Bildung in Protestbewegungen: Empirische Phasentypiken und normativitäts- und bildungstheoretische Reflexionen [1. Aufl.] 978-3-658-24198-8;978-3-658-24199-5

Die Studie untersucht Soziale Bewegungen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive und fragt nach biographischen Bild

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German Pages XI, 517 [523] Year 2019

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Bildung in Protestbewegungen: Empirische Phasentypiken und normativitäts- und bildungstheoretische Reflexionen [1. Aufl.]
 978-3-658-24198-8;978-3-658-24199-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung (Sarah Thomsen)....Pages 1-11
Soziale Protestbewegungen als Kontexte von biografischen Veränderungsprozessen (Sarah Thomsen)....Pages 13-75
Bildung und Normativität (Sarah Thomsen)....Pages 77-192
Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang (Sarah Thomsen)....Pages 193-265
Empirische Rekonstruktionen der Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen (Sarah Thomsen)....Pages 267-356
Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen (Sarah Thomsen)....Pages 357-431
Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen – Erkundungen zwischen Empirie und Theorie (Sarah Thomsen)....Pages 433-468
Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse und Anschlüsse an den Forschungsstand (Sarah Thomsen)....Pages 469-514
Back Matter ....Pages 515-517

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Sarah Thomsen

Bildung in Protestbewegungen Empirische Phasentypiken und normativitäts- und bildungstheoretische Reflexionen

Bildung in Protestbewegungen

Sarah Thomsen

Bildung in Protestbewegungen Empirische Phasentypiken und normativitäts- und bildungstheoretische Reflexionen

Sarah Thomsen Universität Potsdam Potsdam, Deutschland

ISBN 978-3-658-24198-8 ISBN 978-3-658-24199-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Danksagung

Allen voran möchte ich meinen Interviewpartner*innen für ihre Zeit und Bereitschaft danken, mir tiefe Einblicke in ihr Leben und ihre Erfahrungen zu geben. Ohne sie wäre die Arbeit in dieser Form nicht möglich gewesen. Mein großer Dank gilt zudem Arnd-Michael Nohl – Betreuer und Erstgutachter dieser Arbeit sowie mein langjähriger Chef, der mich durch fachliche Höhen und Tiefen und mit stets konstruktivem Feedback unterstützt hat. Auch meiner Zweitgutachterin, Frau Christine Zeuner, möchte ich herzlich danken für Ihre Bereitschaft, mir und meinem Anliegen ihre Zeit und Expertise zu widmen. Mein fachlicher Dank gilt außerdem Florian von Rosenberg für einige Jahre gemeinsamen Arbeitens und hilfreiche Kritik. Martin Hunold, Georgette-Andrée Ziegler und Nils Schrewe danke ich für kollegialen Austausch und die Zeit, die sie aufgebracht haben, um sich mit meinen Texten zu beschäftigen. Gleiches gilt auch für alle Teilnehmenden des Doktorandenkolloquiums von Arnd-Michael Nohl. Thiemo Bloh danke ich über das Feedback im Kolloquium und gemeinsamen Arbeitssitzungen hinaus auch für die Erhebung von fünf der Interviews und für einige Transkriptionen. Für weitere Transkriptionen danke zudem ich Anna Felicitas Scholz, Anja Nikodem und Preslava von Allwörden. Sonja Kubisch gebührt mein Dank in vielfältiger Weise, sowohl für ihre fachkundige Lektüre und hilfreichen Kommentare als auch für unseren intensiven Austausch über die Herausforderungen des wissenschaftlichen Arbeitens im Allgemeinen. Steffen Amling danke ich neben seinem Feedback im Kontext der Arbeitssitzungen auch für seine fachkundigen Kommentierungen, Kevin Stützel für den kollegialen Austausch; da wir beide parallel an unseren Dissertationen gearbeitet haben, konnten wir uns oft gegenseitig bestärken. Lars Dabbert danke ich für frühe Inspirationen.

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Danksagung

Ein großes Dankeschön für seine persönliche Unterstützung geht an meinen Vater, Jörg-Dieter Thomsen. Auch meiner Mutter, Carola Thomsen, gilt mein herzlicher Dank für ihre (nicht nur alldienstägliche) Unterstützung. Eckhard und Hildegard Minthe möchte ich danken für ihre Gastfreundschaft in Lauenstein, wo ich zahlreiche ‚Arbeitsretreats‘ verbringen durfte, sowie Kathinka Minthe für ihre Freundschaft, ihre humoristische Sicht auf komplizierte Umstände, ihre gerne zur Verfügung gestellten Kochkünste, Hilfe am Literaturverzeichnis u. v. m. Stefanie Klank danke ich für das gemeinsame Co-Working, das mir das Beispiel einer disziplinierten Wissensarbeiterin vor Augen geführt und viel Kraft gegeben hat, außerdem danke ich ihr und Thore Podlich für den umfänglichen technischen Support in der Not – auch diese Danksagung schreibe ich gerade an ihrem Computer. Sarah Thomsen

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Zu den theoretischen und method(olog)ischen Grundannahmen und dem Sample der Studie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1.2 Zum Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Soziale Protestbewegungen als Kontexte von biografischen Veränderungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 Soziale Bewegungen und Protest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.2 Historische Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.2.1 Frühe sozialpsychologische und soziologische Ansätze der US-amerikanischen Bewegungsforschung . . . . . . . . . . . 21 2.2.2 Der europäische Forschungsansatz der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2.3 Ressoucenmobilisierung und daran anschließende Ansätze der US-amerikanischen Bewegungsforschung. . . . . 26 2.3 Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen Erfahrungen und Veränderungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen. . . . . . . . . 30 2.3.1 Zur vermehrten Berücksichtigung einzelner Akteur*innen seit der kulturellen Wende. . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3.2 Zur erziehungswissenschaftlichen Erforschung von biografischen Veränderungsprozessen im sozialen Bewegungsengagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

3 Bildung und Normativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.1 Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen. . . . . . . . 81 3.1.1 Das ‚Gute‘ der Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.1.2 Zur ethisch-normativen Zurückhaltung transformativer Bildungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.1.3 Zur Unterscheidung von ‚materialer‘ und ‚formaler‘ Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.1.4 Zur Unterscheidung der Bildungsansätze anhand ihrer Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.1.5 Das ‚Politische‘ der Bildung im Kontext sozialer Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.2 Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept ohne Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.2.1 Reflexionstheoretischer Ansatz: Bildung als Steigerung subjektbezogener Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.2.2 Diskurstheoretische Ansätze: Bildung als Steigerung diskursiver Vielfalt und der Ermöglichung machtkritischer Grenzverschiebungen. . . . . . 112 3.2.3 Praxeologische Ansätze und der Bildungsbegriff dieser Arbeit: Bildungsprozesse als Steigerung der relativen Freiheit gegenüber der tradierten Struktur. . . . . . . . . . . . . . . 130 3.2.4 Kontrastfolie: Transformative Learning als Steigerung kritisch-emanzipativer Reflexion und sozialer Verantwortungsübernahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.3 Bildung und Normativität – Zusammenfassung mit weitergehenden Reflexionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3.3.1 Nicht-subjektivistische ‚formale‘ Bildung. . . . . . . . . . . . . . . 172 3.3.2 Relationierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.3.3 Ethische Unbestimmtheit versus ethische Spezifizierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3.3.4 Empirie als Spezifizierung ethischer Unbestimmtheit. . . . . . 182 3.3.5 Erkundungen zur Normativität zwischen Theorie und Empirie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

Inhaltsverzeichnis

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4 Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang . . . . . . . . . . 193 4.1 Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen und den Grundbegriffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 4.1.1 Die biografietheoretische Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.1.2 Grundlagen der Praxeologischen Wissenssoziologie. . . . . . . 202 4.1.3 Bourdieus Habitusbegriff und die praxeologisch-wissenssoziologische Perspektive . . . . . . . . . 213 4.1.4 Zur Transformierbarkeit des Habitus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.2 Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews und Reflexionen der eigenen Forschungspraxis. . . . . . . . 224 4.2.1 Sampling und Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4.2.2 Theoretische Grundlagen und Forschungspraxis der dokumentarischen Auswertung narrativer Interviews. . . . . . 238 4.3 Zusammenfassung und Ausblick auf die empirischen Kapitel . . . . . 256 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 5 Empirische Rekonstruktionen der Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen. . . . . . . . . . 267 5.1 Kurzdarstellung der Fälle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 5.2 Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 5.3 Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Zuge der Einfindung in soziale Protestbewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 5.3.1 Die Phase der unbestimmten Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 5.3.2 Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 5.3.3 Die Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis. . . . . . . . . . . . . . . 323 5.3.4 Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten. . . . . . . . . . . 332 5.3.5 Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie. . . . . . 345 5.3.6 Zusammenfassung der Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Zuge der Einfindung in eine soziale Protestbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

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Inhaltsverzeichnis

6 Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen. . . . . . . . . . 357 6.1 Bildung im Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 6.1.1 Der adulte Bildungsprozess von Thomas Büchner: Von einer politisierten Verteidigung eigener Freiheiten zur politisierten Verteidigung der Freiheiten anderer. . . . . . . . . . 358 6.1.2 Der adulte Bildungsprozess von Sandra Bach: Von einer politisierten Negation zur politisierten Positivsetzung einer zuvor randständigen Erfahrungsdimension. . . . . . . . . . 375 6.1.3 Zusammenfassung der Phasen adulter Bildungsprozesse im Zuge des fortgesetzten Engagements in sozialen Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 6.2 Bildung im Rückzug vom Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 6.2.1 Der adulte Bildungsprozess von Anja Weber: Von einer kollektiv gelagerten politisierten Negation zur individuellen Verbesserung von Missständen . . . . . . . . . 386 6.2.2 Der adulte Bildungsprozess von Bettina Kubitschek: Von einem bewegungsinternen Einebnen von Differenzen zur Praxis des allseitigen Differenzierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 6.2.3 Zusammenfassung der Phasen adulter Bildungsprozesse im Rückzug vom Engagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 6.3 Bildung im Engagement und Bildung im Rückzug vom Engagement – Differenzierungen und Gemeinsamkeiten der Phasen adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 6.3.1 Die Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 6.3.2 Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 6.3.3 Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten. . . . . . . . . . . 428 6.3.4 Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie. . . . . . 430 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 7 Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen – Erkundungen zwischen Empirie und Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 7.1 Zur Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen. . . . . . 434

Inhaltsverzeichnis

XI

7.2 Zwei empirische Bildungsfälle – verschiedene transformationstheoretische Perspektiven. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 7.2.1 „Ich bin lesbisch, ich will frauenbezogen leben“ – Sandra Bachs Bildung zum Habitus der politisierten Positivsetzung und Generalisierung einer Erfahrungsdimension. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 7.2.2 „Ich möcht morgens nich vorm Spiegel stehn und wer bin ich heute“ – Peter Waldorfers Bildung zum Habitus der Generalisierung von politisierter Authentizität und Machtkritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 7.2.3 Interpretationssache? Gedankenspiele zwischen Empirie und Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 7.3 Ansätze für ein Weiterdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 8 Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse und Anschlüsse an den Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 8.1 Biografischer Vorlauf und Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 8.1.1 Biografische Erfahrungshintergründe der Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen. . . . . . . 473 8.1.2 Die ersten drei Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Kontext des Vorlaufs und Beginns des Engagements in sozialen Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 8.2 Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen und die abschließenden Phasen der adoleszenten Bildungsprozesse. . . . . . . 486 8.3 Neuausrichtung oder Beendigung des Engagements in sozialen Bewegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 8.4 Das ‚Resultat‘ von Bildung – ethisch-normative Fragen an die Bildungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 8.4.1 Zur inhaltlichen Qualifizierung der transformierten Habitus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 8.4.2 Zur Normativität von Bildung vis-a-vis ihrer empirischen Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 8.5 Ausblick auf anschließende Forschungsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

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Einleitung

In meiner Jugend habe ich intensive Erfahrungen in einer politisierten ‚Szene‘ gesammelt. In unserer linken Jugendgruppe trafen sich allwöchentlich um die 20 Jugendliche und junge Erwachsene, um zu diskutieren, sich gegenseitig über verschiedenste Themen zu informieren, Gesellschaftsutopien zu entwerfen, zu streiten, politische Protestaktionen zu planen, Artikel für unsere Zeitschrift zu schreiben, Wochenendworkshops zu organisieren u. v. m. – alles in Selbstverwaltung und zumeist mit durchaus radikalem Impetus. Unser Zusammenschluss endete nicht am Abend des jeweiligen Treffens, sondern ging weit über diesen formalen Rahmen hinaus: Wir besuchten gemeinsam Demonstrationen, fuhren zu Protestcamps, beteiligten uns an Kampagnen, schlossen Kontakte, die von gemäßigten linken bis hin zu linksradikalen Gruppierungen reichten, und bildeten nicht zuletzt einen Freundeskreis und sozialen Zusammenhang, der gemeinsam Partys feierte und alternative Formen des Zusammenlebens erprobte. Neben den vielen positiven Erlebnissen erinnere ich aber auch das Entstehen von neuen Dogmen. Während wir das Althergebrachte, den Lebensstil und die Werte unserer Eltern zu großen Teilen ablehnten, bildeten sich teils neue Normen heraus, die mir im Nachhinein nicht minder strikt erscheinen. Was in meinem eigenen Leben aus dieser Lebensphase bis heute überdauert hat, ist einerseits, dass ich in diesem Kontext gelernt habe, mir Themen eigenständig anzueignen, Argumente und Weltbilder zu hinterfragen, zu debattieren, Diskussionsrunden zu leiten, Workshops zu konzipieren u. v. m. Andererseits stellt sich schnell ein Aufhorchen ein, wenn mir eine Perspektive zu ‚glatt‘ und widerspruchsfrei erscheint. Vor allem aber habe ich das Gefühl, dass ich ohne diese Erfahrungen heute ein anderer Mensch wäre. Eben dies – dass soziale (Protest-)Bewegungen nicht nur Anlass für vielfältiges Lernen bieten, sondern in ihrem Kontext auch Prozesse stattfinden, die den gesamten Menschen mit seiner Art und Weise, in der Welt zu sein und zu

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_1

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1 Einleitung

handeln, nachhaltig prägen und verändern – inspirierte mich zur vorliegenden Untersuchung. Ein Freund, der mir von seinen Erlebnissen im Zuge der Proteste gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf in den 80er-Jahren erzählte, unterfütterte diesen Eindruck mit der Geschichte einer Bäuerin, die nicht nur den Aktivist*innen immer wieder Unterschlupf auf ihrem Hof gewährte, sondern auch selbst Teil der Protestbewegung wurde. Im Zuge dieser Protesterfahrungen habe sie ihrer bis dato christdemokratisch-konservativen Orientierung den Rücken gekehrt und sogar einen gewissen Stolz darauf entwickelt, ihren Hof auf einer Karte der Behörden als ‚Störernest‘ verzeichnet zu finden. Abseits des im eigentlichen Sinne ‚Politischen‘ habe sie – so wurde mir erzählt – im Zuge der neuen Erfahrungen ihr Leben umgekrempelt, was letztlich auch zur Trennung von ihrem gewalttätigen Ehemann führte. Obgleich ich der Darstellung meines Bekannten durchaus Glauben schenke und die Erwähnung einer „Bäuerin aus der Region“ im Spiegel vom 24.11.1986, „die fast 30 Umweltschützern von Greenpeace Unterschlupf gewährt hat“ (Martin 1986), zudem bestätigt, dass es derartige Allianzen gegeben hat, bleibt dies dennoch eine Anekdote. Sie bestätigte mich aber in meiner Wahrnehmung, dass das Engagement in einer sozialen Bewegung lebensgeschichtliche Prozesse, die weit über die eigentliche politische Idee hinausgehen, in Gang setzen und Biografien verändern kann. Nicht jenseits, aber doch ein bisschen abseits der politischen Ziele, um die es in der jeweiligen Bewegung geht, habe ich also in den sozialen (Protest-)Bewegungen auch das Potential vermutet, sich von bisherigen biografischen Erfahrungen und daraus entstandenen Mustern zu lösen, Grundlegendes im eigenen Leben zu verändern bzw. von den Erfahrungen im Kontext des Engagements verändert zu werden.

1.1 Zu den theoretischen und method(olog)ischen Grundannahmen und dem Sample der Studie Im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Bildung – Transformation und Tradierung im Zusammenhang von Individualität und Kollektivität“ bot sich mir die Gelegenheit, diese Zusammenhänge aus einer bildungstheoretischen Perspektive, mit der die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerät, näher zu erforschen.1 Diesem im Kontext der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung entstandenen B ­ildungsverständnis

1Die

vorliegende Arbeit ist im Kontext zweier aufeinander folgender DFG-Projekte entstanden, beginnend mit dem oben genannten Forschungsprojekt. In diesem Rahmen stellten

1.1  Zu den theoretischen und method(olog)ischen Grundannahmen …

3

liegt die formale Unterscheidung von ‚Bildung‘ und ‚Lernen‘ zugrunde. Im Gegensatz zu solchen (Lern-)Prozessen, die sich in den Grenzen vorhandener Schemata (vgl. Peukert 1984) oder Rahmen (vgl. Marotzki 1990) abspielen, beschreibt Bildung demzufolge jene Prozesse, in denen Handlungsfähigkeit gegenüber der Struktur hervorgebracht wird, die also den „Rahmen transformieren“ (Marotzki 1990, S. 52) und damit „Welt- und Selbstreferenzen qualitativ ändern“ (ebd.). Diese formale Unterscheidung Marotzkis und Nohls (2006b) daran in handlungstheoretischer Perspektive anschließende Ausgestaltung des Bildungsbegriffs bildeten den Hintergrund und Ausgangspunkt unserer Forschung. Anhand von narrativen Interviews (vgl. Schütze 1983) fanden wir Zugang zu den Lebensgeschichten unserer Interviewpartner*innen, wobei mein eigener Schwerpunkt für die vorliegende Arbeit hierbei insbesondere auf den Biografien derjenigen Menschen lag, die sich in sozialen Protestbewegungen engagieren oder auf ein solches Engagement zurückblicken konnten. Bei der Auswertung der Interviews wurde, dem generellen Vorgehen der Dokumentarischen Methode (vgl. z. B. Bohnsack 2003a) entsprechend, von Anfang an fallvergleichend vorgegangen. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stand eine erziehungswissenschaftliche Perspektive auf Bildungsprozesse und hierbei insbesondere auf ihre Prozesshaftigkeit, die wir in Form ihres phasenhaften Verlaufs herausarbeiteten, während die sozialen Protestbewegungen einen speziellen Kontext von Bildung darstellten. So konnte ich in den Biografien von Menschen, die Erfahrungen in sozialen Protestbewegungen gesammelt haben, einzelfallübergreifende Prozesse und Phasenabfolgen identifizieren, die als Bildung im Sinne des transformativen Bildungsbegriffs gelten können. Meine empirische Suche nach – und Rekonstruktion von – Bildungsprozessen im Kontext sozialer Protestbewegungen stand, wie mit der Erwähnung

soziale Protestbewegungen – auf meinen Vorschlag hin – einen von zwei Gegenstandsbereichen da, in denen wir nach Bildungsprozessen Ausschau hielten. (Neben dem Sample ‚soziale Bewegungen‘ wurde in den beiden DFG-Projekten als zweiter Gegenstandsbereich derjenige der ‚kulturellen Pluralität‘ hinzugezogen; vgl. hierzu von Rosenberg 2016.) Die im oben genannten, ersten Projekt begonnenen Erkundungen wurden im Folgeprojekt mit dem Titel „Lernorientierungen diesseits und jenseits des Bildungsprozesses: Der biographisch kontextuierte Aufbau von Wissen und Können“ fortgesetzt, wobei dieselben empirischen Daten hier lerntheoretisch reinterpretiert und Lernen und Bildung in einen systematischen Zusammenhang gestellt wurden. Die Ergebnisse beider Projekte sind nachzulesen bei Nohl et al. 2015a.

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1 Einleitung

der dokumentarischen Forschungsmethodik schon anklang, zudem unter den methodologischen und grundlagentheoretischen Prämissen einer praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive. Im Zeichen der Dokumentarischen Methode und unter Einbezug von Bourdieus Theorie der Praxis legte ich den empirischen Rekonstruktionen die Annahme zugrunde, dass soziale Strukturen in der individuellen und kollektiven Handlungspraxis von Akteur*innen wirken und implizite Wissensmuster erzeugen, die das (weitere) Handeln von Akteur*innen strukturieren. Da es sich hierbei zu großen Teilen um routiniertes Wissen handelt, spielen vorreflexive Aspekte eine zentrale Rolle. Folgerichtig habe ich den transformativen Bildungsbegriff in praxeologischer Hinsicht ausgedeutet. Statt die reflexiven Anteile des Wissens zu fokussieren, setzt dieses Bildungsverständnis an der sozialen Praxis von Akteur*innen und ihren „habitualisierten Wissensbestände[n]“ (Bohnsack 2006a, S. 132) an. Bildung wird so, in Anlehnung an Bourdieu, auch als Habitustransformation beschreibbar, in deren Zuge die (neu-) strukturierenden Eigenschaften des Habitus Oberhand über seine Strukturiertheit gewinnen. Bevor ich den Aufbau dieser Arbeit en détail erläutere, möchte ich zunächst noch einige grundlegende Informationen zum Sample geben. Im Rahmen des DFG-Projekts haben wir Menschen verschiedenen Alters und ebenso viele Frauen wie Männer interviewt. Des Weiteren achteten wir darauf, dass Menschen mit berufsbildendem Schulabschluss und solche, die über die Hochschulreife verfügen, gleichermaßen vertreten sind. Da es forschungspraktisch nicht möglich ist, einen Fokus wie die Transformation des Habitus als ‚hartes‘ Kriterium vorweg abzufragen, sondern dieses sich erst im Zuge der Auswertung der biografischen Interviews dokumentiert (oder eben nicht), habe ich dann – im Sinne des Theoretical Sampling (Glaser und Strauss 1969) – zunächst erste Fälle ausgewertet, um eine gezielte Suche nach passenden Vergleichsfällen anzuschließen (vgl. zu diesem Vorgehen im Rahmen der Dokumentarischen Methode auch Nohl 2013b, S. 173 ff. und Abschn. 4.2 der vorliegenden Arbeit). Auf diese Art und Weise wurden für das Sample der vorliegenden Studie 23 biografische Interviews erhoben. Im Hinblick auf mögliche Bildungsprozesse im oben genannten Sinne schienen nach erster Sichtung zehn der erhobenen Interviews vielversprechend, sodass ich diese ausführlich interpretierte. Letztlich ließen sich in sieben dieser Interviews elf Bildungsprozesse identifizieren, was zugleich bedeutet, dass sich in vier von ihnen mehr als ein Bildungsprozess dokumentierte: Neben ‚adoleszenten‘ Bildungsprozessen, die sich in allen sieben Interviews im Kontext erster Partizipationen an sozialen Protestbewegungen im Jugendalter finden ließen, waren in diesen lebensgeschichtlichen Erzählungen zugleich auch Bildungsprozesse zu rekonstruieren, die sich viele Jahre

1.2  Zum Aufbau der Arbeit

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s­päter im Erwachsenenalter vollzogen.2 Die Kriterien des Geschlechts und des Schulabschlusses haben sich im Rahmen meines Samples nicht als relevante Unterscheidungskriterien hinsichtlich der Suche nach Habitustransformationen erwiesen. Gegebenenfalls deuteten sich generationsspezifische Unterschiede an – nämlich dahin gehend, dass ich in den drei geführten Interviews mit jungen Erwachsenen im Alter von 20 Jahren keine transformativen Bildungsprozesse rekonstruieren konnte –, was angesichts dessen, dass ich im Folgenden auf die älteren Interviewpartner*innen im Alter von 40 Jahren plus fokussierte, jedoch nicht weiter ergründet wurde.3

1.2 Zum Aufbau der Arbeit Viele Fragen über den Zusammenhang von Bildung und sozialen Protestbewegungen, von denen ich einige oben bereits erwähnte, waren Ausgangspunkt meiner ‚Forschungsreise‘, andere kristallisierten sich erst im Zuge der Forschung und Sichtung der Literatur heraus. So stellte ich mir angesichts dessen, dass wir in den beiden DFG-Forschungsprojekten Bildung nicht nur in sozialen Bewegungen, sondern auch im Kontext kultureller Pluralität (vgl. Rosenberg 2016) untersuchten und ich somit immer auch die empirischen Bildungsprozesse aus diesem anderen Gegenstandsbereich vor Augen hatte, z. B. alsbald die Frage, ob Bildung in sozialen Protestbewegungen eine besondere Form annimmt bzw. ob sie sich unter anderen Bedingungen und in anderer Gestalt vollzieht als in anderen Kontexten. Die vorliegende Arbeit beginnt dementsprechend im Kap. 2 mit einer Klärung dessen, was das Typische sozialer Protestbewegungen unter der Perspektive auf sich in ihrem Kontext vollziehende biografische Veränderungsprozesse sein kann; wobei ich den Aspekt des kollektiven Handlungs- und Wissenszusammenhangs stark mache und folglich den Milieucharakter von sozialen Bewegungen herausstreiche. Es folgt ein Überblick über die historischen Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen, wobei hier das breite Feld der Bewegungsforschung

2Der

Vergleich zwischen den Bildungsprozessen im Jugendalter und den späteren, sich in denselben Lebensge-schichten vollziehenden Bildungsprozessen ermöglichte mir Aussagen zur Lebensalterspezifik der Prozessverläufe (vgl. Kap. 8). 3Die Entscheidung, meine Stichprobe nicht um Interviews mit weiteren jungen Erwachsenen zu erweitern und ihre erkenntnistheoretischen Konsequenzen (sowie die Samplingstrategie im Allgemeinen) reflektiere ich ausführlicher im Kap. 4, Abschn. 4.2.1.

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1 Einleitung

vor allem mit der Frage danach, was die verschiedenen Ansätze über einzelne Akteur*innen, ihre Biografien und biografischen Veränderungsprozesse aussagen können, betrachtet wird. Eine direkte Antwort darauf gibt der Blick in die klassischen Ansätze der Bewegungsforschung allerdings nicht, wohl aber einen Überblick über die typischen Themen, die in diesem Rahmen thematisiert wurden und werden – und somit zumindest indirekte Hinweise, z. B. in Bezug auf die einzelnen Akteur*innen als Kosten-Nutzen-Abwägende. Mehr Aufschluss über ihre biografischen Erfahrungen und Veränderungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen geben schließlich Ansätze, die in den USA im Zuge der ‚kulturellen Wende‘ entstanden sind. So zeigt beispielsweise McAdam (1989, S. 758) bei Teilnehmenden des 1964 im Kontext der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stattgefundenen ‚Mississippi Freedom Summer‘-Projekts das Entstehen einer „activist career that has continued to shape all aspects of their lives down to the present“ und Kiecolt (2000, S. 120) gilt Protest als Sozialform, in der Teilnehmende plötzlich Dinge tun, „they could never have imagined beforehand and who consequently changed their beliefs about themselves“. Auch in der – lange Zeit gegenüber biografischen Ansätzen abstinenten – deutschsprachigen Bewegungsforschung mehren sich, insbesondere im letzten Jahrzehnt, erziehungswissenschaftliche und biografietheoretische Ansätze, die in der kollektiven Handlungspraxis sozialer Bewegungen u. a. das Potential für Modulationen der kollektiven und individuellen Deutungsrahmen (vgl. Miethe 1999), eine erweiterte Weltverfügung der Aktivist*innen (vgl. Trumann 2014), die Transformation ihrer konjunktiven Lebensorientierungen (vgl. Naumann 2008) und biografische Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Handlungsorientierungen der Akteur*innen im Zuge ihrer politischen Sozialisation (vgl. Dehnavi 2013) sehen. Die Anzahl dieser biografisch ausgerichteten Ansätze bleibt jedoch nach wie vor überschaubar. Vor dem Hintergrund dessen, dass soziale Protestbewegungen Kontexte des ‚Politischen‘ darstellen, kann Bildung bzw. das, was in ihrem Rahmen zum Bildungsinhalt wird, in besonderem Maße als von normativen Vorstellungen darüber, was richtig oder falsch ist, geprägt gelten. Das hier auf den Inhalt von Bildung bezogene Thema der Normativität greife ich in Kap. 3 auch und vor allem auf der Ebene der theoretischen Grundlegungen des Bildungsbegriffs der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung, in deren Tradition der Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit steht, wieder auf. So stelle ich in diesem Kapitel nicht nur die verschiedenen Ausgestaltungen des transformativen Bildungsbegriffs vor und entfalte die Grundannahmen eines Verständnisses von Bildung als Habitustransformation (vgl. für viele: Koller 2002a; Rieger-Ladich 2005; Wigger 2006; Rosenberg 2011; Nohl et al. 2015a), sondern lege – davon ausgehend, dass es „keine theoriefreie Interpretation qualitativer Daten geben

1.2  Zum Aufbau der Arbeit

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kann“ (Nohl 2016a, S. 205) – an die Bildungstheorie zudem den besonderen Fokus der Fragestellung nach ihren (normativen) Grundannahmen an. Die Autor*innen nähern sich der ethischen Fundierung des transformativen Bildungsbegriffs mit verschiedenen philosophischen Bezügen, wobei der reflexionstheoretische (Marotzki 1990) und der diskurstheoretische Ansatz (Koller 1999; Lüders 2007; Rose 2012) sowie die verschiedenen praxeologischen Ausgestaltungen (Nohl 2006b; Rosenberg 2011; Nohl et al. 2015a) alle gemein haben, dass ihre theoretischen Vorannahmen zu großen Teilen formaler Art sind und sie mit Aussagen darüber, was Bildung – materialiter – sein soll, sparsam umgehen. Dennoch legen auch diese Ansätze implizite und explizite ethische Maßstäbe an Bildung an, die ich in diesem Kapitel herausarbeite. So lässt sich der von mir verwendete, ethisch weitgehend enthaltsame Bildungsbegriff vor dem Hintergrund der Vor- und Nachteile ethisch in stärkerem Maße spezifizierter Ansätze diskutieren. Das so aufgezogene Spannungsfeld lässt sich zudem durch die Kontrastierung der transformativen Bildungstheorie mit dem pädagogischen Konzept des Transformative Learning – das den Fokus stärker auf die Funktionalität der pädagogischen Prozesse für die Gesellschaft bzw. für Gesellschaftskritik, Emanzipation und soziale Verantwortung stellt – noch etwas weiter aufspannen. In Kap. 4 werden die zugrunde gelegten Grundbegrifflichkeiten und die Methodologie und Methodik der Dokumentarischen Methode (vgl. etwa Bohnsack 2003a, b, 2006b), die zusammen genommen die theoretischen und methodischen Prämissen meiner Erforschung von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen liefern, entfaltet. Den Vorbehalten großer Teile der Bewegungsforschung gegenüber individualisierenden Zugängen stelle ich das Verständnis einer biografietheoretischen Perspektive entgegen, die sich jenseits der Dualität des Subjektivismus und Objektivismus in den Sozialwissenschaften verortet. Auch und gerade die maßgeblich auf Karl Mannheims (1995, S. 73) Grundannahme einer „Seinsverbundenheit des Wissens“ aufbauende Praxeologische Wissenssoziologie, mit der die umfassende soziale Verfasstheit und Perspektivität des Wissens betont wird, sucht einen solchen Dualismus zu überkommen, ebenso wie Bourdieus Habitustheorie, der zufolge der Habitus als „doppelter Prozeß der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität“ konzipiert ist. Die vielfältigen Gemeinsamkeiten der beiden Theorietraditionen, u. a. hinsichtlich der praxeologischen Perspektive und der Verortung biografischer Prozesse jenseits der Dichotomisierung von Objektivismus und Subjektivismus, bilden den theoretisch-methodologischen Hintergrund der in Kap. 3 entfalteten habitustheoretischen Auslegung des transformativen Bildungsbegriffs.

8

1 Einleitung

Die Transformierbarkeit des Habitus ist angesichts seiner sozialen Strukturiertheit voraussetzungsvoll und angesichts seiner „ständigen Revision“ (Bourdieu 2001, S. 207) durch die Handlungspraxis doch möglich. Eine für solche biografischen Transformationen nötige handlungspraktische Offenheit für neue Erfahrungen steht (nicht nur) im Kontext sozialer Bewegungen in einem Spannungsverhältnis zu etwaigen ideologischen Schließungen des Denkens, Wahrnehmens und Handelns. Mit Mannheims (1995, S. 70 ff.) Verständnis der Perspektivität und generellen Ideologiehaftigkeit jeglichen Wissens – das sich (erst) dann in eine ‚totale Ideologie‘ wandelt, wenn es von seiner Erfahrungsbasis abweicht (vgl. ebd.) –, wurde für die vorliegende Arbeit zudem eine Begrifflichkeit gefunden, mit der auch dieses Spannungsfeld biografischer Bildungsprozesse erfasst werden kann. Zugang erster Wahl zu biografischen Prozessen ist das narrative Interview (vgl. Schütze 1983), dessen Auswertung mit der Dokumentarischen Methode (Nohl 2006a) ich in diesem Kapitel – auch anhand von Reflexionen des eigenen forschungspraktischen Vorgehens – erläutere. Das zentrale Ergebnis meiner Untersuchung ist schließlich die Typisierung der phasenhaften Verläufe von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Protestbewegungen; eine Form der Typenbildung, die ich in Anlehnung an von Rosenberg (2012) Bezeichnung der „prozessanalytischen Typenbildung“ als prozessanalytische Typisierung von Habitustransformationsverläufen konkretisiere und hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Formen der Typenbildung im Rahmen der Dokumentarischen Methode diskutiere. Es folgen drei Kapitel, die der Darstellung der empirischen Ergebnisse meiner Studie dienen – wobei das letzte von ihnen zudem theoretische Reflexionen und Erkundungen enthält. In Kap. 5 finden sich zum Zwecke der Übersicht zunächst Kurzzusammenfassungen aller sieben, für die Typenbildung herangezogenen Lebensgeschichten. Daran anschließend stelle ich die biografischen Hintergründe dar, die im Rahmen der Bildungsprozesse, die meine Interviewpartner*innen im Jugendalter durchliefen, eine Rolle spielten bzw. an die in den adoleszenten Bildungsprozessen in der einen oder anderen Form angeschlossen wurde, um schließlich die fallübergreifende Phasentypik der Bildungsprozesse im Jugendalter im Zuge der Einfindung in soziale Protestbewegungen vorzustellen. Neben diesen Bildungsprozessen im Jugendalter ließen sich, so hatte ich bereits erwähnt, in vier der Lebensgeschichten zudem Bildungsprozesse rekonstruieren, die sich viele Jahre nach dem ersten Bildungsprozess vollziehen. In Kap. 6 stelle ich die empirischen Rekonstruktionen der Phasen dieser Bildungsprozesse im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Protestbewegungen vor. Hierbei handelt es sich nicht lediglich um Bildungsprozesse, die im Rahmen einer

Literatur

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Fortsetzung des Engagements in den sozialen Bewegungen stattfinden, sondern auch um solche, die sich im Zuge eines Rückzugs vom Bewegungsengagement entfalten. Nach der Darstellung der jeweiligen Spezifik des phasenhaften Verlaufs adulter Bildungsprozesse im und im Rückzug vom Engagement, hebe ich in einer übergreifenden Typik der Phasen adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen die – durchaus vielfältig vorhandenen – Gemeinsamkeiten hervor und kennzeichne die vorhandenen Unterschiede als Binnendifferenzierungen der jeweiligen Phasen der untersuchten Bildungsprozesse im Erwachsenenalter. In Kap. 7 werde ich schließlich die in Kap. 3 begonnene Auseinandersetzung mit den ethischen Grundlegungen der verschiedenen Ausgestaltungen des transformativen Bildungsansatzes noch einmal aufgreifen und das Thema der Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen – diesmal in Form von Erkundungen zwischen Empirie und Theorie – beleuchten. Durch das Herantragen verschiedener transformationstheoretischer Bildungsverständnisse (mit ihren impliziten wie expliziten ethisch-normativen Grundannahmen) an zwei empirische Bildungsprozesse – bei denen im Kontext sozialer Bewegungen durchaus die Ausbildung von Ansätzen einer bereits erwähnten ‚totalen Ideologie‘ im Sinne Mannheims (1995) zu konstatieren ist –, möchte ich aus verschiedenen Perspektiven heraus die paradoxale Struktur beleuchten, die sich daraus ergibt, dass die als Bildungskriterium oft bemühte Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten nicht unbedingt auch eine erhöhte Öffnung des Selbst für die vielfältigen Aspekte von Welt mit sich bringen muss. Auf diese Art soll zumindest in Ansätzen mehr Transparenz in Bezug auf die Möglichkeiten und Grenzen (auch) des (eigenen) Bildungsverständnisses erzielt werden. In Kap. 8 diskutiere ich die empirischen Ergebnisse meiner Studie, allem voran die beiden Phasentypiken, vor dem Hintergrund des Forschungsstandes.

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1 Einleitung

Bohnsack, R. (2006b). Mannheims Wissenssoziologie als Methode. In D. Tänzler, H. Knoblauch & H.-G. Soeffner (Hrsg.), Neue Perspektiven der Wissenssoziologie (S. 271–291). Konstanz: UVK. Bourdieu, P. (2001). Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Dehnavi, M. (2013). Das politisierte Geschlecht. Biographische Wege zum Studentinnenprotest von ‘1968’ und zur Neuen Frauenbewegung. Bielefeld: transcript. Glaser, B. G., & Strauss, A. L. (1969). The Discovery of Grounded Theory. Chicago: ­Chicago University. Kiecolt, J. (2000). Self-Change in Social Movements. In S. Stryker, J. Timothy, T. Owens & W. White (Hrsg.), Self, Identity, and Social Movements (S. 110–131). Minneapolis: University of Minnesota. Koller, H.-C. (1999). Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne. München: W. Fink. Koller, H.-C. (2002a). Bildung und Migration. Bildungstheoretische Überlegungen im Anschluss an Bourdieu und die Cultural Studies. In W. Friedrichs & O. Sanders (Hrsg.), Bildung/Transformation. Kulturelle und gesellschaftliche Umbrüche aus bildungstheoretischer Perspektive (S. 181–200). Bielefeld: transcript. Lüders, J. (2007). Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucaultsche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs. Bielefeld: transcript. Mannheim, K. (1995). Ideologie und Utopie. Frankfurt/M.: Klostermann. Marotzki, W. (1990). Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag. Martin, H.-P. (1986). „Papa, was hast du gemacht?“ SPIEGEL-Redakteur Hans-P. Martin über Greenpeace in Wackersdorf. Der Spiegel, 48, 115–118. McAdam, D. (1989). The biographical consequences of activism. American Sociological Review, 54(5). 744–760. Miethe, I. (1999). Frauen in der DDR-Opposition. Lebens- und kollektivgeschichtliche Verläufe in einer Frauenfriedensgruppe. Oppladen: Leske + Budrich. Naumann, S. (2008). Heterogenität und Bildungsprozesse in bürgerschaftlichen Initiativen. Dissertation an der Universität Potsdam. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv: 517-opus-19784. Zugegriffen: 28. November 2008. Nohl, A.-M. (2006a). Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden: VS. Nohl, A.-M. (2006b). Bildung und Spontaneität. Phasen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern – Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen. Opladen: Leske + Budrich. Nohl, A.-M. (2013b). Komparative Analyse. Forschungspraxis und Methodologie dokumentarischer Interpretation. In R. Bohnsack, I. Nentwig-Gesemann, A.-M. Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 3. aktualisierte Aufl. (S. 271–294). Wiesbaden: Springer VS. Nohl, A.-M. (2016a): Grundbegriffe und empirische Analysen als wechselseitige Spiegel: Potentiale eines reflexiven Verhältnisses zwischen Grundlagentheorie und rekonstruktiver Empirie. In R. Kreitz, I. Miethe & A. Tervooren (Hrsg.), Theorien in der qualitativen Bildungsforschung – Qualitative Bildungsforschung als Theoriegenerierung (S. 205–222). Opladen: Barbara Budrich.

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Soziale Protestbewegungen als Kontexte von biografischen Veränderungsprozessen

Es kann nicht Ziel einer sich in der Erziehungswissenschaft verortenden Arbeit sein, der gesamten Breite der sozialen Bewegungsforschung mit all ihren Diskussionssträngen theoretisch gerecht zu werden. Noch ist es mein Vorhaben, eine empirisch umfassende Rekonstruktion der Bewegungen, in denen sich meine Interviewpartner*innen engagier(t)en, zu leisten. Im Zentrum meines Interesses stehen hingegen, empirisch wie theoretisch, die sich im Kontext von Protestbewegungen vollziehenden biografischen Veränderungsprozesse von Akteur*innen – was ich im nächsten Kapitel dann als transformative Bildungsprozesse konkretisieren werde (vgl. Kap. 3). Ich werde mich im Folgenden diesem Thema nähern, indem ich zunächst einmal die Frage stelle, was soziale (Protest-)Bewegungen ausmacht bzw. was unter meinem Forschungsfokus sinnvoller Weise unter sozialen Bewegungen und Protest (Abschn. 2.1) verstanden werden kann. Im Anschluss werfe ich einen Blick auf die historischen Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen (Abschn. 2.2), auf die verschiedenen Ansätze also mit ihren typischen Themen, und halte dabei Ausschau nach Hinweisen auf einzelne Akteur*innen und ihre Biografien, die – so viel kann ich bereits vorweg nehmen – allenfalls randständig thematisiert werden. Aus diesem Grunde werde ich anschließend in die Breite dieses Forschungsfeldes selektiv die Schneise der Perspektive auf einzelne Akteur*innen und ihre biografischen Erfahrungen und Veränderungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen (Abschn. 2.3) schlagen und in diesem Kontext auch – nach wie vor nicht zahlreich vorhandene – erziehungswissenschaftliche Arbeiten zu biografischen Veränderungsprozessen im sozialen Bewegungsengagement vorstellen. Es folgt eine abschließende Zusammenfassung (Abschn. 2.4).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_2

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

2.1 Soziale Bewegungen und Protest Eingangs geht es mir nun darum zu klären, was unter sozialen Bewegungen verstanden werden kann und wie Protest und soziale Bewegungen zusammenhängen. Die im Allgemeinen auf soziale Bewegungen bezogenen Aspekte werde ich zudem hinsichtlich der Spezifik der Bewegungen, aus deren Kontext meine Interviewpartner*innen kommen, diskutieren. Ich möchte mich dem Thema ‚soziale Bewegungen‘ anhand der Ausführungen von Dieter Rucht und Friedhelm Neidhardt (2007) nähern, wie sie sie in einem soziologischen Lehrbuch entfalten und damit erkennbar den Anspruch verfolgen, möglichst viele Perspektiven auf soziale Bewegungen zu integrieren.1 Zum Ausgangspunkt nehmen die Autoren die Unterscheidung von „handelnden Personengruppen“ (ebd., S. 630) – als Beispiel nennen sie hier eine „jugendliche Bande“ (ebd.) – und sozialen Bewegungen. Erstere stellten alleine (noch) keine soziale Bewegung dar, wenngleich in umgekehrter Perspektive „kaum eine soziale Bewegung vorstellbar“ sei, „die sich nicht immer wieder im Akt des Protests als eine handelnde Menge präsentiert“ (ebd., S. 631). Während kollektives Handeln für sich genommen also keine soziale Bewegung konstituiert – auch nicht in seiner Ausprägung als kollektives Protesthandeln, wie gleich noch zu sehen sein wird –, erscheint kollektives Handeln gleichwohl als integraler Bestandteil von sozialen Bewegungen. Protest definieren die Autoren als „öffentliche, kollektive Handlungen nicht staatlicher Träger, die Widerspruch oder Kritik zum Ausdruck bringen und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen bzw. politischen Anliegens verbunden sind“ (ebd.). Dahin gehend, dass sie außerhalb von institutionalisierten politischen Handlungen (wie z. B. der Beteiligung an Wahlen) stattfinden, hätten Protestakte lange Zeit als „unkonventionelles“ (ebd.) politisches Verhalten gegolten, jedoch könne für diese Form politischen Handelns heutzutage durchaus von einer „Normalisierung des [vormals; S.T.] Unkonventionellen“ (Fuchs zit. n. Rucht und Neidhardt 2007, S. 631) gesprochen werden; was z. B. auch Sebastian Haunss (2009, S. 31) betont, wenn er konstatiert, dass Protest nunmehr „als eine unter vielen Formen politischen Handelns anerkannt“ sei. Während Protest also eine nicht staatliche Form des kollektiven, politischen Handelns darstellt, braucht es oben genannter Definition Ruchts und Neidhardts zufolge seine regelmäßige

1Zu

frühen Definitionen, auf denen die hier angeführte Definition Ruchts und Neidhardts u. a. aufbaut, vgl. z. B. Raschke (1985) u. Rucht (1994).

2.1  Soziale Bewegungen und Protest

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Wiederholung, um als soziale Bewegung begriffen zu werden.2 Dies verdeutlichen die Autoren am Beispiel der Studierendenproteste von 1968, in deren Zuge die „Selbst- und Fremdwahrnehmung einer ‚Studentenbewegung‘“ (Rucht und Neidhardt 2007, S. 631) erst nach und nach „über eine Abfolge von studentischen Protesten und dahinter stehenden Organisierungsbemühungen“ (ebd.) entstanden sei. Den skizzierten Zusammenhang zwischen Protest und sozialen Bewegungen fasst auch Kai-Uwe Hellmann (1998a, S. 9) ganz ähnlich: „Protest gehört in unserer Gesellschaft zum Alltag. Ständig treibt es Menschen auf die Straße, werden Parolen skandiert, Veränderungen gefordert, und zieht der Protest sich in die Länge, dauert gar an und mobilisiert immer mehr Menschen, haben wir es bald mit einer sozialen Bewegung zu tun.“

Wenngleich dieses Verständnis von sozialen Bewegungen als relativ verstetigter Protest selbstredend nicht alle Aspekte von sozialen Bewegungen umfasst, so ist es zur Aufklärung des Verhältnisses beider jedoch ebenso eingängig wie überzeugend – und lässt die Rede von ‚sozialen Protestbewegungen‘, wie ich sie in der vorliegenden Arbeit für die sozialen Bewegungen, denen meine Interviewpartner*innen zugehörig sind oder waren, benutze, fast redundant erscheinen. Trotzdem möchte ich daran festhalten, weil das Moment der Auflehnung gegen den Status Quo, das den Bewegungen der Autonomen, der ‚Antifa‘, der Hausbesetzer*innen und anderer Bewegungen, aus denen ich Menschen interviewt habe (zum Überblick über das Sample siehe Tab. 4.1 in Kap. 4), tendenziell innewohnt, durch die Betonung ihres Protestcharakters hervorgehoben wird. Die

2Bereits der Umstand, dass Protest heutzutage zum ‚normalen‘ politischen Repertoire gehört, lässt die Frage aufkommen, ob Protest nicht – zumindest in seiner immer wiederkehrenden Form anhand von Demonstrationen, Kundgebungen, Kampagnen und Ähnlichem – bereits Institutionscharakter erlangt hat. Spätestens aber mit seiner (relativen) Verstetigung zu sozialen Bewegungen, stellt sich diese Frage umso mehr. Soziale Bewegungen weisen paradoxer Weise zugleich eine gewisse Verstetigung (von Protest) auf, ebenso wie sie als „mobilisierte Netzwerke von Netzwerken“ (Neidhardt 1985, S. 197), die sich zumindest in ihrer Entstehungsphase meist durch einen geringen Grad an Organisierung auszeichnen, auch weiterhin einen fluiden Charakter haben. In der einschlägigen Bewegungsforschung wird unter den Schlagwörtern „Oligarchisierung, Bürokratisierung, Institutionalisierung“ (Stickler 2015, S. 112) die Entwicklung von sozialen Bewegungen von anfangs wenig organisierten Zusammenschlüssen hin „zu festeren Formen“ (ebd.) diskutiert, an deren Ende der eigentliche Bewegungscharakter z. T. sogar verloren ginge. (Vgl. zur Institutionalisierung sozialer Bewegungen u. a. Brand 1983, Roth 1994; Rucht et al. 1997).

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

genannten Bewegungen können mit dem Zusatz linksradikale Protestbewegungen jedoch noch genauer klassifiziert werden.3 Ein weiteres Thema, das in zahlreichen Definitionen sozialer Bewegungen zentralen Stellenwert einnimmt, ist das Einwirken sozialer Bewegungen auf sozialen Wandel. Rucht und Neidhardt (2007, S. 649) formulieren dies – sowie weitere Kriterien, die soziale Bewegungen auszeichneten – folgendermaßen: „Soziale Bewegungen sind mobilisierte Netzwerke von Gruppen und Organisationen, die auf der Grundlage einer kollektiven Identität mit Mitteln des Protests sozialen Wandel herbeiführen oder verhindern wollen. Bewegungen können Organisationen einschließen, aber sind als Ganze keine Organisation. Sie haben keine formellen Mitglieder, sondern Aktivisten und Teilnehmer sowie – in ihrem Umfeld – Unterstützer und Sympathisanten.“

Dreh und Angelpunkt sozialer Bewegungen ist dieser Definition zufolge also der „soziale Wandel“, wobei auf diesen – sowohl in befördernder als auch in blockierender Absicht – Bezug genommen wird. Damit wird deutlich, dass soziale Bewegungen höchst unterschiedliche politische Zielrichtungen verfolgen können. Diejenigen, die diese Ziele verfolgen, definieren Rucht und Neidhardt hier als kollektive Akteur*innen – „Netzwerke“, die sich aus „Gruppen und Organisationen“ formieren –, wohingegen einzelne Akteur*innen nicht vorkommen. Dies scheint zwar insofern naheliegend, als die Zugehörigkeit Einzelner zu einer sozialen Bewegung in der Tat kaum – dauerhaft – ohne den Zusammenschluss mit anderen Bewegungsakteur*innen denkbar ist, benötigt es doch zumindest

3Schwarzmeier

(2001) verweist darauf, dass in dem linksradikalen Bewegungsspektrum (aus dem ich meine Interviewpartner*innen zu großen Teilen gewonnen habe) eine getrennte Betrachtung der verschiedenen Bewegungen oft eher künstlicher Art ist. Insbesondere die Bewegung der Autonomen, zu denen nicht nur Schwarzmeier auch die Antifa-Bewegung zählt (vgl. auch Haunss 2013), erstrecke sich über viele (Teil-)Bewegungen mit thematischen Schwerpunkten – neben ‚Antifa‘ z. B. auch die Anti-Atomkraft-, die Frauen- und die Ökologiebewegung –, die zwar thematisch unterschieden werden könnten, deren Grenzen jedoch fließend seien. Während sich ‚Autonome‘ also zu vielen der genannten Bewegungen zugehörig fühlen können – Schuhmacher (2013, S. 47) spricht, etwas weiter gefasst, auch von einer „in verschiedene Strömungen und Handlungsfelder differenzierten undogmatischen Linken“ –, heißt dies selbstverständlich nicht im Umkehrschluss, dass die genannten Bewegungen sich unter der Bewegung der Autonomen subsumieren lassen, vielmehr stellten letztere meist, wie Haunss (2013, S. 26) dies z. B. für die Anti-AKW-Bewegung ab den späten 1970er-Jahren konstatiert, den radikalen oder auch „militanten Flügel“ der jeweiligen Bewegung.

