Bildwelten des Wissens: BAND 10,1 Ereignisorte des Politischen 9783110548860, 9783050060286

Wenn die Ultras des CFC Genua unter Gewaltandrohung die Spieler des Vereins dazu zwingen, ihnen die Trikots auszuhändige

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Bildwelten des Wissens: BAND 10,1 Ereignisorte des Politischen
 9783110548860, 9783050060286

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Macht, Raum und Ikonen. Transformation des öffentlichen Raums seit der ägyptischen Revolution
„Indignati, guerriglia black bloc“. Zur Farbenlehre des Versammlungsrechts
Anti-identitärer Protest und agonale Ausverhandlungsräume
Am Platz hat himmlischer Friede zu herrschen
Bildbesprechung
Faksimile
Farbtafeln
Hegemoniale Körperbilder und Ikonografien im serbischen Folk und Turbo-Folk
MOCAK und der Mythos der Modernität in Krakau
Bewegte Öffentlichkeiten. Ansichten zur Kultur des Straßensports
„Effizienz ist ganz wichtig.“
Bücherschau: Wiedergelesen / Rezension / Ausstellungsbesprechung
Projektvorstellung
Bildnachweis
Die AutorInnen
Bildwelten des Wissens

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Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 10,1

Ereignisorte des Politischen

Akademie Verlag

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1: Still aus Musikvideo M.I.A.- Bad Girls, Regie: Romain Gavras, 2012. 2: Maurice Weiss: Ägypten, Kairo, erschöpfte Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, Herbst 2011, aus der Serie „Arabischer Herbst“. 3: Djemaa el Fna, Marrakesch, Marokko. 4: Adolph Menzel: Aufbahrung der Märzgefallenen, Öl auf Leinwand, 1848. 5: Montagsdemonstration, Karl-Marx-Platz, Leipzig, 16.10.1989. 6: Pieter Bruegel d. Ä.: Der Kampf zwischen Karneval und Fasten, Öl auf Holz, 1559. 7: Flagge der Freistadt Christiania im Kopenhagener Stadtteil Christianshavn. 8: Guerilla Knitting in Luzern, 2012. 9: Isidore-Stanislas Helman: Hinrichtung Ludwigs XVI. am 21. Januar 1793, Kupferstich, 1793. 10: Rumänische Flagge mit einem Loch in der Mitte, wie sie 1989 benutzt wurde; das Bild wurde 2006 während Demonstrationen gegen die Regierung in Bukarest aufgenommen. 11: 2007 stellte ein russisches Mini-U-Boot 4261 m unter dem Nordpol eine russische Flagge aus Titan auf, um so den Anspruch Russlands auf einen Großteil der Arktis und dort vermutete Öl- und Gasvorkommen zu untermauern. 12: Übersichtskarte aller Mondlandungen, erstellt vom National Space

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Science Data Center, 2004. 13: Elmar Haardt: Parkplatz, aus der Serie AMERIKA, C-Print, Diasec, 75x 90 cm, 2011. 14: Sébastien le Prestre de Vauban: Plan von Neubreisach, kolorierter Kupferstich, nach 1702. 15: Plan der Agora im 2. Jh. nach Chr., Grafik von 1972. 16: Giovanni Battista Piranesi: Der Petersdom mit Kolonnaden und dem Petersplatz, Kupferstich aus Veduta di Roma,1750. 17: Étienne Dupérac: Das Campidoglio nach dem Entwurf Michelangelos, Kupferstich, 1569. 18: Piazza dell’Anfiteatro in Lucca. 19: André-Adolphe-Eugène Disdéri: Die während der Pariser Kommune zerstörte Colonne Vendôme, 1871. 20: Taksim-Platz in Istanbul, Kinder spielen auf einem umgestürzten Polizeiwagen, 2013. 21: Thorsten Klapsch: Palast der Republik, außen, 1993. 22: Denis Sinyakov: Die feministische Band Pussy Riot auf dem Roten Platz in Moskau, 20. Januar 2012. 23: Tobias Zielony: Aral-1, aus der Serie „Tankstelle“, 2004. 24: Ansichtskarte Undeloh in der Lüneburger Heide, Schafstall, St. Magdalenenkapelle, Dorfeiche.

Inhaltsverzeichnis

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Editorial

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Atef Botros Macht, Raum und Ikonen. Transformation des öffentlichen Raums seit der ägyptischen Revolution

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Carolin Behrmann „Indignati, guerriglia black bloc“. Zur Farbenlehre des Versammlungsrechts

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Susanne Lummerding Anti-identitärer Protest und agonale Ausverhandlungsräume

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Hans Christian Voigt Am Platz hat himmlischer Friede zu herrschen

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Bildbesprechung: Die Erschießung Maximilians Philipp Zitzlsperger

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Faksimile: Ein Völkermordprozess wider Willen Rolf Hosfeld

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Farbtafeln

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Silvia Nadjivan Hegemoniale Körperbilder und Ikonografien im serbischen Folk und Turbo-Folk

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Wojciech Bałus MOCAK und der Mythos der Modernität in Krakau

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Thomas Alkemeyer Bewegte Öffentlichkeiten. Ansichten zur Kultur des Straßensports

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„Effizienz ist ganz wichtig.“ Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Ben Scheffler

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Bücherschau: Wiedergelesen/Rezension/Ausstellungsbesprechung Michael Wetzel, Susanne Baer, Jan Konrad Schröder, Inge Hinterwaldner, Angelika Bartl, Renate Wöhrer

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Projektvorstellung: KnitHerStory Antonia Wenzl

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Bildnachweis

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Die AutorInnen

Editorial

1964 stimmten während des Meisterschaftsspiel FC Liverpool gegen Arsenal London 25.000 Fans auf der Stehplatztribüne (genannt „The Kop“) spontan einen abgewandelten Beatles Song „We love you, yeah, yeah, yeah“, an. „The music of Liverpool echoing around the world“, so der hingerissene Reporter der BBC, der kaum mehr das Spielgesche- 1: Bertotti Ottavio Scamozzi: Grundriss des Teatro Olimpico von hen kommentierte, sondern vielmehr Andrea Palladio in Vicenza, Holzschnitt, 1796. das Fernsehpublikum teilhaben ließ an seiner Begeisterung für das rhythmische Schwingen der Menschenmassen, das dem instinktiven Wogen von Fisch- oder Vögelschwärmen sehr nahe kommt. Die Bilder aus dem Anfield-Stadion hatten nicht nur eine große ästhetische Kraft, sie waren spektakulär, weil sich in ihnen eine kreative Gegenkultur artikulierte, deren Faszination aus ihrer nicht organisierten und deshalb vermeintlich unkontrollierbaren Sinnlichkeit zu resultieren schien. Heute bieten die Ultrabewegungen den Raum für gegenkulturelle (Selbst-) Inszenierungen, und auch sie nutzen ästhetische Mittel. „Capos“ koordinieren die akustische Unterstützung der eigenen Mannschaft durch Gesänge und Trommeln, orchestrieren den Einsatz von Überroll- und Schwenkfahnen, Wurfrollen und Doppelhaltern. Während der Spielzeit 2008/2009 entrollten Mitglieder der Ultragruppierung des VfB Stuttgart „Commando Cannstatt“ drei Spruchbänder mit der Aufschrift: „Wenn du das Commando singen hörst, dann weißt du, dass du nie alleine bist“; die Fernsehbilder schickten Genesungsgrüße an ein Gruppenmitglied. Die Wirkungsmacht solcher organisierten Auftritte zeigte sich 2012. Bis zum 12. Dezember herrschte über mehrere Wochen für 12 Minuten und 12 Sekunden Stille in den Fußballstadien. Fans von mehr als 50 Vereinen demonstrierten gegen das Sicherheitskonzept der Deutschen Fußballliga, welches ohne die Fanverbände und -clubs ausgearbeitet worden war. All diese Handlungen machen Fußballstadien zu Ereignisorten des Politischen. Sie sind nicht nur Schaustellungen der Verbundenheit zum Fußballclub, sondern weit darüber hinaus eine kollektive Identitätsillusion, die Woche für Woche neu hergestellt und bestätigt wird. Insofern unterscheiden sich Ultras nicht von sogenannten „Kuttenfans“, deren Identifikation sich vor allem in der gemeinsamen Uniformierung äußert. Dem Geschehen ist das Politische immanent, denn die

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Editorial

Sichtbarmachung identitätsstiftenden Handelns ist mit dem Zweck verbunden, ein kollektives „Wir“ von einem „Anderen“ abzugrenzen. Konflikte werden ausgetragen – nach innen agonal, partizipativ, nach außen antagonistisch, dogmatisch – und führen den unabschließbaren Prozess hegemonialer Praxen vor: „Jede hegemoniale Ordnung ist empfänglich für die Herausforderung durch gegenhegemoniale Praxen, die versuchen, sie zu desartikulieren, um eine andere Form der Hegemonie einzusetzen.“ (Chantal Mouffe) Das „Zusammen-Sein“ (Jean-Luc Nancy) im Sport scheint sich von den demonstrativen Platz-Besetzungen in den Ländern des Nahen Ostens und in europäischen Großstädten zu unterscheiden. In der Wahrnehmung des Politischen werden diese Aufstände als Gegenmacht und als Brüche politischer Ordnungen, mithin als Politik im eigentlichen Sinne identifiziert. Diese „Wortergreifungsereignisse“ (Jacques Rancière) lassen sich einem Begriffsapparat eingliedern, der das differenzierende Denken der politischen Theorie und die Konfrontation mit politischen Herrschaftsorganen in einem öffentlichen Raum (Hannah Arendt) verknüpft. Gewöhnungsbedürftig dagegen ist es, den agonalen Charakter des Politischen (Ernesto Laclau und Chantal Mouffe), wie er sich auf dem Roosevelt Boulevard in Tel Aviv, auf dem Puerta del Sol in Madrid und den verschiedenen Besetzungen der Occupy-Bewegung gezeigt hat, als Ausdruck einer sich verändernden Demokratie zu betrachten. Das Politische verweist auf die Unabschließbarkeit des Raums der Macht (Claude Lefort). Die ontologische Differenz zwischen „Politik“ (la politique, the politics) und „Politischem“ (le politique, the political), der in den derzeit vorliegenden Theoriemodellen keineswegs eine einheitliche Sprachregelung, wohl aber eine allgemein geteilte Differenzierung zwischen den Ordnungen politischer Herrschaft und den identitätsstiftenden Gemeinschaften zugrunde liegt, ist Ausgangspunkt für die Sammlung der Beiträge in diesem Band. Sie betonen die visuellen Inszenierungen hegemonialer Aus(ver)handlungen wie die Unmöglichkeit von Letztbegründbarkeit politischer Ordnungen. Am 3. März 1585 wurde Sophokles’ König Ödipus im Teatro Olimpico in Vicenza, das nach den Entwürfen von Andrea Palladio ein Jahr zuvor fertig gestellt worden war, erstmals wieder aufgeführt. Hierin stellt sich Kreon, noch nicht Herrscher über Theben, Ödipus mit den Worten entgegen: „Es geht in dieser Stadt nicht mehr nach deinem Sinn.“ Als Herrscher wird er in der Antigone empört ausrufen: „Sagt mir die Stadt jetzt, wie ich herrschen soll?“ Gabriele Werner, Philipp Ruch und die Herausgeber

Atef Botros

Macht, Raum und Ikonen. Transformation des öffentlichen Raums seit der ägyptischen Revolution „Der Albtraum errichtete eine Mauer, der Traum bemalte sie“, untertitelten ägyptische Aktivisten das Bild von einer mit Graffiti bemalten Wand aus Betonblöcken, das sie in Facebook veröffentlichten. ◊ Abb. 1, Tafel 1 Der Albtraum ist die militärische Führung SCAF (Supreme Council of the Armed Forces/Oberster Militärrat), die nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Demonstranten Ende 2011 aus riesigen Betonblöcken Mauern errichtete, um den Zugang von Protestierenden zu verhindern. Die Initiative No Wall Graffiti kündigte für Freitag, den 9. März eine öffentliche Aktion an, bei der alle Mauern, die das Militär im Stadtmitte-Bereich gebaut hat, bemalt werden sollten, „denn wir haben nicht für die Revolution gekämpft, um inmitten von Mauern zu leben, […] wir haben uns entschieden, am Freitag die gesperrten Straßen zu öffnen“.1 Die Graffiti-Aktion erweiterte die Straße visuell und stellte die Aggression des Militärs bloß. Die physische Gewalt des Militärs, welche die schweren Betonblöcke bewegt, die Straßen sperrt, wird in dem Bild durch Darstellungen von Angriffen des Militärs gegen friedlich Protestierende gezeigt. Dieser Performance der Gewalt wird die künstlerische Kreativität und Fantasie als Counter-Performance gegenübergestellt. Die Mauer, die ein Ende der Demonstrationen setzen, Straßenteile unzugänglich machen und die Macht des Militärs demonstrieren soll, wird selber zu einer Präsentationsfläche militärischer Gewalt gegen Zivilisten. Die bemalte Mauer konfrontiert Albtraum und Traum, Macht und Widerstand sowie Konterrevolution (SCAF) und Revolution (Aktivsten). Aber die Stärke dieser entstandenen Straßenszene liegt eigentlich nicht in der direkten Gewaltdarstellung innerhalb des Bildes. Die subversive Wirkung und das hochpolitische Moment bestehen darin, dass es den Künstlern gelang, den durch hässliche schwere Betonsteine gesperrten Raum mit Hilfe von künstlerischen Mitteln und Fantasie visuell zu öffnen. Dieser visuellen Öffnung liegt die perfekte Anpassung an die Umgebung zugrunde, die das Graffiti nahtlos in die Straßenszene integriert und den eigentlichen Erfolg dieses Graffiti ausmacht. Die Kreativität überschreibt die grobe Mauer. Liegt der Traum also in einem neuen gesellschaftspolitischen Bewusstsein davon, dass auch unüberwindbar scheinende Realitäten veränderbar sind? Kann man von einer Transformation des öffentlichen Raums in Ägypten nach der Revolution sprechen? Wie verlaufen die Machtkämpfe um die Aneignung des öffentlichen Raums? Sind Straßen und Plätze zu einer Schaubühne des politischen Aktivismus und des Widerstands geworden? Welche Rolle spielt bei solchen Prozessen Street Art? 1 Der Aufruf auf der Facebook-Seite der Gruppe „mafish gudran“ (no walls): http://www.facebook. com/events/221569857941280/ (Stand: 05/2013).

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1: Bei Facebook veröffentlichtes Foto ägyptischer Aktivisten.

Plätze

Aufgrund der repressiven Praxen des Sicherheitsapparates des Mubarak-Regimes sowie des Notstandsgesetzes in den letzten 30 Jahren war den Ägyptern der Zugang zum öffentlichen Raum weitestgehend versperrt. In den letzten Jahren vor der Revolution begannen jedoch verschiedene Demokratiebewegung wie „Kifaya“ oder „6. April“ damit, sich den öffentlichen Raum partiell anzueignen. Oft waren internationale Ereignisse, wie der zweite Golfkrieg oder der israelische Angriff auf Gaza, der Auslöser dieser Proteste; indirekt drückte sich darin jedoch immer auch eine Kritik an der eigenen Regierung aus. All diese Protestformen können retrospektivisch als vorbereitende „Übung“ in der Mobilisierung und Organisation von großen Demonstrationen betrachtet werden. Seit dem 25. Januar 2011 haben bestimmte Plätze und Straßen in Ägypten durch die historischen Ereignisse der Revolution neue Bedeutungen bekommen. Der prominenteste dieser Plätze ist der Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) im Zentrum von Kairo. Aufgrund seiner Größe war es möglich, dass am 25. Januar 2011 Hunderttausende sich auf ihm versammelten und so gemeinsam den Sicherheitskräften des Regimes trotzen konnten. 18 Tage lang demonstrierten Frauen und Männer aller Schichten, Religionen und Altersstufen bis zum Sturz des Regimes am 11. Februar.

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Bereits am „Freitag des Zorns“, dem 28. Januar, lag der Polizeiapparat nach heftigen Schlachten am Boden.2 Diese Kämpfe fanden auch in anderen Städten Ägyptens statt. Wichtige Schauplätze waren der Arbeen-Platz in Suez und der Qaid-IbrahimPlatz in Alexandria. Der Sieg der Demonstranten gegen Mubaraks Sicherheitskräfte gelang zuerst in Suez, dann in Alexandria, zum Schluss in Kairo. Suez hat eine lange Widerstandstradition gegen den britischen Kolonialismus sowie im Kontext israelischer Angriffe. Auch in Kairo ereigneten sich die Kämpfe nicht nur auf dem Tahrir, sondern ebenso in anderen Stadtteilen. Aber der Tahrir-Platz bleibt dennoch der zentrale Platz der Revolution. Der im 19. Jahrhundert erbaute Platz erlebte im frühen 20. Jahrhundert antikoloniale Protestdemonstrationen,3 die ihm nach der Unabhängigkeit Ägyptens 1954 seinen neuen Namen „Platz der Befreiung“ gaben. Nach den 18 Tagen in 2011 gewann der Platz eine neue Dimension der Befreiung. Seine Symbolik wird auch als globale Referenz für politischen Widerstand und Demokratisierungsbestrebungen verstanden.4 In diesen 18 Tagen auf dem Tahrir erfuhren die Ägypter, dass Realität verändert werden kann, dass der Traum der Revolution („The People Demand“) den Albtraum des Regimes überschreiben kann. Auf dem Platz bildete sich eine selbstorganisierte Gesellschaft, die kreativ für Sicherheit, Sauberkeit, Information, Kommunikation, medizinische Versorgung, Kindergärten, Kunst und Unterhaltung sorgte. Tahrir ist zu einer Idee geworden, die über den materiellen Platz hinausgeht. So spricht man beispielsweise von der „Legitimation des Tahrir“ oder vom „Geist des Tahrir“. Sätze wie „Diese Partei leitet ihre Legitimation vom Tahrir ab“, „Wir kehren auf den Tahrir zurück, wenn die Regierung nichts tut“, „Das ist nicht mehr der Spirit von Tahrir“ drücken diese Raumerweiterung aus.5 Eine immense Zahl an Büchern, literarischen Texten, Blogs, Gedichten und Liedern, Dokumentaren, Video-Kollagen thematisieren den Platz, der zu einem öffentlichen Raum für Politik, Aktivismus und Kunst geworden ist. Für diese Transformation des öffentlichen Raums steht der Tahrir, auf dem eine fundamentale physische Erfahrung mit 2 Vgl. Wael Mohamad Saad Ahmad: Midan al-Tahrir, Kairo 2011, S. 49ff. und Ibrahim Abdel Magid: Ayam al-Tahrir, Kairo 2011, S. 144ff. 3 Zu den Protesten von 1919 auf den öffentlichen Plätzen in Kairo vgl. Ziad Fahmy: Ordinary Egyptians, Stanford, Ca. 2011, S. 134–166. 4 Eine persönliche Tagebucheintragung zu der Erfahrung der 18 Tagen auf dem Tahrir verfasste der Schriftsteller Ibrahim Abdel Magid: Die Tahrir-Tage, Kairo 2011. Vgl. auch Hisham al-Khishin: Sieben Tage auf dem Tahrir, Kairo 2011. 5 Naira Antoun: The Battle of Public Space, Ahram Online, 23.12.2012, http://english.ahram.org. eg/NewsContent/1/114/32336/Egypt/-January-Revolution-continues/The-battle-for-public-spaceSquares-and-streets-of.aspx (Stand: 03/2012).

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Raum und Macht und der Überwindung dieser Macht stattgefunden hat.6 Weitere Plätze in Ägypten haben durch andere Auseinandersetzungen und Erfahrungen neue Bedeutung gewonnen. Vor allem die Übergriffe des Militärs auf Protestierende nach der Revolution bekamen die Namen von Plätzen und Straßen, auf denen sie stattfanden. Der Mustafa-Mahmud-Platz und der AbbasiyahPlatz in Kairo wurden im Laufe der Ereignisse zu Gegenentwürfen des Tahrir-Platzes; sie stehen für die Konterrevolution. Während der 18 Tage kam es immer wieder zu Pro-MubarakDemonstrationen auf dem Mustafa-MahmudPlatz. Es waren meistens nur Hunderte, die Mubaraks Bilder hochhielten. Wenige Monate nach der Revolution marschierten Demonstranten vom Tahrir in Richtung des Verteidi2: Graffiti der Aktivisten-Ikone Mina Danial. gungsministeriums in Abbasiyah, um gegen den SCAF zu protestieren. Schlägertruppen des Regimes attackierten die Demonstranten, auch Bürger des Viertels griffen die Protestierenden an.7 Seit diesem Ereignis versammelten sich immer auf dem Abbasiyah-Platz Pro-SCAF-Demonstranten; Abbasiyah bekam eine Gegenbedeutung zu Tahrir. Später gab es allerdings Bürgerinitiativen, die auf den Plätzen Mustafa Mahmud und Abbasiyah ihre Solidarität für die Revolution zeigten, um so die Konnotation der Konterrevolution wieder aufzuheben. Nach wiederholten Übergriffen auf christliche Einrichtungen und der Zerstörung mehrerer Kirchen demonstrierten Kopten immer wieder vor dem Fernsehgebäude an der Nil-Promonade, bekannt als Maspero und nur einen kurzen Fußweg vom Tahrir entfernt. Der Höhepunkt dieser Proteste war am 11. Oktober 2011, nachdem eine islamistisch motivierte Gruppe eine Kirche in Asswan niedergebrannt hatte. Die Armee ging massiv gegen die koptischen Demonstranten in Maspero 6 Die Konfrontation zwischen der Polizeigewalt und Demonstranten zeigte sich hier auch auf einer performativen Ebene. Vgl. dazu Jeffry C. Alexander: Performative Revolution in Egypt, London 2011, S. 46ff. 7 Vgl. Sherif Younis: Pfade der Revolution, Kairo 2012, S. 167–170.

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vor. Gepanzerte Militärfahrzeuge fuhren schnell in die Masse und überrollten die Menschen.8 Das Ergebnis waren 28 Tote, darunter 26 Kopten und etwa 321 Verletzte. Maspero bezeichnet seit diesem Ereignis nicht mehr nur den Platz oder die im Fernsehgebäude ansässigen Staatsmedien, sondern das Vorgehen des Militärs gegen Proteste und steht für staatlich verantwortete Verbrechen gegen Christen. Die Bezeichnung dient auch zur Markierung einer Zäsur: etwa vor oder nach Maspero. Spätestens an diesem Zeitpunkt wendete sich die Stimmung gegen das Militär. Einer der Ermordeten in Maspero ist Mina Danial, ein junger Aktivist, der in revolutionären Kreisen bekannt war. Mina wurde zu einer Ikone des Widerstands gegen den SCAF, aber auch für koptischen Widerstand gegen Diskriminierung.9 ◊ Abb. 2 Am 19. November eskalierte die Situation zwischen Armee und Protestierenden, die nach der angekündigten Freitagsdemonstration länger auf dem TahrirPlatz blieben, erneut. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Nähe der Muhammad-Mahmud-Straße, die vom Tahrir-Platz zum Innenministerium führt. Die Schlachten dauerten mehrere Tagen und hatten Dutzende von Toten und Hunderte von Verletzten zur Folge. Polizisten zielten auf die Augen der Demonstranten, so dass einige erblindeten. „Muhammad Mahmud“ bezeichnet in diesem Sinne eine weitere Zäsur im Verlauf des Widerstands gegen den SCAF. Heute ist diese Straße übersät mit Spuren und Erinnerungen des Widerstandes: Die Wände sind mit Revolutionsgraffiti bedeckt, ein gefälschtes Straßenschild „Augen der Freiheit Str.“ war aufgestellt worden und die (Alb-)Traum-Mauer war errichtet worden. Mitte Dezember kam es auch zu ähnlichen Auseinandersetzungen auf einer Verbindungsstraße zwischen dem Tahrir-Platz und dem Gebäude des Kabinetts oder – auf Arabisch – Maglis al-Wuzara. Diese Konfrontationen, bei denen auch Dutzende zu Tode kamen, wurden als die Ereignisse von Maglis al-Wuzara bekannt. Auch hier entstand eine neue Widerstandsfigur, die zu einer der Ikonen der Revolution wurde. Eine protestierende Frau wurde von Soldaten geschlagen und über den Boden gezerrt. Während ihr Oberkörper bis auf ihren BH entblößt war, traten Soldaten auf sie ein. Nachdem Videoaufnahmen und Fotos dieses Angriffs in den Medien zirkulierten, wurde daraus ein öffentlicher Fall, der im Westen als „blauer BH“ bekannt wurde. 8 Bericht der Untersuchungskommission des ägyptischen Nationalrats für Menschenrechte, in: alShorouk, Tagszeitung, Kairo, 2. November 2011. 9 Vgl. Sherif al-Shoubashi: Die Zukunft Ägyptens nach der Revolution, Kairo 2011, S. 167–181 und Younis (vgl. Anm. 7), S. 189–196.

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Alle diese Kämpfe um Macht und um Raumbeherrschung, beginnend mit den 18 Tagen auf dem Tahrir, verwandelten öffentliche Plätze in Namensgeber von Zäsuren. Diese Machtkämpfe markieren 3: Graffiti des getöteten jungen Bloggers Khalid Said. die geografischen Plätze und bilden eine räumliche Topografie der Revolution. Sie markieren ebenso den menschlichen Körper, der durch Tod, Verletzung, Erblindung, Entblößung und Erniedrigung selbst zum Ort dieser Kämpfe wird und als Erweiterung des Raumes begriffen werden kann. Diese Markierungen werden wiederum durch Medien, Kunst, Graffiti und Performanz ikonografisch verarbeitet. Sie bekommen ihre eigene Logik und Dynamik im Kontext der Revolution. Die Erinnerung an die Gewalt gegen Demonstranten und an die Toten der Revolution auf bestimmten Plätzen und Straßen in der Kairoer Stadtmitte, die persönlich überlieferten Geschichten darüber und das Wachhalten dieser Erinnerungen durch visuelle und performative Aktionen produzieren den Raum10 immer wieder neu und unterstreichen die Legitimation dieses Raums als Ort des Widerstands, „weil hier andere für die Ziele der Revolution starben“. Ikonen

Die erste Ikone der Revolution ist das Porträt des von Polizisten auf offener Straße gefolterten und getöteten jungen Bloggers Khalid Said aus Alexandria. ◊ Abb. 3 Die Facebook-Seite „Wir alle sind Khalid Said“ war eine der aktivsten Internetplattformen, die zur Revolution aufriefen, und erreichte bis zum 25. Januar 2011 mehr als eine halbe Million Teilnehmer. Die Fotos von Khalid Said vor und nach seiner Verstümmelung, sein junges Gesicht, seine Geschichte, mit der sich viele junge Menschen identifizieren können, machten aus ihm eine Ikone des Zorns. Der brasilianischer Karikaturistin Carlos Latuff zeichnete ihn als kräftigen jungen Riesen, der auf seinem T-Shirt den 25. Januar ankündigt und Mubarak – in Form einer hässlichen, alten Puppe dargestellt – am Kragen packt. Diese Zeichnung zirkulierte vor dem 25. Januar überall und war Teil der Aufrufe zu Protesten. ◊ Abb. 4 10 Hier wird der Raum nicht als klar definiertes geografisches Territorium oder als Naturraum (Container), sondern als durch soziale Praxen produzierter sozialer Raum begriffen. Vgl. dazu Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums. In: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie, Frankfurt a. M. 2006, hier S. 330–342, und – im selben Band – Michel de Certeau: Praktiken im Raum, S.343–353.

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Vor der Revolution war Graffiti in Ägypten kaum verbreitet und wurde als rebellische Kunstform vom Staat bekämpft.11 Mittlerweile ist die vergängliche Straßenkunst sehr beliebt geworden und zieht immer mehr Künstler sowie politische Aktivisten an.12 Die Motive bilden Symbole und Sprüche der Revolution und vor allem Porträts von Frauen und Männern, die während der 4: Karikatur von Carlos Latuff mit Khalid Said, der Revolution oder im Widerstand gegen den SCAF Mubarak am Kragen packt. ihr Leben verloren haben. ◊ Abb. 5 Diese neue Form der Erinnerung an die „Märtyrer der Revolution“ ist eine säkulare, schlichte und oft minimalistische Form des künstlerischen Ausdrucks. Die mithilfe von Stencils erstellten Graffiti entwickelten sich weiter zu einem komplexen System aus Zitaten aus anderen Kunstwerken und Verweisen auf öffentliche Figuren oder Film- und Theaterfiguren, die bestimmte Bedeutungen und Haltungen evozieren. Verbreitete Sprüche lauten etwa „Res- 5: Die Motive reichen von Symbolen und Sprüchen der Revolution bis zu Porträts von Frauen und Männern, die pect Existence or Expect Resistance“ oder „Wenn während der Revolution oder im Widerstand gegen den du nicht Teil der Lösung bist, so bist du Teil des SCAF ihr Leben verloren haben. Problems“. Ein anderes Motiv bildete die direkte Kritik am Militärrat oder an Präsident Mursi. Ende des Jahres 2011 gab es eine Aktion unter dem Titel Mad Graffiti Week, die durch das Internet Künstler überall auf der Welt erreichte. In Berlin nahmen ägyptische und deutsche AktivistInnen teil.13 Später entstanden andere Aktionen wie Bemalt alle ägyptische Straßen. Heute bilden nicht nur die Wände in Kairo und Alexandria Ausstellungsflächen für „Revolutionsgraffiti“, sondern auch die Wände anderer Städte bis Luxor und Asswan im Süden. Bilder, Fotografien, Kollagen und Zeichnungen, die kreativ am Bildschirm verarbeitet werden und durch die sozialen Netzwerke verbreitet werden, interagieren mit den Graffiti auf der Straße, die wiederum von 11 Im Film Mikrophone von Ende 2010 wird eine Graffiti-Künstlerszene in Alexandria thematisiert. 12 Vgl. dazu Ahmad Nagy: Es lebe die vergängliche Kunst. In: Akhbar al-Adab, Nr. 943, 21.08.2011. 13 Facebook-Gruppe „Mad Graffiti Week (Berlin)“, http://www.facebook.com/MadGraffitiWeekBerlin (Stand: 05/2013).

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einem breiten Publikum rezipiert wird. Diese Kunst ist zwar vergänglich, dafür aber sehr dynamisch und lebendig. Sie reagiert immer wieder kritisch auf neue Ereignisse und stilisiert komplexe, gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge in Form von ikonografischen Kunstobjekten. Die permanenten Verweise, 6: Erweiterung der Karikatur in Abbildung 4 um einen Mina Danial, der Verteidigungsminister Zitate, Überlagerungen und Überschreibungen dieser Tantawi hält. Ikonen der Revolution bilden ein Bildsystem, das nicht als Hilfsmittel zum Verständnis der realen Welt zu begreifen ist, sondern ein System mit einer eigenen Logik und Dynamik darstellt. Der vom Militär in Maspero ermordete junge revolutionäre Kopte Mina Danial wurde zu einer beliebten Ikone der Revolution. Er steht für die Partizipation der Christen am Widerstand und für die Brutalität des Militärs. Mina Danial wurde in verschiedenen Graffiti-Variationen porträtiert, mal als Che Guevara, mal als Jesus stilisiert. Die Zeichnung, bei der Khalid Said Mubarak am Kragen packt, erweiterte Carlos Latuff um einen Mina Danial, der Verteidigungsminister Tantawi am Kragen packt. ◊ Abb. 6 In der Regierungszeit von Mursi wurde der 16-jährige Aktivist Gaber Salah (Rufname Jika) Ende 7: Die Zeichnung zeigt Jika als Held, der Präsident Mursi verjagt. 2012 von der Polizei bei einer Demonstration erschossen. Auch Jika wurde zum Symbol des Widerstands gegen die neuen Machthabern, die Muslimbrüdern. Auf einer Zeichnung erscheint Jika als ein Held, der mit seiner riesigen Hand Präsident Mursi verjagt. ◊ Abb. 7 Die drei Zeichnungen etablieren somit eine ikonografische Tradition in der ägyptischen Ästhetik des Widerstands. Auch der Aktivist, Blogger und Menschenrechtler Alaa Abdel Hady wurde nach Maspero vom Militär inhaftiert. Ihm wurde vorgeworfen, er habe bei Maspero eine aktive Rolle gespielt, die zu den Unruhen führte. Alaa lehnte es ab, vor einem Militärgericht auszusagen, weil dieses für Zivilisten nicht zuständig sei. Seine Haltung verschaffte ihm hohen Respekt. Im Zusammenhang mit der Bewegung „Keine Militärgerichte für Zivilisten“ wird Alaa in Graffitis als Ikone des Widerstandes gegen den SCAF porträtiert. ◊ Abb. 8

Macht, Raum und Ikonen

Der Zahnarzt Ahmad Harara ist der promi­ nen­teste Fall unter jenen Demonstranten, die durch Schüsse der Polizei erblindeten. ◊ Abb. 9 Er verlor bei den Straßenkämpfen am 28. Januar 2011 („Freitag des Zorns“) ein Auge und am 19. November bei den Auseinandersetzungen von Muhammad Mahmud das zweite Auge, ebenfalls durch Schüsse von Sicherheitskräften. Er wurde daraufhin zu einer öffentlichen Figur der Revolution und des ständigen Widerstands. Seine Geschichte wurde in Stencils verarbeitet, die ihn mit abgedeckten Augen, auf denen Datumsangaben stehen, porträtieren: auf dem einem Auge „28.01.“, auf dem anderen „19.11.“. Verse aus dem Gedicht Keine Versöhnung des Dichters Amal Donkol wurden auch kaligrafisch mit seinem Porträt verarbeitet. Aktivisten tragen Masken nach seinem Porträt mit den datierten abgedeckten Augen. In einer Street-Art-Aktion wurde ein Auge eines der riesigen Bronze-Löwen auf der Brücke Qasr an-Nil, die den Tahrir-Platz mit Zamalik verbindet, mit Pflasterstreifen zugeklebt. Auch nach dem Porträt von Khalid Said wurden Masken gefertigt, die auf Demonstrationen getragen werden. Die berühmte Guy-Fawkes-Maske fand ebenso ihren Weg auf die ägyptischen Demonstrationen und dient auch als ein Graffiti-Motiv. Ein weiteres Thema der Graffiti-Kunst in Ägypten ist der Umgang der Öffentlichkeit mit dem Frauenkörper. ◊ Abb. 10 In einer von Debatten über den Körper der Frau überladenen Öffentlichkeit unternahm die 20-jährige Aktivistin Alyaa al-Mahdy eine provokative Aktion, indem sie ihre eigenen Aktfotos auf ihren privaten Blog hochlud und dazu schrieb:

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8: Porträt Alaas als Ikone des Widerstands gegen den SCAF in Zusammenhang mit der Bewegung "Keine Militärgerichte für Zivilisten".

9: Graffiti des Zahnarztes Ahmad Harara, der durch Schüsse der Polizei erblindete.

10: Graffiti zum Umgang der Öffentlichkeit mit dem Frauenkörper.

