Hildeswid und ihre Tochter Alburgis gegründet worden sein, urkundlich gesichert ist die Unterstützung Bischof Bernwards von Hildesheim (amt. 993–1022).30 Am südwestlichen Vierungspfeiler der Kirche

einem jungen Mann und einer jungen Frau, das Gründerpaar gemeint: Wiebke Michler: Kloster Wienhausen. Die Wandmalereien im Nonnenchor, Wienhausen 1968, S. 16. – Wehking 2009 (wie Anm. 28), Nr. 8 S. 49–66, hier S. 64. 30 Art. „Heiningen“, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2012 (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 614–624, hier S. 615 (Dennis Knochenhauer). – Oswald Holder-Egger (Hg.): Fundatio monasterii Heiningensis, in: Monumenta Germaniae Historica, Scriptores, Bd.  15, 2, Hannover 1888, S. 1054 f.

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stehen die lebensgroßen Stuckfiguren der legendären Gründerinnen (Abb. 44),31 die in der darunter angebrachten Inschrift zu Frau und Tochter eines mindestens ebenso fiktiven Königs von Italien Altfrid erklärt werden, der mit Otto  III. (gemeint ist wohl Otto II.) gegen die Sarazenen gekämpft habe. Trotz einer Erneuerung im 18. Jahrhundert dürfte die Inschrift im Wortlaut authentisch sein. Auffällig ist das referentielle Niveau der Inschrift, die den Kaiser selbst bemüht, und dem die höfische Kleidung und die Kronen der Figuren entsprechen. Die beiden Figuren sind als „STATUAE SEPULCHRAL[ES]“ bezeichnet, was auf eine ursprüngliche Verwendung als Grabfiguren hindeuten könnte, aber vielleicht sollten sie auch nur die Grablegen in der Kirche anzeigen – ähnlich wie Heinrich II. und Kunigunde an der Bamberger Adamspforte oder Agnes in Wienhausen. Dann könnte der heutige Aufstellungsort – schräg gegenüber von der ehemaligen Nonnenempore im Nordquerarm und in deren Blickrichtung – sogar authentisch sein. Die Heininger Gründerinnen sind der Wienhäuser Agnes sehr ähnlich, wenngleich die Proportionierung und die Ausführung der Details im Einzelnen deutlich gröber ausfallen; vielleicht stammen sie sogar aus derselben Werkstatt. Auch Walsrode ist im 10.  Jahrhundert als Damenstift entstanden, die erste Nennung stammt vom Jahre 986; vor 1225 nahm es die Benediktinerregel an.32 In einem ehemaligen Fenster der romanischen Südwand des Nonnenchors ist seit dem späten 17. Jahrhundert die lebensgroße Gründerfigur des Wale bezeugt (Abb. 45),33 der Aufstellungsort kann aber nicht der ursprüngliche sein. Die erneuerte Inschrift nennt ihn Wale von Anhalt und macht ihn zum Fürsten und Herrn von Bernburg, offenbar eine Fiktion. Die entscheidenden ikonografischen Merk31 Höhe 170 cm, Inv. Nr. HEI 052. – Zu den Figuren Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 79 und Rosenkränze und Seelengärten. Bildung und Frömmigkeit in niedersächsischen Frauenklöstern, Ausst.  Kat. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 03.03.–25.08.2013, hg. v. Britta-Juliane Kruse, Wiesbaden 2013, Kat. Nr. V.1, S. 279–281 (Klaus Niehr). 32 Art. „Walsrode“, in: Die Frauenklöster in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, hg. v. Ulrich Faust (Germania Benedictina, Bd. 11), Sankt Ottilien 1984, S. 534–549, hier S. 534 f. (Wilhelm Kohl). – Renate Oldermann: Kloster Walsrode – vom Kanonissenstift zum evangelischen Damenkloster. Monastisches Frauenleben im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Bremen 2004, S.  22–24, die Gründungslegende S.  216  f. – Art. „Walsrode“, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2012 (wie Anm. 2), Bd. 3, S. 1487–1495, hier S. 1487 f. (Franziska Dösinger). 33 Höhe 193 cm (mit Sockel), Breite 63 cm, Tiefe 31 cm, Inv. Nr. WAL Ac 001. – Rudolphus Lodemann: Beschreibung der Kirchen, Pfarr Diaconats, Wittwen Hauses, […] wolverordneter Pastore und Superintenendte zu Walsrode aus deßen Munde geschrieben von J. C. Bröseker, 1693–1695, Walsrode, Pfarrarchiv, VI, H.  1.; zit.  n. Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), Anm. 111 S. 51. – Zu der Figur ferner Ebd., S. 51–55.