2.1  Soziale Bewegungen und Protest

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eine Art Informationsnetzwerk, über dessen Kanäle Informationen über geplante Protestaktionen ausgetauscht werden. Aus der Perspektive meines Forschungsfokus auf biografisch kontextuierte Bildungsprozesse, die sich im Zuge des Engagements in sozialen Bewegungen in den einzelnen Lebensgeschichten vollziehen, ist hier jedoch das Ausbleiben eines Hinweises auf das Verhältnis von einzelnen Akteur*innen und sozialen Bewegungen zu beklagen; was allerdings nicht nur die hier besprochene Definition von Rucht und Neidhardt betrifft, sondern geradezu als paradigmatisch für die (deutschsprachige) Bewegungsforschung gelten kann (vgl. Abschn. 2.2). Trotz ihrer kollektiven Strukturiertheit, die (teils) auch im Kontext sozialer Bewegungen agierende Organisationen umfasst, weisen soziale Bewegungen, so Rucht und Neidhardt, selbst keine formalen Mitgliedschaften auf, sie haben also vorwiegend informellen Charakter. Neben der spezifischen Art und Weise der Bezugnahme auf sozialen Wandel und anstelle von festen Mitgliedschaften tritt bei Rucht und Neidhardt eine ‚kollektive Identität‘ (implizit: als das die Bewegung Einende) auf den Plan. Das Konzept der kollektiven Identität, das in der Bewegungsforschung als weit verbreitet gelten kann (vgl. z. B.: Melucci 1996; Einwohner et al. 2008; zum Überblick: Flesher Forminaya 2010; Daphi 2011), hält Pettenkofer (2010, S. 77) für vielversprechend zur Erklärung dessen, was Bewegungen zusammenhält, streicht aber auch Probleme dieses Konzepts heraus. So zeigt er z. B. auf, dass mit der Rede von kollektiver Identität in der Bewegungsforschung unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet würden: Während einige Autor*innen mit dem Begriff lediglich gleiche Ziele der Bewegungsakteur*innen betitelten, heben andere laut Pettenkofer (vgl. ebd., S. 77 ff.) auf eine gemeinsame soziale Infrastruktur und den Eigenwert, den das Protesthandeln für die Akteure darstelle, ab. Als Beispiel für diese Formen kollektiver Identität führt er die Bewegung respektive „Szene“ (ebd., S. 79) der Hausbesetzer*innen an, zu der sich auch ein großer Teil der Befragten aus der vorliegenden Studie zugehörig fühl(t)en. Hier vollziehe sich nicht zuletzt dadurch, dass „der Bestand der Infrastruktur dieser Szene bedroht ist“ (ebd.), eine Stärkung der kollektiven Identität bzw., anders herum ausgedrückt, schaffe hier „die Existenz einer ‚Szene‘ ein eigenständiges Protestmotiv“ (ebd.). Pettenkofer (2010, S. 78) verknüpft das Thema der kollektiven Identität hier – zumindest in Bezug auf die Bewegung der Hausbesetzer*innen – mit einer (möglichen) „Verankerung sozialer Bewegungen in lokalen Netzwerken, die durch eine geteilte Lebensführung integriert“ und in denen „Handlungsformen“ (ebd.) praktiziert werden, „die nicht oder nicht ausschließlich auf das Erreichen eines politischen Erfolgs ausgerichtet sind“ (ebd.). In Anlehnung an Melucci (1989) bezeichnet er diese als „Bereich einer alltäglichen Lebensführung, in der

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

die politisch angestrebte Veränderung bereits vorweggenommen ist“ (Pettenkofer 2010, S. 78). Ganz Ähnliches konstatieren Matuschek et al. (2011, S. 44) für die ‚Antifa‘, in deren Praxis sie eine ‚alltagsweltliche Reinterpretation‘ „abstrakte[r] Ideen“ wie „Solidarität“ und „sozialer Gerechtigkeit“ sehen. Eine Verwobenheit sozialer Bewegungen mit (alltäglichen) sozialen Handlungszusammenhängen hatten auch Rucht und Neidhardt (2007, S. 649) mit ihrem Verweis auf das soziale „Umfeld – Unterstützer und Sympathisanten“ der Bewegungen bereits angedeutet. Pettenkofer konkretisiert dies für die Hausbesetzer*innen-Bewegung als ‚Szenen‘, in denen über die bloßen Sympathien für eine Bewegung hinaus kollektive Strukturen einer alltäglichen Lebensführung bestehen und eine handlungspraktische Umsetzung von politischen Werte angestrebt werde, womit in diesem alltagsbezogenen ‚Umfeld‘ sozialer Bewegungen neue Handlungspraxen und Normen entstehen (vgl. Pettenkofer 2010, S. 67 f.). Anhand der sozialen Bewegung der ‚Autonomen‘, der sich – wie bereits erwähnt – viele meiner Interviewpartner*innen zugehörig fühl(t)en, könne laut Haunss (2008, S. 27) mit der Perspektive auf eine solche – alternative – soziale (Alltags-)Praxis gezeigt werden, dass zu Beginn der 1980er-Jahre ein „Alternativ- oder Szenemilieu“ entstand, das „durch eine stadtteilbegrenzte lokale Infrastruktur aus Kneipen, Kollektivprojekten, Wohngemeinschaften und eigenem Medien“ geprägt war und somit „eine außerordentlich enge Verzahnung von Subkultur und Bewegung“ aufwies. Soziale Bewegungen haben also nicht nur ein soziales Umfeld, sondern sind auch mit kollektiven, alltagskulturellen Handlungspraktiken und -zusammenhängen verknüpft.4

4Dass

auch Schwarzmeier (2001) bei den ‚Autonomen‘ eine solche enge Verflechtung von kulturellem Alltagsleben und sozialer Bewegung gegeben sieht, verrät schon der Titel seines Buches „Die Autonomen zwischen Subkultur und sozialer Bewegung“. Inwiefern sich dies auf alle sozialen Bewegungen bezieht, vermag ich nicht zu sagen und dies zu klären ist für die vorliegende Studie, deren Befragte ja maßgeblich aus den Bewegungen der Hausbesetzer*innen, ‚Antifa‘ und Autonomen kommen, auch nicht nötig. Angesichts dessen, dass Haunss (2009, S. 32) zufolge die Annahme, „dass eine bessere Welt nicht nur möglich sei, sondern sich auch heute schon in den Alltagspraxen der AktivistInnen widerspiegeln müsse“, nicht nur „zum ideellen Kernbestand“ (ebd.) der Hausbesetzer*innen, sondern ganz allgemein „der neuen sozialen Bewegungen“ (ebd.) gehöre, ist aber davon auszugehen, dass eine solche Verzahnung von (Sub-)Kultur und Bewegung nicht nur für die Autonomen, die ‚Antifa‘ und Hausbesetzer*innen zutrifft, sondern auch für die Ökologiebewegung, die Frauenbewegung u. a.

2.1  Soziale Bewegungen und Protest

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In diesen sozialen Räumen alltäglicher Lebensführung realisieren die Akteure ihre politischen Vorstellungen und Orientierungen, setzen diese also in kollektiver Einbindung handlungspraktisch um.5 Aus einer praxeologischen Perspektive, wie ich sie in der vorliegenden Studie mit der Methodik und Methodologie der Dokumentarischen Methode anlege, können solche sozialen Handlungs- und Wissenszusammenhänge als Milieus gelten, entsteht in ihrem Kontext im Zuge der kollektiven Handlungspraxis von Akteuren doch ein kollektiv geteiltes Wissen in seiner impliziten, d. h. nicht vollends reflexiv verfügbaren Form, bzw. wird dieses dort reproduziert (siehe ausführlich hierzu Abschn. 4.1). Soziale Bewegungen möchte ich in der vorliegenden Arbeit als eine besondere Ausprägung von Milieus bzw. – mit Karl Mannheim (1980, S. 215 ff.) –„konjunktiver Erfahrungsräume“6 fassen, in denen sich alltagskulturelle, soziale Praxen mit – und dies unterscheidet sie von vielen anderen Milieus – politischer Praxis verzahnen. Mit der Perspektive der Dokumentarischen Methode auf Milieus bzw. konjunktive Erfahrungsräume rückt auch der „Orientierungsrahmen“ (z. B. Bohnsack 2003, S. 201) der Akteure – oder, mit Bourdieu (1993, z. B. S. 101) gefasst, ihr „Habitus“ – in den Blick, die biografisch entstandene Struktur der impliziten „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (ebd.) einzelner Akteure, die in ihrer kollektiven Genese sozialer Strukturen betrachtet wird. Mit meinem Forschungsfokus auf Bildungsprozesse – gefasst als Transformationen eben dieser Struktur, des Habitus (vgl. zum Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit Abschn. 3.2.3.2) – mache ich bei meiner Betrachtung sozialer Bewegungen ihren Milieucharakter stark und stelle das in diesem spezifischen Milieu resp. konjunktiven Erfahrungsraum (re-)produzierte und transformierte, zu großen Teilen implizite biografische Wissen der Akteure ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit – wohl wissend und in Kauf nehmend, dass mit dieser Perspektive andere Aspekte sozialer Bewegungen in den Hintergrund treten.

5Wie

ich in Abschn. 3.1 ausführlicher darstellen werde, lege ich dieser Arbeit ein weites Verständnis von Politik zugrunde, dem zufolge auch der Umsetzung alternativer Formen des Zusammenlebens und dem Ringen um diese bereits eine Politizität beigemessen wird (vgl. zu einem solchen ‚weiten‘ Politikverständnis z. B. auch Trumann 2014, S. 52; Bünger 2013, S. 221). 6In der Dokumentarischen Methode, die Ralf Bohnsack in Auseinandersetzung mit Karl Mannheims Wissenssoziologie, aber auch mit Bourdieus Kultursoziologie entwickelt hat (siehe hierzu ausführlich Abschn. 4.1), werden die Begriffe meist weitgehend synonym verwendet.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Diese anderen Aspekte werden im folgenden Überblick über die Geschichte der Bewegungsforschung und ihre typischen Themen ihren Raum bekommen, wenngleich es den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, alle Ansätze detailliert darzulegen. Ich beschränke mich hingegen auf einflussreiche Arbeiten sowie auf jene, die mir Anschlussmöglichkeiten für meinen Forschungsfokus der biografischen Veränderungsprozesse einzelner Akteure bieten (auf den ich, wie eingangs bereits erwähnt, in Abschn. 2.3 zudem dezidiert eingehen werde).

2.2 Historische Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen Als Vorläufer der Forschung zu sozialen Bewegungen können zwei – in vielerlei Hinsicht diametral einander entgegengesetzte – Theorietraditionen gelten: die marxistische Klassen- und Kapitaltheorie (maßgeblich Marx 1867) und die Massenpsychologie von Gustave Le Bon (2005)7. Erstere, „von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte soziale Evolutionstheorie, der zufolge die gesellschaftliche Entwicklung durch Klassenkämpfe vorangetrieben wird“ (Kern 2008, S. 9 f.), geht von einem zentralen, gesamtgesellschaftlichen Konflikt zwischen dem Kapital und der Arbeit aus, wobei jeweils „beiden Konfliktseiten eine spezifische Sozialstruktur […] (Bourgeoisie und Proletariat)“ (Hellmann 1998b, S. 20 f.) zugewiesen wird. Aus diesem grundlegenden, in den Produktionsverhältnissen angelegten Konflikt resultieren der Theorie zufolge revolutionäre Bewegungen, die das Potential hätten, „die ganze Gesellschaft auf ein höheres Entwicklungsniveau“ (Kern 2008, S. 10) zu heben, wobei dem Proletariat die Stellung des „revolutionären Subjekts“ (ebd.) angedacht werde.8 Die Gesellschaft weist demzufolge also anhand des Gegensatzes von Kapital und Arbeit strukturelle Spannungen auf, die – wie Hellmann (1998a, S. 10) dies fasst – „den Keim des Neuen in sich tragen“ und aus denen soziale Bewegungen hervorgingen, denen die Aufgabe zukomme, „die ‚revolutionäre Umgestaltung der ganzen Gesellschaft‘ in die Wege“ (ebd.) zu leiten. In der Marxschen Theorie wird der Zusammenschluss und Kampf der Arbeiter als logischer Schluss aus den gesellschaftlichen Bedingungen der ungleichen Verteilung

7Erstmals

auf Französisch erschienen 1895. knappe und größtenteils von Kern (2008) übernommene Skizzierung einiger Grundannahmen von Marx’ Lehre kann diese komplexe Theorie selbstverständlich nur anreißen.

8Diese

2.2  Historische Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen

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von Eigentum und Produktionsmitteln erklärt und diesem zudem eine hohe Bedeutung für einen gesellschaftlichen Wandel beigemessen. Eine ganz andere Erklärung liefert die zweite grundlegende Theorietradition, in der viele Autoren einen direkten Vorläufer der sozialen Bewegungsforschung sehen (vgl. z. B. Nullmeier und Raschke 1989, S. 257; Goodwin et al. 2000, S. 66; Kurzman 2008, S. 6 f.): die im späten 19. Jahrhundert maßgeblich vom Soziologen Gustave Le Bon (2005) begründete „Psychologie der Massen“. Diese Perspektive konzipiert Gruppen und insbesondere sogenannte ‚Massen‘ – die immer dann entstünden, „wenn eine gewisse Anzahl […] Individuen sich massenweise zum Handeln vereinigt“ (Le Bon 2005, Vorwort) – als unberechenbare Größe, als „‚emotional‘ driven ‚irrational‘ crowds going berserk“ (Benski und Langman 2013, S. 527). Jasper (1997, S. 20) zufolge entstand diese Perspektive unter dem Eindruck der städtischen Revolten des 19. Jahrhunderts. Mit ihr erscheinen Ansammlungen und Zusammenschlüsse von Menschen irrational bis hin zu gefährlich, denn, so Le Bons (2005, S. 14) Auffassung: „In der Kollektivseele verwischen sich die intellektuellen Fähigkeiten und damit die Individualität der Individuen“. So erscheint der Zusammenschluss von Menschen hier als eine Art Verschmelzung des und der Einzelnen mit einem Kollektiv, das erstere sodann ihrer Intelligenz beraube. Le Bons Massenpsychologie und Marx’ Klassen- und Kapitaltheorie habe ich hier als die zwei Theorietraditionen eingeführt, auf die sich die spätere Bewegungsforschung maßgeblich stürzte. Es steht außer Frage, dass die Entwicklung der Bewegungsforschung letztlich komplexer ist, als ich dies hier vereinfacht skizziere, doch beziehen sich durchaus zahlreiche spätere Ansätze, von denen ich auf einige im Folgenden eingehen werde, in der einen oder anderen Form auf diese beiden Traditionslinien.

2.2.1 Frühe sozialpsychologische und soziologische Ansätze der US-amerikanischen Bewegungsforschung An einige von Le Bons Thesen, die durch den Nationalsozialismus durchaus eine traurige Untermauerung erhielten, schlossen frühe sozialpsychologische und soziologische Ansätze u. a. aus der Chicagoer Schule der Soziologie ziemlich direkt mit ihrer Theorie des ‚Collective Behaviour‘ (beginnend mit Park und Burgess 1921; später Blumer 1939; Turner und Killian 1957) an. Diese symbolisch-interaktionistischen – teils auch strukturfunktionalistischen (vgl. z. B. Smelser 1959, 1968) – Arbeiten zum Kollektivverhalten können zugleich als erste

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

explizite Bewegungsforschung in den USA gelten. Zwar seien sie in Distanz zu Le Bons Rassenideologie gegangen, doch haben viele von ihnen andere Grundannahmen der Massenpsychologie, insbesondere die Unterstellung der Irrationalität, relativ unkritisch übernommen (vgl. z. B. Kurzman 2008, S. 7 oder auch Goodwin et al. 2000, S. 67 f.). Massenpsychologische Annahmen finden sich laut Kurzman (vgl. 2008, S. 7) in vielen dieser Studien zudem dahin gehend wieder, dass sie den geringen inneren Zusammenhalt sozialer Bewegungen betonten, der ihnen zufolge vor allem auf spontanen Interaktionen beruhe. Soziale Bewegungen seien hier laut Herkenrath (2011, S. 33) teils „ähnlich wie Lynchmobs oder Massenpaniken als unkonventionelle, meinst spontan entstehende Ereignisse mit geradezu hypnotischer Gruppendynamik“ betrachtet worden. Ingrid Miethe und Silke Roth (2000, S. 13, FN 5) kommen im Anschluss an Brand jedoch zu dem Schluss, dass auf Bewegungsansätze aus der Forschungstradition des Symbolischen Interaktionismus „nie der […] Pathologisierungsvorwurf“ zugetroffen habe. Und auch Jasper (1997) zeichnet ein differenzierteres Bild dieser Forschungsrichtung. Zwar seien die Vertreter*innen des Collective Behaviour-Ansatzes sich größtenteils in der Grundannahme einig gewesen, dass für sie Protest nicht als Bestandteil des ‚normalen‘ Lebens galt: „Protest as a normal dimension of life, carried on by healthy people, seemed out of the question“ (ebd., S. 21). Trotz dieses tendenziellen Fokus auf Protest als deviantes Verhalten (vgl. ebd., S. 21 f.) seien einige jedoch wohlwollender an ihren Forschungsgegenstand herangetreten als andere. Während Herbart Blumer, wie von Herkenrath beschrieben, von einer Art ‚ansteckender Massenreaktion‘ ausgegangen sei, bei der die Beteiligten einer Menschenmenge unreflektiert die jeweils anderen imitierten und so irrationale Reaktionen wie Massenpaniken in den Blick kamen (vgl. hierzu auch Jasper 1997, S. 21; Goodwin et al. 2000, S. 66), hätten z. B. Turner und Killian das sogenannte ‚Kollektivverhalten‘ durchaus als normal begriffen und Smelser sogar dessen kreative Anteile hervorgehoben (vgl. Jasper 1997, S. 21 f.).9 Übergreifend tritt insbesondere bei den interaktionistischen Ansätzen zum ‚Kollektivverhalten‘ meist der momentane Kontext von kollektivem Handeln in sozialen Bewegungen hervor, womit diese Ansätze die situative Dynamik

9Smelser

(1959, 1968) nimmt hier ohnehin eine Sonderposition ein, bettete er die Theorie zum Kollektivverhalten doch zudem in eine weitergehende, maßgeblich auf strukturelle Aspekte fokussierende Theorie sozialen Wandels ein.

2.2  Historische Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen

23

von Protest in besonderer Weise in den Blick bekommen, sich allerdings Kritik von all jenen, die stärker auf die strukturelle Einbindung des Protests abzielten, gefallen lassen mussten. Jasper (1997) sieht trotz der vielfältigen Kritik das große Verdienst der symbolisch-interaktionistischen Erforschung ‚kollektiven Verhaltens‘ auch darin, dass sie einen Zusammenhang zwischen der sozialen Positionierung in der Gesellschaftsstruktur und den Anlässen von Protest hergestellt hat.10 Trotz ihrer unterschiedlichen Zugänge gingen nämlich fast alle der hier genannten sozialpsychologischen und soziologischen Arbeiten davon aus, dass am Beginn der Bewegungsaktivität eine aus strukturellen Bedingungen herrührende Unzufriedenheit stünde. Gurr (1970) arbeitete diesen Aspekt schließlich zu einer „Theorie relativer Deprivation“ aus, der zufolge Protest dann entstehe, „wenn die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu groß wird“ (Kern 2008, S. 10). Des Weiteren sieht Jasper die Bedeutung dieser frühen sozialpsychologischen Forschung zu sozialen Bewegungen darin, dass sie „socially constructed labels, identities and learning processes“ (Jasper 1997, S. 22) berücksichtigte. Leider, so möchte ich hinzufügen, sind die hier angesprochenen Prozesse jedoch nicht oder kaum auf der Ebene von Individuen und ihren Biografien angesiedelt, sondern verbleiben stets auf der Ebene kollektiver Akteure. Miethe (1999, S. 12) sieht in dem Anschluss der frühen Bewegungsforschung an die Grundannahmen einer tendenziell pathologisierenden Massenpsychologie und vor allem in deren politischer Instrumentalisierung – dahin gehend, dass sozialen Bewegungen ein generalisierter „Irrationalismus-Vorwurf“ (ebd.) gemacht wurde –, eine Ursache für die bis Mitte der 1980er-Jahre (vgl. ebd., S. 42) – und, so möchte ich hinzufügen: in der deutschen Forschungslandschaft im Großen und Ganzen bis heute – anhaltende „Abstinenz der Bewegungsforschung gegenüber biographischen Ansätzen“ (ebd., S. 12) begründet. So wurde das Feld der Bewegungsforschung in Deutschland und Europa in der Folge größtenteils aus politikwissenschaftlicher Perspektive ‚beackert‘, die über ihr Interesse an strukturpolitischen, meso- bis makroperspektivischen Bedingungen und Wirkungen sozialer Bewegungen „die jeweiligen Akteure aus dem Blick“ verloren, so Miethe weiter (ebd.).

10Womit

durchaus auch Verbindungen zu in der Tradition der Marxschen Theorie stehenden Ansätzen hergestellt werden können.

24

2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

2.2.2 Der europäische Forschungsansatz der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ In der europäischen Forschungslandschaft hat sich ab den 1970er-Jahren eine strukturorientierte Forschungsrichtung herausgebildet, die sich vor allem um die historische Einordnung und Bedeutung der im Zuge und Nachgang der 1968er-Bewegung aufkommenden Protestbewegungen – d. h. der Friedens-, Ökologie-, Frauen- und Lesben-, Schwulen-, Eine-Welt-, Hausbesetzer*innenBewegung u. v. m. – bemühte. Diese sogenannten ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ (kurz: NSB) wurden zugleich zum Namensgeber einer neuen Forschungsrichtung (beginnend mit: Raschke 1985; Melucci 1988; Rucht 1988; Finger 1989 u. v. a.). Die Nähe dieses Wissenschaftszweigs zu seinem Untersuchungsgegenstand zeigt sich nicht nur an dem gemeinsamen Namen von Forschungsfeld und wissenschaftlichem Forschungszweig, sondern auch in dessen Betonung der Rationalität des Bewegungshandelns. In Abgrenzung von Theorien zum kollektiven Verhalten, das „ohne klare Zielsetzung oder gar hinlängliche Kontrolle [der Akteur*innen; S.T.] über sich selbst“ (Hellmann 1998a, S. 12) konzipiert war, betont der NSBAnsatz das kollektive Handeln der Bewegungsakteur*innen, „dem eine eigene Rationalität zukommt“ (ebd., S. 12). In den frühen 1970-Jahren bediente sich der Bewegungstheoretiker Alain Touraine einer marxistisch inspirierten, sozialstrukturell orientierten Herangehensweise zur gesellschaftsstrukturellen Erklärung der Studentenunruhen, mit der er „die allseits aufkeimende Studentenbewegung als historischen Akteur zu deuten“ (Hellmann 1998b, S. 21) suchte. Sich maßgeblich in diese Tradition stellend, sei es auch für den Ansatz der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ zentral gewesen, dass das Bewegungspotential. „einerseits als durch gesellschaftsstrukturelle Verhältnisse bedingt verstanden wurde, was der Kapitalismustheorie von Marx nahekommt; andererseits von einer bestimmbaren sozialstrukturellen Mobilisierungsbasis sozialer Bewegungen ausgegangen wurde, was an die Klassentheorie von Marx erinnert“ (ebd., S. 22).11

11Für

eine weitere grundlegende Arbeit in der europäischen Theorie zu sozialen Bewegungen, die mit einem postmarxistischen Verständnis auf diese blickt, siehe Melucci (1989).

2.2  Historische Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen

25

Jedoch war es, im Unterschied zur Marxschen Theorie, bei der es maßgeblich um Verteilungsungerechtigkeit geht, nun eine andere Gesellschaftsanalyse, auf deren Grundlage die ‚Mobilisierungsbasis‘ bestimmt wurde. Maßgeblich auf dem Modernisierungstheorem aufbauend kamen nun solche Gruppen in den Blick, die in der Lage waren, „Selbstentfaltungswerte einzuklagen“, d. h. politische Partizipation sowie einen „Selbstbestimmungsanspruch von Minderheiten wie Lesben und Schwulen oder dem Schutz der Umwelt“ (Hellmann 1998a, S. 15) einzufordern.12 So ziehe der NSB-Forschungsansatz Schlüsse aus der sozialstrukturellen Analyse, berücksichtige aber – maßgeblich durch den Untersuchungsgegenstand geleitet – auch „kulturell-persönliche, mehr nach innen gerichtete Interessen […], wie eben die Verfechtung bestimmter Lebensweisen, Selbstverständnisse und Werthaltungen“ (ebd.). Sawan (2013, S. 8) vertritt sogar die Auffassung, der NSB-Forschungsansatz habe den Faktor individueller Motivation in die Erforschung neuer sozialer Bewegungen hereingeholt: „[N]ew social movement (NSM) theory broadened the scope with an emphasis on the motivation of individuals and collective identity.“ Auch Miethe (1999, S. 42) kann die Motivlage der Akteur*innen in der NSB-Theorie entdecken – wurde hier doch die „Motivation für die Aktivität in einer NSB […] in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Prozeß der Modernisierung“ gesehen, womit die Frage, „welche Rolle beispielsweise dem Prozeß der Individualisierung, der Auflösung traditioneller Normbestände, der Mobilität oder der Bildungsexpansion zukommt“ (ebd.), in den „Mittelpunkt“ treten. Jedoch, so schränkt Miethe ein, sieht sie die Motivlage nur „implizit enthalten“ (ebd.), werden diese Motive der Akteur*innen im NSB-Ansatz doch aus Theorien abgeleitet und nicht empirisch rekonstruiert. Zudem, so möchte ich hinzufügen, ist es hier weiterhin das Verständnis eines ‚kollektiven Akteurs‘, das zugrunde gelegt wird, während Fragen nach ‚Motivlagen‘, die auf der Ebene einzelner Biografien rangieren, keine oder allenfalls eine nachrangige Rolle spielen.

12Zur sozialstrukturellen Klassifizierung dieser neuen sozialen Bewegungen vgl.  u. a. Habermas (1981), Raschke (1985) und Offe (1985). Brand (1998) z. B. klassifiziert das Phänomen der Einforderung von Selbstbestimmungsrechten einer „Lebensweise“ (in Abgrenzung zu früheren Forderungen von gerechter Verteilung) als „humanistischen Mittelklassen-Radikalismus“ (ebd., S. 39 ff.).

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

2.2.3 Ressoucenmobilisierung und daran anschließende Ansätze der US-amerikanischen Bewegungsforschung Ab den 70er-Jahren wurde auch in den USA in zahlreichen Studien betont, dass Akteur*innen sozialer Bewegungen nicht irrational handelten, sondern „ihre Mittel im Hinblick auf bestimmte Ziele zumeist wohlkalkuliert einsetzten“ (Kern 2008, S. 11). Forschende warfen nun auch hier Fragen auf, die stärker auf rationale und strukturelle Aspekte sozialer Bewegungen abzielten.13 Eine erste, frühe Arbeit in diese Richtung legte im Jahr 1965 Mancur Olson mit seiner Studie zum kollektiven Handeln (2002) vor. Er stellte hier – anders als die bisherige Forschung zum Kollektivverhalten – die Irrationalität von sozialem Bewegungsengagement infrage und betrachtete stattdessen den Beginn der Partizipation an einer Bewegung als rationale und reflektierte Entscheidung. Stark verkürzt läuft Olsons Theorie im Kern darauf hinaus, dass soziale Bewegungen sogenannte Kollektivgüter wie z. B. die Verbesserung von Umwelt- oder Sozialstandards, von denen letztlich alle Gesellschaftsmitglieder profitierten, hervorbrächten. Wenn aber Einzelne am erstrittenen Kollektivgut auch teilhaben können, ohne sich dafür zu engagieren, bedürfe es laut Olson (vgl. 2002, S. 51) sogenannter ‚selektiver Anreize‘, um Menschen überhaupt zum Engagement zu bewegen. Die selektiven Anreize können sowohl ökonomischer als auch sozialer Art, z. B. „a desire to win prestige, respect, friendship“ (Olson 2002, S. 60), sowie positiv verstärkend oder auch negativ-sanktionierend sein (vgl. ebd., S. 61). Der Mechanismus von selektiven Anreize sozialer Art greift Olson zufolge in großen Gruppen (wie sozialen Bewegungen), in denen sich nicht alle Mitglieder in Form von Face-to-face-Beziehungen kennen, jedoch nur, „when the large group is a federation of smaller groups“ (ebd., S. 63), was bei sozialen Bewegungen mit ihrem Charakter von untereinander vernetzen Gruppen und Organisation gegeben ist. Olsons Arbeit widersprach der Annahme eines „direkte[n] Zusammenhang[s] zwischen strukturellen Missständen oder – neutraler gewendet – gemeinsamen Interessen auf der einen Seite und kollektiven Handlungen auf der anderen Seite“ (Schorr 2012, S. 38), wie sie von den sozialpsychologischen Ansätzen

13Es

nimmt, wie bereits angemerkt, nicht wunder, dass dieses Gegenkonzept zum irrationalen Akteur zu großen Teilen von Forscher*innen, die selbst Bewegungsaktivist*innen oder Sympathisant*innen waren, vorangebracht wurde (vgl. dazu auch Miethe und Roth 2000, S. 11).

2.2  Historische Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen

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angenommen wurde. Er trug so maßgeblich dazu bei, dass in der Folge soziale Bewegungen „aus dem breiten Gegenstandsbereich […] des Massenhandelns herausgelöst und die Bewegungsforschung als eigenständige sozialwissenschaftliche Disziplin begründet“ (ebd.) wurde, leistete aber zugleich über Jahre hinweg einer ökonomischen Logik folgenden Rational-Choice-Ausrichtung der Bewegungsforschung Vorschub. Ebenfalls dem Rational-Choice-Paradigma zuzuordnen ist die Ressourcenmobilisierungstheorie von John D. McCarthy und Mayer N. Zald (1977), mit der sie einen der Grundsteine für diese neue Disziplin legten. In kritischer Auseinandersetzung mit dem von sozialpsychologischen Arbeiten konstatierten Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit, die aus strukturellen Bedingungen erwächst und dem Entstehen von Protest, kommen auch McCarthy und Zald zum Schluss, dass sie zwar die Grundannahme einer generellen Konflikthaftigkeit moderner Gesellschaften, in denen Krisen allgegenwärtig seien, teilten, doch gerade deshalb das Engagement in einer sozialen Bewegung nicht alleine mit sozialer Benachteiligung und daraus entstehender Unzufriedenheit der Akteur*innen erklären könnten, da soziale Bewegungen demzufolge ja allerorts entstehen müssten, was jedoch nicht der Fall sei (vgl. McCarthy und Zald 1977, S. 1214 f.). So hätten die Ansätze der Theorie kollektiven Verhaltens über die Frage nach dem psychologischen Zustand von ‚Massen‘, d. h. bestehender Menschenansammlungen oder -zusammenschlüsse, vergessen, diejenigen Prozesse in den Blick zu nehmen, in deren Zuge neue Bewegungen entstehen oder eine bestehende Bewegung neue Mitglieder rekrutiert. Die Ressourcenmobilisierungstheorie stellt ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit also die Frage, wie eine Bewegung – wenn soziale Missstände nun also nicht automatisch zum kollektiven Handeln führten –, denn dann neue Mitstreiter*innen gewinnen.14 Es geht bei diesem Ansatz, wie auch schon beim NSB-Ansatz, immer vorrangig um die Frage, warum sich Akteur*innen engagieren, während der eigentliche Prozess des Engagements wenig erhellt bzw. lediglich als kollektives, strategisch-rationales (Rekrutierungs-)Handeln einer „social movement organisation“ (ebd., S. 1218) konzipiert wird. Im Zentrum steht hier die Mesoebene des Handelns und Aspekte des politischen Systems/der politi-

14Die

Frage nach der Voraussetzung für eine erfolgreiche Mobilisierung beantworten die Autoren dann vor allem mit der Verfügbarkeit von Ressourcen aufseiten der Bewegung (vgl. McCarthy und Zald 1977, S. 1216 ff.) – d. h. es wird nun danach gefragt, ob es der Bewegung gelingt, Ressourcen wie die nötigen Finanzen und Zeit, aber auch ideelle Ressourcen wie moralische Überlegenheit zu mobilisieren.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

schen Struktur fließen zudem dahin gehend ein, dass die Autoren den Gedanken der – unternehmensähnlichen – Bewegungsorganisation sogar so weit treiben, die sozialen ‚Bewegungsorganisationen‘ in einer großen „social movement industry“ (ebd., S. 1219) vereint zu sehen. Die Rolle einzelner biografischer Akteur*innen wird größtenteils vernachlässigt, doch lässt sich am Rande auch über sie etwas in Erfahrung bringen: Neben dem (strategischen) Rekrutierungshandeln der Bewegung kommt die andere Seite der Mobilisierung – d. h. die noch nicht zur Bewegung zählenden Akteur*innen – dahin gehend in den Blick, dass Zald und McCarthy (1977, S. 1215) danach fragen, wie „persons and institutions from outside the collectivity […] become involved“ und die Antwort in der von Olson in die Diskussion eingeführten Kosten-Nutzen-Theorie mit dem Blick auf ‚positive Anreize‘ (vgl. McCarthy und Zald 1977, S. 1216) sehen. So spielt also hinsichtlich der Frage nach den Bedingungen, unter denen „sich Einzelpersonen zu einem kollektiven Akteur zusammenschließen“ (Opp 1998, S. 91), trotz des hier unfraglich im Vordergrund stehenden Fokus auf die Mesoebene, durchaus auch das Handeln einzelner Akteur*innen eine Rolle – jedoch immer nur unter dem Fokus auf die Möglichkeiten ihrer Mobilisierung für die Bewegung (vgl. hierzu auch Benski und Langman 2013, S. 527 u. Miethe 1999, S. 41). Somit ist der Ansatz hinsichtlich seiner Erkenntnismöglichkeiten einerseits auf den Prozess der Entstehung von Protestbeteiligung im Sinne der Rekrutierung von neuen Mitgliedern für die Bewegung limitiert – denn er kann nicht erhellen, welche Prozesse sich im Zuge einer längerfristigen ‚Protestbiografie‘ abspielen –, zudem treten Einzelne hier lediglich als rationale Kosten-NutzenAbwäger*innen und reflektierte Akteur*innen auf den Plan. Was insbesondere von bewegungsnahen Forschenden als „Fortschritt der Ressourcenmobilisierungstheorie gegenüber älteren Forschungsansätzen“ (Kern 2008, S. 11) gefeiert wurde, weil hier „Protestakteure erstmals als rational handelnde Individuen und Kollektive wahrgenommen wurden“ (ebd.), wird aus einer praxeologischen Perspektive, wie ich sie dieser Arbeit zugrunde lege (vgl. hierzu ausführlich Kap. 4 und Abschn. 3.2.3), zugleich zum Nachteil, vernachlässigt dieser Ansatz doch seinerseits die Rolle von habitualisierten, routinierten Handlungsweisen im Protest, während Rationalität und Reflexivität überbetont werden. An die Ressourcenmobilisierungstheorie schloss u. a. die ‚Political Process Theory‘ an bzw. spann diese sie in gewisser Weise weiter. Letztere entwickelte zunächst Charles Tilly (1978) und wenig später auch Doug McAdam (1982) als einen Ansatz, der verschiedenen Ebenen – die kollektiven Akteur*innen bzw. Bewegungsorganisationen, die (system-)politischen und soziostrukturellen Bedingungen sowie ansatzweise auch die Motive einzelner Akteur*innen – zu

2.2  Historische Fluchtlinien der Erforschung sozialer Bewegungen

29

integrieren suchte (vgl. Caren 2007).15 Mit Bezug auf Bewegungen als (Bewegungs)Organisationen mit einer ‚kollektiven Identität‘ (Tilly 1978) bzw. hinsichtlich einer spezifischen ‚organisationalen Stärke‘ (McAdam 1982) fassten sie die Mesoebene, die auch hier wieder unter der Fragestellung nach ihrem Mobilisierungspotential in den Blick geriet – beides ging dann in der Ressourcenmobilisierungstheorie unter dem Schlagwort der „mobilizing structures“ auf (vgl. Caren 2007, S. 2). Der Aspekt der Gesellschaftsstruktur floss später vor allem in Form der Frage nach für die Entstehung und Expansion von Bewegungen dienlichen oder hinderlichen politischen Gelegenheitsstrukturen („political opportunity structures“; beginnend mit Eisinger 1973 u. Tarrow 1983) ein. Mit dieser Perspektive rücken in systematischer Art und Weise die für die Entstehung und Verstetigung von sozialen Bewegungen förderlichen externen Bedingungen, wie z. B. die Offenheit des politischen Systems, die Unabhängigkeit der Judikative u. v. m. in den Blick (vgl. Rucht und Neidhardt 2007, S. 649 f.). Einzelne Akteur*innen wurden auch hier letztlich wieder maßgeblich unter der KostenNutzen-Perspektive hinsichtlich ihrer Interessen und den damit verbundenen Möglichkeiten ihrer Mobilisierung verhandelt, wobei McAdam (1982) anhand einer Studie zum Protest schwarzer Amerikaner*innen in den 60er-Jahren zumindest den – empirisch erhobenen und nicht nur theoretisch antizipierten – Zugewinn der Einzelnen in den Blick nahm und als ‚kognitive Befreiung‘ fasste. Die Ressourcenmobilisierungstheorie und ihre Verknüpfung mit anderen Ansätzen respektive ihre Erweiterung durch diese bilden das Konglomerat, in

15Generell

muss an dieser Stelle Erwähnung finden, dass die hier genannten Ansätze auch für sich selbst stehen und diskutiert werden und nicht notwendiger Weise als ein umfassendes, integriertes Konstrukt verstanden werden, wie ich dies hier – u. a. in Anlehnung an Caren (2007) – präsentiere. Für beide Sichtweisen gibt es Argumente. Unumstritten ist, dass die Ansätze sich gegenseitig beeinflussten und stetigen Veränderungen und Erweiterungen durch andere Modelle erfuhren. So wurde die ‚Political Process Theory‘ beispielsweise später durch den Ansatz der „contentious politics“ (McAdam et al. 1996; Tilly und Tarrow 2006) ergänzt, mit dem weniger die Bewegungsorganisationen als vor allem „die dynamischen Mechanismen und Prozesse, die den Verlauf und die Wirkung von Protestwellen beeinflussen“ (Kern 2008, S. 11), anvisiert wurden. (Der Fokus rückte hier von der Mesoebene von Gesellschaft noch stärker in Richtung Makroperspektive.) Die Klärung der Frage, wo die Trennungslinien der verschiedenen Ansätze liegen, ist für meinen Fokus auf biografische Veränderungsprozesse letztlich jedoch nachrangig, zumal sie mit ihrer Fokussierung organisationaler, politischer und historischer Kontexte allesamt biografische Aspekte ignorieren. Lediglich McAdam (1988, 1989) hat die biografische Dimension weiter ausgearbeitet, worauf ich in Abschn. 2.3.1.1 noch näher eingehen werde.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

dem sich die US-amerikanische Bewegungsforschung lange Zeit maßgeblich bewegte. Vereinzelte (implizite) Hinweise auf die Individuen im Engagement und ihre Biografien habe ich hier herauszuarbeiten versucht, diese beschränken sich jedoch zumeist auf die Motivation der Einzelnen für eine Mobilisierung bzw. auf den Gewinn, den sie durch ihre Beteiligung erzielen (könnten). Eine Perspektive auf das Handeln von Akteur*innen, die über ein maßgeblich rationalistisch gefasstes Verständnis der Motivation für den Beginn der Beteiligung an sozialen Bewegungen hinausgeht und die biografischen Erfahrungen der Akteur*innen in umfassender Weise einbezieht – und das nicht nur in Bezug auf die ‚Ursachen‘ des Engagements, sondern auch hinsichtlich seines Verlaufs und seiner biografischen Konsequenzen –, können diese Ansätze nicht liefern. Erst ab den späten 1980er-Jahren wurde die einseitige Fokussierung organisationaler und makrostruktureller Aspekte der Erforschung sozialer Bewegungen zunehmend kritisiert und es kamen schließlich Ansätze auf, die explizitere Bezüge auf individuelle Akteur*innen und ihre biografischen Erfahrungen ermöglichten.

2.3 Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen Erfahrungen und Veränderungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen Die ‚kulturelle Wende‘ brachte – vor allem in den USA – einen Perspektivwechsel in der Bewegungsforschung. Vormals als ‚irrational‘ aufgefasste Aspekte von sozialen Bewegungen wie Affekte und Gefühle sowie Fragen nach Identität, kulturellen Einbindungen und Deutungen kamen nun (wieder) strukturiert(er) in den Blick – doch diesmal ohne die diffamierende Konnotation des Destruktiven und Unberechenbaren. Damit einher ging oftmals ein methodisches Umdenken bzw. eine Verlagerung von einer maßgeblich theoretisch gelagerten Forschung hin zu einer stärkeren Gewichtung empirischer Anteile. Kritisiert wurde neben der einseitigen Fokussierung von meso- und makrostrukturellen Aspekten der bisherigen Ansätze auch ihre fehlende empirische Informiertheit (vgl. zum Überblick z. B. Casas-Cortés et al. 2008, S. 22). Dem entgegengestellt wurden nun ethnografische Methoden, die eine vermehrte Berücksichtigung einzelner Akteur*innen (Abschn. 2.3.1) und ihrer – kollektiv eingebetteten – Deutungsrahmen, Biografien und Emotionen mit sich brachten. Die hier beschriebene Wende vollzog sich jedoch hauptsächlich in den USA und ließ die deutsche Forschungslandschaft zu sozialen Bewegungen – mit der Ausnahme von Miethe (1999), auf deren biografietheoretisch und erziehungswissenschaftlich eingebettete Adaption

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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der Rahmenanalyse ich im Abschn. 2.3.2.1 eingehen werde, und einigen wenigen anderen (vgl. Flam 1993; Roth 1997, 2000 und Degen 2000) – erstaunlich unberührt. In theoretischer Hinsicht setzte Alberto Meluccis (1996) „Challenging Codes“ schließlich auch in Europa den Anfangspunkt von kulturorientierten Perspektiven auf soziale Bewegungen, da es ihm – im Unterschied zum bisherigen ‚Mainstream‘ der Forschung zu ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘– nun nicht mehr „nur um ihre politische, sondern auch ihre kulturelle Bedeutung“ (Hasse und Hellmann 1998, S. 2) ging, doch steht bei ihm weiterhin vor allem die Entstehung kollektiver Identitäten im Kontext sozialer Bewegungen im Zentrum und weniger einzelne Bewegungsmitglieder und ihre Biografien. Angesichts der vergleichsweise geringen Anzahl von Studien aus dem deutsch(sprachig)en Kontext, die sich dem Thema der sozialen Bewegungen von einem akteursbezogenen und/oder biografiebezogenen Standpunkt aus nähern (vgl. zum Überblick Miethe und Roth 2005 u. 2016), kann für die deutschsprachige Erforschung sozialer Bewegungen durchaus weiterhin eine Unterbelichtung akteursbezogener und biografischer Aspekte konstatiert werden. Allerdings sind in den letzten Jahren vermehrt erziehungswissenschaftliche Studien zu biografischen Veränderungsprozessen im sozialen Bewegungsengagement (Abschn. 2.3.2.2) entstanden,16 von denen ich drei Studien, die für meinen Forschungsfokus auf biografische Veränderungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen von besonderem Interesse erscheinen, vorstellen werde.

2.3.1 Zur vermehrten Berücksichtigung einzelner Akteur*innen seit der kulturellen Wende Drei Strömungen, die im Kontext der ‚kulturellen Wende‘ in der US-amerikanischen Bewegungsforschung aufkamen, liefern mehr Hinweise auf einzelne Akteur*innen und ihre Biografien als dies bislang vorgestellte Forschungstraditionen getan hatten. Hierbei handelt es sich erstens um McAdams (1989) wegweisende Studie, in der er seine akteursbezogene Perspektive, die er mit dem Blick auf ‚kognitive Befreiung‘ (McAdam 1982) am Rande bereits eingenommen

16Deutlichstes

Zeichen ist das kürzlich eigens zum Thema „Bildung und soziale Bewegungen“ erschienene Themenheft des Forschungsjournals Soziale Bewegungen (4/2016), dessen Ziel es ist, dass die „beiden bisher eher parallel verlaufenden Diskurse“ (Miethe und Roth 2016, S. 20) der Bildung und der sozialen Bewegungen „miteinander verzahnt und in einen produktiven Austausch gebracht“ (ebd.) werden.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

hatte, weiter ausbaut und weitreichende biografische Konsequenzen des Aktivismus in sozialen Bewegungen konstatiert (Abschn. 2.3.1.1). Zweitens kann hierzu der ‚Framing-Ansatz‘ (beginnend mit Snow et al. 1986) zählen, insbesondere in Miethes (1999) Adaptation, mit der nicht nur kollektiv geteilte kulturelle Deutungsrahmen in den Fokus kommen, sondern auch und vor allem die Schnittstelle von individuellen und kollektiven Rahmenbildungsprozessen (Abschn. 2.3.1.2). Drittens treten hier Ansätze auf den Plan, die auf die Rolle von den Akteur*innen innerlichen Prozessen wie Gefühle blicken: die emotionssoziologische Bewegungsforschung (vgl. z. B. Groves 1995; Jasper 1997, 1998; Goodwin und Jasper 1999; zum Überblick: Goodwin et al. 2001) und die neuere sozialpsychologische Erforschung sozialer Bewegungen (vgl. z. B. Tajfel 1981; Ferree und Miller 1985; Andrews 1991; Klandermans 1997a u. b; Stryker et al. 2000) (Abschn. 2.3.1.3). Diese Ansätze haben indes die bisherigen Zugänge der US-amerikanischen Bewegungsforschung nicht unbedingt abgelöst, sondern, wie in Abschn. 2.2 bereits erwähnt, eher zu ihrer Differenzierung beigetragen.

2.3.1.1 Zum Beginn der Erforschung der biografischen Tragweite des Bewegungsengagements McAdam, der mit seiner Perspektive auf die bereits erwähnte ‚kognitive Befreiung‘ (1982) von Bewegungsakteur*innen – zunächst noch eher als einen Aspekt unter vielen – die Richtung zur Erforschung von kulturellen und biografischen (Be-)Deutungen gewiesen hatte, widmete sich sodann als einer der ersten auch explizit der teils umfassenden Tragweite biografischer Veränderungen im und durch das Bewegungsengagement (McAdam 1988, 1989). Politischem Aktivismus attestiert er infolge einer umfassenden Follow-up-Studie (McAdam 1989), die er fast 20 Jahre nach den Ereignissen des sogenannten „Mississippi Freedom Summer“ (ebd., S. 748) durchführte, das Potential „to trigger a process of alternation that can affect many aspects of the participants‘ lives“ (ebd.). Im Rahmen des genannten Projekts dienten im Sommer 1964 im Südstaat Mississippi hunderte, vorrangig weiße Studierende aus den Nordstaaten der USA den sogenannten „freedom schools“ (ebd.) – alternative Schulen, die im Kontext der Bürgerrechtsbewegung entstanden und Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung abbauen helfen sollten – als Personal. Sie halfen dabei, afroamerikanische Wähler*innen zu registrieren und die Thematik der Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten im Allgemeinen voranzubringen (vgl. ebd.). Ca. zwei Jahrzehnte später schickte McAdam ehemaligen Teilnehmenden und solchen, die den Zulassungsprozess damals zwar erfolgreich durchliefen, am Projekt selbst dann jedoch nicht teilnahmen, Fragebögen und konnte auf diesem Wege, zusätzlich zu den ersten Fragebögen, die dieselben Bewerber*innen

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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damals vor ihrer Zulassung ausfüllen mussten, 212 Fragebögen von ehemaligen Teilnehmenden und 118 Fragebögen von den sogenannten „no-shows“ (McAdam 1989, S. 749) – jenen also, die trotz Zulassung nicht am Projekt teilgenommen hatten – erhalten. Nachdem die ehemaligen Bewerber*innen einst u. a. Auskunft über die Gründe für ihre Bewerbung, ihre organisationalen Einbindungen, Universitätsaktivitäten und sozialen Hintergründe gegeben hatten (vgl. ebd., S. 748 f.), sollten sie in dieser zweiten, viele Jahre später stattfindenden Befragung laut McAdam (ebd., S. 749) nun Folgendes angeben: „Participants were questioned about their experiences during Freedom Summer, their activist histories, and the broad contours of their lives, personal as well as political, post-Freedom Summer. The questionnaire sent to the no-shows dealt with these latter two topics as well as the reasons why they withdrew from the project.“

Wie McAdam selbst hervorhebt, bereitet dieses Sampling hervorragende Bedingungen für eine Langzeitstudie: So kann hier erstens auf ein vergleichsweise großes Sample zurückgegriffen werden und es liegen zweitens von denselben Personen sowohl Daten aus der Zeit vor als auch lange Zeit nach dem Engagement vor. Zudem kann ihnen drittens eine Vergleichsgruppe entgegengestellt werden, die aus demselben Sample – der Bewerber*innen für das Projekt – stammt, die aber letztlich doch nicht am Projekt selbst teilgenommen hat, sich zum Zeitpunkt der Bewerbung aber nicht in signifikanter Weise von denen, die letztlich teilgenommen haben, unterschied (vgl. McAdam 1989, S. 749). So hätten weder hinsichtlich ihrer Werte (vgl. ebd.) noch in Bezug auf die Variablen „race, social class, type of neighborhood (urban, suburban, rural), home region, type of school, and major in school“ (ebd.) signifikante Abweichungen zwischen den Teilnehmenden und jenen, die zugelassen wurden, aber dann doch nicht erschienen, bestanden, weshalb McAdam davon ausgeht, dass die späteren Unterschiede als „effects of participation in the summer project“ (ebd.) interpretiert werden können.17 Auf der Grundlage dieses Forschungsdesigns kann McAdam unterschiedliche biografische Entwicklungen der Teilnehmenden am ‚Freedom Summer‘ und der sogenannten ‚No-shows‘ erfassen und anhand der ihm vorliegenden Daten

17Auch

bei der Fülle an Variablen bleibt selbstverständlich nicht auszuschließen, dass es noch andere – nicht erforschte – Variablen gibt, die zu den späteren Unterschieden, auf die ich im Folgenden noch eingehen werde, geführt haben. Interessant wären in diesem Kontext auch die Gründe für die Nicht-Teilnahme derjenigen, die trotz Zulassung nicht erschienen sind; diese wurden aber, soweit mir bekannt ist, nicht erhoben.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

schließlich konstatieren, dass die Beteiligung an diesem politischen Projekt im Kontext der Bürgerschaftsbewegung langfristige Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Biografien dieser Akteur*innen gezeitigt habe – sowohl, was ihre politische als auch ihre persönliche Biografie angeht. Mit ihrer Projektteilnahme ginge nicht nur bei vielen Beteiligten eine deutlich stärker ausgeprägte politische Verortung im linken Lager einher als bei den Nicht-Teilnehmenden, sondern darüber hinaus auch zahlreiche Konsequenzen in anderen Lebensbereichen der Aktivist*innen, beruflicher Art ebenso wie ihren Partnerschaftsstatus betreffend. McAdam (1989, S. 758) geht aus diesem Grunde sogar so weit, die Teilnahme am ‚Freedom Summer‘ als Wendepunkt in den Biografien der Aktivist*innen zu bezeichnen und ihnen eine „activist career“ (ebd., S. 753) zu bescheinigen. Eine solche ‚Aktivist*innen-Karriere‘ wird McAdam (1989, S. 751) zufolge nicht nur daran deutlich, dass das spätere Maß an politischem Aktivismus der Teilnehmenden am ‚Freedom Summer‘-Projekt im Vergleich zu den ‚nicht Angetretenen‘ sowohl in den nachfolgenden Jahren (vgl. ebd., S. 750) als auch noch zum Zeitpunkt der zweiten Erhebung in den 1980er-Jahren (vgl. ebd., S. 752 ff.) signifikant höher gewesen sei. Die Teilnehmenden seien in den Folgejahren zudem deutlich später in geregelte (Vollzeit-)Arbeit eingetreten, hätten insgesamt weniger Lohnarbeit und diese dann aber häufiger in Bewegungsorganisationen getätigt (vgl. ebd., S. 754 f.) und verdienten auch zwei Jahrzehnte später weniger als die ‚No-shows‘ (vgl. ebd., S. 755 ff.) – McAdam erklärt dies u. a. mit der Priorisierung der politischen Aktivist*innenkarriere über die berufliche Karriere (vgl. ebd., S. 756). Die Fragen zur Partnerschaftsbiografie haben außerdem deutliche Unterschiede zwischen den beiden Vergleichsgruppen ergeben: Erstens dahin gehend, dass die Vorstellung eines/einer „ideal mate appears to have been politicized by their experiences in Mississippi“ (ebd., S. 755), zweitens seien signifikant weniger der damals am ‚Freedom Summer‘-Projekt Beteiligten verheiratet als dies in der Vergleichsgruppe der Fall sei. Übergreifend konstatiert McAdam eine ‚radikale Resozialisierung‘ (vgl. ebd.) der Teilnehmenden durch dieses von ihm als „high risk/cost“-Aktivismus (ebd., S. 746)18 gekennzeichneten politischen Engagements.

