Bildwelten des Wissens: BAND 7,2 Mathematische Forme(l)n 9783110548815, 9783050046464

Wenn sich Kalküle entwickeln, Grenzwerte errechnet werden, ein Koordinatenkreuz gezeichnet wird, in dem die Stetigkeit,

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Bildwelten des Wissens: BAND 7,2 Mathematische Forme(l)n
 9783110548815, 9783050046464

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Bypassing Mathematics. Das Verhältnis von Bild und Zahl in der Geschichte der Meteorologie
Johann Heinrich Lambert und sein Graph der magnetischen Abweichung
Falsche Bilder
Euklids Zeichen. Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit
Farbtafeln
Faksimile
Bildbesprechung
Wie die Gottheit erschaubar wird – die Figuren Felix Kleins
Ansichtssache Algebra
Die Rolle der Bilder in der Mathematik
Interview
Bücherschau: Rezension
Projektvorstellung
Bildnachweis
Die AutorInnen
Bildwelten des Wissens

Citation preview

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik

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1: Erste Vermessung im Gelände nach Cosimo Bartoli, 1564. 2: Dichteplot der Trajektorien der Mandelbrot-Iteration. 3: Apparat zur Darstellung eines hyperbolischen Paraboloids, 1911. 4: Verfahren zur Konstruktion einer Hyperbel nach Guidobaldo Bourbon del Monte, 1579. 5: Handzeichnung Kopernikus’ zum heliozentrischen System, entstanden vor 1543. 6: Normale winkeltreue Zylinderprojektion nach Mercator. Abbildung aus einem Lehrbuch, 1911. 7: Konstruktion einer Ellipse nach Descartes „Géométrie“, 1637. 8: Näherungsweise Berechnung der Kreisfläche. Japanisch, 1670. 9. Tanzschrittfolge aus Carl Dupins „Geometrie der Künste und Handwerke“, 1825. 10: Einem „geöffneten viereckigen Kasten ähnlicher acykloidischer Complex“ aus Listings „Census räumlicher Objekte“, 1861.

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11: Dodekaeder. Räumliche Konstruktion aus Schlömilchs „Handbuch der Mathematik“, 1880. 12: Boy’sche Fläche, Drahtmodell, Anfang 20. Jahrhundert. 13. Darstellung des Satzes des Pythagoras in Daniele Barbaros Vitruv-Ausgabe von 1567. 14: Volumenberechnung des Pyramidenstumpfes auf dem Moskauer Papyrus 4676, ca. 1850 v. Chr. 15: Dodekaederabwicklung nach Dürer, 1525. 16: Darstellung des Satzes des Pythagoras in einer arabischen Euklid-Ausgabe, 1350. 17: Das Königsberger Brückenproblem in einer Darstellung Leonhard Eulers, 1736. 18: Dodekaederdarstellung aus Kepplers Harmonices Mundi, der „Weltharmonik“, 1619. 19: Modelle durch Parametrisierung und lokale Invarianten bestimmter Kurven im n-dimensionalen Raum, 1884.

Herausgegeben von

Horst Bredekamp, Matthias Bruhn und Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band

Wladimir Velminski und Gabriele Werner Redaktion

Das Technische Bild

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 7,2

Mathematische Forme(l)n

Akademie Verlag

Inhaltsverzeichnis

Editorial

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Isabell Schrickel: Bypassing Mathematics.

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Das Verhältnis von Bild und Zahl in der Geschichte der Meteorologie Tobias Vogelgsang: Johann Heinrich Lambert und

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sein Graph der magnetischen Abweichung Gloria Meynen: Falsche Bilder

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Wolfgang Schäffner: Euklids Zeichen. Zur Genese des analogen Codes in der Frühen Neuzeit

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Farbtafeln

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Faksimile

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Bildbesprechung: Beredte Skizzen.

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Chaos und das zerbrochene Ei von Yoshisuke Ueda Eberhard H.-A. Gerbracht: Wie die Gottheit erschaubar wird –

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die Figuren Felix Kleins Clemens Bruschek, Dominique Wagner: Ansichtssache Algebra

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Eberhard Knobloch: Die Rolle der Bilder in der Mathematik

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Interview: Form und Stoff in Musik und Mathematik

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Bücherschau: Rezensionen

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Projektvorstellung: Open Geometry. Lösung, Visualisierung und

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Animation anspruchsvoller geometrisch/mathematischer Probleme Bildnachweis Die AutorInnen

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Editorial

Der Zeichenstift folgt den Zahlen: Von eins zu zwei zu drei zu vier – nach und nach entstehen Linien, die aus einem vorgegebenen, doch diffusen Muster eine sichtbare geometrische Vorstellung werden lassen. Während der Stift von Zahl zu Zahl wandert, enthüllt er allmählich ein regelmäßiges Netz aus 30 Kanten und 12 Ecken, aus dem sich wiederum 20 gleichseitige Dreiecke ergeben. Das diagrammatische Schaubild ist zugleich ein Denk- und Modellbild. Denn mit den gezeichneten Linien, welche die Dreiecke miteinander verbinden, sind auch jene Faltungen angegeben, die es gestatten würden, aus der flächigen Darstellung einen räumlichen Körper zu konstruieren. Auf Karton gezeichnet, aus diesem herausgeschnitten und an den Kanten gefalzt, ließe sich so der imaginierte Körper mit seinen abstrakten Linien zu einem plastischen und greifbaren Gegenstand formen – einem Ikosaeder. Aufgrund seiner in sich regelmäßigen Struktur steht er nicht nur für eine sichtbare Gestalt, die sich mit den Augen wahrnehmen ließe, sondern auch für einen platonischen Körper, dessen Gestalt als ideal gelten darf, da sich in ihr die Kraft höherer menschlicher Vorstellung zeigt. Anhand solcher platonischer und archimedischer Polyeder, wie sie in der Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts vielfach anzutreffen sind, lässt sich der ästhetische Überschuss verdeutlichen, der im Begriff mathematischer „Bilder“ und in der „Veranschaulichung“ von Mathematik liegt: Platonische Körper beruhen auf der Vorstellung, regelmäßige Polyeder würden die atomare Struktur verschiedener Materien (fest, flüssig, gasförmig, feurig) repräsentieren, so wie der Ikosaeder das Element Wasser. Folglich sind die in den ersten Gesamtdarstellungen der Mathematik des 15. Jahrhunderts aufgenommenen Polyeder zugleich Symbole für die Ordnung der Welt und stellvertretende Formen des Göttlichen, und mit dieser Zweiwertigkeit werden sie auch in den gedruckten Kunst-Unterweisungen tradiert. Paolo Uccellos Sternpolyeder im Fußbodenmosaik von San Marco (Venedig 1445) oder die Intarsienarbeit des Giovanni da Verona in Santa Maria in Organo (Verona 1519–1529), in der diverse Kantenmodelle von Polyedern aufgenommen sind, sind vordergründig Bilder mathematischen Inhalts, zugleich aber auch virtuose Kunststücke, die aus den künstlerischen Forschungen zur Perspektive und deren Gesetzen resultieren. Die angeführten Beispiele sollen nicht etwa suggieren, dass dort, wo Bilder ins Spiel kommen, ein mathematisches Denken zu einem künstlerischen würde; die Synergien, die Künstler und Mathematiker zu jener Zeit eingegangen sind, stehen vielmehr für einen kulturgeschichtlichen Zeitraum, in dem sich Form-

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Editorial

fantasie und naturphilosophische Arbeit an den formalen Ordnungen der Erkenntnis und des Wissens überlappen konnten. Das Mathematische tritt hier als Antrieb und Träger des Ästhetischen auf. In der Zeit des sogenannten Barock verschiebt sich diese Rahmenstellung. Mit dem Anspruch auf Universalisierung wird die mathematische Wissenschaft nun auf außermathematische Gegenstände angewandt, so dass sich umgekehrt Ikosaeder, Kupferstich aus Wentzel das Ästhetische als das Mathematische erweist. Trotz Jamnitzer, Perspectiva Corporum Regularium, Nürnberg 1568, Tafel seiner Formenvielfalt lässt sich das Stuckornament AntoF. III. nio Bossis für den Weißen Saal der Würzburger Residenz (1744–1745) in seinen Grundstrukturen der Schleifen und Ovale auf Kegelschnitt- und Kurvengeometrien sowie auf das Infinitesimalkalkül zurückführen. Teile seines Ornaments enthalten selbstähnliche Formen, die heute mit Produkten der Mathematik der Fraktale verglichen werden können. Das mathematische und das künstlerische Bild sehen sich jedoch nicht mehr ähnlich, auch wenn die dem barocken Stil zugrunde liegende mathematische Form aus dem Einzelfall logisch ableitbar ist. Hier zeichnet sich die neue Kluft ab, dass ein „mathematisches“ Bild zu einem formalisierten Argument (keinesfalls aber Beweis) wird, während ein „künstlerisches“ Bild die Freiheit des Zufalls und der Situationsabhängigkeit, also all dessen, was aus dem mathematischen Bild ausgeschlossen sein soll, für sich in Anspruch zu nehmen vermag. Bildern eine Erkenntnis begründende Funktion zuzusprechen, kollidiert seither mit einer Skepsis gegenüber der Anschaulichkeit. Zugleich aber zielen Teilbereiche der Mathematik angesichts dessen, dass sie selbst hierdurch ein Defizit erfährt, in die Visualität zurück. Die hier zur Diskussion gestellten Beiträge, welche um das Gültigkeitspostulat mathematischer Bilder und deren Überschuss des Zeigens und Wahrnehmens kreisen, sollen daher vor allem jene Bereiche untersuchen, welche nicht durch die konventionalisierte Symbolsprache der modernen Mathematik erfasst werden. Die Herausgeber

Isabell Schrickel

Bypassing Mathematics. Das Verhältnis von Bild und Zahl in der Geschichte der Meteorologie Als die Meteorologie noch keine eigenständige Wissenschaft war, sondern in eine praktische, empirische und theoretische Tradition zerfiel,1 wurde durch grafische Methoden ein bildprägendes Verfahren geschaffen, in dem die erstrebte Vereinigung der drei Traditionen erprobt werden konnte. Dieser Umbruch in der Geschichte des meteorologischen Wissens wirft auch ein Licht auf das Verhältnis von Bild und Zahl hinsichtlich ihrer verschiedenen Operationsweisen und Möglichkeiten. Dabei geht es um die Frage der Übersetzbarkeit von grafischen, allgemein rechnerischen und numerischen Operationen, um die Beschreibung der Entwicklung des Wetters durch Karten und Diagramme und um ihr Verhältnis zur numerischen Modellierung. Infrage steht die Reichweite dieses Falls von „operativer Bildlichkeit“2 angesichts der Tatsache, dass die Meteorologie erst seit 1950 durch ihre Verbindung mit der Computertechnologie eine einheitliche Disziplin geworden ist. Diese Darstellung fokussiert das konstruktive, analoge Verhältnis von Bild und Zahl und kontrastiert es schließlich mit den unanschaulichen Prozeduren der computergestützten Mathematik. Zunächst zum Operationsraum der Wetterkarte: Ihr kommt einerseits die epistemische Funktion zu, Wirbel, Strömungen, Stürme, Fronten und andere Phänomene durch das Mapping meteorologischer Messwerte mit diagrammatischen Mitteln wie Isolinien für Luftdruck, Temperatur oder Niederschlagsart, Strömungslinien, Wind-Pfeilen, schraffierte Flächen usw. zu einer Art Feldbild3 zu konfigurieren, bevor die Struktur dieser Phänomene durch Satellitenbilder evident geworden ist (Abb. 1, 2). In der Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es durch nachträgliche kartografisch-diagrammatische Auswertungen von Stürmen, atmosphärische Gesetzmäßigkeiten zu visualisieren, die theoretisch erst wesentlich später formuliert werden sollten.4 Andere hingegen stützten Sichtweisen, die sich im Nachhinein als untragbar erweisen sollten. Diese Studien dienten also nicht der Vorhersage des Wetters – es ging vielmehr darum, die





1 Vgl. dazu Frederik Nebeker: Calculating the weather: meteorology in the 20th century, San Diego 1995, Kap. 1 u. 12. Die praktische Tradition hatte Wettervorhersagen im Sinn, die empirische Tradition widmete sich der Beobachtung meteorologischer Phänomene mit Messinstrumenten, die theoretische Tradition bemühte sich um ein Verständnis der atmosphärischen Abläufe und deren mathematischer Beschreibung. 2 Vgl. dazu Sybille Krämer: Operative Bildlichkeit. Von der ‚Grammatologie‘ zu einer ‚Diagrammatologie‘? Reflexionen über ‚erkennendes Sehen‘. In: Martina Hessler, Dieter Mersch: Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 94–122. 3 Vgl. dazu Felix Auerbach: Die graphische Darstellung. In: Die Naturwissenschaften, Nr. 7, 1913, S. 159–164, S. 162.

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Abb. 1: Infrarot-Aufnahme eines geostationären MSG-Satelliten vom 15. November 2009 um 12:00 UTC (koordinierte Weltzeit). Die unterschiedlichen Grautöne indizieren die Temperaturunterschiede von Wolken, Ozean und Landmassen: je dunkler, desto wärmer. Die Küstenlinien sowie Längenund Breitengrade wurden nachträglich hinzugefügt.

Isabell Schrickel

Abb. 2: Die identische Wetterlage als Bodendruckwetterkarte. Hier sind Isobaren (Linien gleichen Luftdrucks), Hoch (H)- und Tiefdruckgebiete (L) und die spezifischen Fronten eingezeichnet: Warmfronten werden durch eine Linie mit roten Halbkreisen, Kaltfronten durch eine Linie mit blauen Dreiecken kenntlich gemacht; holt die schnellere Kaltfront die Warmfront ein, kommt es zur Okklusion, die durch eine Linie mit violetten Halbkreisen nebst Dreiecken sichtbar gemacht wird.

Struktur der Phänomene kenntlich zu machen. Die Abbildungen 3, 4, 5 und 6 tragen solche Fälle zusammen.5 Hier ist zu sehen, wie durch die geeignete Selektion von diagrammatischen Gestaltungsmitteln meteorologische Forschungsobjekte konstitiuiert werden. In Espys Pfeildarstellung des Windes wird nur ein Parameter in den Blick genommen (Abb. 3). In Redfields Karte kann hingegen durch die Hinzunahme von Isobaren ein Zusammenhang von Wind und Luftdruck hergestellt werden (Abb. 4). Besonders Loomis’ Konfiguration aus Pfeilen, Linien und farbigen Flächen erreicht jedoch eine epistemische Qualität, die wie ein Phantombild der noch zu erforschenden Physik der freien Atmosphäre wirkt (Abb. 5). Seiner Untersuchung fügt Loomis vier abstrahierende Diagramme (Abb. 6) bei, auf denen die unterschiedliche grafische Logik der einzelnen Sturmtheorien sichtbar wird – gleichsam als Argument und Gegenargument. Wetterkarten gelangen zudem in den Status eines operativen Mediums, wenn in ihnen grafisch gerechnet wird, d. h. wenn Differentiationen und Extrapolationen auf ihnen vollzogen werden, um Wettervorhersagen zu generieren, die eine öffentliche Wirksamkeit entfalten.



4 Beispielsweise können thermodynamische Effekte zu sehen sein, die theoretisch und mathematisch noch nicht formuliert waren, oder es zeigen sich spezifische konterintuitive Strukturen, wie verschiedene „Luftmassen“ oder „Fronten“ – zwei Konzepte, die erst im frühen 20. Jahrhundert entwickelt worden sind (vgl. auch Abb. 5, 6). 5 Vgl. dazu Gisela Kutzbach: The thermal theory of cyclones. A history of meteorological thought in the 19th century, Lancaster 1979.

Das Verhältnis von Bild und Zahl

Abb. 3: Karte eines Sturmes vom 20. Juni 1836 aus James Pollard Espys „Philosophy of Storms“. Espy hatte in Laborexperimenten erkannt, dass die vertikale Konvektion (also Verdunstung und Kondensation) für die Wolkenbildung verantwortlich ist. Diese theoretische Annahme schlägt sich auch in seinem Holzschnitt nieder: es sind Windpfeile zu sehen, die zentripetal verlaufen.

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Abb. 4: Karte eines Sturmes vom 15. Dezember 1839 von William C. Redfield. Es ist zu sehen, dass die Windpfeile zentrifugal entlang idealisierter Isobaren verlaufen. Sein Konzept sah ein mechanis­ tisch-starres Kreiseln des Windes in konzentrischen Bahnen vor.

Vilhelm Bjerknes (1862–1951) hat im Jahre 1913 erstmals das Projekt und die Grenzen der Meteorologie als einer „exakte[n] Wissenschaft“ ­umrissen, und zwar in seiner Antrittsvorlesung am ­Geophysikalischen Institut der Universität Leipzig, dem ersten Institut für die Physik der ­Atmosphäre in Deutschland. Die dort formulierte „Aufgabe der Vorausberechnung künftiger Zustände“6 musste jedoch in zweierlei Hinsicht scheitern. Die Beschreibung des Zustands der ­Atmosphäre durch sieben grundlegende Variablen (Druck, Temperatur, Dichte, Feuchte und die drei Komponenten des Windes) krankt in der Empirie am grobmaschigen Beobachtungsnetz: Über dem Meer und in der Vertikalen sind kaum regelmäßige Messwerte zu erwarten gewesen. Mathematisch stellt sich außerdem noch ein weiteres Problem, nämlich das der analytischen Integration der im wesentlichen sechs partiellen Differenzial­ gleichungen, welche die zeitliche Entwicklung dieser Variablen bestimmbar macht. Für dieses Problem war im zeitkritischen Rahmen der Wettervorhersage „selbstverständlich nichts zu hoffen“, so Bjerknes.7 Allerdings hatten seit den 1890er Jahren einige ­Mathematiker, wie Carl Runge, Wilhelm Kutta oder später Richard Courant, Kurt Friedrichs und Hans Lewy Methoden entwickelt, Differenzialgleichungen durch Ableitungen zu ersetzen und mit finiten Differenzmethoden approximative Lösungen zu finden. Damit verband sich die prin

6 Vilhelm Bjerknes: Die Meteorologie als exakte Wissenschaft. Antrittsvorlesung vom 8. Januar 1913, Universität Leipzig, Braunschweig 1913, S. 14. 7 Vilhelm Bjerknes: Das Problem der Wettervorhersage, betrachtet vom Standpunkte der Mechanik und der Physik. In: Meterologische Zeitschrift, Nr. 21, 1904, S. 1–7, S. 3.

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Isabell Schrickel

Abb. 5: Eine von 13 Karten, mit denen Elias Loomis einen Sturm im Februar 1842 gemappt hat. Isobaren und Isothermen sind zu sehen, die farbigen Felder zeigen die Art des Niederschlags oder der Bedeckung an, die Windpfeile strömen entgegen dem Uhrzeigersinn spiralförmig auf das Zentrum der Depression zu.

Abb. 6: Typologie der Sturmkonzepte von Espy (No. 1), Redfield (No. 2) und Loomis (No. 3, 4), angefertigt von Loomis. Diese abstrahierende Gegenüberstellung der „diagrams“, wie Loomis die Wetterkarten auch nennt, führt die unterschiedlichen Sturmtheorien in ihrer grafischen Logik vor Augen. Was Loomis noch nicht wissen konnte, dass Zyklone aus verschiedenen, aufeinander stoßenden und verwirbelnden Luftmassen mit merklichen Grenzen bestehen, ist hier zu sehen. Erst seit 1919 gibt es die entsprechende Frontentheorie.



zipielle Möglichkeit, die Komplexität des Wettergeschehens mathematisch in den Griff zu bekommen, sich ihm zumindest anzunähern. 1922 veröffentlichte Lewis Fry ­R ichardson (1881–1953) ein Buch mit dem Titel Weather Prediction by Numerical Process, und es enthielt die manuelle Durchführung einer auf solchen Methoden basierenden numerischen ­Wettervorhersage. Sein Modell sah die Durchmusterung der europäischen Atmosphäre in Felder von 400 Kilometer Kantenlänge und je fünf vertikale Blöcke vor (Abb. 7). Auch hier war es unmöglich, einen messtechnischen Ausgangszustand zu ermitteln. Außerdem blieb die gesamte Berechnung ein absurder zeitlicher Aufwand. 64.000 menschliche Computer, eine „forecast factory“8, wären von Nöten gewesen, um überhaupt noch von einer Wetter-„Vorhersage“ sprechen zu können. Denn Richardson hatte sechs Wochen gebraucht, um eine Prognose von nur wenigen Stunden zu berechnen, und dies obendrein mit physikalisch unmöglichen Ergebnissen. Praktikabler und auch bis heute aus dem Meteorologie-Studium bekannt sind jedoch die grafischen Operationen, die Bjerknes und viele andere neben und nach ihm entwickelt haben. Bereits 1904 umriss er dazu die Methoden, die er dann ab 1913 in Leipzig institutionalisieren wollte:

8 Lewis Fry Richardson: Weather Prediction by Numerical Process (1922), New York 1965, S. 219.

Das Verhältnis von Bild und Zahl

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„Auf Grund der angestellten Beobachtungen wird der Ausgangszustand der Atmosphäre durch eine Vielzahl von Karten dargestellt, welche die Verteilung der 7 Veränderlichen von Schicht zu Schicht in der Atmosphäre angeben. Mit diesen Karten als Ausgangspunkt soll man neue Karten ähnlicher Art zeichnen, welche den neuen Zustand von Stunde zu Stunde darstellen. Für die Lösung der Aufgabe in dieser Form sind grafische oder gemischte grafische und rechnerische Methoden erforderlich, welche entweder Abb. 7: Frontispiz aus Lewis Fry Richardson: aus den partiellen Differenzialgleichungen Weather Prediction by Numerical Process (1922). oder auch aus den dynamisch-physikalischen Prinzipien abzuleiten sind.“ 9 Er versteht hier also seine diagrammatischen Methoden als rationale Methoden in dem Sinne, dass sie ihre Funktionalität aus der eindeutigen Verknüpfung mit mathematischen Gleichungen beziehen. Sie sollen der Logik des dynamischphysikalischen Prinzips folgen. An einem Beispiel soll diese Art des grafischen Rechnens veranschaulicht werden. Synoptische Wetterkarten geben klassischerweise ein Standbild des Zustandes der Atmosphäre in Bodennähe wieder. Sie zeigen ein Skalarfeld, das heißt, einigen Punkten auf der Karte werden meist mehrere Werte zugewiesen, nämlich die an den Messstationen erhobenen Werte für Temperatur, Luftdruck, Windstärke usw. Ein Problem dieser Karten ist deren Zweidimensionalität, die zu der Annahme verleitet, die Atmosphäre verändere sich lediglich flächig. Erste Ballon- und Drachenmessungen sowie das theoretische Wissen aus Hydro- und Thermodynamik hatten aber bereits ein anderes Bild vermittelt. Bjerknes’ Projekt war es nun, aus den skalaren Parametern auch die vertikalen Bewegungen der Luftmassen abzuleiten, die schließlich für die Niederschlagsmenge und Art der Bewölkung verantwortlich sind. Es ging damit um die Exploration der dreidimensionalen Atmo-Sphäre auf einer Fläche. Er konstruierte Vektorfelder, um aus den diskreten Windmessdaten eine kontinuierliche Darstellung der Rich

9 Vilhelm Bjerknes: Das Problem der Wettervorhersage, betrachtet vom Standpunkte der Mechanik und der Physik. In: Meterologische Zeitschrift, Nr. 21, 1904, S. 1–7, S. 4.

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Isabell Schrickel

Abb. 8: Empirisch gemessene Winddaten: Pfeile für die Richtung, Zahlen geben die Geschwindigkeit in m/s an. Die feinen Isolinien indizieren Gebirge.

tung und Geschwindigkeit der Luft zu erhalten. Als Beispiel wählt Bjerknes eine stabile und bekannte Wetterlage, nämlich den Monsun in Indien.10 Die seinem Text beigefügten Karten sind visuelle Argumentation und Operation zugleich: Es ist zuerst eine konventionelle Winddarstellung mit Pfeilen zu sehen (Abb. 8). Kleine Zahlen geben die Windgeschwindigkeit in Meter pro Sekunde an, die feineren Isolinien machen das Relief kenntlich, um dessen Einfluss auf die Luftbewegung nachvollziehen zu können. Die abgeleitete Vektorfeld-Darstellung (Abb. 9) macht die Bewegung der Luft sichtbar, sie stellt eine grafische Korrelation von Luftdruck und Windgeschwindigkeit her.11 Hier kann für jeden Punkt auf der Karte die Stärke und Richtung der Luftströmung abgelesen werden, außerdem ist das Zentrum eines Zyklons über dem Punjab sofort ersichtlich, da die Strömungslinien in dieser Gegend konvergieren. Die Einbeziehung des Reliefs liefert einen Parameter, der auch vertikale Bewegungen verursacht. Für den Südhang des Himalayas und der dem Indischen Ozean zugewandten Seite der Westghats veranschlagt er klarerweise aufsteigende Luftmassen. 10 Vilhelm Bjerknes: Synoptical Representation of Atmospheric Motions. In: Quarterly Journal of the Royal Meteorological Society, Nr. 36, 1910, S. 267–286; V. Bjerknes, Th. Hesselberg, O. Devik: Dynamic Meteorology and Hydrography, Part II: Kinematics, Washington D.C. 1911. 11 Die Ähnlichkeit zu anderen physikalischen Felddarstellungen ist offensichtlich. Bjerknes hatte die Theorie der hydromechanischen Fernkräfte und deren mögliche Analogien im Elektromagnetismus, denen sich sein Vater Carl Anton Bjerknes ausführlich gewidmet hat, ausgearbeitet.

Das Verhältnis von Bild und Zahl

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Abb. 9: Strömungslinien und Isolinien, die Felder mit gleicher Windintensität anzeigen: grafische Korrelation von Luftdruck und Windgeschwindigkeit.

Im Grunde handelt es sich hier um ein indirektes Messverfahren – freilich ein sehr ungenaues –, denn Daten aus den oberen Atmosphärenschichten wurden damals nur punktuell erhoben. Das ist aber nicht der einzige Aspekt, der das Wetter in der dritten Dimension bestimmt: auch die Konvergenz und Divergenz der dargestellten Horizontalströmungen verursachen steigende (bei Konvergenz) und fallende (bei Divergenz) Luftströme (Abb. 9). Auf der nächsten Karte (Abb. 10) ist die grafische Differentiation beider Einflussfaktoren zu sehen. In den dunkel schraffierten Gebieten gibt es mehrheitlich aufsteigende Luftströmungen, in den hellen fallende. Diese Operationsweise ist von Bjerknes als „precalculation“ konzipiert worden,12 d. h. als rationale Vorhersagemethode: „We derive one map from the other, just as one usually derives one equation from another.“13 Die von ihm begründete Bergen-Schule der Meteorologie hat eine ganze Reihe von grafischen Kalkülen entwickelt. Dazu gehörten spezielle mathematische Papiere, Schablonen, nomografische Hilfstabellen und mechanische Integrationsmaschinen.14 Im Kalkül können Größen durch Flächen innerhalb eines gerichteten Graphen dargestellt werden, aber beispielsweise auch als Quantitäten in einem Analogrechner. Die Resultate scheinen eine 12 Vilhelm Bjerknes: Synoptical Representation (s. Anm. 10), S. 283. 13 Vilhelm Bjerknes: Meteorology as an exact science. In: Monthly Weater Review Nr. 42, 1914, S. 11–14, S. 14. 14 Vgl. dazu Nebeker (s. Anm. 1), S. 52–56.

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Isabell Schrickel

Abb. 10: Grafische Differentiation von zwei, die vertikale Luftströmung beeinflussenden Parametern: Relief und Divergenz oder Konvergenz der Strömungslinien.

gewisse Gültigkeit zu haben, sie sind intuitiv nachvollziehbar. Im Kontext des voranschreitenden 20. Jahrhunderts ist Gültigkeit aber mehr und mehr zu einer Frage der Skalierung geworden. Die Meteorologie ist heute eine Wissenschaft, die in ihrer praktischen Orientierung, Wettervorhersagen zu liefern, ebenso wie in ihrer theoretischen Orientierung, die komplexen Abläufe in der Atmosphäre zu erforschen, massiv auf numerische Mathematik angewiesen ist, will sie sich als eine exakte Wissenschaft im zeitgenössischen Sinn verstehen. Diese Epoche begann nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Organisatoren der Kriegstechnologie Computer schnell meteorologischen Problemen zugewandt haben. Es war John von Neumann selbst, der seine Arbeiten über numerische Lösungsverfahren im Kontext des Manhattan-Projekts an einem zivileren Objekt fortsetzen wollte. Verschiedene Persönlichkeiten15 haben sein wissenschaftliches Interesse an der Meteorologie geweckt, überzeugt haben ihn folgende Argumente: „This subject had several aspects which certainly must have weighed strongly with him: it was and to some substantial extent still is rife with difficulties of a very great mathematical sort; a definitive advance in this field would have deci 15 So etwa Carl-Gustaf Rossby (Meteorologie-Professor in Chicago und Stockholm, der „Diplomat“), Francis Reichelderfer (Kopf des U.S. Weather Bureau), Vladimir Zworykin (damals RCA Corporation und an der Simulation meteorologischer Aspekte durch Analogrechner ­interessiert).

Das Verhältnis von Bild und Zahl

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sive implications in both mathematics and theoretical physics; and finally hydrodynamics was and is enormously useful to the government. All these reasons were important to von Neumann, and each must have contributed to his decision to move into this field.“16 Abb. 11: IAS-Meteorology-Crew und Besucher (v.l.n.r.): Harry Wexler, von Neumann, M.H. Frankel, Jerôme Namias, John Freeman, „Although he had a deep apprecia- John Ragnar Fjörtoft, Francis Reichelderfer, Jule Charney. Im Dunkeln tion of its practical importance dahinter der ENIAC. and intrinsic scientific interest, he also regarded it as the most complex, interactive, and highly nonlinear problem that had ever been conceived of – one that would challenge the capabilities of the fastest computing devices for many years.“17 Das also aus wissenschaftsstrategischen Gründen durch John von Neumann initiierte Meteorology-Project am Institute for Advanced Study (IAS) in Princeton lief von 1948–1956 (Abb. 11). Im Frühjahr 1950 fand die erste erfolgreiche ENIAC-Expedition in Aberdeen Proving Ground statt: 24 Stunden brauchte der Rechner, um eine 24-Stunden-Prognose zu erstellen. Zum ersten Mal gelang damit eine hinreichend korrekte numerische Berechnung des Wetters.18 Im Mai 1955 wurde die numerische Wettervorhersage als rechtzeitlicher Service durch die Joint Numerical Weather Prediction (JNWP) Unit institutionalisiert. An den Problemen und Notwendigkeiten meteorologischer Fragestellungen wurden seit diesem groß angelegten Projekt Mathematik und Computerarchitekturen entwickelt. Von Neumanns intendierte Vermittlung zwischen Computer-Design, Theorie und mathematischen Verfahren lancierte eine Vereinigung von empirischer, theoretischer und praktischer Tradition innerhalb 16 Herman H. Goldstine: The Computer from Pascal to von Neumann, Princeton 1972, S. 179. 17 Philip Duncan Thompson: A History of Numerical Weather Prediction in the United States. In: Bull. Amer. Met. Soc., Nr. 64, 1983, S. 756–769, S. 757. 18 Die Ergebnisse wurden hier veröffentlicht: J.G. Charney, R. Fjörtoft, J. von Neumann: Numerical Integration of the Barotropic Vorticity Equation. In: Tellus, Nr. 2,1950, S. 237–254. Eine Emulation und weitere Materialien auf: http://mathsci.ucd.ie/~plynch/eniac/ (Stand: 11/2009).

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Isabell Schrickel

der Meteorologie, denn im Computer liefen Data-Processing, Theoriebildung (numerische Modellierung) und Vorhersage zusammen. Damit war der Weg vorgezeichnet, den die Meteorologie bis heute geht. Die Wetterkarten haben dabei ihren epistemischen Charakter verloren. Ihre operative Bildlichkeit vermochte nebulöse „Atmomorphologien“19 sichtbar zu machen und als Grundlage analoger, anschaulicher Kalkulationen zu dienen, während computergenerierte Karten heute in erster Linie Informanten sind, welche aus dem unanschaulichen Reich numerischer Simulationen anschauliche Prognosen gewinnen.20 19 Der Begriff stammt von Christoph Rosol. 20 Diese unanschauliche Komponente der Mathematik, die in der Erfindung der transklassischen Maschine mündet, hat Gerald Wildgruber rekonstruiert: Das Schließen der Augen in der Mathematik. In: Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter, Achatz von Müller (Hg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007, S. 205–235.

Tobias Vogelgsang

Johann Heinrich Lambert und sein Graph der magnetischen Abweichung Die Praxis Messwerte als Datenpunkte in einen Koordinatenraum einzutragen und mit einer Linie zu verbinden ist vermutlich schon knapp tausend Jahre alt. Im Codex Latinus 144361 finden sich sieben Kurven, versehen mit den Namen von Himmelskörpern, die gemeinhin als frühestes Verlaufsdiagramm gelten.2 Deutlich jünger ist hingegen die Geläufigkeit, die unsere Zeit im Umgang mit Verlaufsdiagrammen aufweist. Grafisch dargestellte Serien verbreiteten sich langsam, ausgehend von den physikalischen Wissenschaften, erst nach der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.3 Kennzeichnend für die frühesten und frühen Kurven ist, dass sie in aller Regel den Konventionen folgen, die auch heute gelten: Kurven werden in großer Mehrheit von links nach rechts gelesen und bespielen den ersten Quadranten eines Koordinatenkreuzes. Zudem wird das Zusammenspiel von Achsen, Punkten und Kurve über die Epochen hinweg durch eine weitere Eigenart charakterisiert, die als Autonomie der Linie zu bezeichnen ist: Die Linie setzt ihre Eigenbewegung fort und fließt über den Koordinatenraum hinaus, sie agiert als heuristisch-anschauliche Krücke, ohne dem theoretischen Sachverhalt zu genügen; sie verbindet einige wenige Datenpunkte und produziert dadurch eine unendliche Menge neuer; sie wird, ausgehend von einer Gesetzmäßigkeit, als geometrische Kurve gezeichnet und generiert erst dadurch pseudo-empirische Idealwerte. Eine Kurve in einem Koordinatenraum kann vieles sein. Vor Johann Heinrich Lambert wurde jedoch keine Kurve gezeichnet, die Messwerte als Datenpunkte aufnimmt und gleichzeitig der Graph der zugrunde liegenden physikalischen Gesetzmäßigkeit ist. Steck wertet die Unterscheidung zwischen „Schein“ und „wahrer Gestalt“ als Evidenz für eine Ideenlehre, die hinter Lamberts malerischem Realismus steht.





1 Der Codex Latinus 14436 liegt in der Bayerischen Staatsbibliothek und enthält eine Abschrift von Macrobius Boethius’ Kommentaren zu Ciceros „In Somnium Scipionis“. Darauf folgt ein Appendix mit dem Titel „De cursu per zodiacum“, der eine Tafel mit sieben Kurven enthält. Verfasser von Boethiuskommentar und Appendix sind unbekannt. Datiert werden die Texte auf das 10. bzw. 11. Jahrhundert. 2 Vgl. H. Gray Funkhouser: A note on a 10th century graph. In: Osiris 1, 1936, S. 260–262. Ders.: Historical Development of Graphical Representation of Statistical Data. In: Osiris 3, 1937, S. 269–404. 3 Vgl. Laura Tilling: Early experimental graphs. In: The British Journal for the History of Science VII, No. 3, 1975, S. 193–215 und Judy Klein: Statistical Visions in Time, Cambridge, Cambridge University Press 1997.

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Tobias Vogelgsang

Abb. 1: Tafel V zur „Theorie der Zuverläßigkeit“.

Die Malerei hat, genauso wie die Musik, ihre Grundlage in der Geometrie.4 ­Lambert wird von Steck in die Tradition der platonischen Ideenlehre gestellt, die in Geometrie und Harmonielehre gegenständlich wird. Die empirisch-theoretische Kurve 1. Die geometrische Kurve

Sechs der acht Figuren auf der Tafel (Abb. 1) variieren das Thema der empirischen Kurve.5 Verschiedene Graphen und senkrecht stehende Ordinaten sind in den Figuren I bis V und VII um horizontale Achsen und Koordinatenkreuze organisiert. Die Tafel gehört zu Johann Heinrich Lamberts Aufsatz Theorie der Zuverläßigkeit der Beobachtungen und Versuche.6 Ebenso wie der Titel unterstreicht die kontrol



4 Klein: Statistical Visions (s. Anm. 3), S. 90–91. 5 Die senkrechten Geraden, die die Abbildung in der Mitte und rechts davon durchziehen sind die Falze der Originaltafel. Die Tafel musste zum Fotografieren ausgefaltet werden, war aber nicht ganz in die Ebene zu bringen. Aus demselben Grund ist auch der linke Rand der Tafel nicht gerade. Bei der Reproduktion handelt es sich um eine s/w-Fotografie, bei der die Helligkeitswerte nachträglich mit Photoshop angepasst wurden. 6 Johann Heinrich Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit der Beobachtungen und Versuche. In: Ders.: Beyträge zum Gebrauche der Mathematik und deren Anwendung, Berlin 1765.

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lierte Variation der Graphen, dass Lambert hier eine Fragestellung systematisch Abb. 2: Figur I der „Theorie der Zuverläßigkeit“ bearbeitet: (Detail aus Abb.1). „Wenn es Witz und Scharfsinnigkeit erfordert, bey den Versuchen eine solche Auswahl der Umstände zu treffen, welche die Theorie, so dadurch bekräftigt oder angewandt werden soll, voraus setzt und nothwendig macht; so erfordert es nachher nicht wenig Beurtheilungskraft, den wahren Werth der angestellten Versuche zu bestimmen, und dabey fest zu setzen, wie ferne man der geometrischen Schärfe, die man in der Ausübung niemals genau erhalten kann, nahe gekommen sey, und wie viel man zum höchsten noch davon abweiche? Diese Abweichung bestimmt den Grad der Zuverlässigkeit der Beobachtungen und Versuche, und da man diese in der Naturlehre und angewandten Mathematik als eben so viele Grundsätze gebraucht, so wird die Theorie der Zuverlässigkeit ungemein wichtig.“ 7 Lamberts Einleitung greift ein wissenschaftstheoretisches Problem seiner Zeit auf: Wie können empirische Beobachtungen mit physikalischer Theorie in Übereinstimmung gebracht werden? 8 In Figur I von Tafel V (Abb. 2) schneiden sich eine horizontale Achse und eine ansteigende Gerade. Auf der Horizontalen sind die Punkte A, B, C, D, E und F eingetragen. Auf ihnen stehen verschieden lange Senkrechten, deren Endpunkte jeweils mit dem entsprechenden Kleinbuchstaben bezeichnet sind. Die Linien schießen teilweise über die schräg stehende Gerade hinaus, bleiben teilweise dahinter zurück; nur die von Punkt A nach unten aufgetragene Ordinate endet auf der Geraden. Außerdem sind drei weitere Linien gestrichelt eingetragen, die exakt auf der Geraden enden. Diese Ordinaten gehen von zwei mit einem K bezeichneten Punkten aus und sind mit G, g bzw. γ versehen.

7 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 424f. 8 Vor Lambert hatte sich zuletzt Francis Hauksbee von 1712–1713 mit Experimenten zur Kapillarkraft an der Lösung des Problems versucht. Dort vermutete Hauksbee einen umgekehrt proportionalen Zusammenhang zwischen dem Durchmesser des Kapillars und der Steighöhe der Flüssigkeit. Es gelang Hauksbee jedoch nie diese Vermutung empirisch zu verifizieren, da einerseits seine Versuchsanordnungen zu wenig genau waren und er andererseits keine Möglichkeit kannte, den empirischen Fehler statistisch zu kontrollieren. Hauksbees Versuche und Lamberts historische Situation werden ausführlich in der Magisterarbeit des Autors „Von Linien und Kurven – Johann Heinrich Lambert und der Graph der magnetischen Abweichung“ besprochen.

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Hier behandelt Lambert in erster Instanz die „schwerern Fälle“.9 Damit meint er jene Fälle, in denen der Messwert nicht konstant ist, sondern sich gesetzmäßig verändert. Den Umgang mit den „schwerern Fällen“ leitet Lambert aus dem mit den leichten ab. Für die leichten Fälle muss nur ein Wert gefunden werden. Dabei sei es schon lange üblich, die Messung mehrere Male zu wiederholen und aus allen Werten das Mittel zu bilden. Schließlich wird der Versuch weglassen, der am meisten vom Mittel abweicht.10 Er merkt an, dass er die hierzu notwendigen mathematischen Sätze bereits in seiner Photometria bewiesen habe und wendet sich der Untersuchung der „schwerern Fälle“ zu:11 „Wir haben hiebey überhaupt zwo veränderliche Größen x, y, welche durch die Beobachtung mit einander verglichen werden, so daß man für jedes x, so wir als eine Abscisse ansehen können, die dazu gehörende Ordinate y bestimmt. Diese Ordinaten würden eben so viele Puncte geben, wodurch eine gerade oder krumme Linie sollte gezogen werden, wenn die Versuche oder Beobachtungen vollkommen genau wären. Da aber dieses nicht ist, so weicht die Linie mehr oder minder davon ab. Sie muß demnach so gezogen werden, daß sie ihrer wahren Lage am nächsten komme, und zwischen den gegebenen Puncten gleichsam wie Mitten durch gehe.“12 Lambert stellt die Wertepaare der Messungen als Punkte in einem Koordinatensystem dar. Die Punkte wiederum sind Elemente einer Linie oder Kurve; indem sie miteinander verbunden werden, bringen sie die zugrunde liegende Gesetzmäßigkeit zum Vorschein. Soweit artikuliert Lambert lediglich eine jahrhundertealte Praxis. Neu ist hingegen, dass er die Ungenauigkeit der Versuche und Beobachtungen herausstellt. Er zeigt sich nicht verunsichert, sondern formuliert gerade in Anbetracht des empirischen Fehlers den Anspruch, die Linie so zu ziehen, dass sie „ihrer wahren Lage am nächsten komme“. Lambert deutet an, wie er diesem Anspruch gerecht werden will: Die Linie liegt nicht auf den gegebenen Punkten, sondern geht durch sie „gleichsam wie Mitten durch“. Im Einzelnen hängt die Lage der Kurve von verschiedenen Umständen ab, ­entsprechend spielt Lambert mehrere Konstellationen durch. Bevor er sein Vorgehen anhand von Figur I exemplifiziert, schickt er eine systematische Bemerkung voraus: 9 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 427. 10 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 426f. 11 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 427. 12 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 430.

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„§ 10. Wir haben hiebey gleich Anfangs zween allgemeine Fälle zu unterscheiden. Denn entweder ist das Gesetz der zu ziehenden Linie durch die Theorie bestimmt, oder nicht. Im letzten Fall bleibt kein ander Mittel, als daß man die Linie von freyer Hand ziehe. […] § 11. Ist aber das Gesetz der Verhältniß der Ordinaten zu den Abscissen bekannt, so läßt sichs mehr methodisch verfahren. Der leichteste und einfachste Fall hiebey ist, wenn die Linie, so durch die Enden der Ordinaten gehen soll, eine gerade Linie ist. Und bey diesem werden wir den Anfang machen.“13 Für Figur I, ebenso für die Figuren II und III, geht Lambert von der Annahme aus, dass den Messwerten ein linearer Zusammenhang zugrunde liegt, der bereits im Vorhinein bekannt ist. Die Zielsetzung in Figur I ist damit nur noch, die Lage einer Geraden zu bestimmen. Die systematischen Überlegungen materialisieren sich in Lamberts Beschreibung der Figur: „§ 12. Es seyn demnach die Abscissen A, B, C, D, E, F die denselben entsprechenden Ordinaten, Aa, Bb, Cc, Dd, Ee, Ff, so wie sie aus den Versuchen gefunden worden. Die Endpuncte derselben A, b, c, d, e, f sollten vermöge der Voraussetzung in einer geraden Linie liegen. Da sie es aber nicht sind, so ist die Frage, eine gerade Linie HI dergestalt zu ziehen, welche, so viel möglich ist, der wahren am nächsten komme, oder von den Punkten A, b, c, d, e, f, am wenigsten abweiche.“14 „Vermöge der Voraussetzung“ müssten die Endpunkte der Ordinaten auf einer Linie liegen. Durch die Ungenauigkeit der empirischen Methoden ist das aber nicht der Fall, weshalb die Aufgabe neu definiert werden muss. Die „Linie HI“ kommt der „wahren Lage der Linie“ dann am nächsten, wenn sie von den Punkten A, b, c, d, e, f am wenigsten abweicht. Der Kunstgriff, mit dem Lambert die wahre Lage der Linie bestimmt, ist eine positive Formulierung des empirischen Fehlers. Diese Wendung beruht auf systematischen Überlegungen Lamberts zur Natur der Ungenauigkeit: „§ 13. Wir setzen hiebey voraus, daß ungeacht die Observationen keine geometrische Schärfe haben, ihre Abweichung von derselben so sey, daß man keiner vor der anderen einen Vorzug geben könne, oder daß alle Versuche mit gleicher Sorgfalt und Auswahl der Umstände angestellt worden, folglich die Abweichung

13 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 430f. 14 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 431.