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|  Jens Reiche Abb. 45: Walsrode, Kloster, Kapelle, Figur des Klostergründers Wale (Anfang 14. Jahrhundert).

male der Figur entsprechen denen der Agnes und der Hildeswid, nur ist das Klostermodell detaillierter gestaltet; aus einem Fenster schaut eine Nonne. Die leider sehr unschön gefasste Figur gehört einem anderen Werkstattzusammenhang als diejenigen in Wienhausen und Heiningen an, denn als stilistische Referenz bieten sich die Nordhäuser Stifterfiguren und eine Reliquienbüste der Goldenen Tafel aus St. Michaelis in Lüneburg an.34 Es ist daher eine etwas spätere Entstehungszeit im frühen 14. Jahrhundert anzunehmen. 34 Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 55–59.

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Fischbeck war als Gründung der Helmburgis aus dem Geschlecht der Ekbertiner um 955 ebenfalls ursprünglich ein Damenstift, bevor es spätestens 1262 zum Augustinerchorfrauenstift wurde.35 Die als Stifterfigur angesehene Holzfigur36 ist lebensgroß, wenn auch etwas kleiner als die bisher gesehenen Figuren, und steht heute im Chor auf einer Konsole (Abb.  46), wurde aber erst im Jahre 1902 anlässlich einer Restaurierung aufgefunden, und zwar liegend in einem sargartigen Kasten (Abb. 47)37 unter dem Altar des Damenchors, welcher aus der Zeit um 1600 stammt. Der Kasten ist offenbar angefertigt worden, um die Figur zeitweise zu bestatten, denn sie passt genau hinein; später, also wohl im Laufe des 17. oder 18.  Jahrhunderts, hat man sie dort irgendwann vergessen. Von den klassischen Gründerfiguren unterscheidet sich die Helmburgis vor allem durch das Fehlen des Klostermodells. Dafür hielt sie in der Rechten ehemals ein Spruchband. Die Indizien lassen den Schluss zu, dass die Figur zu bestimmten Anlässen wie ihrem Todestag in den Sargkasten gelegt wurde, um sie nach einer gewissen Zeit wieder hervorzuholen, ähnlich wie eine Heiligenfigur oder Christusfigur bei heiligen Spielen. Mit der Verwendung könnten auch die gegenüber den anderen Figuren etwas geringere Größe und das Material zusammenhängen, denn Holz ist im Vergleich zum Stein der Agnes wesentlich leichter.38 Es wäre kein Einzelfall, dass eine geistliche Institution die Kanonisierung ihrer Gründerin oder ihres Gründers betrieben hätte. Hingegen sind die Übereinstimmungen mit um Gräber gebauten Holzkästen, z.B. des Gründers Liudolf (verst.  866) im Damenstift Gandersheim,39 mehr 35 Renate Oldermann: Stift Fischbeck. Eine geistliche Frauengemeinschaft in mehr als 1000jähriger Kontinuität (Schaumburger Studien, Bd. 64), Bielefeld 2005, S. 15–22 und 35. – Art. „Fischbeck“, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2012 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 410–417, hier S. 410 f. (Renate Oldermann). 36 Höhe 156  cm, Breite 44  cm, Tiefe 29,5  cm, Inv.  Nr.  FBK Ac 007. – Zu der Figur AntjeFee Köllermann: Figur der Stifterin Helmburgis mit dazugehörigem Sargkasten, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 122–125. 37 Höhe 22 cm (32 cm mit Rollen), Breite 176,5 cm, Tiefe 67 cm, Inv. Nr. FBK Ae 002. 38 Der Wale ist ebenfalls aus Holz, aber aufgrund der größeren Ausmaße deutlich schwerer. Die Heininger Figuren sind aufgrund der Fragilität des Stucks nicht transportabel. 39 Martin Hoernes: Die frühgotische Grabfigur „Herzog“ Liudolfs in der Stiftskirche von Gandersheim. Ein neues Gründergrab in Zeiten der Bedrängung, in: Gandersheim und Essen. Vergleichende Untersuchungen zu sächsischen Frauenstiften, hg. v. Martin Hoernes/ Hedwig Röckelein (Essener Forschungen zum Frauenstift, Bd. 4), Essen 2006, S. 131–149. – Jan Friedrich Richter: Gotik in Gandersheim. Die Holzbildwerke des 13. bis 16. Jahrhunderts (Studien zum Frauenstift Gandersheim und seinen Eigenklöstern, Bd. 2), Regensburg 2010, S. 16–21. – Kat. Nr. IX.24 Grabfigur Herzog Liudolfs von Sachsen, in: Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 854–857 (Claudia Kunde).

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|  Jens Reiche Abb. 46: Fischbeck, Stifts­ kirche, Figur der Kloster­ gründerin Helmburgis (wohl nach 1274).

oberflächlicher Natur. Durch dendrochronologische Untersuchungen konnte vor kurzem die Entstehungszeit der Helmburgis bestimmt werden: frühestens 1264, eher ab 1274 für die Figur und frühestens 1284, eher ab 1294 für den Sargkasten;40 vermutlich sind beide zusammen konzipiert und entstanden. Leider ist auch in Fischbeck der ursprüngliche Aufstellungsort der Figur unbekannt, denn die heutige Aufstellung auf einer Wandkonsole im Chor ist modern. 40 Gutachten von Peter Klein, Universität Hamburg, 26.06.2017 und 28.09.2017, Hannover, Klosterkammer Hannover, Restaurierungswerkstatt. – Christiane Adolf: Die technologische Untersuchung der Helmburgis, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 386 f.