18Gemeint

ist mit einem ‚Hoch-Risiko‘-Aktivismus die Partizipation an Bewegungen und deren Gruppen, die eine hohe Loyalität von ihren Mitgliedern erwarten und sich zudem in Gegnerschaft zum gesellschaftlichen Mainstream begreifen – beides Aspekte, die McAdam im ‚Freedom Summer‘-Projekt gegeben sieht (vgl. McAdam 1989, S. 746). Ein solches Engagement, das einen hohen Einsatz erfordere, unterscheidet (nicht nur McAdam) von Formen des politischen Engagements mit geringem ‚Risiko‘ bzw. geringen ‚Kosten‘ wie z. B. Geldspenden oder das Unterzeichnen von Petitionen (vgl. ebd.).

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

35

Die biografischen Konsequenzen der Teilnahme am ‚Freedom Summer‘ bezeichnet McAdam (1989, S. 758) folglich als „lifelong or at least long-term“. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen könne nicht den Hintergrundfaktoren zugeschrieben werden, die zur Teilnahme am Projekt führten (vgl. ebd.). Variablen hinsichtlich derer sich die am ‚Freedom Summer‘-Projekt Teilnehmenden zum Zeitpunkt der Bewerbung voneinander unterschieden hatten bzw. Gemeinsamkeiten zwischen den künftigen Teilnehmenden und NichtTeilnehmenden hatten für die Zeit nach dem Projekt hingegen keine Signifikanz als Prädikatoren für das Ausmaß des nachfolgenden politischen Engagements mehr (vgl. ebd.). Daraus schließt McAdam, dass die Teilnahme am ‚Freedom Summer‘ eine umfassende biografische Transformation (vgl. ebd., S. 748) in Gang setzte. Die Beteiligung an dem genannten Projekt im Kontext einer sozialen (Bürgerrechts-)Bewegung bringt dabei nicht nur (einige) Konsequenzen für das spätere politische Engagement sowie für andere, persönliche und berufliche Aspekte der Biografien mit sich, es wird McAdams Ergebnissen zufolge hingegen zu dem relevanten (Unterscheidungs-)Kriterium für den weiteren biografischen Verlauf und den nachfolgenden Stellenwert des politischen Engagements in den Biografien. Die hohe Bedeutung der Beteiligung am ‚Freedom Summer‘-Projekt für die Biografien der Aktivist*innen wirft für McAdam die Frage danach auf, welche Erfahrungen es genau sind, die zu dieser einschneidenden Entwicklung beigetragen haben könnten. Als Erklärung für die unterschiedliche weitere Entwicklung des Engagements in sozialen Bewegungen in der Folge des Projekt zieht McAdam (1989, S. 751 f.) nicht zuletzt die Variable der ‚sozialen Bindungen‘ heran, deren Erhebung Folgendes ergeben habe: „[V]olunteers left Mississippi […] embedded in a set of relationships and an emerging activist subculture ideally suited to reinforce the process of personal change begun in Mississippi“. McAdam zieht den Schluss, dass organisationale und persönliche (An-) Bindungen im Kontext einer Bewegungs(sub)kultur für die biografische Verstetigung des Bewegungsengagements von Bedeutung sind. Anhand der in den Fragebögen gestellten geschlossenen Fragen, deren Antworten quantitativ ausgewertet wurden (vgl. z. B. McAdam 1989, S. 751 f., FN 4), kann sich McAdam dieser (und anderen) relevanten Erfahrungsdimensionen der Akteur*innen allerdings nur indirekt und über die Kombination verschiedener Items bzw. Variablen annähern.19 Auf diese Art und Weise muss er, wie er selbst anmerkt (vgl. ebd., 19Genannt

werden hier neben der Variable der ‚sozialen Bindungen‘ z. B. auch die Ergebnisse der Variable „political stance“ (McAdam 1989, S. 751), denen zufolge eine starke Radikalisierung in Richtung einer linkspolitischen Orientierung im Nachgang des ‚Freedom Summer‘-Projekts konstatiert werden könne (vgl. ebd.).

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

S. 757), teilweise ‚Spekulationen‘ anstellen – z. B., um Ansätze zur Erklärung der geringeren Anzahl an Eheschließungen unter den Aktivist*innen zu gewinnen –, kommt aber letztlich nicht an den Prozess dieser ‚Resozialisierung‘ (ebd., S. 758), wie er ihn begrifflich fasst, heran.20 So kann auch diese Studie trotz ihrer wegweisenden Bedeutung für die Erforschung biografischer Veränderungsprozesse auf Akteursebene letztlich ‚nur‘ konstatieren, dass die Veränderungen stattgefunden haben, nicht aber rekonstruieren, wie der Prozess sich genau ausgestaltet hat. Zudem lassen sich die Sinnkonstruktionen, die die Akteur*innen selbst mit ihrem Engagement und den darauf folgenden biografischen Entwicklungen verbinden, auf diesem Wege nicht erfassen. Um an letztere heranzukommen, würde es einer – ergänzenden – qualitativen Erhebung bedürfen, mit der die Akteur*innen die Gelegenheit erhielten, ihre biografischen Erfahrungen zu entfalten. Auf zwei theoretische Zugangsweisen, die die psychisch-emotionale Verfassung der Akteur*innen im Kontext sozialer Bewegungen stärker in den Blick nehmen und somit einen Zugang zur ‚Innerlichkeit‘ der Prozesse anstreben, möchte ich im Folgenden eingehen.

2.3.1.2 Zur soziologischen und neueren sozialpsychologischen Betrachtung der Emotionen von Bewegungsakteur*innen Im englischsprachigen Raum entwickelten sich in den 1990er-Jahren zwei Forschungstraditionen, mit denen die Rolle von Gefühlen und anderer psychologischer Aspekte im Kontext der Partizipation an sozialen Bewegungen in den Blick rücken: emotionssoziologische und neuere sozialpsychologische Ansätze. Wenngleich diese beiden Forschungsrichtungen zweifelsohne Unterschiede aufweisen, verhandele ich sie hier angesichts ihres Interesses an den Emotionen der Akteur*innen, das ihnen gemein ist, unter einer Überschrift.21 Ihr Unterschied besteht vor allem in der Richtung, in der sie auf die am Bewegungsengagement beteiligten Gefühle blicken: Während emotionssoziologische Ansätze die Rolle von Gefühlen für das Verständnis der sozialen Regelhaftigkeit des Engagements in sozialen Bewegungen heranziehen (vgl. Kleres und Albrecht 2015, S. 2) und 20Auf

die Probleme, die mit der Konzeption dieser Transformationen als (Re-)Sozialisation einhergehen, werde ich in Abschn. 2.3.2.3 eingehen. 21Überschneidungen weisen diese beiden Forschungsrichtungen nicht nur miteinander, sondern auch zu anderen Ansätzen auf – so sind z. B. stärker psychologisch ausgerichtete Ansätze des Framing-Ansatzes (vgl. Abschn. 2.3.1.3) auch zu den sozialpsychologischen Ansätzen zu zählen.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

37

dabei teils – so zumindest Jasper (1997) in seiner grundlegenden Arbeit, auf die ich im Folgenden noch näher eingehen werde – auch die Verbindung zur Kulturtheorie stark machen, geht es in den sozialpsychologischen Ansätzen stärker „um das Empfinden des Individuums unter dem Einfluss sozialer Rahmenbedingungen“ (Kleres und Albrecht 2015, S. 2, FN 2). Im Zentrum steht hier vor allem die „Klärung bzw. Erklärung des Verhältnisses von Individuum und Gruppe (bzw. Kollektiv)“ (Simon 1995, S. 46). Konzepte wie kollektive und individuelle Identität(en) ziehen dabei beide Forschungsrichtungen zurate,22 während die Verfasstheit (vgl. z. B. Pinel und Swan 2000) und Veränderung (vgl. z. B. Kiecolt 2000) des ‚Selbst‘ stärker sozialpsychologisch zu verorten sind.23 Für beide Forschungsrichtungen möchte ich im Folgenden anhand einiger (weniger) Arbeiten ein paar Grundzüge darlegen und auch hier vor allem die Frage nach dem Akteur und seiner Biografie stellen, dabei aber keinesfalls den Anspruch erheben, damit die Breite beider Forschungsrichtungen abzudecken. Zentral für emotionssoziologische Ansätze ist die Frage nach der Rolle von ‚Emotionen‘24 an der Entstehung sozialer Bewegungen bzw. am Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen – womit dieser Forschungszweig also

22Von

sozialpsychologischer Seite vgl. z. B. Klandermans (1994, 1997a u. b) oder Reger et al. (2008); aus dem Kontext der emotionssoziologischen Forschung vgl. u. a. Flam (1993) oder Polletta und Jasper (2001), um nur einige exemplarisch zu nennen. 23Auch auf Kiecolts (2000) Studie werde ich weiter unten noch eingehen. Für weitere sozialpsychologische Arbeiten, die zwar an die im Abschn. 2.2.1 dargestellten frühen sozialpsychologischen Arbeiten anknüpfen, jedoch den Bewegungsmitgliedern keine Irrationalität mehr unterstellen und Miethe und Roth (2000, S. 12) zufolge seit Ende des letzten Jahrhunderts in den USA „wieder Teil des Mainstream“ sind, vgl. für viele: Tajfel (1981); Feree und Miller (1985); Roth (1997); Andrews (1991); Snow und Oliver (1995); Klandermans (1997a u. b); Stryker et al. (2000); Stekelenburg und Klandermans (2007). 24Übergreifend ist in der emotionssoziologischen Bewegungsforschung von ‚Emotions‘ die Rede. Jasper (2011) buchstabiert aus, was hiermit gemeint ist. Als ‚Emotions‘ würden keinesfalls nur die kurzfristig auftretenden Affekte bezeichnet, der Begriff umfasse vielmehr sowohl die mit starken körperlichen Impulsen einhergehenden Bedürfnisse – „urges“ (Jasper 2011, S. 14.2) –, als auch die „reflex emotions“ (ebd., S. 14.3) – d. h. Reaktionen auf unsere physische und soziale Umwelt, wie z. B. Angst, Freude, Ekel (vgl. ebd.) –, die „moods“ (ebd.) – verstanden als länger andauernde Gefühle und Stimmungen –, sowie gefühlsmäßige Bindungen und Abneigungen wie „love, liking, respect, trust, admiration, and their negative counterparts“ (ebd.) sowie moralische Prinzipien (vgl. ebd.). Jasper macht deutlich, dass eine detailliertere analytische Unterscheidung zwischen diesen unterschiedlichen Subkategorien seines Erachtens noch aussteht (vgl. ebd., S. 14.2). Ich spreche im Folgenden auf Deutsch abwechselnd von Emotionen und Gefühlen und meine damit all jenes, was Jasper unter dem englischen Begriff der ‚Emotions‘ fasst.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

hinsichtlich des Interesses an der Entstehung von Protest durchaus auch in der Tradition der klassischen Themen der Bewegungsforschung steht (zur Beteiligung von Gefühlen am Beginn des Engagements vgl. z. B. Jasper 1997; Yang 2000a; Flam 2005; Benski 2011; Benski und Langman 2013). Aber auch die Entstehung von neuen Emotionen im Zuge der Mobilisierung (vgl. z. B. Benski 2011; Jasper 2011) sowie im Laufe des Bewegungsengagements (vgl. z. B. Yang 2000b) rücken hier in den Fokus. In diesem Kontext kommt auch der bereits thematisierte, durch das Engagement erzielte Gewinn einzelner Akteur*innen in den Blick – letzteres z. B. von Helena Flam (1993) in Anlehnung an McAdams‘ (1982) Konzept der ‚kognitiven Befreiung‘ als „emotionale Befreiung“ gefasst. Gefühlen wird hier eine fundamentale Bedeutung für die Entstehung und Entwicklung von Bewegungen zugesprochen. Ihnen kommt dabei keinesfalls der Stellenwert des Außerordentlichen oder gar Abweichenden zu – zumindest ist dies in Tove Benskis und Lauren Langmans (2013) Zusammenfassung der emotionssoziologischen Grundannahmen und ihrer Übertragbarkeit auf soziale Bewegungen nicht der Fall, wenn sie Folgendes konstatieren: „[E]motions and feelings provide fundamental stances to the world, they are basic to our experiential responses to the ongoing events of the everyday ‚life world‘, and inherent to involvements with that world, relationships to others, and to our very self […], including protests“.

Emotionen, die den Protest sozialer Bewegungen begleiten, nennen die Autorinnen hier im gleichen Zuge mit Gefühlen, die sich auf Ereignisse des alltäglichen Lebens beziehen. Soziale Bewegungen und das Engagement in ihrem Kontext erscheinen so als ein Vorgang, der sich, was die beteiligten Gefühle angeht, nicht grundlegend von anderen Handlungen im Leben unterscheidet. Dies passt auch zu den Ergebnissen von Jeff Goodwin (1997), der neben James M. Jasper (1997) als Begründer des emotionssoziologischen Zugangs zu sozialen Bewegungen gelten kann. Goodwin (1997) verdeutlicht in einem Essay, dass die Gefühle und Bindungen zu Familie und Sexualpartner*innen die Loyalität zu einem (Bewegungs-)Kollektiv beeinflussen. Das Bewegungsengagement erscheint hier nicht (mehr) isoliert von anderen Dimensionen des Lebens – aber auch nicht durch sie determiniert –, es wird hingegen davon ausgegangen, dass die Gefühle der verschiedenen Lebensbereiche einander tangieren. Goodwins Blick auf Emotionen verweist durch seine Konzeption von sozialem Bewegungsengagement als einen Teil eines – auch andere Dimensionen umfassenden – emotionalen Lebens (indirekt) also auch auf den biografischen Faktor des Engagements in sozialen Bewegungen.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

39

Von einer (kultur-)konstruktivistischen Perspektive kommend bettet Jasper (1997, S. 101) in seinem Buch „The Art of Moral Protest“ Gefühle nicht nur in einen biografischen, sondern zudem auch in einen kulturellen Zusammenhang ein, wenn er angibt: „In order to understand the willingness to protest, we must examine individual biographies and cultural practices and meanings, as well as – in the final stages of the causal chain – the resources and strategies of formal groups.“

Jasper stellt seinen Ansatz hier in die Tradition der klassischen Themen der Bewegungsforschung, indem er kulturelle und biografische Aspekte den strukturellen Faktoren nicht prinzipiell gegenüberstellen möchte, sondern beides als eine untrennbare Einheit begreift (vgl. ebd., S. XI). Er gewichtet die genannten Dimensionen aber anders als vorige Forschungstraditionen: Kultur und Biografie stehen für ihn zentral und werden vor allem unter dem Blickwinkel auf die dabei beteiligten Gefühle betrachtet, geht Jasper (2011, S. 14.4) doch davon aus, dass „emotions are a part of culture alongside cognition and morality“. Biografie wiederum versteht er als innere Seite von Kultur bzw. als einen Teil der Kultur, dessen Ausschnitt lebensgeschichtlich geprägt ist: „Biography refers to individuals’ mental worlds, conscious and unconscious, which for biographical reasons are subsets of items in the broader culture“ (Jasper 1997, S. 20). Kultur versteht Jasper als die kollektiv geteilten Anteile der ‚mentalen Welten‘ (vgl. ebd.) und fasst dementsprechend kollektive Bewegungsidentitäten als „emotional bonds“ (ebd., S. 227), die das Engagement stützen und verstärken. Goodwin et al. (vgl. 2001, S. 1 f.) kritisieren den Umstand, dass die Forschung zu sozialen Bewegungen sich – trotz der grundlegenden Bedeutung von Emotionen für soziale Prozesse im Allgemeinen und für Protestbewegungen im Speziellen, wie sie es fassen – größtenteils rationalistisch ausgerichtet habe. Sogar im Zuge der ‚Wiederentdeckung von Kultur‘ sei das Verständnis von Kultur größtenteils weiterhin rationalistisch geprägt geblieben. Zwar in der Tradition einer kulturorientierten Forschung stehend sei die Erforschung von Emotionen im Kontext sozialer Bewegungen laut Jasper (vgl. 2011, S. 14.4) doch selten über die bloße Anerkennung der Bedeutsamkeit von Emotionen für Prozesse in sozialen Bewegungen hinausgegangen. Jedoch ziehen Goodwin und Jasper, wie bereits erwähnt, aus ihrer Kritik nicht den Umkehrschluss, Emotionen als einzig bedeutsamen Aspekt für die Erforschung sozialer Bewegungen zu sehen: Auch wenn Emotionen einen „central concern of political analysis“ (ebd., S. 2) darstellten, gelte es zugleich anzuerkennen, dass „feeling and thinking are parallel, interacting processes of evaluating and interacting with our worlds“ (ebd.). Ein

40

2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Dualismus von Rationalität und Emotionen ist demnach abzulehnen (vgl. auch Jasper 2011, S. 14.2). Wenngleich die Emotionssoziologie Emotionen und das Soziale also in ihrer gegenseitigen Bedingtheit betrachtet und Individuen folglich nicht der einzige Bezugspunkt des Ansatzes sind, so treten mit der Perspektive dennoch einzelne Akteur*innen verstärkt in den Blick, da es laut Jasper (1997, S. 214) keinen Sinn ergebe, auf die „motivations of entire protest movements“ zu gucken. Stattdessen müssten die „individuals who compose them“ (ebd.) betrachtet werden. Zusammenfassend kann hier also konstatiert werden, dass mit dieser Perspektive Aspekte des Bewegungshandelns auf der Ebene der Akteur*innen untersucht werden, die über deren rationale Entscheidungen hinausgehen und auch vorreflexive – oder hier eben: emotionale – Aspekte berücksichtigen. Die emotionssoziologische Perspektive bleibt vom Prinzip her nicht auf situative Emotionen beschränkt, unterscheidet Jasper (1997, S. 101) doch zwischen „long-standing affective ties“ und „shorter-term emotional responses to events“. Auch wenn er dies, wie mir scheint, nicht in strukturierter Form ausarbeitet, so spielen hier also – neben den relativ ‚kurzfristigen‘ Emotionen wie Affekten – auch längerfristige Gefühle, die auf (biografisch entstandene) Bindungen verweisen können, eine Rolle. Jasper (2011, S. 14.3) jedenfalls spricht von solchen Gefühlen, die er als „moral intuitions or principles, such as shame, guilt, pride, indignation, outrage, and compassion“ klassifiziert, wenn er den Gedanken stark macht, dass soziale Bewegungen den Beteiligten nicht nur ermöglichten, diese zu artikulieren, sondern auch auszudifferenzieren oder sogar zu verändern. Als Beispiel einer solchen emotionalen Veränderung gibt Jasper (vgl. 2011, S. 14.6) an, dass sich viele Protestbewegungen um die Bemühung drehten, Scham in Stolz zu verwandeln.25 An diesem für den Forschungsfokus meiner Arbeit besonders interessanten Aspekt der Veränderung von – biografisch entstandenen bzw. biografisch relevanten – Emotionen im Engagement schließen Benski und Langman (2013) mit ihrer Perspektive auf die am Protest von Benachteiligten der Finanzkrise

25Forschungen

zum komplementären Verhältnis dieser beiden Gefühle gehen u. a. auf Scheff (1994) zurück, demzufolge uneingestandene Scham zu Wut und anderen Aggressionen führe. Daran anschließende Arbeiten zeigten jedoch laut Jasper (2011, S. 14.5) auch, wie Scham in Stolz umgewandelt werden könne (vgl. zum Kontext der Schwulen-Lesbenbewegung z. B. Gould 2001, 2009). Zur Übersicht über Arbeiten über die Beteiligung zahlreicher weiterer Gefühle im Kontext von Protestaktivität – z. B. Rache, Hoffnung und moralischer Schock – siehe Jasper (2011, S. 14.6).

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

41

beteiligten Gefühle und deren Veränderung an. Die Autorinnen halten eine ‚emotionale Befreiung‘, mit der sie die Befreiung „from emotions that tie us to the system“ (ebd., S. 534) bezeichnen, für konstitutiv für jegliche Art der Mobilisierung für soziale Bewegungen. Im Unterschied zu McAdam (1982) und ganz im Sinne Flams (1993, 2005) konzipieren sie die ‚Befreiung‘ hier also nicht als (rein) kognitiven Akt, sondern verweisen darauf, dass auf der Ebene der einzelnen Akteur*innen Kognition und Gefühle nicht getrennt voneinander behandelt werden könnten – fokussieren jedoch selbst die Rolle der beteiligten Gefühle. Den Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen fassen Benski und Langman (2013, S. 534) nicht nur als Entledigung des emotionalen Bandes, das die Akteur*innen an ein System binde, sondern auch als ‚emotionale Transformation‘, welche wiederum, angesichts dessen, dass sie mit der Außerkraftsetzung bisheriger Regeln und Normen einhergeht, auch mit Touraines Verständnis von ‚Subjektivation‘ beschrieben werden könne (vgl. ebd., S. 527). Eine solche – subjektivierende – emotionale Transformation im Protest ginge über die bloße Vermehrung guter und die Vermeidung schlechter Gefühle – wofür die ‚Kultur‘ von sozialen Bewegungen generell eine Einsatzstelle biete – hinaus. Protest könne zudem emotionale Stabilisierung erzeugen und den Beteiligten z. B. ihren Selbstwert zurückgeben, wie Benski und Langman dies für den jüngsten Protest im Kontext der Finanzkrise konstatieren. Letzterer ermögliche den von der Finanzkrise Benachteiligten, das Gefühl des individuellen Versagens hinsichtlich der eigenen Arbeitslosigkeit durch die Politisierung des Themas in Ärger und Wut auf die äußeren Bedingungen zu verwandeln (vgl. Benski und Langman 2013, S. 529). Eine solche ‚Emotionstransformation‘ ginge mit der Neuinterpretation der eigenen sozialen Lage einher, bringe also einen neuen (emotionalen) Bezug zur eigenen (strukturell bedingten) Lebenssituation mit sich.26 Unter dem spezifischen Fokus auf die am Protest beteiligten Emotionen – und der Grundannahme von Touraine folgend, demzufolge der Prozess der Subjektivation mit der Zurückweisung bestehender Strukturen und Normen einhergehe – verweisen die Autorinnen also auf grundlegende Veränderungsprozesse auf der Ebene einzelner Akteur*innen, wie ich sie auch in der vorliegenden Studie in den Blick nehme; jedoch tun sie dies lediglich in theoretischer, nicht in empirischer Hinsicht. Emotionen im Bewegungsaktivismus werden hier in einen Zusammenhang zu strukturellen Fragestellungen (hier: als – antagonistisches – Verhältnis zu

26So

werden hier nicht nur Ärger und Empörung zum emotionalen Motivator für politisches Engagement, sondern auch die Vermeidung von Scham zum emotionalen Gewinn eines solchen (Benski und Langman 2013, S. 530).

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Normen und dem ‚System‘) gestellt. Fraglich ist aus meiner Sicht an dieser Stelle der eigentliche Mehrwert der Untersuchung der Emotionen im Engagement, wenn die biografischen Entwicklungen – in ihrem Zusammenhang mit den strukturellen Begebenheiten – mit den Konzepten der Biografie, Kultur, Subjektivation u. a. hier bereits erfasst werden können. Eine biografische Bedeutsamkeit der emotionalen Verwandlung, beispielsweise von Scham in Stolz, kann zwar erahnt werden, jedoch werden durch den Verweis auf die Emotionen die biografischen Konsequenzen nicht erschlossen, vor allem, weil es nicht in systematischer Weise ausgearbeitet scheint, welches Ausmaß und welchen biografischen Stellenwert eine solche Transformation von Emotionen hat. Die Verbindung von Emotionen zur Biografie, sozialen Strukturen und anderen genannten Konzepten scheint mir nicht in systematischer Form geklärt. Eine Erhellung der Prozesshaftigkeit dieser Transformationen, aus der die Rolle von Emotionen im Transformationsprozess genauer ersichtlich wird, wäre m. E. vonnöten. Stärker auf den Prozess solcher emotionalen Transformationen – auch in empirischer Hinsicht – geht Guobin Yang (2000a u. b), dessen Forschung zur Entstehung neuer Emotionen im Kontext des Bewegungsengagements ich eingangs bereits erwähnt hatte, in seiner Studie zu den emotionalen Prozessen von Akteur*innen der chinesischen Studierendenbewegung von 1989 ein. Den Fokus seiner Betrachtungen legt auch er auf das in emotionaler Hinsicht bestehende transformative Potential des Beginns der Partizipation an einer Bewegung und ihren Aktionsformen. Anhand seiner empirischen Ergebnisse zur genannten Studentenbewegung, die auf der Grundlage der Auswertung von „narratives“ (Yang 2000b, S. 598 f.), Schilderungen also, die sowohl öffentlicher Art – „poems, wall posters, handbills, news stories and the like“ (ebd., S. 599) – als auch privater Art – „diaries“ (ebd.) – waren, kann er zeigen, wie neue (emotionale) Erfahrungen die Identifikation mit einem politischen System infrage stellen (können).27 Yang arbeitet zudem mit dem Konzept der ‚Identität‘ und arbeitet in diesem Zusammenhang zwei Muster der Identitätstransformation heraus: „a growing ‚inwardness‘ and an ‚outward‘ turn toward democratic ideals“ (Yang 2000a, S. 395) – beide Arten umfassten ebenso körperlich-emotionale sowie kognitive Dimensionen (vgl. ebd. 396). Diesen in starkem Maße auch emotionalen

27Sehr

knapp zusammengefasst geht es in der Studie darum, dass die jungen Menschen durch Erfahrungen, die sie im Kontakt mit der armen Landbevölkerung machen, Zweifel an der offiziellen Geschichtsschreibung entwickelten. Dies habe zu einer Abnahme der „identification with the party-state and its charismatic leaders and a growing identification with democratic ideals embodied by the people“ (Yang 2000a, S. 396) geführt.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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personalen Wandel der Aktivist*innen konzipiert er zudem in theoretischer Hinsicht unter Zuhilfenahme des ethnografischen Konzepts der „Liminalität“ von Victor Turner (2005).28 Yang hebt mit dem Konzept der Liminalität auf den Umstand ab, dass eine soziale Bewegung einen Übergang oder neuen sozialen Raum schaffen kann, in dem eine zeiträumliche Trennung vom bisherigen Leben eine „rejection of those rules and norms that have structured social action prior to the liminal situation“ (Yang 2000a, S. 383) begünstige und somit die Möglichkeit von Transformation eröffne. Während es in einigen seiner Ausführungen so klingt als sei jede Bewegung gleichermaßen ‚liminal‘ (und als bestünde die Liminalität lediglich in der Trennung der Beteiligten von den bestehenden sozialen Strukturen), so macht er an anderer Stelle deutlich, dass er die Infragestellung der bisherigen sozialen Einbindungen mitsamt ihrer Normen hinsichtlich der Bestimmung des liminalen Potentials einer Bewegung für zentral hält. Da nicht alle sozialen Bewegungen gleichermaßen entfernt von der institutionalisierten Politik seien – einen Aspekt, den Yang ebenfalls mit Turners Begriffen als Struktur (im Sinne einer Nähe zu etablierten Institutionen) und Antistruktur (im Sinne einer Entfernung von ihnen) kennzeichnet –, sei folglich auch ihre Liminalität relativ: „To the extent that social movements are antistructural, they are liminal“ (Yang 2000a, S. 385). Je ‚antistruktureller‘, d. h. je weiter entfernt sich die Bewegungsinhalte von vorherrschenden Regeln und Normen positionierten, desto mehr Potential biete eine soziale Bewegung also für derartige (emotionale) Schwellenzustände. Auch Yang verbindet hier den Blick auf Emotionen im Bewegungsaktivismus also mit stärker strukturell ausgerichteten Fragestellungen und einem Konzept, das diese erfassen kann. Um dem (emotions-)soziologischen Anspruch gerecht zu werden, so scheint mir, werden zuzüglich zum Blick auf Emotionen also stets weitere Konzepte benötigt, die diese in die soziale Struktur einordnen.29 Mithilfe von Turners Konzept kann Yang konstatieren, dass es die (Anti-)Struktur ist, die bestimmte Gefühle und damit einhergehende Weltsichten begünstigt. So stellt er – ähnlich wie Benski und Langman, nur mit einem anderen theoretischen

28Liminalität

– von Turner untersucht in indigenen Gemeinschaften – bezeichnet den Zwischenzustand, in dem alte Werte und Normen nicht mehr gelten und neue noch nicht vorhanden sind; von Yang (2000a, S. 397) auch gefasst als „the transformative stage in a ritual process“. 29Jasper (1997, S. 101) hatte dies, wie bereits erläutert, mit der Einordnung von Emotionen in einen übergeordneten Rahmen von Biografie, Kultur und – an letzter Stelle, aber dennoch im Ansatz inbegriffen – Ressourcen und gesellschaftlicher Struktur getan.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Konzept – einen Zusammenhang zwischen dem Grad des persönlichen Wandels und dem Grad der emotionalen Abkehr der Bewegung von gesellschaftlichen Normen her.30 Die emotionssoziologische Betrachtungsweise eröffnet also u.  a. einen Zugang zur Transformation von Emotionen und bietet damit eine Perspektive auf die Transformation von vorreflexiven Anteilen des Seins, mit der sie Veränderungen in den Biografien einzelner Akteur*innen erfassen kann, die nicht bloß auf rationalen Entscheidungen beruhen. In Verbindung mit der Einbettung von Emotionen in die soziale Struktur von Protestbewegungen – unter der Perspektive auf Biografie, Kultur und/oder Struktur und Normen bzw. ‚Liminalität‘ –, geht die Perspektive auch über die Situativität von Emotionen (also über Theorien zum emotional geprägten ‚Massenverhalten‘) hinaus. Jedoch ergibt die Rede von Emotionstransformation m. E. nur Sinn, wenn es sich bei den transformierten Gefühlen um solche handelt, von denen das Denken und Handeln des Akteurs maßgeblich geprägt ist, die also eine Art längerfristige emotionale ‚Haltung‘ in und zu der Welt beschreiben.31 Aus den vorgestellten Arbeiten lässt sich – wenngleich teils nur implizit – erschließen, dass es sich bei den transformierten Gefühlen zumeist durchaus um relativ konstante Gefühle handelt, die also auf eine biografische und soziale Struktur verweisen. Dennoch bleibt dabei weitgehend ungeklärt, welchen biografischen Stellenwert diese haben bzw. wie transformierbar – oder eben träge – sie eigentlich sind, in welcher Weise soziale Strukturen hier mitwirken und welchen Anteil die Gefühle am gesamten Selbstund Weltverhältnis haben. So bleibt aus meiner Sicht letztlich die Beschaffenheit bzw. Struktur dessen, was transformiert wird, zu großen Teilen im Unklaren. Mehr Hinweise auf die Beschaffenheit der transformierten Struktur – zumindest auf der Ebene von einzelnen Akteur*innen – geben hingegen einige sozialpsychologische Arbeiten, von denen ich abschließend und exemplarisch die Studie von Jill Kiecolt (2000) zum „self-concept change“ im Kontext sozialer Bewegungen diskutieren möchte. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit liegt die Hierarchisierung verschiedener Identitäten, die ein Mensch in sich vereint, und

30Bürgerschaftliches

Engagement böte dieser Theorie zufolge also weniger Potential für Transformationsprozesse auf Akteursebene als radikalere Bewegungen, wie jene, aus denen meine Interviewpartner*innen größtenteils kommen. 31Eine Transformation von kurzfristigen Emotionen ist m. E. schlecht denkbar, da sie angesichts ihrer Kurzlebigkeit ohnehin einem steten Wechsel unterzogen sind und so gesehen zwar ständig wechseln, aber nicht transformiert werden können.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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ihre Verwobenheit, „interconnectedness“ (ebd., S. 117). Die Gesamtheit der Relationierung der verschiedenen Identitäten und anderer Persönlichkeitsattribute32 stellt für Kiecolt das Selbstkonzept (vgl. ebd., S. 111 ff.) dar. Mit dem Selbstkonzeptwandel bezeichnet sie verschiedene Ebenen des Wandels, von denen einige umfassender sind als andere. So ginge es beim „level change“ (ebd., S. 112) beispielsweise nur darum, dass eine Identität in der Hierarchie der Identitäten („ranking“) eine größere Bedeutung bekäme als zuvor. Doch kennt Kiecolt auch einen tiefgreifenderen Wandel, „a change that becomes habitual enough that persons do not easily revert to a former view of self or unthinkingly act as they used to“ (ebd.). Zwar geht es hier auch um den (reflexiven) Blick auf sich selbst, doch bezieht Kiecolt auch die habituelle Ebene dieses Wandels und die in seinem Zuge geänderte – oft unhinterfragte und vorreflexive – Handlungspraxis mit ein. So wird deutlich, dass der Wandel des Selbstkonzepts, trotz der reflexiven Konnotation des Begriffs, durchaus eine umfassende Veränderung bezeichnen kann und nicht bloß reflexiv verfügbare Einstellungen zu bzw. Glaubenssätze über sich selbst betrifft. Zur Erklärung dessen, wie ein solcher Selbstkonzeptwandel im Kontext sozialer Bewegungen zustande kommt, zieht Kiecolt (2000, S. 120) zwei psychologische Erklärungsfiguren zurate: ‚kognitive Dissonanz‘ und ‚biased Scanning‘. Mit ersterer – verkürzt zusammengefasst: der gefühlten Unvereinbarkeit verschiedener, gleichzeitig vorhandener Wahrnehmungen und Empfindungen – erklärt sie, wie die (oft ungeplante) Partizipation an einer Bewegungspraxis das eigene Selbstbild verändern könne: Hier ginge es um die in der Literatur zu sozialen Bewegungen zahlreich beschriebene Erfahrung von „participants who found themselves doing things they could never have imagined beforehand and who consequently changed their beliefs about themselves“ (ebd.). Im Fokus steht hier also die transformierende Kraft einer veränderten Handlungspraxis und die sich in diesem Kontext eröffnenden Möglichkeiten an neuen Handlungspraktiken und damit einhergehenden neuen Erfahrungen, die neue Perspektiven auf das Selbst eröffnen und bereits bestehenden ‚Selbstkonzepte‘ zuwiderlaufen

32Das

Selbstkonzept setze sich aus Identitäten und den Persönlichkeitsattributen zusammen. Letztere „attributes or traits are adjective […] or adverbs […] that describe the ways in which people are enacting their identities and roles“ (Kiecolt 2000, S. 111). Manche Persönlichkeitsattribute seien identitätsübergreifend (beispielsweise die Merkmale ‚extrovertiert‘ vs. ‚introvertiert‘), andere variierten je nach Identität (so seien viele Menschen z. B. unterschiedlich fürsorglich in ihrer Identität als Arbeitgebende oder als Freund*in.).

46

2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

(könnten). Auch die andere psychologische Erklärungsfigur, die Kiecolt hinzuzieht – das ‚biased Scanning‘ –, könne Aufschluss darüber geben, wie sich ein Selbstkonzeptwandel im Zuge der Partizipation an der Praxis einer sozialen Bewegung vollziehen kann: Man verhalte sich auf eine bestimmte Art und Weise (z. B. selbstbewusst) und dann setze die Handlung, in der dieses neue Persönlichkeitsattribut im Kontext des Bewegungsengagements quasi aufgeführt wird, bereits eine Veränderung des Selbstkonzepts in Gang – oder birge zumindest dieses Potential, da der Akteur hierbei die Möglichkeit bekomme, neue Formen des Handelns auszuprobieren. Beide Erklärungsfiguren zielen also auf neue Erfahrungsqualitäten ab, die eine – sowohl bewusst initiierte als auch selbstläufig vonstattengehende – veränderte Handlungspraxis in sozialen Bewegungen bereithalten können. Kiecolt kann auf diesem Wege nicht nur konstatieren, dass sich etwas verändert, sondern auch den Prozess der Veränderung selbst erhellen. Sie macht so die Auswirkung der Partizipation an sozialem Bewegungshandeln auf der Ebene einzelner Akteur*innen und ihrer innerlichen Strukturen – der Bedeutungszuweisung und Relationierung verschiedener, bei Kiecolt auch auf habituelle, vorreflexive Ebenen verweisender Identitäten – deutlich. Anders als bei den emotionssoziologischen Ansätzen besteht der Referenzpunkt hier nicht in (dem Ausmaß) der Abweichung von der gesellschaftlichen oder Struktur, sondern darin, dass der/die Einzelne in der sozialen Handlungspraxis Erfahrungen macht, die er oder sie so zuvor noch nicht gemacht hatte. In dem Sinne ist Kiecolts Zugangsweise nicht in besonderem Maße auf die spezifische Struktur sozialer Protestbewegungen bezogen, die hier nur zu einem Ort des ‚Selbstkonzeptwandels‘ unter vielen werden. Kiecolts sozialpsychologischer Blick bedeutet also eine geringere Einbindung der sozialen Strukturen von Protest, bekommt zugleich aber die (innerlichen) Strukturen der Akteur*innen systematischer in den Blick. Ohne das Konzept der Biografie zu benutzen, weist dieser Ansatz indirekt auch in Richtung biografischer Aspekte, da den Vorerfahrungen der Akteur*innen hier eine größere Bedeutung zukommt als bei denjenigen Ansätzen, bei denen lediglich in generalisierter Form davon ausgegangen wird, dass das den gesellschaftlichen Normen Entgegenstehende ‚automatisch‘ ein größeres Transformationspotential mit sich brächte (vgl. Yang 2000a; Benski und Langman 2013). In Kiecolts Konzeption des Selbstkonzeptwandels wird das biografisch Andersartige, nicht das der gesellschaftlichen Struktur größtmöglich Entgegenstehende zum Ausgangspunkt von Veränderung. In der Begrifflichkeit, die Yang (2000a) mit Bezug auf Turner einführte, wird hier also die bisher nicht praktizierte neue Handlungspraxis zur ‚biografischen Antistruktur‘.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

47

Dieses Unterkapitel zusammenfassend möchte ich festhalten, dass sowohl sozialpsychologische als auch emotionssoziologische Ansätze zur Erforschung sozialer Bewegungen einen Zugang zu den vorreflexiven, nicht (unbedingt) rationalen Aspekten des Engagements liefern, ohne dabei lediglich situative Dynamiken zu betrachten oder den Protest irrational erscheinen zu lassen. Mit den Arbeiten, die sich der Erforschung von Transformationen – der Emotionen und/oder der emotional geprägten – Identitäten im Engagement widmen, wurde zugleich deutlich, dass hier vielfältige Anschlüsse für eine erziehungswissenschaftliche Fragestellung nach biografischen Veränderungsprozessen im Engagement bestehen. Die verschiedenen Konzepte, mit denen der Blick auf die emotionalen Aspekte des Aktivismus verbunden wurde, geben in unterschiedlichem Ausmaß Hinweise auf die soziale Einbettung der emotionalen oder durch Gefühle hervorgerufenen oder begleiteten Veränderungen. Während die emotionssoziologischen Zugänge mit ihrem Bezug auf Biografie, Kultur und soziale Struktur die strukturelle Einbettung der Emotionstransformationen hervorheben, können sie aber m. E zugleich den eigentlichen Prozess der Transformationen und die Struktur – hier im Sinne von der ‚Beschaffenheit des Transformierten‘ – nicht gebührend erhellen, weil eine systematische Verbindung von Emotionen und den anderen herangezogenen Kategorien nicht erkennbar ist. Ein sozialpsychologischer Ansatz wie jener Kiecolts hat hingegen vielleicht den Nachteil, dass er soziale Bewegungen zu einem (beliebigen) Ort persönlichen Wandels unter vielen macht, zugleich liefert er aber mit dem Verständnis einer mehrdimensionalen Relationierung von – nicht nur reflexiv verfassten – Identitäten ein Instrumentarium, mit dem der Prozess der Transformation auf der Ebene einzelner Akteur*innen besser erfasst werden kann.33 Letztlich läuft es – so möchte ich die Perspektive auf die am Protest beteiligten Gefühle hier sehr verkürzt herunterbrechen – bei beiden Forschungsrichtungen darauf hinaus, dass der Protest als ein sozialer Rahmen begriffen wird, in dem neue Erfahrungen gemacht werden (können), die auch eine neue emotionale Qualität mit sich bringen (können). Was McAdam (1989) als ‚Resozialisierung‘

33Auf der Grundlage der hier zusammengetragenen Aspekte muss man die Arten der Transformationen dann nicht unbedingt mit psychologischen Mustern erklären, wie Kiecolt dies – ihrer Profession entsprechend – tut. Von Rosenberg (2011) z. B. hat, aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive kommend (und allerdings nicht auf das Engagement in sozialen Bewegungen bezogen), mit dem praxeologischen Konzept eines mehrdimensional verstandenen Habitus die Neurelationierung unterschiedlicher Habitusdimensionen als Bildung gefasst und empirisch herausgearbeitet (vgl. Abschn. 3.2.3.2).

48

2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

der einzelnen Akteur*innen fasste, wird hier als Veränderung oder gar Transformation des ‚Selbstwerts‘ (Benski und Langman 2013), der ‚Identität‘ (Yang 2000a) oder des ‚Selbstkonzepts‘ (Kiecolt 2000) der Akteur*innen gefasst. Doch wie sind diese neuen Qualitäten biografisch verortet, in welcher Art und Weise stellen die Erfahrungen im Kontext sozialer Bewegungen konkret eine neue Qualität dar, d. h. wie füllen die Akteur*innen ihre (Protest-)Handlungen mit Sinn und wie entsteht neuer Sinn im Zuge der Handlungspraxis des Engagements in sozialen Protestbewegungen? Weitere Hinweise zur Aufklärung dieser (teils) noch offenen Fragen kann die sozialkonstruktivistische Rahmenanalyse (und ihre biografietheoretische Adaption) geben, auf die ich im Folgenden eingehen werde.

2.3.1.3 Zur sozialkonstruktivistischen Analyse von Deutungsrahmen der Bewegungsakteur*innen und ihrer biografietheoretischen Erweiterung Auf der Grundlage von Erving Goffmans (1974) „Frame Analysis“ arbeiteten maßgeblich Robert E. Benford und David A. Snow (Snow et al. 1986 und Snow und Benford 1988) in den späten 1980er-Jahren – noch vor McAdams Arbeit zu den biografischen Konsequenzen von politischem Aktivismus, aber an seine bereits einige Jahre zuvor formulierte Perspektive auf die ‚kognitive Befreiung‘ einzelner Akteur*innen (McAdam 1982) anschließend – den Ansatz der sozialkonstruktivistischen Rahmenanalyse für das Forschungsfeld sozialer Bewegungen aus. Zentral für diesen Zugang zu sozialen Bewegungen ist der Fokus auf die Entstehung und den Wandel kollektiver Deutungsmuster innerhalb von sozialen Bewegungen. Mit ihm knüpfen die Autor*innen dieses Ansatzes an frühe sozialpsychologische, in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus stehende Arbeiten an, ohne jedoch selbst unbedingt psychologische Aspekte in den Vordergrund zu rücken.34 Ein umfassendes Verständnis von sozialen Bewegungen sei laut diesem Ansatz hingegen nur dann möglich, so Miethes (1999, S. 43) Zusammenfassung, „wenn sowohl sozialpsychologische als auch organisatorische Faktoren in die Analyse einbezogen“ würden. Der Framing-Ansatz ist dem interpretativen Paradigma verpflichtet, mit dem zwar vor allem an den Sinnkonstruktionen der kollektiven Akteur*innen angesetzt wird, aber auch jene der individuellen Akteur*innen einbezogen werden. Die für diese Sinnkonstruktionsleistung maßgeblich verantwortlich gezeichneten „mentalen

34Verschiedene diesbezügliche Ausgestaltungen werden im Folgenden noch deutlich werden.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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Orientierungen“, „die die Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen bestimmen“ (Miethe 1999, S. 45), werden hier als Rahmen gefasst. Auf das Handeln sozialer Bewegungen bezogen konkretisieren Benford und Snow (2000, S. 614) diese Rahmen – „frames“ – als „action-oriented sets of beliefs and meanings that inspire and legitimate the activities and campaigns of a social movement organization“ (ebd.). Die Rahmenanalyse hebt also auf die Rolle sozialer Bewegungen als Produzenten von ‚Bedeutung‘ ab. Den Prozess der Bedeutungsaushandlung bezeichnen Benford und Snow als „meaning work“ (ebd., S. 613), die als „an active, processual phenomenon that implies agency and contentions at the level of reality construction“ (ebd., S. 614) zu verstehen sei. Rahmen stellen also eine spezifische Form der Realitätskonstruktion dar und entstehen in aktiver – und zudem durchaus kontroverser (vgl. hierzu auch ebd., S. 625 f.) – Auseinandersetzung um Deutungen. Allerdings erscheint dies bei Benford und Snow – wie Miethe (1999, S. 46) kritisiert – maßgeblich als rationaler Prozess der Bedeutungszuweisung, geraten doch vor allem die reflexiv verfügbaren Anteile der Weltdeutung, die ‚Interpretationsschemata‘, in den Fokus.35 Die Aushandlung von Bedeutung ist bei Benford und Snow (vgl. 2000, S. 628) als stetig fortdauernder Prozess zu verstehen. Die als „collective action frames“ (ebd.) betitelten Rahmen sind also keinesfalls statisch. Trotz der Betonung ihrer Kollektivität sind die verschiedenen Vertreter*innen des Framing-Ansatzes darüber uneins, in welchem Verhältnis der kollektive Akteur der Bewegung und die psychischen (Deutungs-)Strukturen der einzelnen Bewegungsakteur*innen im Zuge der Konstruktion der Rahmen stehen. Zwar räumen auch Benford und Snow den einzelnen „movement actors“ (ebd., S. 613) eine Bedeutung ein, seien sie doch „signifying agents actively engaged in the production and maintenance of meaning“ (ebd.). Doch kritisieren sie zugleich die stärker auf das Individuum blickenden Auslegungen der Rahmenanalyse in Richtung eines psychologischen Verständnisses der zugrunde gelegten Schemata.36 Doch auch bei Benford und Snow entstehen die kollektiv verfassten Deutungsrahmen sozialer Bewegungen letztlich erst durch die An- und Abgleichung der Interpretationsschemata einzelner Akteur*innen:

35Benfords

und Snows anfangs stark rationalistisches Verständnis von Framing haben sie allerdings in späteren Arbeiten im Ansatz durchaus selbst durch eine Öffnung des Framing-Ansatzes für affektive und emotionale Aspekte erweitert (vgl. z. B. Snow und Oliver 1995; zum Überblick Benford und Snow 2000). 36In die Kritik geraten hier z. B. Johnston (1995) und Klandermans (1997a).