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vom wahren schlechthin daher rühre, daß das Instrument an sich keine grössere Schärfe gebe, und das Auge nicht kleinere Unterschiede bemerke […].“15 Konstante Sorgfalt beim Experimentieren, identische Versuchsbedingungen und gleichbleibend begrenztes Auflösungsvermögen von Instrument und Auge bedeuten für Lambert, dass die Natur des empirischen Fehlers zufällig ist. Verfügt man über mehrere Beobachtungen und bildet daraus das Mittel, so gleicht sich der Fehler aus. Damit nimmt das arithmetische Mittel die größtmögliche Nähe zum wahren, idealen Wert ein. An diesem Wert orientiert sich die Lage der Geraden in Figur I (Abb. 2). Der Punkt G steht für das arithmetische Mittel, und wenn die Linie HI durch ihn verläuft, so ist die „Summe der Abweichungen auf beyden Seiten einander gleich“.16 Alle Beobachtungen sind gleich gewichtet und die zufällige Natur des Fehlers wird respektiert. Mit der Bestimmung des arithmetischen Mittels erhält Lambert Punkt G als Element der Geraden. Sofern ihre Steigung nicht bekannt ist, muss noch mindestens ein weiterer Punkt gefunden werden, der auf der Geraden liegt. Dieses Problem löst Lambert, indem er die Beobachtungen in zwei Klassen A, b, c und d, e, f teilt und für diese getrennt das arithmetische Mittel berechnet. Die Punkte g und γ stellen jeweils das arithmetische Mittel einer Klasse dar. Damit ist die wahre Lage der Geraden eindeutig bestimmt.17 Lambert gelingt es den theoretischen Anspruch an einen Graphen mit der Darstellung von Datenpunkten zu vereinen. Aus fehlerhaften Messungen destilliert er durch die Mittelwertsbildung Meta-Messungen. Die Zufälligkeit des empirischen Fehlers macht diese Meta-Messungen zu proto-idealen Punkten. Sie gehen aus empirischen Messungen hervor, gleichen deren Fehler aber aus. Damit ist die Lücke zwischen mathematischer Beschreibung und fehlerhafter Messung geschlossen. Lamberts Kurven ist anzusehen, dass er im Gegensatz zu Hauksbee über eine Fehlertheorie verfügt. Hauksbee gibt zwar die numerischen Messwerte an, in seinen Kurven fehlen sie jedoch. Lambert hingegen zeichnet sie ein. Hauksbee kann angesichts der Abweichung der Daten von seiner Idealkurve nur auf die materiellen Mängel seines Versuchs verweisen; durch jeden neben der Kurve liegenden Punkt würde er die Suggestionskraft seiner Kurve untergraben. Erschwert wird seine Situation dadurch, dass er im Gegensatz zu Lambert tatsächlich empirisch 15 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 432. 16 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 432–434. 17 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 434f.

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vorgeht. Erst im Verlauf des Experiments versucht er eine Kongruenz zwischen seinen Beobachtungen und der mathematischen Hyperbel herzustellen. Weitere Faktoren begünstigen Lamberts erfolgreiches Vorgehen. Er entwickelt seine Überlegungen an einem linearen Zusammenhang, der intuitiver ist als ein exponentieller, sowohl mathematisch-physikalisch als auch grafisch. Zudem geht Lambert davon aus, dass ein lineares Gesetz gegeben ist; der Graph in Figur I ist schon im Vorhinein zweifelsfrei als Gerade bestimmt. Dieselbe vorausgreifende Annahme macht Lambert auch für die Figuren II und III; bei Figur II legt er sich nicht explizit fest, bei Figur III geht er von einem logarithmischen Zusammenhang aus.18 Während Hauksbee mit einer komplexen geometrischen Kurve ringt, hat Lambert lediglich die Lage einer einfachen Geraden zu bestimmen. Der entscheidende Vorteil Lamberts besteht, wie gesagt, in seinen Methoden zur Rationalisierung und zur Kontrolle des empirischen Fehlers. Seine Methode entwickelt er in der Theorie der Zuverläßigkeit, in den Anmerkungen und Zusätzen zur Practischen Geometrie und in seiner Photometria; dort geht er am ausführlichsten auf die mathematischen Grundlagen der Fehlertheorie ein.19 Lamberts Arbeiten in diesem Bereich sind über verschiedene Publikationen verstreut, wurden zudem aber editorisch vernachlässigt. Oleg Sheynin beklagt, dass die Paragrafen 271–306 der Photometria in der Ostwald-Reihe Klassiker der exakten Wissenschaften weggelassen werden. Diese Auslassung ist umso sträflicher, da es sich um die einzige deutsche Übersetzung überhaupt handelt. Die ignorierten Passagen werden mit dem Kommentar versehen, dass sie nichts enthalten, was von Interesse für den Leser sei.20 In dem ausgelassenen Abschnitt identifiziert Sheynin die mathematischen und statistischen Techniken, die gemeinsam die Fehlertheorie begründen. Lambert verwendet in der Vorrede zu Band 1 der Beyträge zum Gebrauche der Mathematik und deren Anwendung zum ersten Mal den Ausdruck „Theorie der Fehler“; er elaboriert diese Wortschöpfung aber nicht.21 Mehrmals macht sich Sheynin dafür stark, dass anstelle von Gauß Lambert als Vater der Fehlertheorie anerkannt wird: „[His] classification […] seems rather clumsy; 18 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 466, 470. 19 Johann Heinrich Lambert: Photometria sive de mensura et gradibus luminis, colorum et umbrae, Augsburg 1760; Johann Heinrich Lambert: Anmerkungen und Zusätze zur Practischen Geometrie. In: Beyträge zum Gebrauche der Mathematik und deren Anwendung, Berlin 1765. 20 Oleg Sheynin: J. H. Lambert’s Work on Probability. In: Archive for History of Exact Sciences 7, No. 3, 1971, S. 250ff. 21 Sheynin: Lambert’s Work (s. Anm. 20), S. 254.

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Abb. 3: Figur IV der „Theorie der Zuverläßigkeit“ (Detail aus Abb.1).

however, taken as a whole, a ‚united‘ theory of errors emerges.“22 Lambert verfügt zum ersten Mal in der Geschichte der Mathematik über eine Fehlertheorie. Damit verschwindet die Differenz zwischen Empirie und Geometrie, zwischen Messwerten und physikalischem Gesetz nicht, sie wird aber in ein theoretisches Gebäude gezwungen und bekommt eine mathematische Form. Der empirische Fehler wird kontrollierbar. Das bedeutet für den Zeichner Lambert und für Figur I auf Tafel V, dass die abweichenden Punkte die ideale Gerade nicht mehr diskreditieren. Vielmehr ist es für Lambert eine systematische Notwendigkeit, die Punkte mit ihrer Differenz zur Linie einzuzeichnen. Sie verweisen auf die Ungenauigkeit der Empirie und auf ihre Überwindung durch die Fehlertheorie. Die Abweichung der Messwerte ist das stärkste Argument für die Wahrhaftigkeit der Geraden. Lambert nimmt für die Figuren I, II und III an, dass das „Gesetz der zu ziehenden Linie durch die Theorie bestimmt ist“. In erster Linie vereinfacht sich dadurch seine Aufgabe, die Lage der Kurve zu bestimmen. In zweiter Linie demonstriert er die Überzeugung, dass Mathematik und Geometrie in der Lage sind, die Welt korrekt zu beschreiben. Dieses Dogma hinterfragt er an keiner Stelle in seiner Theorie der Zuverlässigkeit. Figur III rechts oben (Abb. 3) gibt die Abkühlung eines Thermometers auf die Umgebungstemperatur an und ist von rechts nach links zu lesen. Für Lambert ist sie Beweis dafür, dass die Empirie ebenfalls das mathematische Wesen der Natur bestätigt: „Nun giebt Theorie und Erfahrung, daß die Erkältung nach den Ordinaten einer logarithmischen Linie ­geschehe.“23 Er hat keinen Zweifel daran, dass der physikalische Prozess eindeutig durch eine mathematische Linie beschrieben wird. 22 Oleg Sheynin: Origin of the Theory of Errors. In: Nature 211, No. 5052, 1966, S. 1004. 23 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 470.

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Darin unterscheiden sich Lamberts und Hauksbees Positionen. Letzterer versucht mühevoll die geometrische Hyperbel aus seinen Experimenten zu extrahieren und sie als Graph des Kapillargesetzes zu etablieren, Lambert hingegen hat ein stabiles pythagoreisches Vertrauen in das Wesen der Natur. Dieses Vertrauen ist nicht zufällig und fügt sich in Lamberts Denken und Werk ein. Wesentliche Aspekte davon deuten sich auf Tafel V an. In den Figuren VI, VII und VIII (Abb. 1) geht es nicht um die Findung einer Kurve. Stattdessen demonstriert Lambert ein zeichnerisches Verfahren zur Bestimmung des Berührpunkts einer Tangente an weich drehende Kurven.24 Die Figuren zeigen die Lösung eines geometrischen Problems mit zeichnerischen Methoden und sind insofern sinnbildlich für das Denken Lamberts. Er ist im Umgang mit formalen und visuellen Problemen äußerst geschult und übersetzt beide mit großer Gewandtheit ineinander. Diese Begabungen und Fähigkeiten werden von der Forschung auf breiter Front bestätigt. George Halsted spricht ihm außergewöhnliche Fertigkeiten in „purer Geometrie“ zu, die er sich in einer Hochphase des analytischen Kalküls als Leidenschaft bewahrt. Zudem weist Halsted nach, wie Lambert seine abstrakten Theoreme in Die freye Perspective zu praktischer Anwendung bringt.25 Die enge Verbindung von Geometrie und Perspektive bei Lambert wird auch von Martin Kemp herausgehoben. Neben Gaspard Monge bezeichnet er ihn als die Persönlichkeit, die die Entwicklung von geometrischen Perspektivtheorien im 18. Jahrhunderts dominiert.26 Die Ausarbeitung der axonometrischen Militär- und Kavaliersprojektion führt Kemp als Seitenprojekt der Freyen Perspective an.27 Als „Grundlage für die moderne, mathematische Kartografie“ bewertet George Heine die „bestechend originelle“ Veröffentlichung Lamberts von 1772, die Anmerkungen und Zusätze zur Entwerfung der Land und Himmelscharten.28 Dort erfindet Lambert ganze Familien von Projektionstechniken und trägt als erster der ellipsoidalen Form der Erde Rechnung. Die transversale 24 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 484, 486, 488. 25 George Bruce Halsted: Biography: John Henry Lambert. In: The American Mathematical Monthly 2, No. 7/8, 1895, S. 209f.; Johann Heinrich Lambert: Die freye Perspective, oder Anweisung jeden perspectivischen Aufriß von freyen Stücken und ohne Grundriß zu verfertigen, Zürich 1759. 26 Martin Kemp: The Science of Art. Optical Themes in western art from Brunelleschi to Seurat, New Haven/London 1990, S. 222. 27 Kemp (s. Anm. 26), S. 224. 28 Johann Heinrich Lambert: Anmerkungen und Zusätze zur Entwerfung von Land und Himmelscharten, 1772.

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Mercatorprojektion wird heute für Karten mit großem Maßstab in den USA am häufigsten verwendet.29 Der Umgang mit geometrischen Linien zur Lösung von Darstellungsproblemen ist Lambert in Fleisch und Blut übergegangen. Die äußerst erfolgreiche Beschäftigung mit der Perspektive, die Entwicklung von Projektionstechniken und anderen zeichnerischen Verfahren schließt eine konstante Erfahrung ein: Die wahrnehmbare Welt lässt sich mit Hilfe der Geometrie durchdringen und erfolgreich ordnen. Dass Lambert für die Figuren I, II und III geometrische Linien annimmt, ist im Rückschluss nicht verwunderlich. Es entspricht seiner intellektuellen Prägung und Veranlagung. Lamberts Zuneigung zur Geometrie geht Hand in Hand mit einer tiefen Skepsis gegenüber dem Visus und der Empirie. Diese Skepsis schlägt sich in seiner Theorie der Zuverläßigkeit nieder, maßgeblich in einer Reflexion über die „den wahren Werth der angestellten Versuche“.30 Den „Ursprung der Fehler beym Observiren“ teilt er in den Anmerkungen und Zusätzen zur Practischen Geometrie in fünf Klassen ein. Die Fehler der vierten Klasse entstehen durch das Unvermögen des Auges:„Die Fehler, so von dem Auge entstehen, weil es ganze Flächen für Linien und Puncte ansieht, so bald sie entfernt genug sind, daß es ihre Breite nicht mehr unterscheiden kann“.31 Eine entfernte Fläche wird vom Sehsinn auf einen Punkt oder eine Linie reduziert; darin zeigt sich seine Beschränkung. Zudem spielt Lambert auf ein Phänomen an, das auftaucht, kurz bevor ein Objekt aus der Wahrnehmung verschwindet. Wenn die Auflösung des Sehvermögens an seine Grenzen kommt, erscheinen komplexe Objekte als einfachste geometrische Formen. Im Grenzfall offenbart das Auge selbst eine Neigung zu den Elementen der Geometrie. Lambert hat ein aufgeklärtes Verhältnis zum Visus. Er ist sich der physiologischen Grenzen des Auges bewusst und akzeptiert passive Beobachtungen immer nur unter Vorbehalt. Gleichzeitig weiß er zeichnerische Techniken zu schätzen und zu benutzen. Ebenfalls durch Ausgleich bestimmt ist seine wissenschaftsphilosophische Haltung: 29 George W. Heine: The Prehistory of Conformal Mapping: Development of ­Mathematical ­Cartography in the Eighteenth Century [pdf-Datei] (ESRI – GIS and Mapping ­Software, Stand:  04/2006), abrufbar unter http://gis.esri.com/library/userconf/proc04/docs/ pap1048.pdf. 30 Vgl. Figur IV. 1. a. 31 Lambert: Practische Geometrie (s. Anm. 15), S. 219.

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„All knowledge […] is not empirical; for this would give only historical enumeration. In scientific knowledge individual empirical cognitions are synthesized into a systematic unity. Such scientific cognitions as the laws of physics or the theorems of mathematics, have as their basis simple, homogeneous concepts, such as time, space, solidity, etc.“32 Harold Griffing beschreibt Lambert in einer vermittelnden Stellung, in der Wissen eine Synthese von „empirischen Kognitionen“ und „einfachen, homogenen Konzepten“ ist. Dieses Schema lässt sich ohne Zwang mit Lamberts Behandlung der Kurven synchronisieren. Die Messwerte entsprechen den „empirischen Kognitionen“, die geometrischen Linien und Kurven sind die „einfachen, homogenen Konzepten“, die Synthese von beiden wird durch die Fehlertheorie erreicht. Lamberts Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitsrechnung lassen sich ebenfalls als Ausdruck seiner Eigenschaft werten, nicht in Absolutheiten zu denken, sondern das vermittelnde Moment zu suchen.33 Die Verbindung zwischen Weltanschauung und mathematischer Tätigkeit wird von Sheynin explizit hergestellt. Zu Lamberts Versuch, ein quantitatives Konzept der Wahrscheinlichkeit als Bruchteil von Sicherheit einzuführen, gehört seine Leistung als Mathematiker.34 Das Ineinandergreifen von Geometrie beziehungsweise Mathematik und ­Empirie, von deduktiver und induktiver Vorgehensweise kennzeichnet ­­Figur I (Abb. 2). Die Lage der Linie kann nur deshalb durch die Mittelwertsberech­nun­ gen bestimmt werden, weil Lambert davon ausgeht, dass die ­Gesetzmäßigkeit linear ist. Davon hängt auch die Gleichbehandlung aller Messwerte ab, notwendig durch die postulierte Zufälligkeit des Fehlers: Nur eine Gerade garantiert, dass die Summe der Abweichungen der Punkte zu beiden Seiten der Linie gleich groß ist. Schließlich setzt das Konzept des arithmetischen Mittels eine ­ideal-mathematische und eine chaotisch-empirische Annahme voraus: Erstens existiert neben all den fehlerhaften Messwerten ein wahrer Wert. Zweitens ist der Fehler der gemessenen Werte nicht systematisch, sondern 32 Harold Griffing: J. H. Lambert: A Study in the Development of Critical Philosophy. In: The Philosophical Review 2, No. 1, 1893, S. 55. 33 Zu Lamberts Leistungen auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitsrechnung, vgl. allg.: R. H. Daw: Johann Heinrich Lambert (1728–1777). In: Journal of the Institute of Actuaries 107, 1980; A. Linder: Daniel Bernoull and J. H. Lambert on Mortality Statistics. In: Journal of the Royal Statistical Society 99, No. 1, 1936. 34 Sheynin: Lambert’s Work (s. Anm. 20), S. 245.

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zufällig. Lamberts Fehlertheorie ist eine Dia­lek­tik von idealer Geometrie und zufalls­treu­er Empirie. 2. Die Freihandkurve

Die Erscheinung von Figur III auf Tafel V (Abb. 4) wird beherrscht von einem Koordinatenkreuz, einer weit ausgreifenden Kurve und dazwischen liegenden, verschieden dicht gestaffelten, vertikalen Linien. Die Segmentierung der Achsen und ihre Benennung mit Buchstaben und Zahlen wirken methodisch und wissenschaftlich. Von sorgfältiger Komposition zeugen das gleichförmige Schwingen der Kurve und die Lage der vertikalen Achse. Sie schneidet die Horizontale genau in jenem Punkt, in dem auch die Kurve ihren Durchgang hat. Auch in den Details von Figur IV ergänzen sich die Ausgewogenheit der Kurve und die Präzision der Konstruktion. Die Ordinaten über den Werten 1695, 1700 und 1705 enden genau auf der Kurve, jene von 1664, 1670, 1710, 1715 und 1720 schießen um eine minimale Strecke darüber hinaus. Die Linien von 1610 und 1640 brechen ab, bevor sie die Kurve erreichen. Minimale Unsicherheiten zeigt die Ordinate von 1680, die auf dem letzten Millimeter vor dem Erreichen der Kurve deutlich dünner ausfällt. Der Ausschnitt zeigt zudem, dass die Kurve im Nullpunkt, im Durchgang durch die Achsen leicht abknickt und daher nicht in einer Bewegung gezeichnet wurde. Den Überschuss der Ordinaten über die Kurve könnte man bei einer einzelnen Linie einer unruhigen Zeichenhand zuschreiben. In der Gesamtsicht (Abb. 1) wird aber klar, dass die Ausführung von Figur IV unter enormer Kontrolle steht. Sowohl die überschießenden als auch die zurückbleibenden Linien sind gewollt. Im Kontext von Tafel V kann sich auch Figur IV nur mit der Zusammenführung von empirischen Punkten und einer idealen Linie befassen. Sie stellt die Abweichung der Magnetnadel vom geografischen Nordpol in Abhängigkeit von der Zeit dar. Lambert korrigiert mit Figur IV (Abb. 3) von Muschenbroek; er nahm an, dass die Änderung der Abweichung gleichförmig sei und eine Periode von 1542 Jahren habe. Muschenbroeks Vorgehen kritisiert Lambert, weil dieser die Periode nur aus dem Vergleich von zwei Beobachtungen geschlossen hat, während eine ganze Reihe von Beobachtungen zur Verfügung steht. Lambert ruft die Tradition darstellender Kurven auf, indem er bemerkt, dass „eine Figur dabey ungleich bessere Dienste, als eine Tabelle thut“.

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„Wir haben demnach die zu Paris von 1550 bis 1760 gemachten Beobachtungen zusammen genommen, und die Numern, so viel man fin- Abb. 4: Figur III der „Theorie der Zuverläßigkeit“. den konnte von 5 zu 5 Jahren, die ältesten aber sämtlich in der 4ten Figur vorgestellt. Die gerade Linie AB stellt die Jahre vor, C fällt auf das Jahr 1666 wo die Abweichung zu Paris = 0 war. Die Linie GCH enthält den Maaßstab zu den Graden der Abweichung, welche die Ordinaten für jede angezeichnete Jahre vorstellen […]“.35 Lambert respektiert beim Aufbau seiner Figur IV (Abb. 3) die visuellen Konstanten von Kurven. Die Zeitachse liegt horizontal und nähert sich von links nach rechts der Gegenwart an. Mit dem ersten Messwert von 1550 beginnt sie am linken Rand, am rechten Rand endet sie mit dem letzten Wert von 1760. Bis auf fünf Jahre reicht die Zeitachse an die Veröffentlichung von Lamberts ­Beyträge heran. Indem die Kurve ihren Fluss fortsetzt, läuft sie über den ­letzten Messwert von 1760 hinaus, erreicht die Gegenwart Lamberts und schießt darüber hinaus in die Zukunft. Auch am linken Rand sprengt die Kurve die horizontale Skala, wo sie weit vor dem ersten Messwert ansetzt. Ihr erster sichtbarer Punkt fällt mit dem linken Rand des Rahmens zusammen. Sie belegt den historisch frühesten Punkt im Bildraum der Tafel. In Figur I (Abb. 1) gelingt Lambert die Verbindung von Messwerten und Kurve durch geometrische Fähigkeiten und pythagoreisches Vertrauen, durch Rationalisierung der Messungenauigkeit und mathematische Kontrolle des empirischen Fehlers. In Figur IV (Abb. 3) geht er weitaus weniger methodisch vor. Stattdessen greift er die anfängliche Fallunterscheidung zwischen einer theoretisch bestimmten Linie und der Linie der „freyen Hand“ auf:36 „Es gibt aber unzählige Fälle, wobey man noch keine solche Gleichung hat, und wo folglich diese Linie gleichsam von freyer Hand dergestalt muß gezogen werden, daß sie, so bald die Lage der Puncte A, a, b, c, d, e, f & g offenbar etwas unordentlich ist, und sich nach keiner Regel richtet, zwischen denselben durchgehe, und die einförmigste Krümmung behalte.“37 Indirekt macht Lambert den Vorrang der Geometrie deutlich. Wenn aber keine Gleichung vorhanden ist, dann kommt die freie Hand zum Einsatz. Sie findet die Kurve zu den Punkten, deren Lage „sich nach keiner Regel richtet“. Die Diffe 35 Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit (s. Anm. 6), S. 476f. 36 Vgl. Figur IV. 1. a. 37 Lambert: Theorie der Zuverlässigkeit (s. Anm. 6), S. 475.

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renz zwischen Kurve und Messwert versucht Lambert zu rationalisieren, indem er die Güte der Beobachtungen in Frage stellt: „[…] Man hat sich auch nicht zu verwundern, wenn die Linie DECF […] eben nicht genau durch die Endpuncte der Ordinaten, sondern zwischen einigen durchgeht.“38 In der ungefähren Bewegung der Hand hallen die systematischen Prämissen der Fehlertheorie nach; von einem exakten arithmetischen Mittel ist keine Rede. Indem Lambert die Kurve einträgt, korrigiert er vorhandene Messungen, fügt aber auch neue hinzu: „[Die Linie] dient, um die zwischen die Ordinaten fallenden Ordinaten so genau als es durch eine Construction geschehen kann, zu bestimmen, und sie folglich für solche Umstände zu finden, die man nicht hat observiren können, und die man dessen uneracht gebraucht.“39 Lambert ruft den organisatorischen Aufwand und die technischen Schwierigkeiten auf, mit denen Messungen stets verbunden sind. Eine kontinuierliche, analoge Messung von Werten ist kaum zu bewerkstelligen. Darüber hinaus reflektiert die Passage das systematische Problem der empirischen Methode schlechthin, das Induktionsproblem. Der Sprung von einer begrenzten Anzahl empirischer Beobachtungen zu einem allgemein gültigen Gesetz ist argumentativ nicht zu begründen. Das Induktionsproblem wird in dem Spiel von Punkten und Linie greifbar und spielt sich als haptisches Phänomen ab. Mithilfe der Kurve wird von wenigen, beobachteten Werten auf jene geschlossen, die „man nicht hat observiren können, die man dessen uneracht gebraucht“. Lamberts Formulierung ermöglicht eine pragmatische als auch eine systematische Interpretation. Für die freie Hand bedeuten sie aber das gleiche: Ein praktisches und wissenschaftstheoretisches Problem wird durch die zeichnende Handbewegung überspielt. Die Freiheit dieser Bewegung ist nur durch die Vorgabe eingeschränkt, dass die resultierende Linie die „einförmigste Krümmung“ besitzt. Tilling erkennt Lamberts besonderes Verdienst darin, dass er in Figur IV die ­grafische Darstellung von Messwerten nutzt, um theoretische Schlussfolgerungen zu ziehen. Anhand der Kurve erkennt er, dass die magnetische Abweichung keine lineare Veränderung ist, sondern eine periodische Variation. Zudem liest er grafisch die Länge der Periode ab und bestimmt sie auf ungefähr 400 Jahre.40 38 Lambert: Theorie der Zuverlässigkeit (s. Anm. 6), S. 477. 39 Lambert: Theorie der Zuverlässigkeit (s. Anm. 6), S. 431. 40 Tilling: (s. Anm. 3), S. 201.

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In Figur I (Abb. 1) nähert sich Lambert von der theoretischen Seite und ­synthetisiert Messwerte und mathematische Beschreibung. Eine seiner Annahmen ist, dass die Theorie vorgibt, dass der Graph eine Gerade ist. In Figur IV (Abb. 3) nähert er sich von der empirischen Seite und leistet die Synthese, ohne dass die Theorie die Form der Kurve vorgibt. Damit verliert er eine wesentliche systematische Prämisse, die er dadurch kompensiert, dass er die Kurve mit der freien Hand zeichnet. Tilling muss diesen Moment registrieren, da sie die entscheidenden Passagen Lamberts zitiert. Die Bedeutung dieser Passagen entgeht ihr aber vollkommen.41 Die zeichnende Hand und die Erörterung von Formfragen gehören zu den methodischen Werkzeugen, mit denen Lambert die Synthese von Empirie und Theorie bewerkstelligt: „Am meisten bleibt die Ordinate des Jahres 1640 zurücke. Ich glaubte besser zu thun, diese Beobachtung für ungewiß anzusehen, als daß ich derselben zu gefallen der Linie EC daselbst eine anomalistische Wendung hätte geben sollen, um so mehr, da die um diese Zeit zu London gemachten Beobachtungen, welche immer um ein Grad oder mehr westlicher waren, und eine mit der Linie EC parallele krumme Linie geben, die Parisische Beobachtung von 1640 ebenfalls zweifelhaft machen.“42 Gegenüber der Pariser Beobachtung von 1640 drückt Lambert ein Misstrauen aus, das er im Zusammenhang mit anderen Messungen erläutert. Die vollständige Zurückweisung des Werts von 1640 begründet er aber nur in zweiter Linie mit der Ungenauigkeit der Empirie. An erster Stelle weist er sie mit dem Argument zurück, dass er um „derselben zu gefallen der Linie EC eine anomalistische Wendung hätte geben sollen“. Dem normalen, „einförmigst gekrümmten“ Verlauf seiner Kurve gibt er den Vorzug vor einem einzelnen Messwert. Die Einheit der Form wiegt schwerer als das empirische Datum. Es wäre aber verfehlt, hieraus eine globale Opposition zwischen Freihandform und empirischer Methode abzuleiten. Im Fall der Pariser Beobachtung ist das Formargument eine sorgfältig abgewogene Entscheidung, in der Freihandkurve und Messwerte nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander synthetisiert werden. Lambert ignoriert den Wert von 1640 aufgrund der Kurvenform, die Kurve selbst ist aber eine Ableitung aus allen anderen Messwerten. Innerhalb der Grenzen einer ungefähren Fehlertheorie überlagert die schwingende Linie die empirischen Beobachtungen. Folglich ist die Form der Linie durch 41 Tilling (s. Anm. 3), S. 204–206. 42 Lambert: Theorie der Zuverlässigkeit (s. Anm. 2), S. 477.

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empirische Werte vermittelt, die sie nach wie vor in sich trägt. Das Formargument ist ein transformiertes empirisches Argument, das auf zwei Wegen auf die Messwerte zurückwirkt. Einerseits wird ein einzelner Wert aufgrund zu großer Abweichung von der Kurve zurückgewiesen. Diese Zurückweisung festigt die Form der Kurve und bestätigt damit auch die Richtigkeit aller anderen ­Messwerte. Die Dynamik der Freihandlinie, der Übersprung digitaler Punkte in eine analoge Kurve, schlägt sich in Lamberts Argumentation nieder. Er zweifelt den 1640er Wert nicht auf einer numerischen Ebene an, sondern weil er sich nicht in die Form der Linie einfügt, die die anderen Werte suggerieren. Die freie Hand feiert in Figur IV keinen Triumph. Lamberts Kommentar zu Figur II zeigt, dass sie stattdessen die Schwächen von Empirie und Geometrie kompensiert und zu einer Stärke synthetisiert:„Wir haben angegeben, daß man in denen Fällen, wo die Gleichung für die Linie MKH nicht bekannt ist, dieselbe von freyer Hand ziehen soll, damit sie zwischen den nicht genau bestimmten Puncten A, b, c & g. mitten durchgehe, und so viel möglich ist, einförmig bleibe. Es fehlt zwar an Methoden nicht, krumme Linien durch jede beliebige Anzahl Puncte von gegebener Lage zu ziehen. […] Allein, so bald man durch die Construction findet, daß die Puncte A, b, c, d & g. eben nicht so genau bestimmt sind, so ist unstreitig, daß eine solche Linie alle kleine Abweichungen der Versuche an sich nehmen, und folglich eben so unzuverlässig seyn würde. Es ist daher ungleich besser, wenn man eine Gleichung von wenigen Gliedern und Coefficienten annimmt, und damit eben so verfährt, wie wir oben (§. 54 seqq.) gewiesen haben. Auf diese Art wird die dadurch gefundene krumme Linie nicht nur an sich einfacher seyn, sondern auch dem wahren Mittel aus allen Versuchen näher kommen“.43 Lambert ist auch dann in der Lage, „krumme Linien durch jede beliebige Anzahl von Puncten von gegebener Lage zu ziehen“, wenn die Gleichung nicht bekannt ist. Die Präzision dieses Verfahrens würde aber jeden empirischen Fehler abbilden und damit zu einer unzuverlässigen Kurve führen. Folglich gründet der Vorzug der Freihandlinie nicht auf einem Mangel an Methoden, sondern auf deren Unbrauchbarkeit. Sie sind zu exakt und zu starr für ungenaue Werte. Ungenaue Beobachtungen dürfen nur mit ungefährer Genauigkeit berücksichtigt werden. Das leistet die freie Hand, indem sie in größtmöglicher Einförmigkeit zwischen den Punkten durchgeht und damit dem „wahren Mittel“ am nächsten 43 Lambert: Theorie der Zuverlässigkeit (s. Anm. 6), S. 478f.

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kommt.44 Weil die Auflösung der Geometrie zu hoch ist, tritt an ihre Stelle ein flexibles Formempfinden. Die Lage der Punkte wird berücksichtigt, aber nicht pharisäisch befolgt. Die einförmige Linie ist das Element, das die Fähigkeit hat zwischen geometrischer Schärfe und empirischer Ungenauigkeit zu vermitteln. Die freie Hand kommt der Wahrheit näher als die Geometrie. Die Kurve der magnetischen Abweichung ist die erste Kurve, die sowohl Verlaufsdiagramm als auch Graph einer physikalischen Gesetzmäßigkeit ist. Sie verbindet Theorie und Empirie. Lambert spitzt die Dramaturgie seines Aufsatzes auf Figur IV zu und entscheidet sich aufgrund systematischer Überlegungen für eine Freihandzeichnung. Diese Entscheidung entfaltet ihre ganze Gravitation in Anbetracht der mathematischen und geometrischen Fähigkeiten, über die Lambert verfügt. Ihm stehen sämtliche grafischen und mathematischen Methoden der Geometrie zur Verfügung, stattdessen zieht er die Kurve von freier Hand. Die absurde Logik dieses Moments, die ansatzlose Sublimation von geometrischer Technik in eine künstlerisch-zeichnende Handbewegung erzwingt die Frage nach Lamberts kunsttheoretischer Einstellung. Dieser Aspekt sollte nicht ignoriert werden, auch weil sich Lamberts Gesamtwerk in seiner Weitläufigkeit auf Kunst und Ästhetik ausdehnt. 3. Lambert und die Kunst

Lambert wird vor allem als Perspektiv- und Projektionstheoretiker wahrgenommen. Die wenigen Überlegungen zur Lambert’schen Ästhetik sind davon stark beeinflusst. Max Steck, der Herausgeber der Bibliographia Lambertiana, schreibt ihm die Einsicht zu, dass „zwischen Mathematik und Kunst eine durchgängige Isomorphie statthat, die aus dem Urgrund beider, aus der Idee, ihre Bedeutung erlangt“45. Damit bezieht sich Steck auf die Prinzipien der Schönheit erzeugenden Symmetrien und der Harmonie, die nach seiner Auffassung sämtliche Arbeiten Lamberts zur Perspektive prägen. Immer wieder zitiert Steck, wie Lambert perspektivisch falsche Gemälde, als „Flickwerk“, „zusammengeflicktes Pfuschwerk“ oder als „im Grunde betrachtet gar nichts“ bezeichnet. Daraus folgert er, dass sein oberstes Kriterium an die Malerei perspektivische Korrektheit ist.46 In diese 44 In den Paragrafen 54ff. demonstriert Lambert, wie man diese Linie wiederum in eine Gleichung überführt. 45 Max Steck: Lambert und die Kunst. In: Ders. (Hg.): Schriften zur Perspektive, Berlin 1943, S. 81. 46 Steck (s. Anm. 45), S. 82f., 86.

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Tonlage fällt auch Lamberts Forderung, dass jeder Zeichner und Maler, zusätzlich zur Ausbildung des Augenmaßes, die Linearperspektive zu erlernen hat.47 Gegen die Schwierigkeiten der Konstruktionstechniken setzt Lambert lapidar, dass sie „so leicht wie ein Spielwerk“ gemacht werden kann.48 Steck führt Lamberts radikale Forderung nach der Perspektive ein, legt sie aber nicht im Sinn eines malerischen Realismus aus. Er gelangt zu einer fast gegenteiligen Interpretation, indem er eine Aussage Lamberts zur „Sehekunst“ heranzieht:„Die Sehekunst beschäftigt sich mit den Gründen, nach denen wir den Schein der Sachen von ihrer wahren Gestalt unterscheiden, und aus jenem auf diesen schließen wollen. Die Perspektive lässt die wahre Gestalt zurück und bemüht sich bloß, die scheinbare Gestalt zu entwerfen.“49 Steck wertet die Unterscheidung zwischen „Schein“ und „wahrer Gestalt“ als Evidenz für eine Ideenlehre, die hinter Lamberts malerischem Realismus steht. Die Malerei hat, genauso wie die Musik, ihre Grundlage in der Geometrie.50 Lambert wird von Steck in die Tradition der platonischen Ideenlehre gestellt, die in Geometrie und Harmonielehre gegenständlich wird. Stecks postulierte „Einheit von Kunst und Mathematik in der Idee“ wird von Lambert selbst ad absurdum geführt. Er zeichnet die Kurve der magnetischen Abweichung ­­(Abb. 3) mit der freien Hand, deren Einsatz er gerade in Abgrenzung zur Geometrie begründet. Lambert lässt sich nicht dem platonischen Paradigma unterordnen. Steck selbst zitiert zwei Stellen, die dazu geeignet sind, die scheinbar ­hermetische Schale aus Geometrie und Perspektivlinien um Lambert aufzubrechen. Der erste Teil der Freyen Perspektive umfasst insgesamt 315 Paragrafen; im 311. ­Paragraf geht Lambert für einen Moment von der Erläuterung der ­Perspektivregeln ab: „Übrigens muß man bei solchen Urteilen darauf sehen, ob die gefundenen ­Verhältnisse in den gebührenden Schranken sind, welche teils die Natur, teils die Kunst dabei ordentlich gemacht hat. Ein Haus, ein Baum, ein Mensch kann größer oder kleiner sein als der andere. Übertrieben ist es, wenn ein Palast wie ein Gartenhüttchen, ein Baum wie ein Gesträuch, ein erwachsener Mann wie ein Kind in der Wiege oder wie ein ungeformter Zweig erscheint, oder umgekehrt den letzteren die Größe und das Ansehen der ersteren gegeben worden sind. Die Regeln der Perspektive, welche sich nur mit einer scheinbaren Ver

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Steck (s. Anm. 45), S. 82f. Zitiert in Steck (s. Anm. 45), S. 84. Steck (s. Anm. 45), S. 90; Kursivsetzung: Steck. Steck (s. Anm. 45), S. 90f.

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größerung und Verkleinerung der Teile und ihrer Lage beschäftigt, sind dazu notwendig, aber nicht hinreichend. Sie erschöpfen den Reichtum der Malerkunst lange nicht und diese wird sich immer die Kunst der Farben, die feinere Ausbildung der Teile, das Natürliche in Austeilung von Licht und Schatten und die Entwerfung der Dinge, wobei das Lineal und der Circul nichts helfen, als ein Eigentum vorbehalten. Dabei hilft die Betrachtung der Meisterstücke dem, der ein Kenner werden will, in kurzem auf die Spur. Allein lasst uns zur Perspektive zurückkehren“.51 Die Regeln der Perspektive erschöpfen „den Reichtum der Malerkunst lange nicht“. Lambert bezeichnet sie als einen Bereich, neben dem vier weitere ­stehen, in denen „das Lineal und der Circul nichts helfen“. Die Unbrauchbarkeit der geometrischen Instrumente kompensiert das Studium der Meister. Dieser kurze Exkurs Lamberts, ebenso abrupt eingeschoben wie abgebrochen, deutet ein Kunstverständnis an, das wenig mit Stecks vorgeschlagene Ideenlehre gemeinsam hat. Lamberts Behandlung der Perspektive ist im doppelten Sinn erschöpfend, seine Ästhetik geht aber weit darüber hinaus. Auf 191 Druckseiten und in 32 Abbildungen erörtert, entwickelt und bewirbt er die perspektivischen Konstruktionstechniken, mit drei Sätzen verweist er sie in ihre Schranken. Neben Farbgebung, Gestaltdifferenzierung, Lichtführung und Formentwurf ist die Perspektive nur ein Aspekt. An der Eigenständigkeit der Malerei besteht kein Zweifel, da sie sich die genannten Bereiche „immer […] als ein Eigentum vorbehalten“ wird. Lamberts Formulierung ist bestimmt, im Zusammenspiel mit der Aufforderung zur Perspektive zurückzukehren schon nahezu resignativ. Jenseits der Perspektive ist für Lambert in der Malerei nichts zu holen. 1774 folgt die zweite Auflage der Freyen Perspektive; sie ist um einen zweiten Teil aus Anmerkungen und Zusätzen ergänzt. Der erste Teil besteht aus dem Text der ersten Auflage von 1759, der nur marginal verändert und um Errata bereinigt übernommen wurde. Die Anmerkung zu Paragraf 13 des ersten Teils greift die Perspektive und die anderen Bereiche der Malerei auf: „Übrigens sind die genannten Einheiten [der Linearperspektive] nicht alle. Die Luftperspektive, die Farbenperspektive, das reflektierte Licht, die Auswahl und Zusammengattung der Gegenstände, ne tigribus geminentur Agni, etc. geben 51 Johann Heinrich Lambert: Die Freye Perspektive, nach den Originalen der 1. und 2. Auflage von 1759 bzw. 1774. In: Max Steck (Hg.): Schriften zur Perspektive, Berlin 1943, S. 299.

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deren noch mehrere an. Dazu hat man bisher noch nicht so bestimmte Regeln, als die Linearperspektive zu jenen angibt. Indessen habe ich besonders in der Photometrie schon ziemlichen Stoff dazu gesammelt und die Farben des Malers fangen nach und nach an, ein näherer Gegenstand optischer Untersuchungen zu werden“.52 Wieder ordnet Lambert die Linearperspektive in die Malerei ein, wo sie einer von fünf Bereichen ist; dass sich die übrigen vier dem Lineal und dem Zirkel entziehen, erwähnt er aber mit keinem Wort mehr. Stattdessen stellt er Verwandtschaften fest und geht von der Linearperspektive zu einer Luft- und Farbenperspektive über. Er betont, dass Linear-, Luft- und Farbperspektiven sowie Lichtreflexion und „Auswahl und Zusammengattung der Gegenstände“, folglich alle Aspekte der Malerei, ihre „Einheiten“ haben. Am Weitesten vorangetrieben ist die Systematisierung der Linearperspektive. Von ihr unterscheiden sich die anderen Bereiche nur insofern, als dass man zu ihnen „bisher noch nicht so bestimmte Regeln“ gefunden hat. Zwischen den beiden Ausgaben der Freyen Perspective hat sich Lamberts Bewertung der Malerei entscheidend verändert. Perspektive und beispielsweise die „feine Ausbildung der Teile“ sind 1759 nicht vergleichbar, weil sie essenziell verschieden sind. 1774 gibt es nur einen graduellen Unterschied, der darin besteht, dass sie verschieden weit erforscht sind. Für Lambert ist es nur eine Frage der Zeit und der intellektuellen Anstrengung, bis die gesamte Malerei auf einem regelhaften Fundament steht. Steck nimmt ausschließlich Lamberts Beschäftigung mit der Perspektive wahr, die er unter den Vorzeichen von Geometrie und Idee platonisch interpretiert. Die Verschiebung, die zwischen 1759 und 1774 in Lamberts Bewertung der Malerei stattfindet, legt eine andere Folgerung nahe. Lambert verfolgt eine Rationalisierung der Kunst, er möchte sie systematisch durchdringen und auf Regeln reduzieren. Über den Fortschritt dieses Projekts gibt er in Paragraf 13 Auskunft, wo er den Verweis auf eigene Arbeiten anschließt. Seine Photometria aus dem Jahr 1760 befasst sich mit der Reflektion des Lichts. Einer Veröffentlichung von 1772 greift er mit der Prognose voraus, dass auch die „Farben des Malers“ zum „Gegenstand optischer Untersuchung werden“.53 Diese Ankündigung macht er mit seiner Beschreibung einer mit Calauischem Wachse ausge 52 Lambert: Die Freye Perspektive (s. Anm. 51), S. 327. 53 Vgl. Stecks Fußnote in: Lambert: Die Freye Perspektive (s. Anm. 51), S. 327.

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malten Farben-Pyramide wahr; im Modell einer dreiseitigen Pyramide entwirft er eine Systematik, welche die Berechnung von Farben ermöglicht.54 1759 beschreibt Paragraf 311 die Perspektive innerhalb der Malerei als isoliert. Ins Gegenteil davon verkehrt sich Lamberts Anmerkung von 1774: „Wir können hier noch den Einfluß der Perspektive in die verschiedenen Teile der Malerkunst etwas berühren. Die Luftperspektive begreift überhaupt die Regeln, wie die Gegenstände in größerer Entfernung überhaupt blasser werden und teils eine andere Farbe zu haben scheinen. Ein entfernter Berg oder Wald fällt mehr ins Blaue und in noch größeren Entfernungen ins Hellblaue. […] Alles richtet sich demnach hierbei nach der Farbe, dem Abstande und der Beleuchtung der Gegenstände. Zu beiden letzteren Bestimmungen muß die Linearperspektive Zahl und Maß angeben. Die im 311. § erwähnte natürliche Austeilung von Licht und Schatten wird größtenteils durch die Linearperspektive genau bestimmt“.55 Die Perspektive entfaltet in der zweiten Ausgabe einen Modellcharakter. Sie ist in Linear-, Luft- und Farbenperspektive ausdifferenziert; die „natürliche Austeilung in Licht und Schatten“, ehemals „Eigentum der Malerei“, wird durch ihre Regeln genau bestimmt. Zur Luftperspektive veröffentlicht Lambert 1774 einen Aufsatz, in dem er systematisch die Veränderung von Farben in Abhängigkeit von der Entfernung zum Auge behandelt und sie durch eine mathematische Beschreibung berechenbar macht.56 Lambert benutzt die Perspektive als systematisierende Denkfigur für drei von fünf Bereichen der Malerei. Dieses Leitmotiv bildet sich in der Ausgabe von 1774 heraus, deren Stoßrichtung von der der ersten vollkommen verschieden ist. Die Interessenverschiebung Lambert wird wieder an einem Paragrafen und seiner Anmerkung deutlich. In Paragraf 3 heißt es, dass er „nicht gesonnen [ist] derselben [der Perspektive] eine Lobrede zu halten, noch die Geschichte ihrer Erfindung und ihres Wachstumes zu schreiben“.57 Diese Verweigerung dreht sich 1774 in ihre Antithese um, wo eine 26-seitige Anmerkung die Geschichte der Perspektive erzählt. Lambert erörtert dort die Frage nach dem „ersten 54 Johann Heinrich Lambert: Beschreibung einer mit Calauischem Wachse ausgemalten FarbenPyramide, wo die Mischung jeder Farbe aus weisz und drey Grundfarben angeordnet, dargelegt und derselben Berechnung bei vielerlei Gebrauch gewiesen wird, Berlin 1772. 55 Lambert: Die Freye Perspektive (s. Anm. 47), S. 370. 56 Johann Heinrich Lambert: Sur la Perspective Aérienne. In: Nouveaux Mémoires de l‘Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres, 1774 (1776). 57 Lambert: Die Freye Perspektive (s. Anm. 51), S. 195.