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Abb. 47: Fischbeck, Stiftskirche, Sargkasten der Helmburgis (wohl nach 1294).

Schließlich darf im Kontext der Gründerfiguren die formal sehr ähnlich gestaltete Figur des Klosterpatrons, des heiligen Mauritius, im Benediktinerinnenkloster Ebstorf nicht übersehen werden.41 Sie gehört auch in einen ähnlichen Werkstattzusammenhang wie die Wienhäuser Agnes, da der Ebstorfer Mauritius der schon genannten Braunschweiger Herzogsfigur ähnelt wie ein schlankerer Zwillingsbruder. Aber auch die inhaltliche Bedeutung der Figur eines Klosterpatrons musste von der eines Gründers gar nicht so stark abweichen, schließlich ist zumindest für die Helmburgis in Fischbeck eine heiligenmäßige Verehrung unverkennbar.

Motivationen für monumentale Stifterbilder

Dies bringt uns zu der abschließenden und entscheidenden Frage nach den Motivationen: Warum sind – beginnend mit der Mitte des 13.  Jahrhunderts in Naumburg – von den Konventen und Kapiteln mehrerer Klöster, Stifte und Dome 41 Höhe 179 cm, Inv. Nr. EBS Ac 001. – Zu der Figur Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 21–29.

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plötzlich solche monumentalen, allenfalls locker an ein Grab gebundenen, in der Mehrzahl lange postumen Gründer- und Stifterstatuen errichtet worden? Nach den Untersuchungen von Christine Sauer beriefen sich geistliche Institutionen bevorzugt in Krisenzeiten auf eine ältere, höhere und damit unanfechtbare Autorität.42 Hiermit wurde eine Legitimierung geschaffen, die Rechtscharakter hatte oder zumindest einen juristischen Status sichtbar manifestieren sollte, um auf diese Weise aktuelle Übergriffe abzuwehren. So gehört zu den Stiftern, auf die man sich besonders gern berief, auch Karl der Große – nicht zufällig derselbe Kaiser, auf den im Mittelalter die meisten Urkundenfälschungen angefertigt wurden. Aus verschiedenen Epochen und an unterschiedlichen Orten sind mehrere monumentale Karlsstatuen in Kirchen erhalten, z.B. in Müstair (wohl 12. Jahrhundert)43 oder in St. Reinoldi in Dortmund (um 1450).44 Dabei handelt es sich um geistliche Institutionen, die ihre Gründung auf Karl den Großen zurückführten. Eine ganz besondere Krisenzeit war im Reich das Interregnum zwischen 1245/1250, also der Absetzung und dem Tod Kaiser Friedrichs II., und der Wahl Rudolfs von Habsburg 1273. In dieser Zeit waren die Klöster und Stifte fast schutzlos den mittleren Instanzen ausgeliefert, also lokalen Grafen und Fürsten. Während des Interregnums häuften sich in den Schriftzeugnissen Fälle, in denen sich diese Institutionen auf ihre lange zurückliegenden Gründer beriefen, aber auch Gründergrablegen wurden auffällig oft erneuert. So wurden im 3. Viertel des 13. Jahrhunderts im Zisterzienserkloster Maulbronn die Grabplatten zweier bereits etwa ein Jahrhundert zuvor verstorbener Bischöfe von Speyer neu geschaffen. Einer der beiden ist inschriftlich als „FVNDATOR HVIVS DOMVS“ bezeichnet – zu Unrecht. Das Kloster sollte damit als bischöfliche Gründung ausgegeben werden, um seine Rechtsstellung zu stärken, insbesondere gegenüber den die Vogteirechte beanspruchenden Herren von Enzberg.45 42 Sauer 1993 (wie Anm. 5), besonders S. 128–148. 43 Barbara Dietrich: Das wirkmächtige Bild Karls des Grossen. Überlegungen zur Rezeption eines Herrscherbildes, in: Die Zeit Karls des Grossen in der Schweiz, Ausst. Kat. Landesmuseum Zürich, 20.  September 2013 bis 2.  Februar 2014, hg.  v. Markus Riek/Jürg Goll/ Georges Descœudres, Sulgen 2013, S. 30–37, hier S. 30–32. 44 Thomas Schilp: Kirchenbau und -ausstattung als politisches Programm. Zur Reichssymbolik im Hochchor der Dortmunder Reinoldikirche (um 1450), in: Reichszeichen. Darstellungen und Symbole des Reichs in Reichsstädten. 2. Tagung des Arbeitskreises „Reichsstadtgeschichtsforschung“ Mühlhausen 3. bis 5. März 2014 (Studien zur Reichsstadtgeschichte, Bd. 2), hg. v. Helge Wittmann, Petersberg 2015, S. 73–86, besonders S. 82. 45 Sauer 1993 (wie Anm. 5), S. 128–130.