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Atef Botros

„Put on trial the artists’ models who posed nude for art schools until the early 70s, hide the art books and destroy the nude statues of antiquity, then undress and stand before a mirror and burn your bodies that you despise to forever rid yourselves of your sexual hangups before you direct your humiliation and chauvinism and dare to try to deny me my freedom of expression.“ 14

Millionen griffen auf die ein Tabu brechende Seite zu. Die Aktion wurde zu einem viel und erregt diskutierten Thema der Öffentlichkeit. Auf einem Straßengraffiti skandalisiert ein Künstler den Umgang mit dem Fall Alyaa, indem er ihren Fall mit dem von Samira Ibrahim vergleicht, die das Militär wegen eines im März 2011 an ihr durchgeführten „Jungfräulichkeitstests“ verklagte. Das Graffiti kritisiert die fehlende Solidarität und öffentliche Aufmerksamkeit im Falle Samira Ibrahims und kontrastiert dies mit der massiven Aufmerksamkeit, die Alyaa widerfuhr, die freiwillig ihre Aktfotos veröffentliche. Dieses Graffiti thematisiert auf eine komplexe Art die physischen und diskursiven Gewaltakte, die sich gegen den Frauenkörper richten und den Umgang der Öffentlichkeit damit. Die Aggression des Militärs gegen Frauen zeigte sich in den „Jungfräulichkeitstests“ vom März 2011, im sogenannten Fall „Blauer BH“ sowie in vielen weiteren Akten sexualisierter Gewalt, welche die Vertreibung der Frauen aus dem öffentlichen Raum zum Ziel haben. Auch bei den Protesten von Ende 2012 bis Anfang 2013 kam es zu gezielter, sexualisierter Gewalt und zu Übergriffen gegen Frauen. Als Reaktion auf diese Angriffe sowie auf widerholte frauenfeindliche Äußerungen islamistischer Politikern entstand eine neue feministische Widerstandswelle. Mehrere Gruppen und Initiativen wie Foada Watch, Op Anti-Sexual Harassment/Assault, Die Frauen-Revolution, Die Stimme der Frau ist eine Revolution oder Aufstand der arabischen Frau organisierten sich gegen die neue Herausforderungen. ◊ Abb. 11 Der Widerstand gegen gezielte Marginalisierung der Frauen im öffentlichen Leben drückt sich auch durch den Einsatz von riesigen Bannern mit Porträts von Künstlerinnen und Filmschauspielerinnen aus älterer Zeit aus, welche die Präsenz von Frauen im öffentlichen Leben beschwören.

14 Übersetzung von Mona Eltahawy: Egypt’s naked blogger is a bomb aimed at the patriarchs in our minds. In: Guardian, 18. November 2011, http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/nov/18/ egypt-naked-blogger-aliaa-mahdy (Stand: 03/2012).

Macht, Raum und Ikonen

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Transformation

Diese neuen Formen der Street Art sind neben Demonstrationen und anderen herkömmlicheren Formen des politischen Aktivismus Teil des Kampfes um die Aneignung des öffentlichen Raumes. Dabei finden Austausch- und Verweisungsprozesse zwischen verschiedenen Sphären statt, die oft nicht klar voneinander trennbar sind. Personen und Ereignisse der Revolution werden zu Ikonen des Widerstands stilisiert, deren Verbreitung im virtuellen Raum stattfin- 11: Gruppen und Initiativen, die sich zum Kampf für Frauenrechte organisieren. det. Der Weg dieser Ikonen führt aber aus der virtuellen Sphäre auch auf die Straße, wo diese Ikonen wieder Teil des materiellen Kampfes und der Auseinandersetzung mit der Macht werden und dazu beitragen, dass junge rebellische Menschen sich den öffentlichen Raum aktiv aneignen und ihren Widerstand gegen die Macht dort zeigen. Die Graffiti auf den Wänden werden fotografiert, oft von den KünstlerInnen selbst, die ihre Arbeiten dokumentieren, dann ins Netz stellen und zirkulieren lassen. Das Internet als globale Plattform für Street Art dient auch einem unglaublich schnellen internationalen Austausch. Einige der Graffiti-Motive, vor allem der Anfangsphase, stammten von westlichen Künstlern wie dem britischen Straßenkünstler Bunksy, dessen Bilder übernommen, partiell zitiert und modifiziert wurden. Die Stencils der ägyptischen Revolution fließen wiederum ins Netz und werden von Aktivisten und Künstlern in Berlin, New York und London wieder in Schablonen umgewandelt und auf die Wände gesprüht. Im ägyptischen öffentlichen Raum sind Ikonen der Revolution Ausdruck einer neuen Welt, einer neuen Widerstandskultur. Die Sprache dieser Ikonen ist eine selbstständige Sprache, die den öffentlichen Raum definiert und territorial markiert. Radikaler ausgedrückt: Die Ikonen der Revolution in all ihren Varianten visualisieren nicht nur die Revolution. Vielmehr konstituieren sie sie neben anderen Formen und Modi des Widerstands. Seit dem 25. Januar 2011 befindet sich der öffentliche Raum Ägyptens in einem komplexen Transformationsprozess, in dessen Verlauf Plätze und Straßen zu Schaubühnen politischer Kämpfe zwischen der Widerstandsbewegung und der staatlichen Macht und zum ersten Mal zugänglich für facettenreichen künstlerischen Aktivismus wurden. Dabei verwandeln sich die Plätze in bedeutungsbeladene Zäsuren in der Geschichte des Widerstands. Die Entwicklung revolutionärer Straßenkunst

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dokumentiert nicht nur diese Transformation, sondern macht sie auch aus. Zu diesem neuen Aktivismus im öffentlichen Raum gehören weitere Aktionen wie die monatliche Aktion al-Fan Midan „Die Kunst ist ein Platz“ auf dem Abdeen-Platz in der Kairoer Stadtmitte, wo z. B. Straßenkünstler, Musiker, Rapper zusammenkommen. Auch die 12: Graffiti am Tahrir-Platz mit den Gesichtern von Mubarak, Widerstandsbewegung Kazibun (Lügner) Tantawi und dem Muslimbrüder-Führer Badia. gegen den SCAF entstand nach Maspero und führte überall öffentliche Aktionen durch, mit denen sie die wirklichkeitsverzerrende Berichterstattung des Militärs und der dazu gehörigen Medien skandalisierten. Auf öffentlichen Straßen und Plätzen projizierten sie kritisches Bild- und Videomaterial, Dokumentationen, Interviews und verglichen dieses mit den Aussagen der regimetreuen Medien. Mit diesem Ansatz ist es ihnen gelungen, Menschen ohne Internetzugang mit Informationen zu versorgen und mit ihnen zu diskutieren. Auch diese Form des Aktivismus ist ein Teil des Transformationsprozesses des öffentlichen Raums und war vor dem 25. Januar nicht denkbar. Seitdem die Muslimbrüder an die Macht gekommen sind, richtet sich die Bewegung Kazibun gegen die neuen Machthaber und hat sich in „lügende Brüder“ umbenannt. Künstler, Aktivisten, Demonstranten malen weiterhin ihren Traum im öffentlichen Raum. Es ist immer noch der Traum der Revolution: Brot, Freiheit, Gerechtigkeit und Würde. Der Albtraum dagegen hat verschiedenen Namen: Mubarak, Polizeistaat, SCAF oder die neue islamistische politische Macht, die mit allen Mitteln versuchen ein Machtmonopol auszubauen. Künstler erkannten schnell, dass autoritäre Machthaber nur unterschiedliche Gesichter haben, sich jedoch inhaltlich kaum unterscheiden. Etwa drei Monate nach Beginn der Regierungszeit von Präsident Mursi entstand ein sehr aussagekräftiges Graffiti am Tahrir-Platz, bei dem die drei Gesichter von Mubarak, Tantawi und dem Muslimbrüder-Führer Badia hintereinander dargestellt werden. ◊ Abb. 12, Tafel 2 Die Erfahrung mit einem autoritären Staat ist noch nicht abgeschlossen und die Kämpfe für Leben, Freiheit, Gerechtigkeit und Würde in Ägypten werden uns noch lange beschäftigen.

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„Indignati, guerriglia black bloc“. Zur Farbenlehre des Versammlungsrechts Keine Art der öffentlichen Versammlung hat durch ihre radikale Form mehr Wirkung entfaltet als der Schwarze Block. Formkritisch gesehen, verweist der anonymisierende, dissoziative und destruktive Charakter des hier angelegten Monochromen auf ein spezifisches Postulat der Ungegenständlichkeit. So hatte Kazimir Malevich sein Schwarzes Quadrat (1915) ◊ Abb.1 als ein „lebendiges Wesen“ bezeichnet, das die Grundlage einer revolutionären Umgestaltung der ästhetischen Ordnung bilden sollte und in der Annihilierung und „Null-Form“ vernichtende Wirkkraft entfaltet.1 Mit dem „Sacco di Roma“ wurden so auch die durch einen black bloc provozierten gewaltsamen Ausschreitungen eines Protestzuges der „indignati“ (der Empörten) in der italienischen Hauptstadt am 15. Oktober 2011 verglichen.2 Inmitten der von parteilosen Aktivisten aufgerufenen Großdemonstration mit über 200.000 Demonstranten hatte sich eine Gruppe von 500 schwarz vermummten Kapuzenträgern der Masse bemächtigt, um sie ins Chaos zu stürzen. Die Innenstadt Roms glich bald darauf einem Schlachtfeld. Der black bloc italiano ist seit den Protesten von Genua 2001, die sich gegen den G8-Gipfel gerichtet hatten, ein umstrittener Teil der Anti-Globalisierungsbewegung.3 Die Bereitschaft der versammelten, unterschiedlich Motivierten, als ein schwarzgekleideter Menschenblock die staatlich organisierte Polizeigewalt zu bekämpfen, hatte in Genua zu heftigen Auseinandersetzungen mit Todesfolge geführt. Wie die Fotoserie eines Reuters-Fotografen zeigte, war der 23-jährige Carlo Giuliani mit einem Kopfschuss getötet worden, nachdem er sich mit einer über den Kopf gezogenen Balaclava und einem Feuerlöscher in den Händen einem Jeep genähert hatte, aus dem ein Carabiniere mit der Waffe auf ihn zielte.4 ◊ Abb.2 Umstritten war in Genua die Frage nach den Provokateuren: So wurden die linken Parteien zur Verantwortung gezogen, da die meisten der Mitläufer des black bloc aus deren Reihen zu kommen schienen. Anhänger von rechten Parteien und Gruppierungen wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, schwarzgekleidete, gewaltbereite 1 Aage A. Hansen-Löve: Der Suprematismus oder die Quadratur des Nichts. In: Hubertus Gassner (Hg.): Das Schwarze Quadrat. Hommage an Malewitch, Ostfildern 2007, S. 192–200. 2 Seit Mai 2011 protestierten Hunderttausende friedlich gegen die europäische Finanzkrise und den wirtschaftlichen Bankrott ihrer Staaten, erst in 58 Städten Spaniens, dann in ganz Europa. 3 Antigoni Memou: ‘When It Bleeds, It Leads’: Death and Press Photography in the Anti-Capitalist Protests in Genoa 2001. In: Third Text. Volume 24, Issue 3, 2010, S. 341–351. Zur Medialisierung des G8-Gipfeltreffens und der eskalierten Proteste in Genua siehe Donatella Della Porta und Lorenzo Mosca: Global-Net for Global Movements? A Network of Networks for a Movement of Movements. In: Journal of Public Policy, Vol. 25, No. 1, 2005, S. 165–190. 4 Verantwortlich für Giulianis Tod war der 20-jährige Carabiniere Mario Placanica, der sich auf Notwehr berief. Das Strafverfahren wurde im Mai 2003 eingestellt.

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1: Kazimir Malevich: Schwarzes Quadrat, 1915, Tretjakowagalerie, Moskau.

2: Carlo Guiliani mit Feuerlöscher, 20.07.2001, Genua.

Schlägertrupps in die Gruppen der Protestierenden infiltriert zu haben. Wie sich in späteren Polizeiberichten und zahlreichen Amateurvideos herausstellen sollte, hatten sich tatsächlich Mitglieder von rechtsradikalen Vereinigungen wie der Fronte Nazionale oder der Lega Nord als Autonome schwarz maskiert, um – von einigen Polizisten gedeckt – die Gewalt zu einem Höhepunkt zu treiben.5 Der black bloc als gewaltvolle Waffe des Politischen ist aufgrund dieser Ereignisse in Italien ein höchst sensibles Diskussionsfeld, das versammlungsrechtlichen Debatten in anderen Ländern jedoch nicht allzu fern ist. So stehen sich hier die Versammlungsfreiheit und das Uniform-, Vermummungs- und Militanzverbot diametral gegenüber.6 Die Form eines rechts- oder linksmotivierten black bloc hat eine gemeinsame, das Versammlungsrecht angreifende Grundlage: Durch die kollektive Uniformisierung und Maskierung wirkt er gewaltbereit und einschüchternd und macht eine Identifizierung der Versammlungsteilnehmer unmöglich.7 Aussagekräftige Bilder des römischen Straßenkampfes im Oktober 2011, die diese Bedrohung der rechtlichen Ordnung ins Bild setzten, waren so für die Presse schnell gefunden: der drohend aufmarschierende black bloc, ◊ Abb. 3, Tafel 3 brennende Autos, zerschlagene Fensterscheiben und ikonoklastische Motive wie eine auf

5 Das rechte Parteienbündnis Casa delle Libertà um Silvio Berlusconi soll ein Interesse an den Eskalationen gehabt haben, um die linken Parteien vor den im gleichen Jahr stattfindenden Wahlen zu verunglimpfen. Das Bündnis gewann die Wahlen. Siehe Della Porta, Mosca (s. Anm. 3), S. 188. 6 Zu den versammlungsrechtlichen Konsequenzen, siehe Maria Limmer: Rechtliche Grenzen der Einschüchterung im Versammlungsrecht am Beispiel von „Skinheadaufmarsch“ und „Schwarzem Block“, Frankfurt a. M. 2010. 7 Diese Art der Einschüchterung der Bürger durch eine uniforme Versammlungsgestaltung verletzt § 130 StGB, da der öffentliche Friede gestört wird. Limmer (s. Anm. 6), S. 7. In Italien wurden 2011 mehr rechtsradikale black-bloc-Aktivisten gezählt als Linksradikale. Ein Vermummungsgebot für Personen im öffentlichen Raum gilt seit 1975.

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der Straße zersplitterte Marienstatue.8 Ein geläufiges Bildsujet des Protests stellten auch die Steinewerfer dar, die vereinzelt Gegenstände gegen die sich verschanzenden Polizisten schleuderten.9 Neben diesen bekannten Protest-Figurationen wurde die farbliche Differenzierung der Gruppen maßgeblich.10 In der medialen Rekonst- 3: Schwarzer Block, 15.10.2011, Rom. ruktion der Ausschreitungen verwiesen die Berichte wiederholt auf den Kontrast zwischen dem gewalttätigen Schwarzen Block und den bunt gekleideten, friedlichen Demonstranten. Das Schwarz der Anarchisten wurde als Negation des chromatischen Eigenwerts und dessen so freigesetzte Autonomie als eine die Ordnung gefährdende Tatsache gekennzeichnet. Aus Perspektive der im Block Kämpfenden war neben dem Effekt der Autonomisierung, die Geschlossenheit des Monochromen zentral, worüber sich eine handlungs- und widerstandsfähige Solidarität gegen die repressive Staatsmacht realisierte.11 Ein solch radikaler Ausschluss des Farblichen zugunsten des uniformen Zusammenhalts einer Gemeinschaft liegt der anti-sophistischen Kritik an farblicher Malerei zugrunde.12 Seit Aristoteles galt die Farbe in der Philosophie als negativ 8 Der Schwarze Block ist in der BRD seit den 1970er-Jahren für die Links-Autonomenszene bekannt, siehe Larissa Denk, Fabian Waibel: Vom Krawall zum Karneval. Zur Geschichte der Straßendemonstration und der Aneignung des öffentlichen Raumes. In: Klaus Schönberger, Ove Sutter (Hg.): „Kommt herunter, reiht euch ein!“ Kleine Geschichte der Protestformen sozialer Bewegungen, Berlin 2009, S. 41–72. Seit geraumer Zeit ist dieses Protestbild auch bei neonazistischen Gruppen in Europa zu beobachten, die Bezug auf die faschistischen Schwarzhemden nehmen. Siehe Jan Schedler: Style matters: Inszenierungspraxen ‚Autonomer Nationalisten‘. In: Jan Schedler, Alexander Häusler (Hg.): Autonome Nationalisten. Neonazismus in Bewegung, Wiesbaden 2011, S. 67–89. 9 Godehard Janzing: Bildstrategien asymmetrischer Gewaltkonflikte. In: kritische berichte, Heft 1, Jg. 33, 2005, S. 21–35. 10 Siehe Bernd Jürgen Warneken: Massenmedium Straße. Zur Kulturgeschichte der Demonstration, Frankfurt/New York 1991, und zuletzt Sabine Witt u.a. (Hg.): Demonstrationen. Vom Werden normativer Ordnungen, Ausstellungskatalog, Frankfurt a. M. 2011. 11 Siehe M. Baraghini (Hg.): Black Bloc. Cosa pensano le Tute Nere. Rom 2001. Aussagen wie diese finden sich in Web-Einträgen, wie z. B. im “Black bloc for dummies”, http://www.infoshop.org/ page/Blackbloc-Faq (Stand: 01/2012). 12 Aristoteles: Poetik, 1450a23, „Ethos“ bezieht sich bei Aristoteles auf den inneren guten oder schlechten Charakter des Dargestellten, im Gegensatz zum Pathos oder den Emotionen, die als Reaktionen auf äußere Bedingungen verstanden wurden. Siehe Jacqueline Lichtenstein: La couleur éloquente: rhétorique et peinture à l’âge classique, Paris 1989, S. 65–82; David Batchelor: Chromophobia, London 2000, S. 29–32.

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beeinflussbar und effektheischend und im Gegensatz dazu die schwarz-weiße Zeichnung dem Wahrheitsgehalt des Dargestellten näher. Aristoteles zufolge malten Künstler wie Polygnotos, der als ethographos galt, ethischer als Zeuxis, der sich koloristischer Effekte bediente, oder auch als Apelles, der die Technik des raffinierten Verschleierns perfekt beherrschte.13 Dabei standen die Künste für den Sophisten, und jeder mit Farbe arbeitende Künstler oder Handwerker entfernte sich von der Idee des ethos, da er mit verformbaren Bildern die Stabilität der gesellschaftlichen Bedingungen und ihre sie regelnden Gesetze zu verwischen drohte. Manlio Brusatin beschrieb diese Farbphobie der Philosophen 4: la lanterne noir, Juli-August 1974, Paris. und ihr Misstrauen gegenüber ihrem Wirklichkeitsbezug folglich, dass für sie die Farben nicht die Wirklichkeit der Körper oder das Lebende darstellten, sondern vielmehr den Reflex einer Abstraktion der Natur und somit Figuren des Künstlichen im Natürlichen seien.14 Begreift man die Farbgebung hiernach als Figur, so stehen sich im Straßenkampf der individualistische Eigensinn der Buntheit und das gemeinschaftliche Ethos des Schwarzen diametral gegenüber. Mehr noch: Wie eine „schwarze Sonne“, die via negationis alle hellen Farben ins Licht setzt, aktiviert das Schwarz die individuelle Körperhaftigkeit, aber auch die Relativität der Buntwerte, um sich selbst als geschlossene Form zu präsentieren.15 Dies hat für die anarchistischen Bewegungen eine gewisse Tradition. Die Pariser Kommunardin Louise Michel trug 1883 als Zeichen der Anarchie eine schwarze Fahne auf den Demonstrationen der Commune und rief dabei zur Zerstörung und Staatskritik auf.16 Hierauf verweist die im gleichen Jahr erschienene Zeitschrift Le Drapeau Noir, die die Farbe Schwarz als die gesellschaftliche Ordnung provozierende Negation im Titel trägt, um wie mit einem 13 Manlio Brusatin: Geschichte der Farben, Berlin 2003, S. 51. 14 Brusatin (s. Anm. 13), S. 52. 15 Robert Kudielka: Die schwarze Sonne. Beobachtungen zur Eigenart der Bildfarbe. In: Jakob Steinbrenner, Christoph Wagner, Oliver Jehle (Hg.): Farben in Kunst- und Geisteswissenschaften, Regensburg 2011, S. 23. 16 Eine überzeugende Kultur- und Symbolgeschichte der „Schwarzen Fahne“, die sowohl von linken als auch rechten Bewegungen verwendet wird, steht noch aus. In seiner Farbgeschichte vereinigt Pastoureau wenige assoziative Aspekte des Symbols, siehe Michel Pastoureau: Noir. Histoire d’une couleur, Paris 2008, S. 212–219.

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Brennglas die systembedingten Ungerechtigkeiten zu erhellen und Widerstand zu entzünden.17 Um ihrer anti-staatlichen und anti-autoritären Kritik Ausdruck zu verleihen, wählte auch die Redaktion der 1973 in Paris gedruckten anarchistischen Zeitschrift la lanterne noir eine das Licht absorbierende schwarze Laterne als Metapher ihrer publizistischen Tätigkeit: Aus der tiefschwarzen Quadratur stechen die weißen Titelbuchstaben leuchtend hervor.18 ◊ Abb.4 Dieser Effekt des schwarzen Lichts, das hier schablonenhaft die einzelnen Buchstaben in einen Kontrast setzt, um das eigene Erscheinungsbild zu formen, findet formale Entsprechung in den zu einem Schwarzen Block versammelten Straßenkämpfern, wie auch in den jüngsten Auftritten in der römischen Hauptstadt zu beobachten war. Um das antithetische Kalkül anarchistischer Farblogik zu brechen und den Zusammenhalt des Monochromen aufzulösen, der die gewalttätigen Handlungen schützt und zu anonymisieren sucht, konzentrierte sich die mediale Berichterstattung der römischen Ereignisse auf einzelne Personen, um damit das Individuelle der Gewalttaten freizustellen und die strafrechtliche Verfolgung zu unterstützen. Ein Bild erregte hier besondere Aufmerksamkeit: Es zeigt neben einem brennenden Auto einen jungen Mann mit schwarzem Mundschutz und entblößtem Oberkörper, der in athletischer Pose einen Feuerlöscher in Richtung Polizei und Fotografen schleudert.19 ◊ Abb.5, Tafel 4 Der frontale Angriff eines Vermummten mit rotem Feuerlöscher erinnerte an den Moment der Tötung Carlo Giulianis; hier wurde er jedoch nicht durch einen tödlichen Schuss aus der Pistole eines Carabiniere, sondern mit dem Abdrücken des bildproduzierenden Kameraauslösers beantwortet. Die Tageszeitung Il Giornale griff diese Fanalfigur als Hintergrund für selbsterstellte Fahndungsfotos auf und löste einzelne Personen aus Bildern des Schwarzen Blocks heraus.20 Die Gewalthandlungen der Masse und die rot umrahmte, strafrechtlich zu verfolgende individuelle Handlung wurden so in einem Bild miteinander kombiniert. ◊ Abb. 6 Die stark verpixelten Aufnahmen erschienen einen Tag nach den 17 Le Drapeau Noir. Organe Anarchiste (1883–1889). In seiner ersten Ausgabe kündigten die Herausgeber an: „Sous ce titre nous mettron devant les yeux les matières explosibles et inflammables les plus connues, les plus faciles à manipuler et à préparer.“ Siehe Paola Salerno: Anarchie, langue, société, Paris 2004, S. 151. 18 La lanterne noir. Revue Critique Anarchiste, No. 1, Juli-August 1974, hg. v. J.-T. Duteuil. 19 Es existieren zahlreiche sequenzielle Aufnahmen dieser Wurfszene im Internet. Siehe z. B. La Repubblica: http://www.repubblica.it/politica/2011/10/18/foto/sequenza_il_ragazzo_lancia_l_estintore -23419679/1/?ref=HRER1-1 (Stand: 04/2012). 20 Auch nach seinem Rücktritt am 16.11.2011, knapp einen Monat nach den römischen Protesten, gehören Berlusconi bzw. Mitgliedern seiner Familie weiterhin die rechtskonservativen Tageszeitungen Il Giornale (Aufl. 300.000), Il Foglio (13.000) und Libero (70.000).

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Unruhen ganzseitig auf der Titelseite. Unter dem Titel „Sono criminali“ rief ein kurzer Text zu einer Identifizierung derjenigen auf, die mutwillig privaten und öffentlichen Besitz zerstört hatten.21 Obgleich Gesichtsmasken oder dunkle Brillen die Identifizierung erschwerten, 5: „Er pelliccia“, 15.10.2011, Rom. wurden auf diese Weise individuelle Züge erkennbar gemacht, um die Gezeigten ihrer Taten zu überführen und öffentlich zu denunzieren.22 Diese so konstruierten „mug shots“, die zur Verbrechensbekämpfung als kriminalistisches Arbeitsmittel eingesetzt werden, sollten die Effektivität polizeilicher und journalistischer Arbeit demonstrieren, um Kontrolle und Sicherheit zu suggerieren. Der anonyme „Junge mit dem Feuerlöscher“, aufgrund seiner mähnenhaften Haare als „Er pelliccia“ („Der Pelz“) bezeichnet, wurde als Symbolfigur der Auseinandersetzungen 6: „Le facce dei violenti“, 15.10.2011, Rom. gewählt. Die spannungsvolle Konstruktion seiner Identität, die Aufschluss über die Motivation der Gewalt geben sollte, wurde zu einer Metapher der Konfliktbewältigung. Il Giornale druckte einen Tag später die „Auflösung“ der journalistischen Spürjagd und zeigte ihn ohne schützende Maske im viertelseitigen Titelfoto unter dem Satz „Guardate questa faccia“ („Schaut Euch dieses Gesicht an“). „Er pelliccia“, der nach dem Wurf triumphal beide Arme hochreißt, um mit der rechten Hand den Polizisten seinen ausgestreckten Mittelfinger zu zeigen, war hier mit 21 Il Giornale rief online unter dem Titel „Le facce dei violenti“ zur Mithilfe bei der Fahndung auf und rühmte sich einer erfolgreichen Beweisführung: „Abbiamo selezionato una a una le foto degli scontri di sabato scorso a Roma e abbiamo evidenziato tutti gli ‘incappucciati’ riconoscibili. Aiutateci a trovarne altre inviando le vostre foto“, siehe http://www.ilgiornale.it/fotogallery/le_facce_violenti/ id=3424-foto=1-slideshow=0 (Stand: 04/2012). 22 Diese Art des investigativen „Fahndungsjournalismus“ ist als ein unternehmerischer Wissenserwerb nicht problemorientiert, sondern konzentriert sich auf die schnelle Erfassung von Daten und Fakten, ohne Leit- und Gegeninformation kritisch zu prüfen.

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teuflischer Grimasse und löwenartigem Haar zu sehen.23 ◊  Abb.7 Die Ungestalt des verzogenen Gesichtes verlangte weitere Hinweise auf seine Identität und auf der veröffentlichten Fotografie wurden identifizierende Merkmale demonstrativ rot eingekreist. Besonders ein so markiertes, auf die Rippen geschriebenes Tattoo sollte „Er pelliccia“ überführen.24 Dieses 7: „mug shots“ des black bloc im Il Giornale, 18.10.2011. Ver- und Entbergen von Evidenz in den Fotografien bildete den Kern der „Hintergrundberichterstattung“. Da das Gesicht für die Verbrechensbekämpfung als polizeiliches und juristisch relevantes Erkennungsmerkmal gilt, stellte das vermummte Gesicht eine Metapher des Kriminellen dar, und die Enthüllung wurde zu einem Triumph der journalistischen Recher­ che­arbeit.25 Nach der Veröffentlichung der Bilder konnte „Er pelliccia“ als ein aus gutbürgerlichem Hause stammender, 24-jähriger Student einer Privatuniversität identifiziert werden, der sich kaum in ein politisch-motiviertes Lager ordnen ließ. Er bestritt vehement ein black bloc zu sein, die Ereignisse hätten ihn schlicht mitgerissen.26 Das Profil „Er pelliccias“ als ikonischer Figur des Protests, hinter der das Gewöhnliche und Unpolitische des italienischen Familienlebens an sich durchschien, geriet in dieser Konstruktion aussagekräftig genug, um ihn als ein Beispiel seiner „verlorenen“ Generation zu werten. In Anbetracht wirtschaftlicher Krisen, Jugendarbeitslosigkeit und Zukunftsangst schien in seinem Schattenriss eine repräsentative Silhouette erkennbar.27 Die Frage des politischen Potenzials der Proteste wurde fast zu einer Nebensache und die aus der Wut geborene, jugendliche Zerstörungsbereitschaft diskutitiert. Die Tageszeitung La Repubblica fragte zumindest nach dem Motiv der Empörung als Ursache der Gewalt und interviewte eine junge 23 Dies ergab den Beweis einer weiteren kriminellen Handlung, denn das Zeigen des ausgestreckten Mittelfingers gegen die Vertreter des Gesetzes steht auch in Italien unter Strafe. 24 So laut La Repubblica, 12.1.2012: „Das Tattoo, das Er Pelliccia eingebuchtet hat“, siehe http://www. repubblica.it/politica/2011/10/18/foto/il_tatuaggio_che_ha_incastrato_er_pelliccia_-23427043/1/ (Stand: 01/2012). 25 Für die Kriminalfotografie des 19. und 20. Jhs. konstruiert dies Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999. 26 „Sono pentito ma non sono un black-bloc. Probabilmente mi sono lasciato trascinare dagli avvenimenti.“ Corriere della Sera, Online-Redaktion, 18.10.2011, http://roma.corriere.it/roma/notizie/ cronaca/11_ottobre_18/preso-ragazzo-estintore-roma-1901854481689.shtml (Stand: 04/2012). 27 Siehe Luca Telese: Gioventù, amore e rabbia, Mailand 2011, S. 250.

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Aktivistin des black bloc, die sich selbst als eine hoffnungslose Mutter vorstellte, die aufgrund ihrer desolaten sozialen Situation die Wut des black bloc unterstützt hatte.28 ◊ Abb. 8 Im Gegensatz zur Enttarnungslust des Il Giornale wurde kein Versuch unternommen, die Identität der komplett Vermummten zu entschleiern, 8: Verschleierte des black bloc in La Repubblica, 19.10.2011. wodurch die Radikalität ihrer extremistischen Haltung erhalten blieb. Folgt man Jacques Rancières Überlegungen zum fotografischen Bild, konstituieren die Beispiele „Er pelliccias“ und der Verschleierten, die durch das digitalfotografische Medium in den erhellten Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit gerieten, ein „sinnliches Milieu“, das durch eine Spannung zwischen Sichtbarkeit und Bedeutung geprägt ist.29 Die Repräsentation des Gewöhnlichen oder Beliebigen ist gemäß Roland Barthes zwar durch die Kombination einer bestimmten Anzahl von allgemeinen Eigenschaften identifizierbar. Der Betrachter jedoch wurde nur über die absolute Singularität des Dargestellten affiziert (punctum).30 Rancière widerspricht Barthes’ Idee, um die Bedeutung der ästhetischen Gestaltung digitaler Fotografien davon abzusetzen. Keine „absolute“ Singularität, sondern eine „multiple“ Singularität des fotografisch Repräsentierten müsse angenommen werden, die unterschiedliche visuelle Formen der Metapher und Metonymie hervorbringe. Eine so geprägte „Maske“ des fotografierten Subjekt, verbirgt und enthält zugleich die vielfältigen Formen der sinnlichen Existenz des black bloc. Die für den Schwarzen Block charakteristische Monochromie, die sich in der fotografischen Wiedergabe verdichtet und eine radikale Nihilierung des Versammlungsrechts bedeutet, verweist zurück auf Kazimir Malevichs Idee des Schwarzen Quadrats als einer gleichzeitig absorbierenden und konstrastierenden schwarzen Sonne. Das Schwarze Quadrat hatte er zunächst als Leitmotiv seiner Bühnenbildent-

28 http://video.repubblica.it/dossier/indignados-italiani-indignati/io-ragazza-madre-e-black-bloc/78585 /76975 (Stand: 04/2012). 29 Jacques Rancière: Anmerkungen zum fotografischen Bild. In: Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie, hg. von Beate Fricke, Markus Klammer, Stefan Neuner, München 2011, S. 441–466. 30 Roland Barthes: Die Helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, Frankfurt a. M. 1979.

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würfe der Oper Sieg über die Sonne (1913) verwendet, um die post-ikonische Nullform zwei Jahre später als Ölgemälde wieder aufzunehmen. Das Absolute sollte im Schwarzen Quadrat nicht als Abbild, sondern als Bild gezeigt werden.31 In Anspielung auf Malevich inszenierte Mischa Kuball 9: Mischa Kuball: public square, Hamburg 2007, 60 min. Demonstration des Schwarzen Quadrats aus 625 beteiligten Menschen im Innenstadtbereich 2007 in Hamburg die öffent- der Stadt Hamburg, ausgehend von der Hamburger Kunsthalle liche Prozession einer Menge (Glockengießerwall) anlässlich der Kazimir Malevich-Ausstellung. aus 625 schwarz und weiß gekleideten Personen, die ein Quadrat formten. ◊ Abb.9, Tafel 5 Weiß Gekleidete bildeten die rahmenden Ränder des Blocks und setzten den schwarzen Kern in Kontrast. Dem Motto Sergej Ejzenštejns folgend – „Die Plätze sind unsere Paletten“ – sollte das von Menschen gebildete Quadrat das Erscheinungsbild des urbanen Raumes verändern. Das Transparent mit der Aufschrift „public sphere – Jede Geste in der Stadt ist politsch“ verwies selbstreflexiv auf die Körperinszenierung des Blocks, der in Weit- und Aufsicht tatsächlich wie eine geschlossene flächenhafte Einheit wirkte und wie Malevichs Quadrat somit „komprimierte Energie“ versprach. Doch nicht in der Uniformität, sondern in der Kollektivität entfaltete das Schwarze Quadrat hier die ihm innewohnende Dynamik.32 In Nahsicht erwies sich der lebende public square als eine aus Individuen gebildete, amorphe und den geometrischen Rahmen ständig brechende Form, die an dem starken Versprechen des Schwarzen Quadrats und auch der einschüchternden Kraft eines Schwarzen Blocks zweifeln ließ. Ähnliche Divergenzen waren in Malevichs Schwarzem Quadrat selbst sichtbar geworden, da es früh nach seiner Fertigstellung bereits deutliche Krakeluren aufwies, durch die das Weiß der Leinwand durchleuchtete. Des formkritischen Experiments und der unbezwingbaren Materialität ungeachtet, figuriert die flächen- oder blockhafte Versammlung jener Farbnegierung im politischen Raum weiterhin als provozierendes und die normative Ordnung bedrohendes Zeichen. 31 Markus Gabriel: Das Schwarze Quadrat als Kritik der platonischen Metaphysik der Kunst. In: Jens Halfwassen (Hg.): Kunst und Metaphysik und Mythologie, Heidelberg 2008, S. 257–277. 32 Hubertus Gassner: Mischa Kuball, Allan McCollum. In: Ders.: Das Schwarze Quadrat (s. Anm. 1), S. 152–159.