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Erfinder der Perspektive“, und setzt noch vor Euklid an.58 Über Vitruv verfolgt er die Spur in die Renaissance zu Alberti, Leonardo und Dürer; über Bosse und Desargues im 17. Jahrhundert erreicht er Brook Taylor und die Gegenwart des 18. Jahrhunderts.59 In seiner extensiven Antwort berücksichtigt Lambert die zeitgenössische Literatur. Er geht auf die 1758 erschienene Histoire des Mathématiques von Jean-Étienne Montucla ein,60 zudem bezieht er sich auf die Antiquarischen Briefe von Gotthold Ephraim Lessing und dessen 1766 erschienenen Laokoon.61 Lambert nimmt am ästhetischen Diskurs seiner Zeit teil und versteht seine Geschichte der Perspektive als Beitrag dazu. Auch in seinem ersten Brief an Immanuel Kant formuliert er den charakteristischen Anspruch an eine systematisierte Ästhetik. Am 13. November 1765 beklagt er, wie er der Geschwätzigkeit der „schönen Wissenschaften“ ausgesetzt sei, die sich in Metaphern ergehen, die „keiner weder recht versteht noch erklärt“.62 Lambert bittet Kant um einen Austausch über „Kosmologie, Metaphysik, Physik, Mathematik [und] die schönen Wissenschaften mit deren Regeln“.63 Anders als Steck meint, ist das Wesentliche an Lamberts Ästhetik keine Obsession mit der Perspektive; es ist vielmehr ein Fortschrittsdenken, das auf die Identifikation grundlegender Regeln baut und an die Macht der Systematisierung glaubt. Nicht zu übersehen ist der trockene Ehrgeiz, der Lamberts Versuch einer rationalisierten Ästhetik antreibt. Sein Projekt besitzt aber auch einen komischen, parodistischen Zug, weil Lambert in seiner Ernsthaftigkeit übergeht, dass Kunst den Willen besitzt, Konstruktionsregeln zu ignorieren. Die Missachtung und Brechung technischer Konventionen ist Bestandteil der Freiheit der Kunst. Seinerseits wird Lamberts Positivismus aber plausibel, wenn man seine Klage über die ziellose Geschwätzigkeit und Metaphernverliebtheit 58 Lambert: Die Freye Perspektive (s. Anm. 51), S. 309–319. 59 Es handelt sich hierbei um denselben BrookTaylor, der in Kapitel II. 3. b. bei HauksbeesVersuchen zur Kapillarkraft auftritt. Lambert war im Besitz von Jacquiers französischer Übersetzung von Taylors Buch; vgl. Steck in: Lambert: Die Freye Perspektive (s. Anm. 51), S. 48. 60 Jean-Étienne Montucla: Histoire des Mathématiques, dans laquelle on rend compte de leurs progrès dépuis leur origine jusqu‘à nos jours, Paris 1758. 61 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Berlin 1766. 62 Immanuel Kant: Briefwechsel. Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndorfer, 2. Ed., Philosophische Bibliothek, Bd. 52a/b, Hamburg 1972, S. 37f. 63 Kant: Briefwechsel (s. Anm. 62), S. 37–39. Kursivsetzung: Tobias Vogelgsang.

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der schönen Künste ernst nimmt. Sachlichkeit und Systematisierungswille sind Reaktionen auf einen ästhetischen Diskurs, der chronisch ungenau ist und sich in ätherische Dimensionen flüchtet.64 Auf Lamberts Theorie der Zuverlässigkeit folgen zahlreiche weitere Untersuchungen, in denen Lambert wiederholt Graphen einsetzt. Sie genügen stets dem doppelten Anspruch, den er auch an den Graph der magnetischen Abweichung formuliert. Datenpunkte werden im Koordinatensystem eingetragen und verbunden. Anhand der Form der resultierenden Kurve erstellt er Prognosen und leitet Gesetzmäßigkeiten ab.65 Während Lamberts Graphen stets betörend ausgeführt sind, so täuscht er sich in manchen seiner Analysen.66 Lambert stirbt 1777 und seine Leistungen bleiben zunächst ohne Auswirkungen auf die Verbreitung der grafischen Methode. Tilling identifiziert jedoch eine „plötzliche Beschleunigung“ in Gebrauch und Verbreitung von Graphen in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ihre treibende Kraft ist für drei Jahrzehnte der Physiker J. D. Forbes an der Edinburgh University, der sich mit Temperaturschwankungen unter der Erdoberfläche befasst: „This enquiry was perhaps first agitated by the illustrious LAMBERT, a mathematical philosopher of Germany, who yields, in originality, in comprehensiveness of mind, and in the successful application of mathematics to a wide range of important physical subjects, to very few of his contemporaries.“67 Die Würdigung Lamberts durch Forbes stammt aus dem Jahr 1849 und man kann Tilling nur in ihrer Verwunderung zustimmen, weshalb es ein halbes Jahrhundert dauert, ehe jemand die Qualität von Lamberts Arbeiten erkennt.68 Es gilt aber, vermittelt durch Forbes, dass Lambert am Ausgangspunkt der Omnipräsenz steht, mit der uns Kurven und Graphen heute umgeben. Die Bezeichnung des „Philosophen und Mathematikers“, die ihm Forbes und viele andere verleihen, ist durch Lamberts wissenschaftliches Werk überaus gerecht 64 Vor diesem Hintergrund steht Lamberts Versuch einer systematisch-wissenschaftlichen Ästhetik nicht alleine; vor allen anderen ist im 18. Jahrhundert William Hogarths „Analysis of Beauty“ zu nennen. In der Magisterarbeit zu J.H. Lambert wird untersucht, ob Lamberts Kurve u.U. direkt auf Hogarths „Line of Beauty“ zurückgeht. 65 Johann Heinrich Lambert: Essai d‘Hygrométrie ou sur la Mesure de l‘Humidité. In: Histoires de l‘Academie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin, 1769 (1771); Johann Heinrich Lambert: Pyrometrie, Berlin 1779. 66 Tilling (s. Anm. 3), S. 204. 67 Zitiert in Tilling (s. Anm. 3), S. 208. 68 Tilling (s. Anm. 3), S. 206–209.

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fertigt. Dieser Fokus allein erhellt das Rätsel um die Form seiner Figur IV aber ungleich schwächer als eine biografische Anekdote, die Lichtenberg überliefert. Als Sohn eines armen Schneiders war der junge Lambert dazu gezwungen sich die Lichter für das Studium der Bücher selbstständig zu finanzieren. Während er „mit dem Fuß seine Schwester wiegte“, fertigte er kleine Handzeichnungen, die er verkaufte.69 Das Fundament von Lamberts Existenz als Gelehrter ist seine Fähigkeit als Zeichner. 69 Georg Christoph Lichtenberg: Johann Heinrich Lambert. In: Max Steck: Schriften zur ­Perspektive, Berlin 1943, S. 12f.

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Wenn zwei Kühe auf der Weide stehen, könnte die eine Kuh die andere beim Kauen beobachten. Und wiederkäuend könnte die beobachtete Kuh sich ein eigenes Bild von der Nachbarkuh machen. Sie könnte die Nachbarkuh beim Beobachten beobachten und so fort. Aber was ein Kuhauge sieht, ob es sehend denkt, „Ha, da blickt doch die Nachbarkuh“, oder bloß stumpf blickt, ob ein Kuhmaul frisst oder bloß wiederkäuend schwatzt, das wüssten wir gern. Aber die Frage, was Kühe sehen, wenn sie sehen, ist nicht nur fragwürdig – sie ist vermutlich auch unentscheidbar.1 Ein Blick trifft auf ein wiederkäuendes Wesen, zwei Blicke blicken sich an – eine Differenz, und sei sie nur eine Verdopplung oder Wiederholung, ist eine Form von Kommunikation. Auf diese Differenz berufen sich auch die Regensburger Geistlichen, die 1485 jedes Druckexemplar ihrer Messbücher noch einmal auf Kopierfehler untersuchen, sie sind es von den Manuskripten so gewohnt.2 Sie glauben, dass nicht nur die Hände der Schreiber sich bei jeder Abschrift zu Wort melden, sie schreiben auch den Gutenberg’schen Lettern ein Eigenleben zu. Die Mönche nehmen an, dass die Schreiber nicht Herr ihrer Hände sind, die Differenzen ihnen als Störungen, Unfälle und Teufelswerk unterlaufen. Novalis fürchtet dagegen weniger das Eigenleben der Buchstaben als die gezähmten Hände der Schreiber. Er setzt auf Belebung. Der „Act der Manumission“ sei „der Stoss auf uns selbst zu“.3 Die Differenz wird zum Werkzeug des Selbstdenkens. „Das historische Wissen (Ged[ätchniß]) ist polarisch dem verständigen Wissen (Phil[osophie]) entgegengesetzt. Dort lernt man – hier verlernt man […].“4 Die Urheberrechte, die wir gegenwärtig so emsig diskutieren, sind in ihren Anfängen näher an GoogleBooks und Youtube als wir meinen. Es ist eine Lesewut, die hart an der Grenze des Vergessens operiert, indem sie fremde Texte in eigene wandelt: „Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben“, bemerkt Novalis.5 Und so scheint es, als haben die Verteidiger des Urheberrechts zumindest eines vergessen: Jeder Autor ist zuerst Leser und als Leser ein Wiederkäuer fremder Texte. Denn jeder Grashalm steigt mindestens

1 Vgl. John Berger: Warum sehen wir Tiere an? In: Ders.: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Lebens, Berlin 1989, S. 24f. 2 Vgl. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998, S. 145. 3 Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, 1798, S. 7. 4 Novalis: Das allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik 1789/99, S. 328. 5 Novalis: Vorarbeiten (s. Anm. 4), S. 398.

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zweimal aus demselben Kuhmagen. „Es ist kein Buch im Meßkatalog, das nicht seine Frucht getragen hat, und hätt es auch nur den Boden gedüngt, auf dem es wuchs“, sagt B zu A. Und er fährt fort: „Armseelige Predigten und Erbauungsbücher haben ihr Publickum, ihre Anhänger und wircken, in typographischer Rüstung mit zehnfacher Energie auf ihre Hörer und Leser – und so durchaus.“ „A.: Du scheinst die nachtheiligen Folgen des Lesens und den ungeheuren Kostenaufwand auf diesen Artickel des modernen Luxus ganz zu vergessen. B.: Lieber – ist nicht das Geld zum Beleben da –? Warum soll es nun nicht auch diesem Bedürfniß unserer Natur dienen, den Sinn für Gedanken beseelen und befriedigen? “6 Novalis favorisiert die Zirkulation. Er belebt den Buchstaben und erhofft aus der Lektüre fremder Bücher einen Rückstoß auf sich selbst. Auf den Akt der Manumission setzt auch Thomas Macho in seiner Definition der Kulturtechnik: „Kulturtechniken unterscheiden sich von allen anderen Techniken durch ihren potentiellen Selbstbezug, durch eine Pragmatik der Rekursion.“ Man kann „[…] vom Sprechen sprechen, das Kommunizieren kommunizieren. Man kann Bilder malen, in denen Bilder […] erscheinen […]“.7 Darum ist auch nicht alles Kulturtechnik. Der Pflug richtet sich niemals gegen sich selbst. Man könne das Pflügen nicht umpflügen, das Jagen nicht jagen. Man kann die Nahrung nicht nähren. Nicht alle Techniken nähren sich selbst. Nur symbolische Techniken können sich selbst enthalten, betont Thomas Macho. Darum definiere sich eine Kultur erst durch ihre symbolischen Operationen, nicht durch Technik schlechthin. Wenn Kulturtechniken die Möglichkeit des Selbstbezugs besitzen, teilen sie selten die Blickhöhe des Kuhauges. Der „potentielle Selbstbezug“ ist ein generalisierender Blick: Er sieht über die Grasnarbe hinweg. Nur kurz will ich andeuten, was ein generalisierender Blick für eine Bildkritik bedeuten könnte. Er verweist nicht nur auf die Bilder, sondern nimmt ihre Operationen, das Bilden der Bilder, in den Blick. Zwar kann man das Messen nur messen, weil jeder Maßstab sich selbst enthält, aber der Selbstbezug ist nicht notwendig eine Eigenschaft der Zahlen. Ebenso verhält es sich mit der Bild-kritik. Sie ist ein Blick zweiter Ordnung, den man auf die Bilder anwenden kann. Aber

6 Novalis: Dialogen und Monolog, 1798. In: Novalis.Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, München 1978, Bd. II, S. 427. 7 Thomas Macho: Körper der Zukunft. In: Hans Belting (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaft im Aufbruch, München 2007, S. 181f.

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die Bilder selbst sind ohne jedes Leben. Sie besitzen keine Selbstreferenz ab Werk. Das bedeutet nicht, dass ein Blick einen Selbstbezug im Bild nicht herstellen könnte. Darin gleichen Bilder Kühen. Ob sie einen Selbstbezug besitzen, was sie bildend sehen und denken, ist häufig unentscheidbar. Erst ein eingreifender Blick erklärt: „Die Bilder blicken uns an“, „sie beobachten einander“ oder „sie kommunizieren mit uns über den Bildrahmen hinweg“. Doch wenn man die Kommunikation einem stummen Blick der Bilder selbst zuschreibt, ist es eine Begegnung dritter Art. Man muss ihnen magische Kräfte zuschreiben. „Bilder sind Gegenstände, die mit sämtlichen Signaturen des Personenhaften und des Beseeltseins gezeichnet worden sind“, schreibt W. J. T. Mitchell, „sie weisen sowohl physische als auch virtuelle Körper auf; sie sprechen zu uns – manchmal im buchstäblichen Sinne, manchmal im übertragenen Sinn“. An anderer Stelle betont er, dass man das Begehren der Bilder nicht mit dem eigenen Begehren verwechseln solle.8 Bilder leben in ihren Privatuniversen, sie sprechen weder unsere Sprache noch suchen sie zu uns notwendigerweise Kontakt. Paradoxerweise erhöht sich die Reichweite der Bilder erst durch ihre Begrenzung. Nur wenn man davon ausgeht, dass sie sich nicht gleich alles einverleiben, nur wenn man sie nicht vollständig auf Selbstbezug und Selbstdenken abstellt, kann man Bildkritik betreiben. Was könnte also Bildkritik meinen? Einen wiederkäuenden Blick, der auf die zersetzende Kraft des Kuhmagens setzt? Ein doppelter Blick rechnet mit keiner exakten Kopie. Genau genommen, rechnet er überhaupt nicht, weil er auf Differenzen und Fehlern beruht. Das unterscheidet ihn auch von den Metaphern des Einspeisens und Widerkäuens.9 Sie wollen verdoppeln und möglichst genau erinnern. Sie entspringen einer Mnemotechnik, die möglichst fehlerfrei ein Bild, einen Gedankengang oder einen Text reproduzieren soll. Wie kann man die Erinnerung in einer Welt bewahren, die überwiegend mündlich ihr Wissen weitergibt? Man solle „unter keinen Umständen grundlos die Eigentümlichkeiten der Heiligen Schrift verändern, „damit nicht die Klarheit der himmlischen Worte […] zerstört wird, nur weil man sie für jeden verständlich übersetzen will“, warnt Cassiodor in den Schreibregeln, die er für sein Kloster Vivarium in der Mitte des 6. Jahrhunderts verfasst hat.10 „Setze kein B für V, kein V für B,

8 W. J. T. Mitchell: Das Leben der Bilder: Eine Theorie der visuellen Kultur, München 2008, S. 46 und 66. 9 Zur Metapher der „ruminatio“ vgl. Horst Wenzel: Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität. In: Gerhard Neumann (Hg.): Postrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar 1997, S. 481–503.

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kein O für U, kein N für M, wenn die Buchstaben fehlerhaft der Rechtschreibung entgegengesetzt sind.“11 Und an anderer Stelle bemerkt er: „Jedes Wort, das der Kopist niederschreibt, fügt dem Teufel Wunden zu“.12 In den Schreibstuben der Klöster, die den Institutiones Cassiodors folgen, ist der Fehler ein Teufel, den der Schreiber mit einem guten Stil, dem Schreibrohr, bekämpfen und besiegen kann. Doch mit Gutenbergs Erfindung kommt jeder Fehler mit einem geschwärzten Herzen auf die Welt. Denn die Druckerpresse reproduziert selbst Fehler fehlerfrei. Tausendfach wiederholt verliert der Teufel seinen Schrecken: Denn Druckfehler sind keine Fehler. Sie tragen ein Paradox ab Druck in sich. Wie steht es also um das Vergessen, kann man es lernen? Ein wiederkäuender Blick zeigt viele Anzeichen der Verwesung. Am Anfang steht eine Differenz – Fehlsichtigkeit und falsche Bilder. Eine Unterscheidung zwischen zwei Blicken, einem Blick und einem Bild, einem Bild und einem Begriff. Man kann beliebig komplexe Unterscheidungen und Beziehungen anfügen – wenn Bildkritik nicht unbedingt den Bildern selbst zukommt, sondern auf die Differenz der Wiederholung setzt, dann kann man auch an die Stelle eines Bildes einen Raum, ein Gebäude, einen Gegenstand oder bloß irgendeinen Gedanke setzen. Denn die Bilder, Räume und Dinge werden erst mit ihrem Anblick erzeugt. Bildkritik ist dann nicht mehr primär nur an Bilder gebunden. Sie ist nichts, was einem Medium, einer Oberfläche als angeborene Eigenschaft zukommt. Es ist eine funktionale Blindheit, etwa eine spezielle Wahrnehmung, eine Kulturtechnik, ein Regelwerk oder eine Maschine für falsche Bilder, die Fehler in Serie gehen lässt. Dieser falsche oder differenzielle Blick wechselt die Seite. Er ist kein Teufelswerk, diesseits besitzt er divinatorische Fähigkeiten. Denn einmal eingenommen, stellt er die Gegenstände der Kritik durch Selbstbezug her. 2.

Ein klassischer Ort des Selbstbezugs ist die Mathematik. Sie formt ihre Aussagen, ohne auf eine Außenwelt zu rekurrieren.13 Diese Innenwelt, die in einem Vakuum zu leben scheint, will ich befragen. Beweisen ist eine Kulturtechnik. Sie 10 Cassiodori Senatoris Institutiones [divinarum et saecularium litterarum], hg. v. R. A. B. Mynors. Oxford 1961, I: XV 2. 11 Cassiodor (s. Anm. 10), I: XV 9. 12 Cassiodor (s. Anm. 10), I: XXX 1. 13 Ein wenig ausführlicher in Gloria Meynen: Über die Tafel, das erste Universalmedium der Mathematik. In: Friedrich Kittler, Ana Ofak: Medien vor den Medien, München 2007, S. 63–65.

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wohnt an einem Ort des maximierten Selbstbezugs. Doch wie steht es mit der Bildkritik? Ich werde kurz auf die klassischen Beweisformen der Geometrie, den direkten Beweis und den indirekten Beweis eingehen, und ihren Bildgebrauch am Beispiel von Euklids Elemente (Stoicheia) umreißen. Die Elemente sind das älteste Lehrbuch der Geometrie, das wir besitzen. Sie versammeln einen Großteil des mathematischen Wissens ihrer Zeit um 300 v. Chr. Dieses Wissen ist nicht ungeordnet. Euklids Stoicheia teilen ihren Namen mit den Buchstaben des Alphabets. Die Elemente ordnen ihr Wissen in Reihen an. Alle Sätze und Bücher bauen aufeinander auf. Man soll mühelos von den allgemeinen Sätzen zu den Aufgaben voranschreiten. Das griechische Alphabet ist der Versuch, den Lautgehalt einer Sprache so vollständig zu codieren, dass man sie sprechen kann, ohne ein Wort Griechisch zu verstehen. Die Elemente teilen diesen merkwürdigen Analphabetismus mit dem Alphabet. Sie zerlegen das Wissen zunächst in kleinere Einheiten und versuchen sie so anzuordnen, dass ihr Wissen keine Sprünge macht. Die Elemente rechnen mit der Fremdheit von Marsmenschen oder zumindest mit dem Nichtwissen ihrer Leser – jeder Satz soll sich ihnen allein durch seinen Platz im Wissensgebäude erschließen. Sie haben darum eine neue Unterscheidung eingeführt, die von der Rhetorik über die Philosophie bis heute unsere Vorstellung von Objektivität und Evidenz prägt. Sie trennen streng zwischen Prinzipien und Folgerungen, Ursachen und Wirkungen. Sie vermeiden Schwellen, Treppen und Abgründe. Beweisen heißt demnach, alle unverständlichen Sätze so zu zerlegen, dass sie auf Aussagen verweisen, die jeder ohne Vorwissen verstehen kann. Und dies auf möglichst kurzem Wege. Euklid führt den direkten Beweis in höchstens sechs Schritte aus. Mit den ersten vier Schritten bereitet er den Beweis vor. Zunächst beschreibt er ein Problem oder eine Eigenschaft geometrischer Gegenstände in größtmöglicher Allgemeinheit und Kürze. Dann benennt er die Gegenstände, mit denen er den Beweis vollziehen will. Das muss man sich ganz buchstäblich vorstellen. Euklid belegt sie mit Buchstaben, etwa „ABC und DEF seien ähnliche Dreiecke, in denen der Winkel bei B dem bei E gleich ist“. Dann trifft er die letzten Vorbereitungen für den Beweis. „Man verschaffe sich zu BC, EF die Dritte Proportionale BG, so dass BC sich zu EF wie EF sich zu BG verhalte und ziehe AG […]“ und so fort. Schließlich zeichnet er das Diagramm. Das Diagramm ist das Medium, in dem er den Beweis vollziehen wird. An dieser Stelle wendet Euklid sich dem Beweis im engeren Sinne zu, die apodeixis. Hier beginnt er mit der eigentlichen Untersuchung. Nun legt er die Kreide beiseite,

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Abb. 1: Euklid: Elemente, III 10 (1. Version).

Abb. 2: Euklid: Elemente, III 10 (2. Version).

Abb. 3: Euklid: Elemente, III 10 (3. Version).

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der Beweis besteht nur noch aus Schlussfolgerungen. Euklid folgert von den konkreten Sätzen auf allgemeine Eigenschaften. Den Beweis schließt er dann mit der bekannten Formel „Dies gilt es zu zeigen/Dies gilt es zu beweisen“. Der direkte Beweis verläuft geradlinig. Das Diagramm funktioniert dabei wie eine Karte. Es gibt den Weg vor, auf dem der Beweis sich selbsttätig entfaltet. Daneben kennen die Mathematiker Beweise, die Umwege einschlagen. In ihnen müssen sie die Wahrheit mit einem Trick ins Licht holen, sie finden sie nicht auf dem kürzesten Weg. Von dieser Art sind die indirekten Beweise. Und während die direkten Beweise wahre Bilder enthalten, zeichnen die indirekten Beweise falsche Bilder (vgl. Abb. 1). Das 3. Buch der Elemente, das verschiedene Lehrsätze und Aufgaben zur Geometrie des Kreises versammelt, enthält eine Vielzahl falscher Bilder. Der indirekte Beweis folgt dabei dem gleichen Aufbau wie der direkte Beweis. Zuerst beschreibt und benennt Euklid das Problem, dann konstruiert er das Diagramm, mit dem er den Beweis vollziehen will. Und hier ereignet sich der Unfall. Denn ein indirekter Beweis ist eine reductio ab absurdum. Sie geht von falschen Voraussetzungen aus und muss beweisen, dass diese falsch sind. Die Mathematiker folgern, bis sie auf einen offensichtlichen ­Widerspruch stoßen. Ein Kreis, der zwei Mittelpunkte hat (III 10), zwei gleiche Linien oder Kreise, die einander gleich und ungleich zugleich sind (III 13, 24), eine kleinere Strecke, die größer

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ist als die größere Strecke (III 2), und so fort (Abb. 2–5). Die falschen Sätze zerlegen sie solange, bis sie sie auf selbsterklärende Sätze zurückführen können. Doch in dieser falschen Welt sind die Bilder keine Karten. Sie dienen nicht der Orientierung. Sie füllen die Kabinette der Krypto-Geometrie mit seltsamen Fabelwesen. Sie zeigen beispielsweise zwei Kreise, die so sehr aus der Form gegangen sind, dass sie sich an vier Punkten schneiden können oder etwa einen Kreis, der sich derart verformt, dass er wie eine Siedewurst einen zweiten Kreis an zwei Stellen berührt. Diese Bilder sind Trugbilder. Und dennoch zeigen sie, was die Mathematiker meinen. Aber wie erfolgt der Umschlag? Hier ein Beispiel: „Die kleinere Strecke [ist] größer als die größere; Abb. 4: Euklid: Elemente, III 13 (1. Version). dies ist aber unmöglich. Also kann die […] Strecke nicht außerhalb fallen […] also fällt sie innerhalb.“ (III 3) Der Umschlag erfolgt in einem Satz – „nicht innerhalb, sondern außerhalb“, „nicht kleiner, sondern größer“, „nicht ungleich, sondern gleich“. Er schlägt in den Beweis wie ein Blitz ein und bringt in einem magischen Moment die Wahrheit ans Licht. Die Beweise hören nicht selten mit dem Umschlag auf. Die Schlussfolgerung wird nicht weiter ausgeführt, weil sie sich in einem einzigen gleißenden Augenblick in der Evidenz des Falschen zeigt. Das scheint nur zu funktionieren, weil die Welt der klassischen Geometrie wie eine Münze zweiseitig ist. Die wahren Sätze wohnen genau auf der Rückseite der falschen Sätze. So kann die Wende von den falschen zu den wahren Sätzen zwanglos erfolgen, weil die falschen Sätze unmittelbar an die wahren Sätze angrenzen. Paradoxerweise wird deshalb gerade ein falscher Satz zum Ausgangspunkt eines richtigen Satzes. Und wo wohnen die Bilder? Man findet sie weder auf einer Vorder- noch auf der Rückseite. Die Geometrie verbirgt sie. Die Bilder der Geometrie wohnen im Innern der Münze. Und dennoch funktionieren sie. Sie funktionieren, weniger weil die Welt der Geometrie nur zwei Seiten hat, sondern weil die Geometrie durch sie hindurch sieht. Die klassische Geometrie, so wie sie in den Schriften von Nicomachos von Gerasa, Aristoteles oder auch Proklos überliefert worden

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ist, gesteht den Bildern kein Eigenleben zu. Diagramme sind reine Illustrationen, keine Denkwerkzeuge, die in den Gedankengang der Beweise in irgendeiner Weise eingreifen könnten. Darum lügen die Bilder der Geometer auch nicht. Und da, wo sie es dennoch tun, trifft die Mathematiker keine Schuld: Abb. 5: Euklid: Elemente, III 13 (2. Version). „Es ist […] nicht wahr, was gewisse Leute sagen, dass der Geometer etwas Falsches voraussetzt. Denn sie geben vor, man dürfe nichts Falsches verwenden, der Geometer behaupte Falsches, indem er eine Linie, die nicht einen Fuß lang ist, einen Fuß lang sein und die gezeichnete Linie, obwohl sie nicht gerade ist, gerade sein lässt. Aber der Geometer schließt nicht darauf hin, dass das eine Linie ist, was er dafür ausgibt, sondern darauf hin, dass das ist, was er damit meint.“14 Der Geometer sieht zweifelsfrei: Die gezeichnete Linie besitzt eine Länge, eine Breite, aber er fragt gar nicht, wie sie ist. Er sieht über ihre Materialität hinweg und setzt die gezeichnete Linie – gegen die Macht der Bilder – als idealen Vertreter ihrer Klasse. Diese ideale Linie besitzt weder Breite noch eine bestimmte Länge. Aber warum dieser ignorante Blick? Wollen die Mathematiker mit dieser Blindheit ihre Aussagen möglichst allgemein formulieren? Das ist keine ausreichende Erklärung für den indirekten Beweis. Denn der Umschlag funktionierte dennoch nicht von selbst, die Wahrheit zeigte sich nicht. Sie müsste erst mühsam ans Licht gezerrt werden. Das entscheidende Argument liegt darum weniger in der Universalität. Man muss es im Schatten suchen. Die Wahrheit braucht keine Bilder, weil sie selbstevident ist. Doch was ist für die Mathematiker „selbstevident“? Mathematiker wollen die Prämissen, auf denen sie ihre Beweise bauen, außerhalb ihrer selbst finden. Prämissen sind wahr, so Aristoteles, weil sie „bekannter und früher sind als der Schlusssatz und die Ursache von ihm“.15 In den Lehrbüchern haben die Prämissen, aus denen die Beweise und Konstruktionen sich speisen, einen Ort. Die Voraussetzungen des Wissens stehen als Definitionen, Axiome und Postulate zu Beginn. Sie legitimieren ihre Evidenz über Sätze, die entweder schon bewiesen worden sind oder „aus sich selbst heraus notwendig wahr sind“, wie Aristoteles schreibt.16 Ein Beweis 14 Aristoteles: Lehre vom Beweis oder Zweite Analytik, Hamburg 1990, 76 b 40–77a 2. 15 Aristoteles (s. Anm. 14), 71 b 20ff. 16 Aristoteles (s. Anm. 14), 76 b 27.

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kreist also nicht in sich selbst, er kennt kein Selbst. Er sucht seine Wahrheit immer außerhalb. Das Auge der Geometrie sieht darum auch niemals doppelt. Dies zeigt sich gerade beim indirekten Beweis. Die Wahrheit würde sich nie einstellen, wenn der Geometer sie in den falschen Annahmen sucht. Und den Bildern kann er nicht trauen, weil sie stets etwas anderes meinen als sie zeigen. Das Selbst der Geometrie ist die unverstellte Wahrheit. Es lügt nie. In der Geometrie kann daraufhin kein Blick sich selbst enthalten, weil ihre Wahrheit nicht mit sich verhandeln lässt. Fast bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts sieht die Geometrie vor ihren inneren Augen einen Gegenstand, der mit allen gezeichneten Gegenständen identisch ist. Bevor Gutenberg die Wiederholung in Blei setzt, erfindet sie auf ihren Bildflächen eine störungsfreie Kommunikation, die sie nicht selten zwischen Gegenständen aufspannt, die sich jeder Darstellbarkeit entziehen. Es sind Punkte ohne Teile, Linien ohne Breite, Flächen ohne jede Tiefe – Gegenstände, die zwar in unserer Vorstellung einen Ort haben, aber nur falsche Bilder in ihrer Nähe dulden. 3.

In den zeitlosen Wahrheiten der klassischen Geometrie gibt es nur einen Blick. Er wohnt im Innern einer Münze und zeigt sich nicht. Die Wahrheit im Beweis hält keinen Kontakt zu Bildern und Blicken. Bildkritik dagegen ist auf Unterscheidungen angewiesen. An Orten, an denen die Wahrheit schon fest steht, kann sie nicht entstehen. Darum möchte ich zuletzt noch einige Beispiele diskutieren, bei denen die Wahrheit sich unübersehbar ins Bild setzt. In vielen Lehrbüchern muss sich der wahre Blick am falschen Bild schulen. Denn die Texte liefern nur spärliche Informationen. Etwa in den Lehrbüchern der Kartografie: Bei der Bezeichnung der Höhenpunkte entscheidet ein ­abwägender Blick über das Zusammenspiel von Schrifttyp und Schriftlage (Abb. 6). Der Schweizer Kartograf Eduard Imhof schweigt. Für die richtige Lösung findet er keine Worte – sie scheint sich seiner Beschreibung zu entziehen. Und so kann man sie nur sehen, wenn man seine verschiedenen Beispiele genau studiert. Imhof setzt sie übereinander, damit sich die richtige Lösung zwingend von den falschen Bildern absetzt. An Bildserien soll der angehende Kartograf seinen Blick schulen.17 Auch der Ökonom John Riggleman, der in den dreißiger Jahren an der Harvard Graduate School of Business Administration lehrt, setzt auf den 17 Eduard Imhof: Kartoraphische Geländedarstellung, Berlin 1965, S. 114.

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Abb. 6: Eduard Imhofs kartografische Geländedarstellung.

Abb. 7: John Rigglemans grafische Methode (1. Version).

wiederkäuenden Doppelblick. Erst falsche Bilder rücken die richtigen Bilder in den Blick (vgl. Abb. 7). Was sind 100 Dollar gegen 100.000 Dollar? Riggleman spart mit Anmerkungen. Er gibt dem Anfänger den Rat, nicht alles zu visualisieren.18 Denn gute Bilder verschweigen die Details. Sie sind genaugenommen fehlerhafte Bilder. Und so kann man auch bei seinen Bilder häufig nur stumm erkennen, was gemeint ist. Der Doppelblick bestimmt auch das grafische Format der Statistiken (vgl. Abb. 8). Die Zahlenwerte müssen so visualisiert werden, dass sie vergleichbar werden. Die Kuh, die auf der ersten Grafik im Profil posiert, weicht einer Karte. Geköpft, entbeint und verebnet ist sie nicht mehr als ein Gespenst. Die Kuh muss selbst zum Bild ­werden, damit Riggleman sie mit Zahlen auf dem Papier wieder beleben kann (vgl. Abb. 9).19 „Nicht so: […] sondern so“, schreibt der Kartograf Jacques Bertin nur kurz – zwei Bilder ersetzen die Sprache (Abb. 10). In der Ausbildung wird die Orientierung des richtigen Blicks meist einem stummen, zeigenden Wissen überantwortet. Man könnte fast meinen, dass die Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“ erst im stummen Anblick der Bilder erfahrbar wird. 4.

In der Geometrie sind die falschen Bilder redundant, in den Lehrbüchern der Kartografie haben sie ihren Ort. Sie legen eine Strasse durch den Dschungel möglicher Bilder. Kein Bild ist falsch, nur manche sind passgenauer als andere. 18 John Riggleman: Graphic Methods for Presenting Business Statistics, NewYork/London 1936, S. 33. 19 John Riggleman (s. Anm. 18), S. 46.

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Abb. 8: John Rigglemans grafische Methode (2. Version).

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Abb. 9: John Rigglemans ­grafische Methode (3. Version).

Abb. 10: Sémiologie ­graphique.

Eine ähnliche Karriere macht auch ein mathematisches Ding, das keine Teile hat – der Punkt. Die Herausgeber der Euklid-Ausgaben sind sich nicht einig, aber meist muss der Punkt ohne Schaubild auskommen. Die Hand der Maler versieht ihn dagegen mit Teilen. So schreibt etwa Alberti: „Ein ¸Punkt‘, behaupte ich, ist in der Malerei ein so winziger Tupfen – durchaus vergleichbar einem Atom –, dass keine Hand irgendwo einen kleineren zustande bringen könnte.“20 Was Alberti noch hinhaucht, sprengt bei Robert Hooke 1665 fast die Buchseite. Es ist ein Fleck, auf den er einige Druckerschwärze verwendet (Abb. 11). Hooke hat seinen Fleck vermutlich einer Euklid-Ausgabe entnommen, nämlich einer Ausgabe von Christoph Clavius von 1611. Die Ausgaben von Clavius erlebten zwischen 1574 bis 1738 allein zweiundzwanzig Ausgaben und im Jahr 1595 sogar eine Übersetzung ins Chinesische. Auf den ersten Seiten von Clavius’ Euklid-Ausgabe findet man auch das Beispiel, dem Hooke in seiner Micrographia zu einiger Berühmtheit verholfen hat. Der Punkt sei, so Clavius, „die spitzeste Spitze einer Spitze“.21 Hooke nimmt Clavius beim Wort. Das, was bei Clavius nicht mehr als ein Bild ist, um das abstrakteste Ding aller Dinge von Euklids mathematischem Lehrbuch darzustellen – diese Metapher legt Hooke unters Mikroskop. Hooke findet seine Vorbilder in der Natur. Er will in seinem Buch 20 „1. ‚Punctum‘ esse dico pictura pusillam atomi persimilem inscriptionem, qua nulla uspiam fieri manu possit minor.“ Alberti Leon Battista: Elementa Picturae, C 1.–2. Zit. n. ders.: Das Standbild: Die Malkunst: Grundlagen der Malerei. Lat./Dt. Hg. v. Oskar Bätschmann u. a. Darmstadt 2000, S. 367. 21 Christophorus Clavius: Euclidis Elementorum XVI, Mainz 1611, I Def. I.

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Abb. 11: Robert Hookes Observation I.  Of the Point of a sharp small Needle.

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Abb. 12: Robert Hookes Observation XV. Of the stinging points and juice of Nettles, and some other venomous Plants.

von der Beobachtung der einfachen Körper zu den zusammengesetzten Körpern voranschreiten. So führt er mit der ersten Beobachtung einen dreidimensionalen Punkt ein: „Der physische Punkt ist für gewöhnlich die Spitze einer Nadel“, schreibt er und bezieht sich damit namenlos auf die sehr verbreitete Ausgabe von Clavius. Und er fährt fort: „Sie ist tatsächlich so scharf, dass man mit dem nackten Auge keine Teile ­erkennen kann. Leicht durchsticht sie Körper, die weicher sind als sie. Aber wenn wir sie mit einem wirklich guten Mikroskop untersuchen, sehen wir genau, dass die Spitze der Nadel, obwohl sie sehr spitz zu sein scheint, in Wahrheit, sehr breit und stumpf ist und daneben ganz unregelmäßige Formen besitzt.“22 Hooke zweifelt nicht an den Bildern der Mathematik – er zweifelt an der Exaktheit ihrer Gedanken. Denn die Mathematiker vollziehen ihre Beweise und ­Konstruktionen mit stumpfen Zirkelspitzen und krummen Linealen. Die Natur ist dagegen viel genauer als sie, weil sie über viel feinere Spitzen verfüge als die Zirkel in der Geometrie. Unter dem Mikroskop sind die Haare, Borsten und Krallen zahlreicher Insekten unzählige Male kleiner als ein mathematischer Punkt, die Kristalle mancher Minerale, etwa des Brucit, seien so scharf, dass 22 Robert Hooke: Micrographia or Some Physiological Descriptions of Minute Bodies Made by Magnifying Glasses with Oberservations and Inquiriesthereupon [1665]. Facsimile, New York 1961, S. 1–2.

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Abb. 13: Robert Hookes ObservationXXIV. Of the Eyes and Head of a Grey drone-Fly, and of several other creatures.

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Abb. 14: Robert Hookes Observation XXXVIII. Of the Moon.

sie selbst ein Mikroskop nicht sichtbar machen könne: „Aber ich zweifle nicht, wenn wir einmal in der Lage sind, Mikroskope zu bauen, werden wir Hügel, Täler und Poren finden und sie werden auf dem kleinsten Punkt genügend Platz finden.“23 Die Natur bringt auf der spitzesten Spitze einer Spitze – dem mathematischen Punkt – vom Staubkorn bis zu den Sternen ein ganzes Universum unter (Abb. 12–14). Am Punkt der Mathematiker haftet dagegen ein falsches Bild. Ihr Punkt ist in Hookes Augen nur eine unsaubere Sache. Denn er ist stumpf und ohne jede Form.24 Hookes Fleck ist dagegen eine ausgedehnte Punktlandschaft. An seinen ausgefransten Rändern ist er von Myriaden von mathematischen Punkten besiedelt. Zwischen zwei Buchdeckeln wohnen die Luftblasen, die Schneeflocken, der Kohlestaub, die äußersten Enden einer Schweineborste, die Spitze eines Katzenschnurrhaars, die Samen blauer Kornblumen, der Stachel einer Biene, ein Schlangenzahn, diverse Hautschuppen, Milben, Zecken und Buchwürmer. Der mathematische Punkt ist ein Niemandsland – er ist so lebensfeindlich und leer wie die Mondoberfläche für alle Anschauung. Hookes Punkt platzt dagegen aus allen Nähten, vom Staubkorn bis zum Sternenhimmel zählt er unendlich viele Einwohner.

23 Hooke (s. Anm. 22), S. 2. 24 Hooke (s. Anm. 22), S. 2.

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Herbert George Wells, der in manchen Jahren bis zu drei Romanen schreibt, hat ab 1895 wie kein Zweiter das Fließband für seinen Schreibtisch entdeckt. Er beginnt seine schriftstellerische Laufbahn mit einem Essay, der noch einmal die romantische Urheberschaft an die Oberfläche spült. Es ist die Wiederentdeckung der Einzigartigkeit. Gleich zu Beginn, im ersten Axiom des ersten Buches der Elemente, formuliert Euklid: „Was demselben gleich Abb. 15: Alexander von Humboldts erste ist, ist auch einander gleich“.25 Wells kritisiert Karte der Linien gleicher Wärme. diese Gleichheit. Er antwortet Euklid: „Nichts ist genau einander gleich.“ „Das Substantiv ‚Stuhl‘ […] erscheint dem Leser durchaus unzweideutig – bis er nachdenkt, was für ein Grenzland an Vieldeutigkeiten eröffnet sich dann! Schaukelstühle, Clubsessel, Polsterbänke […] im Alltag fällt dem Menschen, wenn er von Stühlen spricht, nichts von diesen Schwierigkeiten auf. Er stellt sich eine bestimmte einzigartige Sitzvorrichtung vor, die ihm vertraut ist, und in einer Art multipler Schieläugigkeit sieht er, was in der Realität völlig ausgeschlossen ist – alle möglichen Stühle, die mit diesem identisch sind.“26 1891 findet Wells fast post mortem die Einzigartigkeit im ausgehenden Jahrhundert. Mit einem Schnitt trennt er die Enden des 19. Jahrhunderts von seiner Vergangenheit. Die Wiederentdeckung der Einzigartigkeit vernäht er mit zwei Namen: Charles Darwin und Alfred Russel Wallace. Wallace hat 1880 in Island Life eine Theorie der Inseln entworfen. Allein auf seinen 60 bis 70 Reisen ins Malaiische Archipel hat Wallace in acht Jahren 3.000 Käfige mit Vögeln und 20.000 Kisten mit Schmetterlingen, Schnecken und Vierfüßlern für seine Auftraggeber gesammelt – Schwemmholz, das er zusammen mit seinen zahllosen Notizen, Messungen und Beobachtungen in einer Inseltheorie zu ordnen sucht. Island Life ist ein Gründungstext der Biogeografie. Wallace nennt die Orte, an denen neue Arten entstehen. Es sind „ozeanische Inseln“, die weitab vom Festland siedeln. Diese Inseln sind Orte, die sich vom Festland unterscheiden. An ihnen gedeihen die endemischen Arten: Es sind Inseln des Neuen. Deleuze 25 Euklid: Elemente, I, Axiom 1. 26 H. G. Wells: The Rediscovery of the Unique. In: Fortnightly Review 50, Juli 1895, S. 106.

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bezeichnet diese Inseln nicht als Orte der Schöpfung, sondern „Neuschöpfung“. Sie sind ein „Wiederbeginn“ – kein erster, ein „zweiter Ursprung“.27 Die einsame Insel braucht den zweiten Blick. Von einem außerirdischen Standpunkt aus betrachtet, wohnt auch eine Bildkritik, die auf Differenzen setzt, auf einsamen Inseln, sie liegen weit ab von jedem Festland. Die Bildkritik favorisiert den zweiten Blick und produziert falsche Bilder in Massen. Historische Anfänge findet man viele. Etwa in Abb. 16: Bertins Fleck Farbmustervariablen. den Anfängen der Thematischen Karten, sie haben sich davon befreit, eine naturräumliche Gliederung auf dem Papier nachzubilden. Die Atlanten von Heinrich Berghaus, die den Kosmos von Alexander von ­Humboldt illustrieren, sind für diese Form der Bildkritik gute Beispiele. Und auch die Querschnitte und historischen Karten der Evolutionsbiologen, die ihre Vorbilder bei Humboldt und in der zeitgenössischen Geologie finden, zeugen davon. Sie bescheren uns von Jägers Sternprojektion bis zum amerikanischen Schulatlas ein ganzes Set von neuen Bildern und Darstellungsformen, die ihre Aufmerksamkeit auf den Schnitt und die Differenz lenken (Abb. 15 und Farbtafel 1; Abb.16). Diese neuen Bilder sind einsame Inseln, sie sind Flecken. Sie haben sich so weit vom euklidischen Punkt entfernt, dass sie zu einer eigenen Welt in der Welt geworden sind. Auch darin ähneln sie den Inseln, die Darwin mit der Beagle bereist. Für Darwin ist der Galapagos-Archipel ein Satellit. Er hat seine Merkmale vom amerikanischen Festland geerbt, aber ähnelt ihm nicht mehr.28 Nähert man sich wie Hooke der spitzesten Spitze einer Nadel mit einem unendlich scharfen Auge, dann kann man live verfolgen, wie aus einem physikalischen Punkt ein Fleck wird, aus dem Fleck eine Insel, aus der Insel ein Satellit entsteht, der zu einer neuen Umlaufbahn unterwegs ist. Hooke legt zwischen zwei Buchdeckeln vom mathematischen Punkt bis zu den Sternen ein ganzes Universum unters Mikroskop. Dabei macht er eine bahnbrechende Erkenntnis: Jedes Bild kann Myriaden von Bildern enthalten, denn es ist belie 27 Gilles Deleuze: Ursachen und Gründe der einsamen Inseln. In: Ders.: Die einsame Insel, Texte und Gespräche von 1953 bis 1974., hg. v. David Lapoujade, Frankfurt a. M. 2002, S. 15. 28 Vgl. Charles Darwins Tagebucheintrag vom 23. Sept. 1835. In: Ders.: Die Fahrt der Beagle. Tagebuch mit Erforschungen der Naturgeschichte und Geologie der Länder, Hamburg 2006, S. 498.