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Auch die Stifterfiguren in Meißen gehören ganz eindeutig in den Kontext solcher Aneignungsversuche während des Interregnums. Markgraf Heinrich der Erlauchte versuchte, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich bischöfliche Güter anzueignen. Bischof Konrad konnte jedoch erfolgreich gegensteuern, wie aus einer Urkunde vom 22. Mai 1252 hervorgeht.46 In Naumburg liegen die Dinge komplizierter. Den Schlüssel für die Deutung – ich referiere hier im Wesentlichen die Positionen von Walter Schlesinger und Holger Kunde – bildet der Streit mit Zeitz um den Bischofssitz. Das Bistum Naumburg war 968 als Bistum Zeitz gegründet worden, wurde aber 1028 wegen der gefährlichen Grenzlage nach Westen verlegt. In Zeitz verblieb ein Kapitel von Kanonikern. Die für den Westchor ausgewählten Stifter gehören alle in die Zeit der Verlegung. Insbesondere Hermann und Ekkehard  II. können als Initiatoren der Verlegung von 1028 gelten; ihre Darstellung ist umso auffälliger, als sie zu den nicht im Dom bestatteten Personen des Zyklus gehören. Zur Entstehungszeit der Naumburger Stifterfiguren war der Streit mit Zeitz extrem aktuell. Erst kurz zuvor war es zu einer Eskalation gekommen, deren Klärung – 1230 mit einem vorläufigen Verhandlungsergebnis zwischen beiden Kapiteln und 1237 mit der endgültigen Entscheidung zugunsten Naumburgs – noch frisch in Erinnerung war. Bei der Einigung war aber auch festgelegt worden, dass die Memoria des Zeitzer Bistumsgründers von 968, Ottos I., ebenfalls im Naumburger Dom begangen werden solle – seine Weglassung ist auffällig. Auch den in Naumburger Quellen als fundator bezeichneten Kaiser zur Zeit der Verlegung, Konrad  II., hätte man einbeziehen können, doch lag offenbar der Akzent auf den Vorfahren der aktuellen Domkanoniker. Dargestellt wurde unter anderem auch Graf Syzzo, der als einer der Ahnen Wilbrands von Käfernburg-Schwarzburg galt, des aktuellen Magdeburger Erzbischofs und vormaligen dortigen Domherrn, gleichzeitig Kanonikers in Naumburg, der 1230 beim Schiedsspruch maßgeblich zugunsten von Naumburg interveniert hatte.47 Die Gründerskulpturen in niedersächsischen Frauenklöstern und -stiften sind etwas später als die Zeit des Interregnums entstanden. Bisher sind zwei Erklärungshypothesen vorgetragen worden. Die ältere Forschung hat angenommen, so 46 Hörsch 2011 (wie Anm. 15), S. 1310 f. 47 Walter Schlesinger: Meißner Dom und Naumburger Westchor. Ihre Bildwerke in geschichtlicher Betrachtung (Archiv für Kunstgeschichte, Beiheft 2), Münster/Köln 1952. – Kunde 2011 (wie Anm. 13), S. 573–577. – Ders. 2011 (wie Anm. 14). – Siehe auch Kat. Naumburg 2011 (wie Anm. 5), Bd. 1, Kat. Nr. VIII.5–VIII.10, S. 741–751 (Holger Kunde).

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wie Rolande für die Freiheit der Städte stehen, hätten die Gründerfiguren für die Freiheit der Klöster gestanden.48 Die These beruht vor allem auf der Ähnlichkeit mit der Herzogsfigur in Braunschweig, die das Bindeglied zu den jüngeren Rolanden in vielen Städten darstellen soll. Jedoch bedeutet die Annahme, das Selbstverständnis eines Klosters sei mit dem einer Stadtkommune 1:1 zu vergleichen, eine grobe Vereinfachung. Man wird wohl nach historisch angemesseneren, differenzierteren Erklärungsmustern suchen müssen. Kerstin Hengevoss-Dürkop hat angeführt, dass 1273, also am Ende und auch als Folge des Interregnums, bestimmt wurde, Herzog Johann von Lüneburg und sein Bruder Albrecht dürften künftig die Vogteien der Klöster ihres Landes nach Gutdünken besetzen. Ihrer Meinung nach gilt für die Agnesfigur in Wienhausen daher folgende Deutung: Sie „unterstreicht das Vordringen welfischer Positionen“.49 Eine solche Interpretation würde jedoch implizieren, dass die Figuren in Wienhausen und auch in Walsrode, das ebenfalls zum Herzogtum Braunschweig-Lüneburg gehörte, Aufträge des Herzogshauses gewesen wären. Dagegen sprechen schon die unterschiedlichen Werkstattzusammenhänge. Und was ist mit dem heiligen Mauritius in Ebstorf oder den Skulpturen in den nichtwelfischen Stiften Heiningen und Fischbeck? Auch historisch scheint zumindest für Wienhausen der Versuch eines Zugriffs auf die Vogtei eher die Ausnahme gewesen zu sein, denn sowohl 1252 von Mathilde, der Witwe Ottos des Kindes, als auch 1368 von Wilhelm und Magnus dem Jüngeren wurde dem Kloster die Vogteifreiheit zugesichert.50 Schließlich sei auch angemerkt, dass eine solche Umdeutung in einem eklatanten Widerspruch zum Selbstverständnis der Agnes zu Lebzeiten stünde, wie es sich in ihren Siegelbildern ausdrückt: vom Thronsiegel hin zum Anbetungssiegel, auf dem Agnes demütig vor Maria kniet.51 Es ist gut möglich, dass die Auseinandersetzung mit den welfischen Herzögen eine Hauptmotivation für die Aufstellung der Figuren in Wienhausen, Walsrode und auch Ebstorf gewesen ist, viel wahrscheinlicher als eine herrscherfreundliche Deutung ist jedoch eine Interpretation hinsichtlich der 48 Horst Wentzel: Die Madonna in Wienhausen, in: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 1 (1947), S. 77–88, hier S. 83. – Horst Appuhn: Kloster Wienhausen, Hamburg 1955, S. 9. – Kritisch Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 71–119. 49 Hengevoss-Dürkop 1994 (wie Anm. 17), S. 90. 50 Art. „Wienhausen“, in: Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser 1994 (wie Anm. 2), S. 756–796, hier S. 759 und 761 (Heiko Leerhoff). 51 Barbara Klössel-Luckhardt: Et sigillo illustris uxoris nostre – Weibliche Repräsentation in frühen Frauensiegeln des Welfenhauses, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte N.F. 2 (2016), S. 27–52, hier S. 33–36.