Susanne Lummerding

Anti-identitärer Protest und agonale Ausverhandlungsräume1

Wie lässt sich die Artikulation von Protest als Position politischen Handelns mit einer Kritik an Identitätslogik verbinden? Wie lässt sich der Begriff des griechischen agon über die Bedeutung des öffentlichen Versammlungsplatzes hinaus als notwendig offene Prozesse des Ausverhandelns (nicht nur spezifischer gesellschaftlicher Fragen, sondern auch der Definitionsmacht über das zu Verhandelnde sowie der involvierten Verhandlungs- bzw. Subjektpositionen) wahrnehmen und beanspruchen? Eine Andeutung der hegemonie- und repräsentationskritischen Relevanz dieser Fragen mag eine bemerkenswerte Begegnung Protestierender der Berliner Occupy-Bewegung(en) mit einem Einsatzleiter der Polizei vermitteln, die Mitte Oktober 2011 vor dem Berliner Reichstag stattfand.2 ◊ Abb. 1–2 In der Absicht, die seiner Definition nach unrechtmäßige Versammlung aufzulösen, adressierte der Polizeiführer (sic!) Manske die Protestierenden zunächst mit der Frage: „Wer ist hier der Versammlungsleiter?“ Wie der auf Youtube hochgeladenen Videodokumentation zu entnehmen ist, entsprach die Reaktion der Protestierenden auf diesen Versuch einer Anrufung keineswegs tradierten Stereotypen der Konfrontation gegnerischer Positionen. Vielmehr wird der Polizist im Modus agonaler3 Kommunikation als gleichberechtigtes Gegenüber, als Gesprächspartner anerkannt. Identitäre Adressierungen werden gleichwohl zurückgewiesen: „Das ist hier keine Versammlung!“ – so die Antwort auf die autoritäre Vergemeinschaftung als Versammlung. Die Technik des human microphone,4 des gemeinsamen Nachsprechens und Verstärkens des Gesprochenen durch die Umstehenden oder Umsitzenden, erzeugt neben der Verstärkungsfunktion nicht nur demokratisch-partizipatorische Effekte (z. B. fokussierte Aufmerksamkeit, genaues Zuhören und Respekt für jede, per mic check an alle adressierte Artikulation, ohne diese zu unterbrechen). Sie unterstützt darüber hinaus das In-Frage-Stellen scheinbar unhinterfragbarer Grenzziehungen, Vereindeutigungen und vermeintlicher Sicherheiten (von Identitäten, Positionen und deren Verhältnis). Die von vielen im Chor wiederholte Äußerung des Polizisten: „Mein 1 Dieser Text ist eine stark gekürzte, überarbeitete Fassung eines 2012 erschienenen Aufsatzes: Lummerding: Identität[s]_Kritik beanspruchen – no risk no pun. In: FKW – Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Heft 1/12, Sicherheitslos. Prekarisierung, die Künste und ihre Geschlechterverhältnisse. Hg. von Kerstin Brandes, Linda Hentschel und Miriam Dreysse, Marburg 2012, S. 39–51. 2 Occupy Berlin „open mic für den Polizeiführer“, Video-Still, hochgeladen von „GeneralStreik2010“ am 16.10.2011. www.youtube.com/watch?v=zCIdRiciMT8 (Stand: 07/2012). 3 Vgl. Chantal Mouffe: The Democratic Paradox, London/New York 2000, S. 80–107. Mouffes Begriff des Agonalen unterscheidet sich von z. B. jenem Hannah Ahrendts vor allem durch den Fokus auf Dissens an Stelle von Konsens. Vgl. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991 [engl. Original 1985], S. 233f. 4 Die Technik des human microphone wurde von Occupy-Wall-Street-Teilnehmer_innen in New York als Antwort auf das dortige Verbot elektrischer Verstärker entwickelt und verbreitete sich transnational.

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Name ist […]. Ich bin der Polizeiführer.“ wird hier – gewissermaßen in einer Umkehrung der Althusser’schen Anrufung – als Artikulation anerkannt. Zugleich jedoch unterläuft die Vielstimmigkeit eine Abgrenzung einer identitären diskreten Entität gegenüber anderen ebenso wie die Beanspruchung einer hegemonialen Führungsposition. Der designierte Vertreter staatlicher Ordnungsmacht wird als Teil der Protestbewegung in den Prozess der Herstellung neuer Bedeutungen, Identitäten und Realitäten eingebunden und auch als ein an diesem Prozess partizipierendes Subjekt adressiert – bis hin zu der Frage: „Wollen Sie unser Leiter werden?“ Und während Manske versucht, alte Grenzziehungen wieder herzustellen: „Ich bin doch schon der Leiter der Polizei“, stellen die Vielen klar: „Wir brauchen keine Führer.“ Seinem 1, 2: 16.10.2011 Occupy Berlin „open mic Ansinnen, die sogenannte „Versammlung“ aufzulösen, für den Polizeiführer“, hochgeladen von GeneralStreik2010 am 16.10.2011, Video-Stills. begegnen die Vielen mit dem integrativen Vorschlag an die Polizeikräfte, gemeinsam zum Brandenburger Tor zu spazieren.5 Was diese Auseinandersetzung interessant macht, ist nicht einfach ihr Unterhaltungswert. Ebensowenig ist sie, wie prominente selbsternannte Fürsprecher_innen der Protestierenden meinen, als „Karnevalsspäße“ oder als kollektive „Verliebtheit in die gemeinsame schöne Zeit“ 6 zu klassifizieren. Als epistemologisch_politisch relevant ist vielmehr der Aspekt der Mehrdeutigkeit hervorzuheben, der die Bedrohlichkeit des Entzugs von Sicherheiten nicht einfach im Witz bricht, sondern vielmehr als Teil von Ausverhandlungsprozessen (z. B. darüber, wie Öffentlichkeit und Demokratie kritisch zu diskutieren wären) adressiert. Denn es geht um eine radikale hegemonie- und repräsentationskritische Neudefinition von Handlungsspielräumen sowohl für das Ausverhandeln aktueller Konstruktionen gesellschaftlicher Realität als auch für die Formulierung kritischer Subjektpositionen. In Hinblick auf eine 5 „open mic für den Polizeiführer“ (s. Anm. 2). Angesichts der Bereitschaft unzähliger Protestierender, jeweils einzeln eine Versammlung mit unbestimmter Teilnehmendenzahl anzumelden, nahmen die Polizeikräfte Abstand sowohl von der Anmeldung einer Versammlung als auch von einer Räumung – es gab also weder eine „Versammlung“ noch eine Räumung. 6 Slavoj Žižek: Occupy-Wall-Street-Streit: „Lasst euch nicht umarmen!“. In: Süddeutsche Zeitung, 27.10.2011, http://www.sueddeutsche.de/kultur/occupy-wall-street-streit-lasst-euch-nicht-umarmen-1.1174532 (Stand: 04/2012).

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solche Neudefinition stellt sich als eine zentrale Frage und Herausforderung jene der Verknüpfbarkeit je spezifischer Identitäts-Ansprüche mit Identitäts-Kritik – also die einer reflexiven Praxis, die Spannungsmomente der paradoxen Formulierung einer anti-identitären Position zu beanspruchen und auf dieser Basis politische Handlungsfähigkeit zu begründen. Eine konkrete und äußerst virulente Auseinandersetzung mit dieser Frage lässt sich gegenwärtig nicht nur im Fall des genannten Beispiels beobachten, sondern auch weit darüber hinaus und mit bislang unschätzbarer Tragweite im Zuge der besonders seit Januar 2011 sich weltweit formierenden Protestbewegungen gegen repressive Regime, fortschreitenden Sozialabbau, gegen die Dominanz eines die Politik in allen Bereichen bestimmenden, globalen, deregulierten Finanzkapitalismus und für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit und Demokratisierung. Diese vielfältigen und sehr unterschiedlichen Proteste, die sich u.a. in globalen Aktionstagen wie z. B. am 15. Oktober 2011 mit Kundgebungen in mehr als 80 Ländern und annähernd 1.000 Städten manifestierten, lassen sich weder auf eine seit September 2011 auftretende/aktive US-amerikanische Occupy-Wall-StreetBewegung reduzieren, noch ist der Beginn der vielfältigen Protestbewegungen erst im Januar davor mit den Protesten gegen die Regime in Tunesien und Ägypten anzusetzen. Vielmehr handelt es sich um eine, auch über die Globalisierungskritikund Euromayday-Bewegungen zurückreichende, immer deutlichere Formierung gemeinsamer öffentlicher Artikulation wachsenden Unmuts über undemokratische Strukturen und an einer an den Interessen weniger Eliten orientierten Sozial-, Bildungs- und Finanzmarktpolitik. Die transnationale Beteiligung an den Protesten durchkreuzt auch Generations- und andere identitäre Zuordnungen. Angehörige oder ehemalige Angehörige der sogenannten Mittelschicht (nicht nur in den USA) protestieren gemeinsam mit jenen, die sich schon vor der sogenannten Finanzkrise nicht nur mit dem Verlust von Vermögen, Arbeit, Wohnung und Existenzgrundlagen, sondern auch mit dem Schwinden jeglicher Chance auf eine menschenwürdige und selbstbestimmte Zukunft konfrontiert sahen. Un-Eindeutigkeit

Gegenüber einer Tradition früherer Protestbewegungen unterscheiden sich diese fortlaufenden und vielfältigen Prozesse politischer Artikulation – entgegen ihrer massenmedialen Charakterisierung als „Facebook-Revolutionen“ – nicht primär durch

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den Einsatz sogenannter Sozialer Medien,7 sondern zuallererst durch die – vor allem etablierte politische Institutionen und Medienöffentlichkeiten irritierende – Verweigerung einer vereindeutigenden Repräsentation. Repräsentation in Form einer politischen Vertretung (durch Parteien oder Regierungen) wird ebenso zurückgewiesen wie eine Vereindeutigung durch Fürsprecher_innen (Prominente Politiker_innen, Intellektuelle o. ä.), die Vorstellung einer einheitlichen kollektiven Identität oder die Forderung nach einem Programm, einer eingrenzbaren Zielformulierung und klar identifizierbaren Führungspersönlichkeiten. Konventionalisierte Sicherheiten werden zudem durch folgende zentrale Prinzipien der Proteste in Frage gestellt: a) gewaltloses Vorgehen – das nicht nur pragmatischen Überlegungen geschuldet ist, sondern sich vor allem gegen eine dichotome Logik von Repression und Revolte (bzw. Dominanz/ Unterwerfung) richtet und eine traditionelle Gegenüberstellung von Kultur und autonomer Gegenkultur oder von Mächtigen gegenüber Ohnmächtigen zumindest fragwürdig erscheinen lässt; b) anti-hierarchische Formen der (Selbst-)Organisation ohne designierte Leitung; c) das Besetzen von Plätzen als öffentliche Plätze – in Stadtzentren, vor Bildungseinrichtungen oder Wirtschaftsinstitutionen, inklusive des Transferierens des gesamten Lebensalltags auf die Straße als Bedrohungspotenzial gegenüber hegemonialer Ordnung; d) die Adressierung nicht nur einzelner, spezifischer Problembereiche, sondern einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf die wechselseitige Bedingtheit von Bereichen wie Wirtschaft, Bildung, Sozialsystemen – d.h. auf den Zusammenhang von politisch-ökonomischer und epistemologischer Produktion und Strukturierung von gesellschaftlicher Realität. Ohne die heterogenen Kontexte der Protestbewegungen in verschiedenen Teilen der Welt widersinnigerweise unter einen Begriff einer umfassenden Bewegung zu subsumieren, lässt sich ein jeweils unterschiedlich perspektivierter Fokus auf politische Artikulationen gegen dominante Repräsentationslogiken und für radikale Demokratisierung feststellen. Auf den in vielen Teilen der Protestbewegungen hervorgehobenen Bildungsbereich und dessen für die Reproduktion bzw. Bekämpfung sozialer Ungleichheit zentrale Bedeutung haben bereits die Studierendenproteste hingewiesen, die sich im Herbst 2009 ausgehend von Wien formierten.8 Die Frage, wie eine anti-identitäre 7 Zur Bedeutung sozialer Medien bzw. Web 2.0 für die Organisation aktueller Proteste sowie deren dezentraler, anti-identitärer Organisation und (Selbst)Repräsentation siehe Susanne Lummerding: Facebooking – What You Book is What You Get – What Else? In: Oliver Leistert und Theo Röhle (Hg): Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld 2011, S. 119–215. 8 Ausgehend zunächst von der Akademie der bildenden Künste und der Universität Wien wurden die Proteste über ein Jahr hinaus unvermindert fortgesetzt und seither mehrfach gegen erneute Verschärfungen der Studienbedingungen und sozialen Segregation wieder aufgenommen. Vgl. Stefan

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Grundlage für politische Handlungsfähigkeit zu entwickeln und Kontingenz/Prekarität als epistemologisch_politisches Potenzial produktiv zu machen wäre, lässt sich bereits am Beispiel der in diesem Kontext entwickelten Praktiken, ebenso wie an jenem der seither in vielen Regionen der Welt sich formierenden Proteste untersuchen. Die gesellschafts- und bildungspolitische Relevanz gerade einer kritischen Re-Vision tradierter, an Vorstellungen von Kohärenz und Ein-deutigkeit gekoppelter Begriffe von Wissen, Identität und Handeln zeigt sich nicht nur in den von Studierenden bereits 2009 artikulierten Forderungen nach anti-diskriminatorischen Strukturen in 3–8: bolognaburns! – Mobilisierungs-Video (deutsch, Demo/Blockade), hochgeladen von bolognaburns.org allen Bildungseinrichtungen, nach Demokraam 3.03.2010, Video-Stills. tisierung statt Ökonomisierung von Bildung, nach selbstbestimmtem, forschendem Studieren und forschungsgeleiteter Lehre an Stelle von Verschulung und Bürokratisierung,9 sondern auch in der Organisation, Durchführung und Kommunikationskultur der Proteste selbst. Diversität und Inkohärenz der Positionen des Protests wurden dabei nicht als „Störung“ adressiert, sondern vielmehr als unumgänglicher, genauer: konstitutiver Faktor konflikthaften Ausverhandelns gesellschaftlicher Realität kontinuierlich transparent gemacht und kontrovers reflektiert. Von übergreifendem Interesse sind diese Proteste nicht nur, weil hier partizipatorisch-demokratische Prozesse innerhalb strikt hierarchisch organisierter institutioneller Strukturen erprobt wurden und werden, sondern vor allem auch, weil hier alternative Formen der Kommunikation und Organisation, der Zuerkennung von Expert_innenschaft und Vertretungsrecht bzw. Legitimierung in Sprecher_innen-Funktion sowie auch Formen der Kritik und Ausverhandlung von Handlungsoptionen im Fall von sexistischen, homophoben, rassistischen oder in anderer Weise diskriminierenden Übergriffen

Heissenberger, Viola Mark, Susanne Schramm, Peter Sniesko, Rahel Sophia Süß (Hg): Uni brennt. Grundsätzliches – Kritisches – Atmosphärisches, Wien 2010 sowie http://unibrennt.at/ sowie https:// lists.univie.ac.at/mailman/listinfo/zukunft-d-wissenschaften (Stand: 04/2012). 9 Siehe dazu den Forderungskatalog vom 25.10.2009, der nur wenige Tage nach der initialen, spontanen Besetzung des Audimax der Universität Wien online verfügbar war: http://unibrennt.at/?p=383 (Stand: 04/2012). Siehe auch: http://unibrennt.at/?p=6188&lang=de (Stand: 04/2012).

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entwickelt und praktiziert wurden.10 Die partizipative Strukturierung der Kommunikation in großen Gruppen, etwa durch „Reißverschlussprinzip“ (zur genderparitätischen Reihung von Wortmeldungen), kodifizierte Handzeichen u.ä. wurde in allen Bereichen der Protestbewegung praktiziert und weiterentwickelt. bolognaburns

Als Teil einer breiten und vielfältigen medialen Kommunikation der Protest-Anliegen durch die Studierenden in Wien seit 2009 entstanden – neben dem Web-Auftritt, Live-Streams, SocialMedia-Plattformen, Buch- und DVD-Publikatio- 5+6 nen und einem Kino-Film11 – zahlreiche OnlineVideo-Clips wie z. B. bolognaburns.12 ◊ Abb. 3–8 Der dreiminütige Clip wurde von Studierenden im März 2010 als Protest-Aufruf gegen die in Wien und Budapest einberufene Jubiläumskonferenz zur internationalen Evaluation des Bologna-Prozesses13 produziert und online gestellt. Was dieser Clip erkennbar macht, ist nicht nur die Fragwürdigkeit einer ein-deutigen Abgrenzbarkeit eines vorgeblich klar definierten politischen Problemfeldes gegenüber anderen gesellschaftlichen Fragenkomplexen, sondern auch kritisch-reflexive Formen der Anfechtung vereindeutigender Polarisierungen hegemonialer Positionen und tradierter Sicherheiten sowie die Entwicklung darauf basierender, konkreter Handlungsstrategien. Die Repräsentationsstrategien unterscheiden sich dabei deutlich gegenüber Formen der Repräsentation der Proteste in etablierten Massenmedien 10 Vgl. F_L_I_T_Kollektiv, stellvertretend verfasst von Elena Barta, Kathrin Glösel, Iris Hajicekk, Angela Libal, Magdalena Schrott: Wir sind Laut! – Der besetzte Frauen_Lesben_Inter_Trans_ Raum. In: Stefan Heissenberger et al. (s. Anm. 8), S. 281–288. Siehe dazu Monika Bernold: Bewegungsöffentlichkeiten, mediale Selbst-Aktivierung und Geschlecht. Die Studierenden Proteste in Wien im Oktober 2009. In: Christine Linke, M. Lünenborg, M. Thiele, T. Maier (Hg.), „In Bewegung: Das Verhältnis von Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht“ („Critical Media Studies“) Bielefeld 2012, S. 141–161. 11 http://www.unibrennt-derfilm.at/ 2010oder http://unibrennt.tv/ (Stand: 04/2012). 12 http://www.youtube.com/watch?v=0rV8qwgKrPk (Stand: 04/2012). 13 Zu diesem Gipfel zehn Jahre nach Start des Bologna-Reformprozesses zur Errichtung eines europäischen Hochschulraumes reisten die zuständigen Minister_innen aus den 46 Bologna-Staaten an. (http://www.ond.vlaanderen.be/hogeronderwijs/bologna/2010_conference/ (Stand: 04/2012).

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(egal, ob Print, Web oder TV), die auf die Herausforderung, die sich in den Protesten entwickelnden neuen Kulturen politischer Artikulation und Auseinandersetzung darzustellen, lediglich mit konventionalisierten Bildern demonstrierender Massen, aus polarisierenden Kameraperspektiven antworteten, die implizit auf die Ikonografie entweder gewalttätig randalierender oder chaotischer Jugendgruppen verwiesen. Für die partizipatorisch-demokratischen Prozesse hingegen, die von den Protestierenden erprobt wurden, waren in den Mainstream-Medien ebensowenig Repräsentationen zu finden wie für die in den Protesten entwickelten alternativen Formen der Kommunikation und Organisation.14 Genau dies wird in bolognaburns auf zwei Ebenen adressiert – zum einen über den gesprochenen und geschriebenen Text, zum anderen über die animierte Grafik. Beide Formen der Artikulation weisen über eine lokale und inhaltliche Begrenzung hinaus auf wesentlich komplexere und weiterreichende Zusammenhänge und stellen tradierte Dichotomien in Frage. Nicht eine ein-deutig definierte Formation (eines kollektiven politischen Subjekts) steht hier einer anderen, ebenso ein-deutigen gegenüber.15 Vielmehr ist ein offener Prozess der situativen Einbeziehung unvorhersehbarer Entwicklungen zu beobachten, in dem die Grenzziehungen laufend neu zur Debatte gestellt werden – die Polizei etwa wird in die Blockade als Mitwirkende friedlich eingebunden. ◊ Abb. 3–8 Diese Ent-grenzung ebenso wie das vielfältige Verweisen auf wechselseitige Bedingtheiten wirkt – vor allem gegenüber institutionalisierten Ordnungen von Gesellschaft und Wissen – deshalb irritierend, weil dieser Diskurs Prozesse der Ausverhandlung als offene Prozesse ernst nimmt, Sicherheiten in Frage

14 Vgl. Kurto Wendt: Audimaxismus und Tupperware? Über den eher verzweifelten Versuch der etablierten Medien, die Studierendenbewegung 09 zu verstehen. In: Malmoe, 48/2010, online seit 19.01.2010: http://www.malmoe.org/artikel/widersprechen/1965 (Stand: 04/2012). 15 Der Sprachduktus der namenlosen Sprecherin – „eine_r von vielen“ – macht ebenso wie die dazwischengeblendeten Perspektiven auf in verschiedene Richtungen sich vorwärtsbewegende und diskutierende Protestierendenmengen deutlich, dass es sich nicht um eine individuell zuordenbare Position handelt.

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stellt und die Parameter des Denkmöglichen selbst zur Debatte stellt.16 An Stelle einer – auch räumlich klar identifizierbaren – Dichotomie eines Wir gegen Andere zeigt bolognaburns eine Reflexion der eigenen Situiertheit als Teil dieses Anderen in einer wechselseitigen Bedingtheit, die in die Handlungsstrategien miteingebunden wird, um Perspektiven, Denk- 9: Guy Fawkes-Maske. und Handlungsmöglichkeiten zu verändern und zu erweitern. Un-eindeutig ist etwa, wer hier wen blockiert. Polizeisperren und Blockadezüge werden quasi ununterscheidbar. Agonale Ausverhandlungsräume

Diese Bedingtheit, die eine Schließung oder Fixierung von Bedeutung/Identität verunmöglicht, bildet eine latente Bedrohung je spezifischer Identitätskonstruktionen und erfordert entsprechende Bewältigungsstrategien, um die Illusion verlässlicher Fixpunkte bzw. vermeintlicher Garantien für die jeweilige Identitäts- und Realitätskonstruktion aufrechtzuerhalten. Absicherungsstrategien sind nicht nur die seitens etablierter Medienberichterstattung und Politik wiederholt an die Protestierenden gerichteten Forderungen nach einem ein-deutigen Programm und identifizierbaren Führungsfiguren, um eine Ein-Ordnung und Einhegung des Unkalkulierbaren zu ermöglichen. Eine vergleichbare Funktion erfüllt letztlich auch die Guy FawkesMaske, die mittlerweile weltweit eine Logo-Funktion für die Protestbewegungen angenommen hat, auch wenn sich darin Angebot bzw. Anspruch einer Identifizierung zugleich mit einem Entzug identitärer Eingrenzung verbindet.17 ◊ Abb. 9, Tafel 6 Versicherungs- bzw. Absicherungsstrategien als Versuche der Herstellung von 16 Für eine Kritik an Identitätslogik sowie für die Argumentation des Moments einer Anfechtbarkeit von Realitätskonstruktionen siehe Susanne Lummerding: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 113–149, 241–273 sowie Susanne Lummerding: Signifying theory_politics/queer? In: Castro Varela, María do Mar; Dhawan, Nikita; Engel, Antke (Hg.): Hegemony and Heteronormativity. Revisiting ‘the political’ in queer politics, Aldershot/Hampshire 2011, S. 143–168. 17 Bekannt wurde die Maske zunächst 2005 durch die Verfilmung der dystopischen Graphic Novel „V for Vendetta“ (Alan Moore, Daid Lloyd 1982) durch James McTeigue. Der anonyme Held kämpft in der Maske des englischen König-Attentäters Guy Fawkes (5. November 1605) gegen ein faschistisches Regime. Seit 2008 gewann die Maske als Markenzeichen der für ein freies Internet eintretenden Anonymous-Bewegung neue Popularität, vor allem im Zuge deren Unterstützung von WikiLeaks Ende 2010.

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Unhintergehbarkeiten – sei es in Form unanfechtbarer Identitäten, sei es in Form von Gemeinschaft und Zugehörigkeit und damit immer auch von Grenzen und Ausschlüssen – müssen unaufhörlich erneuert werden, gerade weil die Herstellung einer stabilen Bedeutung, gesicherten Wissens ebenso wie die einer ein-deutigen, kohärenten Identität oder Gemeinschaft/Gesellschaft als geschlossene Totalität per definitionem unmöglich ist – als Phantasma gleichwohl aber eine konstituierende Funktion der Kontingenzbewältigung erfüllt. Gerade die Unverfügbarkeit einer Garantie oder einer Sicherheit ist Voraussetzung für Neu-Artikulationen von Bedeutung/Identität/Realität und impliziert somit Verantwortung.18 Politisch ist jedwede Artikulation gerade in dem Sinn, als eben keinerlei vorgängige Instanz verfügbar ist, auf die sie sich berufen könnte. Jedwede Artikulation ist daher nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Verhandlungsposition im Verhältnis zu anderen Interessen und Kräften und steht somit grundsätzlich zur Debatte. Als epistemologisch_ politisch relevant erweist sich der Aspekt der Mehrdeutigkeit – wie im eingangs beschriebenen Beispiel des Aufeinandertreffens von Protestierenden und Polizei vor dem Berliner Reichstag – insofern, als diese Mehrdeutigkeit als Teil von Ausverhandlungsprozessen auch als Adressierung der jeweils eigenen Verantwortung wirksam wird. Jenseits einer Idee von Identität als vereindeutigbarer, stabiler Größe sowie neoliberaler Optimierungs- und Vereindeutigungsparadigmen und jenseits tradierter Unterscheidungen zwischen sogenanntem „Realraum“ und „virtuellem Raum“ für eine Verortung von Öffentlichkeit handelt es sich also in erster Linie um (Ver-)Handlungs-Spielräume, die es zu beanspruchen gilt. Agon ist in diesem Sinn also nicht bloß als Versammlungsplatz – und Öffentlichkeit – , nicht einfach als Gegenteil von Privatheit, sondern vor allem als notwendig ergebnisoffene Prozesse des Ausverhandelns (von Antagonismen und damit auch von Grenzmarkierungen) zu verstehen. Diese Verantwortung, die notwendig antagonistisch geprägten Prozesse des Ausverhandelns als agonale (Ver-)Handlungs-Spielräume wahrzunehmen, impliziert, diese zugleich offen zu halten, um Handlungs- und Denkmöglichkeiten für das Ausverhandeln aktueller Konstruktionen gesellschaftlicher Realität kontinuierlich zu erweitern und zu verändern. Dass dies – in einem radikal-demokratischen Sinn – notwendig eine unausgesetzte Herausforderung bleibt, verdeutlichen nicht zuletzt jene vielfältigen Antagonismen, mit denen sich die höchst heterogenen Protestbewegungen auseinanderzusetzen haben.

18 Vgl. Lummerding: agency@? (s. Anm. 16), S. 241–273.

Hans Christian Voigt

Am Platz hat himmlischer Friede zu herrschen

Bilder von kommenden Aufständen

Ein neues Gespenst geht um in Europa, aber es ist nicht das des Kommunismus. Es hat bislang keinen Namen. Es ist noch nicht einmal ein -ismus, aber dafür existieren zahlreiche Bilder, die als Erscheinen und Umgehen des Gespensts interpretiert werden. Alleine 2011 sind unzählige Fotografien und Videobilder in Print-, audiovisuellen und elektronischen Medien hinzugekommen. Die Bilder zeigen von protestierenden Menschen besetzte Plätze in europäischen Metropolen. Dieser Fülle an Bildern (pictures) steht entgegen, dass das Bild (image), das wir uns vom Gespenst machen, noch etwas schemenhaftes, flüchtiges hat. Es gibt Manifeste, die diskutiert werden.1 Was es nicht gibt, sind außer Streit stehende VordenkerInnen, die die Erscheinungen des neuen Gespensts so schlüssig zu erklären im Stande wären, dass wir von einem klaren Bild seiner Gestalt, Entstehung, Reichweite, Macht und Lebensdauer ausgehen könnten. Aus der Perspektive gegenwärtiger Zeitgeschichte ist nicht auszuschließen, dass das, was heute als Gespenst erscheint, ex post nur als Phantasma bewertet wird. Davon wäre zu sprechen, wenn die aktuell im paneuropäischen kommunikativen Gedächtnis verankerten Begriffe „Syntagma“, „S21“, „indignados“, „occupy“ etc. ihre zentrale Position verlieren würden, ohne nachhaltig in das kulturelle Gedächtnis Europas eingearbeitet zu werden.2 In der historischen Bewertung hätten wir es dann mit der Verdichtung eines allgemeineren Phänomens zu tun gehabt, das mit Judith Butler nüchtern beschreibbar wäre als: „In the last months there have been, time and again, mass demonstrations on the street, in the square, and though these are very often motivated by different political purposes, something similar happens: bodies congregate, they move and speak together, and they lay claim to a certain space as public space. Now, it would be easier to say that these demonstrations or, indeed, these movements, are characterized by bodies that come together to make a claim in public space,

1 Neben den Texten des Unsichtbaren Komitees: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010 [frz. Orig. 2007] und Stéphane Hessels: Empört Euch!, Berlin 2011 [frz. Orig. 2010] sei hier auf das „Manifiesto – ¡Democracia Real YA!“ der spanischen Indignados-Bewegung verwiesen, die ihren Namen von Hessels Aufruf ableitet. Im Vorfeld des 15. Mai 2011 entstanden, verbreitet sich dieses knappe Manifest schnell via Internet und strahlt bis heute weit über die Grenzen Spaniens hinaus aus. Auf democraciarealya.es ist es in mehreren Sprachen nachzulesen (Stand 02/2012). 2 Für die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis siehe Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

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but that formulation presumes that public space is given, that it is already public, and recognized as such.“ 3

Was ist es, das dieses Zusammenkommen von Körpern in der Wahrnehmung vieler zum 1: Im Frühjahr 2011 kommt es in ganz Großbritannien Umgehen oder dem Phantasma eines neuen zu spontanen, temporären Besetzungen vorwiegend von Bankfilialen. Verkaufsräume werden für die Dauer Gespensts macht? Wie verhalten sich die der Besetzungen, die via Flashmobs initiiert werden, zu ­Körper, wie nutzen sie Raum, dass von dieöffentlich zugänglichen Bibliotheken, Kindergärten und Schulklassen. sem Verhalten auf die Emergenz einer „neuen Protest­bewegung“ geschlossen wird? Für Prognosen und Bewertungen der längerfristigen und überregionalen Bedeutung ist es zu früh, erst recht für die Einordnung der Wirkung der Proteste in europäischen Innenstädten. Gegenwärtig ist festzuhalten: Sie werden als neuartig wahrgenommen. Die lokalen Protestbewegungen sind nicht als isolierte Phänomene einzelner Staaten und Städte erklärbar. Nicht nur zentrale urbane Plätze, sondern immer neue Räume werden zu Schauplätzen von Besetzungen, die temporär alternative Nutzungen erzwingen und für die Dauer der Inbesitznahme zu Räumen offener und öffentlicher Versammlungen werden. Beispielhaft dafür sind die Besetzungen von Bankfilialen durch die UK-Uncut-Bewegung.4 ◊ Abb. 1 In einem globalen Lernprozess werden Protestpraxen, Techniken, Analysen, Ideologien und Bildsprachen entwickelt und weitergegeben. Internet, Social-MediaPlattformen, Smartphones und neue Formen der Selbstorganisation spielen eine gewichtige Rolle neben bekannten Faktoren wie sozialer Ungleichheit, ökonomischen Bedingungen, politischer Repression. Dem gegenüber steht die Aufrüstung der staatlichen und kommunalen Sicherheits- und Überwachungsapparate, die im gleichermaßen globalen Lernprozess Know-how im Umgang mit den neuen Protestbewegungen sammeln. All diese Faktoren werden in den Folgejahren des ereignisreichen Jahres 2011 relevant bleiben oder relevanter werden. Als Indikatoren für die Wahrscheinlichkeit kommender Aufstände sprechen sie für die Prognose, 3 Judith Butler: Bodies in Alliance and the Politics of the Street. In: Transversal/EIPCP multilingual webjournal, 09, 2011, http://www.eipcp.net/transversal/1011/butler/en (Stand: 02/2012). 4 „UK Uncut“ steht für die seit dem Herbst 2010 in Großbritannien aktive Protestbewegung gegen die Steuererleichterungen für Reiche und Konzerne sowie gegen Kürzungen des Staates im Sozialbereich. Zu den Praktiken der Bewegung zählen Blockaden und Besetzungen von Verkaufsräumen jener Konzerne und Banken, die von der Regierung weitreichende Steuererleichterungen oder Hilfspakete bekommen haben.

Am Platz hat himmlischer Friede zu herrschen

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dass zentrale Plätze – und immer wieder neue Räume – auch weiterhin Schauplätze neuer Proteste in westlichen Metropolen sein werden. ◊ Abb. 2 Die Zeichnung des Gespensts der wütenden BürgerInnen

Neben den Bildern von Protestierenden und 2: Palästinensertücher, Adidas-Trainingsanzüge und Guy Fawkes-Masken. Kaum ein Jahr nach der Emergenz besetzten Räumen dominiert ein Bild die der Anonymous-Bewegung sind deren Kodes weltweit Wahrnehmung der neuen Protestbewegungen. in diversesten Zusammenhängen anzutreffen; ein Feuilleton und Medien im deutschsprachigen Beispiel globalisierter Kodes einer transnationalen Protestbewegung, die sich als unabhängig von Raum geben dem Gespenst mit berechnender klassischen politischen Zugehörigkeiten versteht. Vorliebe den Namen Wutbürger. In der Regel im Singular, männlich. Der Erfinder dieses Images, der Journalist Dirk Kurbjuweit, leitet 2010 seinen gleichnamigen Essay im Nachrichtenmagazin Spiegel mit dem Satz ein: „Eine neue Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft: Das ist der Wutbürger.“ 5 Die Schmähschrift zeichnet einen alten bürgerlichen, mit „Hass“ erfüllten, von „nackter Wut getriebenen“ Mann, der sich „laut brüllend“ zu Wort meldet und „momentan alles dominiert“. Orte, an denen dieser Wutbürger 3: Polizeieinsatz am „Schwarzen Donnerstag“ mit Pfefferspray. Das taktische Medium fluegel.tv auftritt, um „momentan alles zu dominieren“, dokumentiert die Vorgänge per Live-Streams und nennt der Essay drei und diese nur beiläufig: mit online zur Verfügung gestellten Fotos. Demonstrationen am Bauzaun in Stuttgart, die Münchner Reithalle anlässlich einer Veranstaltung mit Thilo Sarrazin und das Internet. Die Menge der Menschen, die Körper im öffentlichen Raum, ihre Verteilung, ihr Zusammenspiel und ihre Bewegungen kommen in der Beschreibung des neuen Phänomens nicht vor. ◊ Abb. 3 In den Wochen vor dem Erscheinen des Essays am 11. Oktober 2010 sind es regelmäßig Zehntausende, die in der rund 600.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt Stuttgart Straßen und Plätze für sich einnehmen. Die Vorfälle des 30. Sep5 Dirk Kurbjuweit: Der Wutbürger. In: Der Spiegel, 2010, Nr. 41, S. 26.