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big skalierbar. Doch unter dem Mikroskop mutieren die Bilder, sie werden zu Flecken. Gerade weil Bilder keiner Ontologie folgen, sind sie weder wahr noch falsch. Von der Nadelspitze bis zu den Sternen enthält die Micrographia darum in letzter Konsequenz ein Archipel potentieller Bilder. Erst die heutigen Computeranimationen scheinen dieses neue Inselreich der Bilder zu erkunden. 6.

Einen ersten Schritt in das neue Inselreich wagt Jacques Bertin. Er geht von falschen Bildern aus und hat zusammen mit dem Mathematiker und Soziologen Marc Barbut 1967 eine grafische Theorie der Visualisierung entwickelt. Diese Theorie antwortet auf die Bildlosigkeit des Punktes mit einer serienmäßigen Produktion von Druckflecken.29 Bertin zerlegt wie Euklid die Bilder in ­Elemente. Aber hier enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Denn Bertin setzt beim Sichtbaren ein. Der Fleck ist kein Nullpunkt. Er ist ein Archipel, besiedelt von Myriaden von Punkten. Hooke legt Euklid unters Mikroskop, er naturalisiert ihn, indem er ihn mit Schnurhaaren, Brennnesseln, Facettenaugen vergleicht. Bertins Fleck verlässt das Papier dagegen nicht. Er liest Hookes Fleck drucktechnisch. Hookes Flecken bevölkern den Raum, sie wachsen und gedeihen, fressen und verwesen. Aber was auf dem Papier drei Koordinaten hat, ist ausbaufähig. Es kann auch vier, fünf oder unendlich viele abzählbare Teile haben. Bertins Punkt bringt es vorerst auf sechs Variablen (Abb. 17, Farbtafel 2): „Der Fleck kann sich ändern in Bezug auf GRÖSSE HELLIGKEITSWERT MUSTER FARBE RICHTUNG FORM Damit kann der Fleck eine Beziehung zwischen seiner Lage in der Ebene und seiner Position innerhalb der Stufenfolge der jeweiligen Variation (z. B. der Stufen des Helligkeitswertes) zum Ausdruck bringen“, schreibt Bertin.30 29 Jacques Bertin: Sémiologie graphique: les diagrammes – les réseaux – les cartes, Paris 1967. 30 Zit. n. Jacques Bertin: Graphische Semiologie, Berlin 1974, S. 50.

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Dass im Zentrum seines Systems kein Punkt werkelt, der unsichtbar bleibt, ist symptomatisch. Die „Farb-Muster-Variablen“ bestimmen die grafische Gestaltung der Flecken. Sie sind der Zahlwert der Münze. Sie verbergen sich nicht mehr. Sie lassen sich an ihren Parametern ablesen. Denn Bertins Flecken sind keine idealen Gegenstände. Und noch etwas hat sich geändert. Die Flecken haben in der Tat einen „potentiellen Selbstbezug“. Sie spannen ein differenzielles Netz auf, dessen Logik Bertin wie ein Gleichungssystem inszeniert. In diesem Gleichungssystem scheint wenig unbestimmt. Es ersetzt die falschen und richtigen Bilder durch Bilderserien, graduelle Skalen und mehrdimen- Abb. 17: Bertins Farbmustertabellen. sionale Felder. Bertin entwickelt analog zum Akustischen ein Maß für die Lesbarkeit der Bilder schlechthin. Es existiere eine optimale Menge von Druckflecken pro cm2, die zwischen einer zu großen Dichte und einer zu geringen Dichte steht. Bertin nennt den Richtwert „graphische Dichte“.31 Diese Dichte steht für eine Grenze. „10 Zeichen pro cm2 stellen eine Schwelle dar, die nicht überschritten werden sollte.“32 Daneben gibt Bertin auch eine Untergrenze für die Unterscheidbarkeit von Winkeln an, ein Maß für die Unterscheidbarkeit von Formen. Bei starker Verkleinerung könne man nur zwischen drei Größen sinnvoll unterscheiden – zwischen Punkt, Linie und Kreuz. Und das ist symptomatisch. Bilder sind niemals falsch, aber wenn sie eine gewisse Grenze überschreiten, werden sie ineffizient. 31 Bertin: Graphische Semiologie (s. Anm. 30), S. 183. 32 Bertin: Graphische Semiologie (s. Anm. 30), S. 184.

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Man muss nicht unterschreiben, dass Bilder zählbar oder lesbar sind, Bertin folgt Shannons Informationstheorie und ihren literarischen Ausläufern. Doch eins scheint bemerkenswert: Bertin fragt weniger nach den Bedingungen von Erkenntnis schlechthin, das ist eine durchaus schweißtreibende Frage. Vielmehr reduziert er das Problem, was wir wissen können, auf die Frage, was wir sehen können. Die Wahrheit seiner Karten, Netze und Diagramme geht nicht über die Bilderränder hinaus. Sie will in den Blick fallen. Und für die Sichtbarkeit gibt er Kriterien an. Diese Kriterien sind niemals absolut, sie entspringen einer Matrix variabler Unterscheidungen. Blickt man über die Grasnarbe der Semiologie hinweg, wendet es den Blick auf die Bildkritik. Denn Bildkritik besitzt weniger die Idealität eines Euklidischen Punktes. Sie führt vielmehr ins produktive Grenzland der Vieldeutigkeiten. Bildkritik wäre demnach keine Disziplin. Sie fragt von keinem festen Ort aus. Stattdessen trägt sie die Fingerabdrücke ihrer Benutzer. Wenn Bildkritik also keinen festen Kanon spezifischer Bilder und Methoden meint, sondern nicht mehr als ein Wahrnehmungsmodus ist, dann kann man sie an unterschiedlichen Orten besuchen und von jedem Ort eine andere Aussicht genießen. Zwischen den Blicken, Bildern und Wahrheiten spannt sich ein weites Feld. Und so bleiben Fragen, die man mit Bertin fast wie eine Gleichung ausrichten kann oder zumindest unterschiedlich gewichten kann. Wenn man von den Blicken, Bildern und Wahrheiten mindestens ein Wort festhält, kann man die anderen beiden Begriffe und die Medien, Techniken und Praktiken, die sie hervorbringen, erfragen. Bildkritik gäbe es dann mindestens dreimal. Man kann erstens von den Bildern ausgehen und fragen, welche Blicke und Wahrheiten sie erzeugen. Man kann zweitens die Wahrheiten fixieren und untersuchen, mit welchen Bildern und Blicken sie sich einstellen. Man kann drittens den Blick justieren und diskutieren, welche Wahrheiten und Bilder er erzeugt. Bildkritik könnte vieles heißen: eine Politik der Bilder, die von den magischen Formen des Bildergebrauchs über die Philosophie und Geopolitik bis zu den Ausläufern der digitalen Ich-Medien reicht. Welches Bild wollen wir von uns zeichnen? Welche Wahrheit verbreiten? Welche ­Geschichte erzählen? Eine Bildkritik, die auf falsche Bilder setzt, muss sich selbst von außen betrachten können. Diese Bildkritik ist ihr eigener Sputnik. Auf die Frage, welchen Schatten wir in der Geschichte hinterlassen wollen, antwortet sie womöglich mit einem Druckfleck, dessen Parameter wir an sechs Fingern

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abzählen können. Diese Bildkritik ist eine Bildwissenschaft, die sich ihre eigenen Bilder auf einen zweiten Blick selbst schafft. Es ist eine Kulturtechnik im wahrnehmungstechnischen Sinne, eine Manufaktur technischer Bilder oder etwa ein Programm zur Erzeugung von Bildkritik. Alle Fragen der Bildkritik – die Kritik der Bilder, Blicke und Wahrheiten – lassen sich historisieren. Man kann etwa vermuten, dass ein Anflug von Flachheit auf perspektivischen Bildern für nicht perspektivisch geschulte Augen nicht Störungen sind, sondern winzige Inseln der Ordnung darstellen. Man kann zweifeln, ob Lesbarkeit oder Sichtbarkeit in allen Kulturen und Zeiten dasselbe meint – jede Zeit hat ihre eigenen Gespenster. Was schwellenlos ist, was einfach oder komplex anmutet, was eine Störung ist oder einer Ordnung entspringt, entscheidet ein kulturhistorischer Fingerabdruck. Denn Bildkritik stellt sich nicht mit einer inneren Notwendigkeit ein, sie ist, selbst historisch betrachtet, nicht mehr als eine mögliche Projektion eines weitgehend variablen Feldes. Und so müssten wir nicht fragen, was Bildkritik meinen kann. Wir könnten womöglich viele Karten zeichnen und kämen zu keinem Ende. Denn Bildkritik ist nicht nur der Name vieler Wege, sondern auch zahlloser Karten. Wenn zwei Kühe auf der Weide stehen, könnte die eine Kuh die andere beim Kauen beobachten. Und wiederkäuend könnte die beobachtete Kuh sich ein eigenes Bild von der Nachbarkuh machen. Sie könnte die Nachbarkuh beim Beobachten beobachten und so fort. Aber die Frage nach den Bildern scheint grundlegend anders. Sie ist nicht unentscheidbar, sie enthält vielmehr einen „potentiellen Selbstbezug“.33 Manche Bilder verstecken sich im Innern einer Münze. Sie sind nicht für die Oberfläche gemacht. Andere wollen von uns geborgen werden. Dritte springen uns in die Augen. Sie blicken uns an und lassen uns nicht mehr los. Was Bilder wollen, mag ein Geheimnis sein oder auch nicht – es ist selten von uns zu trennen. 33 Vgl. die Kulturtechnikdefinition v. Thomas Macho (s. Anm. 7).

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Euklids Zeichen. Zur Genese des analogen Codes in der ­Frühen Neuzeit Die massiven Veränderungen der Wissenskultur im 20. Jahrhundert durch die Informationstechniken stellen in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung für die europäische Wissensgeschichte dar. Die digitalen Medien haben in zunehmendem Maße zu einer materialen und historischen Wendung der Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen des Wissens wie etwa dem alphanumerischen Code geführt. Die diskreten Elemente des digitalen Codes setzen sich von einer Welt des Analogen ab, die es mit kontinuierlichen Größen zu tun hat. Die Mitte des 20. Jahrhunderts eingeführte Begriffsunterscheidung analog/digital hat jedoch in dem Gegensatz diskret/kontinuierlich einen sehr alten Vorläufer, der in der Antike Buchstaben und Zahlen von den geometrischen Größen trennte. Während der digitale Code, seine Geschichte und seine kulturellen Effekte in vielfältiger Weise untersucht werden, fehlen dagegen offenbar entsprechende Analysen des analogen Codes und seiner Geschichte. Auch die Untersuchungen zur Geschichte der Bildmedien als einem Bereich jenseits des alphanumerischen Codes werden kaum mit der Frage nach den Basisoperationen des Analogen verbunden. In dieser Lücke einer wissens- und kulturhistorischen Analyse des Analogen situieren sich die folgenden Ausführungen: Den vielleicht wichtigsten Schauplatz eines Codes kontinuierlicher Größen, der die Geschichte Europas und damit auch unser Wissen wie kaum ein anderer geprägt hat, bildet die Geometrie, die in der griechischen Antike mit den Euklidischen Elementen ihre exemplarische Ausformung gefunden hatte. Doch trotz ihrer angeblichen mathematischen Idealität blieb der Status der Geometrie als solcher umstritten, oft genug galt sie sogar als Beschmutzung der reinen Mathematik. So wurde ihr Status als Mathematik angezweifelt und sie eher der Mechanik zugeordnet oder, wie von David Hilbert um 1900, sogar als Naturwissenschaft bezeichnet. Zu dieser Unsicherheit gesellt sich auch die Geschichte ihrer Übertragung, die in einem ebenso abwesenden wie dunklen Ursprung gründet. Denn selbst seit der kritischen Euklid-Ausgabe von Johan Heiberg (Abb. 1), die das heutige EuklidVerständnis noch immer bestimmt, gibt es nicht einmal philologische Gewissheit in Sachen euklidischer Geometrie; so gilt die Heiberg’sche Version heute den Philologen eher als „the wrong text of Euclid“.1 Für eine Wissensgeschichte jedoch ist die philologische Rekonstruktion eines möglichen Urtextes nur von

1 So sind in den letzten Jahren Diskussionen zwischen Heiberg und Klamroth veröffentlich worden, die all die guten Gründe sichtbar machen, die philologisch gegen die Heiberg’sche Version sprechen und auf die Tatsache eines „wrong text of Euclid“ zugespitzt werden.

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Abb. 1a, b: Johan Heibergs kritische Euklid-Ausgabe (1883).

bedingtem Wert. Weit wichtiger sind hier die Erscheinungsformen eines Dispositivs von Übersetzungen, Kommentaren, Instrumenten und Praktiken, die das geometrische Wissen in seiner historischen Dynamik und Dramatik ausmachen. Ohne die Philologen, Philosophen, Theologen, Ingenieure und Künstler, die über Jahrhunderte Wesentliches zur Übertragung der Geometrie geleistet haben, wäre nur wenig von den Euklidischen Elementen bekannt. So erstaunt es auch nicht, dass wesentliche Aspekte dieser Elemente in ihrer extrem proliferierenden Textgeschichte nicht transportiert wurden. Euklids Zeichen steht für eine Reihe von grundlegenden geometrischen Operationen, deren Übertragung scheiterte und die erst Jahrhunderte später in der Frühen Neuzeit unter historisch völlig anderen Bedingungen innovativ werden konnten. Im Folgenden sollen kurz einige wesentliche Innovationen skizziert werden, die Euklids Zeichen gegenüber der voreuklidischen Geometrie verkörpert, um dann das neuerliche massive Auftauchen der Geometrie in der Frühen Neuzeit und deren Folgen für das Wissen im Sinne einer analogen Operationsbasis zu beschreiben. Dies soll insbesondere an der Figur von Leon Battista Alberti geschehen, der für die Implementierung eines analogen Codes von entscheidender Bedeutung ist. Euklids Revolution

Seit der Antike haftet der Geometrie eine eigentümliche Zweitrangigkeit an: Die diskreten Zahlen der Arithmetik mit der Eins als Ursprungselement galten seit den Pythagoreern fundamentaler als die ausgedehnten Größen der Geome-

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trie, deren Ursprungselement der Punkt ist. Einerseits eine Einheit, die im Sein ruht, andererseits der Punkt als eine davon nur abgeleitete Einheit, die einen Ort einnimmt. Daran hat sich über Jahrhunderte nichts geändert, obwohl die Euklidischen Elemente diesen Sachverhalt vollständig umgekehrt hatten: Das erste Buch beginnt mit dem Punkt als dem Element aller Elemente, und erst das siebte Buch führt die arithmetische Einheit ein: Diese wichtige Umstellung, diese Begründung des Wissens in den geometrischen Elementen ist im europäischen Wissen nie wirklich angekommen. Dies ist keine Nebensache, sondern ein Indiz für ein Scheitern weit größeren Ausmaßes. Denn Euklids Definition aller Elemente hebt an mit einer Verneinung: Semeion estin ou meros outhen – das Zeichen ist, dessen Teil nichts ist. Es ist anwesend und nichts zugleich und damit das allgemeinste aller Zeichen. Hiermit begründet Euklid die Stoicheia, die Elemente, und dazu gehörten, neben den geometrischen Elementen und den Zahlen auch die Buchstaben. Es ist keine Rede mehr vom Punkt, von alldem, was die pythagoreischen Mathematiker und Aristoteles bis dahin vor allem als Einheit mit einem Ort, als Stigmé bezeichnet haben, als eine Art Loch, das auf die Nadel des Zirkels verweist. Der Begriff des Zeichens dagegen besagt schon seit den Stoikern eine eigentümliche Verweisungsrelation. Euklids Zeichen nun, als Definition des Elements aller Elemente, richtet sich also auch begrifflich gegen eine Abhängigkeit von der arithmetischen Einheit; es ist eine Relation, eine Operation: Damit ist es vor allem kein Objekt mehr, wie vielleicht die punktförmigen Rechensteine der fìgürlichen Zahlen suggerieren. Aber auch die Äquivalenz von Geometrie und Arithmetik ist damit aufgehoben, die besagte, dass der Punkt der Eins entspricht, die Linie der Zwei, der Winkel der Drei und der Körper der Vier. Damit wird die Konsequenz aus einem ungelösten Problem gezogen, das schon in Aristoteles’ Physik benannt wird, nämlich dass das Verhältnis der Eins zu den Zahlen nicht dem des Punktes zu den anderen geometrischen Elementen entspricht. Während die Eins ein eindeutige Relation zu jeder Zahl (hier: ganzen Zahl) besitzt, steht der Punkt in keinem Verhältnis zur Linie: So wie das Nichts kein Verhältnis zur Zahl hat, so hat auch der Punkt kein Verhältnis zur Linie. Diese Eigentümlichkeit des Punktes scheint auch einer der Gründe für Platons Vorbehalt gegen die Geometrie und ihrer Begründung im Punkt gewesen zu sein.2 Am deutlichsten wird diese Position in der Politeia formuliert, wenn es von der Geometrie heißt, sie könne keine Wissenschaft wer

2 Aristoteles: Metaphysik. Bücher I(A)–VI(E), Hamburg 1990, 992a.

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den, weil sie sich, insofern sie auf dem Punkt gründet, nicht im Sein und im Wissen befindet.3 Die Tatsache, dass dem Punkt Abb. 2: Teilung der Strecke AB in drei gleiche Teile: in Euklid: Eleeine ontologische Dimension fehlt, weist zumindest indirekt mente, Buch VI, Lehrsatz 9: Von auf die andersartige Qualität des Punktes, die erst Euklid zur einer gegebenen Strecke AB einen dritten Teil abschneiden. fundamentalen Operativität des Punktes als Zeichen macht, das unterschiedliche Operationen durchführen kann. Doch all dies konnte über Jahrhunderte hinweg die Formel der voreuklidischen PunktEinheit nicht irritieren, die bis zum Ende des 16. Jahrhunderts im Diskurs der Geometrie implementiert bleiben wird. Diese Punkt-Einheit verbirgt die weitaus fundamentalere Qualität des Punktes, die ihn nicht als Einheit, sondern als Grenze, als ein Nichts, als ein Null-Element bestimmt, das in keine Proportion zu setzen ist. Deshalb taucht er in der euklidischen Geometrie, wenn es um arithmetische Operationen geht, nicht auf: In diesen Fällen ist die Linie die Entsprechung der Einheit, wie man am deutlichsten bei dem Teilungsproblem im Buch VI der Elemente sieht (Abb. 2): „Von einer gegebenen Strecke einen vorgeschriebenen Bruchteil abzuschneiden: Die gegebene Strecke sei AB. Man soll von AB einen vorgeschriebenen Teil abschneiden. Vorgeschrieben sei der dritte Teil. Man ziehe von A unter beliebigem Winkel gegen AB die gerade Linie AC, wähle auf AC den Punkt D beliebig, mache DE und EC gleich AD, ziehe BC und hierzu parallel DF durch D. Da man im Dreieck ABCFD || BC, einer der Seiten gezogen hat, so stehen in Proportion CD : DA = BF : FA. Nun ist CD = 2 DA, also auch BF = 2 FA, also BA = 3 AF.“4 Die Teilung der Strecke geschieht mittels einer zusätzlichen Linie, auf der die Teilungseinheit ΑΔ durch den willkürlichen Punkt Δ fixiert und dann mehrmals abgetragen wird. Hier geht es nicht nur um Proportionen, sondern um die gemeinsame geometrische und zugleich arithmetische Teilung oder Vervielfältigung: ΑΔ fungiert als Linie und numerische Einheit zugleich, mittels derer unterschiedliche Operationen wie Addition (2 ΔΑ), Teilung oder Multiplikation möglich werden. Diesem Sachverhalt entsprechen auch die Linien-Diagramme in Buch VII, wo die Elemente der Arithmetik als geometrische Linien dargestellt werden. Auch hier erscheint, etwa im Lehrsatz 15 neben allen ande

3 Aristoteles: Politik, Hamburg 1990, 533c. 4 Euklid: Elemente. Buch I–XIII, Frankfurt a. M. 2003, S. 119f.

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Abb. 3a, b: Zahlen als Liniendiagramme. Euklid: Elemente, (gr.) nach Heiberg, Buch VII, Lehrsatz 15 (Einheit als “A”).

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ren arithmetischen Elementen die Einheit im Rahmen von Proportionalverhältnissen wieder als Linie (Abb. 3a).5 Vergleicht man unterschiedliche mittelalterliche Übersetzungen dieses Problems, so wird deutlich, dass in vielen Versionen diese grafische Darstellung der arithmetischen Einheit präsent ist (Abb. 3b). In der Johannes von Tinemue zugeschriebenen Adelard-III-Version wird im selben Lehrsatz die Einheit im Diagramm nicht mehr mit einem Buchstaben bezeichnet, sondern sogar mit einer „1“ (Abb. 3c).6 Im Euklidischen Text entspricht die Einheit oder die Eins der Linie. Es ist unübersehbar: Die pythagoreische Äquivalenz der Punkt-Einheit gilt nicht mehr. Entspricht aber nun die Linie der Einheit, so gibt es in der Antike im Arithmetischen kein Element, das dem Punkt in seinem nicht-ontologischen Nullcharakter äquivalent wäre; denn hier gilt die Einheit als absolute und unteilbare Grenze, als diskretes Element.7 Die geometrischen Elemente lassen sich dagegen „ins Unendliche fort teilen“,8 sie sind kontinuierlich, syneches. Trotz dieser Lücke in der Arithmetik des Diskreten, die in Europa bis ins frühe 13. Jahrhundert Bestand haben wird, gibt es seit Euklid diese geometrische Null samt ihrer operativen Qualitäten. Dies dürfte einer

Abb. 3c: Euklid: Elemente, (lat.) Adelard III-Version (12. Jh.), Buch VII, Lehrsatz 15 (Einheit als “1”).



5 Allerdings ist in diesem Zusammenhang unklar, wann diese Diagramme tatsächlich im Eukli­di­ schen Text auftauchen. 6 Euklid: Elemente, Buch VII, S. 15. 7 Aristoteles: Metaphysik, 207b 6. 8 Aristoteles: Metaphysik, 207b 16.

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der wesentlichen Gründe dafür sein, dass die Euklidischen Elemente mit dem Zeichen beginnen, das nichts ist und gerade darin seine Begründungsfunktion entfalten kann. Eigentümlicherweise wird es beinahe zweitausend Jahre dauern, bis die operative Dimension dieser Nullheit des Punktes mit der arithmetischen Null in unmittelbare Beziehung gesetzt wird. Erst damit wird auch umgekehrt die Geometrie arithmetisch operierbar. Doch dazu ist eine weitere Veränderung des Zahlencodes notwendig, nämlich die Vereinbarkeit von geometrischen Größen und Zahlen dergestalt, dass die Zahlen als rationale Zahlen ihre antike Diskretheit verlieren und so kontinuierlich wie der Fluss des Wassers werden. Euklids Zeichen, das diesen Nullcharakter operativ werden lässt, ist unter der Dominanz eines präeuklidischen Diskurses der Geometrie, wie er sich in der Physik des Aristoteles verkörpert, verschwunden. So ist es nur konsequent, dass auch der Begriff des Zeichens selbst aus den kursierenden Euklid-Versionen nahezu vollständig getilgt wird. Die erste lateinische Version, von Balbus, ist zugleich auch eine der letzten, die anhebt: „Signum est cuius pars non est.“ Spätestens ab der Version von Boethius heißt es nun, bis in unsere Tage: „Punctum est cuius pars non est.“ Die analoge Wissensrevolution

In der europäischen Frühen Neuzeit zeichnet sich eine Dominanz der kontinuierlichen Größen ab, indem die geometrischen Operationen zur Grundlage einer Vielzahl von Wissenschaften, Techniken und Künste werden. Der enormen Ausbreitung der Geometrie als Basiscode des Wissens seit dem 13. Jahrhundert kann, im Sinne einer Implementierung des Analogen, sicher eine ähnlich fundamentale Bedeutung zugewiesen werden wie der Digitalisierung des Wissens im 20. Jahrhundert. Dies lässt sich an den drei grundlegenden Kulturtechniken des Schreibens, Zeichnens und Rechnens belegen, die zwischen dem 15. und 16. Jahrhundert mit den geometrischen Operationen einen gemeinsamen analogen Code erhalten. Erst der Computer wird im 20. Jahrhundert von neuem eine gemeinsame, nunmehr rein diskrete Operationsbasis verkörpern. Leon Battista Alberti, Architekt, Künstleringenieur und Philologe des 15. Jahrhunderts, kann als ein wichtiger Akteur bei der Implementierung der geometrischen Operationen als analoge Wissensbasis gelten. Alberti, dessen Traktate zu den Gründungstexten der neuzeitlichen europäischen Kultur gehören, hat in einem schmalen Text eine eigentümliche Neuerfindung der geometrischen Elemente

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unternommen. Seine Elimenti di pittura (ca. 1435) heben mit einem doppelten Einsatz an: Er beginnt ganz euklidisch mit den Basiselementen der Geometrie, Punkt, Linie, Fläche und Körper, wie er sagt, gemäß der Alten, „questo dissero li antiqui“. Dann aber beginnt von neuem ein „Wir“: „Punto nominamo noi in pittura quella piccola inscrizione quale nulla puote essere minore. / Linea nominamo quella inscrizone longa da un punto a un altro sottilissima.“ 9 Mit souveräner Geste verleiht Alberti der Definition der ersten euklidischen Elemente einen völlig neuen Charakter, indem er die ganze Geometrie mit den inscrizione, den Einschreibungen, auf eine grafische Grundlage stellt. Das kurze Traktat enthält das elementare Wissen für das, was Malerei in Zukunft sein soll, aber auch für alle Verfahren, die mit grafischen Operationen zu tun haben: „Ja, ich behaupte sogar: wer diese Regeln nicht beherzigt, wird sich einen Platz nicht einmal unter den mittelmäßigen Malern beanspruchen können.“10 Bilder erhalten so in Punkt- und Linien-Operationen einen fundamentalen Code, der als solcher in Form eines Textes ohne jedes Diagramm übertragen werden kann. Dieser Text formuliert damit den Basiscode für die parallel entstandenen Traktate Della pittura und Della statua. Della pittura setzt deshalb wieder mit dem Punkt ein, auch hier mit einer eigentümlichen Doppelung: „In principio dobbiamo sapere il punto esere segno quale no si possa dividere in parte. Segno qui appello qualunque cosa stia alla superficie per modo che l’occhio possa vederla. […] Solo studia il pittore fingere quello si vede.“11 Das Zeichen ist also die sichtbare inscrizione, von der die Elimenti sprechen. Euklids Zeichen meinte genau das Gegenteil: Das Semeion setzte sich gerade von dem materialen Charakter der Stigmé wie auch der Grammé ab, dem Stich und der Ritzung. Da aber die Übertragung der euklidischen Elemente dieses Zeichen im Begriff des Punctum wieder zum Verschwinden gebracht hatte, das Euklidische Zeichen also als Punctum erscheint, ist Albertis Umkehr eine korrekte Reaktion darauf. Doch dem nicht genug: nicht nur der Punkt, sondern sogar die Linie ist für Alberti ein Segno. Dennoch ist trotz aller Umkehrung der eminent operative Charakter des Zeichens damit neuerdings in Gang gesetzt. Doch worauf bezieht sich Alberti, wenn er von der euklidischen Geometrie handelt, einem Wissen, das über derart lange Wegstrecken und Zeiträume 9 Leon Battista Alberti: Elimenti di pittura, 1435, S. 336. 10 Alberti: Elimenti di pittura, 1435, S. 336. 11 Alberti: Elimenti di pittura, 1435, S. 10.

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übertragen wurde? Sprechen wir zunächst von Texten: Einen Text, den Alberti ausdrücklich erwähnt, ist La pratica di geometría des Leonardo Pisano (1220). Es ist, wie der Name sagt, eine praktische Geometrie, die seit Balbus über das Mittelalter hindurch eine wichtige Traktatform dargestellt hat. Albertis direkter Euklid-Referenztext scheint die lateinische Übersetzung des Giovanni di Campano von ca. 1250 gewesen zu sein, die sich in seiner Bibliothek gefunden hat und eine der am weitesten verbreiteten EuklidVersionen darstellt. Es ist eine kompilierte Übersetzung, u. a. aus dem Ara­bischen, die Abb. 4:. Albertis Antiqua-Inschrift in der Capella den zeitgenössischen Mathema­tiker Regi- ­Rucellai von San Pancrazio, Florenz (1467). QVERITIS NAZARENVM CRICIFIXUM ­SVRREXIT omontan, obwohl er sehr gut Griechisch YHESVM NON EST HIC ECCE LOCVS VBI POSVERVNT EVM; konnte, sogar glauben ließ, dass jener Euklid ­Markus 16, 6: Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten; er ist auferstanden, er ist nicht hier; von Megara, den man fälschlicher Weise als seht den Platz, wo sie ihn hingelegt hatten. Autor annahm, die Elemente auf Arabisch verfasst hätte.12 Campanos Text sollte zudem einige Jahrzehnte später, 1482, die Ehre haben, von Erhard Ratdolt in Venedig zur Grundlage der ersten gedruckten Geometrie zu werden. Neben dem Bild erhält aber auch die Schrift mit den lateinischen Buchstaben, wie sie die Typografen des 15. und 16. Jahrhunderts neu erfinden, einen geometrisch-analogen Basiscode. Auch hier ist Alberti in unmittelbarer Weise beteiligt, wenn er für die Inschriften in der Cappella Rucellai von San Pancrazio Lettern entwirft, die in unmittelbarer Verbindung mit dem ersten großen Schrift-Traktat von Feliciano zu sehen sind (Abb. 4). Buchstaben sind nicht letzte Elemente, wie selbst noch eine Grammatologie zu suggerieren versucht, sondern generieren sich aus geometrisch-grafischen Operationen, deren Basisoperatoren Punkt und Linie, insbesondere aber auch Kreis und Quadrat mit ihren entsprechenden Algorithmen sind. Das ist für Inschriften ebenso wichtig wie für den Entwurf der beweglichen Lettern des Buchdrucks (Abb. 5). Deshalb verwundert es nicht, dass der ­Buchstabenentwurf eine Sache von Mathematikern und Künstleringe 12 Moritz Cantor: Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik II, Leipzig 1892 S. 268.

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Abb. 5a, b: Felice Feliciano: Alphabetum Romanum (ca. 1460).

nieuren wird, wie Alberti, Luca Pacioli oder Albrecht Dürer. Diese Alphabete sind ebenso alt wie neu, nach antikem Vorbild revolutionieren sie die Typografie. Wenn daher Erhard Ratdolt 1482 die Elemente auf Lateinisch druckt (Abb. 6), so geschieht dies mit den beweglichen Lettern in einem Medium, für deren Generierung die Geometrie selbst den Code bereitstellt. Die gedruckte Geometrie unterscheidet sich aber von Albertis Elimenti-Fassung in einem zentralen Aspekt: Sie enthält auch Diagramme. Ratdolt, ein Experte für wissenschaftliche Bücher, verweist auf die Schwierigkeit, die er gelöst habe, Diagramme nach demselben Prinzip wie Buchstaben zu drucken (Abb. 7). Buchstaben und Zeichnungen werden, und das macht Ratdolt damit überdeutlich, von demselben Code generiert. Auch das Rechnen steht bei Alberti in unmittelbarem Zusammenhang mit geometrischen Operationen. In seinen Ludi mathematici präsentiert er verschiedene Probleme der Vermessung (Astronomie, Landvermessung, Artillerie), die mit proportionalen Dreiecken die Berechnung von Strecken erlauben (Abb. 8). Es läuft ab wie bei den gezeigten Proportionen des Euklid, indem die Seitenlinien zweier kleiner Dreiecke gemessen werden, welche es erlauben, die entscheidende Seitenlinie des großen Dreiecks (also die Distanz von Ferrara nach Bologna) zu berechnen (Abb. 9). So einfach und alt dieses Verfahren auch ist, es verkörpert eine euklidische Operation, die eine Linie als Einheit verwendet.

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Abb. 6a, b: Seiten aus der ersten gedruckten Euklid-Version, Erhard Ratdolt (Venedig 1482).

Rechenoperationen und entsprechende Geräte, die heute „analoge“ Rechengeräte genannt werden, waren seit der Antike in Gebrauch. Das Gnomon als geometrischer Automat, wie ihn Michel Serres beschrieben hat, ist ebenso aktuell, auch in neuen Formen wie beispielsweise dem Astrolab. Sie alle haben, wie schließlich auch der Proportionalzirkel (Abb. 10), als Basis die Operation mit geometrischen kontinuierlichen Größen, die in unterschiedlicher Weise Multiplikationen und Divisionen durchführbar machen. Die geometrischen Operationen, Teilungen, Verlängerungen, Verbindungen, Trennungen, die sich mit dem Euklidischen Zeichen generieren und prozessieren lassen, bilden Algorithmen, die es erlauben, jede grafische und räumliche Figur herzustellen, jeden Buchstaben zu generieren und zudem alle Rechen­ operationen durchzuführen. Es handelt sich um eine gemeinsame Operationsbasis auf der Grundlage der euklidischen Elemente. Die daraus resultierenden Innovationen im Bereich der Bilder, der Schriften und des Rechnens bilden die Grundlage aller wichtigen Wissenschaften und Künste. Das formulieren alle Einleitungen zu den Übersetzungen der Elemente, die in immer größerer Zahl seit dem 15. Jahrhundert kursieren. Leon Battista Alberti ist in diesem Zusammenhang also kein Einzelfall. Er ist aber exemplarisch, weil er als einer der ersten die fundamentale Bedeutung dieses neuen analogen Codes für Wissenschaften und Künste deutlich macht.

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Der geometrische Code aber, der den unterschiedlichen Kulturtechniken hier unterlegt wird, hat eine doppelte Wirkung. Zum einen wird die Geometrie in unterschiedlichste Wissenschaften und Künste hineingetrieben, zum anderen Abb. 7: Ausschnitt aus der ersten Seite von Ratdolts Euklid-Version (1482). wird die Geometrie selbst durch zahlreiche Ausgaben und Kommentare zu einem zentralen Diskurs. So handelt es sich bei den EuklidAusgaben von Christoph Clavius, Niccolò Trataglia und Rodrigo Zamorano oder eben auch bei der gedruckten Version von Campano um Texte, die von Ingenieuren und Praktikern herausgegeben und ausführlich kommentiert worden sind und die eine technische und philologische Kompetenz in unmittelbarer Weise verbinden. Auch die kurze Definition des Punctum, wie sie eingangs angeführt worden ist, erfährt dabei ausführliche Kommentierungen. So wird der vielleicht folgenreichste und früheste Kommentar (ca. 450) von Proklus durch die Druckausgabe in einer griechischen Version 1533 zugänglich, in lateinischer Übersetzung durch Barocius. Diese Reflexion des geometrischen, analogen Codes jedoch bricht im frühen 17. Jahrhundert ebenso ab wie die Schriftlehrbücher, die von Feliciano bis Dürer das 15. und 16. Jahrhundert überschwemmen. Der analoge Code, der in dieser Breite in der Frühen Neuzeit installiert wird, bezieht also Schreiben, Zeichen und Rechnen ein, indem er sie auf kontinuierlichen Elementen aufbaut. Dies hat Folgen selbst für das Aufkommen des Digitalen, dessen diskrete Operationsbasis aus einem anderen Code entwickelt wird. Da die Zahlen seit dem 19. Jahrhundert nicht nur rational, sondern reell, also noch in einem vollständigerem Maße kontinuierlich sind, geschieht die Entwicklung des diskreten digitalen Codes auf der Basis von Elementen, die logische Qualitäten sind und als solche eine fundamentale Unterscheidung, 0 und 1, wahr und falsch, ermöglichen. Erst das logisch Diskrete ermöglicht also angesichts der operativen Dominanz des Analogen eine neue Welt des Digitalen zu entwerfen, das wiederum als Kontakt-Punkt zu einer Schaltung, und damit auch zu einer praktisch-geometrischen Operation werden kann. Die Revo­lu­

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Abb. 8: Der antike ­Gnomon (Schattenstab) als Vermessungsinstrument im 15. Jh. Leon Battista Alberti: Ludi mathematici (1450) .

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Abb. 9: Triangulatorische Vermessung der Distanz E ­(Ferrara) – Bologna. In: Leon Battista Alberti: Ludi mathe­ matici (1450).

Abb. 10: Der Propor­ tional­zirkel als analoges Rechengerät. In: ­Levinus Hulsius: Tractat der Mechanischen ­Instrumenten (1604).

tion der Schaltungsarchitekturen als digitale Schaltung ist daher nur die jüngste Code-Revolution im Zeichen Euklids. Auch deshalb also gilt es vielleicht, die Geometrie, die oft genug als Beschmutzung der reinen Mathematik gesehen wurde, mit all ihren fundamentalen Folgen für das europäische Wissen erst wirklich zu entdecken.

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Tafel 1: Alexander von Humboldts erste Karte der Linien gleicher Wärme. Alexander v. Humboldt: Sur les lignes isothermes, Annales de Chimie et de Physique 5, 1817.

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Tafel 2: Bertins Farbmustertabellen. Jacques Bertin u. Marc Barbut: Sémiologie graphique: les diagrammes, les réseaux, les cartes, Paris 1967, S. 185.

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Tafel 3: Richard Olbricht: Die Ikosaederfigur um 1883.

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Abb. 1: Liam Gillick, Ringier Jahresbericht 2001, englische Fassung, S. 28/29.

Faksimile Kalkül und Anschauung. Überlegungen zu den Ringier Jahresberichten 1997–2008 Auch wenn auf dem Gebiet der mathematischen Formalisierung meist eine visuelle Askese zu herrschen scheint, ist hier buchstäblich und jederzeit mit sinnlicher Erkenntnis, nämlich mit jener des menschlichen Auges, zu rechnen: Eine aufgeschlagene Doppelseite macht so die Entwicklung eines unternehmerischen Gesamtumsatzes im Zeitraum von 1999 bis 2001 anschaulich (Abb. 1). In der oberen Hälfte der linken Seite geben drei Säulen mittels blau, violett und gelb gehaltener Abschnitte Aufschluss über die Anteile von Verkäufen, Anzeigeneinnahmen und anderen Erträgen am Gesamtergebnis in der Slowakei per annum. Die Form dieser Erhebungen ist durch ein sich wiederholendes Muster charakterisiert, das sich aus abstrahierten botanischen Elementen zusammensetzt. Rechts der Falz wird das Ornament erneut aufgegriffen, nimmt aber nahezu die gesamte Buchseite ein.

Gehalt und Gestalt dieser Publikation sind unmittelbar aufeinander bezogen, das funktionale Design geht in einer dekorativen Form auf. Verantwortlich zeichnet hierfür der britische Künstler Liam Gillick, der in hugenottischen Musterbüchern auf eben jene Ornamente stieß, die er in seiner Gestaltung des Jahresreports 2001 von Ringier verwandte. Seit 1997 beauftragt das 1833 als Buchdruckerei begründete Schweizer Medienunternehmen, dessen Name hugenottischen Ursprungs ist, renommierte Künstlerinnen und Künstler mit der Konzeption und dem Design seiner Geschäftsberichte.1 Sie avancieren so zu in unterschiedlichen Formaten auf Deutsch, Englisch und Französisch erscheinenden, kostenlos verfügbaren Künstlerbüchern. Die in Torten- und Säulendiagrammen sowie Tabellen erfassten statistischen Informationen über die operativen Konzernergebnisse des abgelaufenen Kalenderjahrs in den verschiedenen Ländern und Geschäftssparten werden gemäß den ästhetischen Vorgaben und der Praxis des jeweils Gestaltenden grafisch und typografisch behandelt.

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Sie werden von Bildern und Texten begleitet, kommentiert und überlagert. Das Kalkül dieser Unternehmung ist evident, sind doch die Versuche, durch Assoziation mit bildender Kunst eine auf Kreativität und Selbstkritik basierende „corporate identity“ in einer ­kulturalisierten Ökonomie2 herauszubilden, inzwischen Legion. Gerade im Falle von Ringier – einem Konzern, der neben einer Vielzahl von Illustrierten, Tageszeitungen und Boulevardblättern auch Kataloge institutioneller Ausstellungen sowie Werkmonografien verlegt und über eine eigene Kunstsammlung verfügt – muss diese Form der Aufmerksamkeitsökonomie naheliegen. Grundsätzlich zeichnen sich die für Aktionäre, Mitarbeiter und Öffentlichkeit produzierten Jahresberichte dadurch aus, dass Zahlen und Fakten in den Hintergrund der künstlerischen Gestaltung treten. Es dominiert nicht allein die symbolische Form von mathematischen Zeichen, von bildlichen „Charakteren“, ohne die systematisches Denken und theoretische Erkenntnis entgegen des Dogmas einer rein formalen Logik unvorstellbar wäre,3 sondern es treten jene Bilder in Erscheinung, aus deren Ökonomie sich die in Graphen und Tabellen repräsentierten Zahlenwerte zuvorderst speisen. Dieses Prinzip wurde für den Jahresbericht 2007, dessen Design unter dem Titel Sonne, Mond und Sterne die Schweizer Künstler Peter Fischli und David Weiss übernahmen, insofern auf die Spitze getrieben, als in dem schwergewichtigen Buch lediglich auf den ersten 39 Seiten die Geschäftsdaten in nüchternem Schwarz-Weiß abgehandelt werden, um nicht weniger als 800 Farbseiten aus internationalen Illustrierten angeeigneter Werbeanzeigen folgen zu lassen. Paarweise auf Doppelseiten angeordnet, folgt ihre Zusammenstellung sowohl formalen Kriterien der Vergleichbarkeit von Motiven, Farbwerten und Kompositionen (Abb. 2) als auch einer – allerdings nur angedeuteten – Erzählung eines stereotypen Lebenslaufs, wie er sich aus den Verführungsstrategien der Werbung exemplarisch rekonstruieren ließe – von der Hochzeit über Kindererziehung, Freizeit, Fitness und Körperpflege bis Reisen, Kochen und Wohnungseinrich-

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tung. Fischli & Weiss stellen in diesem pseudo-enzyklopädischen Künstlerbuch eine direkte Beziehung zu einem der wichtigen Pfeiler des Umsatzes von Ringier her, unterminieren aber, indem weniger der Medienkonzern selbst im Zentrum steht als dass für 800 andere Unternehmen geworben wird, die eigentliche Zielsetzung des Jahresberichts, ohne diese ironische Volte indes den avisierten Gebrauchswert der Publikation negieren zu lassen. Insgesamt tritt Design in dieser Buchserie in jenen Konnotationen des Begriffs auf, wie Bruno Latour sie zu bestimmen versucht hat: Aus seiner Warte zählen dazu die Aufmerksamkeit für das Detail, ein Wissen um die interpretationsbedürftige Produktion von Bedeutung durch Zeichen und die Bescheidenheit einer jeden gestalterischen Tätigkeit, die eben anders als das Konstruieren oder Bauen niemals eine begründende, sondern lediglich „post-prometheische“ Handlung sei, die sich auf bereits Vorhandenes oder externe Vorgaben einzulassen

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Abb. 2: Peter Fischli und David Weiss, Ringier Jahresbericht 2007, deutsche Fassung, s.p.

habe.4 Latours Designbegriff hat sich von dessen übergeordneter, dem Primat der Zeichnung geschuldeter Funktion in der Kunsttheorie der Renaissance gleichermaßen entfernt wie von den sozialutopischen Gestaltungsprogrammen der historischen Avantgarden und umreißt somit eine eher nachträgliche denn demiurgische Auffassung ästhetischer Praxis, welche die Jahresberichte von Ringier in die Genealogie der konzeptuellen Kunst seit den sechziger Jahren stellt. In ­dieser wurden visuelle Zeichen, typologische Anordnungen und serielle Formate, wie sie die zeitgenössischen Informationsmedien hervorgebracht hatten, selbst zur Grundlage von Werkentwürfen, die einen technologischen Bedingungen angemessenen Begriff von Öffentlichkeit und Kommunikation zu etablieren suchten5 und sich dabei auch und gerade gestalterischer Mittel bedienten.