50

2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte … „Frames and schemas interact during the course of interaction between two or more individuals, with frames providing an interpretive ‚footing‘ that aligns schemas that participants to the interaction bring with them.“ (Benford und Snow 2000, S. 614, FN 3)

Es geht hier also durchaus um individuelle Rahmungen einzelner Akteur*innen, wenngleich diese vor allem in Hinsicht auf den Prozess ihrer Angleichung mit kollektiven Rahmen interessieren und zudem, wie Miethe bereits kritisiert hatte, als Interpretationsschemata rationalen Charakter haben. Wenn die Schemata der Einzelnen im interaktiven Prozess miteinander in Austausch treten und letztlich zu einem gemeinsamen kollektiven Rahmen führen, so ist aber zumindest von einem reziproken Verhältnis auszugehen, bei dem die ‚Frames‘ der Bewegung von ihren Mitgliedern beeinflusst und umgekehrt, die Einstellungen und Glaubenssätze der Mitglieder von der Bewegung verändert werden.37 So liegen in diesem Ansatz Einsatzstellen für die Frage nach biografischen Veränderungsprozessen also nicht nur in der sozialkonstruktivistischen Zugangsweise, mit der nicht mehr nur ‚objektive Strukturen‘, sondern vor allem Sinngebungsprozesse der Akteur*innen in den Blick geraten, sondern auch in den Angleichungs- und Abgrenzungsprozessen zwischen einzelnen Akteur*innen und der sozialen Bewegung als kollektiver Akteurin. Während die Begründer des Ansatzes aber in der Hauptsache an der Bedeutungskonstruktion von „movement specific frames“ (Benford und Snow 2000, S. 619) oder sogar einzelne Bewegungen übergreifenden „master frames“ (ebd.) interessiert sind – und sie dabei die Biografien Einzelner höchstens in Hinsicht auf die erwähnten Abgleichungsprozesse der Interpretationsschemata mit den Deutungsrahmen der Bewegung betrachten –, setzt Ingrid Miethe (1999) mit ihrer biografietheoretisch und erziehungswissenschaftlich verorteten Studie zu Frauen in der DDROpposition38 hingegen an der Schnittstelle von individuellen und kollektiven

37Auch der Framing-Ansatz ist eng verknüpft mit dem Konzept der ‚kollektiven Identität‘ – woran die Überschneidungen der verschiedenen Ansätze deutlich wird. Die kollektive Identität wird im Ansatz der Rahmenanalyse als kollektive „Bindung an Deutungsmuster und an Protestpraktiken“ (Pettenkofer 2010, S. 77) gefasst. Hellmann (1998a, S. 17) zufolge hat „die kollektive Identität einer sozialen Bewegung […] im Kern mit der Unterscheidung Wir/Die zu tun“, während der „entsprechende Frame […] die Aufgabe [hat], diese Unterscheidung als anschlußfähig zu installieren“. 38Miethes Studie kann als wegweisende Arbeit der deutschsprachigen, erziehungswissenschaftlichen Forschung und somit als Vorläuferin der in 2.3.2 vorstellten neuen erziehungswissenschaftlichen Zugänge zu sozialen Bewegungen gelten.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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Rahmenbildungsprozessen der Mitglieder einer oppositionellen Frauengruppe in der DDR und an der Frage nach deren Verhältnis an. Statt mit Benfords und Snows tendenziell eher soziokognitiven, rationalen Auslegung der Rahmenanalyse zu gehen, besinnt sich Miethe (1999) auf deren Ursprünge zurück und zieht Goffmans Rahmendefinition zurate. Ein Rahmen habe laut Goffman „Organisationseigenschaften“ (Goffman, zit. n. Miethe 1999, S. 47), die seinen Anwender*innen „im allgemeinen nicht bewußt“ (ebd.) seien, was jedoch seine „mühelos[e] und vollständig[e]“ (ebd.) Anwendung keinesfalls behindere. Goffman unterscheide zwischen einem solchen, primären Rahmen und seinen äußeren Schichten (vgl. Miethe 1999, S. 48). Letztere stellten die kognitiven Deutungsmuster – „gemeinsame Thematiken, Programmatiken, Einstellungen oder kognitive Deutungen“ (ebd.) – dar und entstünden durch Modulationen, die nötig seien, wenn neue Erlebnisse und Erfahrungen integriert werden müssten. „Nur bei einer Tätigkeit, die ganz innerhalb eines primären Rahmens definiert ist, ist dieser Rand mit dem Kern identisch“ (ebd.) Den Verweis auf die Vorreflexivität des ‚primären Rahmens‘ und seine relative Verschiedenheit vom stärker kognitiv geprägten ‚Rahmenrand‘ nimmt Miethe zum Ausgangspunkt ihrer methodisch-methodologischen Überlegungen. Ziel der Erforschung der Rahmen müsse es ihr zufolge sein, „analytisch die Konstruktionsprinzipien, die verschiedenen übereinander gelagerten Schichten“ (ebd.) aufzudecken, „um so dem primären Rahmen so nahe als möglich zu kommen“ (ebd.). Miethe legt hier also eine Erweiterung des Framing-Ansatzes vor, die eine stärkere Berücksichtigung individualbiografischer und vorreflexiver bzw. a-rationaler Aspekte beinhaltet. Miethe zufolge gelte es zunächst zu fragen, was dem Anschluss an eine politische Gruppe (respektive soziale Bewegung) vorangestellt ist, was also der biografische Ausgangspunkt des Engagements sei (vgl. 1999, z. B. S. 46). Sie nimmt damit eine biografietheoretische Perspektive ein, wie sie bislang lediglich bei McAdam (1989) anklang. Methodisch nähert sich Miethe diesem Vorhaben anhand von Interviews, von denen sie ausgewählte Einzelfälle nach Rosenthal als „hermeneutische Fallrekonstruktion“ (Miethe 1999, S. 63) auswertet. Ziel ist es, hier, die „Einzelbiographien in ihrer Gesamtgestalt“ (ebd., S. 57) zu rekonstruieren und davon „ausgehend Strukturgeneralisierungen und Typenbildung vorzunehmen“ (ebd., S. 63). Zusätzlich führte Miethe (1999, S. 62 f.) eine Gruppendiskussion, die sie mit der Dokumentarischen Methode hinsichtlich der „Interaktion der Teilnehmerinnen“ sowie des „sequentiellen Ablaufs der Gruppendiskussion“ (ebd.) auswertete. Auf diesem Wege arbeitet Miethe sowohl kollektive Handlungsrahmen (und ihre Kontexte) heraus sowie – auf der Ebene von Einzelfallanalysen – die sogenannte „biographische Grundstruktur“ ihrer Interviewpartnerinnen, deren Genese (vgl. Miethe 1999, S. 126 ff., 170 ff., 204 ff.) und die Art und Weise, wie die politische Aktivität in den Kontext der

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Familiengeschichte gesetzt wird (vgl. ebd. S. 113 ff., 164 ff., 198 ff.). Diese Analyse des Ineinanders der verschiedenen Ebenen ist höchst aufschlussreich, zeigt sie doch die komplexen Aushandlungsprozesse, die im Kontext des Engagements in sozialen Bewegungen zum Tragen kommen. Im Zuge der Typenbildung gerät das Verhältnis der Rahmungen und Handlungen einzelner Frauen und des jeweiligen kollektiven Rahmens in den Blick. Einen Fokus ihrer Typenbildung bildet z. B. die Frage, „welche Bedeutung der in der Gruppendiskussion interaktiv herausgebildete kollektive Handlungsrahmen für die jeweilige Frau hat“ (Miethe 1999, S. 234). So bringt sie eines ihrer empirischen Ergebnisse – hierbei geht es um die Gruppenprozesse der Frauen vor dem Mauerfall (vgl. ebd., S. 249 ff.) – folgendermaßen auf den Punkt: „Neue Frauen werden nur dann in die Gruppe aufgenommen, wenn sie bestehende Rahmen nicht infrage stellen, und alte Gruppenmitglieder werden ausgestoßen, wenn sich deren Position verändert“ (ebd., S. 255). So kommt es durch neue Mitglieder der Frauengruppe zwar zur „Rahmenerweiterung“ (ebd., S. 255), weil diese neue Themen „ermöglichen (Feminismus, Ökologie, Holocaust), es kommt aber nie zu einer Rahmentransformation“ (ebd.). Miethe kann so zeigen, wie der kollektive Rahmen (hier: seine relative Trägheit) Konsequenzen für die einzelnen Akteurinnen der Frauengruppe nach sich zieht und anhand ihrer Ausarbeitungen zu den Grenzen und Möglichkeiten der Rahmentransformation und Rahmenmodifizierung auch die Grenzen ‚des Akteurs‘ in politischen Gruppe aufzeigen. Im Fallvergleich arbeitet Miethe heraus, in welche biografischen, familiengeschichtlichen und politischen Rahmungen die Frauen ihre politische Aktivität stellen (vgl. Miethe 1999, z. B. S. 161). Hier zeigen sich sowohl die kollektive Einbettung bestimmter Muster in die offizielle politische Linie der DDR als auch die typischen Formen der intergenerationellen „Verarbeitungsmuster des Nationalsozialismus“ (ebd., S. 161), was Miethe dazu veranlasst zu konstatieren, sie habe „unbeabsichtigt die ‚68er des Ostens‘“ (Miethe 1999, S. 13) gefunden. Mit ihrem individuelle Biografien und kollektive Handlungsrahmen erfassenden Forschungsansatz kann sie also die biografische, sogar intergenerational geprägte Relevanz und Einbettung der Zugehörigkeit zur oppositionellen Frauengruppe nachzeichnen39 und zudem das Ineinandergreifen biografischer Erlebnisse und

39Hier

ist exemplarisch das Beispiel einer Frau zu nennen, bei der die Angst im Kontext von familiärer Gewalt sich kaum von jener im Kontext von staatlicher Gewalt unterscheiden lässt (Miethe 1999, S. 161), oder jenes einer anderen, die die oppositionelle Gruppe als sozialen Raum erfährt, der sie von tradierten Mustern befreit bzw. entlastet (vgl. ebd., S. 162) oder einer dritten, bei der mittels des politischen Engagements eine „Annäherung an die jüdische Familiengeschichte“ (ebd., S. 230) ermöglicht wird.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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politischer Rahmungen – und somit auch den Einfluss des ‚Persönlichen‘ auf das ‚Politische‘, die politische Ausrichtung der Frauengruppe – herausarbeiten.40 Miethe kann so die biografische Verortung des Engagements in der opposi­ tionellen Gruppe sowie deren Einfluss auf das Gruppenhandeln empirisch herausarbeiten und somit den Aspekt erhellen, wie die Akteur*innen ihre politischen Handlungen mit Sinn füllen und wie im kollektiven Rahmen neuer Sinn entsteht. Während Miethes Arbeit mit ihrer Kombination von Gruppendiskussion und biografischen Interviews das Ineinander von Kollektivität und Einzelbiografien sicherlich besser erfassen kann als ich es in der vorliegenden Studie tue, die ausschließlich auf biografischen Interviews basiert, nimmt aber auch sie die Biografien nicht hinsichtlich der Aufklärung des detaillierten Verlaufs von biografischen Veränderungsprozessen in den Blick, wie er im Fokus meines Forschungsinteresses steht.

2.3.2 Zur erziehungswissenschaftlichen Erforschung von biografischen Veränderungsprozessen im sozialen Bewegungsengagement Soziale Bewegungen sind „gerade durch ihren handlungsorientierten Charakter politischer Bildungsraum“ (Trumann 2014, S. 64; vgl. hierzu auch Maurer 2011, 2016; Bunk 2016 und Miethe und Roth 2016). Dass in sozialen Bewegungen tief greifende Prozesse stattfinden, die neben den kollektiven Einbindungen auch das Selbst- und Weltverhältnis einzelner Aktivist*innen berühren, wurde im vorangegangenen Unterkapitel (2.3.1), in dem es um die vermehrte Berücksichtigung einzelner Akteur*innen in der Bewegungsforschung im Nachgang der kulturellen Wende ging, bereits deutlich. In der vorliegenden Arbeit liegt das Augenmerk auf Bildungsprozessen, die in der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung als Transformationen des Selbst- und Weltverhältnisses (beginnend mit Marotzki 1990; vgl. ausführlich hierzu Kap. 3) gefasst werden und die ich in praxeologischen Perspektive als Transformationen des Habitus ausdeute (vgl. Abschn. 3.2.3.2). Bildungsprozesse und soziale Bewegungen halten Miethe und

40Alexander

Leistner (2016) unternimmt mit seiner Studie, die in vielerlei Weise an Miethes Arbeit anschließt, ein ganz ähnliches Unterfangen, Er zeichnet, ebenfalls auf der Grundlage von biografischen Fallanalysen, die auf biografischen Interviews basieren, die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen nach und nimmt dabei vor allem die Persistenz des Engagements von Akteur*innen in den Blick.

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Roth (2016, S. 20) für „untrennbar“ miteinander verwoben und gehen sogar soweit, Bildung als „zentrale Voraussetzung für die Teilnahme und Entstehung von sozialen Bewegungen“ (ebd.) zu bezeichnen.41 Das Potential der kollektiv strukturierten Handlungspraxis sozialer Bewegungen für biografische Veränderungsprozesse respektive Bildungsprozesse möchte ich im Folgenden aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive anhand von drei Studien weiter erhellen: Während Jana Trumann (2014) subjektorientierte Lernhandlungen im Kontext sozialer Bewegungen als erweiterte Weltverfügung durch gesellschaftliche Partizipation (Abschn.  2.3.2.1) fasst, stehen bei Siglinde Naumann (2008) kollektiv gelagerte Bildungsprozesse im Kontext von Heterogenität in Bürgerinitiativen, gefasst als Transformationen konjunktiv basierter Lebensorientierungen, im Zentrum der Aufmerksamkeit (Abschn. 2.3.2.2). Morvarid Dehnavi (2013) legt ihren Forschungsfokus auf biografische (Dis-)Kontinuitäten der Handlungsorientierungen im Zuge der politischen Sozialisation im Kontext der Studierendenbewegung von 1968 (Abschn. 2.3.2.3).42

41Allerdings

legen die Autorinnen dabei ein sehr weites Verständnis von Bildung an, in dem sie verschiedene Bildungsdefinitionen auf die Gemeinsamkeit ‚herunterbrechen‘, dass der Mensch „ganzheitlich (und nicht nur als rationale AkteurIn) in den Blick“ gerate und das „Augenmerk vor allem auf den Prozess der eigenen (inneren) Weiterentwicklung und Selbstdeutung anstatt lediglich auf die (kognitive) Sammlung von Wissen und Kompetenzen“ (Miethe und Roth 2016, S. 21) gelegt würde. In diesem Sinne umfassten die im Themenheft „Bildung und soziale Bewegungen“ des Forschungsjournal Soziale Bewegungen (4/2016) „untersuchten Bildungsprozesse […] auch Lernprozesse, da die Fähigkeit, lernen zu können, die Grundlage für Bildungsprozesse“ (Miethe und Roth 2016, S. 21) darstelle. Lernprozesse, die über die bloße Akkumulation von Wissen hinausgehen, werden hier also auch als ‚Bildung‘ gefasst. Auch wenn Miethes und Roths Verständnis von Bildung weiter gefasst ist als das der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegte Bildungsverständnis (vgl. ausführlich hierzu Kap. 3), so kann das Themenheft dennoch als deutliches Zeichen für ein Umdenken in der deutschen Erziehungswissenschaft und das Bemühen um eine beidseitige Bezugnahme von Bewegungsforschung und Erziehungswissenschaft gelten. 42Auch der maßgeblich US-amerikanisch geprägte Forschungszweig zum ‚Transformative Learning‘ (beginnend mit Mezirow 1978a u. b) kann etwas zum Thema erziehungswissenschaftlich relevanter biografischer Veränderungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen beitragen – nicht zuletzt, weil seine Ursprünge in der Durchführung und Auswertung von Lernangeboten liegen, die im Kontext der Frauenbewegung stattfanden (vgl. Mezirow 1978a, S. 102). Aus Gründen des Umfangs werde ich diesen Forschungsstrang hier nicht weiter ausführen, jedoch später auf den pädagogischen Ansatz des Transformative Learning zurückkommen (Abschn. 3.2.4). Zum Überblick über Studien zu Transformative-Learning-Prozessen im Kontext sozialer Bewegungen: Scott (1992); McDonald et al. (1999), Auretto (2001); Dirkx und Kovan (2003); Walter (2011); English und Peters (2012).

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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2.3.2.1 Subjektorientierte Lernhandlungen im Kontext sozialer Bewegungen als erweiterte Weltverfügung des Subjekts Jana Truman (2014) nähert sich dem Thema des Engagements in Bürgerinitiativen – welche sie angesichts ihrer Versuche des Einflusses auf sozialen Wandel theoretisch „in den Kontext sozialer Bewegungen“ (ebd., S. 61) einordnet – in ihrer Dissertation mit dem Titel „Lernen in Bewegung(en)“ von einer subjektwissenschaftlichen Perspektive. „Bürgerinitiativen auf kommunaler Ebene“ (ebd., S. 59) begreift sie als Teil von sozialen Bewegungen und betrachtet sie als informellen „politischen Bildungsraum“ (ebd., S. 64), in dem sich Lernen, im Unterschied zu organisierten Lehr-Lern-Settings, im „alltäglichen Lebenszusammenhang der Menschen“ (ebd., S. 59) vollziehe. Theorien der politischen (Erwachsenen-)Bildung, die Trumann als theoretischen Referenzpunkt hinzuzieht, kritisiert sie dahin gehend, dass ihnen oftmals „Lehr-Lern-Kurzschlüsse“ (ebd., S. 57) zugrunde liegen. Den in diesem Kontext geführten Diskursen zu politischer Partizipation und politischer Bildung bescheinigt sie zudem einen theoretischen Rahmen, der sich zu großen Teilen „auf die Vorstellungen einer repräsentativen Demokratie, d. h. der Regelung der allgemeinen Angelegenheiten durch wenige Stellvertreter für Viele“ (ebd., S. 55), beziehe und die eigene Programmatik dementsprechend an der „Kompetenzentwicklung der Bürger“ (ebd., S. 55) oder allenfalls an der Förderung „plebiszitärer Strukturen“ (ebd.) ausrichte, nicht aber die „vorhandenen Aktivitäten der Menschen […] und deren im alltäglichen Lebenszusammenhang oftmals nicht-verfassten politischen Partizipationsformen in den Blick“ (ebd., S. 56) nehme. Trumann (2014, S. 57) nähert sich den Bürgerinitiativen also mit einem nicht-institutionellen Politikverständnis und betrachtet sie, sich in ihrem Politikwie auch Lernverständnis am „Einflussbereich des jeweils Einzelnen“ orientierend, als einen informellen politischen Lern- und Handlungsraum. Damit schließt sie an den subjektwissenschaftlichen Ansatz Klaus Holzkamps (1995) an, wie er für die Erwachsenenbildung von Faulstich (2003), Faulstich und Zeuner (2005) und Zeuner (2005) fruchtbar gemacht wurde. Diesem Ansatz zufolge müsse eine „Außenperspektive“ auf das Lernen zugunsten „der Einnahme einer subjektorientierten Perspektive“ (Trumann 2014, S. 103) aufgegeben werden. „Handlungsproblematiken“ (ebd., S. 104), die sich den in Bürgerinitiativen Engagierten stellen, könnten mit Holzkamp zur „Lernproblematik“ (ebd.) und schließlich „Lernhandlung“ (ebd.) werden, die „expansiven oder defensiven Charakters sein“ (ebd., S. 105) könne. Während ‚defensives Lernen‘ eine Lernhandlung bezeichne, die „zur Abwehr von Beeinträchtigungen und Bedrohungen vollzogen wird, also

56

2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

vor dem Hintergrund einer erwarteten Einschränkung der individuellen Lebensqualität“ (ebd.), trägt das ‚expansive Lernen‘ hingegen dergestalt zur „Steigerung der individuellen Lebensqualität“ (ebd.) bei, als es mit einer „erweiterten Verfügung über Welt, also gesellschaftlicher Partizipation“ (ebd.) einherginge. So wird die „Gewinnung bzw. der Erhalt gesellschaftlicher Partizipation […] Zielperspektive subjektiver Lernprozesse und bindet diesen lerntheoretischen Ansatz in einen notwendigen übergeordneten Zusammenhang von Bildung ein“ (ebd., S. 107).43 Den expansiven Lernprozess, in dessen Zuge die Subjekte eine „Erweiterung des ‚personalen Aktionsradius‘ (Holzkamp)“ (Trumann 2014, S. 38) erreichen, sieht Trumann mit Holzkamp (zit. n. Trumann 2014, S. 107) „nicht nur als rein kognitiven Akt, sondern als aktiven Handlungsprozess des Subjekts“, mit dem Ziel „seine Lebensbedingungen aktiv umzugestalten“. Betont wird hier also die Handlung der Subjekte, die als Gestalter*innen ihrer Lebensbedingungen respektive deren Veränderungen erscheinen. So besteht ein Teil des expansiven Lernens auch darin, die eigene biografische Einbettung zu beleuchten; Holzkamp fasst dies als „biographische Reflexion“ (Trumann 2014, S. 110) der eigenen „Lebensverhältnisse“ (ebd.), der „bestimmten Vergangenheit, aus der meine gegenwärtige Befindlichkeit und meine zukünftigen Möglichkeiten erwachsen“ (Holzkamp, zit. n. ebd., S. 110). Dementsprechend versteht Truman das in ihrer Studie fokussierte Lernen als „Anschlusslernen in Bezug auf die jeweilig subjektiven lebensgeschichtlichen Erfahrungen“ (ebd., S. 113) und bringt es also – zumindest in theoretischer Hinsicht44 – mit der Biografie der Lernenden zusammen. Empirisch erfasst Trumann (2014, S. 143), „am Forschungsparadigma der Grounded Theory orientiert“, die Perspektive der Akteur*innen der untersuchten Bürgerinitiativen anhand von offenen teilnehmenden Beobachtungen und Gruppengesprächen. Während sie mit dem Erhebungsverfahren der teilnehmenden Beobachtung die untersuchten „Lernanlässe und Lernhandlungen“ „zwar im Inneren der Initiativen aber dennoch auch [aus; S.T.] einer Außenperspektive“ (ebd., S. 125) in den Blick bekäme, dienten ihr die Gruppengespräche als „methodische Herangehensweise zur Erfassung der subjektiven Begründungen von (Lern)Handlungen“ (ebd., S. 147), welche sie als unerlässlich

43Trumann

nimmt zwar keine Differenzierung zwischen Bildung und Lernen vor, deutet hier aber an, dass sich das expansive Lernen auf der Ebene bewegt, die in anderen Theorietraditionen als Bildung verstanden wird. 44In der empirischen Ausarbeitung kann ich die biografische Einbettung nicht mehr finden, wie ich weiter unten noch erläutern werde.

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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für das Verständnis der Lernhandlungen aus subjektwissenschaftlicher Perspektive begreift, würde doch im „Nennen von Gründen […] der Sinn dessen enthüllt, was getan wurde“ (Holzkamp, zit. n. Trumann 2014, S. 125). So hatte Trumann zwar, wie oben bereits erwähnt, den Prozess nicht als ‚rein kognitiv‘ gekennzeichnet, mit dem Fokus auf ‚Begründungen‘ richtet sie ihren eigenen Erkenntnisgewinn jedoch stark an rational-reflexiven Aspekten der Lernhandlungen aus bzw. fokussiert jene Lernhandlungen, die von den Lernenden selbst auch so formuliert und reflektiert werden können; obwohl in ihrer theoretischen Perspektive auf die Gegenpole von ‚Aktion‘ und ‚Reflexion‘ der – doch immer auch vorreflexiven – Handlungspraxis (in der ‚Aktion‘) eigentlich eine ebenso wichtige Rolle zukommt. Der genannte Unterschied zwischen ‚Aktion‘ und ‚Reflexion‘ bildet schließlich auch eine Achse ihres empirisch herausgearbeiteten „Kategoriensystems“ (ebd., S. 146), mit dem sie die „Koordinaten eines Lern-Handlungsraums Bürgerinitiative“ (ebd.) kennzeichnet.45 Trumann kann mit ihrer Studie die Vielschichtigkeit des Lernens in Bürgerinitiativen nachzeichnen und die Dimensionen dieses Lernens auf der Grundlage empirischer Ausarbeitungen strukturieren. Sie trägt somit maßgeblich zur Erhellung des ‚Lernraums Bürgerinitiative/soziale Bewegungen‘ und seiner Spezifik bei. Mit den ‚Schlüsselkategorien‘ des Lernens lassen sich im Kontext von Bürgerinitiativen verschiedene Formen des Lernens (in der Gruppe oder alleine; handelnd oder reflektierend) sowie eine ‚Haltung im Lernen‘ – wie ich dies hier fassen möchte – (‚aufnehmend‘ oder ‚weitergebend‘) klassifizieren. Doch geben diese – trotz des theoretischen Einbezugs der biografischen Dimension des Lernens, das in seiner expansiven Form angesichts des Kriteriums der „erweiterten Verfügung über Welt“ (Trumann 2014, S. 105) durchaus Ähnlichkeiten zum Bildungsverständnis der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung (vgl. Abschn. 3.2) aufweist – leider keinen Aufschluss über biografische Aspekte der Lernprozesse. So weist Trumann (ebd., S. 113) zwar auf die Bedeutung der „lebensgeschichtlichen Erfahrungen“ hin, schafft aber empirisch wenige Anknüpfungspunkte für meine Forschungsfrage nach der Prozesshaftigkeit biografischer Veränderungsprozesse. Aus einer praxeologischen Perspektive wäre der Betonung der Subjektivität dieser lebensgeschichtlichen Erfahrungen zudem eine ergänzende Perspektive darauf, inwiefern die individuellen Erfahrungen und ‚Lernprozesse‘ im Kontext sozialer Bewegungen zugleich

45Dieses

setzt sich zudem aus den Achsen „kooperativ, individuell“ und „aufnehmend, weitergebend“ (Trumann 2014, S. 146) zusammen, sodass Lernhandlungen im Kontext von Bürgerinitiativen anhand von „sechs Schlüsselkategorien“ (ebd.) bestimmt werden können.

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auch subjektübergreifende Gemeinsamkeiten aufweisen. Mit Ihrem Forschungsfokus auf den „subjektiven Begründungen von (Lern-)Handlungen“ (ebd., S. 147) fokussiert Trumann zudem vorrangig deren rational-reflexive Dimension. Trotz der nachvollziehbaren forschungsethischen Begründung für dieses Vorgehen, nämlich „die Erforschten als Mitforschende anzuerkennen und ihre eigenen Gründe zum zentralen Forschungsinteresse zu machen“ (Trumann 2014, S. 126), läuft der Fokus auf die reflexiv verfügbaren Begründungen der Akteur*innen Gefahr, auf einer inhaltsanalytischen Ebene und damit bei den „subjektiven Sinnzuschreibungen“ (Nohl 2006, S. 50) der Akteur*innen zu verbleiben. Demgegenüber ist es das Ziel der dokumentarischen Forschungspraxis, „einen Zugang zur Wirklichkeit zu finden, die weder jenseits des Akteurswissen als objektiv definiert wird noch sich im subjektiv gemeinten Sinn der Akteure […] erschöpft“ (ebd.; vgl. ausführlicher hierzu Kap. 4). Einen solchen Zugang zu dem in die Handlungspraxis eingelassenen impliziten Wissen der Akteur*innen suchen die Studien von Siglinde Naumann (2008) und Morvarid Dehnavi (2013), die ich in den folgenden beiden Abschnitten diskutieren werde.

2.3.2.2 Transformationen konjunktiv basierter Lebensorientierungen im Kontext des Umgang mit Heterogenität in Bürgerinitiativen Siglinde Naumann (2008) legt in ihrer Dissertation mit dem Titel „Heterogenität und Bildungsprozesse in bürgerschaftlichen Initiativen“ eine akteursbezogene, praxeologisch-wissenssoziologische Perspektive auf die kollektive Handlungspraxis von Gruppen im bürgerschaftlichen Engagement an.46 Ihr Forschungsfokus liegt auf dem kollektiven Umgang der Akteur*innen bürgerschaftlicher Initiativen

46Wie

auch Trumann dies für ihr Sample hervorgehoben hatte, so zeigen sich angesichts ihres (anfangs) teils informellen Charakters und Bezugs zu sozialen Bewegungen doch deutliche Überschneidungen der von Naumann untersuchten bürgerschaftlichen Initiativen mit den linken und linksradikalen Bewegungen, wie ich sie in der vorliegenden Arbeit untersuche. Zwar zählt Naumann die Bürgerinitiativen nicht per se zum Feld der sozialen Bewegungen, verweist aber darauf, dass für einige der untersuchten Gruppen soziale Bewegungen „als konstitutiv […] anzusehen sind“ (Naumann 2008, S. 343). Dies wird auch anhand der Beschreibung ihrer Fallgruppen deutlich, wenn sie beispielsweise konstatiert, die Gruppe „Ibbenbürener Revivalband’“ (ebd., S. 161) habe sich ursprünglich aus Musiker*innen aus dem „Umfeld verschiedener Wohngemeinschaften“ (ebd.) zusammengesetzt, die sich als Teil einer „‚Alternativ-Szene‘“ (ebd.) begriffen und sich u. a. auch in „der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung“ (ebd.) engagierten – um hier nur ein Fallbeispiel zu nennen.

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mit Diversität. Auf der Grundlage von Gruppendiskussionen, die Naumann mit der Dokumentarischen Methode interpretiert, rekonstruiert sie relevante Heterogenitätsdimensionen, die in den Initiativen vorliegen und sowohl „konjunktive Erfahrungsdimensionen, die sich auf das gemeinsame Erleben in den Initiativen bezogen“, als auch „personenbezogene Erfahrungsdimensionen“ (Naumann 2008, S. 326) umfassen – zu letzteren zählt sie nicht nur „Geschlecht“ und „Alter“, sondern auch das „Berufs- und […] Bildungsmilieu“ sowie „Herkunft“, „Migrationshintergrund“ und „ökonomische Lage“. Auch letztere verweisen – wenn auch abseits der Bürgerinitiativen – ihrerseits deutlich auf kollektive Einbettungen. Die von Naumann so herausgearbeiteten sechs „habituellen Muster des Umgangs mit Heterogenität“ (ebd., S. 325) beziehen sich auf „den Umgang der Akteure miteinander, also innerhalb der Gruppen“ (ebd., S. 326), sowie auf den heterogenitätsbezogenen Umgang der Initiativen im Verhältnis zu ihrer „Umwelt“ (ebd.). Naumann kann sie zu zwei sinngenetischen – d. h. auf „die Sinnmuster, an denen sich die jeweilige Handlungspraxis orientiert“ (ebd., S. 120),47 bezogenen – (Grund-)Typen des Umgangs mit Diversität zusammenfassen: Einer „Abwehr der Auseinandersetzung mit Differenzerfahrungen durch Heterogenität“ (ebd., S. 332) steht dabei der Modus „einer positiven Konnotation von Differenzerfahrungen durch Heterogenität“ (ebd.) gegenüber. Zwar steht das Thema des Umgangs mit Heterogenität nicht im Fokus meines Forschungsinteresses, für das Verständnis von Naumanns Zugang zu biografischen Lern- und Bildungsprozessen, die sich im Kontext des bürgerschaftlichen Engagements vollziehen – was wiederum den unmittelbaren Fokus meiner eigenen Arbeit darstellt –, sind Naumanns diesbezügliche Rekonstruktionen jedoch unerlässlich. Die Lern- und Bildungsprozesse der einzelnen Mitglieder rekonstruiert sie nämlich (nur) hinsichtlich ihrer Relation zu den beiden genannten Grundtypen des kollektiven Umgangs mit Differenz – und konstatiert diesbezüglich, die rekonstruierten habituellen Muster korrespondierten „mit den Chancen der Mitglieder der untersuchten Gruppen, Lern- und Bildungsprozesse zu durchlaufen“ (ebd., S. 35). Mit ihrem Verständnis von Lern- und Bildungsprozessen bezieht sich Naumann auf Winfried Marotzkis (1990) „strukturale Bildungstheorie“, die ihrem eigenen, „qualitativen Forschungsanliegen“ (Naumann 2008, S. 90) insofern zupass käme, als sie eine Definition liefere, „die formal genug ist, empirische Forschung zu strukturieren, ohne ihren Erkenntnissen vorzugreifen“ (ebd.).

47Vgl. zur

sinngenetischen Typenbildung sowie zu anderen Formen der Typenbildung mit der Dokumentarischen Methode auch Abschn. 4.2.2.3 in der vorliegenden Arbeit.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Marotzkis Bildungsverständnis, dem die Unterscheidung zwischen rahmenbestätigendem Lernen und rahmentransformierender Bildung zugrunde liegt,48 (re)formuliert Naumann auf ihr Forschungsinteresse am Umgangs mit Heterogenität bezogen als Unterscheidung zwischen „Formen eines eher bestätigenden Umgangs mit ‚Irritationen‘ und Differenz“ (ebd., S. 92; Kursivsetzung S.T.) auf der einen und (heterogenitätsbezogenen) „Prozessen, die auf eine Transformation von Lebensorientierungen angelegt sind“ (ebd.), auf der anderen Seite.49 Eine theoretische Grundlage der Dokumentarischen Methode stellt Karl Mannheims (1995) Konzept der „‚Seinsverbundenheit des Wissens‘“ dar (vgl. hierzu auch Abschn. 4.1 in der vorliegenden Arbeit). Dezidiert hierauf Bezug nehmend betont Naumann (2008, S. 101) die Bedeutung von Mannheims Konzept der konjunktiven Erfahrungsräume „als konstitutive Praxis für das Handeln, durch das wiederum die gemeinsame soziale Realität in den untersuchten Initiativen“ entstehe, auch für die Bildungsprozesse. Deren kollektive Verfasstheit hervorhebend, kennzeichnet sie Bildungsprozesse nicht nur als „Transformationen konjunktiv basierter Lebensorientierungen“ (ebd., S. 367), sondern zuweilen auch als „Transformation konjunktiver Erfahrungen“ (ebd., S. 93). Die Bildungsprozesse selbst siedelt sie dennoch in den einzelnen Akteur*innen an.50 Ein Befund ihrer Studie ist es schließlich, „dass Unterschiedlichkeit in bürgerschaftlichen Initiativen nicht per se zu Bildungsprozessen führt“ (Naumann 2008, S. 346), sondern diese im empirischen Material ihrer Studie lediglich in Relation mit dem habituellen Muster einer positiven Konnotation von Heterogenität zu finden waren (vgl. ebd., S. 353). Leider arbeitet sie die Bildungsprozesse jedoch empirisch weitaus weniger detailliert heraus als die habituellen Muster des Umgangs mit Heterogenität. Dies mag daran liegen, dass sie mit den geführten Gruppendiskussionen besser an die konjunktiven Erfahrungen der Initiativmitglieder herankommt als an ihre „individuellen Lernverläufe“ (ebd., S. 374) – wie

48Vgl. zu

Marotzkis Bildungstheorie ausführlich Abschn. 3.2.1. Bezug auf Lernprozesse nimmt Naumann zudem vielfältige Anschlüsse an Debatten aus dem Kontext der Erwachsenenbildung und hier insbesondere an Diskurses zum ‚lebenslangen Lernen‘, welche ich jedoch angesichts dessen, dass mein eigener Fokus auf den rahmentransformierenden Prozessen von Bildung liegt, nicht weiter referiere. 50Denkbar wäre bei der Rede von der Transformation konjunktiver Orientierungen bzw. Erfahrungen auch ein Bildungsverständnis gewesen, das auf die Bildung eines Kollektivs, d. h. auf eine kollektive Transformation im Zuge einer Veränderung der konjunktiven Handlungspraxis abzielt. 49In

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Naumann in ihrem Ausblick selbst anmerkt und dies als wünschenswerte Ergänzung für eine Anschlussforschung kennzeichnet. Zudem ist zu fragen, ob Naumann (an dieser abschließenden Stelle ihrer Arbeit) nur zufälliger Weise lediglich von ‚Lernverläufen‘ spricht (ohne Bildungsverläufe zu erwähnen), oder ob dies nicht vielmehr einer Ungenauigkeit in der empirischen Herausarbeitung der Prozesse geschuldet ist. In den von ihr als Bildung bezeichneten Prozessen ist m. E. auch nicht immer die grundlegende Transformation zu sehen, die sie konstatiert; z. B. spricht sie von einer „Transformation von Lebensorientierungen“ (ebd., S. 351), wenn „sich die Akteurinnen während der Gruppentreffen mit relevanten tagespolitischen Themen unterschiedlicher Länder auseinandersetzten und ihren Perspektivenreichtum zur Erhellung politischer Fragen nutzten“ (ebd.). Was für mich eher danach klingt, als hätten die Akteur*innen im kollektiven Austausch das jeweils eigene Wissen erweitert, fasst Naumann – im Einklang mit den Eigentheorien der Akteur*innen, die eine neue „Weltsicht“ (ebd.) konstatieren – als Bildung. Ich möchte mir nicht anmaßen, hier (k)einen Bildungsprozess zu behaupten, sondern lediglich anmerken, dass die Prozesse von Naumann nicht detailliert genug dargestellt werden, als dass sie wirklich nachvollziehbar würden. Dies mag, wie bereits angemerkt, aber nicht zuletzt methodische Ursachen haben, da biografische Verläufe anhand von Gruppendiskussionen schlecht erfassbar sind (vgl. Kap. 4). Naumann vermag mit ihrer Studie vielschichtige Zusammenhänge verschiedener Erfahrung- bzw. Heterogenitätsdimensionen im Kontext bürgerschaftlicher Initiativen, konjunktiver Orientierungen des Umgangs mit ihnen sowie – kollektiv gelagerter, aber sich dennoch im einzelnen Akteur vollziehender – (biografischer) Lern- und Bildungsprozesse im Engagement zu rekonstruieren. Ihre Arbeit kann für meine Untersuchung insofern in vielfältiger Hinsicht als beispielhaft für die Erforschung von politischem Engagement in (in weiterem Sinne) sozialen Bewegungen unter einer akteursbezogenen Perspektive und mit dem Fokus auf der Handlungspraxis von Akteure*innen und dem in sie eingelagerten impliziten Wissen gelten. Obwohl Naumann auf diese Weise vielfältige Formen des Lernens und der Bildung benennen kann, bekommt sie aber, wie erwähnt, keinen ausreichenden Zugriff auf die biografische Dimension der Prozesse und insbesondere nicht auf deren Verlauf – oder gar Phasenhaftigkeit, wie er im Zentrum meines Erkenntnisinteresses steht. Die biografische Prozesshaftigkeit hingegen kann Dehnavi (2013), auf deren ebenfalls mit der Dokumentarischen Methode erstellte Studie ich im Folgenden eingehe, besser erfassen.

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2.3.2.3 Biografische (Dis-)Kontinuitäten der Handlungsorientierungen im Zuge der politischen Sozialisation im Kontext der Studierendenbewegung von 1968 Morvarid Dehnavi (2013), die in ihrer Dissertation mit dem Titel „Das politisierte Geschlecht. Biographische Wege zum Studentinnenprotest von ‚1968‘ und zur Neuen Frauenbewegung“ ebenfalls die Dokumentarische Methode anwendet und akteursbezogen auf das Bewegungsengagement blickt, anders als Naumann aber biografisch-narrative Interviews führte, kann mit diesem Erhebungs- und Auswertungsverfahren die Leerstelle der einzelnen biografischen Verläufe im Kontext des politischen Engagements besser erfassen. Dehnavi legt in ihrer Studie eine akteursbezogene, biografische Perspektive auf Prozesse „politischer Sozialisation von Frauen, die sich als Studentinnen im Kontext der Studentenbewegung in einer Frauengruppe engagierten und Geschlecht zu einem Politikum machten“ (Dehnavi 2013, S. 37) an, die sie zudem in den zeithistorischen Kontext einbettet. Ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt sie die Frage nach dem biografischen Zustandekommen der genannten Zusammenschlüsse und der in ihrem Kontext vollzogenen Politisierung von Geschlechterverhältnissen. Anhand der biografischen Erzählungen der Frauen rekonstruiert sie unmittelbar und mittelbar politisch-relevante „Handlungsorientierungen“ (ebd., S. 37), die „das politische und insbesondere das geschlechtspolitische Handeln dieser Frauen strukturieren“ (ebd.). Diese Handlungsorientierungen selbst, die im Sinne der Dokumentarischen Methode und ihrer Methodologie, wie schon in Bezug auf Naumanns Studie gesehen, zu großen Teilen als implizites, in die (kollektiv strukturierte) Handlungspraxis der Akteur*innen eingelassenes Wissen zu verstehen sind (vgl. hierzu ausführlich Kap. 4 der vorliegenden Arbeit), betrachtet Dehnavi wiederum „als Ergebnis von Politisierungsprozessen“ (ebd.). Ihre empirischen Rekonstruktionen der Politisierungsprozesse der einzelnen Frauen ergänzt sie durch die Ergebnisse zeithistorischer Kontextbeschreibungen, vor deren Hintergrund die Handlungsorientierungen der Frauen in den Kontext der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu zeitspezifischen „Lebenswelten“ (ebd.) eingeordnet werden können. Ziel der Verknüpfung dieser beiden Zugänge ist es, anhand einer Kontextbeschreibung zunächst „eine dichte Beschreibung der Rahmenbedingungen“ (ebd., S. 376) zu erarbeiten, um dann „mithilfe der Dokumentarischen Methode die Interaktionsprozesse und Entstehung von Handlungsorientierungen historischer Individuen in ihren jeweiligen Bedingungsgefügen zu verstehen“ (ebd.). Zwar legt Dehnavi (2013, S. 72) einen besonderen Fokus auf der Rolle der Universität als Ort der Politisierungsprozesse, jedoch rekonstruiert sie letztere

2.3  Einzelne Akteur*innen und ihre biografischen …

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am empirischen Material nicht nur im Rahmen der universitären Erfahrungen der Frauen, sondern im Kontext jeglicher „Sozialisationsinstanzen“, d. h. „Familie, Peer-group und Jugendorganisation, Schule, Universität“; eine Politisierung könne ihr zufolge „in allen Lebensphasen und in allen Sozialisationskontexten“ (ebd., S. 75) stattfinden. Den Begriff der Politisierung verwendet sie dabei – in Anlehnung an Claußen – „synonym mit dem Begriff der politischen Sozialisation“ (Dehnavi 2013, S. 78). Ihr Verständnis des ‚Politischen‘ ist, stärker noch als bei Trumann, ein weit gefasstes, das es nicht nur erlaubt, die nicht-institutionalisierten Formen politischer Partizipation (vgl. Trumann 2014, S. 56), sondern auch andere „subtile politische Bedingungen“ (Dehnavi 2013, S. 159) zu erfassen, „in denen Erfahrungen gesammelt werden und die auf den ersten Blick nicht viel mit Politik zu tun haben“ (ebd.), die „jedoch zur Sensibilisierung für politisch-relevante Themen“ (ebd., S. 353) beitragen. Mit diesem Fokus auf die „ungezielte und informelle Aufnahme von politisch relevanten Inhalten“ (ebd., S. 75) kann Dehnavi auch Prozesse erfassen, die sich jenseits des expliziten Bezugs auf ein politisches System und seine institutionalisierten Formen von Politik bewegen und bei denen sich hingegen in der Handlungspraxis der Akteur*innen Thematiken abzeichnen, die für die Akteur*innen selbst – manchmal früher, manchmal später – politische Relevanz entfalten.51 Dementsprechend unterscheidet Dehnavi dann auch empirisch „manifeste“ (ebd., S. 354) und „latente“ (ebd., S. 355) Prozesse der Politisierung voneinander, wobei erstere unmittelbar in eine politisierte Handlungsorientierung münden, während letztere lediglich mittelbar politisch relevant werden, in dem Sinne, dass sie eine Art Erfahrungsbasis darstellen, an die später politisch angeknüpft wird. Dehnavi bekommt auf diese Art und Weise biografische Aspekte in den Blick, die nicht unbedingt unmittelbar und in erster Linie politisch sind und deren (spätere) politische Relevanz mit engen Verständnissen des ‚Politischen‘ nicht erfasst würden. Auch anhand des Sozialisationsbegriffs betont sie den Fokus auf eine in die selbstläufige (Alltags-)Handlungspraxis und Sozialstruktur eingelassene Verinnerlichung politisch relevanter Orientierungen, um die es auch mir in der vorliegenden Arbeit geht. Jedoch nimmt Dehnavi mit ihrem alle Lebensphasen umfassenden Sozialisationsverständnis keine qualifizierende Differenzierung der Prozesse in verschiedenen Lebensaltern vor und so rangieren die (primär- und sekundärsozialisatorisch) erworbenen, ersten (politischen) Orientierungsrahmen in der Kindheit letztlich auf derselben Ebene wie Prozesse, die in und nach der

51Vgl.  zu einem solchen weiten Begriff des ‚Politischen‘ auch Abschn. 3.1 der vorliegenden Arbeit.

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Adoleszenz im Erwachsenenalter stattfinden.52 Mit der von Dehnavi vorgenommenen Synchronisierung von politischer Sozialisation mit Politisierung könnten zudem Differenzierungsmöglichkeiten verloren gehen, jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass nicht jeder Prozess, in dem eine politische Orientierung ausgebildet wird, zugleich auch als Politisierung verstanden werden muss – politische Orientierungen könnten sich ja z. B. auch durch eine Ablehnung des ‚Politischen‘, also als ‚Nicht-Politisierung‘ auszeichnen, weshalb sie aber in dem Sinne, dass sie dennoch eine Art und Weise des Sich-in-Bezug Setzens zum ‚Politischen‘ darstellten, m. E. nicht weniger als politische Orientierung gelten sollten.53 Gemäß ihrem Fokus auf universitäre Politisierungsprozesse unterscheidet Dehnavi in ihren empirischen Rekonstruktionen die im Kontext aller anderen, der Universität vorgängigen Sozialisationsinstanzen gemachten politisierungsrelevanten Erfahrungen von jenen aus der Zeit des Studiums. Auf der Grundlage dieser Zweiteilung arbeitet sie zwei sinngenetische Typiken54 heraus, mit denen sie sowohl für die voruniversitäre als auch für die universitäre Phase jeweils verschiedene (geschlechts-)politische Handlungsorientierungen typisieren und teils auch miteinander in Relation setzen kann. Durch letzteres deuten sich zudem biografische Kontinuitäten und Diskontinuitäten an, die aus Dehnavis Blickwinkel auf Prozesse politischer Sozialisation beide gleichermaßen von Interesse sind, da sie mit dieser theoretischen Perspektive ja jegliche Aspekte, die ein politisches Moment ins Leben der Akteur*innen bringen, zu erfassen sucht. Während Dehnavi also auch diejenigen Prozesse rekonstruiert, bei denen der Anschluss an eine politische Frauengruppe der Studierendenbewegung im universitären Kontext maßgeblich von biografischer Kontinuität geprägt ist, geht es mir in meiner Untersuchung nur um solche Lebensgeschichten, in denen der

52Man

muss für Prozesse, die an die sozialisatorische Ausbildung erster Grundorientierungen anschließen, nicht notwendigerweise den Bildungsbegriff anlegen, wie ich dies in der vorliegenden Arbeit tue, um diese verschiedenen (Sozialisations-)Instanzen qualitativ zu unterscheiden. Eine Differenzierung, die den verschiedenen Qualitäten der Prozesse in verschiedenen Lebensaltern (nicht nur empirisch – wo Dehnavi zumindest den Unterschied zwischen universitärer Sozialisation und allen ihr vorgängigen Instanzen vornimmt –, sondern auch theoretisch) Rechnung trägt, hielte ich dennoch für sinnvoll. 53Ich denke hier u. a. auch an (jugend-)kulturelle Einbindungen, in denen sich bereits politische Orientierungen abzeichnen, die aber nicht unbedingt im expliziten Sinne als ‚politisiert‘ gelten können (vgl. Pfaff 2006, auf deren Ergebnisse ich im Kap. 8 noch eingehen werde). 54Vgl. zur Typenbildung mit der Dokumentarischen Methode Abschn. 4.2.2.3 in der vorliegenden Arbeit.

2.4 Zusammenfassung

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Kontakt zu einer sozialen Bewegung etwas biografisch Neues hervorbringt. Aus dieser von mir gewählten, spezifischen Perspektive rückt insbesondere der von Dehnavi empirisch herausgearbeitete Typus, bei dem die universitäre Phase mit einer „Distanzierung zur eigenen bereits entwickelten oder angestrebten Lebensweise“ (Dehnavi 2013, S. 260) einhergeht, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Dehnavi konstatiert in Bezug auf die drei betreffenden Biografien, die sie diesem Typus zuordnet, dass die Universität für diese Frauen ein „Ort gravierender Lebensveränderungen“ (ebd., S. 357) sei. Empirisch arbeitet sie heraus, wie die drei Frauen im Kontext der politischen Frauengruppe an der Universität Abstand von ihrer bisherigen ‚Lebensweise‘ und den damit einhergehenden Handlungsorientierungen nehmen. So zeigt Dehnavi an diesen drei Biografien etwas auf, worauf ich in der vorliegenden Arbeit meinem Fokus lege: Die Transformation biografisch ausgebildeter, impliziter und handlungsleitender Wissensstrukturen. Dehnavi erfasst so also biografische Transformationen im Kontext der Politisierung im Kontext einer sozialen Bewegung, rahmt dies jedoch nicht bildungstheoretisch und rekonstruiert dies Transformationen, ihrem Forschungsfokus geschuldet, zudem nicht im Hinblick auf ihren phasenhaften Verlauf, wie er im Zentrum meines Forschungsvorhabens steht.

2.4 Zusammenfassung Soziale Bewegungen gelten in der einschlägigen Forschung als kollektive Netzwerke, in denen Protest auf Dauer gestellt wird (vgl. z. B. Hellmann 1998a; Rucht und Neidhardt 2007). Sie haben ein soziales Umfeld, das – zumindest in Bezug auf die linksradikalen Bewegungen der Autonomen, der ‚Antifa‘ und der Hausbesetzer*innen, zu denen sich die Interviewpartner*innen der vorliegenden Studie in der Hauptsache zählen – nicht nur aus Sympathisant*innen besteht, sondern sich zudem durch einen kollektiven Raum der alltäglichen Lebensführung auszeichnet, in dem politische Werte handlungspraktisch umgesetzt und ‚gelebt‘ werden und so neue kollektive Handlungspraxen und Normen entstehen (vgl. Pettenkofer 2010, S. 67 f.). Soziale Bewegungen und die mit ihnen einhergehenden ‚Räume‘ alltagsweltlicher Handlungspraxen können also als soziale Handlungs- und Wissenszusammenhänge gelten, in denen kollektiv geteiltes Wissen in seiner impliziten, d. h. nicht vollends reflexiv verfügbaren Form entsteht und reproduziert wird – sie haben demzufolge auch Milieucharakter. Mit meinem Forschungsfokus auf Bildungsprozesse – gefasst als Transformationen des Habitus (zum Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit vgl. Abschn. 3.2.3.2) – mache ich den Milieucharakter sozialer Bewegungen stark und nehme das in

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

diesem spezifischen Milieu (re)produzierte und transformierte implizite Handlungswissen der einzelnen Akteur*innen zum Ausgangspunkt meiner Rekonstruktionen. Während die einzelnen Biografien der Ausgangspunkt sind, ist das Ziel meiner Rekonstruktionen jedoch die überindividuelle Typisierung der Phasen dieser biografischen Transformationen, wobei die transformierte Struktur des Habitus, der als gesellschaftliches Produkt eine Aufteilung in subjektive und objektive Anteile nicht zulässt, als ein sich in den einzelnen Akteur*innen ‚niederschlagendes‘ kollektives Wissen gelten kann (vgl. Abschn. 3.2 und 4.1.3). In der Geschichte der Bewegungsforschung kamen einzelne Akteur*innen und ihre Biografien lange Zeit nicht vor – und so auch keine biografischen Veränderungsprozesse. Im ersten Teil des 20. Jahrhunderts im Kontext des Symbolischen Interaktionismus entstandene sozialpsychologische Theorien, die in sozialen Bewegungen eine von mehreren Formen des Kollektivverhaltens sehen (vgl. z. B. Blumer 1939, Turner und Killian 1957), können Aufschluss über situative Dynamiken von Protest geben. Doch rückten hier zumeist Themen wie ‚Aufruhr‘ und ‚Gruppengewalt‘ ins Zentrum. Soziale Bewegungen erscheinen so tendenziell irrational und der Norm entgegenstehend. Zwar kann es als Verdienst dieser Ansätze gelten, dass sie Protest als Resultat von Unzufriedenheit verstehen, mit ihrem Fokus auf situativ entstehende, kollektive Affekte geben sie jedoch wenige Anknüpfungspunkte für eine Perspektive auf biografische Veränderungsprozesse, die Devianz und Normabweichung – wenngleich durchaus auch ein Thema insbesondere radikaler Bewegungen –, nicht zentral stellt. Ebenso wenig allerdings bieten die im Anschluss – quasi als Gegenbewegung – aufkommenden Ansätze, mit denen die rational-strategischen, organisationalen und soziostrukturellen Aspekte von Bewegungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten (vgl. etwa Olson 200255; McCarthy und Zald 1977; Eisinger 1973; Tarrow 1983), einen Zugang zu der von mir untersuchten Thematik. Individuelle Akteur*innen und ihre Biografien kennt diese meso- bis makrosoziologisch ausgerichtete Perspektive, die die US-amerikanische Erforschung sozialer Bewegungen über weite Strecken dominierte, kaum. Zudem spielen die vorreflexiven Aspekte, die mit dem Blick auf das ‚Kollektivverhalten‘ überbetont wurden, hier keine Rolle und das Engagement erscheint zuvorderst als rationale Kosten-Nutzen-Abwägung. Auch der im europäischen Raum entstandene Forschungsansatz der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ (vgl. für viele Raschke 1985, Melucci 1988, Rucht 1988), der vor allem an der historischen Einordnung und Bedeutung der im Zuge und

55Die

Erstausgabe erschien 1965.