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Selbstbehauptung der Klöster gegenüber Übergriffen des Landesherrn, analog zu Maulbronn und Meißen. Hinzuweisen ist für Fischbeck noch darauf, dass das Stift vor 1262 mit Augustinerchorfrauen neu besetzt wurde.52 Es ist denkbar, dass diese sich durch Unterstreichung der Kontinuität mit der ursprünglichen Gründung Legitimation verschaffen wollten. Möglicherweise waren aber auch die Fischbecker Untervögte, die Grafen von Schaumburg, Adressaten der Figur. Man wird – wie so oft in den empirischen Wissenschaften – insgesamt nicht damit rechnen können, einmal gewonnene Deutungsmuster auf jeden Einzelfall anwenden zu dürfen, sondern von Fall zu Fall die spezifischen historischen Rahmenbedingungen berücksichtigen müssen, wie gerade auch der Fall Naumburg lehrt.

Ausblick: Jüngere Rezeption

Mit der Reformation – ab 1529 im Herzogtum Lüneburg, in den benachbarten Territorien etwas später53 – wurde die Memoria im engeren Sinne aufgehoben, die Gründer und selbst die Schutzheiligen blieben trotzdem Identifikationsfiguren für die Klöster und Stifte. Ohnehin wurden vorreformatorische Kultpraktiken auch in den nun offiziell evangelischen Klöstern noch erstaunlich lange weiter gepflegt, in vielen Fällen bis ins 17. Jahrhundert hinein, manche sogar bis heute. Im Jahre 1583 fertigte das Fischbecker Kapitel einen großen Behang mit sechs Szenen der Gründungslegende neu an (Abb.  48). Wie die Komposition der Figurenszenen und die in Kapitalis gehaltenen, im Sinn teils entstellten Inschriften verraten, wurde er offenbar nach einer Vorlage des 13.  Jahrhunderts geschaffen. Am Rand kam es zur aktualisierenden Hinzufügung von Wappen der lebenden Mitglieder des Kapitels.54 Nach der Gründung durch Helmburgis, in deren Vorfeld 52 Siehe Anm. 35. 53 Hierzu Arnd Reitemeier: Reformation in Norddeutschland: Gottvertrauen zwischen Fürstenherrschaft und Teufelsfurcht, Göttingen 2017. – Ders.: Die Reformation in den Fürstentümern Lüneburg(-Celle) und Calenberg, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 14–19. – Heiningen erlebte als Bestandteil des Großen Stifts Hildesheim nur ein evangelisches Intermezzo, das von 1568 bis 1643 andauerte. 54 Höhe 246  cm, Breite 344  cm, Inv.  Nr.  FBK Hb 003. – Oldermann 2005 (wie Anm.  35), S. 37–40. – Tanja Kohwagner-Nikolai: „per manus sororum ...“. Niedersächsische Bildstickereien im Klosterstich (1300–1583), München 2006, S. 398–401. – Kat. Nr. 156 Tapisserie mit der Gründungslegende des Stifts Fischbeck, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm.  1), S. 388 (Jörg Richter).