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Die Institutionskritik folgte ab den siebziger Jahren eben diesem Impuls, indem sie die Analyse der Ausstellungskontexte über architektonische Räume und die Konventionen der musealen Präsentation hinaus auf das Design von Drucksachen richtete, die wie ein Jahresbericht auch im Dienste der Publicity stehen: Pressemitteilungen, Kataloge, Einladungskarten und Poster. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass Ringier mit Liam Gillick, Christopher Williams und Christian Philipp Müller wiederholt Künstler mit der Gestaltung des Geschäftsberichts beauftragt hat, für deren Praxis die in der Kunstgeschichte oftmals übersehene Verbindung zwischen Design und Institutionskritik eine entscheidende Bedeutung hat. Anstatt eine bloße Dienstleistung zu erbringen, die sich „ganz darauf konzentriert, den gestalterischen Rahmen zu schaffen, der den Berichten eine klare und offene Aussage ermöglicht“,6 wie der US-amerikanische Maler Josh Smith im Nachwort des jüngsten Jahresberichts zu Protokoll gibt, der sich mit der farbenfrohen Gestaltung von Balken auf schwarzem Grund begnügt (Abb. 3), sind die Bücher dieser Künstler von dem kritischen Vorhaben geleitet, die spezifischen Bedingungen des Auftrags durch einen Medienkonzern sowie das Format der Publikation selbst zu reflektieren. So ist es gerade der für Ringier entscheidende Komplex der medialen Inszenierung, die der US-amerikanische Künstler Christopher Williams für seinen kleinformatigen, auf braunem Papier gedruckten Jahresbericht ins Zentrum rückt. Der Umschlag des Buches zeigt die Originalverpackung einer sowjetischen Kamera aus den achtziger Jahren (Abb. 4), die neben einer strengen Typografie und einzig Konturen erlaubenden Grafik in Form einer sachlichen Farbfotografie auch im Inneren des Bandes erscheint (Abb. 5). Auf den ersten Blick scheint die Aufnahme einen Fotoapparat der Marke Hasselblad zu zeigen; in Wirklichkeit aber handelt es sich dabei um die seit dem Zweiten Weltkrieg aus der UdSSR importierte Variante dieses „ikonischen“ Kameramodells, das durch in Deutschland requirierte Zeiss-Objektive

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Abb. 3: Josh Smith, Ringier Jahresbericht 2008, deutsche Fassung, s.p.

technisch adaptiert worden war. Die Aufnahme wird in den verschiedensprachigen Fassungen des Berichts jeweils durch ein Foto einer Mahlzeit ergänzt, das wiederum einen Bezug zur DVD herstellt, die jedem Exemplar in einer die gesamte hintere Hälfte des Buches einnehmenden, kreisrunden Stanzung beigefügt ist. Auf ihr ist die von Ringier produzierte Fernsehkochsendung al dente in voller Länge dokumentiert – jeder Arbeitsschritt und jede Garzeit ist hier entgegen gängiger Medienökonomien ungeschnitten erfasst, so dass sich die Dauer der Ausstrahlung über mehr als fünf Stunden erstrecken würde. Alle diese Elemente sind bei Williams zu einem Künstlerbuch zusammengefügt, das weniger repräsentativ für die Aktivitäten eines Medienkonzerns einsteht als einem erweiterten Projekt der Repräsentationskritik verpflichtet ist. In der Kunst der Moderne hat die Repräsentationskritik ihre radikalste, da gleichsam ikonoklastische Ausprägung in der Abstraktion gefunden, die den figuralen Schein aus dem Bildraum vertrieb und an dessen Stelle das gleichermaßen abstrakte Band des kapitalistischen Tauschwerts ­formalisierte.7 Spätestens mit der konzep-

tuellen Kunst hat sich das Vorhaben der nichtgegenständlichen Kunst der ersten Jahrhunderthälfte, die Realität der materiellen Erscheinungen im Tafelbild zu überschreiten, insofern gegen sich selbst gekehrt, als dass Abstraktion selbst zur operativen Grundlage einer an Patenten und Marken orientierten Ökonomie geworden ist.8 In seinem Jahresbericht für das Geschäftsjahr 1999 stellt der Schweizer Künstler Christian Philipp Müller der Abstraktion ökonomischer Daten in Diagrammen und Tabellen die Dokumentation einer Reise entgegen (Abb. 6), die ihn über Monate an alle Niederlassungen des Konzerns in Europa und Asien geführt hat. Die Entwicklung des Umsatzes etwa in Tschechien wird in einem farblich abgesetzten Feld des Seitenlayouts dargestellt; der größte Teil wird aber von Müllers Aufnahmen der Mitarbeiter, des Umfeldes und der Arbeitsplätze an den jeweiligen Stationen seiner Reise sowie von seinen Beobachtungen bestimmt, die von lokalen Befindlichkeiten und regionalen Differenzen Zeugnis ablegen.9 Das homogenisierende Moment der Abstraktion in der statistischen Datenerhebung – und damit verbunden auch derjenigen der Informations- und Kapitalströme

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Abb. 4: Christopher Williams: Ringier Jahresbericht 2003, deutsche Fassung, Einband.

Abb. 5: Christopher Williams: Ringier Jahresbericht 2003, deutsche Fassung, S. 40/41.

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Abb. 6: Christian Philipp Müller, Ringier Jahresbericht 1999, deutsche Fassung, S. 31.

in einer globalisierten Ökonomie, die aus einer Schweizerischen Druckerei einen multinationalen Medienkonzern werden ließen – , konterkariert Müller mit seinen auf die Materialität der Kommunikation abzielenden Bildern. Damit bringt dieses Künstlerbuch, wie auch die anderen reflexiven Beispiele aus dieser Reihe, mit Blick für das Detail und im Wissen um die Bedeutung von Bildern in einer kulturalisierten Ökonomie ein nicht nur formales Kalkül zur Anschauung. André Rottmann





1 Die Ringier Jahresberichte wurden bislang von folgenden Künstlerinnen und Künstlern gestaltet: Clegg & Guttmann (1997), Sylvie Fleury (1998), Christian Philipp Müller (1999), Harald F. Müller (2000); Lyan Gillick (2001); Aleksndra Mir (2002); Christopher Williams (2003); Matt Mullican (2004); Richard Prince (2005); Richard Phillips (2006); Peter Fischli und David Weiss (2008); Josh Smith (2008); John Badessari (2009). 2 Grundlegend Fredric Jameson: The Cultural Logic of Late Capitalism. In: Ders.: Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991, S. 1–54. 3 Siehe zur „Bildlichkeit mathematischer Zeichen“ am Beispiel von Gottfried

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Wilhelm Leibniz’ Horst Bredekamp: Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004, S. 87–100. Vgl. Bruno Latour: A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design (with Special Attention to Peter Sloterdijk). Keynote lecture für das Networks of Design-Treffen der Design History Society, Falmouth, Cornwall, 3. September 2008, S. 3–6, http://www.bruno-latour.fr/articles/article/112-DESIGN-­CORNWALL. pdf. Siehe dazu auch Tom Holert: Design und Nervosität. In: Texte zur Kunst, 18. Jg., Heft 72, Dezember 2008, S. 28–43, S. 40f. Siehe dazu Sabeth Buchmann: Denken gegen das Denken. Produktion,Technologie, Subjektivität bei Sol LeWitt, Yvonne Rainer und Hélio Oitcica, Berlin 2007, S. 25ff. Ringer Jahresbericht 2008, S. 60. Siehe dazu Sebastian Egenhofer: Abstraktion – Kapitalismus – Subjektivität. Die Wahrheitsfunktion des Werks in der Moderne, München 2008, S. 11–31. Vgl. Sven Lütticken: Idols of the Markets. Modern Iconoclasm and the Fundamentalist Spectacle, Berlin/New York 2009, S. 140f. Ausführlich bei Alexander Alberro: Unraveling the Seamless Totality. Christian Philipp Müller and the Reevaluation of Established Equations. In: Grey Room, Nr. 6, Winter 2002, S. 6–25.

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Bildbesprechung Beredte Skizzen. Chaos und das zerbrochene Ei von ­Yoshisuke Ueda

1. Das mit Skizzen und handschriftlichen Notizen übersäte Blatt erschließt sich nicht auf den ersten Blick (Abb. 1). ­Auffällig ist die Zeichnung im linken oberen Viertel, wo expressiv und mit schnellem Strich farbige Kurven und Schlaufen in Rot, Grafitgrau und Blau skizziert sind. Zwei kleine Kreise bilden die Zentren, zu denen hin oder von denen weg in die Kurvaturen eingezeichnete Pfeile verschiedene Richtungen markieren und die zeitliche Entwicklung verdeutlichen. Eine Kombination aus roten Pfeilen, Zickzacklinien und Schraffur kennzeichnet die mittelgroße Zeichnungen darunter und die kleine in Grafitgrau ganz unten auf dem Blatt. Das stilisierte blaue „Spinnennetz“ rechts daneben ist in einen Text eingebettet, der die Seite inhaltlich auf eine Theorie nichtlinearer Differenzialgleichungen bezieht, die als „Arnold Diffusion“ bezeichnet wird, in den siebziger Jahren aber vielmehr unter der Bezeichnung Chaosforschung bekannt geworden ist.1 Die Abbildung stammt aus einem Notizbuch des japanischen Elektroingenieurs und Mathematikers Yoshisuke Ueda. Sie entstand während seines ersten Zusammentreffens mit dem amerikanischen Physiker Joseph Ford im Jahr 1978, der ihn in Japan besuchte, um ihn zu ermuntern, seine Forschung im Rahmen einer Konferenz in den USA zu präsentieren. Beide waren Vertreter unterschiedlicher Forschungstraditionen innerhalb der Theoriebildung zu komplexen Systemen. Während Ueda das Verhalten dissipativer Systeme untersuchte, die nur unter Energiezufuhr in Bewegung bleiben (beispielsweise Pendel mit Reibung oder nicht-ideale Oszillatoren), beschäftigte sich Ford mit konservativen, Energie erhaltenden Systemen, zu denen auch die Bewegung der Himmelskörper gezählt werden. In verwandten Untersuchungen zum Dreikörperproblem begründete der französische

Mathematiker, Physiker und Philosoph Henri Poincaré am Ende des 19. Jahrhunderts das Forschungsfeld.2 Ueda war der englischen ebenso wie Ford der japanischen Sprache gar nicht oder nur bruchstückhaft mächtig. Trotzdem fanden die Forscher auf diesem Blatt vor allem bildlich eine Form der Verständigung: Während Ueda die Zeichnungen mit Buntund Bleistiften anfertigte, ergänzte Ford die in blauer Farbe geschriebenen Sätze und die als „Spinnennetz“ untertitelte Skizze. Besondere Beachtung verdient, was auf der Seite fehlt: Es gibt keine einzige mathematische Formel. Das Skizzieren der Formen und das Notieren einiger Kernsätze war den beiden Forschern offenkundig ausreichend, um sich über ihre verschiedenen Ansätze auszutauschen und Gemeinsamkeiten in der jeweiligen Spezialisierung des anderen festzustellen.3 Die Zeichnungen wurden als Universalsprache gebraucht, als visuelles Esperanto, dank derer Ueda und Ford in der Lage waren, nicht nur ihre Sprachbarrieren, sondern auch die Grenzen ihrer Disziplinen zu überwinden. Nach der Begegnung mit Ford nahm Ueda die Einladung zur Teilnahme an der für die Geschichte der Chaosforschung bedeutsamen International Conference on Nonlinear Dynamics im Dezember 1979 in New York an, bei der eine Vielzahl der Pioniere des Faches erstmals an einem Ort zusammentrafen.4 2. Auf das Phänomen, das Ueda hier skizziert hatte, war er bereits siebzehn Jahre zuvor eher zufällig gestoßen (Abb. 2). Vor einem hellgrauen Rund hebt sich auf dem Millimeterpapier eine einerseits halbmondförmige, andererseits gezackte, aus dunklen Punkten bestehende Kontur ab. Das Blatt dokumentiert Uedas Forschungen mit analogen Computern, die durch Differenzialgleichungen zweiter Ordnung beschrieben werden können und das Verhalten nichtlinearer Oszillatoren simulieren. Die Analyse solcher Gleichungen war das Spezialgebiet seines Doktorvaters Chihiro Hayashi, unter dessen Leitung Ueda seit 1959 an der Univer-

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Abb. 1: Yoshisuke Ueda und Joseph Ford, gemeinsame Zeichnungen, Seite aus Skizzenbuch von Yoshisuke Ueda, 1978.

sität Kyoto forschte. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Verhalten eines dynamischen Systems darzustellen, eine davon ist das hier angewandte Abtragen zweier voneinander abhängiger Variablen in einem

Koordinatensystem. Diese Darstellungsweise in einem Phasenraum, in dem jeder Punkt einen eindeutigen Systemzustand repräsentiert, war eine der wichtigsten Erfindungen von Poincaré. Etwa fünfzig

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Jahre nach Poincarés Tod gab es erstmals die Möglichkeit, die Berechnungen von einem Computer ausführen zu lassen und sie als experimentell gewonnene grafische Resultate in eine neue Form der Anschaulichkeit zu überführen. Daraus ergab sich die Herausforderung, Sichtbares in ein Verhältnis zur mathematischen Theorie zu setzen. Die experimentelle Mathematik wurde nunmehr als Bilder produzierende Laborwissenschaft in der Verantwortung gesehen, die selbst erzeugten Darstellungen zu beobachten und zu dokumentieren. Mathematische Arbeit erforderte plötzlich eine neue Art der Bildkompetenz, welche die Fähigkeit zur Bildkritik einschloss. Diese schien angesichts des Resultats von Uedas Experimenten vom 27. November 1961 (Abb. 2) besonders gefragt: „It was nothing like the smooth oval closed curves […] but was more like a broken egg with jagged edges. My first concern was that my analog computer has gone bad.“5 Während das Bild eines regulären, glatten Ovals als Ergebnis erwartet wurde, das Markenzeichen der quasi-periodischen Oszillationen, ergab sich die Figur, die an ein „zerbrochenes Ei“ erinnerte jedoch nicht automatisch. Sie war vielmehr das Resultat eines manuellen Eingriffs Uedas in den ursprünglichen computergrafischen Output, der zunächst ein irritierendes Gewirr aus Kurven und Häkchen zeigte und keine klar erkennbare Form preisgab. Mit Hilfe eines dunklen Stifts betonte Ueda die Häkchen, die restlichen Kurvenverläufe radierte er weitgehend aus, erkennbar an den hellgrauen Bereichen des Bildes als Radierspuren.6 Die auf diese Weise aus der Computergrafik herausgeschälte gezackte Form der Abb. 2 war nicht nur eine ästhetische Überraschung, sondern stellte eine derartige Abweichung von allem bisher Bekannten dar, dass Ueda im ersten Moment nur eine technische Bildstörung als Erkärung einleuchtend schien. Ohne es zu ahnen, hatte er als erster (oder etwa zeitgleich mit dem amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz) auf experimentellem Wege dasselbe Phänomen entdeckt, mit dem Lorenz als Pionier in die Geschichte

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Abb. 2: : Yoshisuke Ueda, Output of an analog simulation, manuell bearbeitete Computer­ grafik, 1961.

der Mathematik eingehen sollte: einen chaotischen Attraktor, die Signatur des deterministischen Chaos.7 Verhält sich ein System chaotisch, hat der Attraktor eine fraktale (nicht-ganzzahlige) Dimension, die eine längerfristige Prognose der Entwicklung des Systems unmöglich macht. Auch Lorenz, der auf der anderen Seite der Welt und zu einer unterschiedlichen Klasse von Differenzialgleichungen forschte, hatte das Phänomen im ersten Moment für eine technische Unzulänglichkeit seines digitalen Rechners gehalten, dennoch publizierte er es 1963 in einem Artikel, der später zum Klassiker avancierte.8 Berichten Uedas zufolge war eine Publikation der Entdeckung in Japan aufgrund einer strengen Hierarchie in der Arbeitsgruppe von seinem Lehrer Hayashi nicht möglich.9 Obwohl das „Ei“ im Laufe seiner Experimente wiederholt auseinanderbrach, wirkten die bestehenden Seherwartungen stärker als das, was sich tatsächlich zeigte: Da sich die zerklüftete Form nicht mit der zu jener Zeit gültigen Theorie vereinbaren ließ, wies Hayashi das Resultat zurück und beharrte auf seiner Einordnung als Com-

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Abb. 4: Toshiaki Murakami, The loci of some image points on the invariant curves, ­Zeichnung, 1963.

Abb. 3: Norman Levinson, Examples of maximum finite invariant domains, Zeichnung, 1944.

puterfehler. In seinem nachfolgenden Forschungsbericht sparte er es sogar gänzlich aus und ersetzte es durch die bekannten quasi-periodischen Oszillationen.10 Das unvermutete Auftauchen einer nicht klassifizierbaren, „gänzlich irregulären und scheinbar unerklärlichen“11 Form wurde als technischer „Unfall der Repräsentation“ ausgesondert und der Weg vom Labor in die Publikation damit verhindert12. Man könnte Ueda in diesem Sinne als Entdecker ohne Entdeckung bezeichnen. Die Frage, ob das Sehen die Grenzen des Wissens bestimmt, kann umgekehrt so beantwortet werden, dass in diesem Fall das Wissen die Wahrnehmung determinierte. Was Henri Bergson einmal für das Denken formulierte, erweist sich hier auch für das Sehen: „Unser Geist hat eine unwiderstehliche Tendenz, jene Idee für die klarste zu halten, derer er sich am häufigsten bedient.“13

3. Die Herausforderung bestand jedoch nicht nur darin, zu erkennen, dass es sich bei dem „zerbrochenen Ei“ keineswegs um einen Rechenfehler handelte, sondern vor allem in der Frage, welche mathematische Erklärung eine derart regellos wirkende Form hervorbringen konnte. Es waren nun in erster Linie keine weitergehenden Computersimulationen, die Ueda entscheidende Hinweise gaben, sondern die Entdeckung einer älteren Zeichnung des amerikanischen Mathematikers Norman Levinson14 (Abb. 3), die Ueda rückblickend für eine Art Heureka-Effekt verantwortlich machte: „The moment I understood the meaning of these figures, I thought ‚This is it!‘“15 Uedas Erkenntnis betraf die Anordnung der sogenannten invarianten Mannigfaltigkeiten, also der Teilbereiche mit anziehenden oder abstoßenden Eigenschaften um das Gebiet des Attraktors herum. Kursierten in Hayashis Arbeitsgruppe bereits Jahre zuvor ­Darstellungen dieser Mannigfaltigkeiten, die an einem bestimmten Punkt eine ebenmäßige ­Spirale ausprägten (Abb. 4; vgl. dort Punkt 1), gelang es Ueda nun durch die Kenntnis der Zeichnung von Levinson sowie durch begleitende numerische Berechnungen eine neue Organisation dieser Linien (Kräftefelder)

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Abb. 5: Yoshisuke Ueda, Corrected schematic diagram, Zeichnung, 1966.

Abb. 6: Yoshisuke Ueda und Chihiro Hayashi, Computed fixed points and invariant curves, Tintenzeichnung, 1968.

vorzustellen, die er anschließend auch in einer eigenen Skizze festhielt (Abb. 5). Es ist deutlich zu erkennen, dass Ueda anstelle der Spirale den Falt- und Rotationsmechanismus von Levinson adaptierte. Mathematisch gesprochen war dies Uedas erster bewusster Kontakt mit einer für chaotische Phänomene typischen Prägung des topologischen Raumes, mit dem Konzept eines homoklinen Punkts.16 In einem homoklinen Punkt treffen stabile und instabile Mannigfaltigkeiten zusammen. Vereinfacht gesagt, wirken dort Kräfte, die gleichzeitig dehnen und zusammenfalten, man könnte ihn daher als einen möglichen Generator von Chaos bezeichnen. Es ist diese geometrische Grundstruktur einer komplex gefalteten Topologie, welche die zentrale Eigenschaft des Verhaltens eines chaotischen Systems erst ermöglicht: Schon eine infinitesimal kleine Veränderung eines Parameters, ein minimal verschiedener Ausgangspunkt im Phasenraum, kann ein vollständig unterschiedliches und unerwartetes Verhalten des Systems zur Folge haben. Die Faltung ist somit die Voraussetzung der Unmöglichkeit langfristiger Voraussagen komplexer Systeme und die Kerneigenschaft des Chaos. Mit Hilfe seiner Skizze gelang es Ueda schließlich auch Hayashi von der Richtigkeit seiner Erkenntnis zu überzeugen, der 1968 eine aktualisierte Variante der Spiralform publizierte (Abb. 6), die Uedas

Konstruktion aufnahm.17 Die Raffinesse von Uedas Idee lag in einer visuellen Vermittlung zwischen Symmetrie und Asymmetrie: Sein von Levinson inspiriertes Schema (Abb. 5) war zwar wie zuvor die Spirale (Abb. 4) um ein klares Zentrum herum aufgebaut, produzierte in der konkreten Anwendung auf die von Hayashi untersuchten Gleichungssysteme jedoch eine asymmetrische Form (Abb. 6). Diese erinnert nicht grundlos an die eingangs beschriebene Schlaufenzeichnung (Abb. 1). In Uedas Skizze für Joseph Ford konzentrierte sich eben dieser Kerngedanke eines gedehnten und wieder eingefalteten Raums eines chaotischen Attraktors.18 Das Resultat der Faltung drücken die rote und die grafitfarbene kleine Skizze aus: In Abhängigkeit der Veränderung eines Parameters schwankt das System zwischen periodischem und chaotischem Verhalten.19 Auch wenn die Abbildungen 3 bis 6 strenggenommen noch kein „Chaos“ ins Bild setzen, haben sie den Blick geöffnet, das Auge für neue Formen sensibilisiert und damit die Bedingung geschaffen, der Dynamik des „zerbrochenen Eis“ auf die Spur zu kommen und es als neues Phänomen einzufordern. Ueda selber wagte es schließlich zur Zeit der Studentenproteste in Kyoto, 1969/70, während der Abwesenheit seines Professors Hayashi, einen Artikel bei einer Fachzeitschrift einzureichen, in dem er seine Entdeckung erstmals vorsichtig

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stellbarkeit: „When one tries to depict the figure formed by these two curves and their infinity of intersections […] one is struck by the complexity of this figure that I am not even attempting to draw.“22 Ein ikonoklastisches Moment – das erstaunte Aussetzen des Zeichenstifts, oder zumindest sein kurzzeitiges Innehalten – ­markierte den Beginn der Bildgeschichte des Chaos. Selbstbewusst ins Zentrum einer bildlichen Konversation gestellt, lösten die Skizzen von Ueda und Ford etwa acht Jahrzehnte später die Zweifel einer Darstellbarkeit des Chaos im beredten Zug des Stifts auf dem Papier gleichsam auf. Nina Samuel

Abb. 7: Yoshisuke Ueda, Point sequences representing beat oscillations, Zeichnung, 1969/70.

erwähnte.20 Dort stellte er dem allseits akzeptierten Oval das bislang unbekannte „zerbrochene Ei“ gegenüber (Abb. 7). Er dokumentierte die Reihenfolge, in der die Punkte berechnet werden, indem er die kleinen Kreise durchnummerierte, die damit entfernt an Zahlenbilder für Kinder erinnern, bei denen Figuren entstehen, wenn Punkte in der richtigen Reihenfolge miteinander verbunden werden. Im Text charakterisierte Ueda die zerborstene Form als derart delikat und verwickelt, dass sie sich kaum darstellen ließe („more and more complicated […] cannot be drawn“).21 Dies erinnert nicht zufällig an die Beschreibung seines geistigen Vorgängers Poincaré, auf den das Konzept der homoklinen Punkte ursprünglich zurückgeht. Auch im Moment ihrer Konzeption stieß Poincaré an die Grenzen der Dar-





1 „Arnold Diffusion” ist ein mathematischer Diffusionsprozess, der im Zusammen­ hang mit dem Kolmogorov-ArnoldMoser-Theorem steht und den Übergang von Systemen ins Chaos beschreibt. „Chaos” als Begriff (für nichtperiodisches dynamisches Verhalten) wurde geprägt von Tien-Yien Li, James A. Yorke: Period Three Implies Chaos. In: The American Mathematical Monthly, Bd. 82, Nr. 10, 1975, S. 985–992. 2 Das Dreikörperproblem verhandelt die Stabilität des Sonnensystems: wie verhalten sich die Bahnen dreier Körper unter ihrem gravitativen Einfluss zueinander. Während die als Differentialgleichungen beschriebenen Bahnen von Erde und Sonne bereits von Isaac Newton und Leonhard Euler gelöst worden waren, waren Isaac Newton und zahlreiche andere aber an der Berechnung der Bahnen von drei oder mehr Körpern gescheitert. Poincaré stieß auf erste Hinweise eines chaotischen Verhaltens von Differenzialgleichungen, vgl. Henri Poincaré: Sur le problème des trois corps et les équations de la dynamique, in: Acta Mathematica 13, 1890, I-270; sowie ders.: Les Méthodes Nouvelles de la Mécanique Céleste, I–III, S. 1892–1899. 3 Wie der letzte Satz auf dem Blatt erkennen lässt, vermutete Ford auch eine Relevanz der Studien Uedas im Bereich der amerikanischen Nuklearforschung.

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4 Vgl. Robert H.G. Hellemann (Hg.): Nonlinear Dynamics, Annals of the New York Academy of Sciences, Vol. 357, New York 1980, dort v.a. die Beiträge von Mitchell Feigenbaum, Edward Lorenz, Benoît Mandelbrot und Yoshisuke Ueda. 5 Yoshisuke Ueda: Strange Attractors and the Origin of Chaos. In: Ralph Abraham, Yoshisuke Ueda (Hg.): The Chaos-Avantgarde. Memories of the Early Days of Chaos Theory, Singapur 2000, S. 27. 6 Diese Technik einer manuellen Bildbearbeitung war möglich, da Ueda einen Zeichenstiftplotter (pencil plotter) verwendete und noch keinen Tintenstrahldrucker (ink plotter) (Korrespondenz mit Bruce Stewart). 7 Ein Attraktor ist eine geometrische Form, die alle potenziellen Zustände erfasst, in denen ein dynamisches System nach einer Abklingphase (transienten Phase) in seiner zeitlichen Entwicklung erscheinen kann. 8 Während sich Lorenz mit autonomen Systemen dritten Grades beschäftigte, die Luftströmungen modellierten, untersuchte Ueda nicht-autonome Systeme zweiten Grades. Vgl. Edward Lorenz: Deterministic Nonperiodic Flow. In: Journal of the Atmospheric Sciences, Bd. 20, 1963, S. 130–141. Hier ist anzumerken, dass Lorenz’ Entdeckung aber erst nach 1970 durch die Vermittlung von James A. Yorke weitläufig bekannt wurde. Vgl. dazu auch Lorenz’ eigene Erinnerungen in: Edward Lorenz: The Essence of Chaos, Seattle 1993. 9 Vgl. Ueda (s. Anm. 5), v.a. S. 26–49. 10 C. Hayashi, H. Shibayama,Y. Ueda: Quasiperiodoc oscillations in self-oscillatory systems with external force (auf japanisch). In: IECE Technical Report, Nonlinear Theory, 16. Dezember 1961. (Nach Ueda (s. Anm. 5), S. 27.) 11 Ueda (s. Anm. 5), S. 27. 12 Zu „Unfällen der Repräsentation“ im fotochemischen Bereich vgl. Geimer: Was ist kein Bild? Zur „Störung der Verweisung“. In: Ders. (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M. 2002.

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13 Zit. n. Gaston Bachelard: Epistemologie, Frankfurt a.M., 1993, S. 176. 14 Norman Levinson:Transformation theory of non-linear differential equations of the second order. In: Ann. Math 45, 1944, S. 723–737. 15 Ueda (s. Anm. 5), S. 37. 16 Vgl. Ueda (s. Anm. 5), S. 37. Genaugenommen handelt es sich hier um eine Variante, den heteroklinen Punkt. Ein heterokliner Punkt ist aber mit dem homoklinen Punkt verwandt. Sie unterscheiden sich lediglich durch ihre Fixpunkte. Beide stellen ein charakteristisches topologisches Merkmal des Chaos dar. 17 Chihiro Hayashi,Yoshisuke Ueda, H. Kawakami: Solution of Duffing’s Equation Using Mapping Concepts. In: Proc. 4th Int. Conf. On Nonlinear Oscillations, Prag, 1968, S. 25–40, hier: S. 37, Fig. 6; vgl. Ueda (s. Anm. 5), S. 38. 18 Ueda erklärte in dieser Skizze vermutlich den „Japanese Attractor“, den Ueda etwas später als den „Broken Egg Attractor“, das „zerbrochene Ei“, entdeckte, der aber dieselben strukturellen Elemente aufweist (die homokline Struktur), wenn er auch auf einer anderen Gleichung basiert (Korrespondenz mit Bruce Stewart, der Teile seines historischen Bildmaterials archiviert). 19 Diese Art der Darstellung nennt man auch Bifurkationsdiagramm. 20 Chihiro Hayashi, Yoshisuke Ueda, Norio Akamatsu, Hidekiyo Itakura: On the behavior of self-oscillatory systems with external forcing [or force] (auf japanisch, später in engl. Übersetzung). In: Trans. IECE [Journal of the Institute of Electronics and Communication Engineers], Japan 53-A, 1970, S. 150–158, vgl. Ueda (s. Anm. 5), S. 45. 21 Ueda u.a. (s. Anm. 20), S. 156. 22 Henri Poincaré: Les Méthodes Nouvelles de la Mécanique Céleste III, GauthierVillars, 1899 (Paris 1987), S. 389, zit. in der Übersetzung von June BarrowGreen: Poincaré and the Three Body Problem, Providence 1997, S. 162.

Eberhard H.-A. Gerbracht

Wie die Gottheit erschaubar wird – die Figuren Felix Kleins

1.

„Wir betreten damit den Tempel, in welchem die Gottheit (wenn ich dieses Bildes mich bedienen darf) aus der irdischen Haft ihrer Einzelverwirklichung sich selber zurückgegeben wird: in dem Symbol des zweidimensionalen Nicht-Euklidischen Kristalls wird das Urbild der Riemannschen Flächen selbst, (soweit dies möglich ist) rein und befreit von allen Verdunklungen und Zufälligkeiten, erschaubar.“1 Dem 27-jährigen Privatdozenten der Mathematik Hermann Weyl fällt es 1913 im Vorwort seines ersten Lehrbuchs Die Idee der Riemannschen Fläche trotz aller eingeschobenen Konditionalsätze schwer, seine überschwängliche und fast schon religiös anmutende Begeisterung angesichts des von ihm präsentierten Themas zu zügeln. Dennoch – es soll auch bei ihm um handfeste Mathematik gehen: „Absicht war: die Grundideen der Riemannschen Funktionentheorie in einer Form zu entwickeln, die allen modernen Anforderungen an Strenge völlig genüge leistet.“2 Resultate und Theorien, welche vom Mathematiker Bernhard Riemann (1826– 1866) fünfzig Jahre zuvor geschaffen worden sind, sollen den Maßstäben eines neuen Jahrhunderts – den „modernen“ Anforderungen – angepasst, in einer zu Riemanns Zeiten noch nicht vorhandenen Sprache formuliert und durch eine aktualisierte Beweistechnik abgesichert werden. Mit dieser Absichtserklärung verweist Weyl auf seinen akademischen Lehrer und Doktorvater David Hilbert (1862–1943), der ihn mit der modernen – axiomatischen – Herangehensweise an Mathematik vertraut gemacht hat. Der Hinweis auf die „nicht-euklidischen Kristalle“ verrät aber, ebenso wie andere Stellen des Vorworts, dass er die Inspiration und Unterstützung für dieses Buch von einem anderen Wissenschaftler erfahren hat, dem er es dann konsequent in „aufrichtiger und inniger Verehrung“ widmet3 – dem Mathematiker Felix Klein.4

1 Hermann Weyl: Die Idee der Riemannschen Fläche, Leipzig und Berlin 1913, S. VI. 2 Weyl (s. Anm. 1), S. III. 3 In der dritten Auflage aus dem Jahr 1955 hat Weyl (1885–1955), der zu diesem Zeitpunkt selbst zu einer der imposantesten Erscheinungen des mathematischen Wissenschaftsbetriebs ­geworden ist, sowohl Widmung als auch Vorwort vollständig überarbeitet. Die Widmung gilt jetzt seinen Söhnen; das „enthusiastische Vorwort“, welches inzwischen der „Jugend des Verfassers“ ­zugeschrieben wird, erhält eine deutlich sachlichere Ausrichtung. Allerdings gelingt es Weyl auch diesmal nicht, obwohl er seine Verehrung für Klein inzwischen durch Anführungsstriche im Vorwort zu relativieren versucht, seine Begeisterung für das Thema völlig zu unterdrücken. Die religiöse Metapher der ersten beiden Auflagen wird durch eine Naturmetapher ersetzt; aus der „Gottheit“ wird jetzt „der Mutterboden, auf dem die Funktionen erst wachsen und gedeihen können“. (zitiert nach Hermann Weyl: Die Idee der Riemannschen Fläche, Stuttgart 1964 ­(4. Aufl.), S. V.)

Wie die Gottheit erschaubar wird – die Figuren Felix Kleins

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2.

Das „Symbol des zweidimensionalen Nicht-Euklidischen Kristalls“, welches die von Weyl so emphatisch geschilderte Epiphanie ermöglicht, bezeichnet Bilder, welche nicht nur die Werke von Klein und seinen zahlreichen funktionentheoretischen Schülern, sondern viele Jahre bis zur Wende zum 20. Jahrhundert auch das Erscheinungsbild der von Klein mit herausgegebenen Mathematischen Annalen prägen. Für Klein wie für Weyl sind diese Bilder aber keine bloßen „Mittel der Veranschaulichung“,5 vielmehr definieren sie nach Kleins Auffassung die mathematischen Dinge, denen sein Forschungsinteresse gilt. Beide Funktionen, Veranschaulichung und Definition, sind daher nach seiner Ansicht auch nur schwer voneinander zu trennen. Bezeichnenderweise benutzt Klein daher in allen seinen Veröffentlichungen, in seinen Vorlesungen und in seiner privaten Korrespondenz stets den Begriff der „Figur“. Worte wie „Bild“ oder „Abbildung“ tauchen in diesem Zusammenhang in seinen Werken erst postum auf.6 Er selbst erwähnt noch 1923, zwei Jahre vor seinem Tod, in ausführlichen Kommentaren zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten seinen ehemaligen Leipziger Assistenten Walther von Dyck7 (1856–1934) lobend dafür, dass dieser verschiedene seiner Veröffentlichungen mit „zweckmäßig gezeichneten Figuren“ versehen hat.8 „Figur“ als Begriff für die Bilder in seinen Veröffentlichungen wie als Bezeichnung für die Dinge seines mathematischen Interesses – dieser doppelte Wortsinn scheint beabsichtigt. An anderer Stelle seiner Kommentare konstatiert Klein nämlich,





4 Ausführliche Informationen und vergleichende Interpretationen der wissenschaftlichen Positionen Hilberts und Kleins findet man in Herbert Mehrtens: Moderne – Sprache – Mathematik, Frankfurt a.M. 1990. Die Literatur zu verschiedensten Aspekten von Leben und Wirken Felix Kleins hat inzwischen fast unübersichtliche Formen angenommen. Dennoch existiert als einzige zusammenfassende Darstellung bisher nur eine knapp hundertseitige Biografie (Renate Tobies, Fritz König: Felix Klein, Leipzig 1981). Um einen ersten Eindruck von der Faszination, die Klein zu seinen Lebzeiten bereits auf seine Zeitgenossen ausgeübt hat, zu gewinnen, vgl.: Die Naturwissenschaften, 7.Jg., Heft 17 – es widmet sich ausschließlich Würdigungen verschiedener Aspekte seines Wirkens anlässlich seines siebzigsten Geburtstags. 5 Vgl. Klein: Über Riemanns Theorie der Algebraischen Funktionen und ihrer Integrale. In: Ders.: Gesammelte mathematische Abhandlungen, hg. v. Robert Fricke, Vermeil, Erich BesselHagen, 3 Bd., Berlin 1923, Dritter Bd., S. 555. 6 Vgl. Felix Klein: Vorlesungen über nicht-euklidische Geometrie (für den Druck neu bearbeitet von W. Rosemann), Berlin 1928. 7 Zu Dyck vgl. die umfangreiche Biografie Ulf Hashagen:Walther von Dyck (1856–1934) – Mathematik, Technik und Wissenschaftsorganisation an der TH München, Stuttgart 2003. 8 Klein: Gesammelte mathematische Abhandlungen (s. Anm. 5), Dritter Bd., S. 6.

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dass „konkrete geometrische Figuren“ das Substrat (s)einer „geometrischen Phantasie“ bilden, welche nach seiner Auffassung das „Hauptinstrument“ ist, „dessen ich mich zur Erfassung der tatsächlichen Beziehungen, wie zur Aufsuchung neuer Resultate bediente“.9 Diese Vorgehensweise ist für Klein charakteAbb. 1: Die Ikosaederfigur aus dem „Ikosaeder“-Buch. ristisch, und sie wird für seine Schule stilbildend – trotz aller persönlichen Unterschiede, trotz der vielen Jahren, über die sich Kleins Wirken erstreckt, und der unterschiedlichen mathematischen Teildisziplinen, in denen seine Schüler und Schülerinnen reüssieren. Dies geschieht nicht zuletzt auch deshalb, weil Klein in allen seinen Lehrveranstaltungen, seinen Vorlesungen, seinen Seminaren, aber auch in der persönlichen Betreuung, sowohl ein begeisterndes Vorbild als auch ein intensiver und insistierender Lehrer ist: „Ich würde ferner in der Entwickelung den eigentlichen Gedankengang nicht so ausschließlich zu Gunsten formaler Resultate zurückdrängen. Also mehr Figuren! Eine Figur für J, eine für a, eine für o u. dergl.“10 Diesen inoffiziellen Ratschlag zur Umarbeitung teilt Klein im September 1885 einem seiner „Meisterschüler“ und späterem engsten Mitarbeiter, dem jungen Braunschweiger Robert Fricke (1861–1930),11 unter der Hand mit, als er dessen fertig ausgearbeitete Dissertation zur Beurteilung vorliegen hat; und wirklich: Fricke meldet noch vor Jahreswechsel anlässlich der Drucklegung: „Hochgeehrter Herr Professor! Umgehend beeile ich mich Ihnen mitzutheilen, dass meine Dissert. voraussichtlich zum 6ten Januar fertig wird. […] Die Ausstattung wird, wie ich hoffe, nichts zu wünschen übrig lassen. Figurenbeilagen habe ich sechs gegeben. Eine für J, zwei für λ, eine für μ, das Polyg.[on] 6ter Stufe in anspr. Form und als Parallelogr. bez. Sechseck.“12 9 Klein: Gesammelte mathematische Abhandlungen (s. Anm. 5), Zweiter Bd., S. 5. 10 Klein an Fricke, 19. September 1885, Fricke Nachlass, Universitätsarchiv (UA) Braunschweig. 11 Zu Fricke vgl. Karl Gerke: Dr. phil. Robert Fricke. Ordinarius an der Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig 1894–1930. Ein exemplarisches Universitätsleben im Dienste der höheren Mathematik. In: Mitteilungen der Technischen Universität Braunschweig 20, 1985, S. 7–14. 12 Fricke an Klein, 25.Dezember 1885, Klein Nachlass 9, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen.

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3.

Welches sind die Figuren Felix Kleins? Was stellen sie dar? Wie funktionieren sie und wie werden sie funktionalisiert? Eine exemplarische Antwort findet sich in Kleins erstem Lehrbuch, das einen „Kristall“ bereits im Titel trägt, den Vorlesungen über das Ikosaeder und die Auflösung der Gleichungen vom fünften Grade von 1884.13 Dieses Werk ist eine singuläre Erscheinung im Oeuvre Kleins. Abgefasst zu einem Zeitpunkt einer gesundheitlichen und selbstempfundenen geistigen Krise nach einem großen wissenschaftlichen Erfolg, ist es als Anfangspunkt einer Reihe von Lehrbüchern gedacht, in denen Felix Klein seine Hauptergebnisse in zusammenhängender Form darstellen will. Anders als bei allen später von ihm verfassten Lehrbüchern geschieht dies aber nicht durch die Hinzunahme besonders geeigneter Schüler als Koautoren, beispielsweise des bereits erwähnten Robert Fricke oder des später als theoretischer Physiker berühmt gewordenen Arnold Sommerfeld (1868–1951), oder als Ausarbeitung von detaillierten Vorlesungsautografien, sondern noch vollständig in eigener Regie. Auffällig ist auch, dass, obwohl Kleins Artikel (und Vorlesungen) derselben Periode stets eine Reihe von Abbildungen aufweisen, im Ikosaeder-Buch nur ein einziges Bild, die sogenannte Ikosaederfigur, in Form einer lithografierten Tafel am Ende des Bandes zu finden ist (Abb. 1). Die Wichtigkeit dieser Figur wird damit evident. Zu sehen ist nun nicht etwa das Abbild eines Ikosaeders, des regelmäßigen konvexen Polyeders, der dadurch charakterisiert ist, dass alle seine zwanzig Seitenflächen zueinander kongruente gleichseitige Dreiecke sind und in jeder Ecke dieselbe Zahl von ihnen, nämlich fünf, zusammentreffen – die Kenntnis der Ansicht dieses platonischen Körpers wird beim Leser stillschweigend vorausgesetzt. Stattdessen findet sich ein konzentrisches Muster, welches die Seite in 120 abwechselnd weiße und schraffierte, durch Geradenstücke und Kreisbögen berandete Flächen zerlegt. 110 davon befinden sich im Innern zweier konzentrisch platzierter Ringe von je fünf sich überlappenden Kreisen und sind durch je drei Seiten begrenzt. Sie bilden, wie dem Haupttext des Buches zu entnehmen ist, sogenannte Kreisbogendreiecke. Zehn Flächen, welche die zentrale Figur umgeben, scheinen sich aufgrund einer unvollständig angelegten Schraffur „ins Unendliche“, also über den sichtbaren Bereich der Seite hinaus, zu erstrecken. 13 Felix Klein: Vorlesungen über das Ikosaeder und die Auflösung der Gleichungen vom fünften Grade. Reprogr. Nachdr. der Ausg. Leipzig, Teubner 1884, hg. v. Peter Slodowy, Basel 1993.

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Doch nicht nur geometrische Objekte sind im Bild zu finden: Jedes weiße Feld ist zudem bis auf eine einzige Ausnahme mit einer Buchstabenkombination, bestehend aus den Großbuchstaben S, T und U beschriftet ist, wobei das S auch mit Exponenten von 2 bis 4 versehen sein kann und das Ausnahmefeld die Zahl 1 trägt. Unten links auf der Seite wird darauf hingewiesen, dass dieses Bild im Zusammenhang mit der „stereographischen Projektion einer Kugel“ steht, unten rechts findet sich eine Gleichung, aus welcher (dem Fachmann) ersichtlich wird, dass das U, welches in der Zeichnung benutzt wird, selbst wieder nur abkürzend für eine festgelegte Kombination der Buchstaben S Abb. 2: Zur Herleitung der Ikosaederfigur. und T steht. Indem auch die „unendlich ausgedehnten“ weißen Felder genauso wie die „endlichen“ Kreisbogendreiecke mit solchen Worten versehen werden, wird auch optisch dem Betrachter der Gedanke nahegelegt, dass beide Arten von Flächen, die beschränkten wie die unbeschränkten, gleich zu behandeln sind. Ohne den Haupttext des Buches bleibt diese Figur unverständlich. Bei näherer Betrachtung allein des Bildes erschließt sich höchstens die Art und Weise, wie es völlig unabhängig von einer Deutung aus geometrischen Grundfiguren – Kreisen und Geraden – mit Zirkel, Lineal und Winkelmaß zusammengebaut werden kann. Der im Bild befindliche Verweis auf „pag.24 ff.“ führt darüber hinaus nicht unmittelbar zu einer Erklärung, sondern zu einem mit „§ 12. Erzeugung der Ikosaedergruppe“ betitelten Abschnitt, und verweist so nicht nur auf das titelgebende geometrische Objekt Ikosaeder, sondern auf ein Ding der algebraischen Begriffswelt, das „Gruppe“ genannt wird. Tatsächlich ist diese Vorgehensweise bei Klein Programm:14 Als frisch ernannter Professor für Geometrie in Leipzig im Semester 1880/81 notieren seine Studenten als Titel seiner ersten Vorlesung schlicht „Funktionentheorie“,15 eine 14 Klein hat dieses im berühmten „Erlanger Programm“ dann auch explizit zu Beginn seiner Karriere als Professor der Mathematik im Alter von 23 Jahren ausformuliert. 15 So Richard Olbricht, ein weiterer späterer Promovent bei Klein, in seiner persönlichen Mitschrift (im Besitz des Autors). Das in späteren offiziellen Versionen (s. Anm. 16) programmatisch auftauchende ergänzende Attribut „in geometrischer Behandlungsweise“ scheinen die aktuellen Zuhörer nicht unbedingt wahrgenommen zu haben.