2.4 Zusammenfassung

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Nachgang der 1968er-Bewegung aufkommenden Protestbewegungen interessiert war und sozialstrukturelle Analysen ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellte, lieferte nur am Rande – durch seinen Bezug auf das Modernisierungstheorem – Hinweise auf „kulturell-persönliche“ (Hellmann 1998a, S. 15) Aspekte und die „Motivation“ (Miethe 1999, S. 42) einzelner Akteur*innen. Eine Erweiterung in Richtung einer verstärkten Berücksichtigung von einzelnen Akteur*innen und ihrer biografischen Erfahrungen und Veränderungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen brachte in der US-amerikanischen Erforschung sozialer Bewegungen schließlich die ‚kulturelle Wende‘ mit sich. Als einer der ersten machte McAdam (1989, S. 758) die teils umfassende Tragweite biografischer Veränderungen im Bewegungsengagement deutlich. Er kann anhand seiner Studie jedoch ‚nur‘ das Ergebnis der Prozesse konstatieren und den Prozess auf der Ebene der Sinnkonstruktionen der Akteur*innen nicht erhellen. Dahin gehend, dass das Engagement in sozialen Bewegungen Folgen für die Aktivist*innen zeitigt, sind sich die in der Folge entstandenen Arbeiten, die (auch) die individuelle Seite des Engagements beleuchten, übergreifend einig. Emotionssoziologische (zum Überblick: Goodwin et al. 2000, 2001) und neuere sozialpsychologische Ansätze (beginnend u. a. mit: Tajfel 1981; Ferree und Miller 1985; Andrews 1991) nehmen dabei die Rolle von Gefühlen und (psychisch verfassten) Identitäten – in ihrem Zusammenspiel mit Biografie(n), kollektiven Gruppen und Kultur sowie strukturellen Aspekten – in den Blick und nähern sich auf diesem Wege (auch) der ‚Innerlichkeit‘ der Prozesse. Der sozialkonstruktivistische Framing-Ansatz (beginnend mit Snow et al. 1986) gibt Einblicke in die kollektive Rahmung von sozialen Bewegungen, wobei seine sozialpsychologische (vgl. z. B. Klandermans 1997a u. b) und erziehungswissenschaftlichbiografetheoretische (Miethe 1999) Auslegungsweisen dabei dem Abgleich der kollektiven Rahmungen mit den individuellen Deutungsrahmen einzelner Akteur*innen mehr Aufmerksamkeit schenken. Das Potential der kollektiven Handlungspraxis von sozialen Bewegungen für biografische Veränderungsprozesse respektive Bildungsprozesse wurde kürzlich von mehreren deutschsprachigen Erziehungswissenschaftler*innen in den Blick genommen (vgl. z. B. Naumann 2008; Maurer 2011, 2016; Dehnavi 2013; Trumann 2014; Bunk 2016; Leistner 2016). So sind im Kontext von sozialen Bewegungen beispielsweise subjektorientierte Lernhandlungen, die eine erweiterte Weltverfügung mit sich bringen (vgl. Trumann 2014), zu konstatieren, sowie kollektiv gelagerte Bildungsprozesse (als Transformationen konjunktiver Lebensorientierungen), die mit einer bestimmten Form des Umgang mit Heterogenität einhergehen (Naumann 2008). Während mit dem subjektorientierten Ansatz der erst genannten Studie durchaus Verbindungslinien zum

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2  Soziale Protestbewegungen als Kontexte …

Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit hergestellt werden können, hier aber aus einer praxeologischen Perspektive der Fokus von Trumann (2014) auf der Reflexivität der Prozesse zu kritisieren ist, ist die letztgenannte Studie (Naumann 2008) in derselben Forschungsmethodik und Bildungstradition wie die vorliegende Studie verortet, kann allerdings angesichts des angewandten Erhebungsverfahrens der Gruppendiskussion die Prozesshaftigkeit der Bildungsprozesse nicht nachzeichnen. An letztere kommt hingegen Dehnavis (2013) Studie, die sich dem Thema ebenfalls mit einer praxeologischen, auf das implizite Handlungswissen fokussierenden Perspektive nähert, heran. Da Dehnavi ihren Forschungsfokus neben biografischen Veränderungen jedoch auch auf biografische Kontinuitäten der Handlungsorientierungen der Akteur*innen im Zuge der politischen Sozialisation legt und zudem deren zeithistorische Einordnung vornimmt, steht auch bei ihr der detaillierte (oder gar phasenhafte) Ablauf der biografischen Veränderungsprozesse, wie ich sie fokussiere, nicht im Zentrum. Während die Literatur zu sozialen Bewegungen Aufschlüsse über die Spezifik sozialer Bewegungen – auch als sozialer Raum für biografische Veränderungsprozesse – geben kann, gilt es im Folgenden (Kap. 3) also, in Arbeiten der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung, die nicht (unbedingt) auf den Bereich sozialer Bewegungen bezogen sind, Genaueres über die prozesshafte Verfasstheit von Bildung in Erfahrung zu bringen; diese ist jedoch wiederum auch mit dem Thema der Politizität und Normativität von Bildung zu konfrontieren, wie sie sich sowohl im Hinblick auf den normativ aufgeladenen Gegenstandsbereich der sozialen Bewegung als auch im Kontext der allgemeinen Diskussion um eine ethische Verortung von Bildung ergibt.

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3

Bildung und Normativität

Welcher Art kann Bildung sein, wenn sie sich weniger in ihrer organisierten, institutionalisierten Form als vielmehr als informeller, sich selbstläufig und ungeplant vollziehender Prozess präsentiert, wie dies im sozialen Bewegungsengagement zu großen Teilen der Fall ist? Entsprechend der im vorangegangenem Kapitel analysierten Forschungslücke zu biografischen Veränderungsprozessen in sozialen Protestbewegungen lege ich der vorliegenden Arbeit ein Bildungsverständnis zugrunde, das an den Bildungsbegriff der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung anschließt und Bildung als biografischen, oftmals informell ablaufenden Prozess begreift.1 Ein solches Verständnis von Bildung kann als besonders geeignet gelten, um (auch) die informellen Aspekte dieses pädagogisch relevanten Prozesses in den Blick zu bekommen, wie sie im Kontext sozialer Bewegungen in großer Zahl zu finden sind. Dem Bildungsbegriff, den ich hier als transformationstheoretischen oder auch schlicht als ‚transformativen‘ kennzeichnen möchte und bei dem – an dieser Stelle nur in aller Kürze zusammengefasst – die Transformation von Selbstund Weltverhältnissen im Zentrum steht (s. hierzu ausführlich Abschn. 3.2), liegt eine rekonstruktive Herangehensweise und Forschungsethik zugrunde. Rekonstruktion bedeutet hier jedoch nicht bloße empirische Deskriptivität oder gar den Verzicht auf jegliche Theorie. Im Gegenteil, das biografietheoretische Bildungsprojekt steht im Zeichen einer engen Verzahnung von empirischer Rekonstruktion und theoretischer Reflexion, sodass theoretische Konzepte die Rekonstruktion

1Zum

Beginn dieses Forschungszweigs vgl. Peukert (1984); Kokemohr (1989) u. Marotzki (1990). Eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Annahmen der Biografieforschung findet sich in Abschn. 4.1.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_3

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3  Bildung und Normativität

der Empirie (mit-)strukturieren, ebenso wie empirische Daten die theoretischen Vorannahmen konfrontieren.2 Auf der Grundannahme aufbauend, dass es „keine theoriefreie Interpretation qualitativer Daten geben kann“ (Nohl 2016a, S. 205), begreife ich die theoretischen Vorannahmen als integralen – aber zu reflektierenden – Bestandteil des reflexiven Ineinanders von Theorie und Empirie. In der Tat kann ohne theoretische Vorannahmen dessen, was Bildung ist (oder nicht ist), keine Bildungsforschung betrieben werden. Dies sehen auch Thorsten Fuchs, May Jehle und Sabine Krause (2013, S. 10) so, wenn sie konstatieren, dass die „bildungstheoretisch informierte empirische Forschung […] nolens volens einen Rückgriff auf Vorstellungen über Gelingen und Misslingen der erforschten pädagogischen Prozesse“ vornimmt. Allerdings fügen sie dieser Aussage hinzu, dass die genannten ‚Vorstellungen‘ „nicht aus den Prozessen selbst herzuleiten sind, sondern nur durch den Bezug auf einen externen normativen Horizont Geltung beanspruchen […] können“ (ebd.). Die Autor*innen gehen hier also – mit kritischem Impetus – davon aus, dass mit den theoretischen ‚Vorstellungen‘ von gelungener oder misslungener Bildung quasi automatisch eine externe Normativität an die Empirie herangetragen wird – auch dort, wo ein solches Vorgehen zurückgewiesen würde (vgl. ebd., S. 11). Mit letzterem verweisen die Autoren auf eine bereits von Krinninger und Müller (2012, S. 58) vorgebrachte Kritik am transformativen Bildungsbegriff, der zufolge dieses Bildungsverständnis sich „von den normativen Vorgaben und idealistischen Ansprüchen traditioneller Pädagogik zu befreien“ suche, was sie zugleich als nicht möglich kennzeichnen. Nun ist es eine Frage, ob man – wie Fuchs, Jehle und Krause es kritisch betrachten – die Empirie mit theoretischen Grundannahmen, die der Empirie im eigentlichen Sinne exmanent sind, konfrontiert. Dieses Vorgehen erscheint mir im Sinne des oben genannten reflexiven Verhältnisses von Theorie und Empirie weder überraschend noch bedenklich, sondern für ein über bloße Deskriptivität hinausgehendes Theorie-Empirie-Verhältnis geradezu notwendig. (Ohne eine Definition dessen, was Bildungsprozesse sind – und dies meint ja eine Festlegung von Kriterien über das „Gelingen und Misslingen“ (Fuchs et al. 2013, S. 10) –, könnten diese doch schwerlich erforscht werden und auch andere pädagogische Konzepte wie ‚Lernen‘ oder ‚Sozialisation‘ existieren schließlich nicht jenseits von theoretischen Festlegungen?) Eine andere Frage ist es allerdings, ob die theoretisch fundierten Kriterien, die an Bildung angelegt werden, in jedem Fall mit

2Zum

reflexiven Verhältnis von Theorie und Empirie in der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung vgl. Marotzki (1990, S. 18 u. 1991); Koller (1999, S. 18); Nohl (2006b, S. 18 ff.); Lüders (2007); Rosenberg (2011, S. 58 ff.) und Nohl et al. (2015a, S. 15 ff.).

3  Bildung und Normativität

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wertbezogenen Festlegungen ethischer Art gleichzusetzen sind und ob derartige „idealistische Ansprüche“, wie Krinniger und Müller (2012, S. 58) dies nennen, nötig sind, um Bildungsprozesse zu bestimmen. An die hier nur angedeutete Debatte, die in der Erziehungswissenschaft unter dem Thema der Normativität von Bildung geführt wird und die sich vorrangig anhand der Kritik an einer vermeintlich fehlenden ethischen Dimension des transformativen Bildungsverständnisses entspinnt (vgl. z. B. Stojanov 2006; Krinniger und Müller 2012; Fuchs et al. 2013; Rieger-Ladich 2014), möchte ich in diesem Kapitel anschließen und die theoretischen Vorannahmen der verschiedenen Ansätze des transformativen Bildungsverständnisses einmal genauer hinsichtlich ihrer wertbezogenen Aussagen prüfen. Angesprochen ist hier die Frage, ob und inwiefern den Bildungsdefinitionen theoretische Festlegungen zugrunde liegen bzw. zugrunde liegen sollten, die eine Aussage darüber treffen, was Bildung sein soll – und inwiefern dieses Sollen eine ethisch-moralische Vorstellung transportiert.3 Davon ausgehend, dass theoretische Festlegungen oftmals durchaus eine (implizite) Normativität beinhalten, auch wenn diese nicht explizit ausformuliert wird, scheint es mir lohnend, die jeweiligen Kriterien auf ihre ethischen Implikationen hin zu prüfen. Hierbei ist zu fragen, ob in den Ansätzen implizite oder explizite ethische Aussagen getroffen werden und wenn ja, welchen Stellenwert diese in den jeweiligen Bildungsdefinitionen haben und welche bildungstheoretischen Konsequenzen sie zeitigen.4 Zu diesem hier in aller Kürze skizzierten und als Frage nach Normativität gekennzeichneten Spannungsverhältnis, in dem sich das reflexive Verhältnis von empirischer Bildungsforschung und Bildungstheorie generell bewegt, gesellt sich in der vorliegenden Arbeit die Spezifik des Gegenstandsbereichs der sozialen Protestbewegungen, der seinerseits Fragen nach Ethik und Normativität aufwirft. Soziale (Protest-)Bewegungen stellen insofern einen normativ höchst aufgeladenen Bereich dar, als es bei der Verhandlung von Vorstellungen des ‚Politischen‘ doch letztlich um nichts weniger als um die Frage nach dem ‚richtigen‘

3Es

geht hier also um die Ethik von Bildung, deren Festlegung auf ein bestimmtes ‚Sollen‘ wiederum etwas Normatives bekommen kann. Zwischen diesen Begrifflichkeiten wird in der Debatte sprachlich meist nicht trennscharf unterschieden und auch ich werde sie hier nicht weiter differenzieren, sondern die Begriffe ‚Normativität‘ und ‚Ethik‘ synonym gebrauchen; auch, weil hiermit eine philosophische Diskussion verbunden ist, die aufzubereiten den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. 4Auch Koller (2015) hat ein ähnliches Vorhaben verfolgt, auf das ich im Weiteren noch eingehen werde.

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3  Bildung und Normativität

oder ‚guten‘ Leben und seiner Übersetzung in gesellschaftspolitische Antworte geht. Im Kontext von Bewegungsmilieus werden politisch angestrebte Veränderungen in eine (alltagsbezogene) Handlungspraxis umgesetzt und auf diesem Wege entstehen (neue) Normen (vgl. u. a. Pettenkofer 2010, S. 77 ff.). Jedoch sind hier unterschiedliche Ebenen von Normativität angesprochen. Während mit der Bildungstheorie die Normativität der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit auf die Empirie angesprochen ist, geht es bei der Normativität des ‚Politischen‘ in der vorliegenden Untersuchung um die Ebene des ethischen Gehalts von Orientierungen und Theorien der untersuchten Akteur*innen. Angesichts dessen, dass beim transformativen Bildungsbegriff aber gerade die Transformation des handlungsleitenden Wissens auf Akteursebene im Zentrum der Aufmerksamkeit steht – sei dies nun als Selbst- und Weltverhältnis, als Subjektposition, Lebensorientierung oder Habitus gefasst (diese unterschiedlichen Ansätze werden in Abschn. 3.2 ausführlich dargelegt werden) –, gehen die verschiedenen Ebenen von Normativität bei der Erforschung von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen also eine Verbindung ein. Zwischen einer sich normativ zurückhaltenden rekonstruktiven Forschungsmethodik, dem transformativen Bildungsbegriff, dessen normative Implikationen es im Folgenden genauer zu betrachten gilt, und dem normativ aufgeladenen Gegenstandsbereich der sozialen Bewegungen, als ‚Orte‘ von Bildung, tut sich also ein Spannungsfeld auf. Dem hier kurz skizzierten Spannungsfeld, in dem sich die Anlage der vorliegenden Untersuchung bewegt, widmet sich der erste Teil dieses Kapitels: ­Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen (Abschn. 3.1). Im Zuge dieser Annäherung an das Themenfeld werde ich Kriterien und Begrifflichkeiten entwickeln, mit denen ich mich im Anschluss den verschiedenen transformativen Bildungsverständnissen nähere. Unter dem Titel Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept ohne Ethik? (Abschn. 3.2) betrachte ich sodann ausführlich die Grundannahmen des transformativen Bildungsbegriffs. Hierbei gilt es, die verschiedenen Ausgestaltungen dieses Bildungsansatzes in ihren Grundzügen deutlich werden zu lassen und zugleich ihre expliziten und impliziten ethischen Annahmen zu prüfen. Auch die praxeologische Ausarbeitung des transformativen Bildungsbegriffs, wie ich sie der vorliegenden Arbeit zugrunde lege, werde ich in diesem Zuge erläutern und – wie die anderen Ansätze zuvor – auf ihre theoretischen Vorannahmen und deren ethische Implikationen hin analysieren. Um dem politisch konnotierten Gegenstandsbereich der vorliegenden Arbeit, den sozialen (Protest-)Bewegungen, stärker Rechnung zu tragen, möchte ich das Programm der Untersuchung verschiedener transformativer Bildungsansätze auf ihre implizite Normativität hin mit einer Art Kontrastfolie abschließen. Als pädagogisches Konzept, das einen stärkeren Bezug auf das ‚Politische‘

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

81

nimmt, habe ich zu diesem Zwecke – angesichts seiner inhaltlichen Nähe zum transformativen Bildungsdiskurs bei gleichzeitiger Nähe zu (und positivem Bezug auf) soziale(n) Bewegungen –, den US-amerikanischen Ansatz des Transformative Learning ausgewählt. Es folgt abschließend in einem dritten Teil die Ergebnissicherung zu meinen Auseinandersetzungen mit Bildung und Normativität, die sich als Zusammenfassung mit weitergehenden Reflexionen gestaltet (Abschn. 3.3).

3.1 Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen Im Folgenden soll das Spannungsfeld zwischen den theoretischen Vorannahmen von Bildung, des Kontextes, in dem sie stattfindet, und der Frage nach dem Umgang mit den normativen Implikationen von Bildung umrissen werden. Ziel dieses Unterkapitels ist es, den Themenbereich, in dem sich die Anlage der vorliegenden Arbeit bewegt, dergestalt zu entfalten, dass auf dem Wege der Befragung verschiedener theoretischer Perspektiven schließlich Begrifflichkeiten für die Untersuchung der impliziten und expliziten Normativität der verschiedenen Bildungsansätze entwickelt werden können. Die im Folgenden angeschnittenen Themen und Ansätze in ihrer Vollständigkeit darzustellen, kann und soll dabei nicht der Anspruch sein.5

3.1.1 Das ‚Gute‘ der Bildung Bildung ist ein pädagogisches Konzept, das in vielerlei Hinsicht Fragen nach Normativität aufwirft. Nähert man sich dem Bildungsbegriff von einer ganz allgemeinen Perspektive (also ohne notwendigerweise ein transformationsbetonendes Begriffsverständnis anzulegen), so kann zunächst konstatiert werden, dass Bildung wissenschaftsdisziplinübergreifend wie auch im gesellschaftlichen Diskurs in aller Munde ist. Sie scheint dabei – in unterschiedlichsten Varianten – immer etwas Gutes, etwas Anstrebenswertes zu implizieren: Ob als Schlüssel zum Wirtschaftswachstum des Landes, zum Wohlstand der Einzelnen, als

5Insbesondere

die Auseinandersetzungen um ‚das Politische‘ können nur skizzenhaften Charakter haben. Zu einer systematischen Untersuchung des politischen Moments von Bildung siehe z. B. Bünger (2013).

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3  Bildung und Normativität

klassisches Ideal der mündigen und allseitig gebildeten Weltbürger*innen, als Emanzipationsversprechen, als Weg zum Abbau sozialer Ungleichheit oder eben als grundlegender und einschneidender Wandel des Selbst und des eigenen Seins in der Welt. Dabei wird der Bildungsbegriff, wie in der Aufzählung deutlich geworden sein dürfte, disziplinübergreifend und vielseitig bemüht, während hinsichtlich seiner Definition gleichwohl ein „Dissens der Disziplinen“ (Tenorth 2011) herrscht. Die Breite der Kontexte, in denen der Bildungsbegriff in Anschlag gebracht wird, fasst Elmar Tenorth (ebd., S. 352) folgendermaßen zusammen: „‚Bildung‘ ist ein deutscher Mythos, ist pädagogisches Programm, ist politische Losung, ist Ideologie des Bürgertums und zugleich doch auch ein viel genutzter zeitdiagnostischer Kritikbegriff.“ Ich möchte an dieser Stelle jedoch weniger auf diesen Dissens denn auf das Verbindende abzielen. Im Gegensatz zu anderen pädagogischen Konzepten wie ‚Lernen‘ und ‚Sozialisation‘, die als weitgehend wertneutral gelten können, wohnt Bildung eine ethische Konnotation inne, die auf die bildungstheoretische Tradition klassischer und (neu-)humanistischer Bildungsverständnisse zurückgeht.6 Dies zeigt sich auch am alltagssprachlichen Verständnis der verschiedenen pädagogischen Begriffe: So kann beispielsweise problemlos davon gesprochen werden, dass jemand das Handwerk des Autodiebstahls erlernt hat, wohingegen die Rede von einer ‚Bildung zum Autodieb‘ unter ethischen Gesichtspunkten unsinnig anmutet. Während Lernen ‚lediglich‘ eine Veränderung des Lernenden beschreibt, so scheint Bildung zugleich auf eine Verbesserung zu verweisen. Auf ihrer Grundlage wird der Ist-Zustand kritisiert, sie stellt hingegen den künftigen zukünftigen Soll-Zustand – sowie als Weg dorthin7 – dar. Diese traditionell entstandene Konnotation des Bildungsbegriffs als das ‚Gute‘ und ‚Erstrebenswerte‘, so möchte ich hier konstatieren, macht auch vor der transformativen Bildungstheorie nicht halt – die ich, wie bereits eingangs angekündigt, an späterer Stelle in verschiedene Ansätze ausdifferenzieren werde (vgl. Abschn. 3.2), an dieser Stelle aber noch hinsichtlich ihrer übergreifenden Gemeinsamkeiten und des gemeinsamen Bezugsrahmens als einen theoretischen Zugang zu Bildung verhandele. Der transformative Bildungsansatz, auch wenn er, wie ich noch ausführlich herausarbeiten werde, mit ethischen Festlegungen

6Auch

Koller (2015, S. 151) konstatiert „dass der Bildungsbegriff in der Tradition bildungstheoretischen Denkens stets mehr oder weniger ausdrücklich mit einem positiven Vorzeichen versehen war“. 7Tenorth (2011, S. 354) weist darauf hin, dass Bildung – je nach Ansatz – gleichermaßen als „Prozess und Produkt […] und seine Organisation“ bezeichnet wird.

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

83

sparsam umgeht, steht dennoch nicht außerhalb der hier skizzierten alltagssprachlichen und bildungsgeschichtlich entstandenen Wahrnehmung dessen, was Bildung ist – und er wähnt sich selbst ja auch durchaus in der bereits erwähnten bildungstheoretischen Tradition.8 Zwar will ich hier nicht dafür plädieren, sich in der Wissenschaft am Common-Sense-Verständnis von Bildung auszurichten, dennoch scheint es mir für den Umgang mit der Frage nach der ethisch-normativen Qualifizierung des Bildungsbegriffs sinnvoll, sich des als ‚gut‘ konnotierten (Alltags-) Verständnisses von Bildung zu vergegenwärtigen. Zumal Kritiker*innen dem Bildungsverständnis der transformativen Bildung vorwerfen, dieser ethischen Dimension von Bildung nicht gerecht zu werden, wie ich im Folgenden aufzeigen werde.

3.1.2 Zur ethisch-normativen Zurückhaltung transformativer Bildungsansätze Heutzutage sei – so Thorsten Fuchs, May Jehle und Sabine Krause (2013) – in der gesamten qualitativen, erziehungswissenschaftlichen Forschung eine Distanzierung von ethischen Normfestlegungen zu konstatieren. Normativen Aussagen, mit denen das ‚Gute‘ definiert würde – wie sie sowohl in klassischen, neuhumanistischen und prinzipientheoretischen Bildungsverständnissen zu finden sind –, stünden laut Fuchs, Jehle und Krause (2013, S. 9) einer Tradition entgegen, in deren Zuge wertbezogene, normative Perspektiven auf Pädagogik. „[i]m Laufe des 20. Jahrhunderts […] zunehmend in Misskredit [geraten seien] und […] seitdem zumeist mit dem Vorbehalt der (wissenschaftlichen) Unredlichkeit belastet [werden], was sich im pragmatisch verstandenen Versuch niederschlägt, […] deskriptive Bescheidenheit und normativ-wertbezogene Zurückhaltung als ‚unverfänglichere‘ oder auch ‚besser‘ verstandene Wege der Pädagogik festzuschreiben“.

8Vgl.

hierzu beispielsweise Kollers (etwa 2012b) Bemühungen um Anschlüsse an das humanistischen Bildungsverständnis Wilhelm von Humboldts und Nohls (2006b, S. 8 ff.) Unterscheidung der – ebenfalls im Humanismus vorfindlichen –„Bildung als Subjektivierung durch das Wechselverhältnis von Mensch und Welt“, von einer „Bildung als Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen“ bei der er zugleich betont, dass letztere an erstere anschließt, diese allerdings „radikalisiert“ (Nohl 2006b, S. 11).

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3  Bildung und Normativität

In die hier konstatierte „normativ-wertbezogene Zurückhaltung“ der Pädagogik reihen die Autor(innen) auch das im Kontext der Biografieforschung in Anschlag gebrachte transformative Bildungsverständnis ein. Eine solche normative Zurückhaltung sieht Jenny Lüders (2007, S. 110) – die selbst mit dem transformativen Bildungsbegriff arbeitet – bei Bildungstheorien neueren Datums in einer generellen „Skepsis gegenüber der prinzipiellen Möglichkeit universeller Normen“ begründet. Vor dem Hintergrund der pluralen Verfasstheit (post-)moderner Gesellschaften würde die Verknüpfung von Bildungsbegriff und positions- und wertbezogenen Festlegungen nicht (mehr) für möglich gehalten. Auch Lüders selbst hält dies für geboten, erscheinen Normen doch heutzutage „verdächtig […], denn es fehlt der Ort, von dem aus eine universell gültige Norm gegründet und legitimiert werden könnte“ (ebd.). In eine ähnliche Stoßrichtung zielt auch Arnd-Michael Nohl (2006b), den ich hier als einen weiteren Vertreter der transformativen Bildungstheorie zitieren möchte, wenn er konstatiert, es könne „kein Ziel […] für den Wandlungs- und Bildungsprozess eines Menschen […] festgelegt werden“ (ebd., S. 116). Nohl begründet diese Aussage im Gegensatz zu Lüders zwar nicht auf der Grundlage einer Gesellschaftsdiagnose, doch wird auch bei ihm die Argumentation der Abwesenheit eines ontologischen Ortes, von dem aus ‚materiale‘9 Ziele von Bildung begründet werden könnten, deutlich. Eine Zurückhaltung hinsichtlich ‚materialer‘ Zielsetzungen favorisiert auch der Begründer der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung, Winfried Marotzki, und betont, dass für seine ‚strukturale Bildungstheorie‘ (vgl. Abschn. 3.2.1) „gerade keine inhaltlichen Ziele für anzustrebende Bildungsprozesse“ (Marotzki 1990, S. 232; Kursivsetzung S.T.) gesetzt würden, denn sonst müsse man von einer „Instrumentalisierung des einzelnen durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft“ (ebd.) sprechen. Während Lüders ‚nur‘ eine fehlende Letztbegründbarkeit ethisch-wertbezogener Festlegungen im Wertepluralismus thematisiert, enthält Marotzkis Argumentation also zudem eine explizite Ablehnung der Unterordnung des Subjekts unter gesellschaftliche Anforderungen. Wie Lüders macht Marotzki den Aspekt pluralisierter Werte in der Moderne stark – z. B., wenn er von einer „Pluralitätsexpansion“ der Gesellschaft spricht, in deren Zuge es gelte, sich mit der „Einsicht abzufinden, daß Differenzen auch ohne übergreifende Synthesen bestehen können“ (Marotzki 1990, S. 28). Trotz zahlreicher anderer Unterschiede eint diese drei Vertreter*innen transformativer

9‚Materiale‘

Ziele möchte ich an dieser Stelle zunächst einmal als von außen herangetragene Inhalte fassen, bevor im weiteren Verlauf dieses Kapitels (vgl. Abschn. 3.1.3) das Konzept der ‚Materialität‘ von Bildung ausführlicher zu diskutieren sein wird.

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

85

­ ildungstheorie also ihre Ablehnung ethisch-normativer Zielsetzungen von BilB dung, die den Anspruch der Allgemeingültigkeit erheben.10 Die sich hier abzeichnende, relative Zurückhaltung ethisch-normativer Art wurde, wie bereits angedeutet, unlängst zum Gegenstand der Kritik am transformativen Bildungsbegriff der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung. Ich möchte im Folgenden dieser kritischen Perspektive Raum geben, um sie im Anschluss zum Ausgangspunkt meiner weiteren Erkundungen zu nehmen. Marina Tomic Hensel und Nina Wlazny (2013, S. 155) konstatieren in ihrer Zusammenfassung der Hauptvorträge einer eigens zum Thema „Normativität und Normative (in) der Pädagogik“ (ebd.) einberufenen Tagung11 eine „[a]uf Seiten bildungstheoretischer und -philosophischer Diskurse […] für den Gegenstandsbereich des Pädagogischen gemeinhin als konstitutiv angenommene Normativität“, die jedoch zu wenig thematisiert würde. Bei aller Verschiedenheit der Beiträge sei auf der Tagung übergreifend eine Diskrepanz dahin gehend konstatiert worden, dass „sowohl empirische Bildungsforschung als auch grundlagenreflexive Theoriearbeit und bildungs- und erziehungstheoretische Erwägungen sich von Normierungen und Normalisierungen aller Art zu distanzieren [suchten; S.T.], zugleich aber ohne Normativität nicht auszukommen“ (ebd., S. 159) scheinen. Während Hensel und Wlazny vor allem diese Diskrepanz problematisieren, moniert Olaf Sanders (2014, S. 68) die ethische Zurückhaltung an sich. Er konstatiert eine „historisch gewachsene Bindung zwischen Bildung und Ethik“ und nimmt dies zur Grundlage, die bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung angesichts der „Entkopplung“ (ebd.) der Bildung von ihrer ethischen Fundierung zu kritisieren. Ebenso argumentiert Markus Rieger-Ladich (2014): Ihm zufolge enthalte sich der transformative Bildungsbegriff einer Aussage dessen, was das Erwünschte der Bildung sei, und bliebe so „weitgehend formal“.12 ­Konkret

10Die

Bezugnahme auf Marotzki, Nohl und Lüders kann an dieser Stelle nur sehr ausschnitthaft erfolgen. Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit ihren Arbeiten und den Arbeiten anderer Vertreter*innen der transformativen Bildungstheorie siehe Abschn. 3.2. 11Es handelt sich hierbei um die von Thorsten Fuchs, May Jehle und Sabine Krause organisierte Tagung, die im November 2012 an der Universität Wien stattfand (vgl. Fuchs et al. 2013). 12An dieser Stelle soll es für den Moment genügen, die ‚Formalität‘ von Bildung als Abwesenheit einer inhaltlichen Zielsetzung zu verstehen. Wie bereits angekündigt widme ich mich dem Gegensatzpaar von ‚formaler‘ und ‚materialer‘ Bildungstheorien in Abschn. 3.1.3 noch ausführlicher. Die Frage nach der ‚Formalität‘ oder ‚Materialität‘ wird dann auch in Abschn. 3.2 dezidiert anhand von verschiedenen Ansätzen t­ransformativer

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3  Bildung und Normativität

bezieht Rieger-Ladich sich mit seiner Kritik hier auf Arbeiten Hans-Christoph Kollers und Arnd-Michael Nohls. Zwar setzt sich Koller (1999) ausführlich mit ethischen Fragestellungen anhand der Betonung des ‚Widerstreits‘ für das Bildungsgeschehen auseinander (siehe auch Abschn. 3.2.2.1) und Nohl (2006b) zieht eine ethische Begründung von Bildung aus seinen Auseinandersetzungen mit dem Pragmatismus (siehe hierzu Abschn. 3.2.3.1), doch scheint dies Rieger-Ladich als ethische Grundlegung von Bildung nicht zu genügen. Während sich Sanders und Rieger-Ladich in ihrer Kritik zu weiten Teilen einig sind, kann Sanders (2014, S. 68) in der Auflösung der Verbindung von Bildung und Ethik jedoch zumindest einen Sinn erkennen – jedenfalls, sofern diese lediglich „vorübergehend[en]“ Charakter habe: Auf diesem Wege sei „Bildungsprozessen empirisch auf die Spur zu kommen“. Einen Vorschlag, wie der ethische Aspekt nach der empirischen Rekonstruktion von Bildungsprozessen dann wieder hinzugenommen, Bildung und Ethik also wieder zusammengeführt werden könnten, unterbreitet er indes nicht. Stattdessen spitzt er seine Kritik an der ‚Formalität‘ des transformativen Bildungskonzepts am Beispiel eines fiktiven Bildungsprozesses aus der Fernsehserie ‚Breaking Bad‘ zu: Anhand der Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur zeigen sowohl Sanders (2014) als auch Rieger-Ladich (2014) auf, wie Walter White – der zunächst in seiner Rolle als Lehrer und Familienvater eingeführt wird – beiden Autoren zufolge seine Weltund Selbstverhältnisse sukzessive transformiert und somit das Transformationskriterium des von ihnen kritisierten Bildungsbegriffs erfülle. Von Folge zu Folge wird er skrupelloser und schreckt auch vor Mord nicht mehr zurück. Der Umstand, dass dieser fiktive Transformationsprozess eine, zugegebenermaßen doch etwas beunruhigende, Denkfigur der (transformativen) „Bildung zum Bösen“13 (Sanders 2014) ermögliche – und davon sind beide Autoren überzeugt –, erhärtet

Bildung durchgespielt werden. Was hier als Kritik anmutet, wird nämlich von Vertreter*innen des transformativen Bildungsansatzes der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung durchaus auch als positiv konnotierte Selbstbezeichnung benutzt. 13Der Titel ‚Bildung zum Bösen‘ von Sanders Artikel ist sicherlich gut gewählt, um die Kritik in drastischer Weise zu veranschaulichen. Angesichts des gewählten Beispiels eines Mörders fällt es schwer, auf die Relativität von Kriterien wie das ‚Böse‘ zu verweisen, gilt das Nicht-Töten-Sollen doch – fast, aber eben nicht in allen Kontexten – als universelles moralisches Prinzip. Dennoch möchte ich an dieser Stelle mit Ahrends (2012, S. 181 f.) Worten darauf hinweisen, dass in der Regel keinesfalls universell und eindeutig beantwortet werden kann, was ‚das Böse‘ ist, und „die Frage, was im Einzelfall als Böse gilt, nur sozial entschieden werden kann“.

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

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ihren Vorwurf der fehlenden ethischen Begründung an dieses Bildungsverständniss. An diese Kritik schließt auch Fuchs (vgl. 2015, S. 25) an, wenn er z. B. mit Bezug auf das von Krassimir Stojanov (2006) vorgebrachte Beispiel des prominenten Rechtsextremisten Horst Mahler – der zuvor RAF-Mitglied und wiederum davor (zu unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Biografie) Mitglied der FDJ, der SPD und des SDS war – die Frage stellt, „ob dieser hochgradig kuriose politische Werdegang nicht par excellence dem Kriterium der Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen“ entspräche. Für Rieger-Ladich (2014, S. 23) stellt sich daher insgesamt „die Notwendigkeit, über Grenzen eines ‚formalen‘ Bildungsbegriffs nachzudenken“.14 Bevor ich in Abschn. 3.2 eben diese ‚Grenzen‘ – wie auch die Möglichkeiten – des transformativen Bildungsverständnisses unter dem Gesichtspunkt ethisch-normativer Fragen detailliert in den Blick nehmen werde, braucht es zunächst weitere Begrifflichkeiten, mit denen das Spektrum von Normativität und Bildung umrissen werden kann. Im Folgenden möchte ich zu diesem Zwecke die bereits angedeutete Unterscheidung in ‚formale‘ und ‚materiale‘ Bildungsansätze genauer beleuchten.

3.1.3 Zur Unterscheidung von ‚materialer‘ und ‚formaler‘ Bildung Das Feld der Bildungstheorien haben sowohl Wolfgang Klafki (1974)15 als auch Dietrich Benner (2012)16 anhand der Unterscheidung in ‚materiale‘ und ‚formale‘ Bildungstheorien strukturiert. So teilt Klafki (1974, S. 27) die Ergebnisse seiner Analyse dessen, was historisch als das „Wesentliche der Bildungsauffassung“ begriffen wurde und wird – und dessen sich heutige Versuche einer Neubestimmung nicht entledigen könnten –, in die beiden genannten großen Lager auf und definiert diese folgendermaßen:

14Für

eine solche Auseinandersetzung mit der ethischen Fundierung des Bildungsbegriffs der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung, die im letzten Jahrzehnt in der Tat zugenommen hat, vgl. Koller (1999, S. 146 ff); Benner (2000); Lüders (2007 S. 43 ff.); Rosenberg (2011, S. 83 ff.); Krinninger und Müller (2012); Fuchs (2013, 2014 u. 2015); Müller (2013); Sanders (2014); Rieger-Ladich (2014) und Koller (2015). 15Zuerst erschienen 1959. 16Zuerst erschienen 1987.

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3  Bildung und Normativität „Nehmen die Vertreter der ‚materialen‘ Bildungstheorien ihren Blickpunkt auf die Objektseite des Bildungsgeschehens, in den Inhalten, die der jungen Generation zugänglich gemacht werden sollen, so haben die Anhänger der formalen Theorien ihren Standpunkt auf der Seite des Subjekts […], das gebildet werden soll.“ (ebd.)

Klafki zufolge setzen die ‚formalen‘ Bildungstheorien den Bezugspunkt von Bildung also an der Entwicklung des „Subjekts“ an, wohingegen die ‚materialen‘ Bildungsverständnisse Bildung im Dienste der „Inhalte“ sehen. Letztere, die Klafki ihrerseits in „pädagogische Theorie[n] des Klassischen“ (ebd., S. 30) und ‚objektivistische Bildungstheorien‘ (vgl. ebd. S. 28 ff.) – als eine der Wissenschaftlichkeit Vorrang gebende Auslegung von Bildung – unterteilt, geben ihm zufolge speziellen Kulturinhalten „den Anschein fragloser Gültigkeit und Werthaftigkeit“ (ebd., S. 29). Hierbei würde eine Einigkeit gesellschaftlicher Gruppen bzw. sogar eine historische Zeiträume übergreifende Einhelligkeit in Bezug auf die Vermittlungsaufgabe von Bildung vorausgesetzt (vgl. ebd., S. 32). ‚Materialen‘ Bildungstheorien muss, folgt man Klafki, also das Problem der Generalisierungsfähigkeit der Inhalte in Bezug auf die Pluralität der Anwendungsbedingungen attestiert werden sowie eine einseitige Engführung auf das als ‚klassisch‘ Definierte und auf die „Sinnhaftigkeit der Wissenschaft“ (ebd., S. 29), welche für das Leben der Sich-Bildenden aber nur zum Teil relevant sei. Während Klafki sich bei seiner Unterscheidung von ‚materialen‘ und ‚formalen‘ Bildungstheorien also maßgeblich auf den Inhalt von Bildung konzentriert, der bei ‚materialen‘ Bildungstheorien objektivistisch bestimmt würde, liefert Dietrich Benner (2012) eine Definition, bei der die Zweckbestimmung von Bildung in den Blick kommt. Ihm zufolge liege ‚materialen‘ Bildungstheorien eine „teleologische Verhältnisbestimmung“ (ebd., S. 154) zugrunde, weil es hier um die „materiale Ableitung der Aufgaben pädagogischen Handelns aus gesamtgesellschaftlichen Erfordernissen“ (ebd., S. 153) ginge, wobei eine „individuelle […] Zweckbestimmung der pädagogischen Praxis“ (ebd., S. 150) hingegen weitestgehend vernachlässigt würde. Zwar verweist dies indirekt eventuell auch auf Inhalte von Bildung, die Betonung liegt bei Benner gleichwohl darauf, dass ‚materiale‘ Bildungsansätze in den Dienst der Gesellschaft gestellt würden. Andersherum schwingt bei Klafkis Verknüpfung von ‚materialer‘ Bildung mit Inhalten, denen eine gesellschaftliche Allgemeingültigkeit und -wertigkeit zugeschrieben wird, letztlich auch die Frage nach der Zweckbestimmung für die Gesellschaft mit, denn den Status einer allgemeingültigen Wertigkeit erlangen ja eben solche Inhalte, die für eine Gesellschaft als wichtig erachtet werden. Doch legen diese beiden Definitionen ‚materialer‘ Bildungstheorie eben, obwohl sie recht nahe beieinanderliegen, unterschiedliche Schwerpunkte. Das Verbindende

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

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besteht fraglos darin, dass ‚Bildung‘ bei beiden von äußeren – d. h. dem/der Sich-Bildenden äußerlichen – Kriterien her definiert wird und die ‚Materialität‘ von Bildung laut diesen Definitionen mit objektivistischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Zugängen korrespondiert. Als Gegenstück der ‚materialen‘ Bildung gilt beiden die ‚formale‘ Bildung. Diese sei laut Benner (2012, S. 151) ausschließlich an der „Entwicklung individueller Kräfte und Fertigkeiten“ interessiert und räume „der pädagogischen Praxis ein Primat gegenüber allen anderen Handlungsbereichen ein“. ‚Formale‘ Bildungstheorien verstünden sich als Instanz gegen die „Auslieferung der lernenden Subjekte an gesellschaftliche Anforderungen“ (ebd., S. 152). Benner – der selbst für ein Bildungsverständnis, das sich jenseits dieses Dualismus bewegt, plädiert (vgl. ebd., S. 150 ff.) – attestiert beiden Varianten, d. h. der ‚materialen‘ wie der ‚formalen‘ Bildung, von der „Vermittlungsproblematik der individuellen und gesellschaftlichen Aufgabenbestimmungen pädagogischen Handelns“ (ebd., S. 150) abzusehen. Die hier skizzierte Unterscheidungslinie anhand einer teleologischen Begründung, die sich darauf bezieht, in wessen Dienste Bildung steht – im Dienste der Gesellschaft (‚material‘) oder aber des Subjekts (‚formal‘) – ist für Benner jedoch lediglich ein Behelf zur Strukturierung des Feldes. So macht er deutlich, dass er die hier zugrunde gelegte, scheinbare Eindeutigkeit letztlich nicht für existent hält. „[E]in und derselbe Bildungsinhalt [sei] in verschiedenen historischen Kontexten zuweilen erst material, später formal legitimiert“ (ebd., S. 152) worden. Dies untermauert er mit einem Zitat von Herwig Blankertz, dem zufolge „‚formaler Bildungswert stets genau jenen Inhalten beigelegt [würde; S.T.], die in der jeweiligen geschichtlichen Situation von den gesellschaftlichen Ansprüchen her objektiv gefordert waren‘“ (Blankertz, zit. n. Benner 2012, S. 152, FN 31), und relativiert damit letztlich die Bedeutung der Unterscheidung zwischen der ‚Formalität‘ und der ‚Materialität‘ von Bildung. Auch Klafki macht deutlich, dass er die Trennung zwischen objektivistischen und subjektivistischen Perspektiven für defizitär hält, denn ‚materiale‘ und ‚formale‘ Perspektiven auf Bildung verwiesen immer auch auf die jeweils andere Seite: „Der Inhalt birgt in sich den Weg, auf dem er zum Inhalt wurde – er hebt diesen Weg in sich auf; der Weg aber […] leg[t] notwendigerweise immer schon eine bestimmte Perspektive fest“ (Klafki 1974, S. 41). In ‚formalen‘ Bildungstheorien sieht er dementsprechend auch eine Unterschätzung der Bedeutung von Inhalten (vgl. ebd., S. 33 ff.). An denjenigen ‚formalen‘ Ansätzen, die er als ‚funktionale‘ (vgl. ebd.) kennzeichnet – weil sie auf die „Formung, Entwicklung, Reifung von körperlichen, seelischen und geistigen Kräften“ (ebd.; kursiv im Original) ausgerichtet seien – kritisiert Klafki, es könne nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die ‚Kräfte‘, die es auszubilden gelte, ohne die

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3  Bildung und Normativität

Inhalte, denen die Sich-Bildenden begegneten, überhaupt existierten (vgl. ebd., S. 35); noch könne angenommen werden, dass es ‚Kräfte‘ gebe, die – inhaltsübergreifend – gleichermaßen wirkten bzw. anwendbar seien (vgl. ebd., S. 35 f.). Hingegen liefen diejenige ‚formalen‘ Perspektiven, die er als ‚methodisch‘ (vgl. ebd., S. 36 ff.) kennzeichnet, mit ihrem Fokus auf der „Gewinnung und Beherrschung der Denkweisen, Gefühlskategorien, Wertmaßstäben […], mit Hilfe derer sich der junge Mensch die Fülle der Inhalte zu eigen machen kann“ (ebd.), Gefahr, die Bedeutung der Inhalte von Bildung zu ignorieren. Sie seien so „abstrakt und formal bestimmt […], dass sie […] tatsächlich für alle Bereiche gültig“ (ebd., S. 37) und damit jedoch zugleich „unbrauchbar“ (ebd.) würden. Beide Autoren kritisieren also die Dichotomisierung von ‚Formalität‘ und ‚Materialität‘ von Bildung – die ihnen zufolge letztlich eine Dichotomisierung von Subjektivismus und Objektivismus darstellt – und favorisieren jeweils einen ‚dritten Weg‘.17 Mit Bezug auf Klafkis und Benners Ausarbeitungen wird also deutlich, dass die Einteilung der Bildungstheorien in ‚formale‘ und ‚materiale‘ lediglich als Strukturierungsbehelf dienen und nicht als der Weisheit letzter Schluss gelten kann. Während sowohl Klafki als auch Benner einen dritten Weg schlussfolgern, um dem Dualismus zwischen Objektivismus und Subjektivismus zu entgehen, möchte ich für meine weiteren Auseinandersetzungen die Frage in den Raum stellen, ob es nicht sinnvoll wäre, die Parallelisierung von ‚Formalität‘ mit Subjektivismus und von ‚Materialität‘ mit Objektivismus aufzulösen? Im Sinne von Klafkis Feststellung, dass ein spezifischer Inhalt einen bestimmten Weg, d. h. eine bestimmte Prozessbeschaffenheit, mit sich bringt – oder zumindest zu dieser auffordert, so möchte ich ergänzen – und ein spezifischer Prozess wiederum einen bestimmten Inhalt nahelegt (vgl. oben und Klafki 1974, S. 41), scheint die Verbindung des (‚formalen‘) Prozesses mit Subjektivismus und des (‚materialen‘) Inhalts mit Objektivismus an ihre Grenzen zu stoßen.

17Klafkis (1974, S. 39) eigentliches Ziel ist es, „die Unhaltbarkeit“ der Vorstellung, dass „es […] so etwas wie eine ‚formale Bildung‘“ respektive ‚materiale Bildung‘ im reinen Sinne gäbe, aufzuzeigen und diese in der ‚kategorialen Bildung‘ (vgl. ebd., S. 38 ff.) aufzuheben: „Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, daß sich dem Menschen eine Wirklichkeit ‚kategorial‘ erschlossen hat und daß eben damit er selbst – dank der selbstvollzogenen ‚kategorialen‘ Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse – für diese Wirklichkeit erschlossen ist“ (ebd., S. 44; kursiv im Original). Auch Benner (2012) identifiziert in Bezug auf beide Bildungszugänge „Problemverkürzungen“ (ebd., S. 150), die er ablehnt. Diesen zieht er stattdessen „reflektierende Bildungstheorien“ vor, die die „transformatorischen Wechselwirkungen von Mensch und Welt bearbeiten und reflektieren“ (ebd., S. 165) könnten.

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

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Auch Benners Verweis darauf, dass teils ein und dasselbe Bildungsziel mal aus subjektbezogener Perspektive und mal aus gesellschaftlichen Erfordernissen heraus begründet werden könne, spricht m. E. für eine Entflechtung dieser Parallelisierung. Wenn nämlich das ‚Formale‘ der Bildung in der Hauptsache auf die ‚formale‘ Bestimmung der Form des Bildungsprozesses verweisen würde – und damit aber nicht ausgeschlossen würde, dass gesellschaftlich relevante Inhalte behandelt werden können oder der Prozess gar etwas hervorbrächte, das gesellschaftlich gewollt sein könnte – und wenn in umgekehrter Richtung das ‚Materiale‘ der Bildung nur die qualifizierende Bestimmung dessen, was zum Inhalt von Bildung wird, meinen würde – ohne dabei anzunehmen, dass dies notwendiger Weise nur die Entwicklung der ‚Kräfte‘ des Subjekts oder aber einen gesellschaftlichen Wert fördert –, dann entstünde eine analytische Offenheit, mit der die Wechselwirkungen in den Blick kommen könnten.18 In diesem Sinne möchte ich dann auch im Folgenden kurz anschneiden (und im weiteren Verlauf dieses Kapitels sukzessive anhand der verschiedenen Bildungsdefinitionen herausarbeiten), inwiefern die oben als ‚formal‘ kritisierten Konzepte von Bildung den genannten subjektivistischen „Problemverkürzungen“ (Benner 2012, S. 150) denn tatsächlich entsprechen. Marotzki (1990, S. 230 ff.) jedenfalls, der als der Begründer des von Rieger-Ladich und Sanders als ‚formal‘ kritisierten Bildungszweigs gelten kann, grenzt seine Bildungstheorie selbst explizit von ‚formalen‘ wie ‚materialen‘ Bildungskonzeptionen ab. In Auseinandersetzung mit Benners Herausarbeitung der jeweiligen ‚Verkürzungen‘ beider Formen von Bildung zieht Marotzki folgende Schlüsse für seine „strukturale Bildungstheorie“: Weder wolle er die „Ausbildung der individuellen Fähigkeiten und Kräfte“ abgetrennt sehen „von ihrer geschichtlichen und gesellschaftlichen Vermitteltheit und Aneignung“ (ebd., S. 230), noch könne man, wie es den ‚materialen‘ Ansätzen zu eigen sei, gänzlich „die Inhalte aus gesellschaftlichen Anforderungen ableiten“ (ebd.). Marotzkis eingangs bereits angeschnittene Kritik an der ‚materialen‘ Verknüpfung von Bildung mit gesellschaftlicher N ­ ützlichkeit

18Eine

solche Betrachtung korrespondiert vielleicht insbesondere mit einer in der rekonstruktiven Sozialforschung verankerten Bildungstheorie, wie ich sie dieser Arbeit zugrunde lege, die sich aufgrund dessen, dass die hier betrachteten Prozesse erst analysiert werden, nachdem sie sich zugetragen haben, erlauben kann, Zielbestimmungen von Bildung (zunächst) weitgehend auszuklammern. Doch auch bei einer anwendungsorientierten pädagogischen Theorie, die nach pädagogischen Zielformulierungen verlangt, schiene mir die Auflösung dieser Parallelisierung sinnvoll, da letztlich auch hier Prozesse in Gang gesetzt werden, bei denen vorab nicht festgelegt werden kann, ob sie eher den Sich-Bildenden oder der Gesellschaft zugutekommen werden.