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Abb. 48: Fischbeck, Stift, Behang mit der Gründungslegende (1583).

sie zwei Wunder vollbringt, ist auf dem Behang in der unteren Reihe mittig die Bestätigung der Stiftsgründung durch Kaiser Otto I. zu sehen; der Akzent liegt hier also ganz besonders deutlich auf einer Legitimation durch die höchste Autorität. Der Fischbecker Behang ist sowohl ein Zeugnis für die heiligenmäßige Verehrung der Helmburgis im späten 13. Jahrhundert als auch für die offenbar schwierige Zeit unmittelbar nach der Reformation. In Fischbeck war der evangelische Glaube 1566 durch Vertrag mit dem Landesherrn eingeführt worden.55 Mit der Reformation endete nicht die Notwendigkeit für die Klöster und Stifte, sich gegen Übergriffe des Landesherrn zu verteidigen, im Gegenteil: Seit der Reformation waren die Zugriffsmöglichkeiten des Landesherrn auf die Kirche sogar ganz stark angewachsen, und die Machtverhältnisse hatten sich wesentlich zu Ungunsten der Klöster und Stifte verschoben. Was lag für die Klöster und Stifte näher, als sich weiterhin auf die Autorität der Gründer zu berufen? Die Gründerstatuen 55 Oldermann 2005 (wie Anm.  35), S.  96–100. – Art. „Fischbeck“, in: Niedersächsisches Klosterbuch 2012 (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 410–417, hier S. 411 (Renate Oldermann).

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und selbst der heilige Mauritius in Ebstorf blieben an prominenter Stelle in den Klöstern stehen; nur die Helmburgis in Fischbeck ist unter dem Altar in Vergessenheit geraten. Im 18. Jahrhundert nahm das antiquarische Interesse am Mittelalter wieder zu, es wurden erste Tafelwerke und historiografische Sammlungen über Klöster und Stifte veröffentlicht.56 In Walsrode ließ sich eine Äbtissin, Sophie Anne Dorothee von Hinüber (amt.  1775–1803), mit der Figur des Wale porträtieren,57 dieselbe, die 1786 das 800-jährige Jubiläum ihres Klosters ausgiebig feiern ließ und einen entsprechenden Eintrag in der Chronik verfasste.58 Diese Bewegung nahm im 19. Jahrhundert bekanntlich noch einmal wesentlich zu und ging mit einer romantischen Verklärung des Mittelalters einher. Mit der entstehenden Denkmalpflege kam es dann auch zu den ersten großen Restaurierungskampagnen und zu Inventarisierungen.59 Auch heute noch sind die Stifter- und Patronsfiguren in den evangelischen Frauenklöstern Wienhausen, Walsrode, Ebstorf und Fischbeck für die Konventualinnen und Kapitularinnen ganz wichtige Identifikationsfiguren. Vor der Figur der Agnes in Wienhausen stehen ständig frische Blumen und oft auch eine brennende Kerze60, und bei ihr beginnt jede Klosterführung.

Zusammenfassung

Im Mittelalter war die Memoria, also das Gebetsandenken an die Toten, eine Hauptaufgabe von klösterlichen und stiftischen Gemeinschaften. Stifter gründeten für ihr eigenes Seelenheil Klöster und Stifte und statteten sie reich mit Gütern aus. 56 Renate Oldermann: Die eigene Geschichte der Klöster, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 382–385. – Kat. Nr. 159 Johann Ludolph Lyßmann: Historische Nachricht von dem Ursprunge, Anwachs und Schicksalen des im Lüneburgischen Herzogtum belegenen Closters Meding, in: Ebd., S. 391 (Wolfgang Brandis). 57 Henrike Anders: Sophie Anne Dorothee von Hinüber, Äbtissin von Walsrode (amt. 1775– 1803), in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 392 f. – Kat. Nr. 160 Porträt der Äbtissin Sophie Anne Dorothee von Hinüber, in: Ebd., S. 394 (Anna Mohr). 58 Kat. Nr. 162 Klosterchronik von Walsrode, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 395 (Henrike Anders). 59 Achim Hubel: Denkmalpflege. Geschichte – Themen – Aufgaben. Eine Einführung, Stuttgart 2006, S. 32–72. – Jens Reiche: Die Wiederentdeckung des Mittelalters im 19. Jahrhundert, in: Kat. Hannover 2018 (wie Anm. 1), S. 396–398. 60 Aus Brandschutzgründen heute als LED-Kerze.