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Wahl, die Klein nach eigener Aussage bewusst „trotz mannigfachen Widerspruchs“16 getroffen hat; Teile seiner Vorlesungen über nicht-euklidische Geometrie von 1889–1890 werden in das mit Fricke zusammen verfasste Lehrbuch über automorphe Funktionen eingearbeitet.17 Immer steht Geometrie bei Klein mit anderen Gebieten der Mathematik in engstem Zusammenhang, häufig wird sie, elementargeometrische Sachverhalte voraussetzend, diesen fast schon subsumiert. Seine Figuren schlagen stets eine Brücke zu Teildisziplinen jenseits der Geometrie. So geschieht es auch im Fall der Ikosaederfigur. Faktisch kann sie, ausgehend von einem Ikosaeder, als Ergebnis eines Prozesses mehrmaliger Projektion gesehen werden: die begrenzenden gleichseitigen Dreiecke des Ikosaeders werden zunächst durch Einzeichnen der Seitenhalbierenden in sechs kongruente Dreiecke zerlegt. Der Ikosaeder wird danach von seinem Zentrum aus auf eine ihn umgebende Kugel projiziert, und die dadurch entstehende Zerlegung der Kugeloberfläche in kongruente, sogenannte sphärische Dreiecke (Abb. 2) wird schließlich von einem gedachten Kugelnordpol auf eine Ebene projiziert, welche die Kugel tangential in deren Südpol berührt (die stereografische Projektion, für deren genauere Beschreibung Klein ebenfalls keinen Bedarf sieht). Aus den sphärischen Dreiecken der Kugeloberfläche werden dabei unter Erhaltung sämtlicher Winkel die Kreisbogendreiecke in der Ebene, sodass diese alle die Winkel π/3, π /2, π /5 aufweisen und deren Winkelsumme stets 31/30 π = 186° beträgt – ein Hinweis, dass die Darstellung nicht mehr die uns gewohnten Verhältnisse der euklidischen Geometrie widerspiegelt. Klein spricht explizit aus, dass diese „Kugeltheilung“ mehr als der ursprüngliche Ikosaeder im Zentrum seines Interesses steht.18 Genauer: Ihn interessiert die Gruppe des Ikosaeders, also die Menge der Decktransformationen des Ikosaeders. Mit anderen Worten: Ein Ikosaeder kann im Raum bewegt und mit sich selbst wieder zur Deckung gebracht werden. Dabei bleibt seine äußere Gestalt unverändert, nur die Lage der Deckflächen wird permutiert. Diese Vertauschung der Deckflächen ist nicht völlig willkürlich, so bleiben beispielsweise benachbarte Flächen immer benachbart und erhalten keine neuen Partner. Die 16 Zitiert nach Felix Klein: Funktionentheorie in geometrischer Behandlungsweise.Vorlesung gehalten in Leipzig 1880/81, hg. v. Fritz König, Leipzig 1987, S. 6. 17 Robert Fricke, Felix Klein: Vorlesungen über die Theorie der automorphen Funktionen. Erster Band – Die gruppentheoretischen Grundlagen, Leipzig 1897, S. VI. 18 Klein: Vorlesungen (s. Anm. 13), S. 3.

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Ansammlung solcher erlaubter „Operationen“ – so der zeitgenössische Begriff des späten 19. Jahrhunderts – genügt selbst wieder gewissen Regeln: Zwei Operationen, die nacheinander ausgeführt werden, können durch eine einzige (geeignete) Operation ersetzt werden und jede Operation kann „rückgängig“ gemacht werden. Sie bilden damit das, was in der Mathematik als „Gruppe“ bezeichnet wird.19 Zum Rechnen mit diesen Operationen werden deren einzelne zweckmäßig mit Buchstaben eines Alphabets bezeichnet. Ein Wort, welches sich aus diesen Buchstaben zusammensetzt, steht dann für die Operation, die sich ergibt, wenn die entsprechenden Operationen hintereinander ausgeführt werden. Eine mehrmalige, n-fache Ausführung ein und derselben Operation A wird dann mit A n abgekürzt. Da nicht mehr der konkrete Körper von Interesse ist, sondern die Gruppe der Operationen, ist es folgerichtig, dass das benutze (Leit-)Bild nicht mehr (nur) eine erkennbare Projektion des Ikosaeders darstellt, sondern dazu dient, die Operationen selbst sichtbar zu machen. So kommen dann auch die Worte ins Bild: Da jedes weiße Kreisbogendreieck durch genau eine Operation in jedes andere überführt werden kann, wird jedes weiße Kreisbogendreieck (und dazu sind die Außengebiete mitzurechnen) zu einem bildlichen Repräsentanten genau einer Operation der Gruppe, wenn eines von ihnen als sogenannter Fundamentalbereich fixiert wird. Im Bild ist dies das Feld mit der Beschriftung 1. Alle anderen können nun mit dem Namen derjenigen Operation beschriftet werden, die jenes in dieses transformiert. Durch das Bild werden aber so nicht nur die Operationen sichtbar, die auf den Ikosaeder wirken können. Augenfällige Eigenschaften der Figur spiegeln darüber hinaus algebraische Eigenschaften der Gruppe wider und ermöglichen damit Rückschlüsse auf deren Struktur. Das zentrale, aus zehn Dreiecken bestehende Fünfeck, welches in einer zeitgenössischen Mitschrift der Vorlesung, welche dem Buch zugrunde lag, extra hervorgehoben ist,20 steht für eine sogenannte 19 In Fantasy-Rollenspielen des späten 20. Jahrhunderts wird umfassender praktischer Gebrauch von der Ikosaedergruppe gemacht. Beim „Würfeln“ mit einem mit den Zahlen 1 bis 20 beschrifteten Ikosaeder und dem anschließenden Ablesen der oben zu liegen kommenden Zahl instrumentalisieren wir die Ikosaedergruppe, um eine zufällige Permutation der Zahlen 1–20 zu vollführen, welche als Grundlage für den weiteren Spielverlauf dienen soll. 20 Vgl. Felix Klein: Gleichungstheorie insbesondere Auflösung der Gleichungen 5ten Grades. Vorlesung im Sommersemester 1883. Mitschrift durch Richard Olbricht, Leipzig 1883 (im Privatbesitz des Autors).

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ausgezeichnete Untergruppe, in moderner Terminologie: einen Normalteiler der Ikosaedergruppe. Bündelt man in analoger Manier auch die anderen Dreiecke der Figur, dann ergibt sich eine Zerlegung der Ebene in zwölf Kreisbogenfünfecke, und man „sieht“ so die Quotientengruppe der Ikosaedergruppe, die sich ergibt, wenn man den Normalteiler herausfaktorisiert.21 Fundamentale Rechnungen und Konzepte der Gruppentheorie, die sich zum Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts auch unter der Mitwirkung der Arbeiten der Klein’schen Schule etabliert haben, werden so für die Eingeweihten „erschaubar“. Ein Bild wie die Ikosaederfigur liefert einen Schlüssel, um geometrische Aussagen in algebraische zu übersetzen und vice versa. Mehr noch: Ein Fundamentalpolygon wie das oben beschriebene zentrale Fünfeck kann selbst wieder als eigenständiges mathematisches Objekt begriffen werden – es liefert (wenn man sich seine Ränder nach einer festen Vorschrift miteinander „verklebt“ denkt) eine der von Weyl erwähnten Riemann’schen Flächen. Schließlich erlaubt die Darstellung der Ikosaederfigur in einer Ebene die Einführung von Punktkoordinaten. Damit wird sie „berechenbar“, ist so den entwickelten und sich im 19. Jahrhundert noch entwickelnden Instrumenten der komplexen Analysis zugänglich und liefert umgekehrt ein Experimentierfeld für diese. Auf diese Weise können dann auch Funktionen studiert werden, die „auf Riemann’schen Flächen leben“.22 Die aus diesem „funktionentheoretischen“ Ansatz heraus entstehenden Arbeiten werden von Klein selbst als die „Krönung seiner theoretischen Untersuchungen“ aufgefasst;23 diejenigen seiner Studenten, die sich vorwiegend mit diesem Aspekt beschäftigt haben, bilden dann auch den Kern seiner mathematischen Schule. Gleichzeitig aber erlaubt die Vielfalt der Anknüpfungsmöglichkeiten, die durch Figuren wie die Ikosaederfigur geschaffen wird, dass eine innere Diversifikation stattfinden kann, die die zur selben Zeit in der mathematischen Wissenschaft stattfindende Herausbildung und Etablierung neuer eigenständiger 21 Es soll hier auf eine explizite Klärung der algebraischen Begriffe verzichtet werden. Es reicht, sich diese mathematischen Manipulationen in Analogie zur üblichen Division ganzer Zahlen vorzustellen. 22 Dies ist weder ein aktueller Terminus technicus, noch wird diese Ausdrucksweise in den Schriften Kleins und seiner Schüler gebraucht. Vielmehr handelt es sich hier um eine Metapher der mathematischen Moderne, die von Dozierenden, wie wir im Falle Weyls bereits gesehen haben, gerne gebraucht wird. 23 So die Herausgeber im Vorwort von Klein: Gesammelte mathematische Abhandlungen (s. Anm. 5), Dritter Bd., S. III.

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Abb. 3: Regelmäßige Parkettierungen der Ebene mit Dreiecken.

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Abb. 4: Parkettierung des Kreises, ­beginnend mit einem Dreieck, dessen sämtliche Winkel 0 betragen.

Abb. 5a: Ansichten der Modulfigur als Kreissehnenfigur.

Teildisziplinen aufnimmt. So kann jeder Einzelne von Kleins Schülerinnen und Schülern seine persönlichen (Forschungs-)Schwerpunkte setzen und mehr oder weniger unabhängig von Klein selbst wieder eigene Wege beschreiten. Auch wenn die Ikosaederfigur das einzige Bild in Kleins erstem Buch geblieben ist, steht sie in seinem Schaffen bei weitem nicht allein. Die zentralen funktionentheoretischen Arbeiten Kleins der späten 1870er Jahre ebenso wie die Folgebände des Ikosaeder-Buchs über elliptische Modulfunktionen und automorphe Funktionen, welche in Zusammenarbeit mit Robert Fricke bis zum Jahr 1912 entstanden, und auch dessen eigene Lehrbücher zur Algebra und über elliptische Funktionen sind angefüllt mit Figuren. In diesen wird ein weiteres Grundprinzip der Klein’schen Vorgehensweise deutlich – konstruktive Verallgemeinerung: Die seit Euklid bekannten fünf platonischen Körper führen zu insgesamt drei wesentlich verschiedenen regelmäßigen Unterteilungen der Kugeloberfläche in kongruente Polygone. In der Ebene selbst gibt es drei analoge, aber jetzt unendliche Zerlegungen (Abb. 3), nämlich in regelmäßige, also gleichseitige Drei- und Sechsecke beziehungsweise mit Quadraten. Diese sind auch Nicht-Eingeweihten aus dem Alltag vertraut, da sie im gewöhnlichen ­Schachbrettmuster oder in der Struktur von Honigwaben wiederzufinden sind. Allen diesen Parkettierungen gemeinsam ist, dass sie sich wiederum aus kongruenten Dreiecken zusammensetzen lassen, deren Winkel Bruchteile von π sind. Darüber hinaus lassen sie sich alle konstruktiv erzeugen: Man startet mit einem einzigen Dreieck (auf der Kugel oder in der Ebene), spiegelt dieses an seinen Kanten, sodass drei weitere mit dem ersten identische Dreiecke erzeugt werden, spiegelt diese Figur an den neu entstandenen Kanten und führt diesen Prozess fort, bis die Kugel (hier bricht der Prozess nach endlich vielen Schritten ab, ohne dass es zu Überlappungen

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Abb. 5b: Ansichten der Modulfigur im Kreis.

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Abb. 5c: Ansichten der Modulfigur in der oberen Halbebene.

gekommen ist) oder die Ebene (hier muss man sich den Prozess beliebig lange fortgesetzt denken) vollständig mit kongruenten Dreiecken bedeckt ist. Doch dieses Verfahren funktioniert nicht nur auf der Kugel, wo die Winkelsumme in jedem Dreieck größer als π = 180° ist, und in der euklidischen Ebene, wo die Winkelsumme exakt π beträgt. Es lässt sich auch (bei geeigneter Übersetzung des Prozesses der Spiegelung) innerhalb eines Kreises mit Kreisbogendreiecken durchführen, deren Winkel Bruchteile von π oder sogar 0 betragen und deren Winkelsumme kleiner als π ist, wobei die Dreiecke zum Rand des umgebenden Kreises anscheinend immer kleiner werden. Das nun aber sind Verhältnisse einer nicht-euklidischen – nämlich der hyperbolischen – Geometrie, einem Gebiet, das ebenfalls als Kleins wissenschaftliche Domäne gilt; als Ergebnis stehen die „nicht-euklidischen Kristalle“. Klein demonstriert dieses Verfahren in seinen Lehrveranstaltungen wiederholt mit einer Figur (Abb. 4), bei der mit einem zentralen Dreieck begonnen wird, dessen Winkel alle 0 betragen. Wie bei der Ikosaederfigur gelangt man durch Einzeichnen der Seitenhalbierenden (Abb. 5b) und Umprojektion (Abb. 5a und 5c) zu der wohl berühmtesten der Klein’schen Figuren – derjenigen, die bis heute überdauert hat und somit auch immer wieder in den in einer modernen Tradition stehenden Lehrbüchern auftaucht (allerdings ohne Nennung seines Namens) – der Modulfigur. Ein weiterer Schüler Kleins, Adolf Hurwitz (1859–1919), prägt diesen Begriff in eigenständigen Arbeiten,24 wobei er ursprünglich von der „Klein-Dedekindschen Figur“ spricht,25 denn nicht Klein, 24 Adolf Hurwitz: Über die Reduction der binären quadratischen Formen. In: Mathematische Annalen 45, 1894, S. 85–117, S. 114. 25 Adolf Hurwitz: Über eine Reihe neuer Functionen, welche die absoluten Invarianten gewisser Gruppen ganzzahliger linearer Transformationen bilden. In: Mathematische Annalen 20, 1882, S. 125–134, S. 129.

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sondern Richard Dedekind, der bereits von seinen Zeitgenossen als „Gründervater“ einer modernen Richtung der Algebra betrachtet wird, ist es, der in einer Arbeit von 1877 als erster die Modulfigur explizit berechnet.26 Für Dedekind – und die moderne Mathematik – typisch, verzichtet dieser aber darauf, seine Rechnungen anhand eines Bildes zu Abb. 6: „Hauptfigur“ (Lithogr. Tafel). veranschaulichen. Die ersten Bilder liefert bezeichnenderweise erst Felix Klein im Folge27 jahr; die handwerkliche Umsetzung des geschilderten Prozesses in Form von Zeichnungen erfolgt durch seinen Schüler und Assistenten Walther von Dyck, dem Sohn des Münchener Kunstmalers Hermann Dyck. Das Verfahren, das so hervorragend funktioniert, um die Modulfigur zu konstruieren, liefert im hyperbolischen Fall eine unendliche Anzahl von weiteren Bildern und damit immer wieder neue Ausgangspunkte des mathematischen Erkenntnisgewinns: Die Modulfigur steht nach Kleins eigener Aussage am Anfang seiner Resultate über elliptische Modulfunktionen.28 Eine andere markante und immer wiederkehrende Figur, deren Konstruktion mit einem zentralen Siebeneck startet (Abb. 6),29 ist 1882 Kristallisationspunkt seines von ihm selbst als bedeutendstes eigenes Resultat gesehenen, im Wettstreit mit dem Franzosen Poincaré (1854–1912) gewonnenen „Grenzkreistheorems“. Dies Ereignis wird im Nachhinein von Klein als zentraler Höhe- und gleichzeitiger Wendepunkt seines Lebens aufgefasst. Demgemäß und dabei Poincaré emulierend, der in seiner wissenschaftstheoretischen Schrift30 geschildert hat, unter welchen Umständen er zu diesem Ergebnis gelangt ist (nämlich beim Einsteigen in einen Ausflugsbus) 31, entwickelt Klein eine in seinen Vorlesungen 26 Vgl. Richard Dedekind: Schreiben an Herrn Borchardt über die Theorie der elliptischen ModulFunctionen. In: Journal für die Reine und Angewandte Mathematik 83, 1877, S. 265–292. 27 Vgl. Felix Klein: Über die Transformation der elliptischen Functionen und die Auflösung der Gleichungen fünften Grades. In: Mathematische Annalen 14, 1879, S. 111–172. 28 Klein: Gesammelte mathematische Abhandlungen (s. Anm. 5), S. 5. 29 Eine detaillierte Analyse dieser Figur und Hinweise zu ihrer Geschichte und die der Modulfigur findet sich in Jeremy Gray: From the History of a simple group. In: Mathematical Intelligencer 4, 1982, S. 59–67. 30 Henri Poincaré: Wissenschaft und Methode, Leipzig und Berlin 1914. 31 Poincaré (s. Anm. 30), S. 42.

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und Werken wiederkehrende, häufig wortwörtlich wiederholte Erzählung. Den Kern dieser Erzählung bildet Kleins „geometrische Phantasie“, diesmal, indem sie ihm eine geradezu paulinische Vision ermöglicht: In der Fremde (bei einem Nordseeurlaub), in sturmumtoster, durchwachter Nacht, von Asthmaanfällen geplagt, „stand plötzlich um 2 ½ Uhr das Grenzkreistheorem, wie es durch die Figur des Vierzehnecks in Bd. 14 der Math. Annalen (die „Hauptfigur“ […]) ja eigentlich schon vorgebildet war, vor mir.“ Doch diese „Offenbarung“, mag sie auch unter höchstem persönlichen Einsatz gewonnen sein und wie bei Weyl fast schon mythisch-religiöse Züge tragen, steht nach Kleins spätestens seit den 1890ern öffentlich geäußerten Überzeugung erst am Anfang des mathematischen Arbeitsprozesses: „Bei unserer Auffassung vom Wesen der Anschauung wird man daher durch anschauungsmässige Betrachtung von Figuren wohl eine gewisse allgemeine Anleitung darüber gewinnen, welche mathematischen Gesetze stattfinden mögen und wie deren Beweis im Allgemeinen zu gliedern sein mag. Einen wirklichen Beweis aber wird man erst bekommen, wenn man die vorgeschriebenen Figuren durch gesetzmässig auf Grund der Axiome erzeugte Figuren ersetzt und an diesen den allgemeinen Gedankengang erst im Einzelnen ausführt. Die Beschäftigung mit anschauungsmässigen Dingen gibt dem Mathematiker Anregung und Übersicht über die zu behandeltenden Probleme, aber sie nimmt die mathematische Behandlung selbst nicht vorweg.“32 So formuliert Klein es gegenüber den Hörerinnen und Hörern seiner Vorlesung über Nicht-Euklidische Geometrie und unterscheidet dabei explizit zwischen zwei Typen von Figuren: denjenigen, die man eventuell in Form einer Zeichnung vorliegen hat und die man vollständig in allen Details übersieht, und denjenigen, die, wie die hyperbolischen Parkettierungen, „auf Grund der Axiome erzeugt“ am Ende eines eventuell nicht endenden Prozesses (etwa der wiederholten Spiegelung) zu denken sind und sich dadurch letztlich der Anschauung entziehen. Hier ist das natürliche Habitat der „Monster“.33 Kleins eigenes Offenbarungserlebnis schließt, seinem Credo entsprechend, ganz prosaisch mit der Schilderung, wie er die Einzelheiten seines Theorems auf der Heimreise überprüft, einen entsprechenden Artikel verfasst, diesen einreicht 32 Felix Klein: Nicht-Euklidische Geometrie, Vorlesung gehalten während des Wintersemesters 1889–90. Ausarbeitung von Friedrich Schilling, Autografie, Göttingen 1892, S.359f. 33 Zur Terminologie „Monster“ in der Mathematik vgl. Mehrtens (s. Anm. 4), Abschnitt 1.4. bzw. Klaus Thomas Volkert: Die Krise der Anschauung, Göttingen 1986, Abschnitt 6.

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und ihn anschließend unter Fachkollegen zirkulieren lässt und sich damit nebenbei die Priorität gegenüber Poincaré zu sichern versucht. Aber die Geschichte ist hiermit nicht zu Ende, auch wenn Klein sie an dieser Stelle abbricht. Zwar ist das Grenzkreistheorem mit Kleins Artikel in der mathematischen Literatur fixiert und wird, wahrscheinlich auch da sie durch die Parallelentdeckung Poincarés bestätigt wird, von der Fachwelt anerkannt, aber innerhalb weniger Jahre werden die Beweise Kleins und Poincarés selbst von diesen als unzureichend und lückenhaft empfunden. Ursprünglich „anschaulich klare“ Argumentationen werden durch die sich immer häufiger offenbarenden „Monster“ und mittels des Instrumentariums der sich herausbildenden Mengenlehre und der darauf basierenden mengentheoretischen Topologie prekär und verlieren ihre Beweiskraft. Als Robert Fricke mit Klein zusammen 1902 beginnt, den letzten Band der Vorlesungen der Theorie der automorphen Funktionen – des abschließenden Bandes der mit dem Ikosaeder-Buch begonnen Reihe – abzufassen, ist auch jener nicht in der Lage, die Lücken in den gerade einmal zwanzig Jahre alten Beweisen zu schließen. Beide müssen bis 1911 warten, bis die „nächste Generation“, der Holländer Brouwer (1881–1966) und der deutsche Paul Koebe (1882–1945), welche später als Wegbereiter der modernen Topologie beziehungsweise einer modernen Funktionentheorie gelten, die „exakten“ Methoden geschaffen haben, welche Fricke für den endgültigen Beweis benutzt. Klein selbst kann zu diesem Zeitpunkt – wohl nicht nur aus Gesundheitsgründen – dem mathematischen Treiben in gewisser Weise nur noch zuschauen. Die „technischen Details der Beweisführung“ kann oder will er nicht mehr nachvollziehen, und so schreibt er 1912 an Fricke, den er inzwischen nach langen Jahren der Zusammenarbeit als eingeheiratetes Mitglied seiner Familie duzt: „Es ist ein merkwürdiges Geschick, dass alle diese Dinge in schönster Weise gedeihen, dazu Dein Buch fertig wird, während ich selbst am wenigsten geeignet bin, daran teilzunehmen.“34 4.

Auch wenn Weyl 1913 noch die Klein’schen Figuren in seinem Vorwort enthusiastisch preist, so präsentiert er in seinem Buch keine einzige von ihnen. Die Bilder haben zu diesem Zeitpunkt im Hinblick auf die einsetzende „mathematische Moderne“ einen großen Teil ihrer Wirkungskraft verloren und werden 34 Klein an Fricke 6. Januar 1912, Fricke Nachlass, UA Braunschweig.

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obsolet. Selbst wenn andere Mathematikerinnen und Mathematiker als treibende Kräfte dieser Moderne fungieren, so ist eigentlich schon in den Arbeiten Kleins der Keim dieses Prozesses angelegt, da das ursprüngliche Objekt (wie etwa der Ikosaeder) nicht mehr erkenntnistragend ist, sondern das sorgfältig hergestellte Bild, in welcher die Gruppenoperationen als eigentliche Dinge des Interesses sichtbar gemacht werden, oder das Bild, welches man sich als Endprodukt einer unendlichen Folge geometrischer Operationen „zu denken“ hat. Kleins Schüler führen diese Entwicklung mit fort: So veröffentlicht von Dyck bereits 1882 mit seiner Habilitationsschrift, den Gruppentheoretischen Studien,35 eine Arbeit, die als Gründungsmanifest einer eigenständigen kombinatorischen Gruppentheorie aufgefasst werden kann, welche es ermöglicht, unabhängig von geometrischen Vorstellungen zu arbeiten. Dyck schildert darin, wie Gruppen­ elemente systematisch durch Erzeugende und Relationen, das heißt allein durch syntaktische Zeichen – Worte – beschrieben und gruppentheoretische Fragestellungen nur mittels der Manipulation dieser Worte untersucht werden können. Zwar zitiert er dabei explizit die Ikosaederfigur im Bild, aber diese dient jetzt wirklich nur noch der Illustration. Ein in den Gruppentheoretischen Studien vorgestelltes Verfahren, das ermöglicht, aus den Erzeugenden und Relationen einer Gruppe wieder Bilder in Analogie zu den Klein’schen Figuren, zurückzugewinnen, findet zwar noch Eingang in das erste eigenständige Lehrbuch der Gruppentheorie Theory of Groups of Finite Order des Engländers William Burnside (1852–1927), welches 1897 erscheint. Für die mathematische Forschung des 20. Jahrhunderts hat diese „Graphical Representation“, wie Burnside sie nennt, aber keine praktische Bedeutung mehr.36 Die Figuren tauchen in den zentralen Texten der modernen Algebra oder Analysis nicht mehr auf. Dort gilt dann vielmehr das Diktum, welches beispielsweise Jean Dieudonné, Mitglied 35 Walther von Dyck: Gruppentheoretische Studien. In: Mathematische Annalen 20, 1882, S. 1–44. 36 Wie sehr die moderne Mathematik sich von der Klein’schen Vorgehensweise bereits zu seinen Lebzeiten entfernt, zeigt frappierend eine Episode aus dem Jahr 1898. In diesem Jahr werden in den „Mathematischen Annalen“ Arbeiten sowohl von Burnside als auch von Fricke zu demselben Thema, der einfachen Gruppe mit 504 Elementen, veröffentlicht, die beide im Wesentlichen zu demselben Ergebnis gelangen. Während Burnside dies aber auf drei Seiten durch eine Reihe von „syntaktischen Manipulationen“ der die Gruppenoperationen bezeichnenden Worte gelingt, benötigt Fricke hingegen 19 Seiten und benutzt eine Reihe zum Teil ganzseitiger Figuren, aus denen er die entsprechenden Ergebnisse abliest. (Vgl. Clemens Adelmann, E.H.-A.Gerbracht: Letters from William Burnside to Robert Fricke: automorphic functions, and the emergence of the Burnside Problem. In: Archive for History of Exact Science 63, 2009).

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der Gruppe Bourbaki, 1960 im Vorwort seiner Grundlagen der modernen Analysis explizit formuliert: „[Es] ergibt sich ferner die Notwendigkeit, sich strikt an axiomatische Methoden zu halten und sich in keiner Weise auf die ‚geometrische Anschauung‘ zu berufen, wenigstens in den formalen Beweisen. Diese Notwendigkeit habe ich unterstrichen, indem ich ganz bewusst darauf verzichtet habe, irgendwelche Abbildungen in das Buch aufzunehmen. […] Dieses Buch möchte dem Studenten helfen, seine ‚abstrakte Anschauung‘ zu entwickeln, die für das Denken eines modernen Mathematikers so wesentlich ist.“37 5.

Selbst wenn die Klein’schen Figuren für die vorherrschenden mathematischen Forschungszweige des 20. Jahrhunderts irrelevant geworden sind und, damit verbunden, ihre ursprüngliche Funktion zumindest zeitweilig verloren haben, sind sie nicht verschwunden. Sie überdauern in Emblemen, wie es etwa mit der in Abbildung 4 dargestellten hyperbolischen Parkettierung geschehen ist, das unter anderem 1978 zum Wahrzeichen des International Congress of Mathematicians in Helsinki wurde38 und inzwischen, 2009, auch den Kopf der Internetpräsenz der weltweit wohl renommiertesten mathematischen Forschungseinrichtung, der mathematischen Fakultät des Instituts for Advanced Study in Princeton ziert,39 der Einrichtung, an der schließlich auch Hermann Weyl ab 1933 bis zu seiner Emeritierung forschte und lehrte. Sie ,diffundieren‘ in Architektur und Kunst,40 am pronociertesten wohl im Werk M.C. Eschers, der in einer Reihe von Arbeiten der Jahre 1958–1960 die Konstruktion hyperbolischer Parkettierungen nachvollzieht (Abb. 7).41

37 Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Jean Dieudonné: Grundzüge der modernen Analysis, Braunschweig 1972 (2. Auflage), S. 8. 38 Zitiert nach Gray (s. Anm. 29). 39 http://www.math.ias.edu/ (Stand: 07/2009). 40 Der Einfluss anderer „Bildschöpfungen“ Kleins – der mathematischen Modellsammlungen, deren Einrichtung stets expliziter Bestandteil des wissenschaftsorganisatorischen Programms von Klein und seinen Schülern war – auf Künstlerinnen und Künstler insbesondere des Surrealismus ist unzweifelhaft und ausführlich untersucht. Die Auswirkungen seiner Figuren in Kunst und Architektur, z.B. auf Mitglieder des Bauhauses, Walther Bauersfeld oder Richard Buckminster Fuller, sind zwar augenfällig, können aber an dieser Stelle (mit Ausnahme Eschers) nur postuliert werden.

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Abb. 7: M.C. Escher: Circle Limit IV.

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Abb. 8: Modulfigur in der Darstellung Jean-Pierre Serres

Schließlich tauchen sie auch wieder in der Mathematik auf: Wilhelm Magnus (1907–1990), wissenschaftlicher „Enkel“ Hilberts, Koautor des ersten eigenständigen Lehrbuchs der kombinatorischen Gruppentheorie 1966 und später Doyen dieser Teildisziplin, verfasst 1974 ein mathematisches Lehrbuch,42 in dem er eine Übersetzung der gruppentheoretischen Anteile der Klein’schen Arbeiten in die moderne algebraische Sprache für „undergraduates“ liefern möchte. Im Vorwort vergleicht er sein Buch explizit mit G.C. Lichtenbergs Ausführliche[r] Erklärung der Hogarth’schen Kupferstiche und stellt eine Analogie zwischen den Klein’schen Figuren als seiner primären Motivation und den Stichen Hogarths her, welche Lichtenberg inspiriert hätten. Etwa zur selben Zeit finden sich Reminiszenzen (Abb. 8) der Klein’schen Figuren, insbesondere der Modulfigur, auch in einem Werk eines Mitglieds der Gruppe Bourbaki,43 welches nach Aussage eines Rezensenten der zweiten Auflage dann auch wieder mehrerer Generationen von Mathematikern das Erlernen geometrischer Ideen in der Gruppentheorie ermöglicht habe.44 Den vorläufigen (?) Höhepunkt dieser Renaissance der Klein’schen Figuren (welche wohl mit dem mehr oder weniger stillschweigenden „Abschied“ des Primats der modernen Strukturmathematik und den Zielen Bourbakis einhergeht) bildet bisher das Buch Indra’s Pearls von 2002, für das David ­Mumford, 41 Zur Entstehung insbesondere dieser Bilder von Escher vgl. Douglas Dunham: Hyperbolic Art and the Poster Pattern, 2003, http://www.mathaware.org/mam/03/essay1.html (Stand: 07/2009). 42 Wilhelm Magnus: Noneuclidean Tesselations and Their Groups, New York/London 1974, S. ix. 43 Jean-Pierre Serre: Trees, Translation of Arbres, Amalgames, SL2, Berlin/Heidelberg/New York 1980. 44 Oleg Belegradek: Rezension Zbl. 1013.20001 zu Jean-Pierre Serre: Trees. Transl. from the French by John Stillwell. Corrected 2nd printing of the 1980 original. In: Zentralblatt für Mathematik 1013, 2003.

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Eberhard H.-A. Gerbracht

­Fields-Medaillen-Preisträger des Jahres 1974, hauptverantwortlich zeichnet.45 Mumford, von dem ein Bonmot unter Fachkollegen behauptet, er habe die klassische algebraische Geometrie derart „durchalgebraisiert“, dass sie jeden geometrischen Aspekt verloren habe, präsentiert mit Indra’s Pearls eine solche Abkehr vom modernen, damit auch dem von ihm bisher gepflegten Stil, dass das Buch von vielen Rezensenten als „accessible“46 oder sogar als „allgemeiner Abb. 9: Titelblatt von „Indra’s Pearls“. verständlich“47 eingeschätzt wird, obwohl die Mathematik durchaus anspruchsvoll ist. Tatsächlich „explodiert“ das Buch geradezu in einer farbigen Bildfülle (Abb. 9), nimmt häufig direkten bildlichen Bezug auf die Klein’schen Figuren und „erzählt“ Mathematik ohne auf den in der modernen Mathematik üblichen Dreischritt Definition – Satz – Beweis Rücksicht zu nehmen – womit auch diesbezüglich ein Anschluss an Klein geschieht. Indra’s Pearls knüpft direkt auch an die algorithmischen Aspekte an, die in den Klein’schen Figuren angelegt sind, und stellt einen Zusammenhang zu den inzwischen populären Fraktalen her. Der massive Einsatz von Computern (nicht nur) zur Bilderzeugung und der damit in Wechselbeziehung stehende wissenschaftliche Paradigmenwechsel ermöglicht es, dass den Klein’schen Figuren so zu Beginn des 21. Jahrhundert wieder eine funktionale Rolle innerhalb der Mathematik zukommt. Aber nicht nur den Bildern wird ein Weg ins neue Jahrtausend gebahnt. Wieder einmal werden sie begleitet von einer mythologisch-religiösen Rede, welche sich bereits im – für ein Mathematikbuch ungewöhnlichen – Titel und im Untertitel (The Vision of Felix Klein) äußert und im Klappentext fortgeführt wird. Dabei wird dieses Mal zugleich eine Deutung der Geschichte der Klein’schen Figuren mit hörbar, welche äußerst kritisch zu hinterfragen bleibt: „Felix Klein, one of the great nineteenth-century geometers, discovered in mathematics an idea prefigured in Buddhist mythology: the heaven of Indra contained 45 David Mumford, Caroline Series und David Fright: Indra’s Pearls – The Vision of Felix Klein, Cambridge 2002. 46 Vgl. die von amazon.de zitierten „Pressestimmen“ unter http://www.amazon.de/IndrasPearls-Vision-Felix- Klein/dp/0521352533 (Stand: 07/2009). 47 http://de.wikipedia.org/wiki/David_Bryant_Mumford (Stand: 07/2009).

Wie die Gottheit erschaubar wird – die Figuren Felix Kleins

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a net of pearls, each of which was reflected in its neighbour, so that the whole Universe was mirrored in each pearl. […] For a century these images [gemeint sind die Klein’schen Figuren], which were practically impossible to draw by hand, barely existed outside the imagination of mathematicians. However in the 1980s the authors embarked on the first computer exploration of Klein‘s vision, and in so doing found further extraordinary images of their own.“48 Unbestritten – und mit etwas weniger Pathos formuliert – gilt für den Weg der Figuren Felix Kleins durch die mathematische Moderne am Ende jedoch dasselbe Fazit wie für den von Enten geplagten Frosch in der Geschichte eines bekannten Zeitgenossen Kleins: „Drei Wochen war der Frosch so krank! Jetzt raucht er wieder. Gott sei Dank!“49 48 Mumford u.a. (s. Anm. 45), Rückseite. 49 Wilhelm Busch: Die beiden Enten und der Frosch. In: Münchener Bilderbogen 325, München 1862.

Clemens Bruschek, Dominique Wagner

Ansichtssache Algebra Mathematik ist eine exakte Wissenschaft. Jede wahre mathematische Aussage muss aus dem bestehenden Axiomensystem (und bereits bewiesenen wahren Aussagen) gefolgert werden. Geometrische Anschauung ist hierbei kein gültiges Beweismittel, wohl aber ist sie nach wie vor eine – wenn nicht sogar die – Quelle von mathematischen (Beweis-)Ideen. Dies soll anhand einiger Grundkonzepte der sogenannten Algebraischen Geometrie, insbesondere der Auflösung von Singularitäten, vermittelt werden. Die folgenden Probleme aus dem technischen Alltag dienen der Veranschaulichung der Materie und geben einen Einblick in die Anwendungsgebiete. Roboter sind heutzutage wesentliche Bestandteile der automatisierten Produktion. Als Beispiel dient ein einfacher, auf einer Plattform fixierter Roboter, bestehend aus drei aneinandergereihten Gliedern und einer Greifzange, wobei die Glieder durch Drehgelenke miteinander verbunden sind (siehe Abb. 1). Ist ein Punkt P in seiner Umgebung vorgegeben – dieser entspricht etwa der Position einer Last, die vom Roboter bewegt werden soll – so stellt sich die Frage, ob der Roboter den Punkt P erreichen kann. Wenn dies der Fall ist, müssen die Gelenke des Roboters gedreht werden, damit er den Punkt erreicht.1 Dieses zunächst geometrische Problem lässt sich in Form von Gleichungen formulieren, die zunächst rein algebraisch formuliert sind; indem sie aus Variablen (wie x, y oder z) mithilfe der Grundrechenarten Addition und Multiplikation gebildet werden, ohne dass etwa Cosinus oder Logarithmus auftreten. Einfache Beispiele für derartige algebraische Gleichungen sind die Kreisgleichung (1) x2 + y2 = 1 oder die Gleichung (2) y2 - x3 = 0 der Neil’schen Parabel (siehe Abb. 2). Jenes Teilgebiet der reinen Mathematik, das sich mit den Zusammenhängen zwischen Geometrie und Algebra beschäftigt, ist die Algebraische Geometrie. Diese beschäftigt sich mit Nullstellengebilden von algebraischen Gleichungen, sogenannten algebraischen Varietäten. Die durch Gleichung (1) definierte Varietät besteht aus all jenen Punkten der Ebene, deren x- und y-Koordinaten Gleichung (1) erfüllen. Es handelt sich um einen Kreis mit Radius 1 (siehe Abb. 2). Viele Eigenschaften des Kreises lassen sich unmittelbar aus seinem

1 David Cox, John Little, Donal O’Shea: Ideals, Varieties and Algorithms, New York 1997, S. 261–286.

Ansichtssache Algebra

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geometrischen Bild ablesen: Er ist glatt (ohne Ecken) 1: Roboter, bestehend aus drei aneinund völlig symmetrisch. Ziel der algebraischen Geo- Abb. andergereihten Gliedern. metrie ist es, derartige geometrische Eigenschaften in die Algebra zu übersetzen. Dies hat im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen sollen Begriffe wie „Ecke“ oder „symmetrisch“ in voller mathematischer Strenge definiert werden, zum anderen sollen ähnliche geometrische Aussagen im Falle von komplizierteren Varietäten, bei denen geometrischen Methoden versagen, rein mit Mitteln der Algebra treffen. Symmetrie ist eine der auffälligsten Eigenschaften der Varietäten (1) und (2). Beide Objekte gehen etwa nach Spiegelung an der x-Achse wieder in sich selbst über. Algebraisch Abb. 2: Kreis und Neil’sche Parabel. entspricht das dem Austausch von y durch –y, und tatsächlich sind auch die definierenden Gleichungen nach diesem Prozess unverändert, da die Variable x in einer geraden Potenz auftritt. Der Kreis ist symmetrisch bezüglich jeder weiteren Spiegelung an einer Geraden durch den Ursprung, so dass er auch nach einer Drehung des Koordinatensystems um beliebige Grad in sich übergeht (das gilt nicht für die Neil’sche Parabel, vgl. Abb. 3). Dieses zunächst rein geometrische Phänomen Abb. 3: Beispiele für Symmetrien des ist der Ursprung eines weittragenden mathematischen Kreises und der Neil’schen Parabel. Konzeptes, das sich im Laufe der Mathematikgeschichte als äußerst fruchtbar erwiesen hat. Ausgehend von der geometrischen Situation ist leicht zu erkennen, wie ein allgemeiner Begriff der „Symmetrie“ in einer mathematische Struktur eingeführt werden kann: die Nullstellengebilde von zuvor sind Objekte einer mathematische Struktur; bezeichnet mit X. Das geometrische „Spiegeln“ bzw. „Drehen“ ist, abstrakt formuliert, eine lineare Transformation (Symmetrie-Abbildung) f: X p X, die X wieder in sich überführt. Wie in den obigen Beispielen hat die Menge der (linearen) Symmetrie-Abbildungen die Struktur einer Gruppe G, das heißt insbesondere, dass auch die entsprechenden Umkehrabbildungen symmetrieerhaltend sind. Dies definiert eine Gruppenoperation GxX p X. Die so erhaltene Gruppe lässt sich dann als Maß für die Symmetrie verwenden.

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Clemens Bruschek, Dominique Wagner

Ein ähnliches geometrisches Konzept zur Symmetrie ist jenes der Dualität. Geometrischer Ursprung dieser Idee waren wohl die sogenannten platonischen Körper (siehe Abb. 6 für den Hexaeder mit eingeschriebenem Oktaeder). Hierbei handelt es sich um jene konvexen Polyeder, deren Seitenflächen zuein­ ander kongruente regelmäßige Vielecke sind, wobei in jeder Ecke stets gleich vielen von diesen zusammentreffen. Es gibt fünf regelmäßige Vielecke und dementsprechend fünf platonische Körper. Die entsprechenden dualen Körper konstruiert man durch Verbinden der Mittelpunkte benachbarter Seitenflächen. Nimmt man diese Verbindungslinien als Kanten, so erhält man wieder einen platonischen Körper (mit dem gleichen Mittelpunkt). Der Würfel ist ein platonischer Körper, begrenzt von 6 kongruenten Quadraten. Sein dualer Körper ist der Oktaeder. Wie die Bezeichnung „dual“ bereits andeutet, ergibt sich nach erneuter Anwendung dieser Konstruktion eine verkleinerte Version des ursprünglichen Körpers. Man beachte, dass die Anzahl der Ecken, Kanten, Flächen eines platonischen Körpers gleich der Anzahl der Flächen, Kanten, Ecken seines Dualkörpers ist. In nochmaliger Abstraktion dieser geometrischen Situation ergäbe sich die Definition, dass ein mathematisches Objekt X gegeben ist (etwa ein platonischer Körper), von dem aus durch eine Konstruktion/Abbildung auf ein anderes, nicht notwendigerweise gleichartiges, Objekt Y übergegangen werden kann (in unserem Beispiel ist das der duale Körper, der von gleicher Art ist). Dualität stellt sich demzufolge dann ein, wenn die analoge Konstruktion angewandt auf Y wieder nach X führt. Dies gilt insbesondere, wenn konstruktionsbedingt gewisse mathematische Kenngrößen von X jene von Y und umgekehrt bestimmen (wie etwa die Anzahl der Ecken im Falle der dualen Körper). Im einführenden Problem wurde die Frage aufgeworfen, ob ein Roboter eine Last in einem vorgegebenen Punkt P erreichen kann oder nicht. Eine Antwort darauf lässt sich mithilfe der Algebraischen Geometrie geben; die Winkel zwischen den einzelnen Gliedern des Roboters müssen konstruktionsbedingt bestimmte algebraische Gleichungen erfüllen. Existiert eine Lösung für diese Gleichungen, so lässt sich der Roboter tatsächlich zur Last bewegen. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie der Roboter gesteuert werden muss, also zu welchem Zeitpunkt der Roboter welches Gelenk wie drehen muss, um die Last zu erreichen. Das ist jedoch für das Programmieren eines Steuerprogramms notwendig. Diese Frage kann mathematisch als Parametrisierungsproblem formuliert

Ansichtssache Algebra

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werden. Im Beispiel der durch (2) definierten Varietät bedeutet dies, ­möglichst einfache (algebraische) Funktionen x(t) und y(t) zu finden, die von einem Parameter t abhängen, sodass für jedes fixe t die Werte x(t) und y(t) Gleichung (2) erfüllen. Im Allgemeinen sind Parametrisierungen nur schwer oder mit großem rechnerischem Aufwand zu finden. Meist steckt hinter Parametrisierungen jedoch eine naheliegende geometrische Ideen. Für das Beispiel der Neil’schen Parabel können derartige parametrisierende Funktionen folgendermaßen ermittelt wer- Abb. 4: Illustration zur Auffindung einer den: Jede Gerade durch den Ursprung schneidet die Parametrisierung der Neil’schen Parabel. Neil’sche Parabel zweimal: einerseits im Ursprung 0 und andererseits in einem weiteren Punkt (siehe Abb. 4). Damit ist eine geometrische Konstruktion erreicht, die jeder Geraden durch den Ursprung genau einen Punkt auf der Neil’schen Parabel zuordnet. Jede Gerade durch 0 ist aber eindeutig durch den Winkel, den sie mit der x-Achse einschließt, bestimmt. Wird diese geometrische Konstruktion in die Algebra übersetzt, werden die gewünschten Funktionen relativ schnell erfüllt: Geraden wie die oben gekennzeichneten sind durch Gleichungen der Form y = tx mit einer reellen Zahl t eindeutig beschrieben; je größer der Wert t ist, desto steiler ist die Gerade (t ist gerade der Tangens des Winkels, den Gerade und x-Achse miteinander einschließen). Der Schnittpunkt zwischen dieser Geraden und der Neil’schen Parabel bestimmt sich durch Einsetzen von „tx“ für y in Gleichung (2) mit dem Ergebnis x2 (t2 – x) = 0. Damit diese Gleichung erfüllt ist, muss entweder x = 0 oder x = t 2 gelten. Erstere Beziehung ist aber mit t = 0 in der zweiten enthalten. Ist nun x = t2, so ist leicht nachzuprüfen, dass y = t3 den Anforderungen genügt, d.h., für jede reelle Zahl ist y(t) 2 – x(t) 3 = (t3) 2 – (t2) 3 = 0. Durch Verändern des Wertes t entstehen die Koordinaten (x(t), y(t)) =(t2, t3) aller Punkte auf der Neil’schen Parabel.