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tember 2010 im Stuttgarter Schloßgarten gehen als „Schwarzer Donnerstag“ in die bundesdeutsche Geschichte ein und machen Stuttgart zum Mediengroßereignis. Das Foto eines durchnässten älteren Herren, der von zwei anderen Männern gestützt wird, während Blut aus beiden zugeschwollenen Augen rinnt, ist in den Medien zu sehen und wird überregional zum Symbol sowohl für die Protestbewegung als auch für die Reaktion von Seiten der Staatsgewalt. In den Tagen danach, den unmittelbaren Tagen vor dem Erscheinen des Artikels in der Zeitschrift, sprechen die VeranstalterInnen bei zwei Kundgebungen vor über Hunderttausend Protestierenden. Es ist nicht absehbar, wie viele es noch werden können. Die Menge der Protestierenden nimmt tendenziell zu, obwohl die Proteste seit Monaten andauern und die Beteiligung alle Erwartungen übertrifft. Das Phänomen entzieht sich der Berechenbarkeit. Die Protestbewegung fordert als unberechenbares Phänomen umso mehr Aufmerksamkeit ein, je länger die Menge der Personen, die sich den Protesten im öffentlichen Raum anschließen, sukzessive zunimmt. Während der repressive Staatsapparat mit seinen Mitteln reagiert, konstruiert der ideologische Staatsapparat diffamierende Images der Protestierenden und Lesarten der Proteste. Das Bild spontaner offener Versammlungen, „wo vorher nichts war”

Ein Jahr vor den Höhepunkten der Stuttgarter Protestbewegung bietet das Phänomen der Studierendenbewegung #unibrennt ein ähnliches Bild. Fünf Wochen lang nimmt die Zahl der besetzten Hörsäle zu, bis ausgehend von der Uni Wien der gesamte deutschsprachige Raum erfasst ist.6 Im Spätherbst 2010 breitet sich eine Protestwelle mit Großdemonstrationen und Besetzungen von Verwaltungsgebäuden in Großbritannien aus. Nach dem 15. Mai 2011 ist in Spanien wochenlang unabsehbar, welches Ausmaß die Bewegung der Indignados erreichen wird. In England ist mehrere Tage nach dem Ausbruch der Krawalle in Tottenham am 6. August 2011 unklar, wie weit sich die Unruhen ausbreiten werden. In Griechenland kommt es bereits seit Ende 2008 mehrfach zu schweren, mehrwöchigen Ausschreitungen, die

6 An den Protestbewegungen von #unibrennt und von Stuttgart lässt sich exemplarisch analysieren, wie neue Bewegungen ihre eigenen taktischen Medien aufbauen, das Bildarchiv selbst verwalten, damit die Bilderhoheit gegenüber den klassischen Medien haben und so zu bedeutenden Standbeinen der Bewegung werden. Das Bildarchiv der #unibrennt-Bewegung ist bis heute via flickr.com/photos/ unibrennt/collections (Stand: 02/2012), das der Stuttgarter Protestbewegung via fluegel.tv (Stand: 02/2012) abrufbar.

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von Athen aus auf weitere Städte übergreifen.7 Zeitweise werden 600 Schulen und einige Universitäten, 2010 wiederholt Ministerien besetzt. Alle diese Fälle erinnern – wie die Ereignisse am Tahrir in den Tagen nach dem 25. Januar 2011, im Capitol von Madison in Wisconsin in den Tagen nach dem 15. Februar 2011 oder bei 4: Die Offenheit der Asamblea, hier in Madrid, äußert sich auch in der Abwesenheit der Symbole, Farben Occupy Wallstreet (#ows) in den Tagen nach und „Uniformen“ institutionalisierter politischer dem 17. September 2011 – an Elias Canetti Organisationen. Schrift Masse und Macht: „Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war. […] Es ist eine Entschlossenheit in ihrer Bewegung, die sich vom Ausdruck gewöhnlicher Neugier sehr wohl unterscheidet. Die Bewegung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefunden haben.“ 8 Die so beschriebene Dynamik setzt voraus, dass das Ziel nicht von vornherein feststeht und dass es sich nicht um eine Versammlung von Menschen handelt, die Canetti als geschlossene Masse im Gegensatz zur offenen Masse bezeichnet. Ein gemeinsames Charakteristikum jeder Versammlungen von Menschen der neuen Protestbewegungen ist denn auch, dass sie offen und geduldig sind. ◊ Abb. 4 Die Versammlungen setzen auf das Zusammenströmen von Menschen und auf die Prozesse, die dadurch evoziert werden, die von den vor Ort Anwesenden selbstorganisierte Diskussion über ihre gemeinsamen Angelegenheiten und Anliegen. „For politics to take place, the body must appear. I appear to others, and they appear to me, which means that some space between us allows each to appear. We are not simply visual phenomena for each other – our voices must be registered, and

7 Sowohl die London Riots als auch die Unruhen in Griechenland wurden von zwei populären Internetphänomen begleitet, dem Athener „Riot Dog“ mit eigener Facebook-Seite, Blogs und YoutubeClips seit 2008 sowie dem „Photoshoplooter“-Meme während der Unruhen in England (photoshoplooter.tumblr.com; Stand: 06/2012). Die Phänomene sind in ihrer Struktur typisch für die viral selbstorganisierte, ironische Aneignung von Bildern und Nachrichten. Dabei werden Bildmaterialien aus allen über das Internet zugänglichen Quellen bearbeitet oder neu kontextualisiert. Bilder werden über verschiedene Social-Media-Plattformen verteilt und neu konfiguriert weitergegeben. Beide Phänome haben es über die Aufmerksamkeitsschwelle der Massenmedien geschafft, für den „Riot Dog“ existieren sogar Wikipedia-Einträge (en.wikipedia.org/wiki/Riot_dog; Stand: 06/2012). 8 Elias Canetti: Masse und Macht [1960], Frankfurt a. M. 1980, S. 14 u. 15.

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so we must be heard.“ 9 Die Körper sind zudem die Bedingung für die Bilder. Die Bilder der intervenierenden, sich Raum nehmenden Körper machen evident, dass hier Außergewöhnliches passiert.10 Die Asamblea, die Versammlung, ist ein konstituierendes Element, ebenso wie die Bedingung ihrer selbstorganisierten, basisdemokratischen Organisation; Menschen, die sich im gleichen Raum auf einander beziehen und den Prozess einer gemeinsamen Debatte beginnen. Dieses Element verweist nicht nur auf anarchistische und basisdemokratische Traditionen der neuen Bewegungen, sondern im gleichen Maße auf in Online-Kommunikation gelebte Praxen und die Netzkultur. Der Prozess, was in und mit Versammlungen passiert, wie lange sie andauern, obliegt der laufenden, selbstorganisierten Ausverhandlung der Anwesenden. Die Körper, die sich im Zuge der aktuellen Protestbewegungen zur gemeinsamen Versammlung zusammenfinden, machen zudem sichtbar und vor Ort spürbar, dass sie bleiben, dass dem begonnene Versammlungsprozess und der Debatte keine Ablauffrist gesetzt wird. Damit bleibt offen, wie groß die Versammlungen und Massen werden. Dass eine Gruppe mit ihren Körpern eine Versammlung im öffentlich zugänglichen Raum beginnt, ist, ebenso wie die Offenheit der Versammlung, nicht nur Einladung zur Teilhabe, sondern Bedingung für die Möglichkeit, dass eine kritische Masse zusammenfinden kann, die Sogwirkung entwickelt. Eine weitere Bedingung beschreibt Canetti in seiner Autobiografie: „Ich las im Kaffeehaus in Ober-St. Veit die Morgenzeitung. Ich spüre noch die Empörung, die mich überkam, als ich die ‚Reichspost‘ in die Hand nahm; da stand als riesige Überschrift: ‚Ein gerechtes Urteil‘. Im Burgenland war geschossen, Arbeiter waren getötet worden. Das Gericht hatte die Mörder freigesprochen. […] Aus allen Bezirken Wiens zogen die Arbeiter in geschlossenen Zügen vor den Justizpalast, der durch seinen bloßen Namen das Unrecht verkörperte.“ 11 Die Empörung, von der Canetti schreibt, ist heute der verbindende Name der Indignados-Bewegung.

9 Butler (s. Anm. 3). 10 Im digitalen Zeitalter erstreckt sich diese Sichtbarkeit auf das Internet. Bei der Verbreitung der Bilder sind mehrere Kanäle sinnvoll zu differenzieren: (1) professionelle Bilder aus Print und Fernsehen in Online-Medien, (2) Weiterleitung und Rekontextualisierung dieser Bilder aus professioneller Produktion via Social Media, (3) Amateurbilder, (4) Bilder von taktischen, in die Proteste eingebetten Medien, (5) Bilder, die vom professionellen Mediensystem aufgegriffen werden, weil sie in den Social Media des Internets zu einer Story werden, (6) Plattformen, die dem Spiel mit Bildern dienen und von denen sich virale Bilderserien und -themen in andere Kanäle einspeisen. 11 Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–193, München/Wien 1980

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Rückkehr der Verbotsmasse als politische Kraft

Trotz allen zahlenmäßig großen Aktionstagen der neuen Protestbewegungen erscheint die Anzahl der Protestierenden auf den diversen Schauplätzen nicht außergewöhnlich hoch. Das Phänomen der Masse ist nicht nur nicht neu, große Massen sind in unserer europäischen Gesellschaft seit den 1930er-Jahren nicht mehr verschwunden. Die Faszination des neuen hatte sie im fin de siècle als Gustave Le Bons Die Psychologie der Massen 1895 erschien und noch in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Heute kommen bei Sportveranstaltungen, einem Karneval, der Love-Parade oder anderen Großveranstaltungen Hunderttausende und Millionen von Menschen zusammen. Auch bei politischen Großkundgebungen gibt es immer wieder hunderttausende TeilnehmerInnen. Über Großdemonstrationen des Europäischen Gewerkschaftsbunds mit 300.000 TeilnehmerInnen wird dennoch medial kaum berichtet. Die Bilder wirken bekannt, beliebig und austauschbar: Die geordnete Großdemonstration ist kein überraschendes Phänomen und ruft kaum Reaktionen der staatlichen Repressions- oder Ideologieapparate hervor. Der Demonstrationszug findet im ritualisierten, durch die Konvention bestimmten Rahmen statt: angemeldet und mit vorstrukturiertem Zeit- und Ablaufplan, wie ein Event der Freizeitindustrie mit Ordnern, Uniformen, Fanabzeichen, klar begrenzt und abgrenzend. Die Machtdemonstration ist einschätzbar. Es ist nicht nur erwartbar, welche Räume genutzt werden, sondern wann der Demonstrationsauflauf abgezogen ist, ohne Spuren zu hinterlassen. An dieser Stelle sei erneut auf Butler verwiesen: „We miss something of the point of public demonstrations, if we fail to see that the very public character of the space is being disputed and even fought over when these crowds gather.“ 12 Wenn wir diesen Punkt sehen, sollten wir die daran anschließende Frage ebenfalls nicht übersehen. Wie weit geht in konkreten Fällen das Infragestellen, was wird nicht als strittig thematisiert, welche Vorstellungen und Konventionen werden auch im Streitfall reproduziert? Vergegenwärtigen wir uns übliche, gewohnte, ergo ritualisierte Nutzungen zum Beispiel des Puerta del Sol in Madrid, so erscheinen folgende Bilder leicht vorstellbar: Der Platz leer. Der Platz bevölkert von strömenden TouristInnen oder KonsumentInnen. Der Platz temporär gesperrt und mit Feiernden befüllt – etwa im Zuge eines Stadtfests. Der Platz durch Wahlkampfwerbung vereinnahmt, durch Bühne und Publikum besetzt. Oder der Platz als Begegnungsraum und Bühne für all diese Nutzungen nebeneinander: TouristInnen, konsumierende Menschen, 12 Butler (s. Anm. 3).

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eine Kundgebung abhaltende Menschen und Ordnungskräfte. Diese Nutzungsformen sind bekannt, finden nach ausverhandelten Regeln statt und passen sich als nicht störend in unsere Wahrnehmung der Stadt wie in die Medienberichterstattung ein. Wenn beim Karneval oder 5: Occupy Frankfurt, das seit 15.10.2011 ständig besetzte der Siegesfeier nach dem Sportgroßereignis Zeltdorf im Angesicht der EZB und der Glastürme der außerhalb dieser Rituale geltende Regeln vergroßen Finanzkonzerne. letzt werden, sind das im Rahmen des Festes keine Regelverletzungen. Die Nutzung von Plätzen und Raum durch die neuen Protestbewegungen verläuft anders. Ablauf und Dauer der Versammlungen sind offen. Sie werden als neu und fremdartig wahrgenommen. Die menschlichen Körper und Einrichtungsteile wie Zelte drücken aus, dass sich hier Menschen Raum über die erwartbare, konventionelle Nutzung hinaus nehmen. Sie verhalten sich nicht als PassantInnen oder TouristInnen, sondern nehmen den Platz in Besitz und verletzen bewusst die herrschenden Konventionen. In der Systematik Canettis sind die Asambleas der Indignados und der Versammlungen der Occupy-Bewegung Verbotsmassen. „Alle weigern sich zu tun, was eine äußere Welt von ihnen erwartet.“ 13 Die Präsenz dieser sich unkonventionell verhaltenden Körper macht die in Streit gestellten Konventionen sichtbar, wodurch sie gleichzeitig thematisiert werden. Das Handbuch der Kommunikationsguerilla beschreibt das nicht nur als verfremdendes Spiel und als Verletzung der kulturellen Grammatik, sondern nennt solche Interventionen eine Technik im Arsenal politischer Handlungsoptionen.14 Durch die Anwendung dieser Technik in verschiedenen Städten und die Wiederholung über Tage, Wochen und Monate hinaus wird aus der Verletzung der Konvention selbst eine neue Konvention. ◊ Abb. 5 Eine Demokratisierung der Plätze

Ist die Versammlung dadurch etabliert, dass Körper einen zentralen Raum in Besitz nehmen, verbleiben die Menschen auf dem Platz, übernachten dort und bauen ihre autonome Infrastruktur auf. Die Präsenz der in Alltagsroutinen interagierenden Körper illustriert, dass diese momentan Anwesenden die Regeln für diesen Gel13 Canetti: Masse und Macht (s. Anm. 8), S. 62. 14 Luther Blissett, Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla, Hamburg/Berlin 2001.

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tungs-Raum bestimmen; sichtbar in ihrem diskutieren, kochen, essen, Vorräte verwalten, Interviews führen, Transparente fertigen, Bilder machen, in Medienzentren ein- und ausgehende Kommunikation organisieren, Müll entfernen, Plena abhalten und Beschlüsse fassen. 6: Ein Free Speech Zone-Schild bei #occupy Wallstreet. Die Gemeinde des Platzes (dêmos), bietet kaum Da den Aktivisten in New York die Nutzung von Mega­ fonen untersagt wurde, werden Wortmeldungen einer das Bild eines Mobs, aber auch nicht das Bild Person von den Umstehenden laut im Chor Satz für Satz einer einfachen, homogenen Masse. Die Akti- wiederholt. Zur lauten Weiterleitung der eigenen Stimme kann jede Person durch das zweimalige Ausrufen von vistInnen organisieren das Gemeinwesen eines „Mic Check! Mic Check!“ aufrufen. Platzes, differenzieren arbeitsteilig Funktionsbereiche aus. Es herrscht im wörtlichen Sinne Demokratie, nicht die abstrakte repräsentative Demokratie mit nationalstaatlichem Geltungsbereich, sondern vor Ort konkrete Demokratie in einem klar begrenzten Geltungsbereich. Da die Bedürfnisse und Funktionen der wachsenden Gemeinde erfüllt und von der Bevölkerung des Platzes organisiert werden, bilden sich Gemeinwesen, kleine (Zelt-) Städte in den Städten aus. Der Raum ist gegliedert in Funktionsräume für Schlaf, Rückzug, medizinische Versorgung und Lager. Im Zentrum liegen die Räume für die Plena, das Forum für die basisdemokratische Debatte der öffentlichen Angelegenheiten. Daneben existieren Begegnungsräume für distanziertere, beobachtende Partizipation an den Debatten, Anlaufstellen für die Informationsverteilung am Platz, Kommunikations- und Medienzentren mit eigener technischer Infrastruktur, eigenen MedienaktivistInnen und eigener Pressearbeit sowie Rückzugsräume für Bildungsaktivitäten, Workshops, Besprechungen, die Ausarbeitung. Derart selbstorganisierte Plätze inmitten zentral gelegener öffentlicher Räume sind ein Labor dissidenter Selbstorganisation als Stätten, auf denen Widerstand als alltägliche Praxis demonstriert wird. Das wichtigste ist Kommunikation. Die längere Besetzung der Plätze dient mehr der Debatte, der prinzipiellen Diskussion gemeinsamer Angelegenheit als der Kundgebung. Von den besetzten Plätzen wie von umkämpften Räumen ist immer wieder zu hören, dass es den AktivistInnen nicht darum geht, mit dem einen oder anderen Anliegen gehört zu werden. Ziel der Protestbewegungen ist so gut wie nie, in Verhandlungen mit politischen EntscheidungsträgerInnen zu kommen. In den Versammlungen wird mit Politik selbst experimentiert und von Beginn an ein explizit anderer Politikbegriff in den Mittelpunkt gestellt. Im Zentrum dieses

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Begriffs steht die gemeinsame, inklusive und offene Debatte im öffentlichen Raum. Die Versammlungen, die in Besitz genommenen, selbstverwalteten Plätze, die selbst­ organisierten, alternativen Nutzungen der Räume sind radikale Gegenentwürfe. Die BesetzerInnen wenden sich nicht an das politische System, sondern wenden sich vom politischen System ab. ◊ Abb. 6 Es ist ein sich wiederholendes und auf den Plätzen immer wieder konkret erfahrbares Missverständnis, Debatte hier als Diskussion einer Sachfrage zu verstehen, die möglichst effizient, schnell und durch eine Abstimmung legitimiert, zu einem Ergebnis gebracht werden soll. Dieses Missverständnis kommt von außen und illustriert, wie unvorstellbar und strittig es heutzutage ist, das Ideal attischer Demokratie aus dem Kanon der Schulbildung in die praktische Erfahrung der postdemokratischen Stadt zu übertragen. In der medialen Verbreitung dominieren neben den Bildern manifester Konflikte zwischen AktivistInnen und Sicherheitskräften jene, die einen mit Körpern übervollen Platz zeigen. Diese Bilder zeigen nicht die Alltagssituation auf eben denselben Plätzen. Das symptomatischere Bild für das neue Gespenst ist der Live-Stream der stundenlang andauernden Debatte eines offenen Plenums. Ein beschreibendes Bild sind die Infotische und Anschläge mit den Zwischenständen von Debatten und Arbeitsgruppen. Bezeichnend sind die Innenleben der IT-Zelte und eigenen Medienzentren, die Kontenpunkte, über welche die lokalen Debatten mit jenen auf anderen Plätzen und in anderen Räumen verbunden sind. Ein Merkmal der neuen Protestbewegungen ist die Besetzung von zentralen Plätzen und neuralgischen Räumen, um eben diese Räume als Stätten für öffentliche Debatten zu öffnen. Der Raum wird geöffnet für die gemeinsame Debatte der Angelegenheiten aller. Die Versammlungen sind inklusiv und unbestimmt. Sie setzen die hierarchischen, exkludierenden Regeln herrschender politischer Meinungsbildung außer Kraft. Sie sind Versuche eines herrschaftsfreien Diskurses. Das Bild des Wutbürgers zeichnet ein gegenteiliges Bild. Der Körper des Wutbürgers ist durch Wut verzerrt, blind vor Wut und gilt als unberechenbar. Die Konstruktion und breite Perpetuierung dieses Images wirft ein treffendes Licht darauf, dass die herrschende Klasse besorgt ist und vor den offenen Versammlungen Angst hat. Der öffentliche Raum könnte – wieder – Brennpunkt politischer Debatten werden, die von Beginn an abseits des etablierten politischen Systems stattfinden und in ihrem Ablauf und ihrer Sogwirkung tatsächlich unberechenbar sind.

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Bildbesprechung Edouard Manet und die politische Botschaft in der Hinrichtung Maximilians

Es ist eine ungewöhnliche Szene: Drei Männer stehen links, dicht gruppiert in der Nähe einer Mauer. Ihre Gesichter sind auf sechs uniformierte Soldaten gerichtet, die der Betrachter von schräg hinten sieht. Es handelt sich um ein Exekutionskommando, das eine Salve auf die drei Männer abfeuert. Gewehrmündungsfeuer ist zu sehen und weißer Pulverrauch steigt auf. Die Salve erreicht den Linken der drei Männer, der seinen Kopf im Moment des GetroffenWerdens nach hinten wirft und seine rechte Hand zur Faust ballt, während die anderen beiden – scheinbar noch unberührt von den tödlichen Schüssen – weiterhin aufrecht stehen, sich brüderlich die Hand reichen und etwas hilflos auf die Fortsetzung der Episode warten. Das Erschießungskommando ist bedrückend dicht an seine Opfer herangerückt; so dicht, dass der Betrachter den Eindruck gewinnt, die perspektivische Konstruktion sei unstimmig, zumal der Getroffene schräg hinter den Noch-Unversehrten steht. Hinterfangen ist die Szene von einer hohen grauen Mauer, hinter der ansteigendes Terrain zu erkennen ist. Wenig detailliert sind die entfernten Dinge mit großzügigen und raschen Pinselstrichen skizziert und erscheinen in perspektivischer Unschärfe. Links über den Köpfen der Todgeweihten ist mit etwas Geduld ein zypressenbewachsener Friedhof zu erkennen. Rechts davon reckt eine Gruppe von Schaulustigen neugierig die Köpfe über die Mauer und beobachtet die Erschießung mit unterschiedlicher Gemütsbewegung. Edouard Manet hatte sich im Sommer 1867 entschlossen, die „Erschießung Maximilians“ zu malen, nachdem die Nachricht von der Hinrichtung des Habsburgers in Mexiko (19. Juni 1867) ganz Europa und vor allem Frankreich über die Maßen entsetzte. In der Vorgeschich-

te war der Habsburger Erzherzog Maximilian Spielball diplomatischer Winkelzüge zwischen Frankreich und Österreich. Französische Truppen marschierten 1861 in Mexiko ein, um das Land zu kolonialisieren. Gleichzeitig versuchte der französische Kaiser die Allianz mit Österreich gegen Bismark-Deutschland zu stärken, weshalb er den Habsburgern anbot, ihren Erzherzog als Kaiser nach Mexiko zu schicken. Mit Hilfe der französischen Armee sollte der neue Kaiser sein Mexiko vollständig erobern. Doch die französischen Soldaten wurden 1866 auf Druck der Vereinigten Staaten abgezogen und Maximilian mit seinen Generälen sich selbst überlassen. Am Ende stand Maximilian mit 9.000 Mann gegen 30.000 mexikanische Republikaner, wurde zu allem Überfluss verraten und musste sich schließlich ergeben. Bereits vier Tage darauf wurden er und seine zwei Generäle am 19. Juni 1867 erschossen. Das Delikate an der mexikanischen Episode war die Kombination von tragischem Einzelschicksal und weltpolitischer Bedeutung. Mexiko war der Anfang vom Ende Napoleons III., des französischen Kaisers. Das Ende fand dann drei Jahre später statt: Der deutsch-französische Krieg von 1870 (Schlacht von Sedan) führte zum Sturz Napoleons III. Seine Interpretation der „Erschießung Maximilians“ wollte Manet 1869 im Salon ausstellen, wurde jedoch daran gehindert. Das Gemälde wurde von der Jury bereits abgelehnt, bevor er es für den Salon überhaupt eingereicht hatte. Ihre Begründung des Vor-Urteils ist nicht überliefert, weshalb wir die Ursachen der Zensur rekonstruieren müssen. Das präventive Ausstellungs-Verbot der „Erschießung Maximilians“ wiegt umso schwerer, als die Kulturpolitik unter Napoleon III. verhältnismäßig liberal gehandhabt wurde – so liberal, dass sich die Frage aufdrängt, warum ausgerechnet Manets Gemälde verboten wurde. Als häufig angeführte Ursache ausgeschlossen werden kann das Mexikothema als politisches Problem Frankreichs, denn in anderen Bildthemen war es durchaus salonfähig.

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Bildbesprechung

Edouard Manet: Der Tod des Maximilian 19. Juni 1867, 1868/69, Öl auf Leinwand, Kunsthalle Mannheim.

Anlass zur Ablehnung bot vielmehr Manets Wahl der Bildgattung. Denn die französische Akademie verteidigte die klassische Gattungshierarchie, in der das Historienbild als die Königsdisziplin der Malerei galt. Sie hatte den Auftrag zu verallgemeinern, zu allegorisieren, über die Schilderung der Fakten hinaus eine moralisierende, zeitlose Gültigkeit zu beanspruchen. Ob es sich bei Manets Der Tod des Maximilian um ein Historienbild mit ähnlichem Anspruch handelt, ist vor diesem Hintergrund nicht so einfach zu bestimmen, da auf den ersten Blick lediglich eine Hinrichtung zu sehen ist, die eher konkret als allgemein anmutet. Doch bereits die Monumentalität des Gemäldes (2,52 m x 3,02 m) alludiert auf das Genre des Historienbilds; die Figuren sind fast lebensgroß. Die

Salon-Jury hatte allein wegen seiner Größe über ein Historienbild zu urteilen, an das strengere Maßstäbe anzusetzen waren als an Genre- oder Landschaftsbilder. Manets Historienbild verstieß offensichtlich gegen die Konventionen der Gattung. Noch im Jahr zuvor wurden zwei Gemälde von einem gewissen Jules-Marc Chamerlat auf dem Salon von 1868 ausgestellt, die Maximilians Erschießung zum Thema hatten. Beide Bilder sind nicht erhalten, aber ihre Titel sind überliefert: Kaiser Maximilian im Kapuzinerkloster und Der Abend nach der Erschießung, ein Gemälde, das vermutlich den aufgebahrten Leichnam Maximilians zeigte. Damit zählte es zum Typus des „einsamen Leichnams“, der in der Historienmalerei ebenso anerkannt wie verbreitet war.

Bildbesprechung

Doch für den Tod des Maximilian wählte Manet gerade nicht den „einsamen Leichnam“, stattdessen aber den Moment der Erschießung, der im Zusammenhang des Heldentodes in der Historienmalerei nicht vorkam – abgesehen von christlichen Märtyrerdarstellungen. Die profane Darstellung von Erschießungen war Angelegenheit der Zeitungsillustration, die zur Reportage, eben nicht zum salonwürdigen Historienbild zählte. Als Nachrichtenbilder erschienen in der Bildgeschichte auch die anderen tragischen Heldentode in Form von Flugblättern, wie z. B. die Ermordung Wallensteins oder die Hinrichtung des Stuartkönigs Charles I. Allein Goyas Gemälde Erschießung vom 3. Mai 1808 (2,55 m x 3,45 m) aus dem Jahr 1814 stellt in dieser Hinsicht die wichtigste Ausnahme der Kunstgeschichte dar, welche die Regel bestätigt. Diese anonymen Opfer aus den unteren Gesellschaftsschichten bilden mit Goyas Darstellung einen neuen Heldentypus. Goyas Helden sind das rebellische Volk (keine Götter, Könige oder Feldherren). Erstmals treten Helden aus dem gemeinen Volk im Historienbild der herrschenden Partei gleichwertig gegenüber, auch wenn es ihr Untergang ist. Goya schuf eine Mischung aus Reportage- und Historienbild. Eine Darstellung dieser Art hat es in der Historienmalerei nicht wieder gegeben. Erst Manet übernahm Goyas Aufstellung von rückenansichtiger Soldatenreihe und den links platzierten Verurteilten. Goyas anonyme Volkshelden ersetzte Manet durch hohe Persönlichkeiten – eine nicht zu unterschätzende Annäherung an die traditionelle Historienmalerei, deren Helden stets zur Elite ihrer Gesellschaft zählten. Mit seinem Gemälde beweist Manet seine profunde Auseinandersetzung mit der Geschichte des Historienbildes. Er präsentiert uns ein Historienbild voller Widersprüche, das sich der Tradition dieser Königsdisziplin ebenso aufdrängt, wie es mit provokanten Regelverstößen Distanz schafft. Philipp Zitzlsperger

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Faksimile Ein Völkermordprozess wider Willen

„Genozid“, damals in seinen autobiografischen Aufzeichnungen: „Doch kann jemand sich selbst dazu ernennen, Gerechtigkeit auszuüben? […]. Ich hatte zwar noch keine endgültigen Antworten, aber das sichere Gefühl, dass die Welt ein Gesetz gegen diese Form von rassisch oder religiös begründetem Mord erlassen musste. Souveränität, meinte ich, kann nicht als das Recht missverstanden werden, Millionen unschuldiger Menschen umzubringen.“ 2 Lemkin verfasste während des Zweiten Weltkriegs seine berühmte Abhandlung über die Besatzungspolitik der Achsenmächte in Europa, in der er zum ersten Mal den Versuch einer juristisch einwandfreien Definition des Begriffs „Genozid“ unternahm. Am 9. Dezember 1948 nahm die Vollversammlung der Vereinten Nationen mit Resolution 260 A (III) auf dieser Grundlage die „Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Genozids“ an. Der Prozess in Berlin 1921 gehört eindeutig zur Vorgeschichte dieser Konvention.

Das Bild aus dem Landgericht Berlin-Moabit von Anfang Juni 1921 zeigt einen ungewöhnlichen Prozess, der Geschichte schrieb. Am 15. März 1921 war Talaat Pascha, der ehemalige Großwesir des Osmanischen Reichs, in Berlin erschossen worden. Verhandelt wurde gegen den Attentäter Soghomon Tehlirjan, einen jungen Armenier. Der Prozess endete zur allgemeinen Überraschung mit Freispruch. Mehmet Talaat befand sich auf der zweiten Entente-Liste türkischer Kriegsverbrecher und war durch ein osmanisches Kriegsgericht in Istanbul am 5. Juli 1919 in Abwesenheit unter anderem wegen seiner herausragenden Rolle bei den armenischen Massakern 1915/16 zum Tode verurteilt worden. Für die deutsche Politik bedeutete das Attentat vom 15. März 1921 eine delikate Angelegenheit. Nach wie vor beherrschte das Thema Rolf Hosfeld der Kriegsschuldfrage die internationale Debat1 George R. Montgomery: Why Talaat’s Assassin was te. Die Gefahr war groß, dass bei diesem Prozess Acquitted, New York Times Current History, Juli die Rolle der deutschen Regierung während des 1921. armenischen Völkermords öffentlich zur Spra2 Raphael Lemkin: Totally Unofficial. The Flight, New York Public Library, Rare Books Division: che kommen könnte. Raphael Lemkin Papers, Reel 2 (Unveröffentlichte Der Freispruch hatte jedoch positive interautobiografische Fragmente), S. 18 u. 19. nationale Auswirkungen. „Obwohl die Verteidigung von Tehlirjan auf zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit plädierte“, kommentierte die New York Times den überraschenden Ausgang, „war seine wirkliche Verteidigung die entsetzliche Vergangenheit von Talaat Pascha, wodurch der Freispruch des Armeniers von der Anklage des Mords in deutscher Sicht zum Todesurteil für den Türken wurde.“ 1 Es war diese innere Dialektik, die den Prozess vom Juni 1921 zu einem der denkwürdigsten gemacht hat, die jemals in Deutschland stattgefunden haben. Tehlirjan habe sich selbst zum Vollstrecker des Gewissens der Menschheit ernannt, schrieb Raphael Lemkin, der geistige Vater des Begriffs

Faksimile

Sitzungssaal des Landgerichts III zu Berlin, Schwurgerichtsverfahren gegen Sogomon Tehlirjan (Prozess Talaat Pascha).

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Tafel 1: Bei Facebook veröffentlichtes Foto ägyptischer Aktivisten.

Tafel 2: Graffiti am Tahrir-Platz mit den Gesichtern von Mubarak, Tantawi und dem Muslimbrüder-Führer Badia.

Farbtafeln

Tafel 3: Schwarzer Block, 15.10.2011, Rom.

Tafel 4: „Er pelliccia“, 15.10.2011, Rom.

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Tafel 5: Mischa Kuball: public square, Hamburg 2007, 60 min.

Tafel 6: Guy Fawkes-Maske.

Farbtafeln

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Tafel 7: Guerilla Knitting, Wien, 19. März 2011.

Tafel 8: bolognaburns! – Mobilisierungs-Video (deutsch, Demo/Blockade), hochgeladen von bolognaburns.org am 3.März 2010, Video-Stills.

Tafel 9: Stil-Foren – Angebote für Selbst­insze­nierungen.

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Tafel 10: Museum of Contemporary Art Kraków und Verwaltungsgebäude der Schindler Fabrik.

Tafel 11: Museum of Contemporary Art Kraków.

Farbtafeln

Silvia Nadjivan

Hegemoniale Körperbilder und Ikonografien im serbischen Folk und Turbo-Folk Der folgende Beitrag beleuchtet die Entwicklung von jugoslawischem und postjugoslawischen Folk, wobei die daran gebundene dynamische und veränderbare Ikonografie des Körpers im gesamtgesellschaftlichen Kontext analysiert wird. In Anlehnung an die Politikwissenschafterin Eva Kreisky1 wird davon ausgegangen, dass sich dominierende Macht- und Herrschaftsverhältnisse auch „in hegemonialen Körperbildern, in Körperidealen und Idealkörpern“ manifestieren, wodurch das „dominante Herrschafts- und Geschlechterarrangement […] die ‚Ordnung des Körpers‘ “ 2 produziert. So wird in diesem Beitrag dem Körper als „Phantasma“ 3 nachgespürt, um anhand konkreter Beispiele die visuelle Ästhetik von Neuer Volksmusik (Folk) und Turbo-Folk in Serbien zu untersuchen. Die ausgewählten Bilder werden gemäß Sabine Maasen, Torsten Mayerhauser und Cornelia Renggli „als Elemente und Vehikel von Dispositiven“ 4 verstanden. Die zentrale Ausgangslage ist, dass Bilder soziale Wirklichkeiten nicht einfach abbilden, sondern selbst schaffen und dadurch „in bestimmten Macht-Wissens-Konstellationen (Dispositiven)“ 5 wirksam werden. In diesem Sinn werden die „komplexen, sich wechselseitig bedingenden, miteinander interagierenden Verhältnisse zwischen Sichtbarem und Sagbarem“ 6 aufgespürt, um das Unsichtbare und Verschwiegene zu erörtern. Die zentralen Fragen sind hier, welches Wissen die ausgewählten Bilder zu Folk und Turbo-Folk re-produzieren, welches sie zugleich verschweigen und inwiefern sie hegemoniale Machtverhältnisse in politischen Ordnungen stützen. Entstehung und Entwicklung der Neuen Volksmusik in Jugoslawien

Zwischen Volkskultur und Populärkultur wird grundsätzlich klar unterschieden, indem die erstgenannte mit ruralen Traditionen in Verbindung gebracht und die

1 Eva Kreisky: Ermattete Staatskörper und (re-)vitalisierte Körpermärkte. In: Birgit Sauer, Eva-Maria Knoll (Hg.): Ritualisierungen von Geschlecht, Wien 2006, S. 223–242, S. 224. 2 Alfons Labisch: Gesundheit: Die Überwindung von Krankheit, Alter und Tod. In: Richard von Dülmen (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien/ Köln/Weimar 1998, S. 507–536, S. 524; zit.n. Kreisky: Staatskörper (s. Anm. 1), S. 224. 3 Kreisky: Staatskörper (s. Anm. 1), S. 224. 4 Sabine Maasen, Torsten Mayerhauser, Cornelia Renggli: Bild-Diskurs-Analyse. In: Ebd. (Hg.): Bilder als Diskurse – Bilddiskurse, Weilerswist 2006, S. 7–26, hier S. 7; vgl.: Sebastian Friedrich, Margarete Jäger: Methodologische und methodische Überlegungen zu einer Erweiterung der Wergzeugkiste. In: DISS-Journal 21/2011. In: http://www.diss-duisburg.de/2011/09/die-kritische-diskursanalyseund-die-bilder/ (Stand: 05/2012). 5 Friedrich, Jäger (s. Anm. 4). 6 Maasen, Mayerhauser, Renggli (s. Anm. 4), S. 8.