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Das Stiftergrab war der zentrale Ort der Memoria, doch kam auch Inschriften und Bildern auf gestifteten Gegenständen eine große Bedeutung zu. Im sächsischen Raum entstand im Laufe des 13. Jahrhunderts eine besondere, monumentale Form der Memoria, die letztlich auf französische Vorbilder zurückgeht. Eine Schlüsselstellung nehmen dabei die kurz vor der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Naumburger Stifterfiguren ein, bei denen es sich um zwölf Figuren von im frühen 11. Jahrhundert lebenden Vorfahren der damals aktuellen Domkanoniker handelt, die für die Verlegung des Bistums von Zeitz nach Naumburg 1028 maßgeblich verantwortlich waren. In die unmittelbare Nachfolge von Naumburg gehören die zwei Stifter- und zwei Patronsfiguren im Meißner Dom, in die weitere die sechs Stifterfiguren der Nordhäuser Stiftskirche. Hingegen sind die Gründerskulpturen in niedersächsischen Frauenklöstern und Damenstiften bisher überwiegend unter stilgeschichtlichen Gesichtspunkten im Kontext der Naumburger Innovation betrachtet und auch nicht als Gesamtphänomen einer spezifischen Form von Memoria erkannt worden. Das Zisterzienserinnenkloster Wienhausen wurde vor 1233 von Agnes von Landsberg gegründet. Im Kloster steht eine lebensgroße Steinfigur der Gründerin, die unter stilistischen Gesichtspunkten um 1270 oder etwas später entstanden sein dürfte, also einige Jahrzehnte nach dem Tod der Agnes, die auch in Wienhausen beigesetzt wurde. Die betont höfisch gestaltete Figur wird manchmal als Liegefigur des Grabes gedeutet, doch war sie von Anfang an als Nischenfigur gedacht. In dem um 1000 gegründeten späteren Augustinerchorfrauenstift Heiningen wird an die legendären Gründerinnen, Hildeswid und Alburg, durch zwei große Stuckfiguren erinnert. Walsrode, später ein Benediktinerinnenkloster, wurde im 10.  Jahrhundert durch einen gewissen Wale als Stift gegründet, dessen lebensgroße Holzfigur im frühen 14.  Jahrhundert und damit als letzte der Serie entstand. Als viertes ist schließlich Fischbeck zu nennen, das um 955 als Frauenstift gegründet und später Augustinerchorfrauenstift wurde. Die dendrochronologisch auf frühestens nach 1264, eher aber nach 1294 datierte Figur der Gründerin Helmburgis ist etwas kleiner als die übrigen und hat einen dazugehörigen Sargkasten, in den sie gelegt werden konnte – ein deutliches Anzeichen einer heiligenmäßigen Verehrung. Auf ihre Gründer beriefen sich geistliche Institutionen in erster Linie in Krisenzeiten. Die Motivationen waren sicher nicht überall die gleichen. In Naumburg waren die aktuellen Auseinandersetzungen mit Zeitz, die gerade erst 1237 mit einer Entscheidung zugunsten Naumburgs geendet hatten, ausschlaggebend für die

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Aufstellung der Figuren. Die Gründerfiguren in niedersächsischen Frauenklöstern und -stiften sollen nach Ansicht der älteren Forschung für die Freiheit der Klöster gestanden haben, genauso wie Rolande in Städten; dies ist sicher zu einfach gedacht. Kerstin Hengevoss-Dürkop will in ihnen eher Zeichen welfischer Einflussnahme sehen, was den historischen Gegebenheiten im Einzelfall aber widerspricht. Viel wahrscheinlicher als eine herrscherfreundliche Deutung ist dagegen eine Deutung hinsichtlich der Selbstbehauptung der Klöster gegenüber Übergriffen des Landesherrn. Nach der Reformation blieben die Gründerinnen und Gründer Identifikationsfiguren für die meist evangelisch gewordenen Klöster. Das Fischbecker Kapitel fertigte 1583 sogar einen Behang mit der Gründungslegende neu an. Mit der Reformation endete nicht die Notwendigkeit für die Klöster und Stifte, sich gegen den Landesherrn zu verteidigen, im Gegenteil: Dessen Zugriffsmöglichkeiten auf die Klöster hatten sogar ganz stark zugenommen. Die Gründerstatuen blieben in den Klöstern stehen und sind auch heute noch wichtige Identifikationsfiguren.

Summary

In the Middle Ages, memoria – that is, commemoration of the dead in prayer – was a central duty of monastic and collegiate communities. Donors founded monasteries and collegiate churches to secure their salvation and had them lavishly furnished. The donor’s tomb was the central site of memoria, but inscriptions and images on donated objects were also of great significance. In the region of Saxony there emerged over the course of the 13th century a particular, monumental type of memoria that ultimately derives from French models. The donor figures in Naumburg, created shortly before 1250, occupy a key position in this regard; they consist of twelve figures representing the early 11th-century ancestors of the current cathedral canons who were instrumental in the relocation of the bishopric from Zeitz to Naumburg in 1028. The pairs of donors and patron saints in Meißen Cathedral were created immediately after and on the model of those in Naumburg, and the six donor figures in the collegiate church in Nordhausen somewhat later. The sculptures of founders in Lower Saxon female monasteries and collegiate churches, however, have to this point largely been considered from the perspective of style in the context of the innovation in Naumburg and have not yet been recognised as an overarching phenomenon of a specific form of memoria.