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Bei einem Vergleich des Kreises mit der Neil’schen Parabel fällt Tafel 1: Geometrische Idee der Auflösung der Neil’schen Parabel. als größter geometrischer Unterschied sofort die Spitze letzterer Varietät ins Auge. Punkte, in denen eine Varietät nicht glatt, sondern spitz, scharf oder kantig aussieht, heißen Singularitäten. Sie bereiten Mathematikern seit jeher Schwierigkeiten, aber die Untersuchungen über diese Problem haben sich als wahrer Quell großartiger Theorien erwiesen. Beispiele für (algebraische) Singularitäten sind der Ursprung auf der Neil’schen Parabel (siehe Abb. 2), die Spitze eines Kegels (siehe Tafel 2) 2 oder die scharfe Kante von Calyx (siehe Tafel 2) 3. In den Anwendungen erzeugen Singularitäten meist negative Effekte auf das Gesamtsystem. Bewegt sich etwa ein Roboterarm, dessen Menge aller möglichen Positionen im Raum üblicherweise eine Varietät bildet, in eine Singularität, so kann er brechen oder nicht mehr weiter steuerbar sein. Durch theoretische Überlegungen sollen derartige Probleme vermieden werden. Dies geschieht unter anderem durch die sogenannte Auflösung von Singularitäten. Dabei wird versucht, eine gegebene singuläre Varietät als „Schatten“ einer anderen, nicht-singulären Varietät darzustellen (siehe unten). Die Schattenbildung soll hierbei die wichtigsten Eigenschaften der Nullstellenmenge erhalten. Das bislang ungelöste Problem der Auflösung ist mehr als hundert Jahre alt. Für Kurven (wie etwa der Neil’schen Parabel) ist allerdings eine Lösung schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Wichtige Fortschritte für eine Auflösung höherdimensionaler Varietäten erbrachten Zariski und Abhyankar in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Das bisher stärkste Resultat – nämlich die Auflösung von Varietäten beliebiger Dimension über einem Körper der Charakteristik 0 (siehe unten) – lieferte Hironaka 1964. Seitdem beschäftigt sich eine Vielzahl von Mathematikern mit Verbesserungen des Beweises und seiner Verallgemeinerung auf den Fall positiver Charakteristik, unter anderem Bierstone-Milman, Villamayor, Encinas, Hauser oder Wlodarcyk. Am Beispiel der Neil’schen Parabel C wollen wir uns an die Auflösung herantasten. Ziel ist es, eine glatte Kurve C’ und eine (eigentliche und birationale) Abbildung f : C’ p C zu finden, die außerhalb der Spitze von C und deren Urbilder unter f bijektiv ist. Der entscheidende Gedanke ist, sich die Neil’sche Parabel in

2 Bereitgestellt von Alexandra M. Fritz. 3 http://www.freigeist.cc

Ansichtssache Algebra

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der xy-Ebene eines dreidimensionalen (zunächst affinen) Raumes A3 liegend vorzustellen (man könnte sich die singuläre Kurve etwa als ein Stück liegender, geknickter Schnur vorstellen). Die kanonische Projektion auf die xy-Ebene (durch Weglassen der z-Koordinate) ist eine algebraische Abbildung. Eine Möglichkeit läge darin, C als Bild einer glatten Kurve C’ unter dieser Projektion realisieren. Tatsächlich ist das der Fall; durch vertikales Auseinanderziehen der Schnur wird der Knick entfernt (siehe Tafel  1) 4. Das Problem, in natürlicher Weise jedem Punkt der ebenen Kurve einen z-Wert zuzuordnen, kann als eine universelle Möglichkeit dadurch gelöst werden, dass jedem glatten Punkt P die Steigung der Geraden durch P und den Ursprung O als z-Wert zugewiesen wird. Hieraus entsteht eine Kurve C’’ im A3, wobei allerdings ein Punkt fehlt. Bis jetzt wurde noch kein z-Wert für den singulären Punkt festgelegt! Diesen erhält man durch den topologischen Abschluss von C’’. Durch Nachrechnen überprüft man leicht, dass die so erhaltene Kurve C’ (die kleinste abgeschlossene algebraische Kurve, die C’ enthält) die gewünschten Eigenschaften hat, insbesondere überall glatt ist. Man nennt sie die Auflösung von C. Ein dreidimensionales und aufwendigeres Beispiel ist das folgende: Ausgangspunkt ist die Varietät Calyx mit der Gleichung (3) x2 + y2z3 – z4 = 0. Es treten hier also drei Variablen x, y und z auf, die den KoorTafel 2: Schrittweise Auflödinaten im dreidimensionalen Raum entsprechen. Das erste Bild sung von Calyx. in Tafel 2 zeigt Calyx (über den reellen Zahlen). Auf den darauf folgenden Bildern sind die Zwischenetappen in der Auflösung von Calyx, die schrittweise konstruiert wird und in jedem Schritt die Singularität „verbessert“, zu sehen. Die Bilder in Tafel 2 illustrieren dies sehr schön: Die singulären Punkte von Calyx liegen – wie am Bild zu erkennen ist – auf einer Geraden. Der Ursprung davon scheint der am ehesten singuläre Punkt zu sein, stoßen hier doch zwei Komponenten der Varietät zusammen. Der erste Schritt im Auflösungsprozess verbessert die Situation zu Calypso (2. Bild in Tafel 2). Die einzige verbleibende Singularität ist der Ursprung. Nach einem weiteren

4 Bereitgestellt von Herwig Hauser.

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Abb. 5: Schnittkurven von Calyx bzw. des Kegels mit der yz-Ebene.

Clemens Bruschek, Dominique Wagner

Abb. 6: Hexaeder und Oktaeder sind duale platonische Körper.

Schritt im Algorithmus erhält man den bekannten Doppelkegel. Wiederum ist der Ursprung singulär – was hat sich also verbessert? Das sieht man etwa durch Schneiden der beiden Varietäten mit der yz-Ebene. In beiden Fällen erhält man zwei sich schneidende Kurven (siehe Abb. 5). Im Fall des Kegels schneiden sich die beiden Kurven unter einem Winkel von 90 Grad, im Fall von Calypso beträgt der Schnittwinkel 0 Grad, da sich die Kurven tangential berühren. Dies liefert eine geometrische Erklärung, wieso der Ursprung in Calypso „singulärer“ als jener des Kegels ist. Die Auflösung endet schließlich mit einem (glatten) Zylinder. In diesem Beispiel ist es nicht mehr ganz so leicht, die „Schattenbildung“ zu veranschaulichen. Im letzten Schritt kann sie folgendermaßen visualisiert werden: Der singuläre Kegel ist der „Schatten“ des glatten Zylinders, wenn man sich vorstellt, dass der Zylinder in der Mitte wie mit einem Lasso „zusammengezogen“ wird. Das größte noch offene Problem in der Auflösung von Singularitäten ist ein Beweis der Auflösung über Körpern mit positiver Charakteristik, die etwa in der Verschlüsselung von Daten eine große Rolle spielen. Hier gibt es nur sehr wenige Teilresultate, und das Problem ist für allgemeine algebraische Varietäten bis heute ungelöst. Zur Erinnerung: In einem Körper positiver Charakteristik gibt es eine fixe Primzahl p, sodass für beliebiges x im Körper die Relation px  =  0 gilt. Gibt es keine Primzahl mit obiger Eigenschaft, dann wird der Körper mit der „Charakteristik 0“ bezeichnet. Algebraische Geometrie über Körpern positiver Charakteristik ist oftmals – wie die Auflösung gut zeigt – bedeutend schwieriger.

Eberhard Knobloch

Die Rolle der Bilder in der Mathematik

1661 ließ der Jesuit Gaspar Schott in Würzburg seinen Cursus mathematicus erscheinen, ein Mathematisches Lehrbuch oder vollkommene Enzyklopädie aller mathematischen Disziplinen, in 28 Bücher eingeteilt und in einer solchen Reihenfolge angeordnet, dass jeder, selbst wer nur mit mittelmäßiger Begabung ausgestattet ist, die gesamte Mathematik von den ersten Grundlagen an selbstständig lernen kann. Ein lange ersehntes, von vielen versprochenes, von nicht wenigen versuchtes, von niemandem vollkommen ausgeführtes Werk.1 Das Titelkupfer dieses Werkes ist reich an politischer, mathematischer und naturwissenschaftlicher Symbolik: Eine mit Zirkel und Lineal versehene Frauengestalt überreicht dem hoch oben thronenden Kaiser Leopold I. den Cursus mathematicus. Unten ziehen die leibhaftig gewordenen Sternbilder Bär und Löwe die Erd- und Himmelskugel. Eine Rennbahn ist angedeutet, als Anspielung auf die ursprüngliche Bedeutung „Lauf“ des Begriffes „Cursus“. Über den Achsen des Gefährts ist ein Gestell montiert, das eine Armillarsphäre trägt. Ein Teil der quadratischen Fußbodenpflasterung ist überrollt und gibt den Blick auf zwölf Platten mit Zeichnungen frei, durch welche die 22 mathematischen Disziplinen wie Ballistik, Festungswesen, Theoretische Astronomie, Statik, Katoptrik, Geometrie veranschaulicht werden (Abb. 1). Das Werk ist üppig mit 533 Abbildungen ausgestattet. Kein Wunder: Erhob doch der Autor Schott den Anspruch, auch mittelmäßig begabten Lesern im Selbststudium zugänglich zu sein. Bilder nahmen in seinem Lehrbuch eine bedeutende Rolle ein. Der Erfolg gab ihm Recht: Das Werk erschien 1674 in zweiter, 1677 in dritter Auflage. Gut hundert Jahre später, 1788, veröffentlichte Joseph Louis Lagrange zum ersten Mal sein Lehrbuch zur analytischen Mechanik, das er 1811 in zweiter Auflage herausgab, ein bildloses Werk, wie der Autor ausdrücklich in der Vorbemerkung hervorhob: „Man wird in diesem Werk keine Abbildung [figure] finden. Die Methoden, die ich darin darlege, erfordern weder geometrische oder mechanische Konstruktionen noch Überlegungen, sondern allein algebraische Operationen, die einem regelmäßigen und gleichförmigen Gang unterworfen sind. Diejenigen,

1 Gaspar Schott: Cursus mathematicus, sive absoluta omnium mathematicarum disciplinarum encyclopaedia, in libros XXVIII. digesta, eoque ordine disposita, ut quivis, vel mediocri praeditus ingenio, totam mathesin a primis fundamentis proprio Marte addiscere possit. Opus desideratum diu, promissum a multis, a non paucis tentatum, a nullo numeris omnibus absolutum, Würzburg 1661.

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Eberhard Knobloch

die die Analysis lieben, werden gern sehen, wie die Mechanik davon ein neuer Zweig wird, und mir dafür Dank wissen, davon auf diese Weise das Gebiet erweitert zu haben.“2 Bildhaftigkeit, Anschaulichkeit hatten bei Lagrange zugunsten einer Algebraisierung ausgedient. Strenge und Anschaulichkeit schienen Gegensätze zu sein. Die folgenden Betrachtungen werden vier charakteristische Verwendungsweisen von Bildern in der Mathematik aufgezeigt. Abb. 1: G. Schott: Titelkupfer vom „Cursus mathematicus“, 1661.

1. Bilder zur Rechtfertigung ­arithmetisch-algebraischer Operationen

Der französische Wegbereiter der symbolischen Algebra, François Viète, veröffentlichte 1591 seine Einführung in die analytische Kunst. In Kapitel 3 formuliert er das „erste und allgemein gültige Gesetz der Gleichheiten oder Proportionen“, das „Homogenitätsgesetz“: Homogenes wird mit Homogenem verglichen. Nur gleich dimensionierte Größen (magnitudines) können addiert oder subtrahiert werden.3 Multiplikationen führen zum Beispiel zu heterogenen, verschieden dimensionierten Größen. Um dieses Gesetz aufrecht zu erhalten, war er gezwungen, dimensionierte, skalare Größen in seinen algebraischen Gleichungen mitzuführen, eine Praxis, die noch über achtzig Jahre später Gottfried Wilhelm Leibniz lange Zeit beibehalten hat. Es war René Descartes’ Verdienst, durch Bilder gezeigt zu haben, dass und wie bei Wahl einer Längeneinheit Multiplikation, Division, Radizierung wieder zu einer linearen Größe führen, die Dimension weder erhöhen noch erniedrigen.4 „Sei zum Beispiel AB die Einheit, und man soll BD mit BC multiplizieren. Ich verbinde die Punkte A und C, ziehe die Parallele DE zu AC. BE wird das





2 Joseph Louis Lagrange: Mécanique analytique, Nouvelle édition, revue et augmentée par l’auteur, Tome premier, Paris 1811, Avertissement, S. I. Alle Übersetzungen aus dem Französischen und dem Lateinischen: Eberhard Knobloch. 3 François Viète: In artem analyticen isagoge,Tours 1591 = François Viète: Opera mathematica, in unum volumen congesta, ac recognita, opera atque studio Francisci a Schooten, Leiden 1646, S. 1–12, hier S. 2. (Nachdruck Hildesheim/New York 1970). 4 René Descartes: Geometria una cum notis Florimondi de Beaune, opera atque studio Francisci a Schooten, 1. Teil, Amsterdam 1659, S. 2.

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Abb. 2: R. Descartes: Figur zur Multiplikation und Division von Größen, 1659.

Abb. 3: R. Descartes: Figur zum Wurzelziehen, 1659.

Produkt dieser Multiplikation sein. Oder wenn BE durch BD zu dividieren ist, verbinde man die Punkte E und D. Ich ziehe AC, die Parallele zu DE, und BC wird der Quotient dieser Division sein.“ (Abb. 2) Die Strahlensätze liefern in der Tat die Begründung für das Gesagte. Bei der Radizierung ist der Höhensatz heranzuziehen. „Oder wenn schließlich aus GH die Quadratwurzel zu ziehen ist, füge ich ihm in gerader Richtung die gerade Linie FG an, die die Einheit ist. Ich teile FH in der Mitte im Punkt K und beschreibe um den Mittelpunkt K mit dem Abstand FK oder KH einen Kreis. Danach wird GI, die vom Punkt G aus senkrecht auf FH bis I gezogen wird, die gesuchte Wurzel sein.“ (Abb. 3) 2. Bilder zur Modellierung von Wirklichkeit

Der junge Leonhard Euler ließ sich 1735 in St. Petersburg von den Leibniz’schen, im Druck damals zugänglichen Andeutungen zu einer geometria situs, einer „Geometrie der Lage“, zur Lösung des sogenannten Königsberger Brückenproblems anregen. Er sah seine Lösungsmethode als einen Beitrag zur Geometrie der Lage an. Heute zählt das Problem zu den Fragestellungen der Graphentheorie: 5 Der Pregel in Königsberg bildete eine Insel A, den Kneiphof, indem er sich auf östlicher Seite in zwei Arme teilte, die zwischen sich das Gebiet D einschlossen. War es möglich, genau einmal jede Brücke zu überqueren und wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren? (Abb. 4) Während die einen diese Möglichkeit bestritten, bejahten andere diese. Euler leitete eine notwendige Bedingung für eine beliebige Anzahl von Gebieten und Brücken ab: „Gibt es kein Gebiet, zu dem ungerade viele Brücken führen, dann gibt es einen solchen Weg, unabhängig davon, in welchem Gebiet der Weg begonnen wird.“ Die moderne Graphentheorie modelliert die Situation in der Form, dass Brücken zu Kanten, Gebiete zu Knotenpunkten werden. Aus Eulers Satz wird die notwendige und hinreichende Bedingung:

5 Leonhard Euler: Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis, Commentarii academiae scientiarum Petropolitanae 8 (1736), 1741, S. 128–140 = Leonhard Euler: Opera omnia, vol. I,7, ed. Louis Gustave de Pasquier, Leipzig/Berlin 1923, S. 1–10.

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Eberhard Knobloch

Abb. 4: L. Euler: Der Pregel in Königsberg mit sieben Brücken, 1741.

Abb. 5: G. Ringel: Graph zur Königsberger Brückensituation, 1959.

„In einem endlichen Graphen G gibt es genau dann eine geschlossene Kantenfolge, die jede Kante von G genau einmal enthält (eine Eulersche Linie), wenn G zusammenhängend ist und jeder Knotenpunkt einen geraden Grad hat.“ Abbildung 5 zeigt unmittelbar, dass jeder der vier Knotenpunkte einen ungeraden Grad hat, die Aufgabe also nicht lösbar ist. Bezeichnenderweise sagt der Graphentheoretiker Gerhard Ringel [im Jahre 1959] zu Eulers Beweisverfahren: „So oft wie möglich sind die Beweise durch Abbildungen illustriert. Manchmal sind sogar zeichnerische Vorstellungen bzw. die Abbildungen selbst an Stelle eines streng formalen, aber recht langweiligen Beweises zur Beweismitteilung benutzt. Es handelt sich hierbei jedoch nur um einfache, klar ersichtliche Aussagen, so dass nach meiner Meinung die wissenschaftliche Strenge als gewahrt betrachtet werden kann.“ 6 Bilder können also im allgemeinen Beweise nicht ersetzen, aber unterstützen. 3. Die Visualisierung theoretischer Zusammenhänge: Die heuristische Kraft der Bilder

Auf der Suche nach der Primzahlverteilung geht Gottfried Wilhelm Leibniz im Januar 1676 folgendermaßen vor: Er betrachtet die Folge der natürlichen Zahlen ab 2: 2, 3, 4, 5 usf., die Folge der Vielfachen von 2 ab 4: 4, 6, 8, 10 usf., die Folge der Vielfachen von 3 ab 6: 6, 9, 12, 15 usf., die Folge der Vielfachen von 4 ab 8: 8, 12, 16, 20 usf., die Folge der Vielfachen von 5 ab 10: 10, 15, 20, 25 usf. Ab 18 und den folgenden geraden Zahlen wählt er nicht die Vielfachen von 9, sondern wieder von 6, verlässt also die bisherige Betrachtungsweise, offenbar eher aus Platzmangel als vorsätzlich. Die jeweils folgenden Glieder einer Folge trägt er eine Einheit tiefer ein, so dass schräge Verbindungslinien entstehen (Abb. 6). Enthusiastisch kommentiert Leibniz die entstehende Figur, ein Gitternetz mit waagerechten, senkrechten und schrägen Linien:

6 Gerhard Ringel: Färbungsprobleme auf Flächen und Graphen, Berlin 1959, S. VI.

Die Rolle der Bilder in der Mathematik

Abb. 6: G. W. Leibniz: Bild zur Ermittlung der Primzahlverteilung, Januar 1676.

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Abb. 7: G. W. Leibniz: Bild zur Ermittlung der Primzahlverteilung, April 1676.

„Eine bemerkenswerte Figur, in der die Geheimnisse der Primzahlen und der Vielfachen verborgen sind. Bemerkenswert ist, dass die Punkte schräg auf gerade Linien fallen und dass sich der Winkel einer Geraden mit der Waagerechten beständig in einer arithmetischen Folge der Sinus ändert. Es bleibt nur übrig, in den Senkrechten die Eigenschaften der Linien zu entdecken.“ 7 Der Satz über die Sinus der Neigungswinkel ist falsch. Aber entscheidend ist die Tatsache, dass die Figur für Leibniz heuristische Kraft besitzt. Die Visualisierung macht verborgene Zusammenhänge zwischen den ganzen Zahslen sichtbar. Leibniz griff diesen Gedanken im Frühjahr 1676 noch mehrfach auf. Er wiederholte die Figur im Februar 1676 in vereinfachter Form8 und entwarf Anfang April 1676 eine andere Figur. In dieser zieht er nicht schräge Verbindungslinien, sondern waagerechte und senkrechte, die bestimmte, übereinander liegende Punkte miteinander verbinden (Abb. 7). Dazu bemerkt er: „Ich habe einiges auf der Rückseite hinzugefügt, wo ich glaube, endlich zu einem Prinzip gelangt zu sein, durch das die Natur der Primzahlen und allgemein der Vielfachen erforscht werden könnte. Als ich in der anzuordnenden Zahlenreihe und bei den darunter gesetzten Punkten die 0 oder Null vergessen hatte, die als einzige Zahl alle Punkte unter sich hat bzw. durch eine beliebige andere genau teilbar ist, sah ich nicht etwas Wunderbares, das durch diesen alleinigen Zusatz sofort beim ersten Anblick hervorleuchtete. Nämlich: Man sieht, dass die Zwischenräume auf beiden Seiten der vollständigen Senkrechten auf den gleichen punktierten Linien ähnlich sind und dass stets auf dieselbe Weise der Satz wiederkehrt, der – zu jenem bereits oben vermerkten über den Sinus des Winkels der punktierten schrägen Linien, der beständig um Eins wächst, hinzugefügt – wie ich glaube, bewundernswerte und

7 Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von den Akademie der Wissenschaften der DDR, 7. Reihe Mathematische Schriften, 1. Band, Berlin 1990, S. 580. 8 Leibniz (s. Anm. 7), S. 596.

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allgemeine Sätze über die Natur der Primzahlen oder der nur durch Eins teilbaren und der Zweierprimzahlen oder der nur durch Zwei teilbaren liefern wird. Und diese so schönen Sätze hätte andernfalls niemand leicht beobachtet. Ich glaube, dass auch in den unterbrochenen Senkrechten eine bestimmte bemerkenswerte Ordnung der Abstände gewahrt wird. Dies liegt bereits zutage, insbesondere wenn man Punkte anfangs bei allen Zahlen setzt, um anzuzeigen, dass alle durch Eins teilbar sind. Bemerkenswert ist auch, dass der Winkel der ersten Schrägen derjenige ist, der zur Diagonale im Quadrat gehört. Hier wird durch ein anschauliches Beispiel klar, dass die Kunst, hinsichtlich von Verstandesdingen (Intelligibilia) berühmte Sätze zu finden, darin besteht, dass wir, da sie selbst nicht gemalt oder gehört werden können, deren bildliche Darstellungen (Repraesentationes) malen oder hören, selbst wenn sie nicht ähnlich sind, und in diesen einige wahrnehmbare Schönheiten beobachten. Diese [bildlichen Darstellungen] werden uns den Satz oder die Eigenschaft des Verstandesdinges verstehen lassen, zum Beispiel gewiss diese, weil ihre Natur so beschaffen ist, dass sie – durch diese Charaktere ausgedrückt – sozusagen diese Erscheinungen (Apparitiones) hervorbringt. Ich glaube, hier endlich den Schlüssel zu den meisten bisher unbekannten Geheimnissen der Zahlen gefunden zu haben.“ 9 Wenig später stellte Leibniz mit Blick auf diese Aufzeichnung fest: „Durch anschauliche Beispiele lerne ich täglich, dass die gesamte Kunst, in gleicher Weise Probleme zu lösen und Sätze zu finden, dann wenn die Sache selbst der Vorstellung (Imaginatio) nicht unterliegt oder allzu groß (vastus) ist, darauf hinausläuft, dass sie durch Charaktere oder Abkürzungen (Compendia) der Vorstellung unterworfen wird. Und was nicht gemalt werden kann, wie die Verstandesdinge (Intelligibilia), das wird dennoch auf eine Art hieroglyphische, aber zugleich auch philosophische Weise gemalt. Dies geschieht, wenn wir nicht wie die Maler, Dichter, ägyptischen oder chinesischen Mysterienpriester bestimmten Ähnlichkeiten nachjagen, sondern der Idee der Sache selbst folgen. Deshalb habe ich an der Stelle, wo ich mit Hilfe von Punkten, die einige wunderbare geomantische Figuren bewirkten und unter die der Reihe nach angeordneten Zahlen geschrieben waren, das Schloss zu den Geheimnissen der Zahlen und Primzahlen hinsichtlich ihrer Natur geöffnet (siehe 12. Februar 1676) folgendes hinzu geschrieben:

9 Leibniz (s. Anm. 7), S. 597.

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‚Hier wird durch ein anschauliches Beispiel klar, dass die Kunst, hinsichtlich der Verstandesdinge berühmte Sätze zu finden, darin besteht, dass wir, da sie selbst nicht gemalt oder gehört werden können, deren bildliche Darstellungen malen oder hören, selbst wenn sie nicht ähnlich sind, und in diesen einige wahrnehmbare Schönheiten beobachten. Diese werden in uns den Satz oder die Eigenschaft des Verstandesdinges verstehen lasen, zum Beispiel gewiss diese, weil ihre Natur so beschaffen ist, dass sie – durch diese Charaktere ausgedrückt – sozusagen diese Erscheinungen hervorbringt.‘ So, wenn wir sagen, diese sei die Gestalt eines gewissen Menschen, gesetzt dass er mit einer bestimmten Haltung versehen gefällt, oder diese die Natur eines gewissen Bildes, gesetzt dass sie durch ein bestimmtes Glas in eine regelmäßigere gesammelt wird. Obwohl nämlich das Glas so außerhalb der Tafel ist wie die Charaktere außerhalb der Dinge, zeigt dennoch beides die Natur des Dinges an, bezogen freilich auf das Instrument, was angewendet wird. Dies ist insbesondere deshalb hinzunehmen, weil wir andernfalls insgesamt keine Erfahrung von den Dingen haben außer die auf uns bezogene und weil wir keine anderen Eigenschaften von ihnen kennen als die uns gemachten Erscheinungen. Wird dies richtig beachtet, werden wir sowohl jene widerlegen, die glaubten, es gebe Wahrheiten ohne Beziehung auf Charaktere, als auch jene, die glaubten, die Wahrheit liege nicht in den Dingen, sondern in den Charakteren, obgleich die Wahrheit in den Dingen liegt, insoweit sie auf Charaktere bezogen werden.“10 Diese Ausführungen von Leibniz zur Erkenntnis leitenden Funktion von Bildern in der Mathematik können in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Bilder visualisieren geistige Strukturen, Intelligibilien, und ermöglichen so einen Erkenntniszuwachs, ein Aufdecken verborgener Strukturen und Zusammenhänge. 4. Bilder als Ordnung stiftende Instanz

Zu den vielfältigen Interessen Alexander von Humboldts gehörte die Geoklimatologie, insbesondere die Wärmeverteilung auf der Erdoberfläche. Sein Ziel war das Auffinden empirischer Gesetze, die er durch mathematische Bilder visualisieren konnte. Das Ermitteln mathematisch formulierter, funktionaler Zusammenhänge und darauf aufbauender Theorien überließ er den Mathematikern. 10 Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, 6. Reihe Philosophische Schriften, 3. Band, Berlin 1980, S. 433f.

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Methodisch ging er so vor, dass er zunächst möglichst viele genaue Beobachtungen beziehungsweise Messungen vornahm oder sammelte. Die so gewonnenen numerischen Elemente unterwarf er der Methode der Mittelwerte, die er als „einzig entscheidende Methode“11 immer wieder hervorgehoben und bei seinen geophysikalischen Studien erfolgreich angewandt hat: Eine variable Größe wird an einem Ort zu verschiedenen Zeiten gemessen. Die Mittelwerte der homogenen Daten ermöglichen, das Gesetz zu erkennen, das der Änderung gegenüber anderen Orten zugrunde liegt. Die methodische Entscheidung, Ergebnisse zu mitteln, sagt noch nichts darüber aus, welche und wie viele Werte gemittelt werden sollen. In seiner Abhandlung über Linien gleicher mittlerer Jahrestemperatur (Isothermen) erörtert Humboldt ausführlich Möglichkeiten und Grenzen der Methode. Sie genügt zum Beispiel nicht, um die Anteile der verschiedenen Ursachen für die gemessenen Temperaturen zu offenbaren. Er misst täglich die minimale und die maximale Temperatur, von denen angenommen wird, dass sie bei Sonnenaufgang und um 14 Uhr auftritt. Er mittelt also zweimal 365 oder 730 Wärmemessungen in einem Jahr. Die Dauer der einzelnen Temperaturen gehen – anders als im Falle von etwa drei täglichen Messungen – in die Rechnungen nicht ein. Ausdrücklich beansprucht er, das einfache arithmetische Mittel angewandt zu haben, ohne irgendeine Hypothese über die Wärmeabnahme zugrundezulegen – ein Verfahren, das deutlich an Francis Bacons Forderung erinnert, theoriefreie Datenanalyse zu betreiben. Freilich bleibt ein anderer Aspekt zu beachten. Da die Lufttemperatur mit der Höhe der Atmosphäre abnimmt, dürfen mittlere Temperaturen von Orten nicht miteinander vermischt werden, die nicht auf demselben Niveau liegen. Humboldt reduziert die Mittelwerte auf den Meeresspiegel, um den Einfluss des Reliefs der Erdoberfläche auszuschließen. Jetzt endlich kann er gleiche mittlere Jahreswerte durch eine Kurve miteinander verbinden (Abb. 8). Das Bild lässt sofort die Ordnung in der kaum übersehbaren Datenfülle hervortreten. So sind die Isothermen nicht zu den Breitenkreisen parallel, sondern schneiden diese. Der Zusammenhang zwischen geografischer Breite und mittlerer Jahrestemperatur lässt sich in Zahlenverhältnissen erfassen, ein humboldt’scher Ausdruck. Zudem ist die Lage der relativen Minima und Maxi 11 Alexander von Humboldt: Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bände, Stuttgart/Tübingen 1845–1862, hier Band 4, S. 288 (Nachdruck Frankfurt a.M. 2004).

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Abb. 8: Alexander v. Humboldt: Karte der Isothermen, 1817.

ma einer Isotherme im Koordinatensystem aus geografischen Breiten und Längen von der Länge abhängig. Das mathematische Bild bestätigt und verstärkt demnach Humboldts Überzeugung, dass diese Welt, der Kosmos, wie er sie ja bewusst nennt, nach ewigen Gesetzen geordnet ist, dass die darin wirkenden Kräfte in Wechselwirkung stehen. Es ist dies ein Weltbild, das durchaus an Johannes Keplers Harmonice Mundi aus dem Jahre 1619 erinnert. Die Kosmos bildenden Verhältnisse, die Gott bei der Erschaffung der Welt verwandte, wurden von der Geometrie geliefert und sind in den (halb-)regelmäßigen Figuren der Ebene und des Raumes verwirk­ licht (Abb. 9 und 10). Bilder der Mathematik

Der Kartäusermönch Gregor Reisch wurde zu Recht durch seine Enzyklopädie Margarita Philosophica (Philosophische Perle) berühmt, welche die Unterrichtsinhalte der philosophischen (artistischen) Fakultät einer spätmittelalterlichen Universität umfasste, also die sieben freien Künste. Das Werk erschien 1503

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Abb. 9: J. Kepler: Parkettierungen, 1619.

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Abb. 10: J. Kepler: Die regelmäßigen Polyeder und Sternpolyeder, 1619.

zum ersten Mal und erlebte bis 1600 weitere sieben Auflagen. Die Künste wurden auf Holzstichen symbolisch dargestellt. Von besonderem Interesse ist der gern und oft reproduzierte „Typus arithmeticae“ (Abb. 11).12 Boethius, der frühmittelalterliche Gelehrte aus dem 5./6. Jahrhundert, sitzt links als junger, selbstbewusster Mann mit angedeutetem Lächeln an einem Tisch und rechnet mit den indisch-arabischen Ziffern, die etwa ab 1000 in Westeuropa zunehmend Verbreitung gefunden haben. Rechts sitzt der über tausend Jahre ältere Pythagoras und rechnet mit Rechensteinchen auf seinem Rechenbrett. Sein ängstlicher, sorgenvoller Blick geht in Richtung Boethius. Auch eine Frau, welche die Arithmetik symbolisiert/allegorisiert, blickt huld 12 Gregor Reisch: Margarita philosophica, totius philosophiae rationalis, naturalis et moralis principia dialogice duodecim libris complectens, Freiburg 1503, Buch IV Anfang. Die Abbildung findet sich zum Beispiel bei Emil Reicke: Der Gelehrte in der deutschen Vergangenheit, Köln 1924, S. 49; Hans Wußing: Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik, Berlin 1979, S. 113; Michael Heidelberger, Sigrun Thiessen: Natur und Erfahrung, Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 34; Hans Wußing: Geschichte der Naturwissenschaften, Leipzig 1983, S. 189; Helmuth Gericke: Mathematik im Abendland, Von den römischen Feldmessern bis zu Descartes, Berlin u.a. 1990, S. 221; Werner Taegert (Hg.): Zählen, Messen, Rechnen, 1000 Jahre Mathematik in Handschriften und frühen Drucken, Ausstellung der Staatsbibliothek Bamberg zum Jahr der Mathematik 2008, Katalog, Petersberg 2008, S. 136; Hans Wußing: Adam Ries, 3. Auflage, Leipzig 2009, S. 42.

Die Rolle der Bilder in der Mathematik

Abb. 11: G. Reisch: Ziffernrechnen versus Rechnen auf den Linien, 1503.

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Abb. 12: Chr. Pescheck: Cossistische Notation versus Viète’sche Notation in der Algebra, 1744.

voll zu Boethius. Die sozialgeschichtliche Botschaft dieses bildhaften Spiels mit historischen Personen, die sich nie treffen konnten, ist klar: Das Ziffernrechnen ist dem Rechnen auf den Linien überlegen. Mathematische Bilder können wichtige Entwicklungen der Mathematik verdeutlichen. Reischs Holzstich hat offensichtlich ­Christian Pescheck 1744 zu seinem Vergleich zwischen alter und neuer algebraischer Bezeichnungsweise angeregt (Abb. 12). Der missmutig blickende Araber links repräsentiert die Algebra mit cossischen Zeichen für die Unbekannte und deren Potenzen. Der junge, leicht herablassend auf den Araber blickende Mann rechts verwendet die Viète’sche Buchstabenrechnung, allerdings ohne deren Homogenitätsgesetz. Tatsächlich hatte Viète – wie bildlich dargestellt – Vokale für die Unbekannte eingeführt, während seit Descartes für diesen Zweck die letzten Buchstaben des Alphabets verwendet werden. Das Bild vermittelt zwar deutlich die Überlegenheit der Buchstabenalgebra, bleibt aber im Jahre 1744 selbst hinter dem erreichten Stand der mathematischen Notation zurück.

Interview

Form und Stoff in Musik und Mathematik Friedrich Kittler im Gespräch mit Wladimir Velminski

Wladimir Velminski: Herr Kittler, lassen Sie uns mit dem Satz beginnen, den Sie Ihrer Tetralogie Musik und Mathematik vorangestellt haben und der, wie bereits viele andere erste Sätze Ihrer Bücher, etwas zwiespältig ist. Friedrich Kittler: Sehr gerne. Sie meinen sicherlich den Satz: „Wir möchten euch Musik und Mathematik erzählen: das Schönste nach der Liebe, das Schwerste nach der Treue.“ Glauben Sie mir, es war unendlich schwer diesen Satz zu finden. Ich habe ungefähr vier Monate daran rumgepuzzelt und gestrickt bevor ich ihn so hatte, wie ich ihn wollte. Es ist schwer, eine Buchreihe zu beginnen, man muss mit dem ersten Satz eigentlich schon den Ton angeben, so wie mit der Stimmgabel in der Musik. Das habe ich versucht. Darüber hinaus braucht natürlich jeder Band auch sein eigenes Entree, was die Zitate übernehmen. So war es im ersten Band Pierre Klossowski, im zweiten ist es Jorge Luis Borges über Homer und in dem Römer- und Christenband, den ich gerade angefangen habe, habe ich eine kleine Geschichte gefunden aus einem Buch über den Germanengott, die ich vor vielen Jahren mal ausführlich bearbeitet habe – wir wollen aber nicht zu viel verraten. Wladimir Velminski: Aber auch mit diesem Zitat möchten Sie einen Ton angeben, dem das Buch dann folgen wird. Friedrich Kittler: Ganz genau. Damit werden die römischen Meerbauern eingeführt. Denn die Griechen erfinden ja die Mathematik sowie mit Platon dann die Ideenlehre und die Römer küssen die Mutter Erde beziehungsweise lassen sich auf den Boden fallen – cultura heißt ja zunächst nur Ackerbau und erst Cicero beschließt dann den neuen Sinnbegriff cultura animi einzuführen – die Kultur des Geistes, im Unterschied zum Ackerbau. Denn selbst Cicero, der so leidenschaftlich alle Gräzismen vermeidet, findet für Philosophie kein lateinisches Wort, es gibt es einfach nicht, und so muss er es einfach weiter Philosophie nennen. Wladimir Velminski: Könnte man in dieser Beziehung zur Erde und der damit verknüpften Bodenkultur vielleicht auch gewisse kulturtechnische Eigenschaften sehen? Mit dem Begriff der „Kulturtechnik“ hätte man ja vor hundert Jahren wahrscheinlich nur an einem agrarwissenschaftlichen Institut etwas anfangen können. Ganz anders heute. Wikipedia etwa erklärt, es handele sich bei Kulturtechniken um eine Sammelbezeichnung für Lesen, Schreiben und elementares Rechnen und macht eine Auflistung, die vom Feuermachen und Jagen über Kriegskunst und Buchhaltung bis zur Krankenpflege und Grabpflege reicht.

Form und Stoff in Musik und Mathematik

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Friedrich Kittler: Ja absolut, wir haben es ja auch fast so gemeint, als wir Kulturtechnik als elementar definiert haben – schlichte Handgreiflichkeiten. Die ersten Zahlen sind ja wohl die Kerbhölzer, die ungefähr vor dreißig Tausend Jahren in Afrika aufgetaucht sind. Ein Stich – ein Schaf, zwei Striche – zwei Schafe; das Zahlwesen geht also noch sozusagen vor den Ackerbau zurück bis zu den Hirten, Viehzüchtern und Nomaden. Und ich bin jetzt gerade wieder darauf gekommen – weil wir vor kurzem im Seminar beziehungsweise der Vorlesung darüber geredet haben –, dass eben die Römer und die Christen über die etrurische Vermittlung von den Griechen zwar das Vokalalphabet übernehmen, mit leichten Modifikationen, aber dass sie eben nicht die tolle Möglichkeit übernehmen auch die Zahlenschrift und Notenschrift damit anzuschreiben, wo α eben auch eins ist, β zwei etc., sondern sie halten an dieser Kerbholztechnik fest: Stich, Strich, Stich, Strich und wenn es dann mehr als vier Striche sind, löschen sie alle Stiche aus und schreiben die eine Hand als V. Wladimir Velminski: Doch die Finger beziehungsweise die Hände sorgten doch auch in vielen anderen Zahlensystemen für eine schlichte Gliederung, die sich beispielsweise durch die fünf Finger einer Hand, die zehn Finger beider Hände oder die insgesamt zwanzig Finger und Zehen ergeben. So haben die Römer und Chinesen die 5er-Stufung, die Ägypter, Sumerer und Babylonier die 10er und und die Inder oder Mayas die 20er. Friedrich Kittler: Der Unterschied zum indo-arabischen Zahlensystem ist einfach, dass der Übertrag bei der Addition nicht bei Zehn geschieht, sondern sich erst bei Elf ereignet, ansonsten funktioniert es ja genau wie unser System mit der Ausnahme, dass es kein Null gibt und dass die Elf die erste zweistellige Ziffer ist und nicht die Zehn. Es lag mir sehr viel daran nochmals darauf hinzuweisen, dass die Griechen aus der Addition voranschreiten und somit ein additives Zahlensystem haben, was man an der Tetraktys (τετρακτυς) ´ am besten merkt. Die Römer haben ein subtraktives Zahlensystem – die Fünf löscht die vier Striche, und wenn eine Legion in einer Schlacht versagt hat, dann lässt der Prokonsul die Leute in Reih und Glied aufstellen, so dass alle sich sehen, und dann wird ausgezählt, jeder Zehnte muss hervortreten und wird geköpft. Man kann ja nicht die ganze Legion wegen der Feigheit vor dem Feind vernichten, aber eben dezimieren. Und so ist auch Rom sozusagen verstaatlichte Mathematik: Es gibt keinen einzigen großen römischen Mathematiker, um es grob zu sagen; Mathematik wird in die Strukturen der Armee eingebaut, so dass eine bürokratische

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Interview

Mathematik entsteht. Das versuche ich in dem Band zu beschreiben. Wladimir Velminski: Könnten Sie bitte das Gesamtvorhaben der Tetralogie skizzieren, von der ja seit kurzem mit Aphrodite und Eros der erste Teil vorliegt, auf welchen die Bände Roma Aeterna, Hesperien und Turing­zeit folgen werden. Friedrich Kittler: Vor vielen Jahren, bevor ich im Jahr 2000 die Erleuchtung mit den Griechen hatte, sollte das ganze Projekt mit der Erfindung der Zentralperspek­ tive (Abb. 1) und somit mit Filippo Brunelleschi und Leon Battista Alberti einerseits und andererseits mit der Erfindung der gleichschwebenden Temperatur beziehungsweise gleichstufigen Stimmung und mit Simon Stevin (Abb. 2) anfangen. Die beiden Sachen wollte ich parallelisieren als die Grundstandards der Neuzeit und dabei bleibt es auch, daran halte ich fest, nur habe ich eben die Griechen so dramatisch entdeckt wie nie zuvor Abb. 1: Filippo Brunelleschi: Konstruktion und gemerkt, dass man als Germanist Griechen wie der Zentralperspektive, um 1400. Homer durch Goethes oder Schillers Brille liest und nicht als sie selbst. Wladimir Velminski: Aber gerade damit hängt doch auch ein gewisser epistemischer Bruch in Ihrer historiografischen Herangehensweise zusammen, wie sie beispielsweise noch in den Aufschreibesystemen 1800/1900 oder Grammophon, Film, Typewriter der Fall war. Friedrich Kittler: Man könnte es so sehen. Dazu habe ich mir aber überlegt, dass es schon etwas gibt, an dem ich halten, nehmen und finden konnte, nämlich Heideggers Seins-Geschichte, die mir im Moment völlig unterschätzt scheint. Sein und Zeit wird zwar gern gelesen und reaktualisiert, aber der Gedanke, dass man zumindest griechisch, römisch, europäische Geschichte in seins-geschichtlichen Epochen schreiben kann, schien mir dann sehr hilfreich. Ich habe ja schon in den Optischen Medien versucht, die Erfindung der Camera obscura, also der Zentralperspektive, als Erfindung der Vorstellung der Repräsentation und die Erfindung der Laterna magica als der Vorstellung der Vorstellung zu beschreiben, also es so zu fassen, wie Kant auch Descartes fasst, dass die Vorstellung

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Abb. 2: Gleichstufige Stimmung. Aus: Simon Stevin: Vande Spiehegelung der Singconst.

sich selbst vorstellt – in der Kritik der reinen Vernunft schreit er es ja zum Himmel. Und dann war es eben ganz einfach Homer, die vorsokratischen Denker und Mathematiker als aletheia zu denken und im ersten Halbband über die Griechen zu reden und im zweiten über die idea Platons als Konzept einer von jeglicher Materialität gereinigten Idealität, diese so zu beschreiben, wie ich mir denken kann, dass sie entstanden ist. Und Heideggers Gedanke, dass die Bodenlosigkeit des Denkens, wie er es nennt, in Rom beginnt mit der Übersetzung der griechischen Grundworte in lateinische Grundworte, die aber nicht mehr aus der Sache geschöpft und daher bodenlos sind. Und dass im christlichen, päpstlichen Denken dieses römische Denken bis heute präsent bleibt und daher geht es auch in dem neu zu schreibenden Band um diese Übersetzung als Über-Setzung. Die Einheit des Logos im Griechischen zerfällt im Römischen. Logos heißt sowohl Rede, Sprache wie auch das Verhältnis und der Grund in der Sache, das was auch die Harmonik in der Musik organisiert. Und im Römischen wird die subjektive Seite, also die Rede, als oratio übersetzt, die objektive, die sachbegründete Seite als ratio. Und das ist eben die Grundidee, dass in der Mathematik und in der Musik im strengen Sinne kein Fortschritt stattfindet, sondern die Dinge immer wieder rekursiv aufgerufen und vertieft werden. Das ist sozusagen der offizielle Gesamtplan. Wladimir Velminski: Es gibt also auch eine inoffizielle Herangehensweise … Friedrich Kittler: Der inoffizielle Plan ist Heideggers Gedankenbestimmun­ gen, um es mit Hegel zu sagen, erotische Bestimmungen vollkommen parallel

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Interview

a­ nzugeben; also wo Heidegger Aletheia sagt, sage ich Aphrodite, wo Heidegger Idea sagt, sage ich Eros und wo Heidegger Rom sagt, sage ich Sexus. So ist auch Minne etwas anderes als Liebe und Liebe ist etwas anderes als Sex im 19. Jahrhundert. Zum Schlussband kann ich momentan noch nichts sagen, daher heißt er auch erst mal nur Turingzeit, denn der Rest ist noch offen. Wladimir Velminski: Sie würden also sagen, dass im Denken Friedrich Kittlers – trotz allem Gerede – keine Umkehrung stattgefunden hat, sondern dass Sie immer noch Abb. 3: Torsionskatapult. dem Ariadnefaden folgen, den Sie in Ihren ersten Arbeiten aufgenommen haben? Friedrich Kittler: Ich denke schon, ja. Was ich mit Aristoteles gemacht habe, das ist eigentlich Aufschreibesysteme –300: Wie stellt sich den Griechen der Symbolismus der Schrift sowie des Schreibens und des Lesens dar? Und je älter ich werde, desto mehr durchdringt mich der Gedanke, dass alle Medien, um die ja nun ein Leben lang das Schreiben und Nachdenken ging, dass all diese Medien nur deshalb Medien sind, weil eben die Muttersprache kein Medium ist. Wladimir Velminski: Es haben ja dennoch zahlreiche Veränderungen in Ihren Argumentationen stattgefunden, denn zumindest in Ihren zuletzt erschienen Bänden argumentieren Sie mit Bildern. Ganz anders als es in Ihren bisherigen Studien der Fall war, wenn man nur daran denkt, dass die Studie Optische Medien ohne ein einziges Bild auskommt und gerade so auch angelegt ist. Friedrich Kittler: Das ist wahr! Da bin ich hoffentlich etwas liberaler geworden oder weniger ikonoklastisch. Das war ich ja früher mal ein bisschen, weil die Germanistik, in der ich groß geworden bin, von schlechten Bildlichkeiten durchsetzt war. Wie das Innere, das Gefühl oder die Seele sind ja alles nur Bilder gewesen. Und dank Bild Schrift Zahl haben wir gelernt, Bilder besser zu denken. Es sind vielleicht auch viel mehr Diagramme, die ich verwende. Es lässt sich eben schwer beschreiben, was ein Torsionskatapult ist, es lässt sich jedoch mit dem Bild sehr einfach zeigen (Abb. 3).