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3  Bildung und Normativität

kann nun dahin gehend konkretisiert werden, dass er es ablehnt, eine der – mit Benner so genannten – „Teilpraxen der menschlichen Gesamtpraxis“ (ebd., S. 232) hierarchisch über die anderen zu stellen. Dies geschehe bei ‚materialen‘ Ausrichtungen von Bildung dahin gehend, dass sie die „Herstellung gesellschaftlich kompetenter Handlungsfähigkeit“ (ebd., S. 231) zum Ziel von Bildung machten. ‚Formalen‘ Ansätzen wiederum, die ausschließlich die subjektive Seite von Bildung fokussierten, weist Marotzki ebenfalls zurück und fordert den Einbezug des historischen und gesellschaftlichen Kontexts.19 Andere Vertreter*innen der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung bezeichnen die eigene Bildungsdefinition durchaus selbst als ‚formal‘ – dahin gehend, dass Bildung als die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen als Prozessbeschreibung und in formaler Abgrenzung zum Lernen unfraglich eine ‚formale‘ Definition von Bildung ist (vgl. z. B. Nohl et al. 2015a, S. 152). Jedoch stellen auch sie sich nicht in eine subjektivistische Tradition. ‚Formalität‘, so hebt Nohl (2006b, S. 25) hervor, sei im Kontext einer Forschungspraxis, die „über die subjektiven Perspektiven der Sich-Bildenden hinaus den ihrer Handlungs- und Bildungspraxis zugrunde liegenden impliziten oder dokumentarischen Sinngehalt herausarbeitet“ (ebd., S. 24), weder im Sinne einer subjektivistischen Perspektive noch als Gegensatz zu ‚Materialität‘ zu verstehen, da sich beides „nur analytisch voneinander trennen“ (ebd., S. 25) ließe. Vielmehr zeigt sich auch bei Nohl (ebd.) das Bestreben um die Aufhebung dieses Dualismus: „Erst wenn formal, d. h. grundlagentheoretisch, bestimmt wird, durch welche Prozessstrukturen sich Bildung auszeichnet […], können auch die einzelnen materialen Erfahrungen der untersuchten Personen in ihrer Relevanz für den Bildungsprozess erkennbar werden. Und umgekehrt lässt sich die formale Struktur von Bildung nur in den materialen Erfahrungen von Sich-Bildenden präzisieren“.

Wenn im Lichte der „typischen – d. h. überindividuellen – Prozessstrukturen“ (ebd., S. 24)20 die Relevanz der ‚materialen‘ Erfahrungen der Sich-Bildenden

19Die

Art und Weise des Einbezugs gesellschaftlich-historischer Kontexte beläuft sich in Marotzkis ‚strukturaler Bildungstheorie‘ dann jedoch weitestgehend auf eine Gesellschaftsdiagnose, während die empirische Auswertung sich am Entwicklungsprozess des Subjekts orientiert und somit laut der o. g. Definitionen von Benner und Klafki also durchaus als ‚formal‘ gelten muss (Zur Auseinandersetzungen mit den Grundzügen der ‚strukturalen Bildungstheorie‘ und ihrer impliziten Normativität vgl. ausführlicher Abschn. 3.2.1). 20Zu den „Prozeßstrukturen des Lebenslaufs“ vgl. Schütze (1981) und Abschn. 4.1.1 in dieser Arbeit.

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

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deutlich wird und – umgekehrt – diese ‚materialen‘ Erfahrungen der Sich-Bildenden die ‚formale‘ Struktur präzisieren, so erscheint die Bildungsdefinition zwar als ‚formaler‘ Ausgangspunkt einer Forschung, deren spätere, empirische und – im Sinne des reflexiven Verhältnisses von Theorie und Empirie – auch theoretische Ausgestaltung allerdings die Dichotomie von ‚formal‘ und ‚material‘ zu unterlaufen sucht.21 Ein solches Bemühen steht im Kontext einer Forschungspraxis (in die neben den bildungstheoretischen Vorab-Festlegungen zudem Grundannahmen der Methodologie und der verwendeten Grundbegriffe einfließen), die sich gegen die Gegenüberstellung von Objektivismus und Subjektivismus wendet, selbst wenn der zentrale – ‚formale‘ – Bezugspunkt der Transformation auf der Ebene der Akteur*innen angesiedelt ist.22 Mit einer method(olog)ischen Herangehensweise, die sich gegen die Dichotomisierung von Objektivismus und Subjektivismus stellt – und in eine solche Tradition stelle ich auch die vorliegende Arbeit (vgl. hierzu Kap. 4) – wird also ein Zweifel an der Angemessenheit von einer Parallelisierung von ‚formalen‘ Bildungskonzepten mit Subjektivismus und ‚materialen‘ Bildungskonzepten mit Objektivismus gestreut, den ich zum Anlass nehme, im nächsten Teil dieses Abschn. 3.2 genauer hinzuschauen, was in den jeweiligen Bildungsdefinitionen das ‚Formale‘ und was das ‚Materiale‘ sein könnte. Auch soll geklärt werden, ob mit ‚Formalität‘ wirklich, wie z. B. von Sanders (2014, S. 68) konstatiert, eine

21Beim Gebrauch der Begrifflichkeit des ‚Materialen‘ orientiert sich Nohl hier allerdings auch nicht an der von Klafki und Benner vorgenommenen Parallelisierung mit Objektivismus bzw. legt diese freier aus, geht es hier doch in allgemeiner Hinsicht um die Erfahrungen der Sich-Bildenden, die zum prozessimmanenten ‚Materialen‘, also zum Gegenstand von Bildung werden. Dieses immanente ‚Materiale‘ erfüllt nicht notwendigerweise das von Klafki (1974) formulierte Kriterium eines für allgemeingültig erklärten ‚objektiven‘ Kulturinhalts und stellt auch keine aus gesellschaftlichen Erfordernissen abgeleitete Zweckbestimmung (vgl. Benner 2012) dar, sondern bezeichnet lediglich ein allgemeines, dem Sich-Bildenden (zunächst) Äußerliches. Ich werde im weiteren Verlauf dieses Kapitels herausarbeiten, warum ich Nohls Perspektive für sinnvoller halte als die ‚Engführungen‘ Klafkis und Benners auf ‚objektive‘ Inhalte respektive Zweckbestimmungen, auf die ich in analytischer Absicht im Folgenden dennoch weiter beziehen werde. 22Die

bei Nohl (2006b, z. B. S. 11) im Zentrum des transformativen Bildungsprozess stehenden „Lebensorientierungen“ der Akteur*innen verweisen z. B. angesichts ihrer praxeologisch-wissenssoziologischen Fundierung zudem immer zugleich auch auf die Kollektivität, in der sie entstanden sind und in die sie eingebunden sind (vgl. hierzu ausführlich Abschn. 3.2.3 und 3.3 und 4.1).

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3  Bildung und Normativität

„Entkopplung“ von ethischen Fragestellungen einhergeht.23 Antworten auf die im Raum stehende Frage, ob auch in den als ‚formal‘ bezeichneten Bildungskonzepten das der Bildung anhaftende ‚Gute‘ – in Form von (impliziten) ethischen Annahmen – mitschwingt, erhoffe ich mir u. a. mit der Perspektive auf den Ist- und Soll-Zustand von Bildung und das damit verbundene spezifische Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dies werde ich im Folgenden näher erläutern.

3.1.4 Zur Unterscheidung der Bildungsansätze anhand ihrer Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Im Kontext der Frage danach, worin die normativen Vorannahmen von Bildung bestehen, wird – so sollte deutlich geworden sein – auch gefragt, ob Bildung im Dienste des Subjekts oder der Gesellschaft gesehen wird. Allerdings, so habe ich auch aufgezeigt, ist die Beantwortung dieser Frage selten so eindeutig, wie dies die Aufteilung in ‚formale‘ und ‚materiale‘ Bildungstheorien suggeriert. Die in diesem Zuge angesprochene Frage nach dem Subjektivismus respektive Objektivismus des Bildungsbegriffs verweist gleichsam auf die Ebene der grundlagentheoretischen und methodologischen Fundierung des Bildungsverständnisses. Im Unterschied zur naturwissenschaftlichen Theoriebildung besteht in der qualitativen Forschung ein theoretischer „Konsens“ in Bezug auf die Annahme einer „sinnhaften Konstitution der Welt“ (Rosenberg 2011, S. 17). So seien „bildungstheoretische Referenztheorien, egal ob hermeneutischer, phänomenologischer, pragmatistischer, konstruktivistischer, semiotischer, systemtheoretischer oder auch (post-)strukturalistischer Provenienz, immer auch Theorien, in denen es in unterschiedlicher Art und Weise um eine Sinn- oder Bedeutungskonstitution“ (ebd.) gehe.

Vor dem Hintergrund dieser übergreifenden Gemeinsamkeit ergibt sich also, dass es in allen dargestellten Ansätzen in irgendeiner Weise darum geht, wie und von wem oder was Sinn erzeugt, tradiert und transformiert wird. Bei der

23Im

Umkehrschluss ließe sich auch fragen, ob denn jede Form von ‚Materialität’ sogleich ethische Fragestellungen berührt.

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

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t­ransformationstheoretischen Bildungsperspektive steht, wie eingangs bereits konstatiert wurde, die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen im Zentrum (siehe hierzu ausführlich Abschn. 3.2). Das Selbst- und Weltverhältnis bezeichnet hier also die biografische Bedeutungs- und Sinngebung, mit der das eigene Sein im Verhältnis zur Welt erfahren wird. Soll die Transformation dieser Sinngebung analysiert werden, so muss notwendigerweise eine Instanz der Sinnerzeugung – z. B. Individuum, Subjekt, Habitus oder Diskurs – festgelegt werden. Welcher Art diese ist, bestimmt zugleich den Grad der Veränderbarkeit des Selbst- und Weltverhältnisses, wird mit der Instanz der Sinnerzeugung doch festgelegt, in welchem Maße kollektive Strukturen den (Bildungs-)Prozess determinieren bzw. wie frei der oder die Sich-Bildende ist. Die Möglichkeiten und Grenzen des Bildungsprozesses hängen also unmittelbar mit der Ebene der Sinnerzeugung zusammen: So steht mit der Sinnebene des Subjekts traditionell dessen Freiheit im Fokus der Aufmerksamkeit24 – jedoch nicht in seiner diskurstheoretischen Auslegung.25 Mit dem (klassischen) Subjektverständnis geht ein anderes Verständnis des Bildungsprozesses einher als z. B. mit der Sinnebene des Habitus, der als Generierungsprinzip und Struktur von „Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata“ (Bourdieu 1993, S. 101) ungleich stärker auf die kollektive Strukturiertheit von Akteur*innen verweist und somit (auch) die Persistenz des Bestehenden betont. Die soeben skizzierte Unterscheidung von Bildungsverständnissen anhand der Ebene der Sinnproduktion korrespondiert wiederum mit der von Nohl (2006b, S. 15 ff.) eingezogenen Unterscheidung der unterschiedlichen Ausgestaltungen transformativer Bildungstheorie anhand verschiedener Handlungstheorien, die ihnen zugrunde liegen. Auf der einen Seite sieht er intentionale Handlungstheorien, bei denen das Subjekt relativ frei gegenüber der tradierten Struktur ist. Auf der anderen Seite stehen solche Handlungstheorien, die die präreflexive, soziale Erfahrung fokussieren. Letztere begriffen die Handlungspraxis vor allem als ein routiniertes Geschehen, in dessen Verlauf die Akteur*innen Wissensbeständen folgten, die ihnen selbst nicht unbedingt bewusst seien und die zudem biografisch aufgebaut wurden. Mit seiner Unterscheidung der intentionalen und der vorreflexiven Handlungstheorien richtet Nohl die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise des Prozesses von Bildung, auf die Frage danach, wie die

24Vgl. hierzu Marotzkis Bildungsansatz, Abschn. 3.2.1, und die Theorie des Transformative Learning, Abschn. 3.2.4. 25Vgl. hierzu Abschn. 3.2.2.

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3  Bildung und Normativität

Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen sich zuträgt; d. h. nicht nur welche Sinnebene am Prozess beteiligt ist, sondern in welcher Weise dies geschieht. Ich möchte nun – sowohl die Perspektive auf die Art der Handlungstheorie sowie jene auf die Instanzen der Sinnerzeugung der Bildungsprozesse einbeziehend – vorschlagen, die genannten Unterschiede auf einer etwas abstrakteren Ebene zu fassen: Als die Art und Weise, wie die verschiedenen Bildungsansätze das Verhältnis von Vergangenheit (als Entstehungskontext der ‚Ausgangslage‘ von Bildung), der Gegenwart (als Bedingungen, unter denen sich Bildung vollzieht) und der Zukunft (als Zielsetzung von Bildung) konzipieren. Während der Habitusbegriff z. B. die in der Vergangenheit entstandenen Strukturen in großem Maße auch in der Gegenwart als wirkmächtig begreift, fokussieren jene, stärker auf die Freiheit des/der Einzelnen ausgerichteten Subjektkonzeptionen vermehrt die mögliche Zukünftigkeit des/der Einzelnen, der/die sich – gemäß der intentionalen Handlungstheorie – relativ frei eine neue Zukunft wählen und die Vergangenheit voluntativ überwinden kann. Erstere Ansätze, die die präreflexiven Strukturen betonen, zielen hingegen stärker auf die in der Vergangenheit entstandene und in der Gegenwart weiter wirkende Strukturiertheit des Seins ab.26 Die Frage nach der spezifischen Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so abstrakt sie auch sein mag, umfasst also mehrere Unterscheidungskriterien für die verschiedenen Ausgestaltungen transformativer Bildungstheorie. Nicht nur korrespondiert dies mit der ‚Ebene der Sinnerzeugung‘, d. h. der hinter dem Bildungsbegriff stehenden Grundlagentheorie, sondern auch mit der Art und Weise des Prozesses (was wiederum auf die spezifische Handlungstheorie verweist). Die Frage nach der Relationierung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem lässt sich – und das ist zentral für die von mir angelegte Perspektive – zudem an die Frage nach ethisch-normativen Festlegungen andocken. Denn: Das Konzept von Bildung wird immer in der einen oder anderen Art und Weise einen –in der Vergangenheit entstandenen – Ausgangszustand von Bildung, d. h. einen Ist-Zustand, und einen – zukünftig – erwünschten Zustand, den Soll-Zustand, definieren. Danach zu fragen, was Bildung erreichen soll, was also ihr Soll-Zustand ist – und ob mit ­dieser ­Zieldefinierung (implizit) eine

26Bildung

ist mit einem solchen Verständnis möglich, wenngleich voraussetzungsvoll. (Vgl. hierzu die Ausführungen zu den praxeologischen Bildungsansätzen Abschn. 3.2.3, in dem auch der Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit, mit dem Bildung als Habitustransformation gefasst wird, erläutert wird (Abschn. 3.2.3.2), sowie Abschn. 4.1.1 zur Transformierbarkeit des Habitus.).

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

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­ erbesserung der Ausgangslage angenommen wird –, scheint mir ein hilfreiches V Mittel, um mich dem ethischen Gehalt der verschiedenen Ansätze zu nähern. Mit der Perspektive auf die Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lassen sich also alle bisher angesprochenen Aspekte ‚einfangen‘: Die Relationierung von Ist- und Soll-Zuständen verweist sowohl auf ethische Grundlegungen als auch – z. B. in Hinsicht auf die antizipierte Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Erreichens des gesetzten Soll-Zustands – darauf, in welches Verhältnis die pädagogischen Grundannahmen und Zielsetzungen die Sich-Bildenden zur Welt setzen. Und so stellt sich mit Blick auf den Ist-Zustand, den Ausgangspunkt der transformativen Bildung, die Frage, ob dieser eher von der Individualität der Sich-Bildenden her definiert wird oder ob es soziale und sozialstrukturelle Aspekte, die diesen bestimmen? Mit letzterem sind wieder Fragen nach der zugrunde gelegten sozialwissenschaftlichen Theorie angesprochen, Fragen nach Subjektivismus, Objektivismus oder Zwischenwegen, die diesem Dualismus entgegenstehen. Und wenn man daran anschließend z. B. danach fragt, ob die qualitative Veränderung, die sich im Zuge transformativer Bildungsprozesse zuträgt (oder eben, wenn sie als proklamierter Soll-Zustand von Bildung formuliert ist, in der Zukunft zutragen soll), vorrangig für die sich bildendenden Einzelakteur*innen oder eher für die Gesellschaft als wichtig erachtet wird, so ist der Bogen zu ethischen Dimension wieder gespannt. Die Frage nach der Relationierung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem wird im Folgenden (Abschn. 3.2) ein wichtiges Strukturierungskriterium für meine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansätzen der transformativen Bildungstheorie und dem pädagogischen Ansatz des Transformative Learning und dem besonderen Fokus auf ihre (implizite) Normativität sein. Bevor ich diese Auseinandersetzungen beginne, möchte ich aber zu guter Letzt noch auf das ‚Politische‘ der Bildung im Kontext von sozialen Bewegungen zu sprechen kommen. Auch diese Thematik kann im Übrigen gewinnbringend unter der Fragestellung der Relationierung von (politischen) Ist- und Soll-Zuständen betrachtet werden, wie ich bereits angedeutet hatte. Doch möchte ich die Frage nach dem ‚Politischen‘ von Bildung hier nicht so nonchalant in die Perspektive der Relationierung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem eingemeinden, sondern zunächst einen etwas detaillierteren Blick darauf werfen, was das ‚Politische‘ eigentlich ist – oder für diese Arbeit sein kann – und wie es mit Bildung im Kontext sozialer Bewegungen und der Frage nach der Normativität von Bildung zusammenhängt.

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3  Bildung und Normativität

3.1.5 Das ‚Politische‘ der Bildung im Kontext sozialer Bewegungen Das Verhältnis des ‚Pädagogischen‘ und des ‚Politischen‘ kann, so Ralf Mayer (2013, S. 148), von je her als ein Wechselverhältnis begriffen werden. Seit Aristoteles bilde „die Frage, was es genau heiße, […] ein geordnetes Zusammenleben zu ermöglichen […] einen maßgeblichen Drehpunkt der Auseinandersetzungen um Relationierungsvarianten von Politik und Pädagogik“. Was Mayer für die Pädagogik im Allgemeinen postuliert, konstatiert z. B. Carsten Bünger (2013) auch in Bezug auf Bildung, für die das ‚Politische‘ ein konstitutives Moment sei. Er sieht dies insbesondere in der „mehrdeutige[n] Verstrickung von Bildung in Macht und Herrschaftsformen“ (ebd., S. 221) begründet und arbeitet daran anschließend mit dem Fokus auf der machtdurchzogenen „Formierung und Unterwerfung“ der Subjekte „eine Politizität von Bildung“ (ebd.) aus, die er „als Möglichkeit der Unterbrechung, der Subversion und der Überschreitung“ (ebd., S. 223) von Macht versteht. So stellt er „die Frage nach einem Verhältnis zu den Verhältnissen“ (ebd., S. 15, FN 5) – gemeint sind hier die „sozial bedingten Selbst- und Weltverhältnisse“ (ebd.) – ins Zentrum seiner Perspektive auf Bildung. Ein solches Bildungsverständnis, bei dem die ‚Politizität‘ von Bildung anhand eines Kriteriums wie ‚Macht(verstrickung)‘ in den Blick kommt, ist angesichts dessen, dass das ‚Politische‘ immer auch Fragen der Gestaltungsmacht berührt, für Prozesse im Kontext des ‚Politischen‘ zweifelsohne gewinnbringend und kann eben diesen Aspekt par excellence erfassen.27 Doch geraten mit einer Fokussierung des Machtaspekts nicht eventuelle andere Aspekte, die ebenfalls bildungsrelevant sein können, aber trotz ihres Vollzugs in einem politisierten Kontext nicht unmittelbar macht- und herrschaftsbezogen sind, unter die sprichwörtlichen Räder? Und ist das ‚Material(e)‘ der Bildung wirklich automatisch ein ‚Politisches‘, nur weil sich der Prozess in einem politischen Kontext vollzieht? Was genau ist eigentlich das ‚Politische‘? Insbesondere, wenn die pädagogisch relevanten Inhalte von Bildungsprozessen sich auf politische Thematiken beziehen, liegt eine politische Dimension von Bildung sicherlich auf der Hand. Für einen Gegenstandsbereich wie die sozialen Protestbewegungen, in dessen Kontext die Bildungsprozesse der vorliegenden Studie gesucht und gefunden wurden, kann angenommen werden, dass die Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen, politischen ­Werten,

27Machtkritische

Zugangsweisen legen auch Koller (1999), Lüders (2007) und Rose (2012) vor (vgl. Abschn. 3.2.2).

3.1  Bildung und Normativität – Das Spannungsfeld umreißen

99

­ ormen, Geltungsansprüchen usw. zentral für die Bildungsprozesse ist. Zwar N sind soziale Bewegungen nicht Teil der institutionalisierten Politik, doch werden in ihrem Kontext politische Themen verhandelt und durchaus auch politischer Einfluss genommen (vgl. für viele: Rucht und Neidhardt 2007, S. 649; Rucht und Roth 2008, S. 13).28 Der Unterschied zur institutionalisierten Politik liegt nicht so sehr darin, ob in sozialen Bewegungen Auseinandersetzungen um normative, das ‚Politische‘ berührende Themen geführt werden, sondern betrifft vielmehr den Charakter dieser Auseinandersetzungen und die vergleichsweise geringeren Möglichkeiten zur gezielten Umsetzung von politischen Gestaltungsansprüchen.29 Als ein Bereich, der also tendenziell eher abseits, wenngleich keinesfalls jenseits der Macht zur Umsetzung von politischen Geltungsansprüchen verortet ist, muss das, was für die Akteur*innen von sozialen Bewegungen ‚politisch‘ ist, sich nicht automatisch mit einer politikwissenschaftlichen Definition decken, bei der das Regierungs- oder Staatshandeln im Zentrum steht. Haunss (2009, S. 32) weist darauf hin, dass (neuere) soziale Bewegungen, neben der von ihnen intendierten Beeinflussung politischer Entscheidungen, ihre „Wirkung“ vor allem „in der Veränderung alltäglicher Lebenspraxen“ entfalten. Soll diese Art des Wandels, der nicht unbedingt in einem engeren, auf das politische (Entscheidungs-)System bezogenen Sinne ‚politisch‘ ist, dennoch als ‚politisch‘ gelten, so benötigt es ein weit gefasstes Verständnis des ‚Politischen‘, das nicht auf institutionalisierte Politik beschränkt ist. Für ein solches „offeneres Verständnis vom Politischen als es dessen Engführung auf das gesellschaftliche Teilsystem der Politik nahelegt“, plädiert z. B. Bünger (2013, S. 221), wenn er an Arbeiten Roland Reichenbachs anschließend eine Definition des ‚Politischen‘ vorlegt, die sich nicht auf institutionalisierte Formen von Politik beschränkt, sondern die diskursive Auseinandersetzung in jeglicher „Sphäre der Artikulation und Diskussion unterschiedlicher

28Rucht

und Neidhardt (2007, S. 649) konkretisieren die Gestaltungsmöglichkeiten von Bewegungen abhängig von ihren politischen Gelegenheitsstrukturen; „je differenzierter und dezentralisierter sich das Bezugsgruppensystem seiner Umwelt darstellt […], umso höher wird die Wahrscheinlichkeit sein, dass soziale Bewegungen Ansatzpunkte für die Unterstützungen finden, die sie zur Durchsetzung ihrer Ziele brauchen – eine freie Presse, oppositionelle Parteien und ein breites Spektrum miteinander konkurrierender Interessengruppen, ebenso unabhängige Gerichte, deren Gesetzesauslegung auch zum Nachteil der politischen Instanzen ausfallen kann, gegen die sich Proteste richten“. 29Haunss (2013, S.  295) zufolge kündigten soziale Bewegungen gesellschaftliche Wandlungsprozesse zwar an, „bevor Richtung und Inhalt der Veränderungen“ feststünden und erhielten somit eine gewisse Gestaltungsmacht, könnten gleichzeitig aber die Richtung und das Ausmaß des sozialen Wandels nicht gezielt bestimmen.

100

3  Bildung und Normativität

Auffassungen“ (ebd., S. 95) als Ort des ‚Politischen‘ begreift. Mit dieser Perspektive erhält auch eine kollektive Handlungspraxis, in der mit „alternativen Entwürfen des Zusammenlebens“ (Trumann 2014, S. 57) experimentiert wird, eine Politizität, die „sich dann nicht an deren Realisierbarkeit messen lassen, sondern als Möglichkeit der Weiterentwicklung von Gesellschaft in Perspektivendivergenz gedacht werden“ kann (ebd.). Ein derart offenes Verständnis politischen Handelns als dort stattfindend, wo eine wie auch immer geartete ‚Öffentlichkeit‘ über kollektive Belange diskutiert, verweise Bünger (2013, S. 96) zufolge auf die „Freiheit zur Rede und Widerrede“ in der altgriechischen ‚Polis‘, ohne diese indes zu idealisieren oder eins zu eins auf heutige Verhältnisse zu übertragen. Der Fokus auf den Vollzug diskursiver Auseinandersetzungen um den Zustand und die Veränderungsmöglichkeiten der sozialen Welt – unabhängig von der Frage nach ihren institutionalisierten Formen – liefere, so Bünger (ebd.) weiter, „einen gehaltvollen Begriff vom Politischen, der es erlaubt, politisches Handeln von […] rechtlich-institutionalisierten Bestimmungen und den in modernen Gesellschaften üblichen Abstimmungsverfahren oder dem sozialen Subsystem der Berufspolitik, zu unterscheiden“.

In diesem Sinne sind soziale Bewegungen als Orte des ‚Politischen‘ par excellence zu verstehen. In ihrem Kontext werden u. a. Fragen danach gestellt, wie Kollektivität organisiert, von welchen Werten das Leben in sozialen Gruppen oder Gesellschaften geleitet werden soll und welches Verhältnis dabei der/die Einzelne im Verhältnis zum Kollektiven einnehmen soll. An ein solches weites Verständnis des ‚Politischen‘ möchte ich anschließen und in der vorliegenden Arbeit die Praxis von sozialen Bewegungen und ihren Bewegungsmilieus als von Bünger beschriebene ‚Sphären diskursiver Auseinandersetzung‘ und somit als politisch begreifen. Im Sinne des oben erläuterten reflexiven Verhältnisses von Theorie und Empirie beschränke ich mich aber nicht auf die Konstatierung der Politizität von Bewegungsmilieus, sondern spreche durchaus auch jenen biografischen Erfahrungen der Akteur*innen eine Politizität zu, die sich abseits des sozialen Bewegungskontexts zutragen oder zugetragen haben. Mit der praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive, wie sie der in dieser Arbeit angewandten Dokumentarischen Methode zugrunde liegt (vgl. Kap. 4), entbehren auch solche nicht (explizit) als ‚politisch‘ gekennzeichneten Erfahrungen und Handlungspraxen nicht eines politischen Bezugs. Mit der „Seinsverbundenheit des Wissens“ (vgl. Abschn. 4.1.2.2) ist kein Wissen originär unpolitisch (vgl. auch Abschn. 4.1.2.4), es verweist auf die Kollektivität, in der es

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

101

entstanden ist und in die es eingebunden ist, ist also immer auch hinsichtlich einer politischen Dimension interpretierbar. Es muss aber – anders herum betrachtet – auch nicht jede Handlungspraxis im Kontext sozialer Bewegungen ausschließlich hinsichtlich ihrer Politizität betrachtet werden, nur weil sie sich in einem ‚politischen‘ Kontext vollzieht; auch andere Erfahrungsdimensionen können in diesem politisierten Kontext eine Rolle spielen und die politisierte Handlungspraxis leiten. Ein weit gefasstes, praxeologisches Verständnis von Politizität sollte dieser ‚Beidheit‘ Rechnung tragen und also einerseits davon ausgehen, dass sich in den Biografien der Akteur*innen ein ‚implizit Politisches‘ empirisch dokumentieren kann – auch dort, wo der Kontext nicht explizit politisiert ist – und zudem das ‚explizit Politische‘ und seine ‚Sphären‘ der Auseinandersetzung nicht nur hinsichtlich ihrer Politizität relevant werden müssen, sondern darüber hinaus auch andere Erfahrungsdimensionen der Biografien tangieren können oder von ihnen tangiert werden. Eine Bildungsforschung, die sich offen hält für diese ‚Beidheit‘ der Politizität, bleibt flexibel genug, um die Politizität von Bildung in derjenigen Form, wie sie sich in der Handlungspraxis der Akteur*innen als relevant erweist, zu erfassen. Dabei vergibt sie eventuell die dezidierte Analyse eines bestimmten, in diesem Kontext relevanten Aspekts (wie z. B. der erwähnten Machtthematik), doch bleiben zugleich andere, nicht auf diese Thematik verweisende Anteile, die das Selbst- und Weltverhältnis tangieren (könnten), also bildungsrelevant werden (können), erkennbar. Dies scheint mir von Vorteil, um das ‚Politische‘ der Bildung im Kontext sozialer Bewegungen in den Blick zu bekommen, ohne es dabei zu besondern und als etwas gänzlich anderes als andere Dimensionen des Lebens hervorzuheben.

3.2 Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept ohne Ethik? Das Konzept von Bildung verstanden als transformatives Geschehen kann mittlerweile in der qualitativen Bildungsforschung als etabliert gelten.30 Dieser Bildungsbegriff der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung, der maßgeblich auf die von Marotzki (1990) ausgearbeitete Definition von Bildung als die „Transformation von Selbst- und Weltreferenz“ (ebd., z. B. S. 116) zurückgeht

30So konstatiert beispielsweise Rieger-Ladich (2014, S. 21), das transformative Bildungsverständnis hätte sich „hierzulande längst eingebürgert“, und Thompson und Jergus (2014, S. 14) sprechen sogar von einer „bildungstheoretische[n] Konsensformel“.

102

3  Bildung und Normativität

(siehe Abschn. 3.2.1), basiert auf der ‚formalen‘ Differenzierung von Bildung und Lernen. Lernen kann demnach als der Aufbau von Wissen und Können innerhalb eines gegebenen Rahmens verstanden werden, wohingegen sich der Rahmen selbst im Zuge von Bildungsprozessen transformiert (vgl. ebd., S. 41 ff.).31 Die Liste der in der Folge entstandenen, an Marotzkis Bildungskonzeption anknüpfenden Arbeiten der empirischen Bildungsforschung und Bildungstheorie ist in den letzten Jahren immer länger geworden (vgl. Koller 1999, 2012a; von Felden 2003; Nohl 2006b; Lüders 2007; Geimer 2010b; Fuchs 2011; Rosenberg 2011 u. 2016; Rose 2012; El-Mafaalani 2012; Helsper et al. 2013; Maschke 2013; Nohl et al. 2015a). Diese Arbeiten zeichnen sich durch ein – eingangs schon erwähntes – reflexives Verhältnis von (Bildung-)Theorie und empirischer Forschung aus. Marotzki (1990, S. 18) formulierte dieses Programm folgendermaßen: „bildungstheoretische Überlegungen [müssen] so weit getrieben werden […], daß sie empirisch anschlußfähig werden oder umgekehrt: Es gilt, empirische Materialien so weit zu durchdringen, daß an ihnen die konkrete Dialektik des Einzelnen und des Allgemeinen entfaltet werden kann.“

Hier geht es also nicht mehr um eine theoriefreie Annäherung an die Empirie zum Zwecke der induktiven Theorieentwicklung, wie dies Glaser und Strauss (1969) in den Anfängen der „Grounded Theory“ beabsichtigten (vgl. ebd., S. 37),32 sondern um die „wechselseitige […] Durchdringung von theoretischer Reflexion und empirischer Analyse“ (Koller 1999, S. 18). Wie ein solches „dialektisches Verhältnis“ (Dörner und Schäffer 2012, S. 14) im Forschungsprozess konkret umgesetzt wird, beschreibt von Rosenberg (2011, S. 93) wie folgt: „Bildungstheoretische Überlegungen werden an das empirische Material herangetragen, um dann sensibel für die Widerständigkeit des empirischen Materials eine dem Gegenstand angemessene neue Bildungstheorie zu generieren.“ Der empirische

31Marotzki,

dessen ‚Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie‘ (1990) in der Folge noch ausführlicher dargelegt werden wird, ist derjenige, der diesen Bildungsbegriff umfassend ausgearbeitet hat, jedoch war er – wie er auch selbst hervorhebt – nicht der erste, der mit dieser Unterscheidung arbeitete. In seinen Ausarbeitungen bezieht er sich auf die Vorarbeiten von Helmut Peukert (1984) und Rainer Kokemohr (1989). 32Dörner und Schäffer (2012) weisen allerdings auf Unterschiede zwischen den Herangehensweisen der beiden Autoren in ihren je eigenen Arbeiten hin. Im Gegensatz zu Glaser habe Strauss durchaus den „Einbezug von vorgängigen Theorien“ (ebd., S. 15) vorgesehen.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

103

Gegenstand, d. h. die ‚materialen‘ Erfahrungen,33 die sich im erhobenen Material dokumentieren, und theoretische Grundbegriffe sowie spätere theoretische Reflexionen dienen einander hierbei mit Nohls (2016a) Worten „als wechselseitige Spiegel“. Verschiedene Autoren haben das Feld einer solchen Verbindung von Bildungstheorie und qualitativer Bildungsforschung ‚geordnet‘. So unterteilt von Rosenberg (2011), wie bereits erwähnt, die verschiedenen Ansatze u. a. gemäß der ihnen zugrunde gelegten Instanzen der Sinn(re)produktion und -transformation in existenziell-phänomenologische, habitustheoretische, diskurstheoretische und pragmatistisch-wissenssoziologische. Nohl (2006b, S. 13 ff.) – der auch reine Theoriearbeiten einbezieht – unterscheidet hingegen reflexions-, sprach- und handlungstheoretische Ansätze. An diese Strukturierungen möchte ich anschließen und gleichzeitig den Fokus, wie bereits ausgeführt (siehe Abschn. 3.1.4), etwas anders legen: Unter der Perspektive auf die spezifische Art der Relationierung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem sollen im Folgenden die expliziten und impliziten ethisch-normativen Fundierungen der Bildungsansätze anhand der Analyse von proklamierten Ist- und Sollzuständen herausgearbeitet werden. Diese Perspektive korrespondiert zudem mit der Ebene der Sinnproduktion, auf der die Transformation angelegt ist, und der Art und Weise, wie der Prozess handlungstheoretisch konzipiert ist, weil beide Aspekte ebenfalls ein spezifisches Verhältnis der in der Vergangenheit entstandenen Strukturen zu ihrer Veränderung in der Gegenwart (in Richtung einer Zukunft) vorgeben. Es ist selbstredend, dass ein derartiger Fokus auch Grenzen mit sich bringt; dieser muss dahin gehend als kontingent gekennzeichnet werden, da unter der spezifischen Perspektive nicht die volle Breite der Themen der transformativen Bildungstheorie wiedergegeben werden kann und ich mich zudem auf die Darstellung der Ansätze einzelner Vertreter*innen beschränken werde.34

33Wenn

ich, wie hier, nicht auf Benner oder Klafki verweise, dann benutze ich im Folgenden den Begriff des ‚Materialen‘ in der von mir in Abschn. 3.1 vorgeschlagenen Weise als Bezeichnung für all die Erfahrungen der Sich-Bildenden, die zum ‚Material‘ des Bildungsprozesses, also zum Bildungsinhalt werden. 34Zum Überblick über den transformativen Bildungsdiskurs siehe z. B. auch Nohl (2006b); Rosenberg (2011); Fuchs (2011) und Koller (2012a u. b) und – ebenfalls mit der Perspektive auf die implizite Normativität der verschiedenen Ansätze – Koller (2015). (Auf letztgenannten Artikel von Koller, in dem er ein ganz ähnliches Anliegen verfolgt, wie ich dies mit dem vorliegenden Kapitel tue, werde ich im Folgenden an geeigneten Stellen noch eingehen.).

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3  Bildung und Normativität

3.2.1 Reflexionstheoretischer Ansatz: Bildung als Steigerung subjektbezogener Freiheit In seinem „Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie“ knüpfte Winfried Marotzki (1990) an Vorarbeiten an (vgl. Peukert 1984; Kokemohr 1985, 1989 und Kokemohr und Prawda 1989), arbeitete das Konzept aber grundlagentheoretisch und empirisch in umfassender Weise zu einer eigenständigen Bildungstheorie aus. Das Ergebnis seines Projekts, empirische Bildungsforschung und Bildungstheorie in ein produktives Wechselverhältnis zu bringen und beides darüber hinaus theoretisch in die Zeitdiagnose der Moderne einzubetten, ist ein Bildungsverständnis, das als wegweisend für zahlreiche in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten entstandene bildungstheoretische Arbeiten im Kontext der Biografieforschung und qualitativen Bildungsforschung gelten kann. Zum Ausgangspunkt seiner Analyse macht Marotzki die gesellschaftsdiagnostische Individualisierungs- und Kontingenzsteigerungsthese (siehe zum Beginn dieser Debatte: Beck 1983 u. 1986), der zufolge die gesellschaftliche „Transformation […] von einer Industrie- zu einer Informationsgesellschaft“ (Marotzki 1990, S. 19) durch einen „vielschichtigen Prozeß der Fragmentierung und Individualisierung gekennzeichnet [sei], der traditionelle Klassenlinien, Organisations- und Politikformen umzustrukturieren scheint“ (ebd., S. 19 f.). Aus diesem Umstand resultiere für die Einzelnen eine „Freisetzung aus alten Bindungen“ (ebd., S. 22), mit der gleichsam die „Not-Wendigkeit, sich einen eigenen, risikoreichen individuellen Weg zu suchen“ (ebd., S. 26), einherginge. Dies bringe hohe Anforderungen mit sich, die die Moderne an die Subjekte stelle und deren Effekte und Widersprüche Marotzki (1990, S. 17) folgendermaßen zusammenfasst: „Gefühle der Ohnmacht, die Einstellung der Gleichgültigkeit, Rückzugstendenzen auf die bloße Subjektivität, ein ethischer Relativismus machen sich breit bei gleichzeitig vielfach geforderter Moralität und gesinnungsethisch begründeter Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung angesichts der drohenden globalen Vernichtung der Lebensbedingungen“.

Vor dem Hintergrund dieser drastisch anmutenden Analyse, in der Marotzki biografische „Sinnkrisen“ (ebd., z. B. S. 103) in den Kontext gesellschaftlicher ‚Krisensituationen‘ (vgl. ebd., z. B. S. 51 u. 72) stellt und beide zum Ausgangspunkt von Bildung macht, seien Bildungsprozesse als „Lernprozesse auf höherstufigen Niveaus […] immer stärker vonnöten“ (ebd., S. 52). Nur diese könnten der „Veränderung des Komplexitätsniveaus der (gesellschaftlichen) Umgebung“ (ebd., S. 53) Rechnung tragen, ohne gänzlich „durch sie […] determiniert“ zu werden (ebd.). Marotzki (ebd., S. 17; Kursivsetzung S.T.) stellt sich die Frage, wie

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

105

„angesichts einer solchen gesellschaftlichen Dynamik eine Persönlichkeitsentwicklung stattfinden [kann], die sich an den humanitären Zielen von Freiheit, Mündigkeit und Verantwortung orientiert, die Leben ermöglicht, gestaltet und bewahrt?“

Die Ziele seines Bildungsprojekts, wie er sie hier umreißt, können also zusammengefasst werden als eine humanistische Orientierung an der Entwicklung der Fähigkeiten des und der Einzelnen, die zugleich im Dienste einer freiheitlichen und solidarischen Gesellschaft (und intakten Natur) stehen soll. (Jedoch darf bereits vorweggenommen werden, dass Marotzki den Aspekt der gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme des/der Einzelnen eingangs zwar theoretisch proklamiert, im weiteren Entwurf seiner Bildungstheorie darauf aber kaum mehr zurückkommt.)35 Bildung grenzt Marotzki – wenngleich er sie mit Bezug auf Batesons Lernstufenmodell mitunter auch als (höherstufiges) Lernen betitelt (vgl. Marotzki 1990, S. 52) – prinzipiell von Lernen ab: Während er dem „Lernen innerhalb eines Rahmens“ eine „akkumulierende Funktion“ zuschreibt, werden mit Bildung jene (Lern-)Prozesse bezeichnet, „die diese Rahmen transformieren“ (ebd., S. 52). Die im Bildungsprozess stattfindende Überwindung des Rahmens, der die „Interpunktionsweise von Welt- und Selbstauslegung fest[legt]“ (ebd.) und den Marotzki – u. a. in Auseinandersetzung mit dem biografietheoretischen Ansatz Fritz Schützes, dem existenzialistischen Zugang Jean-Paul Sartres und den philosophischen Ausführungen Gotthard Günthers – auch als „Modalitätenschema“ (ebd., S. 132), „existentielle Sinnklammer“ (ebd., S. 133) oder „Kontextur“ (ebd., S. 213) bezeichnet, konzipiert er – wiederum mit Bezug auf Schütze – als „qualitativen Sprung“ (Marotzki 1990, etwa S. 131) von einem „Orientierungssystem“ (Schütze 1981, etwa S. 123) zum anderen. So gefasst stellen Bildungsprozesse also nicht nur „jene Prozesse dar, durch die sich Welt- und Selbstreferenzen qualitativ ändern“ (Marotzki 1990, S. 52), sondern diese geschehen ihrem Wesen nach diskontinuierlich (vgl. ebd., S. 173). Marotzki begründet diese Konzeption mit einer dem Rahmen innewohnenden ‚Falsifikationsresistenz‘ (vgl. ebd., S. 52). Der ­Rahmen könne sich nur entweder selbst bestätigen oder aber qualitativ überwunden werden. Bildung geschieht folglich nicht ohne Weiteres, sondern ist voraussetzungsvoll. Negation und Freiheit erscheinen hier als zentrale Voraussetzungen für das Transformationsgeschehen, während Subjektivität (oder deren Steigerung) als sein

35Lediglich

einmal findet dies noch Erwähnung, wenn er „die die Person ausmachenden Möglichkeiten“ als „Bewußtsein, Freiheit, Verantwortlichkeit“ konkretisiert“ (Marotzki 1990, S. 64; Kursivsetzung S.T.).

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3  Bildung und Normativität

Ziel in den Blick gerät. Im Folgenden werde ich zunächst auf die Bedeutung von Negativität eingehen, um an späterer Stelle die Rolle von Freiheit in den Blick zu nehmen. In Auseinandersetzung mit Sartres existenzialistischer Philosophie, deren Absicht die „individuelle Besonderung des Allgemeinen“ (ebd., S. 60) mit der systematischen Einsatzstelle an der Einzelbiografie (vgl. ebd., S. 61) sei, formuliert Marotzki die Hervorbringung und Betonung von Subjektivität als unhintergehbares Bildungsziel (vgl. ebd.). Zentral sei der Blick auf „den Modus der aktiven Erfahrungsstrukturierung durch das Subjekt“ (ebd., S. 60). Diese Form der Subjektivität wiederum sei (so schließt Marotzki aus seiner Auseinandersetzung mit Günthers Theorie der Subjektivität, der sich wiederum auf Hegel bezieht) untrennbar mit Negativität verbunden. Günther gehe davon aus, „Subjektivität sei überhaupt nur über das Vermögen, negieren zu können, zu verstehen“ (Marotzki 1990, S. 193). Negativität ginge ihrerseits mit einer aktiven Entscheidungsleistung einher, denn „Entscheidung bedeutet Selektion, bedeutet somit Negativität“ (ebd., S. 194). In der Betonung der Entscheidungsfähigkeit des Subjekts – für die eine oder andere der möglichen „subjektiven Deutungsstrukturen“ (ebd., etwa S. 105; Kursivsetzung S.T.) – zeigt sich ein reflexionstheoretisches, wenn nicht gar intentionalistisches Verständnis von Subjektivität (vgl. hierzu auch Nohl 2006b, S. 13 f.), welches Marotzki auch verdeutlicht, wenn er in „Kognition und Negativität […] die Grundqualitäten von Subjektivität“ (1990, S. 193) erkennt. Zwar sind Bildungsprozesse hier „als spezifische Verarbeitungsformen gesellschaftlich auferlegter Problembestände“ (ebd., S. 138) konzipiert und die Welt diesen also nicht (gänzlich) äußerlich, doch steht das Subjekt mit seinen individuellen Aneignungs- und Erfahrungsverarbeitungsmodi deutlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Gesellschaft taucht bei Marotzki als eine in Form einer Gesellschaftsdiagnose antizipierte Größe auf, nicht aber als Ergebnis empirischer Rekonstruktionen. Marotzkis Bildungsbegriff ist also – als Zwischenfazit in der zusammenfassenden Formulierung Florian von Rosenbergs (2011, S. 23) und mit Blick auf die Ebene der Sinn(re) produktion und Sinntransformation – zu bestimmen „als die durch Negation erreichte existentielle Transformation vornehmlich kognitiv-voluntativer Kontexturen von Subjektivität“.36

36Zwar rechne Marotzki durchaus mit der vorreflexiven Ebene, jedoch lege er den Schwerpunkt seiner Ausarbeitungen auf einen Ansatz, in dem die Weltverfügung des Subjekts betont wird und so müsse „die vorbewusste Ebene im reflexionstheoretischen Ansatz notwendig eine Residualkategorie bleiben“ (Nohl 2006b, S. 14).

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

107

Wie diese Form der Sinnproduktion und -transformation hinsichtlich der Relation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und insbesondere in Bezug auf die hierin enthaltene Frage nach dem Verhältnis von Ist- und Soll-Zustand zu verorten ist, soll im Folgenden dezidierter betrachtet werden. In Auseinandersetzung mit Kokemohrs (1985) interaktionstheoretischem Ansatz nimmt Marotzki für den Bildungsprozess eine Distanzierung von „[s]ozialisatorisch etablierte[n] Muster[n] der Erfahrungsverarbeitung“ (Marotzki 1990, S. 149) an. „Durch Modalisierung (also durch Negation des einen oder der wenigen Muster) verschafft sich das Subjekt Zugang zu anderen, bisher nicht im Bereich des kulturell geteilten Wissens liegender Muster der Erfahrungsverarbeitung“ (Marotzki 1990, S. 148 f.). Bildungsprozesse beziehen sich so also auf die kulturellen Kontexte der Sozialisation, deren Rahmen durch Negation auf der Sinnebene des Subjekts transzendiert werden können. Diese kulturellen Kontexte sind aber nicht die gesamte Gesellschaft, sondern derjenige Teil, in den das Individuum bis dato einsozialisiert wurde. Das Neue erscheint als relational Neues dahin gehend, dass es durchaus vorher schon bestand, nur nicht für den sich bildenden Menschen verfügbar war. Es erscheint als etwas, bei dem das in der Vergangenheit Ansozialisierte negiert wird, wobei in Gegenwart und Zukunft eine sich von dem Ansozialisierten qualitativ unterscheidende neue Kontextur, ein „anderer Ort im Sein“ (ebd., S. 133), zum Tragen kommt. Vergangenheit spielt als das, wovon sich das Subjekt distanziert, eine Rolle und scheint – wenn auch nicht vollständig – durch (reflexive) Anstrengungen prinzipiell überwindbar.37 Marotzki sieht in dieser „Herstellung von Distanz“ zum sozialisatorisch Erworbenen „eine Bedingung der reflexionsmäßigen Aneignung der eigenen Vergangenheit“ (ebd., S. 105). Biografisierung – als „jene Form der bedeutungsordnenden, sinnherstellenden L ­ eistung des Subjektes in der Besinnung auf das eigene gelebte Leben“ (ebd., S. 101) – gibt Marotzki als Ziel dieses Prozesses aus, der vor allem „das Überschreiten der eigenen Vergangenheit im Namen der Zukunft, und das heißt im Namen des Möglichen“ (ebd., S. 136) zum Inhalt habe. Diese Betrachtung des Subjekts „von dessen

37Zwar

spricht Marotzki (1990, S. 52), wie bereits erwähnt, vom „Selbstbestätigungscharakter“ des bestehenden Rahmens, doch spielt diese Trägheit des Rahmens in seiner weiteren Analyse kaum eine Rolle. Dies könnte darin begründet liegen, dass er – dem Individualisierungstheorem folgend – eine der Voraussetzungen für die Lockerung des (Rahmen-)Gefüges, die ‚Freisetzung‘ des Individuums aus sozialen Bindungen oder, wie Marotzki (1990, S. 53) es in Anlehnung an Kokemohr auch nennt, die „Entkoppelung der Subjekt-Umwelt-Relation“ (in deren Zuge „der Freiheitsgrad […] größer“ würde), bereits als empirisch gegebene gesellschaftliche Grundvoraussetzung betrachtet (Auf die Bedeutung von Freiheit für den Transformationsprozess wird weiter unten noch ausführlicher einzugehen zu sein.).

108

3  Bildung und Normativität

Möglichkeitsstruktur her“ (ebd.), entwirft Marotzki in Anlehnung an die existenzialistische Phänomenologie Jean-Paul Sartres. Die Zukunft erscheint hier der Vergangenheit gegenüber überlegen und wird zur Bewertungsgrundlage der Gegenwart, denn: „Die Zukunft konstituiert den Sinn meines gegenwärtigen Fürsich als Entwurf von Möglichkeiten“ (ebd., S. 137). Marotzkis Konzeption von Bildung legt den Fokus also nicht auf das Geworden-Sein oder das augenblickliche Sein, sondern stellt den Positivbezug auf die Zukunft ins Zentrum von Bildung. Das – nicht weiter konkretisierte – Vergangene soll überwunden werden, während das Gegenwärtige seinen Sinn alleinig durch das Zukünftige erhält. Während die Möglichkeit und der Akt der Entscheidung des Subjekts weiter oben bereits mit dem Aspekt der Negativität zusammen gedacht wurden, so rückt mit Sartre die ihr innewohnende Freiheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sartre zufolge ist „Freiheit […] jene kleine Bewegung, die aus einem gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt“ (Sartre, zit. n. Marotzki 1990, S. 139). Um im Bildungsprozess dasjenige zu entfalten, was nicht im sozialen „Bedingtsein“ angelegt wurde, gilt Marotzki Freiheit als eine der Voraussetzungen von Bildung, da sie Möglichkeiten für „Emergenz und Produktivität von Subjektivität“ (Marotzki 1990, S. 53) bereithalte. Freiheit dient hier (neben Negativität) also als Brücke im Spannungsverhältnis zwischen dem Faktischen der Vergangenheit und Gegenwart und dem Möglichen der Zukunft. Marotzki bezieht sich diesbezüglich auch auf Kants Kunsttheorie: „Freiheit heißt bei Kant nämlich […] auch Freiheit von einengenden Regeln und Freiheit für Originalität und Schöpfertum, d. h. für Regeln, die durch das Subjekt selbst generiert worden sind. Die Vermutung läßt sich nicht abweisen, daß das, was Kant für das Genie als unabdingbar erachtete, im Zuge der Entwicklung einer Gesellschaft, deren Tendenz durch das Individualisierungstheorem bezeichnet werden kann, für jedermann zu einer unverzichtbaren, ja lebensnotwendigen Fähigkeit wird“ (Marotzki 1990, S. 48).