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zweitgenannte als urbanes Massenprodukt assoziiert wird.7 Obwohl de facto Volksmusik selbst zahlreiche Stilrichtungen umfasst, können dennoch laut Carina Sulzer zentrale Unterschiede zu Popmusik festgestellt werden, allen voran das narrative Potenzial von Volksmusik – als Speicher 1: Silvana Armenuli´c. des kollektiven Gedächtnisses und Wissens,8 was im Folgenden gezeigt wird. Auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien reichen die Ursprünge der Neuen Volksmusik bzw. „neu komponierten Volksmusik“ in die Zwischenkriegszeit zurück, als in Anlehnung an alte folkloristische Lieder neue komponiert wurden, die von den Originalen kaum zu unterscheiden waren.9 In den 1960er-Jahren änderte sich der Liederstil in Richtung einer deutlich freieren, verstärkt marktwirtschaftlichen Interpretation von Folklore, was mit dem Aufstieg der jugoslawischen Plattenindustrie und der Entstehung zahlreicher lokaler Radiostationen in ganz Jugoslawien einherging.10 Die Neue Volksmusik entwickelte sich seit den 1960er-Jahren zu einer besonders einflussreichen kulturellen Strömung,11 was vom Tito-Regime auch gefördert wurde.12 Nach dem COMINFORM-Ausschluss Jugoslawiens 1948 wurde die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung eingerichtet, die seit den 1950erund vor allem seit den 1960er-Jahren zu einem enormen Liberalisierungsschub im Wirtschaftsbereich und folglich in der Massenkommunikation und im Unterhaltungssektor führte. Die friedliche Integration verschiedener Nationen, Ethnien und sozialer Klassen konnte zugleich massenmedial inszeniert werden, wobei der Volksmusik eine wichtige Rolle zukam. Der kollektive musikalische Genuss schien soziale Unzufriedenheit und Protest diskursiv zu überdecken. Das von der beliebten Folk-Sängerin Silvana Armenulić 1976 geschossene Photo ◊ Abb. 1 illustriert eine Idylle, die sowohl in Westeuropa als auch in den USA 7 Carina Sulzer: Stepping out of Line. Hybrid Phenomena in Popular Culture and Urban Folk Music. In: Gerhard Steingress (Hg.): Songs of the Minotaur: Hybridity and Popular Music in the Era of Globalization ; a Comparative Analysis of Rebetika, Tango, Rai, Flamenco, Sardana, and English Urban Folk, Berlin 2002, S. 217–254, S. 227. 8 Sulzer (s. Anm. 7), S. 228f. 9 Ivana Kronja: Smrtonosni sjaj. Masovna psihologija i estetika turbo – folka. The Fatal Glow. Mass Psychology & Aesthetics of Turbo – Folk Subculture 1990 – 2000, Beograd 2001, S. 16; weiterführende Literatur: Ivan Čolović: Divlja književnost (Wilde Literatur), Beograd 1981, S. 141. 10 Olović; zitiert nach Kronja (s. Anm. 9), S. 17. 11 Kronja (s. Anm. 9), S. 8. 12 Dubravka Ugrešić: Kultur der Lüge, Baden-Baden 1995, S. 188.

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anzutreffen wäre. Die sozialen und politischen Proteste im Kontext der europaweiten 1968er-Bewegung waren zu diesem Zeitpunkt bereits niedergeschlagen, ein stärker föderalistisch ausgerichtetes Jugoslawien eingerichtet und der Staatschef Josip Broz Tito in seiner Position gestärkt. Wie in Abb. 1 zu sehen, verdeutlichten die kolportierten Schönheitsideale und Kleidungsstile der Neuen Volksmusik die Orientierung in Richtung Westeuropa und USA. Diese Orientierung bezog sich zu Titos Lebzeiten auf die Unterhaltungsindustrie, nicht auf das politische System. Ikonografie der Neuen Volksmusik

Während der 1980er-Jahre, als nach Titos Tod ein ideologischer Pluralismus in Jugoslawien einsetzte, avancierte Lepa Brena (mit bürgerlichem Namen Fahreta Jahić) zum beliebtesten und erfolgreichsten Star der Neuen Volksmusik im gesamten Jugoslawien. ◊ Abb. 2 Sie und ihre Band – Lepa Brena i slatki greh (Schöne Brena und süße Sünde) – vermischten zusehends Folk- und Pop-Elemente in ihren Liedern. Die westlich-orientierte Ikonografie der Neuen Volksmusik veranschaulicht die Kulturwissenschaftlerin Milena Dragićević-Šešić anhand des Vergleichs zwischen der Neo-Folk-Sängerin Lepa Brena (während der 1980er-Jahre) und einer Barbiepuppe: Die physischen Merkmale der Sängerin – lange Beine und blondes, perfekt gestyltes Haar – entsprechen USamerikanischen und westeuropäischen (kurz: westlichen) Schönheitsidealen wie im Fall der Barbiepuppe des Herstellers Mattel, der weltweit meist verkauften Mode-Puppe.13 ◊ Abb. 3

2: Lepa Brena.

3: Barbie.

13 Milena Dragićević-Šešić: Neofolk kultura – publika i njene zvezde, Sremski Karlovci – Novi Sad 1994; zitiert nach Kronja (s. Anm. 9), S. 22f.

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Ende der 1980er-Jahre, als Ethno-Nationalismen in ganz Jugoslawien forciert und von politischen Eliten für den eigenen Machterhalt instrumentalisiert wurden, etablierten sich zwei weitere Sängerinnen in Serbien, die während des kriegerischen Zerfalls des ehemaligen Jugoslawien in den 1990er-Jahren die erfolgreichsten Turbo-Folk-Interpretinnen werden 4: Svetlana (Ceca) Veli´ckovi´c -Ražnatovi´c. sollten: Dragana Mirković und Svetlana (Ceca) Velićković-Ražnatović.14 ◊ Abb. 4 Die zweitgenannte stieg mit 14 Jahren in die Unterhaltungsbranche ein und erfuhr besondere Aufmerksamkeit, nachdem sie Željko Raźnatović (Arkan), den Anführer der paramilitärischen Einheit Tigrovi, 1995 heiratete. Arkan war bis zu den 1980er-Jahren eine Hauptfigur der kriminellen Szene Belgrads und Direktor des Fußballfanklubs „Roter Stern Belgrad“. Er wurde mit Ausbruch der jugoslawischen Kriege Chef der paramilitärischen Formation „Tiger“ („Tigrovi“) und später Chef der Parlamentspartei SSJ (Partei der Serbischen Einheit). An seiner Person lässt sich zeigen, wie Politik, Kapital, Militär bzw. Paramilitär und Kriminalität sowie Kriegsverbrechen miteinander verknüpft waren.15 Die Hochzeit der TurboFolk-Sängerin und des nationalistisch stilisierten „Helden“ bzw. nicht verurteilten (weil zuvor ermordeten) mutmaßlichen Kriegsverbrechers wurde nicht nur opulent und gemäß traditionellem, südosteuropäischem Brauch inszeniert, sondern sogar als „Hochzeit des Jahrhunderts“ 16 im staatlichen Fernsehen live übertragen. Mit dem kriegerischen Zerfall des jugoslawischen Staatssozialismus mündete die Neue Volksmusik in Turbo-Folk und in „neu komponierter Kriegskultur“ der 1990er-Jahre.17

14 Kronja (s. Anm. 9), S. 17. 15 Mary Kaldor: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2000, S. 77; Norbert Mappes-Niediek: Balkan-Mafia. Staaten in der Hand des Verbrechens – eine Gefahr für Europa, Berlin 2003, S. 35–40; vgl. Silvia Nadjivan: Wohl geplante Spontaneität. Der Sturz des Milošević-Regimes als politisch inszenierte Massendemonstration in Serbien, Wien 2008. Željko Raźnatović (Arkan), der 1997 vom UN-Kriegsverbrechertribunal 1997 wegen Völkermord und Vertreibung angeklagt wurde, entging unter dem Milošević-Regime einer Auslieferung nach Den Haag. Er wurde 2000 in Belgrad ermordet. 16 Vgl. Sonja Vogel: Ceca steht für Potenz, Reichtum, Heterosexualität. In: Welt Online, 05.10.2010. In: http://www.welt.de/kultur/musik/article10072235/Ceca-steht-fuer-Potenz-Reichtum-Heterosexualitaet.html (Stand: 02/2012). 17 Dragićević-Šešić (s. Anm. 13); zitiert nach Kronja (s. Anm. 9), S. 19.

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Entstehung und Aufstieg von Turbo-Folk

Der Begriff Turbo-Folk verbindet „Beschleunigung“ mit Volksmusik.18 Wie vom Musiker Rambo Amadeus (mit bürgerlichen Namen: Antonije Pušić) behauptet und dementsprechend überliefert, prägte dieser die ursprünglich ironisch intendierte Bezeichnung Ende der 1980er-Jahre. Er bezeichnete damit seine eigenen Lieder, die Neue Volksmusik parodierten. Das satirische Wortgebilde entwickelte bald eine Eigendynamik und definierte eine Musik- und Kulturrichtung, die neukomponierte Volksmusik, Dance, „neue serbische Musik“ und schließlich Turbo-Folk selbst umfasste.19 Der Künstler Antonije Pušić nahm auf der sprachlichen Ebene nicht nur die musikalische Entwicklung, sondern auch die politische vorweg. Mit seiner Sprachschöpfung persiflierte er zwar die Ideologie und die daran gekoppelte Ikonografie der „folklorisierten Folklore“,20 prophezeite jedoch die ideologische Verschmelzung von Musik, Politik und Kriegsökonomie. Mit seinem Künstler-Namen Rambo Amadeus verwies er auf den „Ramboismus“ 21 und die inszenierten Maskulinismen der bald folgenden „Neuen Kriege“. Diese Kriege zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass die offiziellen Kriegsparteien weniger in direkte Kämpfe gegeneinander, sondern eher im Tauschhandel untereinander verwickelt waren und dabei in Feldzügen vorwiegend gegen die Zivilbevölkerung vorgingen.22 Zur Transformation von Folk in Turbo-Folk Anfang der 1990er-Jahre, während der Neuen Kriege, kam es, indem die volksmusikalische Matrix durch damals aktuelle Rap- und Dance-Elemente und Techno-Rhythmen ergänzt wurde.23 Die bisher jahrzehntelang kolportierten klaren Grenzen zwischen Volksmusik (narodna muzika) und Rock- und Popmusik (wörtlich: Unterhaltungsmusik, zabavna muzika) verschwammen zusehends.

18 Kronja (s. Anm. 9), S. 10. 19 Kronja (s. Anm. 9), S. 10. 20 Ivan Čolović: Divlja književnost. Etnolingvističko proučavanje paraliterature. Drugo, dopunjeno izdanje [Wilde Literatur. Ethno-linguistische Studie der Paraliteratur. Zweite, erweiterte Ausgabe], Beograd 2000, S. 253. 21 Eva Kreisky: Männlichkeit regiert die Welt. Ein Exemplarischer Rückblick: der Krieg im Kosovo als Arena von Männlichkeiten. Zur Relevanz der Dekodierung von Geschlechtlichkeit, o.J. In: http:// evakreisky.at/onlinetexte/maennlichkeit_kreisky.php (Stand: 02/2012). 22 Verblüffend ähnlich erscheint hierbei die maskulinistische Ikonografie von Milorad Luković Ulemek (Legija) auf der serbischen und Ante Gotovina auf der kroatischen Seite. Beide paramilitärischen Akteure und verurteilten (Kriegs-)Verbrecher waren in den 1980er-Jahren französische Fremdenlegionäre. Ulemek wurde im Zusammenhang mit der Ermordung des Premiers Zoran Ðinðić zu 40 Jahren Haft verurteilt. Gotovina wurde vom ICTY in zweiter Instanz freigesprochen. 23 Kronja (s. Anm. 9), S. 11.

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5: Seka Aleksi´c.

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Da sich Turbo-Folk als lukrative Einnahmequelle entpuppte, spezialisierten sich private Medien, hier vor allem neu gegründete serbische Fernsehstationen wie TV Palma (1991) und TV Pink (1994), die mit der politischen Elite Miloševićs eng verstrickt waren, mit eigenen Fernsehshows und Produktionshäusern auf diese Musikrichtung.24 Ähnlich wie private Fernsehsender nahm auch der staatliche Rundfunksender RTS in den 1990er-Jahren das Turbo-Folk-Genre in sein Programm auf, so dass es sich bald zur dominanten Musik- und Kulturrichtung entwickelte. Im Kontext von Krieg und Elend wurden Phantasmen von Besitz und Kapital massenmedial verbreitet. Bekannte Sängerinnen verkehrten in regierungsnahen Kreisen einer neu entstandenen sozialen Klasse von Kriegsprofiteuren, Neureichen, neuen „business-men“ und Kriminellen, die Turbo-Folk als ihre Musikrichtung entdeckten und finanziell sowie medial förderten.25 So erfolgte der ideologische Orientierungswechsel von Neuer Volksmusik auf Turbo-Folk weniger auf der Text-Ebene, als vielmehr auf der kontextuellen Ebene und visuellen Inszenierung der Lieder. Ästhetik von Turbo-Folk

Turbo-Folk knüpfte an die Ikonografie der Neuen Volksmusik an, unterschied sich jedoch von dieser dadurch, dass er die US- und westeuropäischen Strömungen der 1990er-Jahre internalisierte, was nicht zuletzt an der perfekt inszenierten, zeitgemäßen MTV-Bildästhetik der Musikvideos und Konzerte zu erkennen war. Der „Stil des kriegerischen Chiques“ 26 propagierte klar definierte Geschlechterrollen und -bilder. Die Sängerin bzw. Frau innerhalb dieser glamourösen Welt erscheint als begehrenswertes Objekt und Ware. Ihr Aussehen dient dazu, den Mann anzuziehen, zu erregen und schließlich – von diesem erobert bzw. als Statussymbol erworben – dessen (bedeutende) gesellschaftliche Position zu untermauern.

24 Kronja (s. Anm. 9), S. 27. 25 Kronja (s. Anm. 9), S. 16. 26 Ratka Marić: Značenje potkulturnih stilova – istraživanja omladinskih potkultura [Bedeutung subkultureller Stile – Untersuchung jugendlicher Subkulturen]. Disertacija, Beograd 1996, 236–286; zitiert nach Kronja (s. Anm. 9), S. 13.

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Die Ordnung des Körpers korrelierte mit ethno-nationalistischen Transformationen der politischen Ordnung. Die ersten Mehrparteienwahlen 1990 führten zum Sieg ethno-nationalistischer Parteien in den einzelnen Teilrepubliken und damit zum Ausschluss von Frauen aus dem politischen Leben. So fiel der Anteil von weiblichen Abgeordneten in den Parlamenten auf unter 10 Prozent.27 Der rigorose institutionelle Ausschluss von Frauen ging mit ethno-nationalistischen Diskursen einher: Dichotome Diskurse zu Staat, Nation und Religion dienten dazu, die Abschaffung bürgerlicher Rechte, insbesondere der formalen Geschlechtergleichheit, 6: Jelena Karleuša. zu legitimieren.28 Während Männlichkeit Staatsmacht, Stärke und Sieg suggerierte, bedeutete Weiblichkeit Passivität und Hilflosigkeit.29 In diesem Sinn wurde das Subjekt Frau diskursiv auf das Objekt Körper mit ausgeprägten weiblichen Attributen reduziert. Als Mitglieder des eigenen Kollektivs wurden sie auf die Funktion einer „Gebärmaschine“ reduziert, als Angehörige des anderen, feindlichen Kollektivs als Zielscheibe von Zerstörung missbraucht. Schließlich ging es nicht um Frauen als Individuen, sondern um Objekte maskulinistischer Nationen und um das maskulinistische „Phantasma der territorialen Integrität“.30 Das bedeutet letztlich die endlose Re-Konstruktion von Frauen als das „Andere“.31 Die „schöne neue rosa-rote Welt“ des Turbo-Folk und der damit verbundenen Ikonografie verdeckten – wie an Cecas Musikvideos und Konzerten ◊ Abb. 4 ersichtlich – derartige Entwicklungen auf der Ebene der Denotation, schrieben sie allerdings im Subtext fort. So bleibt im Turbo-Folk die Reduktion von Frauen als sexualisierte und reproduzierende Objekte auch in Zeiten des Post-Konflikts bestehen, wie an der Inszenierung von Seka Aleksić erkennbar wird. ◊ Abb. 5 27 Vlasta Jalušić: Freedom versus Equality? Some Thoughts about the Attitudes Towards Gender Equality Politics in Eastern and Central Europe. IWM Working Paper, no.1, 1998, S. 2. In: http:// www.iiav.nl/epublications/1998/freedom_versus_equality.pdf (Stand: 09/2008). 28 Žarana Papić: Women in Serbia, Post-Communism, War, and Nationalist Mutations. In: Sabrina P. Ramet (Hg.): Gender Politics in the Western Balkans, Pennsylvania 1999, S. 153–169, S. 154. 29 Obrad Kesić: Women and Gender Imaginary in Bosnia: Amazons, Sluts, Victims, Witches, and Wombs. In: Ramet (Hg.) s. Anm. 28, S. 187–202, S. 187. 30 Renata Salecl: Politik des Phantasmas. Nationalismus, Feminismus und Psychoanalyse, Wien 1994. 31 Papić (s. Anm. 28), S. 154.

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Resümee

Nachdem die Neue Volksmusik und ihre Ikonografie die völkerverbindende Idee des jugoslawischen Staatssozialismus gestützt hatten, konnte Turbo-Folk von der serbischen bzw. postjugoslawischen Elite rund um Slobodan Milošević für ethnonationalistische Zwecke instrumentalisiert werden. Nicht die Denotation, sondern die Konnotation der Turbo-Folk-Ikonoprafie legitmierte die Politik des MiloševićRegimes, verbunden mit rechtsstaatlichen Einschnitten und Neuen Kriegen. Zwanzig Jahre nach Ausbruch der Neuen Kriege hat sich der serbische Turbo-Folk seiner ethno-nationalistischen, chauvinistischen Konnotation größtenteils entledigt, wobei dessen Ikonografie gleichgeblieben ist. So können mittlerweile Sängerinnen wie Jelena Karleuša problemlos in allen jugoslawischen Nachfolgestaaten auftreten. ◊ Abb. 6 Die Ordnung des Körpers hat sich der gegenwärtigen politischen Ordnung angepasst. Als finanziell höchst lukrative Musikrichtung bleibt Turbo-Folk nach wie vor im Dunstkreis politischer und wirtschaftlicher Eliten angesiedelt. Dessen Bilder konstruieren unter dem gegenwärtigen Dispositiv des EU-Integrationsprozesses adäquate soziale Wirklichkeiten, fungieren als Speicher kollektiven Gedächtnisses (wenn auf die jahrzehntelange Prominenz von Lepa Brena rekurriert wird) und fungieren umgekehrt als Container kollektiver Amnesie (wenn z. B. kriminelle Momente in Cecas Vergangenheit ausgeblendet werden). Aufgrund gleichbleibender Denotation und austauschbarer Konnotation können Turbo-Folk-Bilder und -Videos unter dem Phantasma von Prestige und Chic neue Zielgruppen und jüngere Generationen ansprechen, die das ehemalige Jugoslawien und dessen kriegerischen Zerfall nicht mehr selbst erlebt haben.

Wojciech Bałus

MOCAK und der Mythos der Modernität in Krakau

2004 initiierte das polnische Kulturministerium das Programm „Zeichen der Zeit“. Dessen Ziel war es unter anderem, ein Netzwerk von Museen und interdisziplinären Zentren für Kultur der Gegenwart zu bilden, die Kulturwerke unserer Zeit sammeln, aufbewahren und zugänglich machen sollten.1 Ein Jahr später wurde die Investitionsaufgabe „Einrichtung des Museums für Zeitgenössische Kunst“ im Stadtbudget Krakaus berücksichtigt.2 Das Gebäude der neuen Institution, des MOCAK (Museum of Contemporary Art Kraków), entstand in Folge eines internationalen Wettbewerbs, der 2007 entschieden wurde. Der Siegerentwurf stammte von den italienischen Architekten Claudio Nardi und Leonardo Prioli. Das Museumsgebäude wurde – allerdings noch als Rohbau – am 16. November 2010 feierlich eröffnet, mitten im Wahlkampf vor den Selbstverwaltungswahlen.3 Die ersten Ausstellungen konnten erst ein halbes Jahr später, ab 19. Mai 2011 besucht werden (damals fand die abermalige Eröffnung statt). Das MOCAK-Gebäude wurde auf dem Gebiet von Zabłocie, am rechten Weichselufer errichtet. ◊ Abb. 1 Das historische Krakau entwickelte sich bis zum 19. Jahrhundert am linken Ufer des Flussbettes; nur das Stadtviertel Kazimierz mit dem jüdischen Viertel war zwischen dem Hauptflussbett und dem Arm der Alten Weichsel, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zugeschüttet wurde, gelegen. Bei der ersten Teilung Polens 1772 wurde die Grenze zu Österreich entlang der Weichsel gezogen. Bald darauf entstand – gegenüber Krakau – die österreichische Stadt Podgórze (1784).4 Zabłocie, ein Dorf mit Wurzeln im Mittelalter, wurde Bestandteil dieses neuen städtebaulichen Organismus.5 Ein besonderer Status kam Krakau im 19. Jahrhundert zu. Als alte Hauptstadt Polens wurde es zu einem patriotischen Wallfahrtsort für die Bevölkerung des ganzen Landes. Man kam nach Krakau, um die Denkmäler der nationalen Vergangenheit zu besichtigen: die Wawel-Kathedrale (Begräbnisstätte der meisten historischen Herrscher Polens), das Königsschloss, die Marienkirche mit dem Veit-Stoß-Altar und andere historische Bauten und Kunstwerke. Die Stadt wurde bald als „Reliquiar nationalen Erinnerungsgutes“ und „geistige Hauptstadt Polens“ 1 Narodowy Program Kultury Znaki Czasu na lata 2004–2013, http://bip.mkidn.gov.pl/media/docs/ NPK_Znaki_Czasu.pdf (Stand: 20.02.2012). 2 Utworzenie Muzeum Sztuki Współczesnej w Krakowie, Dokument im Archiv von MOCAK. 3 Dawid Hajok, Tomasz Handzlik: Stare i nowe w muzeum, Gazeta Wyborcza (dodatek krakowski), 17.11.2010, S. 3. 4 Rudolf A. Mark: Galizien unter österreichischen Herrschaft. Verwaltung – Kirche – Bevölkerung, Marburg 1994, S. 1, 4. 5 Michał Wiśniewski: Zabłocie – a perfect example of revitalisation?, Herito 4, 2011, S. 60.

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apostrophiert. Dank der Autonomie, die Galizien 1866 erlangte, konnte sich in Krakau auch die polnische Kultur ziemlich frei entwickeln: Es existierte bereits die repolonisierte Jagiellonen-Universität (gestiftet 1364), gegründet wurden die Akademie der Wissenschaften und das erste Nationalmuseum. Die Stadt wurde auch zum Zufluchtsort für zahlreiche von Germanisierungsund Russifizierungsmaßnahmen 1: Das große Krakau, Stadtplan von 1910, betroffene Flüchtlinge aus dem rusZabłocie rechts unten zwischen Podgórze und Płaszów. sischen und dem preußischen Teilungsgebiet.6 In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts stützte sich die Entwicklung Krakaus hauptsächlich auf sein immaterielles Vermögen. Entscheidend für den Aufschwung der Stadt war ihre symbolische Funktion.7 Eine verspätete Modernisierung und Industrialisierung setzten erst zu Ende des Jahrhunderts ein. Die Standorte der meisten Industriebetriebe befanden sich aber außerhalb der Stadt – in dem immer noch selbstständigen Podgórze, vor allem auf dem Gebiet von Zabłocie, unweit der Eisenbahnlinie.8 Hoffnungen auf eine weitere Entwicklung Krakaus wurden am Anfang des 20. Jahrhunderts durch österreichische Pläne zum Bau eines Donau-Oder-Weichsel-Dnjestr-Kanals entfacht, in denen die einstige Hauptstadt eine nicht unwesentliche Rolle als großer Binnenhafen spielen sollte.9 Die Umsetzung der Pläne wurde zwar durch den Ersten Weltkrieg durchkreuzt, doch die Idee des Kanals ließ die Bemühungen um eine Erweiterung der Stadt ausreifen. 1909 gelang es, die entsprechenden Verträge mit einem Dutzend Nachbargemeinden zu unterzeichnen, allerdings ohne Podgórze, das am längsten – bis 1915 – der

6 Wojciech Bałus: Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne. Zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 23–32. 7 Jacek Purchla: Krakau unter österreichischen Herrschaft 1846–1918. Faktoren seiner Entwicklung, Wien/Köln/Weimer 1993. 8 Jacek Purchla: Kraków i Lwów wobec nowoczesności, w: Kraków i Galicja wobec przemian cywilizacyjnych (1866–1914), Kraków 2011, S. 232. 9 Jacek Purchla: Der Anfang war auch schon das Ende, Austria Today 1992, D2, S. 29–30.

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Eingemeindung widerstand.10 Als Symbol dieses Widerstandes und einer immer wieder betonten Souveränität kann der Turm der neugotischen Pfarrkirche (gebaut 1903–1909) gedeutet werden, der die Form des höheren Turmes der gotischen Marienkirche, eines der markantesten Wahrzeichen Krakaus, wiederholte.11 In der Zwischenkriegszeit wahrte Zabłocie seinen industriellen Charakter. Unter den vielen damals funktionierenden Betrieben war auch die Email- und Blechwarenfabrik Rekord, gegründet drei Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von den jüdischen Unternehmern Izrael Kohn, Wolf Luzer Glajtman und Michał Gutman. Nachdem das Werk im Juni 1939 Konkurs angemeldet hatte, wurde es im November im gleichen Jahr, d.h. schon nach der Besetzung Polens durch Hitlerdeutschland, von Oskar Schindler übernommen. Er erweiterte die Fabrik, indem er neue Produktionshallen und das Verwaltungsgebäude in der Lipowa-Straße 4 (gebaut 1941–1942) errichten ließ.12 Nachdem sich der deutsche Unternehmer „bei dem sadistischen Kommandanten des KZ Plaszow Amon Göth die Möglichkeit erbeten hatte, ein Unterlager an diesem Ort einzurichten, konnte er hierher einen Teil der Gefangenen aus dem KZ-Mutterlager verlegen, wodurch er ihnen das Leben rettete. Es waren hauptsächlich Gefangene jüdischer Herkunft, wobei zu bemerken ist, dass nicht nur Schindler ihnen das Leben rettete. Ähnlich handelten die deutschen Eigentümer der Firmen Madritsch und Optima, sowie der Pole, Ingenieur Chmielewski, der die Aufsicht über die für die Deutschen wichtige Barracken-Fabrik hatte“.13 In Podgórze, nicht weit von Zabłocie, befand sich auch das Ghetto (in den Jahren 1941–1943). In der Nachkriegszeit blieb Zabłocie weiterhin ein Industrieviertel. Die kommunistischen Behörden strebten eine Veränderung der sozialen Struktur des „bürgerlichen“ und „reaktionären“ Krakaus an – aus diesem Grund legten sie großen Wert auf eine weitere Industrialisierung und massive Zufuhr der Arbeiter, die einen starken Kontrapunkt zu den bisherigen intellektuellen, künstlerischen und kaufmännischen Eliten der Stadt bilden sollten.14 Neben dem prestigeträchtigen 10 Purchla: Kraków i Lwów (wie Anm. 8), S. 231–232; Hanna Kozińska-Witt: Krakau in Warschaus langem Schatten. Konkurrenzkämpfe in der polnischen Städtelandschaft 1900–1939, Stuttgart 2008, S. 97–103. 11 Bałus (s. Anm. 6), S. 43–44. 12 Jacek Salwiński: Wokół ulicy Lipowej, Kraków 2011, S. 53–54. 13 Maciej Miezian: Najsłynniejsza fabryka. In: Joanna Targoń, Ryszard Kozik (Hg.): Muzeum Sztuki Współczesnej w Krakowie, Dodatek do Gazety Wyborczej, 23.10.2010, S. 11. 14 Jacek Purchla: Miasto niepokorne. Znaczenie okresu 1945–1956 dla rozwoju Krakowa po drugiej wojnie światowej, In: Ders.: Kraków – prowincja czy metropolia?, Kraków 1996, S. 134–135.

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Bau eines riesigen Eisenhütten-Kombinats samt einer neuen Stadt (Nowa Huta) wurden auch andere Betriebe ausgebaut und gegründet. In Zabłocie entstanden die Kosmetikfabrik Miraculum und die Telekommunikationsgeräte-Fabrik Telpod.15 Nach dem Untergang des Kommunismus ging auch die Industrie in Krakau bald zugrunde. Die Fabriken in Zabłocie wurden ebenfalls geschlossen. Eine verstärkte Degradierung des Viertels setzte ein. Erst am Anfang dieses Jahrhunderts zeichnete sich eine positive Wende ab. Einerseits ermutigte der enorm erfolgreiche Film Schindlers Liste von Steven Spielberg viele Touristen, Zabłocie zu besuchen. Nebenbei sei erwähnt, dass Krakau sich einer zunehmenden Popularität als Reiseziel erfreut: 2008 waren es über 7,5 Millionen Gäste! Andererseits begann 2004 der Prozess einer Gentrifizierung des Stadtviertels. In der Nähe von Zabłocie war schon 2001 eine Autobrücke gebaut worden, was zur besseren Verkehrserschließung dieses Gebiets beigetragen hatte. Die alten Industriebauten wurden immer häufiger zu Lofts umfunktioniert (z. B. die Getreidemühle) und ein Teil der alten Industriebausubstanz wurde abgetragen und durch Apartmenthäuser ersetzt (z. B.: Garden Residence).16 Auch öffentliche Einrichtungen kamen hinzu: das Gebiet der alten Kaserne wurde zum Standort der Krakauer Andrzej-Frycz-ModrzewskiAkademie, einer Hochschule mit universitären und künstlerischen Studiengängen. 2004 übernahm die Stadtgemeinde Krakau die Fabrik Schindlers als Ausgleich für Schulden. Es wurde dabei beabsichtigt, in dem Gebäude ein Museum unterzubringen. Anfangs plädierte man für eine Gedächtnisstätte, die mit der Vergangenheit der Fabrik und des Stadtteils hätte verknüpft werden sollen.17 Es gab · auch Vorschläge, das neue Museum der Konspirationsorganisation Zegota zu widmen, die der jüdischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg half.18 Die endgültige Entscheidung des Stadtpräsidenten Jacek Majchrowski, der die Fabrik Schindlers als Standort des Museums für Gegenwartskunst auswählte, sorgte für Proteste. Krakauer Stadträte der konservativen Partei von Jarosław Kaczyński Recht und Gerechtigkeit waren der Meinung, das Gebiet der Fabrik sei kein angemessener Ort, „einige zeitgenössische Kunstwerke“ zu zeigen, und schlugen eine andere Lösung vor: die Schaffung des Museums der Gerechten unter den Völkern, wofür

15 Wiśniewski (s. Anm. 5), S. 66. 16 Wiśniewski (s. Anm. 5), S. 67–72. 17 Salwiński (s. Anm. 12), S. 56. · 18 Muzeum Zegoty w Fabryce Schindlera, Gazeta Wyborcza (dodatek krakowski), 7.1.2005.

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sie sogar eine Unterstützung vonseiten Yad Vashems erhalten hatten.19 Die Stadtbehörden gingen einen Kompromiss ein – in dem erhaltenen Verwaltungsgebäude entstand eine Niederlassung des Historischen Museums der Stadt Krakau, die die Dauerausstellung Krakau – die Zeit der Besatzung 1939 –1945 präsentiert, während das MOCAK-Gebäude, bei dem man spärliche Reste der historischen Architektur wiederverwenden konnte, anstelle der Fabrikhallen errichtet wurde. Die Wahl von Zabłocie als Standort des Museums für Gegenwärtige Kunst war also eine Entscheidung der Stadt und ein klarer Ausdruck der von Krakau verfolgten Politik. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass das Bauvorhaben vom Stadtpräsidenten als Argument im Wahlkampf verwendet wurde. Zugleich stellte Jacek Majchrowski bei der abermaligen und endgültigen Eröffnung des MOCAK, schon nach seiner Wiederwahl 2010, fest, das Museum sei „ein wesentliches Element der Revitalisierung der postindustrialen Gebiete in Zabłocie“.20 Seine Stadtpolitik habe somit eine Unterstützung für die Wiederbelebungspläne dieses vernachlässigten Viertels angesteuert. Doch damit erschöpft sich die Frage des Standortes nicht. Dass einige öffentliche Einrichtungen am rechten Weichselufer lokalisiert wurden, jenseits des Bahndamms, der unausweichlich ein Zugangshindernis von der Seite der zentralen Teile des Stadtviertels darstellt, drängt die Frage auf, wie das politische Spiel auch in der symbolischen Topografie Krakaus ausgetragen wird. Und dies umso mehr, als die meisten Brücken, darunter auch die zuletzt in Betrieb genommene Fußgängerbrücke, nicht Zabłocie, sondern die weiter westlich gelegenen Teile von Podgórze mit dem Stadtviertel Kazimierz (und dadurch mit der Altstadt jenseits der Weichsel) verbinden. In seinem Kommentar beschränkte sich Stadtpräsident Majchrowski allerdings nicht nur darauf, die Rolle der neuen Museen bei der Revitalisierung des Stadtviertels zu betonen. Er bemerkte auch, dass Zabłocie dank dieser Institutionen „langsam zu einem neuen Zentrum des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens Krakaus wird“.21 Die Direktorin des MOCAK, Maria Anna Potocka, konstatierte hingegen bei der ersten Eröffnung des Gebäudes: „Krakau hat zu Unrecht den Ruf einer Stadt

19 Magdalena Kursa: Yad Vashem popiera Muzeum Sprawiedliwych, Gazeta Wyborcza (dodatek krakowski), 19.6.2007. 20 Jacek Majchrowski: Nowe centrum, In: Joanna Targoń, Ryszard Kozik (Hg.): Muzeum Sztuki Współczesnej w Krakowie, Dodatek do Gazety Wyborczej, 14.5.2011, S. 3. 21 Majchrowski (s. Anm. 20), S. 3.