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The female Cistercian convent of Wienhausen was founded prior to 1233 by Agnes von Landsberg. The monastery houses a life-size figure of the foundress in stone that, on the basis of style, was likely created around or slightly after 1270, that is, several decades after Agnes’s death and subsequent burial at Wienhausen. Characterised by a pronounced courtliness, the figure has sometimes been regarded as a gisant from Agnes’s tomb; it was, however, conceived from the start as a figure for placement in a niche. In the female foundation of Heiningen, established circa 1000 and later an Augustinian convent, two large figures in stucco commemorate the legendary foundresses Hildeswid and Alburg. Walsrode, later a convent of Benedictine nuns, was founded as a collegiate church in the 10th century by a certain Wale, whose life-size effigy in wood was created in the early 14th century and thus as the last in the series. Fischbeck, established around 955 as a female collegiate church and later converted into a foundation for Augustinian nuns, is to be mentioned as a fourth, final foundation. The figure of the foundress Helmburgis, dendrochronologically datable to after 1264 at the earliest (more likely, after 1294), is somewhat smaller than the others and also possesses a sarcophagus-like storage chest into which it could be placed – a clear sign of veneration of the foundress in the manner of a saint. Spiritual institutions primarily called on their founders in times of crisis. The motivations for doing so were certainly not always the same. In Naumburg, the disputes with Zeitz, which had only ceased in 1237 with a decision in Naumburg’s favour, were a decisive factor in the creation of the donor figures. According to earlier scholarship, the donor figures in Lower Saxon convents and collegiate foundations stood for these institutions’ independence, just like the Roland figures in cities; this, however, is certainly an oversimplification. Kerstin Hengevoss-Dürkop instead sees in them signs of the influence of the Welf line, but this is contradicted in certain cases by the historical circumstances. Far more likely than an interpretation of the figures as supporting the ruler is one that sees them as an assertion of the foundations against interference from the territorial lord. Following the Reformation, foundresses and founders remained points of identification for the foundations, most of which had now become Protestant institutions. The chapter in Fischbeck even created, in 1583, a new textile hanging depicting its foundation legend. The need of monasteries and collegiate churches to defend themselves against the territorial ruler did not end with the Reformation. On the contrary, his possibilities of interfering in the foundations’ affairs had in fact greatly increased. The statues of founders continued to stand in the foundations and remain important points of identification down to the present.

Bildnachweise Abb. 1: © Bildarchiv Foto Marburg /Franz Stoedtner. Abb. 2: © Rheinisches Bildarchiv, rba_035090. Abb. 3: Aus: Rahtgens 1911 (wie Anm. 2 im Beitrag Bienert), S. 242, Fig. 177. Abb. 4–6, 8: LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland (Michael Thuns). Mit freundlicher Genehmigung von Pfarrer M. Schnegg. Abb. 7: Aus: Rolf Toman (Hg.): Die Kunst der Gotik. Architektur – Skulptur – Malerei, Köln 1998, S. 344. Abb. 9: Aus: Czymmek 2008 (wie Anm. 71 im Beitrag Bienert), S. 15, Abb. 7. Mit freundlicher Genehmigung von Pfarrer M. Schnegg. Abb. 10: Aus: Rahtgens 1913 (wie Anm. 1 im Beitrag Bienert), Taf. XIX. Abb. 11: LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, Historisches Bildarchiv. Abb. 12: © Rheinisches Bildarchiv, rba_mf167209. Abb. 13: © Rheinisches Bildarchiv, rba_c006732. Abb. 14: © Rheinisches Bildarchiv, rba_c019705. Abb. 15: Aus: Dehio 2016 (wie Anm.  14 im Beitrag Stead), S.  425 mit Änderungen des Verfassers. Abb. 16–17: Foto: Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW Bielefeld. Abb. 18: Foto: Adam Stead, Köln. Abb. 19: © Stadtkonservator Köln, mit Änderungen des Verfassers. Abb. 20: © Rheinisches Bildarchiv, rba_L009684_7. Abb. 21: © Rheinisches Bildarchiv/Wolfgang F. Meier, rba_d032367. Abb. 22: Foto: Erzbistum Köln, Generalvikariat/Stephanie Pasternok, Köln. Abb. 23: © Rheinisches Bildarchiv, rba_c002369. Abb. 24: © The Metropolitan Museum of Art, The Cloisters, New York. Abb. 25: © LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen, Aufnahme 1984. Abb. 26, 29–30: Foto: Jörg Widmaier, Stuttgart. Abb.  27: © LWL-Denkmalpflege, Landschafts- und Baukultur in Westfalen, LWLDenkmalpflege, Planarchiv 7197 f. Abb. 28: © The British Library Board, Arundel 44, fol. 114v. Abb. 31: © Bildindex Foto Marburg, Aufnahme vor 1982 von Albert Hirmer/Irmgard Ernst­meier-Hirmer. Abb. 32–33, 35–39: Foto: Ludmila Kvapilová-Klüsener, Bamberg. Abb. 34: Foto: Lothar Schick, Rottweil.

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|  Bildnachweis

Abb. 40, 45–48: Foto: Ulrich Loeper © Klosterkammer Hannover. Abb. 41, 43–44: Foto: Jens Reiche. Abb. 42: Wienhausen, Klosterarchiv, A I, 5 mit Ergänzungen des Verfassers. Für die Einwerbung der Bildrechte zeichnen die Autorinnen und Autoren der jeweiligen Beiträge verantwortlich. Sollten irrtümlich Rechte nicht abgegolten worden sein, so bitten wir um einen freundlichen Hinweis.