Freiheit gilt Marotzki also nicht nur als unverzichtbar in der modernen Gesellschaft, sie wird gleichsam verknüpft mit „Originalität und Schöpfertum“ und vom „Subjekt selbst generiert[en]“ Regeln.38

38Die

Betonung des Schöpfertums scheint in gewisser Weise der relationalen Lesart von Bildung (als Prozess der Hervorbringung eines anderen als des sozialisatorisch Erlernten), wie sie an anderen Stellen herauszulesen ist, noch eins draufzusetzen und das gänzlich Neue zum Ziel zu haben.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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Der Gedanke der Freiheit findet sich auch in Marotzki Auseinandersetzungen mit Kokemohrs (1985) Analyse der „Lockerung der System-Umwelt-Relation“ (Marotzki 1990, S. 146) wieder. Eine solche Lockerung ermögliche „tentative Wirklichkeitsauslegungen“ (ebd., S. 145), welche Kokemohr (mit Bezug auf Mead) im kindlichen Spiel als selbstverständlich angelegt betrachte und die im Zuge der Sozialisation jedoch sukzessive verloren gingen. Diese gelte es wiederzubeleben, schlussfolgert Marotzki (vgl. 1990, S. 146), denn eine „aktive, negationsreiche Welthaltung“ könne nur „entstehen, wenn das Subjekt Möglichkeiten zur Erprobung tentativer Wirklichkeitsauslegungen erhält“ (ebd., S. 147). Werden diese hingegen strikt auf gängige, d. h. bereits validierte Formen beschränkt, dann würden Bildungsprozesse unterlaufen, tendenziell Subjektivität desavouiert (ebd., S. 145). Eine negationsreiche Steigerung von Freiheit gegenüber der Welt (insbesondere in ihren tradierten Formen der ‚Wirklichkeitsauslegung‘) erscheint hier also als Ermöglicherin von Bildung und deshalb als erstrebenswert. Diese Freiheit, die auch als Steigerung von Handlungsfähigkeit gefasst werden kann, benötigt einen Kontext, der eine Lockerung der tradierten Wissensmuster ermöglicht. Um Bildung als einen derartigen, kreativen Prozess des Auslotens und Experimentierens konzipieren zu können, darf am Anfang nicht feststehen, was am Ende herauskommt. Bildung sei aus diesem Grunde, so Marotzki (1990, S. 42), „nur strukturtheoretisch bestimmbar“. Das heißt, es werden keine Kriterien erstellt, wie das Zukünftige sein soll. Festgelegt wird aber, dass es sein soll (denn Bildung wird von Marotzki mindestens als wünschenswert, teils sogar nötig betrachtet). Die Ethik dieses Ansatzes besteht also darin, dass in der Gegenwart ein zukünftiger Freiheitsgewinn angestrebt wird. Jedoch untermauert Marotzki selbst dabei seine Abstinenz von Bildungszielen, die außerhalb des Prozesses selbst begründet sind. Aus seinen Auseinandersetzungen mit Kokemohrs Ansatz schlussfolgert er eine hohe Bedeutung von Unbestimmtheit für einen Bildungsprozess, der im Zeichen des Experimentierens steht, und fasst dies folgendermaßen: „Wird Bildung als Positivierung von Bestimmtheit, also z. B. als Positivierung faktischen Wissens, angelegt und somit Zonen der Unbestimmtheit eliminiert, wird Bildung ausgehöhlt, letztlich verunmöglicht“ (ebd., S. 154). Hinsichtlich der Frage nach der ‚Materialität‘, ‚Formalität‘ und – in Marotzkis eigener Kennzeichnung seiner Bildungstheorie – ‚Strukturalität‘ von Bildung lässt sich also Folgendes konstatieren: Marotzki verwehrt sich explizit dagegen, Bildung im Dienste der Gesellschaft zu sehen, gegen eine ‚Materialität‘ von Bildung also, wie sie Benner definieren würde (vgl. hierzu Abschn. 3.1). Zwar stellt er eine Verbindung zur Gesellschaftsdiagnose der Moderne her, diese besteht aber in umgekehrter Richtung darin, dass Marotzki aus der Gesellschaftsdiagnose die

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3  Bildung und Normativität

Notwendigkeit von Bildung für das Individuum schlussfolgert und die Steigerung subjektbezogener Freiheit als (empirisches) Ergebnis von Bildung versteht, das aus den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne resultiert, nicht aber eine gesellschaftliche Zweckbestimmung hat. Freiheit und Mündigkeit in Form von Individualisierung konstatiert er mehr als (vermutete) empirische Tatsache in der Gesellschaft, denn als Vorgang, der der Gesellschaft zugute kommen soll. Und wenngleich Marotzki eingangs die Steigerung von Freiheit und Mündigkeit auch mit gesellschaftlicher Verantwortung verknüpft, so räumt er diesem Aspekt in seiner weiteren Ausarbeitung jedoch keinen Platz mehr ein. Das Subjekt erscheint hier vielmehr als eine Instanz, die zwar auf gesellschaftliche Entwicklungen antwortet, ansonsten aber weitestgehend losgelöst von ihnen agiert. Die Schlussfolgerung, Marotzkis Bildungsbegriff als ‚formal‘ zu bezeichnen, liegt – angesichts dessen, dass die ‚Form‘ des Bildungsprozesses aufseiten des Subjekts im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und (eine bestimmte Verfasstheit der) Gesellschaft nur als gegebene Voraussetzung betrachtet wird – mit allen bisher genannten Definitionen ‚formaler‘ Bildung nahe, wenngleich er diese Bezeichnung selbst ablehnt und den Begriff der strukturalen Bildungstheorie vorzieht. Letztere sieht er verwirklicht im Programm „einer radikalen Einzelfallauslegung“ (ebd., S. 233), welche das Subjekt und die Gesellschaft in ein dialektisches Verhältnis setzen würde. Nur anhand der Erfassung der „Komplexität des Einzelfalles“ sei es möglich, „einen ontologischen Ort aufzusuchen und zu sehen, wie von hier aus Kontingenz und Geworfenheit verarbeitet und gelebt werden; wie von hier aus vor allem Bildungsprozesse biographisch organisiert werden.“ (ebd.; Hervorhebung im ­Original)

Marotzki bezieht sich dabei auf die strukturtheoretischen Überlegungen Günthers und Sartres, die „beide ein Verständnis von Subjektivität und Geschichtlichkeit entwickelt haben, das sich der Einsicht verdankt, daß nur ein explizierbares dialektisches Verständnis von menschlichen Bildungsprozessen in der Lage ist, die immer komplexer werdende Vermittlung des Menschen mit einer hochtechnisierten Umwelt zu erfassen, deren Teil er gleichzeitig darstellt.“ (ebd.)

Auch wenn es Marotzki möglich wird, auf diese, den Einzelfall radikal auslegende Weise die gesellschaftlichen Strukturen (jedoch nicht in einem teleologischen, aufgabenbestimmenden Zusammenhang) in seine Perspektive hereinzuholen, so bleibt diese eben doch immer auf den Einzelfall beschränkt – schon alleine vor dem Hintergrund, dass der Prozess nur hinsichtlich seiner

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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Zukünftigkeit bestimmt werden kann –, was wiederum heißt, dass Bildung nur individuell am jeweiligen Einzelfall zu rekonstruieren ist.39 Marotzkis Zurückweisung teleologischer Bestimmungen von Bildung ist allerdings nicht gleichbedeutend mit der gänzlichen Abwesenheit ethisch-normativer Vorannahmen. Insbesondere durch die Anbindung an das Individualisierungstheorem sind – gleichsam recht unbestimmte – ethische Zielsetzungen zu konstatieren: Der ethische Gehalt seines Bildungsverständnisses besteht, so möchte ich dies zusammenfassen, darin, dem Subjekt in der Zukunft ein Mehr an Subjektivität zu ermöglichen. Es liegt hier also eine ‚formale‘ Steigerungssemantik vor, deren Inhalt vage, jedoch nicht willkürlich ist. Gesteigert werden sollen Negativität und auf diesem Wege Freiheit, was wiederum zur Steigerung des „Komplexitätsniveau[s] von Selbst- und Weltreferenz“ (ebd., S. 159) führen soll. Marotzki (2006, S. 129) bezeichnet den Kern seines strukturalen Ansatzes an anderer Stelle selbst als „Flexibilitätssteigerung“, welche er als angemessene Ersetzung des „materialen Indikators“ (ebd., S. 128) von Bildungsprozessen präsentiert. Soziale Verhältnisse treten dabei nur in einer generalisierten Form auf, um negiert zu werden. Die Gleichsetzung von ‚Formalität‘ und ‚Subjektbezogenheit‘ trifft in Bezug auf Marotzkis Bildungstheorie also zu. Dennoch bedeutet die ‚Formalität‘ dieses Bildungsansatzes nicht, dass er auf ethische Festlegungen gänzlich verzichtet – wie dies u. a. von Sanders (2014) kritisiert wurde. Es sind durchaus Vorstellungen darüber zu finden, welcher Art das ‚Gute‘, das der Bildungsprozess hervorbringen soll, ist. Die dem Ansatz inhärente Steigerungssemantik entbehrt nicht dem Gedanken der Verbesserung des Lebens des Subjekts. Jedoch benennt Marotzki diese Auseinandersetzungen nicht explizit als ethische Fundierungen. Koller (2015, S. 156) kritisiert diesbezüglich, Marotzki führe normative Bestimmungen „gleichsam unter der Hand und ohne nähere Begründung“ ein. So sieht er auch in der Steigerung von Reflexivität, die ich hier noch nicht erwähnt hatte, eine weitere implizite ethisch-normative Vorannahme, „denn denkbar wären schließlich auch Transformationen des Selbstbezugs, die nicht zu mehr, sondern zu weniger Reflexivität führen“. Es bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass Marotzkis reflexionstheoretischer Ansatz von Bildung durchaus etliche ‚formale‘ Festlegungen enthält, die ethische Implikationen mit sich bringen. Diese möchte ich übergreifend als zukunftsbezogene Steigerung der subjektbezogenen Freiheit gegenüber der Vergangenheit bezeichnen, die einhergeht mit diversen Aspekten, die in der Gegenwart liegen: Negativität, Flexibilität, Komplexität und

39Und

in der Tat beziehen sich Marotzkis empirische Ausarbeitungen auch nur auf eine einzige Biografie.

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3  Bildung und Normativität

Reflexivität. Wie bereits erwähnt, verbleiben diese ethischen Grundlegungen seiner Bildungstheorie in Marotzkis eigenen Ausführungen jedoch implizit.

3.2.2 Diskurstheoretische Ansätze: Bildung als Steigerung diskursiver Vielfalt und der Ermöglichung machtkritischer Grenzverschiebungen Eine andere Ebene der Sinnerzeugung als Marotzki stellen Christoph Koller, Jenny Lüders und Nadine Rose ins Zentrum von Bildung. Alle drei legen eine diskurs- und sprachtheoretische Fundierung des transformationstheoretischen Bildungsbegriffs vor. Während Koller (1999) mit seiner Habilitationsschrift den Anschub für die diskurstheoretische Grundlegung von Bildung gegeben und seinen Fokus auf die Hervorbringung neuer Diskursarten gelegt hat, tritt bei Jenny Lüders (2007) und Nadine Roses (2012) Arbeiten die gesellschaftliche Verfasstheit und die Verstrickung in vielfältige Machtverhältnisse stärker in den Blick; gleichwohl in je unterschiedlicher Art und Weise, wie im Folgenden zu sehen sein wird.

3.2.2.1 Steigerung der Anerkennung des Widerstreits und der Hervorbringung außerordentlicher Diskursarten Hans-Christoph Koller (1999) konzipiert in seiner Arbeit „Bildung und Widerstreit – Zur Struktur biographischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne“ Bildung – ganz ähnlich der Bildungsdefinition Marotzkis – als „Transformation grundlegender Kategorien des Welt- und Selbstbezugs“ (ebd., S. 18). Mit einem sprach- und diskurstheoretischen Fokus sowie mit der Gesellschaftsdiagnose Jean-François Lyotards rückt Koller die Postmoderne, die eine radikale Pluralisierung von Diskursarten mit sich bringe (vgl. ebd., S. 14), ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit. Auch mit diesem gesellschaftsdiagnostischen Ausgangspunkt für die Konzeption von Bildungsprozessen befindet er sich also durchaus in Kontinuität zu Marotzkis Analyse und der von ihm bemühten Moderne, betrachtet Lyotard (und Koller mit ihm) die Postmoderne doch nicht als gänzlich anders, sondern als „Radikalisierung und Zuspitzung“ (Koller 1999, S. 15) moderner Tendenzen. So entsteht dann auch die „Krisenerfahrung“, die bei Koller zum Bildungsanlass wird, im Kontext der postmodernen Auflösungstendenzen. Den Kern der Krise sieht Koller (2012a, S. 71) „darin […], dass Menschen auf Probleme stoßen, für deren Bearbeitung die etablierten Figuren ihres Selbst- und

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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Weltverhältnisses sich nicht mehr ausreichend erweisen“. Doch setzt die diskurstheoretische Perspektive ein anderes Schlaglicht auf die genannten Auflösungstendenzen und den Umgang mit ihnen als Marotzkis reflexionstheoretischer Ansatz dies tat: In Auseinandersetzung mit Lyotards Philosophie, in der er den Widerstreit als einen „Konflikt [begreift], der prinzipiell nicht zu schlichten ist, weil eine übergreifende Urteilsregel fehlt“ (ebd., S. 36), nach der die Überlegenheit einer Diskursart gegenüber der anderen legitimiert werden könne, fundiert Koller seine Theorie „transformatorischer Bildungsprozesse“ in einer Ethik des Widerstreits unterschiedlicher Diskursarten (vgl. ebd., S. 39 ff.).40 Mit der diskurs- und sprachtheoretischen Herangehensweise wird nicht – wie bei Marotzki – das Subjekt zum Erzeugungsprinzip von Sinn, sondern die Sprache. Aus dieser Perspektive stellt sich im Gegensatz zu Marotzkis Ansatz „Bildung nicht als eine aktive Leistung des Subjekts […], sondern eher als ein […] Prozess, der sich im Medium der Sprache (oder anderer symbolisch-semiotischer Systeme) an und mit Subjekten vollzieht“ (Koller 2012a, S. 95), dar. Sprache ist bei Lyotard als dem Subjekt vorgängige Instanz konzipiert. Nicht ein Subjekt stehe am Anfang, sondern ein Satz (vgl. Koller 1999, S. 33 f.). Die Ebene der Sinnerzeugung wird hier also auf die Ebene von Sprache verlegt. Dies bedeute nicht, dass Lyotard gar kein Subjekt kenne (vgl. etwa Koller 1999, S. 34, 147 f. oder Koller 2012a, S. 90 u. 93), doch wird hier „die Positionierung von Subjekten in Relation zur Welt und zu sich selber eben nicht als Ausdruck einer vorgängigen Subjektivität […], sondern vielmehr als Effekt sprachlicher Prozeduren“ (Koller 2012a, S. 96) begriffen. Aus den Sätzen und ihrer regelhaften Verknüpfung formierten sich dann die Diskursarten, in denen jeweils bestimmte Verkettungen „als ‚passend‘ oder ‚triftig‘ erscheinen“ (ebd., S. 35), während andere außerhalb der Diskursart lägen. Die bildungstheoretische Einsatzstelle liegt in der Analyse, dass es im Zuge der Postmoderne keine Metaerzählungen mit allgemeinem Geltungsanspruch

40Neben

der Ausarbeitung seiner Bildungstheorie anhand der sprachphilosophischen Arbeiten Lyotards zieht Koller hier auch Adornos bildungstheoretische Schriften zurate und setzt sich mit dem Humboldtschen Bildungsverständnis auseinander. Sein Bestreben, die transformationstheoretische Bildungstheorie bildungsphilosophisch weiter auszuarbeiten und einen Anschluss an den klassischen Bildungsbegriff herzustellen, führt Koller in anderen Arbeiten und zusammenfassend in seinem Buch „Bildung anders denken“ (Koller 2012a) fort. Hier stellt er weitere theoretische Anschlusslinien her, etwa zu Bourdieu, Lacan, Butler, Buck und Waldenfels und erhebt in diesem Buch den Anspruch, ein Einführungswerk in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse verfasst zu haben. Nohl et al. (2015b, S. 10, FN4) kritisieren hieran Kollers Engführung auf bestimmte Ansätze.

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3  Bildung und Normativität

mehr gäbe und dass stattdessen verschiedene Diskursarten aufeinanderträfen und miteinander im Widerstreit stünden. Differenzen zwischen den Diskursarten, auf die der Begriff des Widerstreits verweist, werden als nicht ineinander überführbar verstanden. Es fehle für sie ein vereinendes Regelsystem (eine einheitlich gültige, ‚triftige‘ Verkettung von Sätzen zu Satzfamilien). Demzufolge könne keine Diskursart als der anderen überlegen erklärt werden. Als Beispiel für verschiedene Diskursarten nennt Koller (1999, S. 36) „u. a. die kognitive oder wissenschaftliche, die ökonomische, die philosophische und die narrative Diskursart“. An anderer Stelle bezeichnet er die differenten Diskursarten auch als „Welt- und Selbstansichten, […] Lebensformen und […] Wertorientierungen“ (ebd., S. 155) und übersetzt damit Lyotards Begrifflichkeit gewissermaßen in einen allgemeineren Sprachgebrauch. Deutlich wird hieran, dass Koller Diskursarten nicht nur als Bezeichnung für die jeweiligen Eigenlogiken verschiedener gesellschaftlicher Bereiche fasst, sondern auch als unterschiedliche Positionierungen innerhalb eines dieser Bereiche, die sich beispielsweise als wertebezogene Unterschiede präsentieren. Der Versuch den Widerstreit zweier Diskursarten in einen Rechtsstreit – verstanden als Verhandlung von Differenzen, die innerhalb einer Diskursart geklärt werden – zu überführen, würde einer „Konfliktpartei notwendigerweise ein Unrecht zufügen“ (ebd., S. 39). Das Ziel von Bildung in Anlehnung an Lyotards Konzept des Widerstreits sei es nun, „Gerechtigkeit“ (Koller 2015, S. 158) zwischen den verschiedenen Diskursarten herzustellen. Dies könne in zwei verschiedenen Arten und Weisen geschehen, in Form einer „innovative[n]“ und einer „skeptische[n]“ Dimension (Koller 1999, S. 52; Kursivsetzung S.T.). Auf letztere möchte ich zunächst näher eingehen, um im Anschluss auf erstere zu sprechen zu kommen. Das Ziel von Bildung in der so verstandenen, widerstreitenden Postmoderne könne angesichts der Unmöglichkeit, den Widerstreit in einen Rechtsstreit zu überführen, „nicht mehr als Vereinheitlichung differenter Elemente oder als Besonderung eines Allgemeinen begriffen werden, sondern ist als Anerkennung, Offenhaltung und Ermöglichung des Widerstreits zu verstehen“ (ebd., S. 154).41

41Zwar

arbeitet Koller seine Bildungstheorie eng an Lyotards Sprach- und Diskurstheorie angelehnt aus, unterscheidet sich aber hinsichtlich der Einschätzung der Möglichkeit von Bildung maßgeblich von Lyotard, der Bildung als Zusammenführung unterschiedlicher Kompetenzen in einem Subjekt auffasste – ein Unterfangen, welches Lyotard seit der postmodernen „Diversifizierung der Sprachspiele [als] obsolet“ (Koller 1999, S. 146 f.) betrachtet habe. Koller hingegen rückt Bildung von dem Impetus der Einheitlichkeit weg, womit sie zugleich stärker in den Bereich des Möglichen rückt.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

115

Im Kern der ‚skeptischen Dimension‘ von Bildung geht es laut Koller also darum, eben diese „Respektierung von Differenzen zwischen den Diskursarten“ (ebd., S. 152) zum zentralen Prinzip zu erheben und dabei keiner Diskursart „die Rolle eines Metadiskurses“ (ebd.) zuzugestehen. An diesem Punkt setzt Rieger-Ladich (2014, S. 27) mit seiner als Frage formulierten Kritik an, wenn er wissen will, ob die Ermöglichung des Widerstreits wirklich konsequent durchzuhalten sei oder ob nicht doch der Punkt komme, an dem manche „Diskursarten stärker zu gewichten sind als andere?“ Rieger-Ladich scheint hier eine ethisch-normative Aussage darüber zu vermissen, welche Werte in einer Gesellschaft hierarchisch über anderen Werten stehen (sollten), kritisiert also, dass mit der Offenhaltung des Widerstreits keine Positionierung einhergeht, die sich in ‚materialer‘ Hinsicht – hier im Sinne Klafkis (1974) und Benners (2012) zu verstehen als auf einen ‚objektiven‘ Bildungsinhalt oder eine gesellschaftliche Zweckbestimmung bezogen (vgl. Abschn. 3.1) – festlegt. Kollers ethische Setzung – und eine solche liegt mit dem Bezug auf das Konzept des Widerstreits zweifelsohne vor – hat hingegen einen gänzlich anderen Fokus. Statt der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was das ‚Richtige‘ oder ‚Falsche‘ ist, geht es ihm zunächst einmal um einen Umgang mit verschiedenen Diskursarten, bei dem die Unterschiede nicht nivelliert, sondern anerkannt werden. Eine solche Anerkennung von Pluralität stellt ihrerseits eine Ethik dar, die durchaus auch Bezüge auf die gesellschaftliche Verfasstheit beinhaltet. Nimmt man z. B. die Kritik von Fuchs (vgl. 2015, S. 25), dessen Beispiel zufolge die vielfältigen politischen Lagerwechsel eines prominenten (heutigen) Rechtsextremisten als transformativer Bildungsprozess interpretiert werden müssen (siehe Abschn. 3.1), so kann man vor dem Hintergrund von Kollers ethischen Einlassungen argumentieren, dass das Bildungsziel der Offenhaltung von Widerstreit derart radikale Positionen ausschließen müsste. Denn die Offenhaltung des Widerstreits schüfe ja nicht irgendeine Form von Öffnung, sondern eine Offenhaltung des Widerstreits, bei der alle Diskursarten prinzipiell gleich gewichtet werden; mit Ausnahme jener Diskursarten, mit denen die Existenz anderer Diskursarten nicht akzeptiert würde. Koller (2015, S. 159) selbst formuliert dies folgendermaßen: „Ausgeschlossen wären damit Transformationen in Richtung auf Welt- und Selbstverhältnisse, die darauf abzielen, andere Diskursarten zum Schweigen zu bringen – also in Richtung totalitaristischer Positionen, die den Ausschluss, die Verfolgung oder gar Vernichtung Andersdenkender zum Ziel haben“.

Dies ist eindeutig ein ethisch qualifizierendes Kriterium von Bildung, wie Koller auch selbst betont (vgl. ebd., S. 159) und sich so gegen Rieger-Ladichs K ­ ritik,

116

3  Bildung und Normativität

es handele sich bei der Anerkennung, Ermöglichung und Offenhaltung des ­Widerstreits „um eine bloß formale Qualifizierung des Transformationskonzepts, bei der ‚alle Ansprüche gleich zu gewichten‘ wären“ (ebd., S. 160), verwehrt. Das Gegenteil ist der Fall, denn das Bildungsziel der Offenhaltung des Widerstreits der verschiedenen Diskursarten wird in Kollers Bildungsansatz ja selbst zu einer höher gewichteten Diskursart – gewissermaßen also zu einem Metadiskurs –, mit der es möglich wird, Diskursarten, die für totalitaristische Positionen stehen, zurückzuweisen. Die konsequente Weigerung der Priorisierung einer Diskursart über die andere (abgesehen von jener (Meta-)Diskursart der Offenhaltung des Widerstreits), die Rieger-Ladich als ethische Enthaltung kritisiert, ist demnach selbst ein ethisches Prinzip.42 Aber dazu später mehr, zunächst einmal möchte ich auf einen weiteren Aspekt der ethisch-normativen Komponente des hier dargestellten Bildungsansatzes eingehen. Koller geht nämlich noch einen Schritt weiter: Nicht nur gelte es, den Widerstreit offenzuhalten und zu ermöglichen, auch müsse es das Ziel von Bildung sein, „das bisher Nicht-Sagbare“ (Koller 1999., S. 150), dasjenige also, „das in der jeweils vorherrschenden Diskursart nicht artikuliert […] werden kann“ (ebd.), zum Ausdruck zu bringen. Diesen Aspekt von Bildung bezeichnet Koller (ebd., S. 152) dann als „innovative“ Dimension (vgl. ebd., S. 152; Kursivsetzung S.T.) seines Bildungsbegriffs. „Unter ‚Bildung‘ in diesem Sinne wären Prozesse zu verstehen, in denen neue Sätze, Satzfamilien und Diskursarten hervorgebracht werden, die den Widerstreit offenhalten, indem sie einem bislang unartikulierten ‚Etwas‘ zu Ausdruck verhelfen“ (ebd.).

Hier wird die ethische Fundierung des Bildungsansatzes noch deutlicher, führe die Hervorbringung von neuen Diskursarten, laut Lyotard doch dazu, dass „das Unrecht Ausdruck finden kann und der Kläger kein Opfer mehr ist“ (Lyotard, zit. n. Koller 1999, S. 150). Das Neue als Artikulierung des zuvor Nicht-Artikulierbaren wird so zugleich mit Fragen nach Gerechtigkeit und in gewisser Hinsicht sogar mit einem ‚emanzipativen‘ Gedanken verknüpft (ebd., etwa S. 149): Der ‚Kläger‘, der in einer dominanten Diskursart „ein bestimmtes Anliegen […] nur in einem ‚Gefühl‘ oder einem Schweigen zum Ausdruck“ (Koller 2015, S. 159) bringen konnte, (er-)findet nun eine neue Diskursart, die ihn befähigt, das

42Dass

Rieger-Ladich zu Recht auf die Grenzen von Wertepluralismus hinweist, macht diesen m. E. jedoch nicht weniger zum ethischen Kriterium.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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Anliegen zu artikulieren.43 Die dominanten Diskursarten werden so in gewisser Weise negiert oder zumindest in ihrer Geltung zurückgedrängt.44 Die beiden bildungstheoretischen Sollzustände der Offenhaltung des Widerstreits und des Ausdrucks des (zuvor) Nicht-Sagbaren beinhalten also eine machtkritische Nuance, sind sie doch zugleich ein Plädoyer gegen die Dominanz einzelner Diskursarten. Unter Bezug auf andere Autoren (vgl. Koller 2012a, S. 71 ff.) schneidet Koller das im Bildungsprozess entstehende Neue dann noch stärker darauf zu, dass es das Vorangegangene negiert und der herrschenden Ordnung entgegensteht: Insbesondere in Anlehnung an Waldenfels ginge es im Bildungsprozess nicht (lediglich) um die Erfahrung einer neuen, dem Negierten entgegengesetzten Ordnung, sondern um eine „Fremderfahrung“ im Sinne „dessen, was sich zeigt, indem es sich dem Zugriff einer je herrschenden Ordnung entzieht“ (ebd., S. 85). Mit Waldenfels handele es sich hier nicht um eine „einfache Negation“, sondern um eine „paradoxe Irritation, die auf der Außerkraftsetzung der Ordnung beruht“ (ebd.). Das Neue entzieht sich somit also der tradierten, die Vergangenheit repräsentierenden Ordnung bzw. knüpft an sie nur in (radikal) negierender Form an, insofern es gänzlich anders ist.45 Aus der Perspektive auf das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft definiert sich der ethische Aspekt von Kollers Bildungsansatz als machtkritisches Bestreben gegen den in der Vergangenheit entstandenen und in der Gegenwart wirkenden, dominanten Diskurs. Das Bildungsziel der Hervorbringung eines außerhalb der herrschenden Ordnung – oder eben: außerhalb der vorherrschenden Diskursart – stehenden Außerordentlichen eröffnet eine ethische Komponente in machtkritischer Hinsicht, deren Endpunkt (am empirisch aufgespürten Fall meint dies die Gegenwart) sich nicht nur größtmöglich vom Ausgangspunkt unterscheiden soll, sondern dabei – durch seine bloße Existenz – vorangegangene Ordnungen (und damit einhergehende Machtverhältnisse)

43Da

Koller diskurstheoretisch argumentiert und sich in theoretischer Hinsicht nicht am Subjekt, sondern an sprachlichen Prozeduren (Koller 2012a, S. 96) orientiert, ist ‚Emanzipation‘ – von der er selbst auch nicht spricht – hier nicht in einem Verständnis, das dem Subjekt umfassende Souveränität gegenüber der Struktur verleiht, zu verstehen. In diesem Sinne wäre ‚der Kläger‘ hier auch nicht als ein einzelnes Subjekt mit seinem individuellen Anliegen zu verstehen. 44Im Sinne der Offenhaltung des Widerstreits dürften sie jedoch nicht gänzlich überwunden werden. 45Eine Festlegung, mit der die Wahrscheinlichkeit von Bildung – die Koller (vgl. 1999, S. 146 f.) mit dem Abrücken von Lyotards Anspruch eines in sich einheitlichen Subjekts ja erhöht hatte – nun wieder stark verringert wird.

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3  Bildung und Normativität

infrage stellt. Wie bei Marotzki, wenn auch in anderer Ausgestaltung, kann auch bei Kollers Bildungsansatz als eine Art Steigerungslogik gesehen werden. Vereinnahmungen durch vorherrschende Diskursarten oder solche, die einen Machtanspruch erheben, wird die Steigerung der Anerkennung verschiedener Diskursarten sowie deren Anzahl entgegengestellt. Diese Steigerung der Bandbreite des Möglichen geschieht vor allem durch die machtkritische Steigerung des Sagbaren. Ist- und Soll-Zustand der vorangegangenen Ordnung aus der Vergangenheit und der neuen, gegenwärtigen Ordnung werden dabei relational definiert. Man kann Kollers Bildungsansatz, so gesehen, sicherlich als ‚formal‘ bezeichnen, ist der Sollzustand doch als ein relationales ‚Weniger‘ an vorherrschenden Diskursen und als ein relationales ‚Mehr‘ an Widerstreit und neuen Diskursarten zuvorderst ‚formal‘ definiert. Doch zeigt sich hier, dass die ‚Form‘ der Bildung eben nicht notwendiger Weise den Verzicht auf eine qualifizierende, ethische Richtungsgebung bedeutet, die bei Koller zudem implizit auch ein gesellschaftliches Sollen nahelegt bzw. – wenn man nicht so weit gehen will – zumindest auf Fragen, die von gesellschaftlicher Relevanz sind, verweist. Schließlich geht es bei dem ‚formal‘ bestimmten ‚Mehr‘ an (widerstreitenden) Diskursarten um gesellschaftliche Diskursarten, die das Subjekt überhaupt erst hervorbringen. Wenn sich dann der Welt- und Selbstbezug eines Subjekts, also das Verhältnis der Diskursarten ‚im‘ Subjekt, aufgrund von „gesellschaftlich bedingte[n] Fälle[n] von Widerstreit, mit denen ein Subjekt konfrontiert wird“ (Koller 2015, S. 159), dahin gehend verändert, dass neue Diskursarten entstehen, so muss von dieser Veränderung auch die Gesamtmenge der gesellschaftlichen Diskursarten betroffen sein. Der Prozess dürfte also keine Einbahnstraße in Richtung des Subjekts sein, womit die ‚Formalität‘ des Bildungskonzepts, anders als bei Marotzkis Ansatz, keinesfalls subjektivistisch angelegt ist. Gesellschaftliche Strukturen fließen in vielfältiger Weise in diesen Bildungsansatz ein: als Ausgangspunkt von Bildung, aber auch in Richtung einer qualifizierenden Aufgabenhaftigkeit von Bildung, die auf ein Sollen der Gesellschaft verweist. Angesichts dessen, dass im Fokus jedoch der ‚formale‘ Prozess des – von den gesellschaftlichen Diskursen untrennbaren – Subjekts und seine ‚Offenhaltung des Widerstreits‘ steht, ist der gesellschaftliche Bezug indirekter bzw. immenenter Art. Hinsichtlich der hier nicht explizit vorgebrachten und doch aufscheinenden Aufgabenableitung aus gesellschaftlichen Erfordernissen verweist der gesellschaftliche Bezug – auch mit Benners (2012) Definition, die auf die gesellschaftliche Zweckbestimmung rekurriert (vgl. Abschn. 3.1) – auf eine immanente ‚Materialität‘ derartiger Bildungsprozesse.46

46Ich

unterscheide hier begrifflich den ‚Gesellschaftsbezug‘ im Allgemeinen von einer ‚Materialität‘, wie sie Benner (2012) und Klafki (1974) definieren (vgl. Abschn. 3.1), weil

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

119

So wird hier nicht nur deutlich, dass ‚formal‘ definierte Bildungsprozesse nicht subjektivistisch sein müssen, sondern auch, dass ihnen eine deutliche ethische Richtung gegeben werden kann, die auch ‚materiale‘ Bezüge bereithält, ohne dabei im eigentlichen Sinne Inhalte für den Bildungsprozess festzulegen.47 Abschließend bleibt noch zu konstatieren, dass Koller kein Ende für den Bildungsprozess bestimmt. Angesichts dessen, dass Bildung überall dort stattfinde, „wo immer sich sprachliche Innovationen ereignen, die den Widerstreit nicht nur anerkennen, sondern […] (wieder) in Kraft setzen“ (Koller 1999, S. 153), gilt ihm Bildung als nicht abschließbar. Da der Widerstreit an sich nicht aufzulösen ist, müsse das „entscheidende Indiz eines Bildungsprozesses angesichts radikaler Pluralität“ eine „rhetorische Öffnung (oder das rhetorische sich Offenhalten) für neue Selbstdefinitionen in einer von der beständigen Möglichkeit des Widerstreits geprägten Welt“ (Koller 2002b, S. 114) sein. Es geht bei Kollers Bildungsverständnis also nicht so sehr um das (Er-)Finden der einen, neuen Diskursart als darum, die Offenheit für die Entstehung weiterer, neuer (oder eben sogar außerordentlicher) Diskursarten – und somit Bildung – zu verstetigen.

3.2.2.2 Steigerung von Machtkritik und Seinsungewissheit in produktiver Grenzverschiebung Auch Jenny Lüders (2007) verfolgt in ihrer Arbeit „Ambivalente Selbstpraktiken – Eine Foucaultsche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs“ das Projekt eines diskurstheoretisch fundierten Bildungsbegriffs. Ihre bildungstheoretischen Ausarbeitungen stützt sie maßgeblich auf eine Auslegung von Foucaults Kritikverständnis, aber auch auf seine ‚genealogischen‘

bei beiden Autoren nicht jegliche Form von Gesellschaftsbezug die ‚Materialität‘ von Bildung bestimmt, sondern nur ‚objektivierte‘ Inhalte (Klafki) bzw. eine Zweckbestimmung, die sich an ‚objektiven‘, d. h. gesellschaftlich attestierten Erfordernissen ausrichtet (Benner). Hier wird deutlich, dass die scheinbare Klarheit, die der Begriff der ‚Materialität‘ von Bildung bietet, letztlich nicht gegeben ist. 47Der Bezug auf Gesellschaft und die Andeutung eines gesellschaftlichen Sollens, ohne dabei Inhalte festzulegen, macht zugleich eine Grenze von Klafkis (1974) Definition des ‚Materialen‘ deutlich, in der er – wie bereits erwähnt – eine Verknüpfung von Bildungsinhalten mit einer gesellschaftlich ‚objektiven‘ Wertigkeit vorgenommen hat. Koller weist in die Richtung einer ethischen Wertigkeit mit gesellschaftlicher Relevanz, ohne überhaupt auf Inhalte von Bildung einzugehen – es sei denn, man fasst die ‚Offenhaltung des Widerstreits‘ weniger als ‚formales‘ Prinzip des Umgangs mit Widerstreit denn als eigenständigen Bildungsinhalt (Ich würde hier jedoch meinen, die ‚Offenhaltung des Widerstreits‘ gibt mehr das Bildungsziel eines Prozesses an als dessen Inhalt.).

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3  Bildung und Normativität

­ ekonstruktionen historischer Machtdispositionen (vgl. Lüders 2007, S. 94 ff.) R und die daraus entwickelte Gesellschaftsdiagnostik der „Kontrollgesellschaft“ (ebd., S. 98 ff.). Foucaults Ansatz sieht Lüders an drei bildungstheoretische Dimensionen, die zentral für die Perspektive auf die Prozesshaftigkeit von Bildung seien, anschließbar bzw. als geeignete Grundlage für deren „produktive Reformulierung“ (ebd., S. 125): „die Konstruktion des Subjekts“, den „analytischen und kritisch-innovativen Gesellschaftsbezug“ und die „ethische[…] Grundlage des als ‚Aufgabe‘ verstandenen Bildungsgeschehens“ (ebd.). So konstatiert Lüders (ebd.) zur erstgenannten Dimension: ‚Subjektivität‘ […] wird in einem Netz aus Wahrheitsspielen, Machtbeziehungen und Selbsttechniken hervorgebracht und durch dieses geformt und begrenzt. Individuen sind damit in ein komplexes Spiel von Wissen, Macht und Ethik eingestellt, das sie auf drei Achsen subjektiviert und unterwirft.

Subjektivität entsteht laut Lüders also im Konglomerat aus „Wissen, Macht und Ethik“, wobei dem Machtaspekt bei Foucault sicherlich eine herausragende Rolle zukommt, durchdringt die Macht doch auch die beiden anderen Achsen des Wissens und der ‚Techniken des Selbst‘. Dies manifestiert sich auch in der Untrennbarkeit von Subjektivierung und Unterwerfung bei Foucault (wie sie bereits im obigen Zitat aufscheint) und aus deren Konstatierung Lüders für den Prozess der Subjektivierung schließt, dass er als „ambivalenter Vorgang“ gelten muss, „denn die Unterwerfung unter spezifische Seinsbedingungen konstituiert gleichzeitig die Möglichkeit subjektiver Handlungen“ (ebd., S. 126). Mit dieser Subjekttheorie Foucaults, die dem „Dualismus von Freiheit und Fremdbestimmung den Boden“ entzieht (ebd., S. 88), ist eines der Spannungsfelder, in denen sich Bildungsprozesse in Anschluss an Foucault bewegen, umrissen. Insbesondere subtile Unterwerfungsformen der Selbstführung würden von Foucault als am machtwirksamsten gekennzeichnet; auf diese Weise gerieten „[b]ildungstheoretisch aufgeladene Konzepte wie ‚Autonomie‘, ‚Identität‘ und ‚Emanzipation‘“ in die Kritik und „müssen vor diesem Hintergrund auf ihre Verstrickung in Machtpraktiken hin befragt werden“ (ebd., S. 125). Die Machtkritik wird zur zentralen Schraubstelle, wenn Lüders die Frage stellt „wie […] Bildung als ein Veränderungsgeschehen, das sich gegen diese Formen der Unterwerfung richtet, gedacht werden kann“ (ebd., S. 126).48

48Die Antwort

findet sie im Konzept der Entsubjektivierung, auf das weiter unten noch ausführlicher einzugehen sein wird.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

121

Doch Lüders belässt es nicht dabei, Bildung lediglich machtkritisch zu beleuchten. Eine zweite bildungstheoretisch relevante Dimension von Foucaults Arbeiten sieht sie in seinen Rekonstruktionen der historischen Veränderlichkeit von Subjektivierungsformen. Als Schlussfolgerung für einen sich auf Foucault beziehenden Bildungsbegriff bedeute dies, dass auch Bildung „historisch je spezifisch, mit Blick auf die gegenwärtig vorherrschenden Subjektivierungsformen bestimmt werden“ (ebd.) müsse. Was Bildung ist, bindet Lüders demzufolge an die jeweiligen historischen Gegebenheiten an. Mit Foucault diagnostiziert sie der heutigen Gesellschaft den Zustand einer „‚Kontrollgesellschaft‘, […] die in erster Linie auf eine umfassende und sich verstärkende Subjektivierung zielt“ (ebd.). Diese sei vorrangig geprägt durch „subtile Kontrollprozeduren, die das Individuum dazu bringen, ein ‚Unternehmer‘ seiner selbst zu werden, der sich mittels Selbstpraktiken führt und ausarbeitet“ (ebd.). Lüders bezieht sich hier insbesondere auf Foucaults Konzept der ‚Gouvernementalität‘ (­Foucault 2003), welches sie als „wesentliche Erscheinung der ‚postfordistischen‘ Kontrollgesellschaft“ (Lüders 2007, S. 104) ausmacht. In dieser „Komplizenschaft von ‚Bildung‘ und ‚Macht‘“ (ebd., S. 13) liefe Bildung Gefahr, zum Handlanger der Macht zu werden (vgl. ebd., S. 107). Lüders schlussfolgert aus diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer engen Bezugnahme von Bildungstheorie auf Gesellschaftsdiagnosen und geht so weit, letztere „zur Basis für die Neubestimmung des Bildungsbegriffs“ (Lüders 2007, S. 66) zu erklären. Der Soll-Zustand von Bildung wird hier also auf der Grundlage einer gesellschaftstheoretischen Zeitdiagnose bestimmt. Lüders geht sogar noch weiter und fordert eine doppelte kritische Überprüfung von Bildung im Kontext von Gesellschaftsdiagnosen: Zunächst müsse man vor dem Hintergrund der jeweiligen – gegenwärtigen und historisch gewachsenen – Gesellschaftsdiagnose fragen, wie „‚Bildung‘ in dieser Gesellschaft“ (ebd., S. 109), „z. B. der ‚Wissensgesellschaft‘“ (ebd.), „aussehen müsste“ (ebd.). Zukünftig, in einem weiteren Schritt, gelte es aber „zu prüfen, inwieweit das Konzept der ‚Bildung‘ selbst noch von den diagnostizierten Prinzipien affiziert ist“ (ebd.) So strukturiert die Gesellschaftsdiagnose den Erkenntnisgegenstand Bildung also doppelt vor. Mit dieser (zweifachen) kritischen Bewegung bekommt Bildung eine Aufgabenhaftigkeit, die sich relational zur Gesellschaftsdiagnose bestimmen lässt, universelle Geltungsansprüche ablehnt und Kritik zum Prinzip, auch von Bildung selbst, erhebt. Eine kritische Überprüfung in umgekehrter Richtung – der Gesellschaftsdiagnose an dem empirisch Auffindbaren –, wird jedoch nicht vorgesehen. Vor dem Hintergrund der unauflösbaren Verstrickung von Bildung und Macht wird Foucaults Verständnis von Kritik für Lüders zur dritten bildungsrelevanten Dimension in seinem Werk, mit der auf die „Möglichkeit und Notwendigkeit

122

3  Bildung und Normativität

verwiesen [würde; S.T.], sich den Subjektivierungsmechanismen zu entziehen“. Zum Schlagwort und zum Kern von Lüdersʼ Bildungstheorie wird so die „Entsubjektivierung“, verstanden als „Kritik“ und „als eine Arbeit an den gegebenen Grenzen unseres Seins“ (ebd., S. 127). Während bis hierhin kritische Auseinandersetzungen im Zentrum standen, kommt mit der Entsubjektivierung aber auch ein innovativer Anteil von Bildung zum Vorschein. Lüders betont gleichermaßen den experimentellen wie auch weitreichenden und existenziellen Charakter dieser praktischen Kritik (ebd., S. 118): „Es handelt sich um die Annäherung an das eigene Sein in seiner ganzen Bedingtheit. Da ich diese Bedingungen aber in ihrer Totalität nicht erfassen kann, muss ich sie experimentell austesten, mich ihnen strategisch nähern, sie probehalber anders denken, um sie in diesem ‚Anders denken‘ probehalber erfahrbar zu machen. Und genau in diesem Versuch einer ‚kritischen‘ Erfassung der Grenzen und Bedingungen des eigenen Seins werden diese möglicherweise verschoben“.

Beschrieben wird hier eine Suchbewegung, die sich als „praktisch-strategisches Grenzexperiment“ (ebd., S. 126) mit dem Ziel der kritischen Verschiebung der Grenzen des eigenen Seins gestaltet. Werden die Grenzen unseres „akzeptierten Subjekt-Seins […] als anders-möglich“ entworfen, so würde „damit die eigene Anerkennbarkeit riskiert“ (ebd.). Bildung als Entsubjektivierung bedeutet in diesem Sinne also das eigene (sozial anerkannte) Subjekt-Sein durch experimentelle, produktive Grenzverschiebung zu gefährden und auf diesem Wege neue (Macht-) Relationen hervorzubringen.49 Zwar lehnt Lüders universelle Normen ab und kann keinen „Ort [erkennen; S.T.], von dem aus eine universell gültige Norm gegründet und legitimiert werden könnte“ (ebd., S. 110), doch beinhalten ihre bildungstheoretischen Überlegungen dennoch eine – sogar recht deutlich vorgebrachte – ethische Komponente: Bildung vollzieht sich ihrer Definition nach nicht im rein ‚formalen‘, sondern nur im kritischen Wandel, der seinerseits ein ‚Anders-Werden‘ impliziert, „das sich in seinen Entwürfen auf bestimmte ethische Prinzipien bezieht“ (ebd., S. 256). Genau diese qualifizierende und in ethischer Hinsicht Stellung beziehende Unterscheidung sei „jedoch mit Foucault […] ausgesprochen schwierig zu denken“ (ebd.), da „sich kaum Anhaltspunkte für die Möglichkeit der […] qualifizierenden

49Lüders

hat dabei jedoch keinen Ausstieg aus der Macht im Sinn, da es mit Foucault keinen Ort außerhalb von Macht geben kann. Vielmehr ginge es um eine Verschiebung innerhalb der Machtrelationen (vgl. Lüders 2007, S. 115 ff.) mit dem von Foucault ausgegebenen Ziel des „weniger regiert [W]erden[s]“.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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Unterscheidung im Feld der ambivalenten Selbstpraktiken“ (ebd., S. 257) fänden. Um diese Lücke zu füllen, zieht Lüders zur Erklärung des Anlasses von Bildung das Konzept der ‚Seinsungewissheit‘ von Kokemohr heran.50 Bildungsprozesse ließen sich dann, so schlussfolgert Lüders (2007, S. 258): „als Effekte von Selbstpraktiken verstehen, in denen Seinsungewissheit aufscheint und Möglichkeiten eines Verhaltens zu dieser Seinsungewissheit entworfen werden, die nicht mittels einer Identifizierung und Selbstvergewisserung auf eine Abwehr dieser Selbstdifferenz zielen. ‚Bildung‘ bedeutet demzufolge auch den Verzicht auf Souveränität, Autonomie, Herrschaftsfantasien und erfordert damit eine Haltung, die sich dem Anderen und Fremden aussetzt“.

Mit diesem Bildungsbegriff, der konstitutiv mit der Überschreitung der Grenzen des eigenen Subjekt-Seins in Verbindung steht, bringt Lüders – vielleicht sogar noch stärker als Koller – ein Bildungsverständnis in Anschlag, das Bildung zum Ausnahmefall werden lässt.51 Gleichzeitig geht Lüders aber auch davon aus, dass Machtpraktiken alles durchziehen und so auch die Entsubjektivierung sich in diesem Netz bewegt, in diesem Sinne also nur ein ‚Weniger‘ an Machtverstrickung bedeuten kann. Folglich weist Lüders selbst darauf hin, dass „sich die für Möglichkeiten des ‚Anders-Werdens‘ entscheidenden Selbstpraktiken immer im ambivalenten Spannungsfeld von Subjektivierung und Entsubjektivierung“ (ebd., S. 249) bewegten und diese im Rahmen des Selbstexperiments „ebenso Moment der Unterwerfung wie Widerstand sein“ (ebd., S. 137) könnten. So läuft der Widerstand (sprich: die Entsubjektivierung) gleichsam Gefahr, ebenfalls Ausdruck derjenigen Machtform, der sie sich entziehen will, zu sein. Mit ihrer Betonung des Spannungsfelds von Bildung zwischen den beiden unversöhnlichen, aber aufs Engste miteinander verzahnten Polen der sich unterwerfenden Subjektivierung und der (zumindest weniger unterworfenen) Entsubjektivierung, weist Lüders auf die unauflösbare Ambivalenz dieser Selbstpraktiken, also von Bildung, hin. Schwierig scheint es, eine solche ­Konzeption

50Lüders

(2007, S. 257) ist sich aber noch nicht sicher, ob dieser Anschluss gelingen kann. Sie weist auf mögliche Grenzen der Anschlussfähigkeit hin und klassifiziert „die Konzepte Foucaults [lediglich als; S.T.] reichhaltige bildungstheoretische Anregungen“ (ebd., S. 258). 51Rose (vgl. 2012, S. 155 f.) z. B. möchte den Aspekt der Seinsungewissheit als Voraussetzung für Bildung gerne eingeklammert sehen, da er – in seiner philosophischen Auslegung, auf die sich Lüders durchaus beziehe – zu radikal sei und eine relative Unwahrscheinlichkeit von Bildung produziere.

124

3  Bildung und Normativität

von Bildung empirisch zu übersetzen. So übt Rose dann auch Kritik an der daraus resultierenden unbefriedigenden empirischen Anwendbarkeit eines Bildungsbegriffs, der sich auf Entsubjektivierung stützt, denn „in empirischer Einstellung […] [ließen sich; S. T.] Subjektivierungs- von Entsubjektivierungsbzw. Bildungsprozessen kaum trennscharf abgrenzen“ (Rose 2012, S. 151). Auch Lüders zufolge zeige sich in Auseinandersetzung mit den empirischen Subjektpositionen in den untersuchten Weblogs, „dass mit Blick auf die Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses nicht mit Gewissheit zu unterscheiden ist, ob es sich bei den genannten Wandlungen um Formen der Selbstvergewisserung oder um Momente des Entzugs aus Festschreibungen handelt“ (Lüders 2007, S. 252). Vor dem Hintergrund, dass auch ein Entzug aus Festschreibungen ebenso ‚in gouvernementaler Mission‘ stattfinden könnte, wird fraglich, warum Lüders überhaupt versucht, ihre empirischen Fälle dahin gehend zu analysieren, ob die Prozesse „schließend und festschreibend oder eröffnend und unterwerfend“ (ebd.) wirkten. Begibt sie sich mit dieser Fragestellung doch auf den Standpunkt, entscheiden zu wollen, ob subjektiviert oder entsubjektiviert wird, was wiederum die Annahme zugrundelegt, dass eine solche Unterscheidung möglich sei – was sie ja an anderer Stelle anhand der Betonung, dass es keinen Standpunkt jenseits dieser alles durchdringenden Machtkonstellationen gebe (vgl. Lüders 2007, S. 115 ff.), verneint. Lüders weist darüber hinaus selbst darauf hin, dass Kritik „ihrem eigenen Ort gegenüber immer blind“ (ebd., S. 127) sei; somit würde auch fraglich, „ob ein ‚Anders-Denken‘ tatsächlich den Unterwerfungsmechanismen entkommt“ (ebd.). Es kann bei diesen entsubjektivierenden Bildungsprozessen also letztlich ‚nur‘ um eine produktive Verschiebung mit dem Ziel einer Reduzierung von Unterwerfung gehen – was die implizite Grundannahme, dass Verschiebung eine solche Machtreduktion bewirken kann, mit sich bringt. Vor diesem Hintergrund und der konstatierten Unmöglichkeit, „sich den Bedingungen des eigenen Seins zu entziehen“ (Lüders 2007, S. 108) – mit Foucault gefasst als „Unhintergehbarkeit des ‚Archivs‘“52 (Foucault, zit. n. Lüders 2007, S. 108) – verstehe ich Entsubjektivierung in Lüdersʼ Bildungsbegriff mehr als Schwerpunktsetzung im nicht voneinander zu trennenden Konglomerat von Subjektivierung und Entsubjektivierung. Mit der Perspektive auf das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft soll im Bildungsprozess eine experimentelle Loslösung bzw. Wegbewegung von in der Vergangenheit entstandenen und in der Gegenwart praktizierten, machtdurchdrungenen Selbstpraktiken stattfinden. Der Soll-Zustand von

52„Ein

Archiv bezeichnet die Gesamtheit von Regeln, die eine momentane diskursive Praxis regulieren“ (Lüders 2007, S. 108).