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gehabt, die sich im Sumpf der Geschichte wälzt, jetzt wird es sich ändern.“ 22 Seine Meinung äußerte damals auch Filip Berkowicz, der Kulturbeauftragte des Stadtpräsidenten: „Krakau änderte sein Gesicht erheblich in den letzten Jahren. Aus einer Stadt, die man eher mit Konservatismus assoziierte und mit 2: Krakau, Marktplatz mit dem Feniks-Gebäude in der letzten Phase des Baus, 1932 (Foto Archiwum Pałstwowe Kraków). Geschichte gleichsetzte, wird es nun zu einer dynamischen und 23 modernen Stadt.“  Die angeführten Meinungen veranschaulichen deutlich, dass der Bau des MOCAK in Zabłocie mit zwei Fragenkomplexen zusammenhing: mit der Diskussion über die Rolle der Geschichte in der Entwicklung und Modernisierung Krakaus sowie mit der Frage des alten und des neuen Stadtzentrums. Das Etikett der „geistigen Hauptstadt“ haftete Krakau auch nach der Wiedererlangung der Souveränität durch Polen (1918) an. Die Stadt wurde nach wie vor als das wertvollste nationale lieu de memoire betrachtet. Krakau sollte – so die damals verbreitete Meinung – nicht zuletzt als touristischer Knotenpunkt seinen historischen Charakter wahren.24 Aus diesen Gründen stieß der Bau der Versicherungsgesellschaft Feniks am Hauptmarktplatz schon bei der Bewilligung der Baupläne auf zahlreiche Schwierigkeiten, und die modernistische Fassade des Gebäudes, das 1932 fertiggestellt wurde, auf gewaltige Kritik.25 ◊ Abb. 2 In Fortsetzung der Tradition von feierlichen und patriotisch geprägten Bestattungen bekannter Polen wurden 1929 die Asche des romantischen Dichters Juliusz Słowacki in der Kathedrale auf dem Wawel beigesetzt und sechs Jahre später – in einer speziell für diesen Zweck eingerichteten Krypta der Kirche – der Leichnam des Marschalls Józef Piłsudski.26 Geschichte bestimmte auch nach dem zweiten Weltkrieg die Wahrnehmung der 22 Hajok, Handzlik (s. Anm. 3), S. 3. 23 Zmieniamy oblicze Krakowa na nowocześniejsze (z Filipem Berkowiczem rozmawia Ryszard Kozik). In: Targoń, Kozik (s. Anm. 13), S. 5. 24 Kozińska-Witt (s. Anm. 10), S. 137–148. 25 Rafał Ocheduszko: ¸ Projekty Adolfa Szyszko-Bohusza dla Domu Towarzystwa Ubezpieczeniowego „Feniks” w Krakowie. In: Modus. Prace z Historii Sztuki 8/9, 2009, S. 199–252. 26 Patrice M. Dabrowski: „Equal to the Kings”? Viewing Wawel Burials of the Interwar Period. In: Centropa 12, no 1, 2012, S. 4–19.

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Stadt mit. Das Begräbnis des Präsidenten Lech Kaczyński (2010), der neben dem Marschall Piłsudski bestattet wurde, zeigte vor Kurzem, dass die nationale Dimension der Ruhmeshalle auf dem Wawel nichts von ihrer symbolischen Kraft eingebüßt hatte. Die Fassade des bereits genannten Feniks-Gebäudes 3: Krakau, Marktplatz mit dem Feniks-Gebäude im Umbau, 1942 wurde von den Deutschen im (Foto Archiwum Pałstwowe Kraków). Zweiten Weltkrieg mit klassischen Pilastern verunstaltet (1941–1942). ◊ Abb. 3 In der Nachkriegszeit wurden diese Zusätze nicht entfernt, 27 mehr noch, heute weiß kaum jemand mehr, dass sie in der Zeit der NS-Besatzung entstanden sind. Was gilt, ist die Anpassung der Fassade an die historische Architektur des Hauptmarktplatzes. Diese Tatsachen beweisen, dass es nach wie vor die nationale Vergangenheit ist, die den Charakter Krakaus entscheidend determiniert. Auf die Zukunft gerichtete Projekte haben kaum eine Chance auf die Realisierung, besonders wenn sie moderne Architektur in dem historischen Gewebe der Stadt vorsehen. In Krakau bildete sich auch kein anderes städtebauliches Zentrum außer dem mittelalterlichen, an dessen Rand, anstelle der alten Stadtmauer, im 19. Jahrhundert ein Park (Planty) und ein Straßenring mit zahlreichen Monumentalbauten angelegt wurden. Diese Gebäude haben bis heute ihre Funktion als bedeutende Verwaltungsstandorte beibehalten. Im historischen Stadtzentrum haben der Magistrat, das Rektorat der Jagiellonen-Universität und die meisten Banken wie auch das Woiwodschaftsamt ihren Sitz. Die Revitalisierung von Zabłocie, mit der die Einrichtung von zwei musealen Institutionen und einer Hochschule in diesem Stadtviertel einherging, war also ein Versuch zur Bildung eines neuen Stadtzentrums. Zudem war das rechte Weichselufer stets symbolisch unterbewertet. Das alte Podgórze wollte sich mehr Prestige verschaffen, indem die Stadt eine eigene „Marienkirche“ errichtete, und

27 Rafał Ocheduszko: ¸ Hitlerowska przebudowa Gmachu Towarzystwa Ubezpieczeniowego „Feniks” w Krakowie. In: Dariusz Nowacki (Hg.): Mecenat artystyczny a oblicze miasta, Kraków 2008, S. 303–316.

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4: Krakau-Zabłocie: die Umgebung von MOCAK (das Museumsgebäude in der Mitte).

nun beherbergt das neue Zabłocie eine Hochschule, deren Name Krakowska Akademia [Krakauer Akademie] – zufällig? – die Umkehrung des altpolnischen Namens der Jagiellonen-Universität, d.h. Akademia Krakowska, ist. Postindustriale Gebiete sind nur schwach mit dem historischen Gedächtnis gesättigt. Daher lassen sie sich einfach zu einer Palimpsest-Struktur verwandeln, in der das stellenweise noch durch mittelalterliche Landstraßen vorbestimmte Straßennetz mit industrieller Architektur der Fabrikhallen und Stadtrandhäusern verschmilzt. Auf einem solchen Gebiet kommt es selten zu einem Konflikt und Kampf der Symbole. 28 Ein gutes Beispiel hierfür ist Schindlers Fabrik. Das erhaltene Verwaltungsgebäude, in dem das Historische Museum untergebracht ist, erstreckt sich an der LipowaStraße entlang. ◊ Tafel 10 Die MOCAK-Gebäude befinden sich hinter ihm, tiefer im Grundstück. ◊  Tafel 11 Claudio Nardi sagte sogar, dass das Museum von der Seite der Straße unsichtbar sei, wo es lediglich durch eine gewaltige Wand mit der Inschrift MOCAK angekündigt wird.29 Somit bleiben hier die Geschichte und die Modernität in einem dialektischen Gleichgewicht. Das Museum für Gegenwartskunst versteckt sich hinter dem Historischen Museum und das Ensemble wurde in die Landschaft der Überreste anderer Fabriken und der Umrisse neuer Apartmenthäuser eingeschmolzen. ◊ Abb. 4 Das MOCAK erhebt sich keinesfalls 28 El z˙ bieta Rybicka: Pamieć ¸ i miasto. Palimpsest vs. pole walki. In: Teksty Drugie 5 (131), 2011, S. 201–211. 29 Muzeum jako wirus. Rozmowa z Claudio Nardim – twórca¸ projektu MOCAK. In: Tagoń, Kozik (s. Anm. 13), S. 9.

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5: Mirosław Bałka, AUSCHWITZWIELICZKA, 2009.

dominierend über die übrigen Gebäude von Zabłocie. Bezieht sich denn Schindlers Fabrik überhaupt unmittelbar auf die Geschichte? Von der Seite der zentralen Teile des Stadtviertels führt der Weg nach Zabłocie unter einem Bahndamm, vor den eine Skulptur von Mirosław Bałka gestellt wurde. ◊ Abb. 5 Sie entstand 2009 für das Krakauer Festival der Visuellen Künste ArtBoom und ist ein Tunnel mit der Inschrift „AUSCHWITZWIELICZKA“. Das Werk wurde durch Angebote von Tourismus-Agenturen inspiriert, die mit einem Schlag nebeneinander für die touristischen Highlights wie das Salzbergwerk in Wieliczka und das KZ-Lager in Auschwitz werben. Elektrische Touristen-Miniwagen, die auf den Straßen Krakaus zahlreich zu sehen sind, verlocken die Gäste mit ihren Werbesprüchen ebenfalls, die Route „Old Town – Kazimierz – Schindler’s Factory“ einzuschlagen. ◊ Abb. 6 Die historische Dimension von Zabłocie scheint also ein touristisches Konstrukt zu sein, das von Spielbergs Film aufgetrieben wird, und weniger eine Folge seines Wertes als Gedenkstätte. Die erste Ehrentafel für Schindler wurde erst 2004 am Gebäude in der Lipowa-Straße angebracht.30 Ein solcher Ort eignet sich sehr gut für ein neues Zentrum: Fehlende größere historische Belastung lässt das Stadtviertel frei gestalten, die Erinnerung an historische Ereignisse ist dort eher ein Simulacrum als Wirklichkeit, und die Gentrifizierungs- und Modernisierungsprozesse stoßen auf keine Hindernisse.

30 Salwiński (s. Anm. 12), S. 56.

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6: Elektrische Touristen-Miniwagen vor Schindlers Fabrik.

MOCAK-Direktorin Anna Maria Potocka sagte auch: „Wir legen Wert […] auf eine harmonische Entwicklung des Stadtviertels.“ 31 Alles deutet darauf hin, dass der Wandel auf dem Gebiet von Zabłocie natürlich vonstatten geht: Neues verschmilzt mit Altem, die Nachbarschaft des Holocausts mit der kritischen Kunst sorgt nicht für Spannungen, und Luxus-Apartments schießen neben einer Hochschule aus dem Boden. Doch Roland Barthes hat den zeitgenössischen Menschen eine misstrauische Haltung gegenüber dem „Natürlichen“ beigebracht: Hinter dem „Natürlichen“ stecke nämlich meistens der Mythos.32 Im Falle von Zabłocie hat man auch mit einem Mythos zu tun. Es ist der Mythos einer harmonischen Entwicklung, d.h. eines Fortschritts, der dadurch umsetzbar sei, dass das neue Zentrum Krakaus ans rechte Weichselufer verlegt wird – in einen Raum, wo der für Krakau so typische Druck der großen Geschichte keine Vorhaben verhindert.

31 Katarzyna Jagodzińska: Museum – activation. In: Herito 4, 2011, S. 41. 32 Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 2003.

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Bewegte Öffentlichkeiten. Ansichten zur Kultur des Straßensports1 Zum Bild einer Großstadt gehört heutzutage Vieles,1was in den 1960er-Jahren noch undenkbar war: Jogger und Joggerinnen, die in hautenger Funktionskleidung – oder auch sorgsam verschleiert – ihre Kilometer bolzen, auf Treppenstufen krachende Skateboardfahrer, Traceure, die der Schwerkraft so mühelos zu trotzen scheinen wie Spiderman und die Helden der Kung-Fu-Filme, Fahrradkuriere, die sich auf sanft surrenden Fixed-Gear-Bikes halsbrecherisch durch die Engen des Straßenverkehrs schlängeln. Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Straße als Schauplatz für Leibesübungen und die Ausstellung von körperlicher Leistungsfähigkeit, Virtuosität und Artistik tabu. Körperkraft, physische Anstrengung, Geschick und nackte Haut hatten ihre Räume hinter den Mauern von Fabriken, Werkstätten und privaten Lebenswelten. Schweißtreibende Körperertüchtigungen fanden in aus dem öffentlichen Leben ausgegliederten Spezialräumen statt; ihre Orte waren Turnhallen, Tanzsäle oder die schimmligen Keller der Boxer und der Bodybuilder. Im Zuge der Ausdifferenzierung verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche – Wirtschaft, Recht, Kunst etc. – hatte auch der Sport der Moderne seit dem 19. Jahrhundert eigene, aus dem öffentlichen Leben ausgegliederte und blickdicht abgeschirmte Funktionsräume ausgebildet. Die Akteure des gern als posttraditional etikettierten, neuen Straßensports stellen sich demonstrativ gegen diese Entwicklung: Sie verlassen die Sonderräume des organisierten Sports, um die materiellen und symbolischen Möglichkeiten des Stadtraums auf ungewohnte Art zu nutzen. Garagenauffahrten, Mauervorsprünge, Treppengeländer, Litfaßsäulen, Zäune und Pfosten werden als Optionen wahrgenommen, denen „andere“ Umgangsqualitäten entlockt werden. ◊ Abb. 1 In die städtische Umgebung eingefaltete, normalerweise jedoch ungenutzte Gebrauchsmöglichkeiten werden überraschend entfaltet. In der Perspektive der Cultural Studies werden derartige Praktiken als Aneignung bezeichnet. Damit ist weder ein einseitiger Genuss noch ein bloßes Haben gemeint, sondern ein sinnlich-praktisches Sich-Zu-Eigen-Machen von Gegebenheiten, das besondere Wahrnehmungsfähigkeiten erfordert und zugleich schult. Jede urbane Bewegungskultur hat ihr eigenes Anforderungsprofil, das darüber entscheidet, wie der städtische Raum wahrgenommen und auf seine sportartspezifischen Umgangsqualitäten hin abgeklopft wird. Die mitunter verblüffenden und verfremdenden Aktualisierungen der in der Umgebung bisher unerkannt schlummernden, „anderen“ Gebrauchsmöglichkeiten sind zugleich performative Gründungsakte: 1 Für Anregungen, Kritik und Fotos danke ich Roman Eichler, der in seinem Dissertationsvorhaben dem Verhältnis von Raum- und Subjektkonstitution in urbanen Sportpraktiken nachgeht.

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Während die Funktionsstätten des organisierten Sports institutionell auf Dauer gestellt sind, werden die Räume des Straßensports im Vollzug der Bewegungspraxis immer wieder aufs Neue geschaffen. Es sind flüchtige Räume konjunktiver Erfahrungen und gelebten Eigen1: Wahlspruch eines Traceurs – Die Stadt als Raum der Möglichkeiten. sinns. Dieser nährt sich vom Flair des öffentlichen Lebens, seinen Geräuschen, Gerüchen und Aromen. Zugleich tragen seine Artikulationsformen – Artistik, Virtuosität, Schweiß und Erotik – aber auch selbst zur Vielfalt und Atmosphäre des Städtischen bei. Ob man in diesen jugendlich sich gebenden Körper-Spielen nun einen schöpferischen Widerstand gegen die Segmentierungen, Standardisierungen und Zurichtungen des urbanen Raumes durch eine dem Prinzip gesellschaftlicher Funktionsaufspaltung verpflichtete Stadtplanung sieht oder ob man sie im Gegenteil als Praktiken der Einübung und Darstellung des neo-liberalen Bildes eines flexiblen und kreativen Selbst interpretiert – unstrittig handelt es sich um Aktivitäten, die Neues entstehen lassen: Sie verändern das Bild der Stadt ebenso wie den Blick auf die Stadt. Man muss darin nicht gleich eine widerspenstige Form der Rückeroberung der Stadt sehen, um anzuerkennen, dass sie einen eigenständigen Beitrag zur Gestaltung und Wiedergewinnung von Urbanität leisten. Die Wirklichkeit des städtischen Lebens erwächst nicht zuletzt daraus, eine Bühne des Sozialen zu etablieren, auf der unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen einander begegnen, aufeinander Bezug nehmen und sich in einem gemeinsamen, kommunikativen Haushalt durch ihre „Auftritte“ und Stile voneinander unterscheiden. Die urbane Öffentlichkeit ist stets auch der Schauplatz einer „andauernden Repräsentationsarbeit“ unterschiedlichster Milieus, die hier versuchen, „ihre gesellschaftliche Identität durchzusetzen“, 2 indem sie ihr Anderssein sichtbar machen. Die urbanen Bewegungskünstler sind wahre Experten solcher stadtöffentlichen Ausdruckspraktiken. Ihre Performances kultivieren ein praktisches Können und steigern es mitunter zu einer jedes normale Maß weit hinter sich lassenden Virtuosität, so dass Aufmerksamkeit garantiert ist und sich an prominenten Plätzen regelmäßig ein staunendes Publikum versammelt. 2 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“, Frankfurt a. M. 1985, S. 173.

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Im urbanen Raum ist jede Selbstdarstellung unweigerlich ein Akt der Positionierung und des Positioniert-Werdens, der mit einer besonderen Sichtbarkeit einhergeht. Viele innerstädtische Bewegungskünste fallen dadurch auf, dass spielerisch Grenzen ausgelotet und Bewegungsmöglichkeiten erprobt werden: In Bewegungen des Rollens, Gleitens, Schwebens und Kreiselns verlieren die Körper den festen Boden unter den Füßen. ◊ Abb. 2 Sie werden auf ungewohnte Weise beschleunigt, gedreht, quergelegt, hinaufkatapultiert oder fallengelassen.3 Die Spitze des Eisbergs bilden riskant-spektakuläre 2: Ohne festen Halt – Das Subjekt in der Schwebe. Praktiken wie Skateboarding, Parkour oder Planking.4 Sie demonstrieren den Wunsch, an den Gittern des Gewöhnlichen zu rütteln, sich ohne die gebräuchlichen Sicherheitsvorrichtungen zu exponieren und üblichen Normalitätserwartungen ein eigenes Ethos der Überschreitung entgegenzusetzen. Dem eigensinnigen Umgang mit der städtischen Umgebung entspricht eine Suche nach neuen Selbstverhältnissen: Absichtsvoll werden Situationen aufgesucht, die mit den Routinen des Alltags nicht zu bewältigen sind. Die Akteure präsentieren sich als Körper-, ja als Lebenskünstler, die danach streben, nicht nur das Publikum, sondern auch sich selbst zu überraschen. Die Neuerfindung der Umgebung verändert mit dem Welt- auch den Selbstbezug: In ungewohnten Lagen und Situationen sollen Erfahrungen bewirkt werden, die die Akteure vorübergehend daran hindern, sich ihrer selbst sicher zu bleiben. In diesen Schwellenzuständen der Irritation des Gewohnten eröffnen sich Mög­lichkeiten eines anderen Handelns und einer neuen Formgebung des Selbst – und zwar so, dass szene-typischen Stil-Kriterien entsprochen wird. Dies schließt den Erwerb und die Darstellung der Fähigkeit ein, in unsicherer Lage auch ohne Haltevorrichtungen die 3 Vgl. Waltraud Kranz: Postmoderne Körperkulturen. Riskante Bewegungspraxen. In: Matthias Marschik et al. (Hg.): Sport Studies, Wien 2009, S. 243. 4 Beim Planking (engl.: „Beplankung“) legen sich die Akteure mit dem Gesicht nach unten und seitlich angelegten Armen auf den Boden oder unterschiedlichste Objekte (Hochhäuser, Bahngleise, Laternenmasten etc.) und lassen sich dabei fotografieren. Dies ist nicht ohne Risiken: Offenbar geht die Verbreitung des Plankings im Internet mit dem Bestreben einher, sich gegenseitig zu überbieten, immer absurdere Positionen einzunehmen und immer gefährlichere Versuche zu starten; etliche Todesfälle sind die Folge. Vgl. http://www.stern.de/digital/online/web-hype-planking-stocksteif-inden-tod-1686718.html (Stand: 01/2013).

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Orientierung zu bewahren. Man kann die riskanten Praxisformen des Straßensports als Laboratorien einer anti-normalistischen Subjektivität begreifen. In diesen Laboratorien werden die Grenzen des Normalen erprobt, ausgedehnt und willentlich überschritten; an die Stelle des Bedürfnisses nach Sicherheit und Versicherung treten Akte der Selbstverunsicherung ◊ Abb. 3, aus denen neue Formen der Selbstgewissheit entstehen können.5 Insgesamt ist in den Stil-Gemeinschaften der Populärkultur eine historische Tendenz zur Ausbreitung und Aufwertung eines reflexiven Stil3: Riskante Praktiken – Die Verunsicherung des Selbst. Wissens bemerkbar, das nicht nur in den Texten und Bildern von professionellen Special-InterestZeitschriften ◊ Abb. 4, Tafel 9 und Videoclips, sondern auch in szene-typischen Bildproduktionen6 formuliert, aufbewahrt und ausgearbeitet wird. Dieses Wissen kommt nicht zuletzt in bewusst gewählten Techniken der Präsentation und der – medialen – Inszenierung des Selbst zum Ausdruck, in deren Vollzug eine Auswahl aus den „Stil-Foren“ der Massenmedien, der Werbung und der Warenästhetik getroffen wird.7 Solange dieses Stilwissen jedoch etwas bloß Äußerliches und Förmliches, nur Oberflächliches und rein Ästhetisches bleibt, ist echte Zugehörigkeit ausgeschlossen. Es muss sich vielmehr, um glaubwürdig zu sein, als verkörperter Stil in den Bewegungen und Gesten selbst zeigen, ohne dass die Mitspieler und das Publikum eine Absicht oder eine Anstrengung zu erkennen vermögen. Nur wenn der Stil in das praktische Tun eingeht, erlangt er jene Authentizität und Leichtigkeit, die seinem Träger

5 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen/Wiesbaden (2. Aufl.) 1998. 6 Die Akteure produzieren mit Digitalkameras und Fotohandys permanent Bilder voneinander. Diese Bildproduktionen sind konstitutiv für die Szene-Realität und unterstützen das Erproben immer neuer Moves: Sie betonen das Können, die stilistische Individualität und die improvisatorischen Momente der Praktiken und eröffnen neue Perspektiven der Bewegungsausführung. Im Festhalten, digitalen Bearbeiten, Ansehen und Diskutieren der Bilder wird ein szene-typisches Stil- und Bewegungswissen festgehalten und erzeugt, das auf die Praktiken zurückwirkt und den experimentierenden Umgang mit bereits (vor-)gefundenen Bewegungen forciert. Vgl. Martin Stern: Stil-Kulturen. Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken, Bielefeld 2010, S. 166ff. 7 Herbert Willems: Stile und (Selbst-)Stilisierungen. In: Ders. (Hg.): Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge, Band 1, Wiesbaden 2008, S. 289–303.

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Anerkennung und Respekt garantiert. Dafür ist, wie im Leistungssport, ein jahrelanges beharrliches Mitmachen, Lernen und Trainieren unabdingbar. Wer nichts weiter vorzuweisen hat als den Besitz der jeweils angesagten Markenklamotten, Accessoires und Sportgeräte, wird mit sicherem Blick als bloßer Poser enttarnt. Stil bezeichnet dann die über die motorischen und funktionellen Erfordernisse einer Praxis hinausgehende Art und Weise, sich zu bewegen und zu spielen. Er ist eine Körper gewordene ästhetische Signatur, die als „Gruppensignatur“ das Kollektiv und als „Individualsignatur“ den Einzelnen identifizierbar macht – zumindest für diejenigen, die in der 4: Stil-Foren – Angebote für Selbstinszenierungen. Lage sind, diese Signaturen zu erkennen, ohne sie erst umständlich dechiffrieren zu müssen.8 Stile sind, so der amerikanische Philosoph Nelson Goodman, „normalerweise nur dem wissenden Auge oder Ohr zugänglich, der darauf abgestimmten Sensibilität […]“.9 Es ist deshalb sehr schwer, wenn nicht unmöglich, signifikante Verhaltensmerkmale wahrzunehmen, ohne ein entsprechendes Wissen, eine entsprechend disponierte Aufmerksamkeit und Sensibilität entwickelt zu haben – zumal dann, wenn es sich um feine stilistische Distinktionen handelt. Man muss ein Insider oder ein erfahrener Beobachter sein, um die subtilen stilistischen Eigenheiten des Auftretens und Spielens zu erkennen. Über die „Gruppensignatur“ erfolgt die symbolisch-ästhetische Abgrenzung nach außen, die „Individualsignatur“ sorgt für Distinktionen im Inneren. Während sich im klassischen organisierten Wettkampfsport Werte und Einstellungen der Kameradschaftlichkeit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und des „Verzichts auf expressive Bedürfnisbefriedigung“ 10 in einem vergleichsweise unauffälligen Auftreten mit Kurzhaarschnitt und dunkelblauem Trainingsanzug zeigen, „der in seiner praktischen Zweckmäßigkeit dem aus der Arbeitswelt bekannten ‚blauen Anton‘ nachempfunden ist“,11 geht es im Szene-Sport darum, dazuzugehö-

8 Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a. M. 1984, S. 50. 9 Goodman (s. Anm. 8), S. 56f. 10 Klaus Heinemann: Der „nicht-sportliche“ Sport. In: Ders., Dietrich, Knut (Hg.): Der nicht-sportliche Sport, Schorndorf 1989, S. 14. 11 Robert Schmidt: Soziale Ungleichheit und Sport. Körperliche Repräsentationsarbeit und Unterscheidungskämpfe. In: Matthias Marschik et al. (Hg.): Sport Studies, Wien 2009, S. 167.

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ren, ohne im Kollektivlook der Gemeinschaft unterzugehen. In den beobachtbaren Praktiken zeigt sich die soziale Logik eines „kommunitären Individualismus“,12 die dem Slogan „Mit anderen zusammen, aber doch für sich allein“ folgt. An den Plätzen von Skateboardern und BMX-Artisten lässt sich regelmäßig ein komplexes Wechselspiel von individueller Besonderung und einem Eintauchen in die Gruppenmotorik beobachten: Ein Skateboarder, der eben noch lässig an einem Geländer lehnte, um die Moves der anderen zu beobachten, fährt wenig später selbst auf die Rampe, um das kurz zuvor Beobachte auszuprobieren, nachzumachen und in der Wiederholung zugleich Neues zu kreieren. Genauso, wie er eben noch das Können der anderen studiert hat, setzt er sich nun seinerseits deren ebenso interessierten wie prüfenden Blicken aus. Jeder Stunt adressiert keineswegs nur eine äußere Zuschauerschaft, sondern auch das innere Publikum der Dazugehörigen. Für eine Vielzahl der Akteure ist diese innere Öffentlichkeit von Experten weitaus wichtiger als die uneingeweihte äußere Öffentlichkeit. Anders als in den Sporthallen und -stadien des Wettkampfsports sind die Leistungs- und die Publikumsrolle hier nicht klar verteilt: Wer eben noch Zuschauer war, wird nur wenig später zum Darsteller, der sich vor den anderen exponiert – und damit das Risiko eingeht, vor aller Augen mit einem Trick zu scheitern. Sofern dieses Scheitern stilvoll ist, gehört es durchaus dazu. Gemeinsam schaffen die Akteure in Beziehungsgeflechten des Vor- und Nachmachens, des Sehens und Gesehenwerdens, des Kommentierens und Korrigierens, der Unterstützung und des Sanktionierens einen eigensinnigen öffentlichen Raum innerhalb der Stadtöffentlichkeit. Nur in dieser Szene-Öffentlichkeit einer gemeinsam geteilten Praxis ist es für den Einzelnen möglich, eine soziale Position und einen Status zu erlangen, der das Verlangen nach Selbstverwirklichung befriedigt. Denn die Befriedigung dieses Verlangens ist von der allen zugänglichen Bestätigung durch die Gleichgesinnten abhängig. Das Paradox jeder szene-öffentlichen Selbstdarstellung liegt mithin darin, dass die Anerkennung als unverwechselbares Individuum eine Art der Entprivatisierung und Entindividualisierung voraussetzt: Das Individuum muss sein Verhalten und Auftreten in eine für seine öffentliche Identifizierung und Bestätigung geeignete Gestalt bringen und kann sich allein in dieser Gestalt der Realität seiner selbst wie des Eigensinns der Szene versichern.

12 Heiner Keupp: Die Suche nach Gemeinschaft zwischen Stammesdenken und kommunitärer Individualität. In: Walter Heitmeyer (Hg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt a. M. 1997, S. 279–312, hier S. 308.

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In den in der Sonderwelt der Szene üblichen Äußerungsformen, ihren vom Gruppenstil überformten Bewegungen und Gesten, zeigt sich praktisch – ohne die Mittlerfunktion der Sprache – eine Einstellung und Haltung zum Leben. Wer in dieser Welt temporär aus der Gruppe heraus- und vor den anderen auftritt, teilt nicht nur etwas, sondern immer auch sich selbst mit. Solche Akte der Selbst-Exposition sind mehr als eine bloße Show, bei der man versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Es handelt sich vielmehr um Praktiken, in denen sich die Person exponiert, indem sie ein Risiko eingeht. Respekt, Wohlwollen und Status in der Szene hängen davon ab, wie stark die Person sich aussetzt und wie viel sie damit über sich selbst und ihr Können preisgibt. Zwar handelt es sich bei diesen Selbst-Expositionen nicht um verbale Tätigkeiten, in deren Vollzug man – wie in den von Michel Foucault beschriebenen parrhesiastischen Akten – ohne Rücksicht auf die eigene Existenz die Wahrheit spricht, „anstatt in der Sicherheit eines Lebens auszuruhen, in dem die Wahrheit unausgesprochen bleibt“,13 aber sie haben doch Züge dieser Akte: Jeder Auftritt ist eine öffentliche Demonstration der Fähigkeiten und Haltungen des Subjekts im Kontext des Szene-Lebens. Zu einer solchen Selbst-Enthüllung, in der sich das Szene-Subjekt allererst konstituiert, gehört der Mut, die Schwelle des Gesicherten und Gewohnten zu überschreiten, für alle sichtbar seine physische Integrität zu riskieren und Misslingen in Kauf zu nehmen. Sie hat nicht den Charakter einer Prüfungsleistung, sondern einer Bewährungsprobe, die zeigt, ob der Akteur in der Lage ist, positiv aus der Gruppe heraus- und auf eine Weise in Erscheinung zu treten, die es den anderen erlaubt, das Gesehene zu beurteilen.14 Objekte und Plätze wie Treppen oder auch eigens errichtete Minirampen und Halfpipes werden zu Bühnen und damit zu Beobachtungsdispositiven: Sie lassen oft nur das Üben eines „Benutzers“ zu, der sich einreihen muss, um im richtigen Moment die Gelegenheit zu ergreifen und sich „seine“ Zeit zu nehmen, während die anderen zuschauen. Dieses Ethos des Sich-Exponierens und Sich-aufs-Spiel-Setzens ist offenkundig „gegendert“: Die riskanten Körperspiele der Straßenkultur sind überwiegend 13 Michel Foucault: Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983, Berlin 1996, S. 15. 14 Zum parrhesiastischen Akt vgl. auch Andreas Gelhard: Kritik der Kompetenz, Zürich 2011, S. 72ff. sowie Petra Gehring: Foucaults Verfahren. In: Michel Foucault: Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode, Frankfurt a. M. 2009, S. 373–393. Gehring beschreibt die parrhesia hier ist als „eine Positionstechnik, eine Technik des positiven Heraustretens, ein etwas-Sagen, etwas-Zeigen wie auch sich-Zeigen: Jemand wagt eine in mehrfacher Hinsicht behauptende, kraftvolle Redegeste, einen Schritt der verbalen Aufrichtigkeit. Dazu muss er vorher nicht verborgen gewesen sein. Die parrhesia steht für eine Vollzugsfigur ohne Latenz, in welcher Sprechakt, Selbstgefährdung und Selbstfindung zusammenschießen können. Mit anderen Worten: Man exponiert sich und auch die dazugehörige Zerrissenheit im Sprechen – und bindet sein Schicksal allein daran, wie dies verstanden wird“.

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männlich. Auf Schutzbekleidung wird gern verzichtet, Stürze werden so locker wie möglich weggesteckt. Allem Anschein nach erwirbt der Mann auch im neuen SzeneSport sein Ansehen über vitale Risiken, d.h. dadurch, dass er sich in Gefahr begibt.15 Auch ohne ein explizit politisches Anliegen testen die Aktivisten des urbanen Straßensports doch immerhin aus, ob im öffentlichen Raum noch etwas anderes möglich ist als Autofahren, (samstägliches) Shopping oder „die meist im Sitzen vorzunehmenden Konsumhandlungen Kaffee trinken, Schuhe anprobieren und Filme schauen“.16 Sie konstituieren eigene, bewegte Öffentlichkeiten in der Stadt, die sich deren normaler Ordnung entziehen. Diese Öffentlichkeiten sind keine creationes ex nihilo, sie schaffen keine ganz neue Welt, sondern ihr Neubeginn besteht darin, etwas Anderes aus etwas zu machen, das man nicht selbst gemacht hat. Indem sie kreativ auf eine Wirklichkeit antworten, die sie nicht selbst erfunden haben, zeigen sie, dass die (Stadt-)Welt auch anders möglich ist – genau so wie das Selbst, das in unerwarteten Bewegungen die Grenzen des Gewöhnlichen erprobt, überschreitet und sich neu erfindet. In der öffentlichen Demonstration dessen, dass sowohl die soziale Ordnung als auch die Ordnung des Selbst anders sein können, liegt ihr utopisches Potenzial. Dieses ostentative Aufzeigen anderer Möglichkeiten ist nicht das Gegenteil jedweder Anpassung, sondern unterliegt einem eigenen Konformitätsdruck: Die motorischen und stilistischen Anforderungsprofile der szene-typischen Praktiken präfigurieren, als wer man überhaupt in Erscheinung treten kann, um Spielräume auszuloten und neue Erfahrungen zu machen. Freilich ist an dieser Normalisierungsmacht per se nichts, was in irgendeiner Weise kritisiert werden könnte, setzt doch jede Gemeinsamkeit und jede bestimmte Erfahrung Selektivität und Exklusivität voraus.

15 Gleichzeitig unterscheidet sich dieses Männlichkeitsmodell sowohl von klassisch proletarischen Männlichkeitsmustern „roher“ Körperkraft als auch von einer Männlichkeit, die sich ausschließlich über den Wettkampf definiert. Zusätzlich oder sogar in Konkurrenz zum Wettkampf werden Technik, Virtuosität und Darstellung akzentuiert. Während sich der Wert des Männerkörpers im Modell des medialisierten olympischen Wettkampfsports primär über seine Leistungsfähigkeit und der Wert des Frauenkörpers vorrangig über seine Ausstellungsfähigkeit definiert, gewinnt letztere im Szene-Sport auch für den Männerkörper an Bedeutung. Vgl. Manfred Schneider: Die Erotik des Fernsehsports. Beobachtungen zur Liturgie alltäglicher heroischer Ereignisse. In: Karl-Heinz Bohrer, Karl Scheel (Hg.): Medien. Neu? Über Macht, Ästhetik, Fernsehen. Sonderheft Merkur 9/10, München 1898, S. 864–874. 16 Niklas Maak: Mehr Occupy wagen, FAZ am Sonntag, 8. Januar 2012, S. 9.

„Effizienz ist ganz wichtig.“ Ein Gespräch der Bildwelten des Wissens mit Ben Scheffler* über Parkour

Bildwelten:

Was ist eigentlich Parkour? Warum dieser Name und warum nennen sich die, die Parkour machen, Traceure?