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Wladimir Velminski: Auf der Grundlage von abstrakten Strukturen und Mustern nimmt unser Themenheft verschiedene Anschaulichkeitsstrategien und -praktiken in der Mathematik unter die Lupe und versucht, den Erscheinungskriterien in den kalkulierten Formen der Existenz und des Inhalts auf die Spur zu kommen. Welcher Spur folgen Sie in Ihrem Projekt, um die Wurzeln von Kunst und Wissen zu ergründen? Friedrich Kittler: Am deutlichsten Abb. 4: Athena modelliert ein Pferd. Oinochoe, Antikensammlung könnte ich es an Athenas Model- – Staatliche Museen zu Berlin, F 2415. lierung des Pferdes erklären, der ich auch im Eros-Band viel Platz eingeräumt habe (Abb. 4). Es geht um Form und Stoff, diese beiden Grundbegriffe von Aristoteles, die alles Denken seitdem quasi bestimmt haben. In der ganzen Begriffsgeschichte Europas gibt es kein erfolgreicheres Begriffspaar beziehungsweise keinen Begriffsgegensatz als den von Form und Stoff. Wenn man ihn trotz Aristoteles dann selber wieder platonisiert, kommen wir vom Stoff zum Sinnlichen und von der Form zum Übersinnlichen und wupps ist man im Christentum verstrickt und wupps hat man eine völlig idiotische Theorie der Dichtung, eine Poetik, in der die eigentliche Bedeutung sozusagen der Stoff ist und die Metapher ist die Übertragung und die Form und das Übersinnliche, dann ist man gleich bei der Allegorie und bei der Allegorese. Daher habe ich mir auch so viel Mühe gegeben, drei mögliche Sachbereiche zu rekonstruieren, in denen eben Aristoteles seine Begriffsdyade geschöpft hat. Und das erste ist eben die Künstlerin Athena als Formerin und das Pferd als Ton, der am Anfang noch keine Form hat, sondern reiner Stoff ist, also der Form beraubt ist und dann bekommt das Pferd in dem Maß, wie es eben zum Pferd wird, die Form, die vorher nur im Geist der Athena – Göttin der Denker und Künstler – anwesend war und jetzt Wirklichkeit wird, zum berühmten Zusammengesetzten, das ja nicht zusammengesetzt ist, sondern im Ganzen Eins ist. Das war die

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erste Möglichkeit, die wir schon während ­meiner Studienzeit in Freiburg als die plausibelste angenommen haben und auch gelehrt bekommen hatten. Der einzigen Frau an Heideggers Nachfolgeseminar lag viel daran zu zeigen, dass es bei Aristoteles auch um eine sexuelle Dimension und um Degenerationstheorie geht. Die ersten vier Bücher handeln eben davon: von primären Geschlechtsorganen, warum die Frau minderwertig sei gegenüber dem Mann, weil sie bloß Stoff liefert. Und das fünfte und vielleicht das schönste Buch handelt von den sekundären Geschlechtsmerkmalen: wann Schamhaare sprießen, wann Achselhaare sprießen, wann die Brüste sich bei den Mädchen runden und Kinder zu Erwachsenen werden, eben wenn sie plötzlich Stimmbruch bekommen. Und da fällt dieser fantastische Satz: Die Stimme ist die Hülle des Logos. Die Stimme ist der Stoff der Rede. Denn das kann man natürlich umdrehen, so dass dann der Logos das aidos der phoné ist – das habe ich dann im Buch versucht zu zeigen. Und das war mein innigstes Anliegen: mit Aristoteles über Aristoteles hinaus zu denken, also Implikate bei ihm aufzuzeigen. Denn dann begreift man erst, wie Aristoteles von der Bildhauerkunst her oder vom Verhältnis von Wortbedeutung und Wortleib her denkt. Der dritte Anlauf war dann, dass ich quer durch den ganzen Aristoteles alle Stellen über die Silbe gesammelt habe und zeigen konnte, dass Aristoteles sagt, die Stimme verhält sich zum Einzellaut wie die Form zum Stoff und das Wort verhält sich zur Silbe wiederum wie die Form zum Stoff. Und dann gilt das Verhältnis Laut zur Stimme gleich Stimme zum Wort und wenn man es auf die Oktave überträgt hat man 1 : x = x : 2 also 1:2. Und so hat man wieder das geometrische Mittel. Es schien mir, dass die Silbe nicht einfach die komplexeste zusammengesetzte Form des Sinnlosen ist, sondern dass mit der Silbe schon Sinn anfängt und dennoch noch nicht richtig da ist – die Silbe also eine Art Sinnbeginn, ein inkoativer Sinn ist und dass die Welt nicht so dichotomisch in Form und Stoff zerfällt, weil man an der Silbe sehen kann, dass es da auch Zwischengestalten gibt. Daher ist die Form auch eine Art Morphogenese, die Form schält sich heraus und wächst. Es geht also immer weiter! Wladimir Velminski: Lieber Herr Kittler, herzlichen Dank für das Gespräch.

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Bücherschau: Rezension Christoph Hoffmann (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Zeichnen als Verfahren der Aufzeichnung, Diaphanes: Zürich/Berlin 2008 (Wissen im Entwurf 1). Barbara Wittmann (Hg.): Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung, Diaphanes: Zürich/Berlin 2009 (Wissen im Entwurf 2).

Anzuzeigen sind die ersten beiden Bände der von Christoph Hoffmann und Barbara Wittmann herausgegebenen Reihe Wissen im Entwurf. Hervorgegangen ist die auf vier Teile angelegte Serie aus der gleichnamigen Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Die beiden Bände versammeln neben den Einleitungen von Hoffmann und Wittmann jeweils sechs Aufsätze, die sehr vernehmlich thematisch miteinander kommunizieren, so dass ihre Nachbarschaft zwischen Buchdeckeln durchaus einen Mehrwert hervorbringt (was den allermeisten Sammelbänden misslingt): Es entsteht der Eindruck einer koordinierten Erschließung verbundener Fragestellungen anhand weit auseinander liegender Fallstudien. Im Fokus stehen die Eigenheiten des Spektrums der Papier-

arbeit, die Vielfalt der unscheinbaren Praktiken des Kritzelns, Zeichnens und Schreibens. In Daten sichern beschäftigen sich Omar W. Nasim mit den Eigenheiten astronomischer Zeichnungen stellarer Nebel im 19. Jahrhundert, Barbara Wittmann mit der zeichnerischen Übertragung eines Fischpräparats in die Darstellung einer Fischspezies und Johannes Rößler mit zeichnerischen und schriftlichen Aneignungen von Gemälden in den Notizbüchern der Kunsthistoriker Wilhelm Bode und Carl Justi. Es folgen Aufsätze, in denen es um Verfahren des Schreibens geht: Arno Schubbach dynamisiert die Genese philosophischer Begriffe anhand von Notizen Ernst Cassirers. Cornelia Ortlieb untersucht Notizen Hubert Fichtes als komplexe und flüchtige Werkpläne. Und Christoph Hoffmann analysiert Sektionsprotokolle des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Versuche, eine sprachliche und mediale Form zur Festhaltung eines flüchtigen Beobachtungsobjekts zu entwickeln, die zugleich die Beobachtung selbst erst konstituiert. In Spuren erzeugen untersucht Armin Schäfer Bemühungen der Jahrhundertwende, mit Hilfe technischer Apparate aus den Bewegungen der Handschrift exakt messbare

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psychiatrische Symptome zu generieren. Stephan Kammer beschäftigt sich mit dem Wechsel des grafologischen Interesses um die Jahrhundertwende vom individuellen Symptom hin zum Ausdruck des „Charakters“ in der Handschrift. Markus Klammer unternimmt eine detaillierte Analyse des Gebrauchs von Schrift und Zeichnung in einem Manuskript Freuds. Barbara Wittmann beschäftigt sich hier mit dem Gebrauch von Kinderzeichnungen in der Psychoanalyse seit den zwanziger Jahren, genauer mit der Art und Weise wie durch das Medium der Zeichnung das Verhältnis von Analytikern und Analysanden konfiguriert wird. Ein nicht für den Band geschriebener, übersetzter Aufsatz von Richard Shiff erkundet Willem de Koonings Verfahren des Zeichnens mit geschlossenen Augen als Versuch, Bewegung und Ausdruck ins Zentrum seines spezifischen Produktionsverfahrens zu rücken. Und Jutta Voorhoeve interpretiert den Zyklus der „Hotelzeichnungen“ Martin Kippenbergers als komplexes Verfahren zur Abbildung einer Auseinandersetzung mit Temporalität, Authentizität und Autorschaft. Viele der Beiträge verfolgen die epistemischen Vorgänge im Material mit geradezu hyperrealistischer Blickschärfe und kaum überbietbarer Konkretion bis in den einzelnen Strich oder das einzelne Notat. Dabei ist der prozessuale Charakter des Epistemischen ein entscheidender Punkt, und es ist höchst begrüßenswert, dass ein solcher Ansatz aus dem spezifischeren Rahmen der Laborstudien heraustritt. Es zeichnet sich eine Art bewegter Epistemologie ab, die das Denken in Zeit, Material und konkreten medialen Umgebungen positioniert und von nachgeordneten begrifflichen Trennungen – Wissenschaft, Kunst, Literatur, Philosophie – weitgehend absieht. Wohlgemerkt handelt es sich nicht um einen Versuch, in naiver Weise die vergangene Temporalität der untersuchten „Schreibszene“ (R. Campe) korrekt abzubilden, sondern stets um eine Rekonstruktionsleistung, die darauf abzielt, die epistemologische Analyse zu präzisieren oder sogar auf neue Grundlagen zu stellen. Christoph Hoffmann schlägt in seiner Ein-

Bücherschau: Rezension

leitung vor, mit einem Begriff des „Verfahrens“ zu operieren, um sowohl die Zeitlichkeit als auch verschiedene Techniken der Verstetigung des Arbeitsprozesses und der darin figurierenden Objekte zu betonen. „Verfahren“ treten auf als praktische Organisation und Inszenierung von Temporalität. Wenn man hier weiterdenken wollte, wären Autoren als Akteure im Rahmen dieser Temporalität aufzufassen. Unter dieser Annahme ließe sich weiterhin überlegen, ob die Konstruktion von Zeitlichkeit noch differenzierter aufzufassen wäre, wenn sie in stärkerem Maß auf soziale Vorgaben der individualisierten Autorschaft Rücksicht nähme. In der Debatte über den Ausdruck und die Herstellung von Subjektivität durch Aufzeichnungstechniken, die in Spuren erzeugen geführt wird, zeichnet sich eine solche Perspektive für Künstler und für die Beteiligten einer therapeutischen Situation ab, die sich wohl auch in Bezug auf die gelehrte Autorschaft noch weiterentwickeln ließe. Schließlich ließe sich noch die Frage stellen, ob die grafische Stabilität der Aufzeichnung, die viele der Aufsätze gegenüber der Flüchtigkeit des Gedachten oder Beobachteten betonen, auch mit semantischer Stabilität gleichzusetzen sei; auch, ob hier die Parallelisierung und teilweise Überblendung von Text und Bild wohl an eine Grenze komme. Eher neugierige Erkundigungen als Einwände, sollen diese Bemerkungen jedoch nur andeuten, wie überaus anregend die beiden äußerst empfehlenswerten Bände sind. Henning Trüper

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Projektvorstellung Open Geometry. Lösung, Visualisierung und Animation anspruchsvoller geometrisch/ mathematischer Probleme http://www1.uni-ak.ac.at/geom/­ opengeometry.php

Die frühen 1990er Jahre waren geprägt von einem rasanten Aufschwung der Computergeometrie. Damit ist nicht die gewöhnliche Computergrafik gemeint, die diesen Aufschwung bereits ein Jahrzehnt vorher durchgemacht hatte, sondern die Weiterentwicklung der klassischen Geometrie mittels hochentwickelter Darstellung/ Animation/Simulation am Computer. Dazu mussten die mathematisch versierten „Geometer“ das Handwerk der Computergrafiker erlernen: Programmieren von Grafik-Workstations, zumeist mit der Programmiersprache C. Spezialisierte Firmen, insbesondere Silicon Graphics, hatten Grafik-Hardware entwickelt, die über Graphics Libraries (GL) angesprochen werden konnte. Diese Hardware war bereits damals sehr effizient, allerseits ging sie nicht (und geht sie bis heute teilweise nicht) über gewisse einfache Standard-Aufgaben hinaus: Füllen von Polygonen (auch „Gouraud-Shading“), Berücksichtigung verdeckter Flächenteile (Z-buffering), und natürlich korrekte perspektivische Darstellung dreidimensionaler Objekte inklusive Clipping-Algorithmen, Texture Mapping. In der Geometrie werden Routinen verwendet, die viele andere klassische Standardaufgaben erledigen, von den üblichen Maß- und Schnittaufgaben hin zu den Boole‘schen Operationen, einfache Handhabung algebraischer Kurven und Flächen (nicht nur Splinekurven und Splineflächen), Umrisserkennung und anderes. Dementsprechend wurde an solchen mehr oder weniger ausgereiften Libraries an verschiedensten Orten gearbeitet. Etwa 1995 gab Silicon Graphics sein GLPaket frei (Open GL) und ebnete damit den Weg zur Entwicklung und Verbreitung von Computergrafik auf gewöhnlichen PCs, insbesondere unter dem Betriebs-

Abb. 1: Positionsbestimmung eines Flugzeugs, Raumparkettierung mit archimedischen Körpern, ebene Torusschnitte.

system Windows. Auf diesem entscheidenden Schritt aufbauend, erschien 1999 die Dokumentation einer „Geometrischen Library“ – basierend auf Open GL: Open Geometry – Open GL + Advanced Geometry.1 Die Library ist primär eingebettet in eine Windows-Umgebung mit dem MicrosoftVisual C++-Compiler. Das war einerseits ein großer Vorteil, weil es das am weitesten verbreitete Betriebssystem erfasste, anderseits erforderte es den Erwerb und den durchaus gewöhnungsbedürftigen Umgang mit relativ teurer Compiler-Software. Eine Einbettung in Linux (samt dem freien Compiler gcc) ist gegeben, hatte aber nicht annähernd die Verbreitung wie die Windows-Version. Immerhin bildeten sich in weiterer Folge einige Zentren (insbesondere in den USA und auch in Österreich, wo das Paket entwickelt worden war), an denen Open

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Projektvorstellung

Abb. 2: Räumliche Ellipsenbewegung samt Hüllfläche, Simulation eines „verallgemeinerten Kardangelenks“, physikalisch korrekte Pendelsimulationen.

­Geometry in Form von Kursen gelehrt wurde. Dies ermöglichte eine Weiterentwicklung und ein zweites Handbook of Geometric Programming Using Open Geometry GL. Parallel zur „Programmierschiene“ mit all ihren Vorteilen (beliebig ausbaufähig) und Nachteilen (Programmierkenntnisse erforderlich) kam es zu durchaus bemerkenswerter Entwicklung von GeometrieSoftware mit Programmen, welche keine höhere Programmiersprache erforderten und dadurch einen leichteren Einstieg ermöglichten. Erwähnenswert sind Euklid3 und Cinderella4. Auch etablierte und weitverbreitete professionelle Software, allen voran Rhinocerus5 versuchen mittlerweile erfolgreich, Bedürfnisse rein geometrischer Art abzudecken. Dabei stellt sich allerdings heraus, dass auch diese Programme bei komplizierten Aufgabestellungen auf eine Art „Meta-Sprache“ – vergleichbar einer objektorientierten Programmiersprache – zurückgreifen müssen, sodass man auch dort zumindest wie ein Programmierer argumentieren und dementsprechend eingearbeitet sein muss.

In den beiden Büchern über Open Geometry wird an etwa 200 Beispielen ausführlich erklärt, wie die Objekte der Bibliothek verwendet werden können und sollen. Geometrisch versierte und programmiertechnisch halbwegs geschulte Studierende können bei entsprechender Unterstützung in einem Praktikum Standardaufgaben lösen. Dabei wird im Wesentlichen ein C++Hauptprogramm, das aus fünf Grundroutinen besteht, ausgebaut: Deklarations- und Initialisierungsteil, Definition des Zeichenfensters und/oder der virtuellen Kamera, Zeichenteil, Animationsteil, und ggf. auch „Clean-Up“ von dynamischen Variablen. Demnach wird eine Szene initialisiert, gezeichnet, animiert, wieder gezeichnet, weiter animiert usw. Und letztendlich beim Ausstieg aus dem Programm „sauber freigegeben“. Abbildung 1 zeigt drei typische rein geometrische Aufgaben, die mit Open Geometry gelöst wurden. Open Geometry kann beliebig vom Benutzer ausgebaut werden, eigene Zusatzbibliotheken können dazugebunden werden. Damit lässt sich das Paket auf die

Abb. 3: Echtzeit-Simulation der Auf- und Abtriebskräfte beim schaukelnden Schiff (links), Echtzeit-Simulation der Choreografie eines Fischschwarms (rechts).

Projektvorstellung

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Abb. 4: Die Oberfläche des Simulationsprogramms.

v­ erschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, in denen Visualisierung und korrekte Simulation gefragt sind, erweitern, etwa auf die Raumkinematik oder die experimentelle Physik (Abb. 2 u. 3). 2006 wurde am Institut für Kunst und Technologie der Universität für angewandte Kunst, Wien (F. Gruber, G. Wallner, P. Calvache) mittels Open Geometry eine umfangreiche interaktive Simulationssoftware zur Wanderausstellung Leonardo da Vinci / Mensch – Erfinder – Genie erstellt, wo über 40 Themenstellungen des Künstlers unter verschiedenen Gesichtspunkten didaktisch aufgearbeitet worden sind. Damit war eindrucksvoll bewiesen, dass Open Geometry auch für professionelle Software eingesetzt werden kann.6 Einen weiteren „Härtetest“ bestand Open Geometry, als es intensiv zur Erstellung extrem hochauflösender Grafiken im Rah-

men des Buchprojekts7 eingesetzt wurde. Um die Qualität der Bilder zu verbessern (Schlagschatten, Spiegelungen usw.), wurden die Ergebnisse u.a. nach PovRay8 exportiert und dort neu gerendert. Open Geometry wurde nicht zuletzt entwickelt, um wissenschaftliche Publikationen hochqualitativ illustrieren zu können. Ein Paradebeispiel ist das 1.500 Seiten starke Lehrbuch,9 das mit Hunderten Open-Geometry-Bildern ausgestattet wurde. Neben 3D-Darstellungen spielen hier auch 2D-Liniengrafiken eine wichtige Rolle, was durch EPS-Export gewährleistet wird. Ebenfalls mit Hunderten hochwertigen Open-Geometry-Illustrationen (von F. Gruber) ausgestattet wurde das Buch Die Welt ist umstülpbar,10 doch auch als solche lässt sie sich am Rechner in eine anschauliche Form bringen.

Abb. 5: Wissenschaftliche Ergebnisse im höchsten Qualitätsmaßstab (links und rechts: Export nach PovRay).

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Projektvorstellung

Abb. 6: Illustrationen zum Unschärfekreis bzw. der Erzeugung virtueller dreidimensionaler Bilder in der Fotografie.

Anschauliche Illustrationen, die gleichzeitig wissenschaftlicher Exaktheit ­genügen, sind inzwischen zwar generell bei einschlägigen Publikationen erwünscht, wobei Abbildung 6 als ein Beispiel hierfür dienen kann, entnommen dem Journal for Geometry and Graphics.11 [7]. Die Wahl der Objekte (Schnecke, Fliege) musste dabei aber in ihrer Komplexität nicht eingeschränkt werden und entspricht z. B. durchaus den Protagonisten der Makrofotografie. Die Objekte wurden mit professionellen Programmen erstellt und von Open Geometry importiert. Georg Glaeser









1 G. Glaeser, H. Stachel: Open Geometry: Open GL + Advanced Geometry, New York 1999. Siehe auch folgende Publikationen Glaesers: Differentialgeometrie mit Open Geometry. Proceedings 25. Süddeutsches Differentialgeometrie-Kolloquium, Wien 2001, S. 95–108 sowie: Neue Softwareentwicklungen an der Universität für angewandte Kunst Wien. Proceedings DSG-CK 2003, TU Dresden, S. 100–104. 2 G. Glaeser, H.P. Schröcker: Handbook of Geometric Programming Using Open Geometry GL, New York 2002. 3 http://www.briegel-online.de/mathe/ euklid.htm 4 http://www.cinderella.de/tiki-index. php 5 http://www.rhino3d.com/ 6 G. Glaeser, F. Gruber: Leonardo – Geo­ me­trie der Bewegung. Informationsblätter der Geometrie (IBDG), Heft 2/2006, S. 32–45. 7 G. Glaeser, K. Polthier: Bilder der Mathematik, Heidelberg 2008. 8 http://www.povray.org/ 9 T. Arens u.a.: Mathematik, Heidelberg 2008. 10 P. Schatz: Die Welt ist umstülpbar. Rhythmusforschung und Technik, Sulgen 2008. 11 G. Glaeser: 3D-Images in Photography? In: Journal for Geometry and Graphics (JGG), Volume 13, 2009, No. 1, S. 113–120.

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Bildnachweis

Titelbild: Innentitel: Philipp Galle nach Marten van Heemskerck: Collage nach ‚Natura‘, 1572 (The New Hollstein Dutch & Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts 1450 –1700, Roosendaal 1994, S. 183). Editorial: Wentzel Jamnitzer: Perspectiva Corporum Regularium, Nürnberg 1568. Tafel F. III. Isabell Schrickel: Abb. 1: http://www.metoffice.gov.uk/weather/europe/ (Stand: 11/2009). Abb. 2: http://www.metoffice.gov. uk/weather/europe/surface_pressure.html (Stand: 11/2009). Abb. 3: James Pollard Espy: The Philosophy of Storms, Boston 1841, S. 105. Abb. 4: William C. Redfield: Observations on the Storm of December 15, 1839. In: Transactions of the American Philosophical Society NS 8 (1843), S. 81. Abb. 5: Elias Loomis: On two Storms which were experienced throughout the United States in the month of February, 1842. In: Transactions of the American Philosphical Society NS 9 (1846), S. 161–184, Appendix 3. Abb. 6: wie Abb. 5, hier S. 180. Abb. 7: Lewis Fry Richardson: Weather Prediction by Numerical Process, Cambridge 1922, Frontispiz. Abb. 8–10: Vilhelm Bjerknes (u.a.): Dynamic Meteorology and Hydrography, Bd. 3. Plates (= Carnegie Institute of Washington, Publications, Bd. 88,3), Tafeln 31–33. Abb. 11: http://mathsci.ucd.ie/~plynch/eniac (Stand 11/2009). Tobias Vogelgsang: Abb. 1–4: Johann H. Lambert: Theorie der Zuverläßigkeit der Beobachtungen u. Versuche. In: Ders.: Beyträge zum Gebrauche der Mathematik u. deren Anwendung, Berlin 1765. Tafel V und Details. Theorie der Zuverläßigkeit. Gloria Meynen: Abb. 1: Euklid, Elemente, III 10 in: Ernst Burckhardt von Pirckenstein: Teutsch Redender Euclides Oder: Acht Bücher von denen Anfängen der Mess=Kunst, Wien 1744. Abb. 2: Euklid, Elemente, III 10 in: Rev. John Allen: Euclid’s Elements of Geometry, Baltimore 1822. Abb. 3: Euklid, Elemente, III 10 in: Georg Friedrich Baermann: Elementorum Euclides Libri XV, Leipzig 1769. Abb. 4: Euklid, Elemente, III 13 in: John Playfair: Elements of Geometry, New York 1819. Abb. 5: Euklid, Elemente, III 13 in: Clemens Thaer: Die Elemente von Euklid, Frankfurt a. M. 1997. Abb. 6: Eduard Imhof: Kartographische Geländedarstellung, Berlin 1965. S. 114. Abb. 7: John R. Riggleman: Graphic Methods for Presenting Business Statistics, New York, London 1936. S. 34. Abb. 8: wie Abb. 7, S. 87. Abb. 9: wie Abb. 7, S. 46. Abb. 10: Jacques Bertin/ Marc Barbut: Sémiologie graphique: les diagrammes, les réseaux, les cartes, Paris 1967. S. 214. Abb. 11: Robert Hooke: Micrographia. Facsimile der 1. Ausgabe von 1665, New York 1961. Abb. 12: wie Abb. 11, Observ. XV. Abb. 13: wie Abb. 11, Observ. XXIV. Abb. 14: wie Abb.11, Observ. XXXVIII. Abb. 15: Alexander v. Humboldt: Sur les lignes isothermes. In: Annales de Chimie et de Physique, 1817. Abb. 16: wie Abb. 10, S. 43. Abb.17: wie Abb. 10, S. 185. Wolfgang Schäffner: Abb. 1: Johan Heibergs kritische Euklid-Ausgabe, 1883. Abb. 2: Euklid: Elemente, (gr.) nach Heiberg Buch VII, Lehrsatz 15, (Einheit als “A”). Abb. 3: Euklid: Elemente, (lat.) Adelard III-Version (12.Jh.), Buch VII, Lehrsatz 15. (Einheit als “1”). Abb. 4: Albertis Antiqua-Inschrift in der Capella Rucellai von San Pancrazio, Florenz 1467. Abb. 5: Felice Feliciano: Alphabetum Romanum, ca. 1460. Abb. 6: Euklid. Erhard Ratdolt, Venedig 1482. Abb.7: Euklid. Erhard Ratdolt, Venedig 1482. Abb. 8: Leon Battista Alberti: Ludi mathematici, 1450. Abb. 9: Leon Battista Alberti: Ludi mathematici, 1450. Abb. 10: Levinus Hulsius: Tractat der Mechanischen Instrumenten, 1604. Faksimile: Abb. 1: Ringier Annual Report 2001, hg. v. Myrta Bugini u.a., Zürich 2002, S. 28f. Abb. 2: Ringier Jahresbericht 2007, hg. v. Marco Castellaneta u.a., Zürich 2008, o. S. Abb. 3: Ringier Jahresbericht 2008, hg. v. Marco Castellaneta u.a., Zürich 2009, S. 28f. Abb. 4: Ringier Jahresbericht 2003, hg. v. Myrta Bugini u.a., Zürich 2004, Einband. Abb. 5: Ringier Geschäftsbericht 1999, hg. v. Fred Rohrer u.a., Zürich 2000, S. 31. Bildbesprechung: Abb. 1: Privatbesitz, vermittelt als digitale Abbildung durch Hiroshi Numata. Abb. 2: aus: Yoshisuke Ueda: Strange Attractors and the Origin of Chaos, Nonlinear Science Today, 1992, Vol. 2, Nr. 2, S. 1–16; hier: Abb. 1, S. 3. Abb. 3: aus: Norman Levinson: Transformation Theory of non-linear differential equations of the second order, The Annals of Mathematics, Second Series, Vol. 45, Nr. 4, Oktober 1944, S. 723–737. Abb. 4: wie Abb. 2, hier: Abb. 4, S. 6. Abb. 5: wie Abb.2, hier: Abb. 10, S. 9. Abb. 6: aus: Chihiro Hayashi: Solution of Duffing’s Equation Using Mapping Concepts, Proc. 4th Int. Conf. On Nonlinear Oscillations, Prag, 1968, S. 25–40; hier: Abb. 6, S. 37; nachgedruckt in: Chihiro Hayashi: Selected Papers on Nonlinear Oscillations, Osaka 1975, S. 156. Abb. 7: aus: Yoshisuke Ueda: On the Behavior of Self-Oscillatory Systems with External Forcing, Electronics and Communications in Japan, Vol. 53-A, Nr. 3, S. 31–39; hier: Abb. 6, S. 36. Eberhard H.-A. Gerbracht: Abb. 1: Felix Klein: Vorlesungen über das Ikosaeder, s. Anm. 13, o.S. „http://gdz.sub.uni-goettingen. de/dms/load/img/?IDDOC=298781“http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?IDDOC=298781 (Stand: 02/2010). Abb. 2: Robert Fricke: Lehrbuch der Algebra, Braunschweig 1926, S. 46. Abb. 3: Felix Klein, Robert Fricke: Vorlesungen über die Theorie der elliptischen Modulfunktionen, Leipzig 1890, S. 107. Abb. 4: wie Abb. 3, S. 111. Abb. 5a: wie Abb. 3, S. 239. Abb. 5b: wie Abb. 3, S. 112. Abb. 5c: wie Abb. 3, S. 113. Abb. 6: Lithografierte Tafel als Anhang zu Felix Klein: Ueber die Transformation siebenter Ordnung der elliptischen Functionen. In: Mathematische Annalen 14, 1878/79, o.S. „http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/ img/?IDDOC=29581“http://gdz.sub.uni-goettingen.de/dms/load/img/?IDDOC=29581 (Stand: 02/2010). Abb. 7: Maurits Cornelis Escher: Circle Limit IV, 1960. © M.C. Escher Company- The Netherlands. All rights reserved. Used by permission. www. mcescher. com. Abb. 8: Jean-Pierre Serre: Trees, Berlin 1980, S. 35. Abb. 9: D. Mumford, C. Series, D. Fright: Indra’s Pearls – The Vision of Felix Klein, Cambridge 2002 (Titelblatt). Farbtafel 3: Die Ikosaederfigur in einer zeitgenössischen Mitschrift. In Felix Klein: Gleichungstheorie insbesondere Auflösung der Gleichungen 5ten Grades. Vorlesung im Sommersemester 1883. Mitschrift durch Richard Olbricht, Leipzig 1883 © Eberhard H.-A. Gerbracht. Clemens Bruschek, Dominique Wagner: Abb. 1–5: © Clemens Bruschek u. Dominique Wagner. Abb. 6: © Alexandra M. Fritz (Erstveröffentlichung). Tafel 1: © Herwig Hauser// Bulletin of the American Mathematical Society, Vol. 40, 3, S. 327. Tafel  2: © ­Sebastian Gann und Herwig Hauser.

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Eberhard Knobloch: Abb. 1: Gaspar Schott: Cursus mathematicus, Würzburg 1661, Titelkupfer (Herzog August Bibliothek). Abb. 2 u. 3: René Descartes: Geometria una cum notis Florimondi de Beaune, opera atque studio Francisci a Schooten, 1. Teil, Amsterdam 1659, S. 2. Abb. 4: Leonhard Euler: Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis, Commentarii academiae scientiarum Petropolitanae 8 (1736), 1741, S. 128–140. In: Leonhard Euler: Opera omnia, vol. I, 7, ed. Louis Gustave de Pasquier, Leipzig/Berlin 1923, S. 1–10, hier S. 2. Abb. 5: Gerhard Ringel: Färbungsprobleme auf Flächen und Graphen, Berlin 1959, S. 2. Abb. 6: Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR, 7. Reihe Mathematische Schriften, 1. Band, Berlin 1990, S. 580. Abb. 7: wie Abb. 6, S. 597. Abb. 8: Alexander v. Humboldt: Des lignes isothermes et de la distribution de la chaleur sur le globe, Mémoires de physique et de chimie de la Société d’Arcueil 3, 1817, S. 462–602, Carte des lignes Isothermes, nach: Alexander v. Humboldt: Studienausgabe, 7 Bände, hrsg. von Hanno Beck, Band VI Schriften zur physikalischen Geographie, Darmstadt 1989, S. 18–97 (deutsche Fassung), hier S. 19. Abb. 9: Johannes Kepler: Harmonice mundi, Linz 1619. In: Johannes Kepler: Gesammelte Werke, Band VI: Harmonice mundi, hrsg. von Max Caspar, München 1940, S. 73. Abb. 10: wie Abb. 9, S. 79. Abb. 11: Gregor Reisch: Margarita philosophica, Freiburg 1503, Buch IV Arithemtik, nach: Werner Taegert (Hrsg.): Zählen, Messen, Rechnen, 1000 Jahre Mathematik in Handschriften und frühen Drucken, Ausstellung der Staatsbibliothek Bamberg zum Jahr der Mathematik 2008, Katalog, Petersberg 2008, S. 136. Abb. 12: Titelblatt, nach: wie Abb. 11, S.145. Interview: Abb. 1: Battisti: Filippo Brunelleschi, Mailand 1976, Abb. 93–96. Abb. 2: H. F. Cohen: Quantifying music. The science of Music at the first stage of the scientific Revolution, 1580–1650, Dordrecht 1984, p.52. fig. 24. Abb. 3: Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I. Hellas 2: Eros, München 2009, S. 233. Abb. 4: wie Abb. 3, Tafel XXI. Projektvorstellung: Alle Abb.: © Georg Glaeser. Bildtableau 1: 1: Cosimo Bartoli: Del modo di Misvrare le Distantie, le Superficie, i Corpi […] Venedig 1564, fol. 45r.s 2: Archiv „Das Technische Bild“ nach Raycluster, München. 3: Catalog mathematischer Modelle für den höheren mathematischen Unterricht, veröffentlicht durch die Verlagshandlung von Martin Schilling, Leipzig 1911, S. 115, Kat. Nr. 37. 4: Guidobaldo Bourbon del Monte: Planisphaeriorum Universalium Theorica, Pisauri 1579, S. 125. 5: Bibliothek der Jagiellonen-Universität Krakau, Inv. nr. Ms. BJ 10000, fol 9v. 6: Hans Otti: Hauptfragen und Hauptmethoden der Kartenentwurfslehre unter besonderer Rücksichtnahme auf die Abbildung der Schweiz, Aarau 1911, Taf. E, Abb. 1. 7: René Descartes: Discours De La Methode Pour bien conduire sa raison, & chercher la verité dans les sciences […] La Géométrie […], Leiden 1637, S. 356. 8: David Eugene Smith/Yoshio Mikami: A history of Japanese mathematics, Chicago 1914, S. 87. 9: Baron Carl Dupin, Geometrie und Mechanik der Künste und Handwerke und der schönen Künste. Normalkurs, Erster Band, Geometrie, Paris/Straßburg 1825, Tafel 1, Fig. 4–6. 10: Johann Benedict Listing: Der Census räumlicher Objekte oder Verallgemeinerung des Euler‘schen Satzes von den Polyedern. In: Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 10, 1861/1862, H. 2, S. 97–182, hier Tafel 2, Abb. 54. 11: Oskar Schlömilch (Hg.): Handbuch der Mathematik, Bd. 1 (= Encyklopädie der Naturwissenschaften, hg. G. Jäger u.a., 1. Abt., 2. Teil), Breslau 1880, Fig. 4. 12: Gerd Fischer (Hg.): Mathematische Modelle. Aus den Sammlungen von Universitäten und Museen. Bildband, Braunschweig/ Wiesbaden 1986, S. 115, Abb. 120. 13: I Dieci Libri dell’Architettura di M. Vitruvio. Tradotti & commentati da Mons. Daniele Barbaro […] Venedig 1567, S. 351. 14: Otto Neugebauer: Vorlesung über Geschichte der antiken mathematischen Wissenschaften, Bd. 1, Vorgriechische Mathematik (= Die Grundlehren der mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen, Bd. 43), Berlin 1934, S. 127, Abb. 39. 15: Albrecht Dürer: Vnderweysung der messung mit dem zirckel vn[d] richtscheyt in Linien eben vnnd gantzen corporen [...], Nürnberg 1525, fol. M5v. 16: David Eugene Smith: History of Mathematics, Bd. 1, New York 1951, S. 173. 17: Leonhard Euler: Solutio problematis ad geometriam situs pertinentis. In: Commentarii academiae scientiarum Petropolitanae 8, 1736, S. 128–140, hier Abb. 3. 18: Ioannis Keppleri: Harmonices mundi libri V. […], Lincii Austriae 1619, hier nach dem Nachdruck 1968, S. 79. 19: Wie Abb. 12, S. 58, Abb. en. 57, 59, 60. Bildtableau 2: 1: Blaise Pascal: Œevres scientifiques, hg. v. Fortunat Strowski (= Œuvres complètes, Bd. 1), Paris 1926, S. 178. 2: Johannes Widmann: Mercantile Arithmetic oder Behende und hüpsche Rechenung auff allen Kauffmanschafft, Leipzig 1489, S. 88. 3: Filippo Calandri: Trattato di arithmetica, Florenz 1491, fol. 33r. 4: David Eugene Smith/Yoshio Mikami: A history of Japanese mathematics, Chicago 1914, S. 174. 5: William Dwight Whitney: The Century Dictionary and Cyclopedia, New York 1889, S. 5209. 6: Archiv „Das Technische Bild“. 7: Detail nach David Eugene Smith: History of Mathematics, Bd. 1, New York 1951, S. 420. 8: Wie Abb. 2, S. 19. 9: Felix Maschek, Hamburg.10: Albert Georgi: Berühmte württembergische Astronomen und Geodäten. Bd. III. Wilhelm Schickhardt. In: Nachrichten des Württembergischen Vermessungstechnischen Vereins 4 (1912) S. 1–9, hier Abb. 1. 11: Wilhelm Kubitschek: Die salaminische Rechentafel. In: Numismatische Zeitschrift 31, 1899, S. 393–398, hier Tafel 1. 12: Biblioteca Pubblica Comunale di Siena, Cod. L. IV. 20, fol. 3r. 13: Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg, Inv. Nr. RAN F. 136, op. 1, Nr. 232ob. Foto: Wladimir Velminski. 14: Archivio Buonarotti, Florenz, Inv. Nr. XIII, fol. 127 recto (T539), Feder, 328x228mm. 15: Jakob Köbel: Eyn New geordnet Vysirbuch, Oppenheim 1515, Titelvignette. 16: Georg’s Freiherrn von Vega logarithmischtrigonometrisches Handbuch, 53. Auflage, 14. Abdruck, Berlin 1870, S. 188. 17: Musée des Arts et Métiers, Paris, Inv. Nr. 823-1, Foto © 2005 David Monniaux. 18: Courtesy of IBM Archives. 19: Giovanni Antonio Magini: De Planis Triangulis, Liber Unicus 1592, fol. 20v. 20: Wie Abb. 3, fol. 3r. Leider war es nicht in allen Fällen möglich, die Inhaber der Rechte zu ermitteln. Es wird deshalb ggfls. um Mitteilung gebeten.

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Die AutorInnen

Dr. Clemens Bruschek Fakultät für Mathematik , Universität Wien Dr. Eberhard H.-A. Gerbracht Institut für Netzwerktheorie und Schaltungstechnik, Technische Universität Braunschweig Prof. Dr. Friedrich Kittler Institut für Kulturwissenschaft , Humboldt Universität zu Berlin Prof. Dr. Eberhard Knobloch Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Dr. Gloria Meynen eikones NFS Bildkritik , Universität Basel Prof. Dr. Georg Glaeser Universität für Angewandte Kunst, Wien André Rottmann M.A. Texte zur Kunst Verlag GmbH & Co. KG Nina Samuel M.A. Das Technische Bild, Humboldt Universität zu Berlin Prof. Dr. Wolfgang Schäffner Humboldt Universität zu Berlin, Institut für Kulturwissenschaft Isabell Schrickel M.A. Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft, Humboldt Universität zu Berlin Dr. Henning Trüper Universitärer Forschungsschwerpunkt Asien und Europa, Universität Zürich Dr. Wladimir Velminski Bauhaus-Universität Weimar, Internationales Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie Tobias Vogelgsang M.A. London Dipl. Math. Dominique Wagner Fakultät für Mathematik, Universität Wien

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1. Pascal’sches Dreieck, nach dessen „Traité du triangle arithmétique“, 1655. 2: Erstmalige Verwendung der bis heute gültigen Rechenzeichen für Plus und Minus durch Johannes Widmann, 1489. 3: Einführung der heute noch üblichen „langen Division“ aus Calandris „Trattato di arithmetica“, 1492. 4. Pascal’sches Dreieck in einer japanischen Darstellung des 18. Jahrhunderts. 5: Von John Napier im 17. Jahrhundert entwickelte Rechenstäbchen zur Multiplikation, Division und Quadratwurzelberechnung. 6: Formelsammlung für Gymnasien, 1990er Jahre. 7: Das durch Gottfried Wilhelm Leibniz eingeführte Integralzeichen in einem Autograf vom 10. Februar 1712. 8: Stufenförmige Multiplikationstafel Johannes Widmanns, 1489. 9: Sharp EL-8, der erste in Serie gefertigte, mobile elektronische Taschenrechner der Welt, 1971. 10: Skizze einer Rechenmaschine. Nachlass Wilhelm Schickard, um 1623.

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11: Die Salaminische Rechentafel, das älteste erhaltene Rechenbrett. Archäologisches Nationalmuseum Athen, ca. 300 v. Chr. 12: System von Handzeichen zur Darstellung von Zahlen in Leonardo Pisanos „Liber abbaci“. Handschrift, nach 1250. 13: Schachexperimente in Leonhard Eulers Tagebuch, zwischen 1749 und 1757. 14: Sin 0°. Logarithmentafel aus Georg Freiherr von Vegas „logarithmisch-trigonometrischem Handbuch“, erstmals 1783. 15: Pascals 1643 entwickelte Rechenmaschine, die Pascaline. 16: Berechnung benötigter Ziegellieferungen für die Neue Sakristei an San Lorenzo durch Michelangelo. Profilstudie, um 1520. 17: Süddeutscher Visiermeister mit seinen Geräten zur Ermittlung von Hohlvolumen, 1516. 18: IBM ENIAC, der erste digitale vollelektronische Computer, 1945. 19: Höhenberechnung durch Winkelbestimmung am Beispiel eines Turmes, 1592. 20: Berechnung von Hohlvolumen mithilfe des Faktors Pi. Florenz, 1491.

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 7,2 Mathematische Forme(l)n

Herausgeber

Prof. Dr. Horst Bredekamp, Dr. Matthias Bruhn, Prof. Dr. Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band

Dr. Wladimir Velminski, Prof. Dr. Gabriele Werner Redaktion

Das Technische Bild Mitarbeiter

Hanna Felski, Florian Horsthemke M.A., Dennis Jelonnek, Nina Samuel M.A. Lektorat

Rainer Hörmann Layout

Dr. Birgit Schneider Satz: Hanna Felski, Dennis Jelonnek & aroma, Berlin Adresse der Redaktion

Humboldt-Universität zu Berlin Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Das Technische Bild Unter den Linden 6 D-10099 Berlin [email protected] Fon: +49 (0) 30 2093 2731 Fax:  +49 (0) 30 2093 1961 ISSN 1611-2512 ISBN 978-3-05-004646-4 © Akademie Verlag, Berlin 2010 Das Jahrbuch „Bildwelten des Wissens“ erscheint jährlich in 2 Teilbänden. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung anderer Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Jahrbuches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen und übersetzt werden. Druck: Medienhaus Berlin Printed in Federal Republic of Germany