Ben Scheffler: Der

1973 geborene, französischer Schauspieler David Belle – ein Sohn des in Vietnam geborenen Mitglieds der Sapeurs-pomiers der französischen Armee Raymond Belle [1939–1999] – hat den ParkourGedanken Ende der 1980er-Jahre für urbane Räume entwickelt und das Wort Parkour als Eigenname geprägt. „Traceur“ kommt aus dem Französischen und heißt so viel wie: Der, der den Weg ebnet oder der, der eine Spur legt. Das ist der Grundgedanke dahinter. Parkour ist die Kunst der effizienten Fortbewegung, über Hindernisse und nur mit den Möglichkeiten des eigenen Körpers. Parkour ist in erster Linie eine Kunst, kein Sport für uns. Parkour kennt keinen Vergleich, kein Messen untereinander, keinen Wettkampf. Wir sehen uns eher als Künstler, die die Umgebung, die sie um sich haben, uminterpretieren und für sich nutzen. Effizienz ist ganz wichtig, das ist historisch begründet. Parkour kommt – anders als Fun-Sportarten – nicht aus dem Spaßbereich, sondern ist entstanden, weil jemand sein Leben retten musste. Eine Fluchtsituation ist natürlich etwas, was Effizienz braucht. Dieser Effizienzgedanke, dieser Fluchtgedanke liegt allem, sowohl von der Einstellung her als auch von der Bewegung her, zugrunde. Beim Parkour geht es nicht nur um Bewegung, sondern auch um mentale Stärke. Wir versuchen ständig, unsere Techniken so zu verbessern, dass es für uns wie Treppensteigen ist. Wenn wir Mauern erklimmen, soll der Punkt erreicht sein, wo es überhaupt nicht mehr mit Aufwand, mit Kraft verbunden ist, sondern nur flüssig, schnell und einfach funktioniert. Wir gehen davon aus, dass jeder Ressourcen hat, mit denen er arbeiten kann, und jeder soll versuchen, im Parkour seine Ressourcen und seine Ausgangssituation im Training zu verbessern. Deswegen sagen wir auch, dass es keine Altersbegrenzung gibt. Jemand, der 80 Jahre alt ist, kann sich immer noch effizient bewegen, beispielsweise wenn ein Hund ihn verfolgt, dann bewegt er sich anders als jemand, der 20 ist, aber letztlich hat jeder seine Ressourcen und soll damit arbeiten und die verbessern.

Bildwelten:

Wie groß sind die Gruppen, die zu einem Parkour losziehen?

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Interview

1: Du musst nicht die Treppe nehmen, weil das der beste Weg ist. Ben Scheffler: Das ist total unterschiedlich. Du kannst alleine trainieren, worauf auch

viel Wert gelegt wird, so dass du wirklich mit deinen Gefühlen, mit deinen Ängsten, mit deiner Disziplin alleine dastehst. Ansonsten ist es nach oben hin offen. Es soll effizient, aber auch effektiv sein, was wir tun. Von der Gruppenstärke hängt das nicht ab. Es hängt vom Ort ab, wo du trainierst. Die Leute, die sich verstehen, gehen zusammen trainieren. Es kommt darauf an, dich selbst zu verbessern. Das kannst du in der Gruppe machen, das kannst du alleine machen, das kannst du so lange machen, wie du kannst und willst und wie du Bock hast. Und so lange es der Ort für dich hergibt. Das ist wirklich etwas, das überhaupt keine Regeln hat. Bildwelten:

Sie haben eben den Raum angesprochen: Was passiert mit dem Raum dadurch, dass sich die Traceure in ihm bewegen? Wird der Raum nur umgedeutet oder vielleicht sogar entfunktionalisiert und umcodiert?

Ben Scheffler: Es geht keiner, der mit Parkour beginnt, raus und sagt: „Oh, ich werde

jetzt den Raum uminterpretieren.“ Man kann extrem lange darüber philosophieren, ob das jetzt so ist oder nicht, aber ich kann zumindest von unserer Warte, von der Warte eines Traceurs sagen, dass wir den Raum, der da ist, für unsere Zwecke nutzen. Wir akzeptieren nicht, was Architekten und Landschaftsplaner vorgeben, die sagen: „Du musst diese Treppe nehmen, weil das der beste Weg ist, um da

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2: Public Meeting.

hoch zu kommen.“ Für uns gibt es andere Möglichkeiten. Sachen, die vielleicht als Abgrenzung gesehen werden, die überschreiten wir halt. Aber nicht aus einem Rebellionsgedanken, sondern eher aus einer Notwendigkeit. Die sind für uns ein Hindernis, um daran zu trainieren, wie wir sie in irgendeiner Form überwinden. Bildwelten:

Stoßen Sie dabei auch auf Probleme? Sie bewegen sich im öffentlichen Raum, aber der kann ganz schnell privat werden.

Ben Scheffler: Es ist definitiv eine Grauzone. Wir respektieren auf jeden Fall Eigen-

tum. Wenn wir etwa an einen Ort gehen, um dort zu trainieren, haben wir einen Grundgedanken: Es soll danach, wenn wir dagewesen sind, besser aussehen als zuvor. Wenn Anwohner rauskommen und sagen: „Was macht ihr denn hier?“, das passiert definitiv, rennen wir nicht einfach nur weg, sondern suchen schon das Gespräch und versuchen zu erklären, was wir machen. Viele Leute wissen einfach nicht oder verstehen nicht, was wir da tun. Leute, die wirklich sagen, ich möchte nicht, dass ihr hier das macht, die respektieren wir und dann gehen wir eben nicht mehr hin. Bildwelten:

Benutzen Sie noch öffentliche Verkehrsmittel?

Ben Scheffler: Natürlich. Ich hab auch ein Fahrrad, ich hab auch ein Auto. Das wird

alles ganz normal benutzt. Das ist wie in der Fluchtsituation. Es wird

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3: Präzisionssprünge.

dafür trainiert, dass man es in der Notfallsituation anwenden kann. Das heißt nicht, dass ich es die ganze Zeit tue. Training findet bei uns auch definitiv im Kopf statt. Man muss sich Hindernisse suchen, Möglichkeiten suchen. Dieses Suchen an sich ist ja schon Training. Wenn wir jetzt sagen: Hier kommt plötzlich ein Hund um die Ecke gerannt, ich steh’ auf und muss losrennen“, muss ich halt in dem Moment, in dem ich mich bewege, auch schon Möglichkeiten suchen. Wie kann ich das am besten für mich nutzen? Wo kommt der Hund nicht rüber? Somit fahre ich Bus und Straßenbahn und S-Bahn. Aber was ich vielleicht mache, ist, wenn kein Auto kommt auf der Straße – man kennt diese typischen Straßenbahnhaltestellen, wo diese weißen oder grauen Geländer sind –, dann bin ich da mal schnell rüber und steige in die Straßenbahn ein, anstatt von hinten, außen rumzugehen. Bildwelten:

Sie trainieren viele Bewegungsabläufe oder mehrere Übungen hintereinander?

Ben Scheffler: Das kommt darauf an. Man fängt an, indem man einzelne Techniken

trainiert, beispielsweise einen sogenannten Präzisionssprung. Da geht es darum, von einer Bordsteinkante zur anderen zu springen. Man guckt, wie weit man springen kann. Wenn man das ein bisschen ausgecheckt hat und weiß, wie das Ganze funktioniert, auch technisch funktioniert, geht es darum, es zu verbessern. Wie habe ich meine

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Arme, wie ist meine Fußhaltung, wie lande ich am besten, was ist eine gesunde Landung, was ist keine gesunde Landung. Wir geben den Leuten immer mit, sie sollen viel auf ihren Körper hören. Er gibt die besten Rückmeldungen, was funktioniert. Wir sind da sehr penibel, was den Effizienzgedanken betrifft, weil wir wollen, dass eine Bewegung letztlich so perfekt sitzt, dass man sagen kann, jeder Prozess, der bei so einem Sprung abläuft, ist bis ins kleinste Detail optimiert. Bildwelten:

Wenn man sich die Presse durchliest, fallen im Zusammenhang mit Parkour öfters Schlagwörter wie „unglaubliche Bilder“, „atemberaubende Bilder“, „spektakulär“. Wie wichtig ist diese Bildproduktion?

Ben Scheffler: Das nutzen momentan sehr viele. Und da gibt es auch wieder Gründe,

warum ein Traceur und kein Stuntman benutzt wird. Wir brauchen wesentlich weniger Vorbereitungszeit für Stunts und weniger Kabel und Raging und Safety-Sachen als ein Stuntman. Es ist kostengünstiger. Einerseits lebe ich von diesen Auftragsjobs. Andererseits erzeugen die Filme ein Bild von Parkour, das mit der Idee, mit der Grundsache überhaupt nicht in Einklang steht. Bei Parkour geht es um Flucht und bei der Flucht mache ich mir überhaupt keine Platte darum, ob es gut oder spektakulär aussieht oder ästhetisch ist. Ich habe mein Trainingslevel. Die Ästhetik entsteht dadurch, dass wir jede Bewegung optimieren. Alles, was optimiert ist, was jemand gut kann, sieht gut aus. Das ist in allen Lebensbereichen so. Was aber die Filmindustrie macht, ist, sie nimmt nur den Bewegungsaspekt und nutzt den für sich. Wir sagen, wenn ich an einem Filmset arbeite, mache ich dort kein Parkour. Ich nutze die Fähigkeiten aus meinem Parkour-Training, um mir etwas dazu zu verdienen, aber es ist nicht das, was meine Leidenschaft widerspiegelt. Bildwelten:

Aber woher kommt die Haltung, dass man Flucht als Zentrum seines Lebensgefühls begreift und sich potenziell immer in Gefahr wähnt?

Ben Scheffler: Ich

habe Parkour durch ein Video kennengelernt und bin mit Martin, meinem Partner bei ParkourONE, rausgegangen und wir haben angefangen, das zu reproduzieren, was wir im Video gesehen haben. Aber man kommt an den Punkt, wo man sich fragt: warum? Warum springe ich jetzt von der einen zur anderen Mauer. Daraus ist eine Art Lebensweg entstanden. Wir überwinden die ganze Zeit Hindernisse und versuchen, uns intensiv mit uns selbst auseinanderzusetzen. Es ist problemlösendes Denken, was wir machen. Die Mauer ist ein Problem, muss ich überwinden, also muss ich es lösen. Und das ist etwas, was im

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4: „Être fort pour être utile.“

Alltag sehr gut funktioniert. Flucht ist ein sehr guter Helfer, wenn es um diesen Effizienzgedanken geht. Es ist nicht so, dass wir wie paranoide Typen durch die Gegend rennen, sondern es ist ein Hilfsmittel, um uns zu perfektionieren. Bildwelten:

Ich frage deshalb, weil in der Sprache, die Sie benutzen, eine Ethik des Korpsgeistes, der militärischen Herkunft dieser Bewegungsart, mittransportiert wird, wenn es um „vollständiger Teil von Parkour sein“ oder „ernsthaftes Training“ oder „ausgesuchte Mitglieder“ geht.

Ben Scheffler: Ich

finde es extrem toll, dass Sie sich so damit beschäftigen. Sie sind die ersten, die das so machen. Dieser Militärgeist an sich hat für uns nicht nur Nachteile. Es ist ein Gemeinschaftsgedanke, sich gegenseitig zu unterstützen, in Notsituationen auch für einander da zu sein. Wir glauben schon, eine Art besserer Mensch werden zu können, durch intensive Arbeit an sich selbst und mit sich selbst. Parkour funktioniert nicht, wenn ich mich auf eine Flucht lax vorbereite. Das geht nicht zusammen. Wir suchen unsere Mitglieder auch gut aus. Darum wird uns im deutschsprachigen Raum auch nachgesagt, dass wir eine sehr elitäre Gemeinschaft seien.

Bildwelten:

In „Traceure“ scheint das schöne deutsche Wort der Trasse durch. In gewisser Weise sind Sie Trassenbauer, das ist nicht nur Problemlö-

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5: Bewegungsräume.

6: ParkourONE Berlin.

sungsdenken. Zu „Traceur“ kam mir, als ich die Bilder gesehen habe, „Chasseur“ in Sinn, also Jäger. Aber Sie scheinen eher die Gejagten zu sein. Was jagt Sie? Der Krieg? Ben Scheffler: Wir sind nicht paranoid im Sinne von „uns jagt irgendwas“. Wie kann

ich meine Bewegung verbessern, wenn jemand hinter mir her ist, das ist das zentrale Thema, worum es geht. Parkour selbst hat den Grundsatz, eigentlich zwei Grundsätze, der eine ist „Être fort pour être utile“ – „Stark sein, um nützlich zu sein“. Bildwelten:

Nützlich wofür?

Ben Scheffler: Da gibt es viele Aspekte: Ich kann einerseits nützlich sein, um anderen

Leuten zu helfen. Zum Beispiel: Eine Katze sitzt auf dem Baum, ein kleines Kind steht unten und heult sich die Augen aus. Durch mein Training komme ich da sehr schnell hoch und kann dem Kind helfen. Durch meine Fähigkeiten bin ich nützlich. Das kann aber soweit gehen, dass Traceure in Katastrophengebieten, wenn alles zusammengestürzt ist, die Umgebung anders nutzen können und schneller durchkommen. Ich kann aber auch mir selbst nutzen. Wenn ich selber in eine Notsituation komme, bin ich stark, um mir selbst zu nützen. Das sind zwei Formen der Nützlichkeit. Ich klettere regelmäßig zweimal im Jahr auf das Dach meiner Großeltern, um die Regenrinnen

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sauber zu machen, ohne Seil und ohne alles, weil ich das kann. Das ist für mich auch ein Teil von Parkour, weil ich mit meinen Fähigkeiten anderen Leuten helfen kann. Bildwelten:

Wenn wir noch einmal auf die Herkunft der Aussage des französischen Marineoffiziers Georges Héberts zurückkommen: „Être fort pour être utile“ und die Méthode Naturelle, dann liegen die Wurzel von Parkour in einer Militärausbildung. Wie und was übertragen Sie von diesem Militarismus ins zivile, urbane Leben?

Ben Scheffler: Was

wir momentan sehen, ist ein absoluter Gesundheits- und Bewegungsmangel. Der Bewegungsraum ist maximal noch von der Schule nach Hause und vor die Playstation. Das sind Probleme, bei denen wir ansetzen können. Wir machen uns die Vorteile von ebenso wie die Vorurteile gegenüer Parkour zunutze, um spektakuläre Bilder zu liefern, um Kinder und Jugendliche für Bewegung zu begeistern und ihnen einen Weg zu zeigen von „Du bist nichts“, „Du kannst nichts“ hin zu „Wenn du ein bisschen was machst, kannst du wieder was erreichen“.

Bildwelten:

Wie viele Frauen betreiben Parkour?

Ben Scheffler: Auf

der Straße verhältnismäßig wenig. Ich würde sagen, Frauen machen 25 Prozent aus. Parkour ist eine ziemliche Männerdomäne. Mittlerweile ist es allerdings so, dass sich mehr und mehr Frauen trauen. Dadurch, dass Parkour nach außen durch die Medien bildlich schon sehr männlich dargestellt wird, ist die Hemmschwelle hoch. Aber das ändert sich gerade. In unseren Kursen haben wir fast ein 50-zu-50-Verhältnis. Wir haben beispielsweise jetzt in Berlin die erste Trainerin. Sie fängt jetzt bei uns die Ausbildung an. Das ist für uns ein Meilenstein.

Bildwelten:

Gab es auch Todesfälle?

Ben Scheffler: Unter den Leuten, die ich kenne, keine. Parkour hat den Vorteil, dass

es sehr ehrlich und sehr direkt ist. Wenn ich etwas nicht schaffe, tut es weh. Das ist eine sehr ehrliche und eine sofortige Rückmeldung. Bildwelten:

Wir hatten ja schon die Bilder angesprochen: Woher kommen Anregungen? Durch Videos von anderen Parkour-Leuten oder durch Parkour, der im Film gezeigt wird, oder gibt es auch Texte, die Sie inspirieren?

Interview

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7: Personal Training.

8: Geleitetes Training.

Ben Scheffler: Mich

interessiert momentan mehr, wie jemand, der mich inspiriert, lebt, oder was er für Ansichten hat, wie er als Person gereift ist, als das neueste Video, in dem wieder eine Bewegung gezeigt wird, die höher, weiter, toller ist.

Bildwelten:

Ist nicht die Bedeutung der Eleganz mindestens so entscheidend? Sie nennen es dann „flüssige Bewegung“? Was ist die Bedeutung der Eleganz?

Ben Scheffler: Darum geht es gar nicht. Es geht gar nicht um Eleganz, es geht nicht

um flüssige Bewegung. Eigentlich ist es etwas, was unweigerlich entsteht, wenn man eine Bewegung optimiert. Es ist nicht so, dass eine Parkour-Bewegung flüssig sein muss, damit sie perfekt ist. Die „Flüssigkeit“ ist ein Nebenprodukt. Ich achte in keinster Weise darauf, ob meine Bewegung gut aussieht. Das mache ich, wenn ich für eine Filmproduktion arbeite – und dann ist es schon wieder ein StuntMetier und nicht Parkour. Letztlich ist es so: Parkour ist zwar jetzt in irgendeiner Form definiert, aber halt so definiert, dass viel Interpretationsraum bleibt. Bildwelten:

Was ist der gefährlichste Raum, den Sie persönlich betreten oder parkouriert haben?

Ben Scheffler: Der gefährlichste Raum? Da gibt es kein Wort dafür. Bildwelten:

Weil es illegal ist?

Ben Scheffler: Nein. Die Frage ist, dass ich gerade versuche zu definieren, was gefähr-

lich ist? Bildwelten:

Passiert das überhaupt, dass man sich in, um bei dem Wort zu bleiben, gefährliche Situationen begibt? Würde man hier über diese Gleisanlage …

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Interview

9: Public Meeting. Ben Scheffler: Nur im Notfall, und dann würde ich halt immer gucken, ob ein Zug

kommt. Parkour ist so gefährlich, wie man sich das macht. Ich hatte noch nicht die eine gefährliche Situation, in der dachte, mein Leben sei in Gefahr. Weil so viel Vorbereitung, so viel Kontrolle drin steckt, begebe ich mich erst in so eine Situation, die auf jemand anderen gefährlich wirken kann, wenn sie für mich völlig sicher ist. Wenn ich jetzt von einem Dach zum nächsten springe, würde ich mir auf jeden Fall beide Dächer vorher angucken. Ich würde springen, wenn ich weiß: a) Ich bin gesund und b) Es ist gutes Wetter. Denn bei Regen ist die Rutschgefahr größer. Es sei denn, ich habe alles getan, um auszuschließen, dass ich rutsche. Ich erinnere mich an Situationen, so Pille-Palle-Sachen, da saß ich vier bis fünf Meter hoch in einem Gerüst und eine Planke, eine Verstrebung löste sich. Dann fällt man halt. Es war so, als würde sich die Zeit extrem verlangsamen, im Fallen greift man, was man greifen kann, dann steht man auf dem Boden, guckt hoch, sagt: „Aha, alles klar!“ und läuft weiter. Das sind Instinkte oder Reflexe, die man auch trainiert, die einen vor Schlimmerem bewahren. Es gibt in Berlin den alten Schlachthof in der Landsberger Allee. Als Denkmal hat man von einem der Höfe das Stahlgerippe stehen lassen, nur das grüne, riesengroße Gerüst. Es ist acht bis 15 Meter hoch, ein prima Platz, um in der Höhe balancieren zu gehen, weil die Verstrebungen in der Höhe nur ein paar Zentimeter breit sind. Als ich das

Interview

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10: Art du déplacement.

erste Mal hochgegangen bin, saß ich zunächst einfach nur da. Man schaut sich so um und gewöhnt sich so langsam daran. Dann kommt der Punkt, an dem man in die Hocke geht und erst auf allen Vieren kriecht, bis man aufsteht und auf den Verstrebungen entlangläuft. Das ist alles ein Prozess. Von unten sieht das gefährlich aus, aber ich gehe nur so weit, wie ich gehen will. Todesfälle oder krasse Unfälle passieren nicht, wenn man das beherzigt. Bildwelten:

Herr Scheffler, wir danken Ihnen für das Interview.

Das Gespräch führten Gabriele Werner, Philipp Ruch und Rahel Schrohe.

*

Ben Scheffler entdeckte Parkour im Jahr 2005 für sich, nachdem er durch ein Video von David Belle auf die Kunst aufmerksam wurde. Zunächst gründete er mit 4 weiteren Traceuren und Freunden das „Team ADD“ welches maßgeblich den Aufbau der Berliner Parkourszene begleitete. „Team ADD“ wurde zum Wohle von ParkourONE, einer Vereinigung deutsprachiger Traceure, im Jahre 2007 aufgegeben. Das Ziel von ParkourONE ist die Verbreitung der Parkourlehre von David Belle in Deutschland und der Schweiz. Hauptaufgabengebiet der 2008 gegründeten ParkourONE GmbH ist die professionelle Vermittung von Parkour.

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Bücherschau: Wiedergelesen Louis Marin: Von den Mächten des Bildes. Glossen. Aus dem Französischen von Till Bardoux, Louis Marin Werkausgabe, hg. v. Michael Heitz und Heinz Jatho unter Mitarbeit von Till Bardoux, Zürich/Berlin 2007.

Seit fast zwei Jahrzehnten, spätestens aber seit dem gleichnamigen Diskussionsband Gottfried Böhms beherrscht eine Frage die Kunstwissenschaft: „Was ist ein Bild?“ Die so naiv klingende Formulierung hat nahezu eine kopernikanische Wende der ganzen Disziplin ausgelöst, die im vertraut geglaubten Gegenstand des Bildes auf einmal eine noch durchaus undurchschaute Quelle ihres fachspezifischen Wissens erkennen musste. Diese Wende, die auch auf Begriffe wie Visual oder Iconic Turn gebracht wurde, bestimmte die radikale Neuorientierung der sogenannten Bildwissenschaften, die zugleich auf die interdisziplinäre Bedeutung des Bildes als Paradigma für Information und Kommunikation im Zeitalter der neuen Medien reagierte. Was sind nun die Mächte des Bildes, dass sie so nachhaltig die geisteswissenschaftliche und – denkt man an die neuen bildgebenden Verfahren – auch die naturwissenschaftliche Forschung bestimmen? Mit dieser Frage setzt das Buch des französischen Kunsthistorikers Louis Marin ein, das nun nach fünfzehn Jahren endlich auf Deutsch vorliegt. Marin, der 1992 verstarb, hat noch nicht die ihm zukommende Anerkennung in Deutschland erlangt. Obwohl der Diaphanes Verlag seit Jahren an der Komplettierung einer Gesamtausgabe der Werke Marins arbeitet, verläuft die Rezeption eher schleppend. Andere Namen wie der Georges Didi-Hubermans besetzen in Deutschland den Ort einer französischen Bildtheorie, hier haben wir es nun aber mit seinem Lehrer zu tun. Von den Mächten des Bildes war Marins letztes Buch, das erst nach seinem Tod erschien und das als so etwas wie eine Summe

seines Werkes betrachtet werden kann. Die grundlegende Frage nach dem, was das Bild ermächtigt, etwas zu bewirken, geht zurück auf eine dekonstruktive Kritik an der philosophischen Tradition. Für diese ist die Vorstellung vom Bild zugleich immer verbunden mit einer seinsmäßigen Abschwächung: Das Bild als Kopie, Abklatsch oder Doppelgänger des Seins ist diesem gegenüber von geringerer Qualität. Es ist nur Re-Präsentation, also die Wiederholung einer Präsenz, die in ihr zum Widerschein, wenn nicht gar zum trügerischen Schein eines Trugbildes wird. Demgegenüber geht es Marin um die Wendung vom Bild des Seins zum Sein des Bildes in seiner ursprünglichen Kraft, an die Stelle von etwas anderswo Präsentem treten zu können. Im Lateinischen nannte man dies virtú, im Griechischen dynamis, und beide Male, bei der Virtualität und der Dynamik, geht es um eine Potenz, die auch den Effekten, das heißt den Wirkungen, und nicht nur den Ursachen innewohnt, und so fasst Marin zusammen: „Dies wäre der erste Effekt der Repräsentation im allgemeinen. Dies wäre die ‚Urform‘ der Repräsentation als Effekt: das Abwesende präsent zu machen, als ob das Wiederkehrende dasselbe wäre, ja manchmal sogar besser, intensiver, stärker, als wenn es dasselbe wäre.“ Die Beispiele, die im Text genannt werden, verraten viel über die Arbeitsweise Marins, der sich mit souveräner Leichtigkeit durch die verschiedenen kulturwissenschaftlichen Denkmodelle bewegt. So führt er zunächst eine theologische Referenz auf das Neue Testament an, in dem die Abwesenheit des Leibes Christi nach der Auferstehung in die machtvolle Äußerung einer Botschaft seiner Verklärung zum Symbol umschlägt. Und sogleich folgt eine Argumentation der Kunstgeschichte, indem Albertis Lob der Malerei als Kunst der Beschwörung von Abwesenden zitiert wird und mit der erinnernden Funktion von aufgestellten Fotos Verstorbener verglichen wird. Aber Marin ist auch ein zu guter Kenner der semiotischen und litera-

Bücherschau: Wiedergelesen

turtheoretischen Debatten, um nicht in einem weiteren Anlauf die Ermächtigung des Bildes zur Erzeugung eines Mehrwertes an Sinn mit der Autorentheorie zu verbinden, nur dass eben das Bild selbst und nicht sein Maler zum Autor wird. Und schließlich wird der Aufschub von Kraft im Bild, den Marin mit dem von Jacques Derrida kreierten Neologismus als différance bezeichnet, durch das psychoanalytische Modell der Trauerarbeit erhellt, die gegenüber der narzisstischen Kränkung des Subjekts zu leisten ist, das nie in einem Bild das Absolute an Kraft darstellen kann. Diese Theorie der Bildermacht wird in einer für Marin typischen offenen Form in neun Glossen und sechs Zwischenglossen an entsprechenden kulturgeschichtlichen Beispielen der Philosophie-, Literatur- und Kunstgeschichte durchgespielt. Schon die beiden Eingangsmotti machen deutlich, dass es um ein Denken als Baustelle und nicht als systematisches Gebäude geht und zugleich um ein kommentierendes Beiwerk, das sich an den Werken anderer emporrankt. Insofern ist unverständlich, warum die deutsche Ausgabe im Inhaltsverzeichnis die Belegstellen weggelassen hat, die zum Verständnis der einzelnen Gesichtspunkte der in drei Abschnitte unterteilten Spekulationen hilfreich sind. Unter dem Oberbegriff der spiegelbildhaften Begründung einer Position des Ich wird so nämlich gleich ersichtlich, dass Textauszüge von La Fontaine, Rousseau und Diderot zur Debatte stehen, die unter anderem die mythologischen Bezüge von Narziss und Pygmalion wiederaufgreifen. Unter dem Gesichtspunkt einer Politik des Bildes kommen Texte von Perrault über Shakespeare bis Pascal über die Verkörperung von Macht zur Sprache. Die im dritten Teil thematische Dialektik von Licht und Schatten schlägt den Bogen vom Johannes-Evangelium über Vasaris Künstlerviten bis Nietzsches Geburt der Tragödie. Die Ausführungen des französischen Kultur- und Kunstwissenschaftlers sind von einer Brillanz und Tiefe, wie man sie heute selten in den wis-

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senschaftlichen Diskussionen findet. Die ganze Weite humanwissenschaftlicher Bildung steht mit der Leichtigkeit eines assoziativen Winks zu Gebote und lässt die schnellen Flüge durch die abendländischen Bildarchive zum Genuss werden. Man kann nur hoffen, dass dieses Buch wie die anderen der neuen deutschen Edition von Marin seine Leserschaft findet, die Geistreichtum als ein nicht-börsentaugliches Vermögen noch zu schätzen weiß. Michael Wetzel

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Rezension I Cornelia Vismann: Medien der Recht­ sprechung, Frankfurt a. M. 2011.

Wie lässt sich eine Unschuldsvermutung aufrechterhalten, wenn Live-Berichte auf allen Sendern suggerieren, jemand sei schuldig? Wie steht es um den Opferschutz in gerichtlichen Verfahren, wenn Mikrofone und Kameras mitlaufen? Wer urteilt, wenn das Fernsehen dem Publikum die Tat schon vor einer Verhandlung in einem Gerichtssaal präsentiert, und wer darf noch schweigen im Getöse der Medien? Bedarf es einer mündlichen Verhandlung, wenn wir auf dem Überwachungsvideo vom U-Bahnhof längst gesehen haben, wer es war und was geschah? Was sind gerichtliche Verfahren in Zeiten des Internet wert? Gibt es „Justiz 2.0“? Wo die einen Live-Übertragungen aus Gerichten fordern, fürchten andere den Schauprozess; wo einige (einschließlich der deutschen Gerichte) die Kameras des Saales verweisen, sehen andere „die Medien“ zensiert. Doch sind derartige Polarisierungen – wie immer – simpel und werden den Herausforderungen nicht gerecht, die mit den Medien das Recht treffen. Hier geht es um kompliziertere Fragen zu Gerichten oder, je nach Ausgangspunkt, zum Theater, und sie reichen von Heinrich von Kleist bis (mindestens) Handke, zielen auf Tribunale und transformative justice, reflektieren Zeugin der Anklage oder Richterin Salesch – so zeigt es jedenfalls die Studie zu den Medien der Rechtssprechung von Cornelia Vismann, bis zu ihrem frühen Tod 2010 Kulturwissenschaftlerin und Juristin in Weimar. Wenn ihre Prognose zutrifft, dann erleben wir bald nur noch Tribunale. Werden wir dann das Theater vermissen, das Gericht zumindest immer auch ist? Nach Vismann wirkt sich medialer Wandel auf Gerichte massiv aus. Die Anforderungen an alle Beteiligten, vom Richter bis zur Amtsmeisterin im Saal, von der Anwaltschaft bis zu den Jus-

tizministerien verändern sich ebenso wie Funktion, Wahrnehmung und Macht der Justiz, wenn es keine Akten mehr gibt, weil die Bilder für sich sprechen, wenn wir nicht mehr wissen und doch zu sehen scheinen, was Richterinnen und Richter zu einer Entscheidung bewog, weil alles zugleich für alle im Live-Stream sichtbar war und das allgemeine Publikum urteilt. Das Kernargument lautet: Das Gericht ist Theater und wird durch den Einsatz des Fernsehens zum Tribunal, aber dem Gericht wohnt auch schon immer ein wenig Tribunal inne. Zur Diskussion stehen die Medien, die justizielle Verfahren so oder so prägen – eine gute Mischung ist gefragt. Die technologischen Medien könnten sonst den Gerichten das Entscheiden aus der Hand nehmen. Wer das für abstrakten Unfug und ScienceFiction hält, sollte versuchen, eine medientechnologische Perspektive auf Recht einzunehmen. Welche Medien – als Technologien im Einsatz – prägen die Rechtsprechung? Vismann hat schon mit ihrer Studie zu den Akten (2000) gezeigt, dass es keineswegs banal ist, danach zu fragen. Was für die Verwaltung der Leitz-Ordner ist, ist im Gericht der Tisch: Sachverhalt ist, was auf den Tisch kommt; außen vor bleibt, was unter den Tisch fällt; die Position des Tisches entscheidet, wer welche Rolle einnimmt. Für die Verwaltung war die Karteikarte wichtig. Im Gericht ist es zunächst die Akte, dann auch die protokollierte Stimme in der Akte, dann das Mikrofon, der Lautsprecher oder Kopfhörer, die Übersetzungsanlage, die in den Nürnberger Prozessen erstmals zum justiziellen Einsatz kam und den Monitor (damals ein Mensch, heute programmierte Maschine) zum Richter machte. Und Technik ist da nicht nur Hilfsmittel. Die Technik erlaubte es in Nürnberg Göring und in Den Haag Milošević, die Medien für sich zu nutzen: Göring sprach unübersetzbar, Milošević sprach 136 Stunden und klagte, das Gericht habe alle Instrumente der Macht und er verfüge nur über eine Telefonzelle. Was machen die Medien mit dem Recht?

Bücherschau: Rezensionen

Akten, Stimme, körperliche Präsenz, Fotos, Fernsehen und Live-Streams im Internet, Unmittelbarkeit und remote judging. Was wichtig ist, wechselt. Die Stimme steht zwischen Akte und Anlage und prägt unsere Vorstellung von Öffentlichkeit und damit auch von Demokratie. „Voice“, eine Stimme haben, mit ab-Stimme-n dürfen – dann stimmt alles. Deshalb träumen wir von Debatten der res publica auf Marktplätzen oder, je nachdem, auf einem Bahnhofs- oder Bankenvorplatz. Das ist Agoreiozentrismus (Vismann), ein Glaube an die Kraft der Agora, des Forums. Was geschieht nun, wenn die Stimme medial gestärkt und übertragen wird? Dann wird aus dem Forum ein Tribunal, eine öffentliche Verhandlung, in der sich außerrechtliche Kriterien durchsetzen. Da wird nicht ein Fall inszeniert und beurteilt, sondern Stimmgewalt entscheidet. Beispiele sind Stalin-Prozesse, der brüllende Freisler der NS„Justiz“, Live-Übertragungen der McCarthyAnhörungen oder vom Visa-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages. Im Tribunal wird nicht entschieden, sondern eine Lektion erteilt, und die Medien können diesen Unterschied machen, also ein Verfahren tribunalisieren. Mit verstärkter Stimme erfährt ein möglichst breites Publikum je mehr, je besser, und urteilt selbst. So wurde schon im germanischen Thing unter freiem Himmel verhandelt und die umstehenden Männer, die „Umstände“, urteilten am Schluss. In Stammheim wurde eine Halle benutzt, kein Saal, mit über 200 Plätzen im Zuschauerraum. Die Nürnberger Prozesse wurden ebenso gefilmt wie der EichmannProzess und sollten der Re­edu­kation dienen. Verfahren aus Den Haag werden im Internet übertragen. Manche argumentieren, der Justiz tue mehr Öffentlichkeit gut und dazu gehöre auch die Medienöffentlichkeit. Ist das angesichts dieser Beispiele richtig? Wir können dabei über diejenigen nachdenken, die selbst das Gericht ausmachen, aber auch über das Publikum. Es ist vor Gericht genau-

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so limitiert wie im Theater. Es muss den Saal in langen Gängen finden, eventuell Kopfhörer nutzen, hat aber kein Mikrofon, darf nicht stören, erlebt nie die Beratung zur Entscheidungsfindung, auch nicht im transparent-gläsernen Gebäude des Bundesverfassungsgerichts. Noch sind Gerichte Theater. Wäre das Publikum besser dran, wenn es überall zusehen, zuhören, aufzeichnen könnte? Ob wir das Theater im Gericht vor der Tribunalisierung retten sollten und können, verrät Vismann nicht. Wir können den Kampf, den das Tribunal auszeichnet, als effizienten Wettbewerb verstehen und das Theater im Gerichtssaal als Ritual denunzieren. Wir können aber auch die Qualität guten Theaters ernst nehmen und das Tribunal als populistische Gefahr kennzeichnen. Urteilen Sie selbst! Susanne Baer

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Rezension II Barbie Zelizer: About to die. How News Images Move the Public, Oxford 2010.

„Wofür wir handeln, was wir erleiden, was wir genießen“, so der Philosoph und Mitbegründer des Pragmatismus John Dewey, „sind Dinge in ihrer qualitativen Bestimmung.“ 1 Die Prozesse unserer Wissens- und Bedeutungsproduktionen blieben ohne Einbezug dieser grundierenden Struktur menschlicher Erfahrung nicht verständlich. Barbie Zelizer, amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin und Journalistin, unternimmt in dem Buch About to Die. How News Images Move the Public den Versuch, die suggestive Kraft journalistischer Fotografie auf der Grundlage dieser Einsicht zu klären. Den Rahmen ihrer Theorie skizziert Zelizer über Lessing (der Laokoon steht dem Text als Frontispiz voran), und nimmt das Grundprinzip der Nachrichtenfotografie, entscheidende Momente eines zeitlichen Ablaufs zu verbildlichen, zum Ausgang ihrer Argumentation. Gegenüber einem linearen Realismus, der den indexikalischen Weltbezug journalistischer Bilder betone, müsse gleichwertig ihr Potenzial gesehen werden, auf die kollektive Gedächtnis zu wirken: Journalistische Bilder liefern nicht allein bildhafte Abdrücke der Welt, wie sie ist (as is), sondern stimulieren Imagination und Emotionen, indem sie in konjunktiver Form (as if) auf einen Zustand verweisen, der in der möglichen Zukunft liegt. Über die Schnittstellen von Assoziation und Emotion würden im Spielraum dieses Verhältnisses komplexe Informationen zu erinnerbaren Erfahrungsmustern amalgamiert und Objektivität zugunsten des dynamisierenden Einbezugs bisweilen suspendiert. Hieraus erklärt sich laut Zelizer auch die Tendenz, dass Redakteure und politische Entscheidungsträger über ihre Bildauswahl instinktiv oder bewusst eher kollektive Muster (Zelizer fasst sie als visuelle Tropen) bedienen, als journalistische Wahr-

heit in ihrer unverstellten Brutalität oder Fremdartigkeit zu zeigen. Die Autorin fokussiert ihre Studie auf fotografische Bildsequenzen des Sterbens und des Tötens als Mittel gewaltsamer Geschichtsproduktion. Die vitalistische Moderne vermeide aus verschiedenen Gründen die Bilder toter Körper. Nicht die finale Evidenz der Leichen, sondern die letzten Aufnahmen todgeweihter Menschen erzeugten aus dem verstörenden Kontrast von menschlichem Leben und seinem unmittelbaren Ende öffentliche Resonanz; der Tod liegt in der unmittelbaren Zukunft und bleibt doch Gegenstand des Möglichkeitssinns. Auf den Spuren von Reinhart Kosseleck, der den Tod als Territorium der Imagination und seine Darstellung als Mittel nationaler Erinnerungspolitik verfolgte, greift Zelizer das Bildschema About to Die als Paradigma eines nachrichtenfotografischen Konjunktivs heraus: Die intentionale Endgerichtetheit unserer Handlungen erscheint zur anthropologischen Grundsituation verschärft. Entlang dieses Musters entfaltet Zelizer eine Bildgeschichte des amerikanischen Journalismus von den 1870er-Jahren bis in die jüngste Gegenwart. Über drei Kapitel Presumed Death, Possible Death, Certain Death, die zugleich einen Aktionsund Erkenntnisrahmen des vermeintlich oder tatsächlich fotografierten Death in Progress aufzeigen, wird die inhärente Dynamik des Motivs in voller Härte entwickelt: politischer Mord, Terror, Exekution, Selbstmord, Naturgewalt, Hungertod, Genozid. Zelizer präsentiert und kategorisiert das ganze Spektrum szenischen Sterbens. Ein folgendes Kapitel thematisiert das Bildschema About to Die als strategisches Instrument der Kriegsführung. Die Wirkkraft journalistischer Fotografie, so lautet ihr Resümee, emergiert zwischen den Zustandsformen von as is und as if aus dem Zusammenspiel von Imagination, Emotion und Kontingenz. Mit About to Die. How News Images Move the Public hat Barbie Zelizer eine herausragende und bildhistorisch reiche Studie vorgelegt,

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deren Theoriemodell zu den hellsichtigsten Instrumenten zeitgenössischer Ikonologie gehört. Gegenüber dem fulminanten Auftakt fallen die darauffolgenden Abschnitte mit einigen Redundanzen etwas ab. Zugleich zieht die Autorin aus der erzählerischen Breite die Mittel, unsere Auffassung über die qualitativen Wirkprozesse von Nachrichtenfotografie nachhaltig zu verändern.

Rezension III Sigrid Schade und Silke Wenk: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011.

Naturalisierungen jeglicher Art zu enttarnen und zu vermeiden, ist die Grundlektion, die das Buch von Silke Wenk und Sigrid Schade den Jan Konrad Schröder LeserInnen erteilt. Dies kann gelingen, wenn man verdeutlicht, von welcher Warte aus gesprochen wird und normale Entitäten über macht1 John Dewey: Qualitatives Denken (1930). In: Philound gesellschaftskritische Fragestellungen und sophie und Zivilisation, Frankfurt a. M. 2003, S. 94. relationale Analysen als voraussetzungsvoll konstruiert ausweist. Die Studien zur visuellen Kultur widmen sich der Kunst, Populärkultur, wissenschaftlichen Illustration und nehmen insbesondere Prozesse der Produktion, Rezeption, Zirkulation, Tradierung und des Ein- bzw. Ausschlusses in den Blick. Das Was-wie-wemwann-wo-zu-sehen-Geben oder -Vorenthalten impliziert Effekte von Autorität, Macht und Begehren. Zu Beginn dekonstruieren die Autorinnen den Mythos der unmittelbaren Verständlichkeit von Bildern an den – heute in der Tat kurios anmutenden – Projekten, die sich bildbasiert eine nachhaltig konstante oder gar intergalaktische Kommunikation anvisierten. Während die Signaletik heute um die begrenzte Einsetzbarkeit der auf Konventionen beruhenden Piktogramme weiß, ist der zweite Beispielkomplex eines vertrauensseligen Bilderglaubens, den die Autorinnen diagnostizieren, weit intrikater: Er nistet in der Evidenz. Sie sei stets ein Kurzschluss. Wenn etwas unmittelbar einleuchtet, wird etwas erhellt, um die Rezipienten im Dunkeln zu lassen. Daher sei etwa bei Bildgebungsverfahren die „Krise der Evidenz“ zu fördern, indem man ihre untilgbaren Einschreibungen offenlegt. Die Autorinnen führen den Linguistic Turn als berechtigten Paradigmenwechsel und destabilisierenden Faktor wissenschaftlicher Wahr-

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heitsansprüche ein; der Pictorial Turn wird mit Mitchell daselbst bezüglich einer basalen Wende als Irrtum bzw. Fragemodus vorgestellt. Letzteres böte eine Vergleichbarkeit der Turns, wird aber leider nicht ausgeführt. Indes plausibilisiert sich die Parteinahme der Autorinnen an den später angegebenen Prämissen: Sie sehen Bilder „immer schon als Teil sprachlicher Strukturen“ (82) und „Studies in Visual Culture sollten sich […] als Teil eines umfassenderen semiologischen Projekts verstehen“ (63). Im Abschnitt zur Positionierung im Forschungsfeld geben sich die Autorinnen kämpferisch. Man fragt sich, was sich unter dem Deckmantel des Singulars „Bildwissenschaft“ verbirgt, wo doch sonst immer zu Recht der Plural eingefordert wird: Bilder, Kulturen. Verbleibt man in der Kunstgeschichte, so ist anzunehmen, dass selbst die prominentesten Vertreter – Belting, Bredekamp, Boehm – trotz mehrfacher Kooperation untereinander, sich nicht einmal auf eine gemeinsame Bezeichnung dessen einigen würden, was sie jeweils verfolgen: Bild-Anthropologie, Bild(akt) geschichte, Bildkritik. Im Sinne ihrer eigenen Grundsätze wäre es günstiger gewesen, die Autorinnen hätten jeweils konkretere Angaben beigefügt, um der Gefahr der kritisierten Vorgehensweise des „Othering“ zu entgehen, welche der Selbstvergewisserung dient, indem sie Stereotypisierungen vornimmt. Zweierlei könnte hier gerne offener und selbstbewusster formuliert sein: die Gegenpositionen, aber auch die Spezifik des vertretenen Ansatzes im Verhältnis zu der ausdifferenzierten Forschungslandschaft der Visual (Culture) Studies. Zwar geben die Autorinnen an, von wem sie einzelne Aspekte übernehmen, aber wie sich deren Schwerpunktsetzung von ihren unterscheiden, wäre ebenso interessant. Was folgt z. B. daraus, dass sie für störende „Interventionen in die geregelten Procedere der unterschiedlichen disziplinären Felder“ (9) votieren? Solche Interdisziplinarität erfordere, dass man ihre methodische Grundlage in der Übersetzung von Konzepten

Bücherschau: Rezensionen

suche. Die Bewusstmachung der Leitkonzepte anmahnend, stellen die Autorinnen zwei für sie anschlussfähige Methoden vor: Ikonologie und Semiologie. Ohne entsprechende Hinweise bleibt man unschlüssig: Welche sind nun die darin gemeinten Konzepte? Relativiert man das potenziell Erfrischende dieses Ansatzpunktes dadurch, dass man den Fokus auf Konzepte retrospektiv auf ältere Methoden überträgt? Aus den folgenden Passagen zur Repräsentationskritik und Ausstellungspolitik lassen sich weitere Kernkonzepte herausschälen: Sichtbarkeit und Differenz (gender, queer, postcolonial studies), Mythos (Barthes), Affekt (Psychoanalyse), Macht, Repräsentation und Identifikation (politische Theorien), kulturelles Gedächtnis. Die Aufforderung, jede Art der Kanonisierung, Marginalisierung etc. als Faktum (Gemachtes) zu hinterfragen, ermutigt, insofern das vermeintlich Fixe als gestaltbar gedacht wird. So ist man als Forschende mitverantwortlich und dadurch angehalten das eigene Affiziert-Sein methodisch zu reflektieren. Ein Denken, das seine Gewordenheit mitdenkt, hat sich eine schwierige Aufgabe auferlegt. Das Tilgen der eigenen unreflektierten Vorannahmen ist zweifelsfrei löblich und erstrebenswert, aber auch bestenfalls ein asymptotisches Unterfangen, das – je konsequenter verfolgt desto stärker – mit einer selbstreferenziellen Schleife rechnen muss. Die im Buch formulierten Ziele – ein verantwortungsvoller Umgang mit Bildern, die Aneignung von Bildkompetenz, der Fokus auf spezifische Settings, die Ausweitung von Untersuchungen zu Bildern auf übergeordnete Fragestellungen visueller Kulturen und Praktiken – sind sicher für viele Fächer anschlussfähig. Inge Hinterwaldner

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1: Ausstellungsansicht A Blind Spot im Haus der Kulturen der Welt.

Ausstellungsbesprechung A Blind Spot, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 31. Mai–30. Juni 2012

Im Rahmen des zweiten Berlin Documentary Forums stellte Catherine David eine Ausstellung zeitgenössischer dokumentarischer Arbeiten unter dem Titel A Blind Spot zusammen. Mit dem Begriff des blinden Flecks wendet sie sich gegen die verbreitete Vorstellung, Dokumente würden Realitäten unmittelbar abbilden und zugänglich machen. Stattdessen unterstreicht sie, dass Darstellungspraktiken stets mit den Grenzen des visuell Erkennbaren und seiner Vermittelbarkeit konfrontiert sind. Diese Grenzen ergeben sich nicht nur aus der Ausschnitthaftigkeit von Repräsentationen, sondern auch aus den sozialen, historischen und psychologischen Bedingungen, unter denen Dinge sichtbar werden, unsichtbar bleiben oder der Sichtbarkeit entzogen werden, wobei diese Faktoren selbst als (meist unsichtbare) Spuren in die Dokumente eingeschrieben sind.

Die Werke der Ausstellung reflektierten diese Bedingungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in ihren unterschiedlichen praktischen und politischen Implikationen. Ein Beispiel ist Eric Baudelaires Film The Anabasis of May and Fusako Shigenobu, Masao Adachi and 27 Years Without Images (2011, 66 Min.), der die wenig bekannte Geschichte der japanischen Rote Armee Fraktion thematisiert, die in den 1970er-Jahren in Palästina aktiv war. Der Film verknüpft Archivmaterial und Berichte über die Untergrundorganisation mit aktuellen Super8-Ansichten aus dem Libanon, die Baudelaire nach Angaben des ehemaligen Aktivisten und Filmemachers Adachi anfertigte, dessen Filmmaterial aus der Zeit in Palästina größtenteils zerstört wurde. Baudelaires Aufnahmen sind dabei nicht nur im Sinn von Adachis „landscapetheory“ zu lesen, wonach in Landschaftsbildern Strukturen der Unterdrückung sichtbar werden, sondern ihre konzeptuelle Nachträglichkeit verweist auch auf das komplizierte Verhältnis von

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Ausstellungsbesprechung

27-teiligen Fotoserie Angola to Vietnam (1989). In Nahaufnahmen zeigt er Glasmodelle exotischer Blumen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert – nach Ländern sortiert, in denen das Verschwindenlassen von Menschen als staatliches Gewaltinstrument praktiziert wird. Auch hier fällt die betont formale Bildgestaltung auf, die eine erstaunliche Nähe zu Ästhetiken der Neuen Sachlichkeit aufweist. Insgesamt kann für die Ausstellung nicht nur ein besonderes Interesse an historischen Themen festgestellt werden, sondern auch an Bildästhetiken aus der Geschichte der apparativen Medien. Dieser Rückbezug eröffnet einen Reflexionsraum über die Medialität der Bilder und die Rolle ihrer ästhetischen Strukturen. Gerade für Letztere nimmt die Ausstellung eine signifikante Neupositionierung vor: Indem sie vorwiegend solche Darstellungspraktiken zeigt, die mediengeschichtlich der künstlerischen Fotografie zugeschlagen werden, 2: Ankündigungsplakat des Berlin Documentary Forum 2, in dessen Rahmen die Ausstellung erscheint sie als Versuch, die historisch etabA Blind Spot stattfand. lierte Trennung von künstlerischen und dokumentarischen Bildpraktiken an ihrer Basis neu Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der inhaftier- zu konfigurieren. Die Ausstellung geht damit ten oder im Untergrund lebenden Personen der einen wesentlichen Schritt weiter als die Praktiken des documentary turn, die seit den 1990erRAF. Während Baudelaires Film außerhalb Jahren dokumentarische Formen in den Bereich der eigentlichen Ausstellungshalle präsentiert der Bildenden Kunst integrieren. Die von David wurde, dominierten in dieser vor allem Foto- inszenierte Bezugnahme auf historische Bildarbeiten, die ausschließlich in Schwarz-Weiß sprachen weist diese nachträgliche Verbindung gehalten waren. Zu sehen war etwa Efrat Shvi- der Bereiche auf ihre blinden Flecken hin und lys mehrteilige Fotoserie 100 Years (2012), in der optiert stattdessen für eine differenzierte Neuinein Dickicht von Baumkronen die gesamten terpretation der formalen Möglichkeiten dokuBildflächen ausfüllt. Shvilys Arbeit changiert mentarischer Bildpraktiken. zwischen einem konzeptuellen Bezug auf die im frühen 20. Jahrhundert vom Jewish Nati- Angelika Bartl, Renate Wöhrer onal Fund unternommene Aufforstung in Palästina und der ornamentalen Poesie der in feinen Grautönen abgestuften Verästelungen, die die Aufmerksamkeit auf die Bildfläche lenken. Eine Revision historischer Umgangsweisen mit Pflanzen unter politischen Aspekten unternimmt auch Christopher Williams in seiner

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1: Wien, Opernring.

Projektvorstellung KnitHerStory – ein Guerilla-Knitting-Projekt zu 100 Jahre Internationaler Frauentag

Am 19. März 1911 fand in Wien die erste große Demonstration für Frauenrechte statt. Damals gingen 20.000 Menschen (mehrheitlich Frauen) auf die Straße, um für Frauenrechte zu kämpfen. 100 Jahre später, am 19. März 2011, gab es auf der Wiener Ringstraße wieder eine große Demonstration für Frauenrechte. Antonia Wenzl und Betina Aumair nahmen dieses Ereignis zum Anlass, das Projekt KnitHerStory ins Leben zu rufen. Beide arbeiten einerseits im Verein „genderraum“ an Genderund Diversity-Projekten und andererseits sind sie Teil des Künstlerinnenkollektivs „Strickistinnen“, einer Wiener Guerilla-Knitting-Gruppe. Im Kontext dieser Arbeitsfelder entstand die Idee, anlässlich des hundertsten Internationalen Frauentags ein partizipatives Guerilla-KnittingProjekt umzusetzen.

Guerilla Knitting ist eine Form von Street Art, die textile Techniken wie Stricken, Häkeln und Nähen aus dem Wohnzimmer auf die Straße holt. Städtische Straßenzüge werden bunt eingestrickt, Bäume, Straßenlaternen, Statuen oder Brückengeländer mit Wolle und Garn umgestaltet. Stricken war lange Zeit nicht nur privat, sondern auch weiblich. Die „Strickistinnen“ besetzen diese weiblich konnotierte Kulturtechnik und ihre Materialien neu und verknüpfen sie mit politischen Botschaften. Neben KnitHerStory haben sie zum Beispiel Projekte zum „Equal Pay Day“ gestaltet oder sich unter dem Titel „Einstricken verboten“ mit der Verkaufspolitik von Werbeflächen im urbanen Raum auseinandergesetzt. Ziel von KnitHerStory war es, die Geschichte des Internationalen Frauentags im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Als erster Schritt wurde der Blog http://knitherstory.wordpress.com eingerichtet, der die Projektidee und den Ablauf darstellte und zur weiteren Information und Dokumentation diente. Über femi-

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Projektvorstellung

2: Wien, Burgring.

nistische Mailingslists wurde zur Beteiligung aufgerufen. Das Echo war innerhalb kürzester Zeit enorm. Bis Anfang 2011 hatten sich mehr als 120 Frauen gemeldet, die sich an KnitHerStory beteiligen wollten: Das aktionistische Potenzial feministisch motivierter Frauen in Österreich sollte nicht unterschätzt werden. Betina Aumair und Antonia Wenzl waren für die Projektorganisation und die Kommunikation unter allen mitwirkenden Frauen verantwortlich. Außerdem bemühten sie sich um die Einholung der Genehmigungen und um die Vernetzung mit den Organisatorinnen der Frauentagsdemonstration. Sie wurden dabei von zehn Projektkoodinatorinnen unterstützt, die jeweils eine Gruppe von zehn Frauen koordinierten und gemeinsam einen „Streckenabschnitt“ vorbereiteten. Bei gemeinsamen Stricktreffen wurde das Vorhaben, hundert Objekte entlang des Weges der Demonstration einzustricken, diskutiert und konkretisiert. Dabei setzten sich die Frauen unter anderem mit folgenden Fragen ausei-

nander: Welches Bild von textiler Handarbeit gibt es in der Gesellschaft? Welche Aufgaben und Funktionen hat textile Handarbeit? Welche Verbindungen zwischen textiler Handarbeit, Geschlecht und öffentlichem Raum lassen sich ausmachen? Textile Handarbeit wurde dabei als symbolisch für unbezahlte „Frauenarbeit“ betrachtet. So wie Frauen im öffentlichen Raum unterrepräsentiert sind, sind auch die ihnen zugeschriebenen Techniken und Tätigkeiten unterrepräsentiert. Vielen Frauen war es außerdem ein Anliegen, ein sichtbares Zeichen zu setzen; sie wollten mehr tun, als „nur“ zur Demonstration zu gehen. Am 19. März, kurz vor Beginn der Demon­ stration, nähten die Frauen die entstandenen Strickgraffitis an die Objekte. Für einige Stunden wurde die Wiener Ringstraße zu einer Galerie, zu einem öffentlichen Raum, den Frauen gestalteten, der Frauen gehörte und der von Frauengeschichte(n) erzählte. Das Engagement der mitstrickenden Frauen war ergreifend, die textilen Kunstwerke beeindruckend.

Projektvorstellung

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3: Wien, Burggarten.

4: Wien, 19. März 2011.

Durch KnitHerStory wurde die Frauentagsdemonstration am 19. März 2011 um unzählige Symbole, Zeichen und Erinnerungen reicher. Die teilnehmenden Frauen haben gezeigt, dass die Frauenbewegung nicht in Vergessenheit geraten ist, sondern nach wie vor sehr lebendig ist. Sie haben ihre Stimme erhoben, sie haben den öffentlichen Raum zu einem feministischen, zu einem selbstbestimmten, zu ihrem gemacht. Beteiligt waren Frauen verschiedenen Alters, Frauen verschiedener Herkunft und verschiedener Bildungsschichten, ebenso wie Frauen mit und ohne Behinderung. Das Projekt wurde als „reines“ Frauenprojekt gestaltet, weil es nach wie vor Frauenräume für Austausch und gegenseitige Stärkung braucht. Das mediale Interesse an KnitHerStory war groß. Zahlreiche österreichische Medien berichteten darüber. Im Vorfeld war es sehr schwierig, eine Genehmigung für das Projekt zu erhalten. Bei Guerilla-Techniken wird üblicherweise keine Genehmigung eingeholt. Für KnitHerStory soll-

te eine Ausnahme gemacht werden, um sicher zu stellen, dass die Werke länger als ein paar Stunden an ihrem Ort verbleiben. Die Hartnäckigkeit und die Interventionen der organisierenden Frauen auf verschiedensten Ebenen führten dazu, dass die Stadt Wien eine Genehmigung für den Verbleib der Werke für die Dauer von einer Woche ausstellte. Leider ist das nicht an alle Stellen durchgedrungen und die Werke wurden zu einem großen Teil noch am selben Abend von MitarbeiterInnen der Wiener Müllabfuhr entfernt. Einige der Werke konnten gerettet werden und waren im Anschluss in der Ausstellung DIY – Die Mitmachrevolution im Museum für Kommunikation in Frankfurt sowie im Museum für Kommunikation in Berlin zu sehen. Was bleibt, sind beeindruckende Fotos und Erinnerungen an ein großartiges feministisches Kunstprojekt. Antonia Wenzl

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Bildnachweis

Editorial: 1: Giovanni Battista Cavalcaselle und Joseph A. Crowe: The early Flemish painters. Notices of their lives and works, London (2. Auflage) 1872. Botros: 1–11 u. Tafel 1+2: Atef Botros. Behrmann: 1: Kazimir Malevich Suprematismus. Hrsg. von Matthew Drutt. Berlin: Deutsche Guggenheim, 2003, S. 119. 2: Foto: Dylan Martinez, © Reuters. 3 u. Tafel 3: © New Press Photo. 4: Foto: Carolin Behrmann. 5 u. Tafel 4: Foto: Gregorio Borgia © AP Images. 6: Foto: Il Giornale online, http://ssp.ilgiornale.it/p.php?a=JiA8a2NtJyAwOD8uJTI1JzYyLys5JzIyKzclNDI%2BMiU%3D (Stand: 04/2012). 7: Il Giornale online, 18.10.2011, http://www.ilgiornale.it/interni/fermato_dalla_digos/ black_bloc-biondo-fermato-estintore-protesta/18-10-2011/articolo-id=552337-page=0-comments=1 (Stand 04/2012). 8: La Repubblica TV, online, 19.10.2011, Screenshot, http://video.repubblica.it/ dossier/indignados-italiani-indignati/io-ragazza-madre-e-black-bloc/78585/76975 (Stand: 11/2011). 9 u. Tafel 5: Hamburger Kunsthalle/Alexandra Pioch, VG Bild-Kunst Bonn 2013. Lummerding: 1–2: www.youtube.com/watch?v=zCIdRiciMT8. 3–8 u. Tafel 8: http://www. bildungsstreik.net/wien-11-14-03-bologna-burns/, http://unibrennt.at/, http://www.youtube.com/ watch?v=0rV8qwgKrPk.. 9 u. Tafel 6: http://derstandard.at/1291454635687/Operation-PaybackInternetuser-als-Raecher-und-Lebensversicherung-von-Julian-Assange. Voigt: 1: Ausschnitt aus „Cambridge Uncut Turns RBS into a Library“ von Devon Buchanan (aufgenommen am 26.2.2011 in Cambridge), Bild unter Creative Commons Lizenz, http://www.flickr. com/photos/divinenephron/5479334764/ 2: Nachbildung eines „Motivationals“ unter Verwendung eines Ausschnitts des Bilds „Stop the Slaughter in Palestine Demo – Anonymous“ von Loz Pycock (aufgenommen am 10.1.2009 in London), Bild unter Creative Commons Lizenz, http://www.flickr. com/photos/blahflowers/3185126965/ 3: Ausschnitt eines Bilds aufgenommen am 30.9.2010 in Stuttgart, copyright Thomas Igler und fluegel.tv, aus dem Album: http://www.fluegel.tv/bilder/ main.php?g2_itemId=44898 4: Ausschnitt aus einem Bild einer Asamlea am Puerto del Sol von Adolfo Indignado Cuartero am 29.1.2012, Bild unter Creative Commons Lizenz, http://www.flickr. com/photos/popicinio/6782739491/ 5: Ausschnitt eines Bilds des #occupy Frankfurt Camps von Hans Christian Voigt (aufgenommen am 19.11.2011), Bild unter Creative Commons Lizenz, http:// www.flickr.com/photos/kellerabteil/6364383453/ 6: Ausschnitt eines Bild von Brennan Cavanaugh (aufgenommen am 17.11.2011 in New York), Bild unter Creative Commons Lizenz, http://www.flickr. com/photos/brecav/6360489719/ Bildbesprechung: Horst Keller: Edouard Manet, München 1989, S.73. Faksimile: Informations- und Dokumentationszentrum Armenien (IDZA). Nadjivan: 1: © Demir Bajraktarevic. In: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Silvana_ Armenulic.jpg&filetimestamp=20120210081128. 2: © Vienna Info 3: © Daniel Kruczynski. In: http:// commons.wikimedia.org/wiki/File:Madonna-like_a_virgin-bride.jpg 4: © Kavkaz13 http://commons. wikimedia.org/wiki/File:Ceca2006.png 5: © Vienna Info 6: © Karleusa http://commons.wikimedia. org/wiki/File:JK-1.jpg Bałus: 1–3: Archiwum Pa´nstwowe Kraków. 4–6 u. Tafel 10+11: © Maria Balus. Alkemeyer: 1–7 u. Tafel 9: © Roman Eichler. Interview: 1–10: © Kien Hoang Le. Ausstellungsbesprechung: 1: © Marcus Lieberenz. 2: © Haus der Kulturen der Welt. Projektvorstellung: 1+4 u. Tafel 7: Obermair. 2–3: Reiter. Bildtableau I: 1: http://en.wikipedia.org/wiki/Bad_Girls_(M.I.A._song) 2: © Maurice Weiss/ OSTKREUZ. 3: © Luc Viatour https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maroc_Marrakech_Jemaael-Fna_Luc_Viatour.JPG 4: Gall, Lothar (Hg.): 1848. Aufbruch zur Freiheit, Berlin, Nicolai, 1998, Ausst. Kat. DHM Berlin und Schirn Kunsthalle Frankfurt, 18.5.–18.9. in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Abb. 217. 5: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0922-002 /Fotograf: Friedrich Gahlbeck. 6: Bussers, Helena (Hrsg.): Musée d'Art Ancien, Oeuvres choisies, Brüssel 2001, S. 95.Depository Brüssel/Musée d'Art Ancien, Inventory No. 12045. 8: © Rahel Schrohe. 9: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Execution_of_ Louis_XVI.jpg 10: © Konrad Zielinski, CC-BY-SA 2.5 PL. 11: © picture-alliance/ dpa /EPA/NTV TV GRAB. 12: National Space Science Data Center, 2004. 13: © Elmar Haardt/courtesy Galerie Jarmuschek +

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Partner Berlin. 14: Stephan Hoppe: Was ist Barock? Architektur und Städtebau Europas 1580–1770, Darmstadt 2003, S. 111, Abb. 137. 15: H.A. Thompson, R.E. Wycherley, The Agora of Athens: The History, Shape and Uses of an ancient City Center, Princeton, NJ 1972, Taf. 8. 16: Piranesi, Giovanni Battista: Vedute di Roma disegnate ed incise da Giambattista Piranesi architetto veneziano, 17471778. 17: Kurt Zeitler: Wege durch Rom. Druckgraphische Veduten aus drei Jahrhunderten, München 1999, Inv. Nr. 214346 D, Neg. Nr. 13x18/94/568. 18: http://voyagesenduo.com/italie/lucques.html 19: André-Adolphe-Eugène Disdéri, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Disderi_4.jpg 20: Björn Köcher, http://stbergweh.wordpress.com/2013/06/10/occupygezi-istanbul/ 21: © Thorsten Klapsch, 2013. 22: © Denis Sinyakov. 23: © Tobias Zielony. Bildtableau II: 1: © 1994 Liverpool FC & AG Ltd. 2: © Courtesy: Sprüth Magers Berlin London/VG BildKunst, Bonn 2013. 3: R. Skobe, 1964, http://soapboxspeakers.files.wordpress.com/2012/04/webster. jpg. 5: © David Giles/PA Wire/Press Association Images 6: © picture alliance/R. Goldmann. 8: © Thomas Höpker/Magnum Photos/Agentur Focus. 9: http://stadtteilreporter-ottensen.abendblatt.de/ Allgemein/bezirksamt-kein-osterfeuer-in-ovelgonne-mehr/. 10: © picture-alliance/ZB Thomas Richter. 11: © ddpimages/dapd/Johannes Simon. 12: Arno Declair, 2012. 13: Robert Suckale: Die Erneuerung der Malkunst vor Dürer, Bd. 1, Petersberg 2009, S. 375 Abb. 633. 14: © European Community. 15: Albert S. Lyons/R. Joseph Petrucelli II: Die Geschichte der Medizin im Spiegel der Kunst, Köln: DuMont 2003 S. 475. 16: © Alex S. MacLean. 17: Design: ATELIER BRÜCKNER/Foto: Uwe Dettmar. 18: © C.MILET - E.P.V. (= Christian Milet). 19: Archiv Das Technische Bild. 20: http://en.wikipedia.org/wiki/ File:ParisCafeDiscussion.png. 21: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Voltaire_and_Diderot_ at_the_Caf%C3%A9_Procope.jpeg. 22: http://www.kulturtechnik.hu-berlin.de/odm/Paulskirche. 23: Reicke, Emil: Lehrer und Unterrichtswesen in der deutschen Vergangenheit: mit 130 Abbildungen und Beilagen nach Originalen aus dem fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert, Leipzig, 1901, (1901/b1490), S. 38 Abb. 29. Vorlesung eines Universitätslehrers. Niederdeutscher Holzschnitt ca. 1490. Leipzig, Bibliothek d. Börsenvereins. 24: Photo courtesy Institute of Fine Arts, New York University. 25: © The Trustees of the British Museum.

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Die AutorInnen

Prof. Dr. Thomas Alkemeyer Fakultät IV für Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg Prof. Dr. Susanne Baer Juristische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Wojciech Bałus Instytut Historii Sztuki Uniwersytetu Jagiello´nskiego Kraków Dr. Angelika Bartl Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik, Universität Bremen Carolin Behrmann M.A. Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Atef Botros Centrum für Nah- und Mittelost-Studien der Philipps-Universität Marburg Dr. Inge Hinterwaldner Kunsthistorisches Seminar, Universität Basel Dr. Rolf Hosfeld Wissenschaftlicher Leiter des Lepsiushauses in Potsdam Dr. phil. habil. Susanne Lummerding Master-Studiengang Gender Studies, Universität Wien Dr. Silvia Nadjivan Institut für den Donauraum und Mitteleuropa, Wien Dr. Hans Christian Voigt Soziologe in Wien Ben Scheffler Geschäftsführer ParkourONE Berlin Dr. des. Jan Konrad Schröder Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Philosophie der Verkörperung, Humboldt-Universität zu Berlin Antonia Wenzl M.A. Genderraum, Wien Prof. Dr. Michael Wetzel Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Bonn Dr. des. Renate Wöhrer M.A. Kunsthistorisches Institut, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Philipp Zitzlsperger Fachbereich Design, Hochschule Fresenius (AMD-Berlin)

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1: 30. April 1994: Fans des FC Liverpool stehen in der Schlange für die letzte Öffnung der Stehtribüne „The Kop“ in Anfield, bevor diese umgebaut wurde. Liverpool spielte gegen Norwich und verlor 0:1. Die Fans sangen trotzdem zu Tausenden und erwiesen dem Kop die letzte Ehre. 2: Andreas Gursky: Pyongyang IV, C-Print, 2007. 3: John Webster spricht in der Speakers’ Corner vor der Art Gallery NSW in Sydney, 1964. 4: Das Hashtag bezeichnet eine Zeichenkette mit vorangestelltem Doppelkreuz, die als Meta-Tag und damit Verschlagwortung in Sozialen Netzwerken fungiert. 5: 15. April 1989: Fans aus dem Block des FC Liverpool, die während der Hillsborough-Katastrophe gegen den Zaun gepresst werden. 6: Ralph Goldman: Relegationsspiel der 1. Fußball-Bundesliga, Fortuna Düsseldorf – Hertha BSC Berlin am 15. Mai 2012 in der ESPRIT Arena in Düsseldorf. Christian Lell (Berlin) versucht die Leuchtrakete auszutreten, 2012. 7: Europaweiter Flashmob während des Eurovision Song Contests 2010. 8: Thomas Höpker: Brooklyn, New York, 11. September 2001. 9: Osterfeuer am Hamburger Elbstrand, 2011. 10: Thomas Richter: Tibet, Internetcafé in Lhasa, 2008. 11: Schwarzer Rauch, der aus dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle während der Papstwahl 2013 aufsteigt.

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12: Theateraufführung „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen an der Berliner Schaubühne (Regie: Thomas Ostermeier). Dr. Stockmann (Ingo Hülsmann) rezitiert „Der kommende Aufstand“. 13: Predigt des Johannes Capestrano, Tafelmalerei um 1470–1475. 14: Europäisches Parlament in Brüssel. 15: Claes Janszoon Visscher: Vorlesung des Bernhard Siegfried Albinus, Kupferstich, 1644. 16: Alex S. MacLean: Kreisförmig angeordnete Wohnsiedlung, Sun City, Arizona, 1994. 17: Großer Handelssaal, Börse Frankfurt. 18: Chambre du Roi, Grands Appartements, Versailles, Château de Versailles, 2009. 19: William Turner: Das Schlachtfeld bei Waterloo, 1818. 20: Frederick Barnard: Diskussionen über den Krieg in einem Pariser Café, Illustrated London News, 17.9.1870. 21: Jean Huber: Le Souper des philosophes, Radierung auf blauem Papier, 18. Jh. 22: Grundplan vom Inneren der Paulskirche mit Angabe der Plätze sämtlicher Mitglieder der deutschen Nationalversammlung 1848, Lithografie, gefaltet in kartonierter Mappe, 1848. 23: Vorlesung eines Universitätslehrers, Stich nach Holzschnitt, ca.1490. 24: Vorlesung von Erwin Panofsky am Institute of Fine Arts, New York, 1940–49. 25: Interieur eines Londoner Kaffeehauses, Zeichnung, Ende 17. Jh.

Bildwelten des Wissens Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 10,1

Ereignisorte des Politischen

Herausgeber Prof. Dr. Horst Bredekamp, Dr. Matthias Bruhn, Prof. Dr. Gabriele Werner Verantwortlich für diesen Band Prof. Dr. Gabriele Werner und Philipp Ruch Redaktion Das Technische Bild Tableaus Judith Berganski, Felix Jäger, Rahel Schrohe, Theresa Stooß Lektorat Rainer Hörmann Layout Dr. Birgit Schneider, Andreas Eberlein Satz Judith Berganski & aroma, Berlin Druck Concept Medienhaus, Berlin Adresse der Redaktion Humboldt-Universität zu Berlin Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik Das Technische Bild Unter den Linden 6 10099 Berlin [email protected] Fon: +49 (0) 30 2093-2731, Fax:  -1961 ISSN 1611-2512 ISBN 978-3-05-006028-6 © Akademie Verlag, Berlin 2013 www.akademie-verlag.de Das Jahrbuch „Bildwelten des Wissens“ erscheint jährlich in 2 Teilbänden. Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.