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

125

Bildung – im existenziellen, produktiven Grenzexperiment verschobene Subjektpositionen –, ist auch in Lüdersʼ Bildungsansatz relational zum Ausgangspunkt von Bildung definiert, womit es sich hier um eine maßgeblich ‚formal‘ definierte Transformation handelt – die allerdings in ethischer Hinsicht eine Machtkritik stark macht und damit, ähnlich wie bei Koller (1999), der ‚formalen‘ Transformation eine qualifizierende Richtung gibt. Macht wird dabei zurückgewiesen, zugleich aber davon ausgegangen, dass die (gesellschaftlichen) Diskurse und Machtdispositionen das Subjekt durchdringen.53 Wie bei Koller und Marotzki bildet eine Gesellschaftsdiagnose hier zunächst einmal den theoretischen Ausgangspunkt der Notwendigkeit von Bildung. Jedoch erhält das machtkritische ‚Sollen‘ des Prozesses bei Lüders einen ungleich stärkeren Stellenwert. Während bei Koller sich eine gesellschaftsbezogene Aufgabenbestimmung von Bildung eher implizit herauslesen lässt, leitet Lüders die Aufgaben von Bildung deutlich aus der Gesellschaftsdiagnose der ‚Kontrollgesellschaft‘ ab, dient diese doch nicht zuletzt auch dazu, das Konzept der Bildung selbst kritisch zu hinterfragen. Mit dieser kritisch-dekonstruktiven Herangehensweise weist Lüders einerseits universelle Geltungsansprüche vehement zurück, verleiht dabei aber dem an die Gesellschaftsanalyse der ‚Kontrollgesellschaft‘ anschließenden Prinzip der Kritik zugleich eine herausgehobene Stellung, um nicht zu sagen einen übergeordneten Geltungsanspruch. Jedoch erhält diese allem übergeordnete Machtkritik, die Lüders als Aufgabe von Bildung aus den der Gesellschaft diagnostizierten Erfordernissen ableitet, dennoch keinen universell gültigen Status, weil sie selbst stetig dekonstruiert wird. Da es im Bildungsprozess nämlich gelte, den historisch – in der Vergangenheit – entstandenen Subjektpositionen abweichende Positionen entgegenzusetzen, hierbei allerdings nicht auszuschließen sei, dass die Entsubjektivierung nicht doch zugleich auch eine Subjektivierung darstellt, könne mit diesem Bildungsverständnis nicht mit Gewissheit festgestellt werden, ob das (in der Gegenwart) neu Entstandene auch automatisch ein ‚gutes‘ Neues im Sinne der Machtkritik darstellt. Im Sinne der Steigerung der Machtkritik müssen sich auch die „Neuentwürfe“ einer kritischen Prüfung hinsichtlich ihrer Verstrickung in Machtkonstellationen gefallen lassen. Bildung gilt Lüders dahin gehend als unabschließbar, dahin gehend, dass es gelte, auch die Innovationen fortlaufender Kritik auszusetzen

53Auch

diese weitgehend formale Definition von Bildung auf der Grundlage von Foucaults Machttheorie kann also nicht subjektivistisch verkürzt sein, da hier Subjekt und gesellschaftliche Diskurse als Ebenen der Sinnproduktion und -reproduktion nicht oder kaum voneinander zu trennen sind.

126

3  Bildung und Normativität

oder anders formuliert: „das ‚Anders-Geworden-Sein‘ immer wieder durch Prozesse des ‚Anders-Werdens‘ zu verflüssigen“ (ebd., S. 255). Obwohl die Subjektivierungsforschung im Sinne Foucaults darauf zielt, das unhinterfragt ‚Gute‘ der Bildung infrage zu stellen, nimmt Lüders aber doch nicht gänzlich Abstand von der grundsätzlichen Vorstellung, dass durch Bildung eine – wie auch immer geartete – Verbesserung eintritt. Wie oben erwähnt, weicht sie mit ihrem Bezug auf Kokemohrs Konzept der ‚Seinsungewissheit‘ in gewissem Maße von Foucault ab und versucht so, eine Ebene der ethischen Stellungnahme ‚einzuziehen‘. Angesichts dessen, dass es nicht möglich sei, sich den Machtpraktiken vollständig zu entziehen, ginge es hier vielmehr um ein relatives ‚Weniger‘ an festgeschriebener Seinsgewissheit und an Macht – oder eben um ein ‚Mehr‘ an Machtkritik und Seinsungewissheit. So lässt sich auch für Lüders Ansatz von Bildung trotz des sich selbst dekonstruierenden Prinzips der allseitigen Machtkritik auch eine ‚formale‘ (und doch) ethisch fundierte Steigerungssemantik konstatieren. Bildung wird auf diese Weise also zum steten Verschieben der Grenzen des eigenen Seins, welches eine Kritik an den gegebenen Diskurspositionen ebenso beinhaltet wie produktive, ein relatives ‚Mehr‘ an Machtkritik hervorbringende Grenzexperimente.

3.2.2.3 Steigerung subversiver Deutungsspielräume zur Verschiebung diskursiver Normen Mit Nadine Roses (2012) Untersuchung zum Thema „Migration als Bildungsherausforderung – Subjektivierung und Diskriminierung im Spiegel von Migrationsbiographien“ möchte ich auf eine weitere diskurs- und machttheoretische Perspektive im Rahmen der transformativen Bildungstheorie eingehen. Rose stellt Jugendliche, die eine familiäre Migrationsgeschichte aufweisen, ins Zentrum ihrer Studie und fragt dabei nach den bildungsrelevanten Aspekten des Umgangs dieser Jugendlichen mit ihren Erfahrungen, als „fremde/r Andere/r“ (Rose 2012, etwa S. 13) angesprochen und auf diesem Wege zu einer bzw. einem solchen gemacht zu werden. Im Zuge dieses Prozesses, den Rose mit Judith Butler als ‚Anrufung‘ bezeichnet, würden den Jugendlichen „de-privilegierte Subjektpositionen in der Gesellschaft zugewiesen“ (ebd.). Roses Interesse gilt der „Perspektive der Jugendlichen auf die Migrationsgesellschaft, in der sie leben, und den Herausforderungen […], die sie selbst darin markieren“ (Rose 2012, S. 11). Theoretischer Hauptbezugspunkt sind dabei die Arbeiten Judith Butlers, aber auch Foucaults. In Auseinandersetzung mit Butlers Subjekttheorie entwickelt sie sukzessive einen Bildungsbegriff, der „mit Prozessen der Subjektivitätskonstruktion verknüpft ist und zu einer Transformation derjenigen Kategorien anhält, in denen gerade diese Subjektivität maßgeblich gefasst wird“ (ebd., S. 11) – ohne dabei jedoch selbst den analytischen Fokus auf das Subjekt zu legen. Dies zunächst paradox anmutende Verhältnis wird dadurch möglich, dass Butlers Verständnis zufolge

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

127

„Subjekte in ihrem (Selbst-)Verständnis und ihrer Körperlichkeit maßgeblich von Diskursen orientiert werden, die über die Subjekte selbst hinausweisen, ihnen vorgängig sind und in die sie hineingerufen und durch die sie angerufen werden“ (ebd., S. 142). In Butlers Ansatz zur Performativität von Sprache wird „der Sprache […] die Macht zugestanden […], (systematisch) die Dinge zu erzeugen, von denen sie spricht“, wobei die „Vorstellung einer intentionalen Verfügungsgewalt von Subjekten über ihre Sprache dabei eingeklammert“ (ebd., S. 222) sei. Durch Anrufungen als Vertreter*in einer sozialen Kategorie (z. B. als fremde*r Andere*r) würden Plätze in der sozialen Ordnung zugewiesen und spezifische mit ihnen verknüpfte Normen (dann als Identifizierungen aufseiten des Subjekts) befolgt (vgl. ebd., S. 410 f.). Die „Subjektkonstitution, verstanden als Subjektivierung“ bewegt sich bei Butler innerhalb des Paradoxons, dass das „vermeintlich autonome, moralische, aufgeklärte, ich-begabte ‚Subjekt‘ […] gerade aufgrund seiner bzw. ihrer Unterwerfung unter diskursiv vermittelte Normen“ entsteht (ebd., S. 410). Mit Butler könne deutlich gemacht werden, wie Selbst- und Weltverhältnisse „in ihrer machtvollen Begrenzung durch Subjektivierungsprozesse“ (ebd., S. 144) entstehen. Ähnlich wie bei Lüdersʼ Bildungsverständnis, das die gouvernementale Struktur (nicht nur) von Bildung und somit ihre ‚Komplizenschaft‘ mit Macht hervorgehoben hatte, kennt auch Butlers Subjektivitätsverständnis also „ein Werden des Subjekts in Existenz verleihender Unterwerfung“ (Rose 2012, S. 159). Das Ergebnis der Subjektivierung sind keine freien, sondern ‚normierte Subjekte‘. Rose hebt mit Bezug auf diese Konzeption zunächst die Grenzen der Butlerschen Subjektkonstitutionen hervor, um im Anschluss gleichwohl das bildungstheoretische Potential in Butlers Theorie auszuloten. Den Hinweis auf die Begrenzungen von Subjektivierung nimmt Rose zum Ausgangspunkt, um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von Bildungsprozessen, die in diesem Zusammenhang denkbar werden, zu stellen. Sie schlussfolgert, dass das, was das bildungstheoretische Potential in Butlers Ansatz konstituiert, „nicht außerhalb der entfalteten Zwänge der Subjektkonstitution, sondern […] eher als Auseinandersetzung mit und Bearbeitung von dessen Grenzen charakterisiert werden“ (ebd., S. 144) kann. Die Auseinandersetzung mit dem Kritikbegriff Butlers und Foucaults (ebd., S. 145 ff.) führt schließlich zu einem Bildungsverständnis, bei dem „Bildung nicht länger als Vorgang der Subjekttransformation sondern eher als einer der Diskursverschiebung zu denken [ist], welcher andere Subjektposition(ierung)en ermöglicht“ (ebd., S. 144). Maßgeblich für diesen Schritt von einem subjektbezogenen Bildungsbegriff zu einem, der die Diskurstransformation ins Auge fasst (vgl. ebd., S. 156), ist Butlers Konzept der „Resignifizierung, der (Re-)Produktion einer anderen als der gewöhnlichen Bedeutung“. Diese stelle eine Praktik dar, in deren Zuge der „Bedeutungsspielraum des normierenden Sprechens, eines Diskurses der Macht, subversiv“ (ebd.) genutzt

128

3  Bildung und Normativität

werde. Das Konzept der Resignifizierung frage weniger nach der Transformation von Subjekten in Selbstpraktiken […], sondern vielmehr nach der Veränderung von Diskursen und Körperinszenierungen innerhalb und durch eine subversive Praxis der Wiederholung (ebd., S. 158). Das bildungstheoretische Potential besteht hier in der Notwendigkeit der performativen Wiederholung und der darin liegenden Störanfälligkeit begründet. Mit Butler produziere jede Anrufung „einen Bedeutungsüberschuss am Subjekt“ (ebd., S. 118), denn als „diskursiv erzeugtes kann das Subjekt nie vollständig gemäß der Norm erzeugt werden, weil sich die Aneignung von Bedeutung nie vollständig kontrollieren lässt“ (ebd.). Aus anderer Perspektive, aber mit derselben Schlagrichtung, führt Rose (2012, S. 143) aus: „Die Magie der Sprechakte, zu bewirken, wovon sie sprechen, erweist sich zwar als wirksam, gleichzeitig aber auch als unvollkommen, weil die machtvollen, normativen Begrenzungen des Subjektstatus nie vollständig gelingen (können)“.

Normen und Ordnungen müssten von den Subjekten stetig sprachlich und/oder körperlich (vgl. ebd., z. B. S. 142 f.) wiederholt werden, um Geltung zu haben, weshalb „Butler die Handlungsfähigkeit des Subjekts eng mit der Möglichkeit von Akten einer nicht ordnungsgemäßen Wiederholung der Norm“ (ebd.) verknüpfe. Während Rose (2012, S. 151) an Lüdersʼ Bildungsbegriff seine Erschöpfung „in einer relativen Zurückweisung von Macht-Wissen“ kritisiert, legt ihr eigener Vorschlag, „Bildung […] eher als Differenz zwischen diskursiver Vorgabe und deren (potentiell subversiver) Ausdeutung im oder am Subjekt zu verstehen“ (Rose 2012, S. 158), eine Perspektive nahe, die dem Subjekt mehr Handlungsfähigkeit verleiht. Da die Ebene der Sinnproduktion in Roses Ansatz nicht alleinig das Subjekt ist, sondern zugleich der Diskurs, von dem es durchdrungen ist und der ihm sogar vorgängig ist, bewegt sich die Handlungsfähigkeit, die im Zuge von Bildung gesteigert wird, aber in einem stärker begrenzten Rahmen als dies z. B. bei Marotzkis reflexionstheoretisch-existenzialistischem Ansatz der Fall ist. Ihre Möglichkeiten ergeben sich lediglich in den Friktionen der nicht ordnungsgemäßen Wiederholungen der Norm und sind somit ungleich stärker von (diskursiven) sozialen Strukturen geprägt. Aus der Perspektive auf das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist es bei diesem Bildungsansatz – wie dies auch bei Lüdersʼ Bildungsverständnis der Fall war – dem Subjekt nicht möglich, die in der Vergangenheit entstandenen und in der Gegenwart wirksamen diskursiven Vorgaben hinter sich zu lassen. Jedoch kann die Verfügung des Subjekts über die eigene ‚Ausdeutung‘ gesteigert werden. D. h. in der Gegenwart können andere Subjektpositionen eingenommen werden, mit denen die ‚Ausdeutung‘ im Verhältnis zum diskursiv

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

129

Gegebenen verschoben wird. Es liegt also auch hier ein Steigerungsgedanke vor, bei dem es darum geht, subversive Deutungsspielräume zu vermehren und so dem Subjekt einen größeren Handlungsspielraum hinsichtlich der Verfügbarkeit über die eigenen Subjektposition(ierung)en in sozialen Ordnungen zu ermöglichen. Auch die hier angestrebte Differenz zwischen diskursiver Vorgabe und der Ausdeutung ‚am‘ Subjekt verstehe ich letztlich als eine relationale Zielsetzung von Bildung, die zuvorderst ‚formal‘ definiert ist und mit der nicht genau vorgegeben wird, wie die Ausdeutung aussehen soll – letztere jedoch als subversive Abweichung konkretisiert wird. So basiert auch dieser Bildungsansatz auf einer ‚formalen‘ Bestimmung von Bildung, was allerdings auch hier wieder nicht gleichzusetzen ist mit einer subjektivistischen Perspektive, da die Diskurse als den Subjekten vorgängig betrachtet werden und diese durchdringen und auch bei diesem Ansatz die Machtkritik als ethische Spezifizierung hinzukommt. Das Subjekt ist demnach auch nicht Souverän über das Transformationsgeschehen, steht dieses doch nicht (gänzlich) außerhalb des Diskurses, sondern sorgt lediglich für eine Ausweitung oder Flexibilisierung der möglichen Deutungsspielräume und Subjektpositionen innerhalb des Diskurses.54 Zudem ist auch hier eine in machtkritischer Hinsicht qualifizierende ethische Richtung vorgegeben. Den diskursiven Vorgaben und den mit ihnen einhergehenden symbolischen Ordnungen (die sich in der Vergangenheit entwickelt haben und in der Gegenwart wirken) kann zwar nicht gänzlich entkommen werden, doch könnten sie nicht nur in gewissem Maße unterlaufen werden, indem ihre Bedeutungen verschoben werden, dies soll zudem geschehen. Rose selbst konstatiert, dass die Verschiebung mit Butler immer auch als „politisches Projekt“ (ebd., S. 411) zu begreifen sei, da sich in den „diskursiven Normen“, deren Vorgaben im Zuge des Prozesses verschoben werden, „die Bedingungen des kollektiven Seins […] eingelagert finden“ (ebd., Kursivsetzung S.T.). So findet sich in diesem Bildungsverständnis, weniger implizit als bei Koller, ein Bezug auf ein gesellschaftliches Sollen und damit – mit Benners Verständnis von ‚Materialität‘ – auch ein den Prozessen immanenter ‚materialer‘ Bezug, wird hier doch auf eine gesellschaftliche Zweckbestimmung verwiesen.55

54Zwar

ist auch bei Rose Bildung nicht voraussetzungslos, im Gegensatz zu Kollers (1999) und Lüders (2007) Ausgestaltung transformativer Bildung kann für Roses Ansatz aber konstatiert werden, dass dieser Bildung aus dem Bereich des ‚Außerordentlichen‘ zurück ins (relativ) ‚Mögliche‘ holt. 55Und auch hier zeigt sich, dass die ähnlich anmutenden Definitionen von ‚Materialität‘ bei Klafki (1974) und Benner (2012) durchaus Unterschiede zeitigen (vgl. Abschn. 3.1). Denn auch hier würde ich im Sinne Klafkis keinen als ‚objektiv‘ gekennzeichneten Inhalt von Bildung sehen, sondern Rose ähnlich verstehen wie Koller (und auch Lüders), nämlich, dass sie die Inhalte der Bildungsprozesse nicht bestimmt.

130

3  Bildung und Normativität

3.2.3 Praxeologische Ansätze und der Bildungsbegriff dieser Arbeit: Bildungsprozesse als Steigerung der relativen Freiheit gegenüber der tradierten Struktur Während Marotzkis Bildungstheorie in der Hauptsache eine Theorie intentionalen Handelns zugrunde liegt, bei der vortheoretische Anteile des Wissens und nicht-reflexive Handlungen wenig bis keine Beachtung finden, ist in den sprachund diskurstheoretischen Ansätzen das Nicht-Sprachliche zwar (auch) angedacht, „aber weitestgehend unausgearbeitet“ und somit „nicht systematisch einbezogen“ (Nohl 2006b, S. 15) worden.56 In diesem Unterkapitel sollen nun mehrere Ansätze von Bildung vorgestellt werden, die eine praxeologische Zugangsweise zu Bildungsprozessen verfolgen, mit der die Handlungspraxis der Akteur*innen in den Fokus gerückt wird. Die Sinnerzeugung liegt hier auf der Ebene der sozialen – bisweilen vortheoretischen und vorreflexiven – Praxis, d. h. zwischen den Akteur*innen und den Strukturen, die sie hervorgebracht haben. Während Nohl (2006b) mit seinem pragmatistisch-wissenssoziologischen Ansatz die spontane Handlungspraxis ins Zentrum seiner Bildungstheorie rückt, legt von Rosenberg (2011) einen praxeologischen Bildungsbegriff vor, den er habitustheoretisch fundiert und mit Feldrekonstruktionen verbindet. Nohl et al. (2015a) arbeiten – an beide anschließend und mit praxeologisch-wissenssoziologischen, habitustheoretischen und pragmatistischen Reflexionen – einen Bildungsbegriff aus, der neben der für die transformative Bildungstheorie zentralen Unterscheidung von Bildung und Lernen auch deren Zusammenhang erfasst und somit die kleinteiligen Schritte, die im Zuge der Bildungsprozesse auf einer Ebene unterhalb des Habitus vonstattengehen, in den Blick bekommt. In der vorliegenden Arbeit lege auch ich den letztgenannten Bildungsbegriff zugrunde, vernachlässige dabei aber die lerntheoretischen Ausarbeitungen von Nohl, von Rosenberg und Thomsen, weil Lernprozesse nicht den Fokus meiner eigenen Arbeit bilden.

3.2.3.1 Steigerung der Anlässe neuer Experience und neuer Sinnerzeugung durch spontane Handlungspraktiken Arnd-Michael Nohl entwickelt in ‚Bildung und Spontaneität‘ (Nohl 2006b) eine empirisch fundierte Theorie von Bildungsprozessen, die ihren Ausgang in der Spontaneität des Handelns nehmen. Seine empirischen Ausarbeitungen

56Eine

Ausnahme bildet Rose (2012), die neben den performativen Sprachakten auch die Bedeutung performativer Körperlichkeit erwähnt.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

131

f­ühren auf dem Wege einer komparativen Analyse der Bildungsprozesse von Interviewten in drei Lebensaltern und drei verschiedenen Themenbereichen57 zu einer umfassenden, mehrdimensionalen Typenbildung der Phasen spontaner Bildungsprozesse – mit lebensalterspezifischen Differenzierungen innerhalb der Phasen. Diese Bildungsprozesse werden von Nohl in pragmatistischer und wissenssoziologischer Perspektive theoretisch reflektiert, wobei – ganz im Sinne des alle hier vorgestellten Ansätze einenden Ziels eines produktiven Wechselverhältnisses von Theorie und Empirie – sich Bildungstheorie und empirische Bildungsphasen in Nohls Ausarbeitungen gegenseitig differenzieren. Nohl (ebd., S. 261) bezeichnet sein eigenes Vorgehen als einen „spiralförmigen Aufschaukelungsprozess von theoretischer Reflexion und empirischer Rekonstruktion“. Das bildungstheoretische Ziel seiner Untersuchung ist es, die „Transformation von Lebensorientierungen“ (ebd., z. B. S. 11) handlungstheoretisch unter dem Wechselverhältnis von reflexiven und vorreflexiven Anteilen des Handelns zu beleuchten, wobei die pragmatistische Handlungstheorie als Möglichkeit präsentiert wird, einer Dichotomisierung dieser beiden Pole des Handelns zu entkommen (vgl. ebd., S. 15). Anders als die bisher genannten Autor*innen stellt Nohl seine bildungstheoretischen Ausarbeitungen nicht in den Kontext einer Gesellschaftsdiagnose. Dennoch können seine empirischen Ergebnisse durchaus an die von Marotzki herangezogene Modernitätsthese anschließen, wie Nohl (vgl. 2006b, S. 266) selbst auch konstatiert.58 Denn die These, dass Bildungsprozesse ihren Ausgang in einer Auflösung tradierter Wissensbestände und Milieus nehmen, findet in Nohls empirischen Ergebnissen eine Untermauerung. Erfahrungen von Desintegration formten jedoch nur „den Hintergrund der Bildungsprozesse“ (ebd.). So steht Nohls Analyse zufolge eine aus dieser Desintegration rührende Krise– anders als bei den Ansätzen von Marotzki und Koller – weder notwendigerweise am Anfang des Bildungsprozesses noch liege der Kern des Bildungsprozesses darin, die Krise im eigentlichen Sinne zu bewältigen; vielmehr schaffe sie einen „Freiraum, in dem sich das spontane Handeln voll entfalten kann“ (ebd., S. 267). Den empirischen Hintergrund der Bildungsprozesse formt in Nohls Ausarbeitungen eine Auflösung tradierter Milieus – oder, wie er dies mit Mannheim fasst: konjunktiver Erfahrungsräume – und/oder ein „Herausfallen aus institutionellen Ablaufmustern

57Bei

den drei Gruppen von Interviewten handelt es sich um Erwachsene Existenzgründer*innen, Jugendliche in jugendkulturellen, musikbezogenen Praktiken und Senior*innen, die Erfahrungen mit dem Computer sammeln. 58Die Anschlussfähigkeit trifft auch auf Kollers Bezug auf die Postmoderne zu.

132

3  Bildung und Normativität

der Biographie“ (ebd., S. 266). Dem spontanen Handeln kommt in Nohls pragmatischer Bildungstheorie nun die Rolle zu, den ins Leere laufenden, tradierten (d. h. in der Vergangenheit erworbenen) Handlungsroutinen durch spontane Handlungsimpulse neue Handlungsalternativen in der Gegenwart hinzuzufügen. Dass und inwiefern bei diesem Prozess in gewisser Weise auch die Zukünftigkeit des Handelns eine Rolle spielt, wird im Folgenden noch deutlich werden. Zwar streicht Nohl die Bedeutung des spontanen Handelns für seine Bildungstheorie heraus, doch legt er seiner Arbeit – in intensiver Auseinandersetzung mit den pragmatistischen Arbeiten von George Herbert Mead und John Dewey – einen tripolaren Handlungsbegriff zugrunde: Während das „gewohnheitsmäßige Handeln“ (Nohl 2006b, S. 16) in Form der (noch zu erläuternden) „habits“59 (ebd.) jenes Handeln bezeichne, bei dem sich Mensch und Welt – in tradierter Weise oder auch in „zur Gewohnheit geronnenen Wiederaufführungen“ – in Passung befänden, so zeichne sich das „reflektierte Handeln“ „dadurch aus, dass die Akteure Distanz zu der Situation, in der sie handeln, gewinnen, und auf diese Weise abzuwägen vermögen, wie sie ihr Handeln auf neuen Wegen fortsetzen können“ (ebd.). Anhand der Integration dieser beiden Elemente des Handelns grenzt sich Nohl sowohl von jenen (intentionalistischen) Handlungstheorien ab, in denen die Reflexionsfähigkeit der Handelnden überbetont wird und somit der Eindruck entsteht, als wäre den Akteur*innen eine umfassende reflexive „Selbsttransparenz“ (ebd.) möglich. Jedoch wird auch das gewohnheitsmäßige Handeln in seiner Tragweite begrenzt, indem ihm jene dritte Form des Handelns – das „spontane Handeln“ (ebd., S. 17) – entgegengesetzt wird, die ein Handeln bezeichnet, das sich jenseits von Reflexion und Gewohnheit befindet (vgl. ebd.). Das spontane Handeln hält Nohl für besonders bildungsrelevant und arbeitet diesen Aspekt des Handelns bildungstheoretisch aus. Mit dem Fokus auf spontane Handlungen betont er nicht nur die Bedeutung von Vorreflexivität für die Bildungsprozesse, sondern auch jene des Außergewohnheitsmäßigen. Das spontane Handeln steht nicht in der Tradition des (auf Strukturen, die in der Vergangenheit erlernt werden, verweisenden) gewohnheitsmäßigen Handelns, es kann vielmehr als eine Art Einfallstor des Neuen gelten (ausführlich dazu siehe weiter unten). Zur weiteren Ausarbeitung stützt Nohl sich vornehmlich auf Grundbegrifflichkeiten aus zwei Werken John Deweys. In der „Philosophie der education“ (Nohl 2006b, S. 82) findet er zentrale Grundbegriffe für seine Bildungstheorie, so auch

59Um

den Pragmatismus nicht „in deutsches Denken und deutsche Begrifflichkeit“ (Nohl 2006b, S. 82, FN 6) zu vereinnahmen, benutzt Nohl in seiner Arbeit die englischen Originalbegriffe. Diesem Vorgehen schließe ich mich im Folgenden an.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

133

den Begriff der „Experience“ (ebd.). Diese vollziehe sich in „Situationen“ (ebd., S. 83), die mit Dewey als „Interaktion[en] von Organismus und Umwelt“ (ebd.) gelten können. Dabei befände sich die Experience, und dabei insbesondere ihre vorreflexiven Anteile, in einer „Doppelstruktur von Aktivität und Passivität“, in der „nicht zwischen Organismus und Umwelt, zwischen Subjekt und Objekt differenziert werden kann“ (ebd.). Situationen sind dabei nicht als isolierte Ereignisse, sondern als sequenzielle Folge mit impliziter Regelhaftigkeit zu betrachten. Dementsprechend ist auch die „einzelne experience in ihrer Bedeutungsstruktur von der vorangegangenen und der nachfolgenden experience abhängig“ (ebd., S. 83). Experience sichert also, indem sie „zum habit sedimentiert“ (ebd., S. 84) und sich dadurch stabilisiert, gleichermaßen die Kontinuität des lebensgeschichtlichen Erfahrenen wie sie auch – in weiteren Situationen, die stets auch Neues mit sich bringen – modifiziert wird. Das Habit als „Handlungsrepertoire, das auf eine bestimmte, sich wiederholende Situation bezogen ist“ (ebd.), dient hier einerseits als Hüter der Kontinuität, bietet anhand des wechselseitig abhängigen Zusammenspiels mit Experience und Situation aber zugleich einen Ansatzpunkt für Veränderung, können aus der Differenz von Habit und (neuer) Situation (die mit den vorangegangenen nicht vollständig identisch ist) doch Kontingenzen entstehen. Letztere fasst Nohl mit Dewey als „Impulse“ (ebd., S. 86). Diese verweisen auf die spontanen Anteile im Handeln und sind normalerweise von den Habits überformt. Wo nun aber „der vorreflexive, routinierte Handlungsablauf ins Stocken gerät“ (ebd., S. 88), kann der ‚Impuls‘ zur Entfaltung kommen und mit ihm das ihm innewohnende „Irritations- und Abweichungspotential“ (ebd.). Auf diesem Wege entstehen neue, andersartige Handlungsalternativen, deren möglicher Bedeutung in einem Prozess der „Inquiry“ (ebd., S. 88) reflexiv nachgegangen wird. Dabei versucht „der Handelnde handlungspraktisch, auf dem Wege des ‚Experiments‘, seinen (bedeutungslosen) Impulsen eine Bedeutung zu geben, die ihm zur Lösung der Situation verhilft“ (ebd., S. 89). Die vorreflexiven (in der Unmittelbarkeit des Impulses entstandenen) Anteile des Handelns werden nun zum Gegenstand der Reflexion, wobei die „‚Anregungen‘ […], die in der unklaren Situation aus den Handlungsimpulsen gewonnen“ (ebd., S. 90) wurden und die – wie auch die Impulse selbst – „aus der vorgängigen experience“ (ebd.) resultieren, mögliche Sinndeutungen liefern. Die Anregungen sind also nicht reflexiv vergegenwärtigt, stehen aber durchaus in der Kontinuität der Erfahrung. Sie dienen quasi als ‚Ideengeberinnen‘ für die experimentelle Sinnzuweisung der Handlungsalternativen. Nohl bezeichnet sie deshalb auch als „Brücke zwischen dem Ist-Zustand der Situation und ihrem projizierten Zustand in der Zukunft“ (ebd.). Zwar entspringen die Anregungen der Struktur vorgängiger Erfahrung, doch würden sie zugleich eine „experimentelle Erkundung des zukünftigen

134

3  Bildung und Normativität

Selbst und der zukünftigen Welt“ (ebd., S. 89) in Gang setzen.60 An dem Punkt, an dem die so entstandenen neuen Handlungsvarianten sich als situationsklärend beweisen, können sie zu neuen Handlungsroutinen sedimentieren, womit ein neues Habit entsteht. Doch braucht es für Bildung, die sich auf die Transformation des gesamten Selbst- und Weltverhältnisses bezieht, mehr als die Entstehung eines neuen Habits. Eine solche bildungstheoretische Perspektive, die eine umfassende Transformation des Verhältnisses des Selbst – als die Durchdringung aller unterschiedlichen, durchaus auch divergenten Habits (vgl. ebd., S. 112) – und der Welt – als die „Totalität der Bedingungen, mit denen ein Selbst verbunden ist“ (ebd., S. 115) – eröffnet, findet Nohl in Deweys Philosophie der Education nicht (vgl. ebd., S. 113). Er wird diesbezüglich jedoch in Deweys Arbeiten zur Religions- und Kunsttheorie61 fündig (vgl. Nohl 2006b, S. 99 ff.), in denen zwischen solchen Prozessen unterschieden wird, in denen „das habit […] nur geringfügig […] verändert wird“, und jenen, in deren Zuge das Selbst transformiert würde. Letztere fasst Nohl mit Dewey als „Adjustment“ (ebd., S. 101) und begreift diese als das zentrale Kriterium für Bildung.62 In der Adjustment käme es zur „momenthaften Harmonisierung“ (ebd., S. 103) aller Habits. Ihr Vorlauf bestehe – ähnlich wie beim Prozess der ins Stocken geratenen Habits, nur auf einer viel umfassenderer Ebene – „in einem allmählichen Auseinanderdriften von Selbst und Umwelt“ (ebd., S. 110), in dessen Zuge „die Passung zwischen Selbst und Welt nicht mehr stimmt“ und dies folglich nicht nur einzelne, sondern „mehr oder weniger jede Situation unklar“ werden ließe (ebd., S. 114; Kursivsetzung S.T.). In dieser fehlenden Passung entstehe wiederum ein Freiraum für breit angelegtes spontanes Handeln, in dessen Zuge Impulsionen – als ‚spontane Aspekte der Intuition‘ (vgl. ebd., S. 108) – eine intuitive Verknüpfung des Selbst mit seinem gesamten „qualitativen Hintergrund“ (ebd., S. 110) ermöglichten. Im Unterschied zu den Impulsen, die lediglich einzelne Habits betreffen, beziehen sich Impulsionen also auf das gesamte Selbst

60Allerdings bezieht sich dies nur auf einen kleinen Ausschnitt des Selbst, das als „‚Interpenetration‘ unterschiedlicher, auch divergenter habits“ (Nohl 2006b, S. 112) auf einer höheren Ebene angesiedelt ist. 61Eine Übertragbarkeit dieser Theorien auf andere Lebensbereiche sieht Nohl (vgl. z. B. 2006b, S. 103 u. 105) gegeben. 62Nohl (2006b, S. 101 f.) zieht hier die Parallele zum Wandlungsprozess bei Marotzki und Schütze, wobei er Adjustment als dessen „Erweiterung“ begreift, da sie den Anteil von Welt am Prozess stärker in den Blick bekäme als die genannten anderen Ansätze.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

135

und seine vorangegangenen Experiences. Das eigene Selbst würde im Zuge der Impulsion intuitiv als ganzheitlich erfahren; die sonst „tendenziell auseinander strebenden experiences“ und die vielfältigen „Bedingungen, mit denen das empirische Selbst verknüpft ist“ (ebd.), würden imaginativ in Einklang gebracht. Diese Wahrnehmung kennzeichnet Dewey (und mit ihm Nohl) dann auch als „Imagination“ (ebd., S. 105). Sie verweise weniger auf das real Gegebene, denn auf die im Prozess der Adjustment stattfindende intuitive „Idealisierung der Möglichkeiten des Gegebenen“ (ebd.) – ein Aspekt, der insbesondere unter der Fragestellung des impliziten ethisch-normativen Gehalts der Bildungstheorie von besonderem Interesse ist und deshalb noch etwas genauer beleuchtet werden soll. In Deweys Kunsttheorie findet Nohl ausführlichere Einlassungen zum Wesen dieser Imagination (ebd., S. 105): „Imagination ist […] an die vorgängige, vorreflexive experience und an die (spontane) Handlung gebunden. In der spontanen Handlung wird die mögliche Sinnhaftigkeit vorgängiger, präreflexiver experiences, die das ‚qualitative Ganze‘ ausmachen, zur Entfaltung und damit zur Signifikanz gebracht.“

Bei dieser imaginierten, „möglichen Sinnhaftigkeit“ geht es nun nicht mehr darum, einzelnen Handlungspraktiken Bedeutung zuzuweisen, sondern darum, wie mithilfe der Imagination eine „‚Hebung‘ und idealisierende Projektion der auf der ganzen Breite des Selbst angelegten präreflexiven experience“ (ebd.; Kursivsetzung S.T.) vonstattengehen kann. Die Imagination eines ‚qualitativen Ganzen‘ birgt also das Potential, einen bereits in der vorgängigen Experience angelegten, aber bislang nicht verwirklichten biografischen Sinn hervorzubringen bzw. freizusetzen.63 Die spezifische Art der Relationierung von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, die hier im Bildungsprozess stattfindet, bringt Nohl (2006b, S. 115) selbst folgendermaßen auf den Punkt: „Es geht hier um nichts weniger als die Verknüpfung des aktuellen, empirischen Selbst mit seinem [aus der Vergangenheit herrührenden; S.T.] präreflexiven Hintergrund zu einem idealisierten ganzheitlichen Selbst“, das in der Zukunft liegt. Über die Entfaltung der bisher ungenutzten Anteile des qualitativen Hintergrunds wird es also möglich, ein neues Selbst- und Weltverhältnis zu entwickeln, Selbst und Welt wieder in Passung zu bringen. Der so hervorgebrachte, neue biografische Sinn beweist sich allerdings erst in der „empirischen Situation“ (ebd.,

63Nohl

nennt diesen ‚qualitativen Hintergrund‘ auch „das Potential der vorbewussten Lebenserfahrung“ (Nohl 2006b, S. 276).

136

3  Bildung und Normativität

S. 116). Auch benötigt es reflexive Handlungsmomente – bzw. ein Changieren zwischen reflexiven und a-reflexiven Anteilen des Handelns –, um eine biografische Integration der neuen Sinngebung zu erlangen (vgl. ebd.). Das neue Selbst- und Weltverhältnis müsse reflexiv eingeholt werden, da die „Stabilisierung des ­transformierten Selbst auch eine Veränderung seiner Vergangenheit, eine Rekonstruktion der Lebensgeschichte nach den Maßstäben des neuen Selbst“ (ebd.) beinhalte. Bildung erscheint hier also als eine Aktualisierung des Vergangenen, die durch das Einfallstor der spontanen Handlungspraktiken eine neue Form der Sinnerzeugung in der Gegenwart ermöglicht, die wiederum von der Projektion einer möglichen Zukünftigkeit profitiert. Dieser Bildungsbegriff kann dahin gehend als ‚formal‘ bezeichnet werden, als dass er den Prozessverlauf fokussiert. Nohl (2006b, S. 24 ff.) weist darauf hin, dass die ‚formal‘ gesetzte Erwartung an den Ablauf von Bildung in seiner Studie nicht nur in forschungspraktischer Hinsicht fallübergreifend typisiert – und somit vom einzelnen Akteur abstrahiert – wird, sondern dass sich zudem „die formale Struktur von Bildung nur in der Analyse der ‚materialen‘ Erfahrungen von Sich-Bildenden präzisieren“ (ebd., S. 25) lässt. Hiermit weist er einerseits den Subjektivierungsvorwurf mit dem Argument zurück, dass bei seinem Ansatz zwar ein ‚formaler‘ Ausgangspunkt der Forschung festgelegt wird, dessen methodologische Anlage und spätere empirische und – im Sinne des reflexiven Verhältnisses von Theorie und Empirie – auch theoretische Ausgestaltung jedoch die Dichotomie von Subjektivismus und Objektivismus zu unterlaufen sucht. Zudem hebt er eine immanente, sich auf die Erfahrungen der Sich-Bildenden bezogene ‚Materialität‘ des Bildungsansatzes hervor, die sich in den Bildungsprozessen dokumentiere, von den Forschenden allerdings nicht vorab bestimmt werden könne.64 Im Gegenteil, Nohl zufolge „kann kein Ziel für die adjustment, für den Wandlungs- und Bildungsprozess eines Menschen, festgelegt werden“ (ebd.). Allerdings konstatiert Nohl im Anschluss eine immanente Normativität seiner Bildungstheorie, mit der zwar keine Ziele festgelegt werden, wohl aber eine bestimmte Qualität der Prozesse ausgeschlossen wird. Nohl fasst diese immanente Normativität folgendermaßen zusammen (ebd., S. 116 f.):

64Ich

möchte auch hier noch einmal ergänzen, was ich zuvor schon angemerkt habe: Wenn man wie Nohl ‚Materialität‘ als die bestimmten (auch auf ‚objektive‘ Strukturen verweisenden) Erfahrungen der Sich-Bildenden definiert, die zum Inhalt von Bildung werden – und dafür würde ich plädieren –, dann zeigt sich zweifelsohne eine immanente ‚Materialität‘ in allen von Nohl so konzipierten Bildungsprozessen.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

137

„[D]ie Aussage, dass die adjustment nur sich selbst zum Ziel haben könne, [bedeutet] nichts weniger als die Forderung nach der Ermöglichung weiterer adjustments. Eine adjustment bzw. ein Bildungsprozess muss also nicht nur gewährleisten, dass auch nach der Transformation von Selbst und Welt neue habits entstehen können, sondern zudem, dass Selbst und Welt sich erneut transformieren vermögen.“

Nohls Schlussfolgerung, Adjustment müsse neue Transformationen von Selbst und Welt nach sich ziehen, wenn von Bildung gesprochen werden soll, gibt durchaus eine ethisch-normative Richtung an, wie Nohl auch selbst konstatiert. Nicht nur steht hier in ‚formaler‘ Weise die Erweiterung der Handlungsfähigkeit gegenüber der tradierten Struktur im Zentrum, sondern soll das Ergebnis dieses Transformationsprozesses die Möglichkeit weiterer Adjustment mit sich bringen. Eine Lebensorientierung, die sich weiterer Experience (und somit schließlich Adjustment) verschlösse, wäre demnach nicht als Ergebnis von Bildung zu bezeichnen. Mit dieser Festlegung liegt eine ethische Fundierung vor, die dem Prozess immanent ist und dabei doch zugleich Bezüge auf ein gesellschaftliches Sollen ermöglicht, auch wenn Nohl diese selbst nicht herstellt. Bildung in diesem Sinne verlangt nach einer steten Öffnung des Selbst für weitere Ansprüche der Welt. Das ‚Gute‘ von Bildung ist hier also zu identifizieren als die Aufnahme von möglichst viel Welt ins Selbst, wodurch – wie Koller (2015, S. 158) analysiert – „Transformationen zugunsten dogmatischer oder fundamentalistischer Positionen“ (ebd.) ausgeschlossen werden können und auch er also in Nohls Bildungsansatz „zwar kein von außen vorgegebenes Ziel, wohl aber eine bestimmte Qualität oder Richtung“ (ebd., S. 157) sieht. So soll u. a. bereits im Selbst Angelegtes, aber bislang Randständiges, zur Entfaltung verholfen und durch stetig neue Experience, die das Selbst in der Welt macht, und schließlich erneute Adjustment die Handlungsfähigkeit des Selbst vergrößert werden. Dies impliziert, dass mit jeder Adjustment sich die Komplexität von Selbst- und Weltverhältnis steigert. So wird die von Marotzki postulierte Komplexitätssteigerung bei Nohl durch die Forderung nach weiteren Transformationen quasi auf Dauer gestellt und erhält zudem eine ethische Konkretisierung im oben genannten Sinne, dass sie eine dogmatische Engführung von Selbst- und Weltverhältnis ausschließt. Es lässt sich in Bezug auf Nohls Ansatz ein doppeltes Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstatieren. Im Unterschied zu Marotzkis Perspektive, der zufolge die Gegenwart (mit Sartre) ihren Sinn aus der Zukunft erhält, liegt der ethische Fokus bei Nohl in anderer Richtung: Die Gegenwart erscheint hier in gewisser Weise als (alternative) Vervollständigung der Vergangenheit. Im einzelnen Bildungsprozess werden zwar Anteile aus dem in der Vergangenheit entstandenen Selbst- und Weltverhältnis überwunden, doch

138

3  Bildung und Normativität

k­ nüpfen die durch spontane Handlungspraktiken gemachten, neuen Erfahrungen zugleich auch an vorgängige Anteile von Selbst und Welt an und bringen so einen (anderen) in der Vergangenheit angelegten biografischen Hintergrund (als den bisher dominanten) zur Entfaltung. Die vorgängigen Anteile und die neuen Erfahrungen konstituieren dabei gemeinsam einen neuen biografischen Sinn und können so – in der Gegenwart – bedeutsam werden und das Selbst ‚heben‘. Der zweite Aspekt des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrifft eine durch die Steigerung von Experience und schließlich Adjustment anvisierte Zukünftigkeit. Die erwähnte ‚Hebung‘ des Selbst muss in einer Art und Weise geschehen, die weitere Transformationen in der Zukunft wahrscheinlich werden lassen. Dies gibt weniger Auskunft über die Zukunft als zuvorderst über die gegenwärtige Verfasstheit des Selbst- und Weltverhältnisses. Ist es nämlich in der Gegenwart so konstituiert, dass es weitere Experience zulässt, dann ist die Wahrscheinlichkeit von zukünftiger Adjustment quasi inbegriffen. In diesem Sinne wird der Bildungsprozess zur ermöglichenden Vergangenheit des nächsten Bildungsprozesses. Es kann demzufolge konstatiert werden, dass Nohls Bildungstheorie, ähnlich wie Marotzkis, die Tendenz hat, den Menschen (auch) hinsichtlich seiner Möglichkeitsstruktur zu betrachten. Nohl (ebd., S. 25) betont jedoch zugleich, dass ihm „[n]ormative Postulate für zukünftige Bildungsprozesse […] nicht zu[stehen]“.65 Die von Nohl in Anlehnung an Dewey aufgestellte immanente Normativität der anvisierten, weiteren Transformation von Lebensorientierungen in der Zukunft, sehe ich von daher eher als qualifizierende Bestimmung des Resultats von Bildung, d. h. des transformierten Selbst- und Weltverhältnisses in der Gegenwart, denn als ‚normative Projektion‘ in die Zukunft. Durch dieses immanente ethische Kriterium der Verstetigung einer Steigerung von Möglichkeiten neuer Experience und neuer biografischer Sinnerzeugung kommt Nohl ohne weitere, außerhalb des Bildungsprozesses liegende Kriterien aus, kann aber dennoch gewisse Prozessentwicklungen – die den gesellschaftlichen Wert der Pluralität negieren würden – ausschließen. So ist diese im Ausgangspunkt ‚formale‘ Bildungstheorie anschlussfähig an qualifizierende Bezüge auf die gesellschaftliche Verfasstheit – auch wenn Nohl dies selbst nicht explizit tut –, ebenso wie sie aufgrund ihrer Methodologie und Forschungspraxis nicht als ‚subjektivistisch verkürzt‘ gelten kann. 65Ich

möchte dem hinzufügen, dass die Zukünftigkeit auch nicht empirisch erhoben werden kann und somit weitere Transformationen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen bzw. konstatiert werden können. Darauf zielt auch Koller (2015, S. 158) ab, wenn er kritisch fragt, ob „es denn überhaupt Transformationen [gebe], die weitere Transformationen kategorisch ausschließen“.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

139

3.2.3.2 Steigerung der (neu-)strukturierenden Eigenschaften des Habitus gegenüber seiner Strukturiertheit Im Konzept von Bildung als Habitustransformation treffen sich zwei Perspektiven: Während mit dem Habitus als Generierungsprinzip und Struktur von „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1993, S. 101) häufig zuvorderst die gesellschaftliche Verfasstheit des Wahrnehmens, Denkens und Handelns fokussiert wird, so rückt mit der Perspektive auf Bildung die Frage nach der (individuellen) Veränderbarkeit des Habitus und der Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit des Subjekts ins Zentrum der Aufmerksamkeit.66 Grundannahme und theoretische Voraussetzung aller Bildungsansätze, die den Habitus ins Zentrum stellen, ist dessen Transformierbarkeit.67 Arbeiten, die sich dem Habitus bildungstheoretisch nähern, eint zudem die praxeologische Zugangsweise, was sie vom Gros erziehungswissenschaftlicher Theorie und Forschung, die das Habituskonzept vor allem in ungleichheits- und kulturtheoretischer Hinsicht rezipiert, unterscheidet. Es mehren sich in den letzten Jahren jedoch diejenigen Arbeiten, die den Habitus und dessen Transformation bildungstheoretisch fassen (vgl. u. a. Koller 2002a, 2009; Rieger-Ladich 2005; Wigger 2006; Geimer 2010b; ­Rosenberg 2011, 2016; El-Mafaalani 2012; Maschke 2013; Kramer et al. 2013; Kramer 2013; Niestradt und Ricken 2014, Nohl et al. 2015a).68 Dem begrenzten Raum dieses Kapitels geschuldet, werde ich mich in meinen folgenden Ausführungen auf jene beiden Arbeiten beschränken, auf die sich auch der Bildungsbegriff meiner eigenen Studie maßgeblich stützt. Von Rosenbergs (2011) Herangehensweise sowie jene von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) werde ich, wie alle bisherigen in diesem Kapitel vorgestellten Arbeiten, insbesondere unter dem Aspekt von Festlegungen in ethisch-normativer Hinsicht betrachten.69

66Zu

einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem Habitus und anderen Grundbegriffen siehe Abschn. 4.1. 67So banal dies auch erscheinen mag, so ist dies keinesfalls sozialwissenschaftlicher Konsens (vgl. hierzu Rieger-Ladich 2005 u. Liebau 2006; siehe ausführlicher zu dieser Thematik auch Abschn. 4.1.3 in der vorliegenden Arbeit). 68Rieger-Ladich (2005), Geimer (2010) und Niestradt u. Ricken (2014) haben Bildung als Habitustransformation theoretisch konzipiert, wohingegen die anderen genannten Arbeiten Studien darstellen, in denen theoretisch und empirisch gearbeitet wurde. Wigger (2006, S. 110 ff.) hat allerdings lediglich bildungstheoretische Reinterpretationen von empirischem Material aus dem „Elend der Welt“ von Bourdieu et al. (1997) vorgelegt. 69Angesichts dessen, dass meine Arbeit eng mit den im Folgenden Besprochenen verwoben ist, ist davon auszugehen, dass meine Analyse der ethisch-normativen Vorannahmen etwas befangener ist als in Bezug auf die anderen Ansätze.

140

3  Bildung und Normativität

3.2.3.2.1 Habitustransformation als durch Differenzpotentiale beförderte Neurelationierung von Habitusdimensionen In seiner Arbeit „Bildung und Habitustransformation“ entwirft von Rosenberg (2011) eine empirisch fundierte praxeologische Bildungstheorie, mit der er sich im Feld der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung verortet.70 Seinen eigenen Zugang zu Bildung, verstanden als Wandlungs- und Transformationsprozesse des Habitus (vgl. ebd., etwa S. 306),71 kennzeichnet von Rosenberg als praxeologisch – und bezieht dabei in methodischer und methodologischer Hinsicht neben Bourdieus Theorie der Praxis auch maßgeblich Grundlagen der praxeologischen Wissenssoziologie mit ein.72 Zentral für sein praxeologisches Bildungsprojekt sei es, den Dualismus von subjektivistischen und objektivistischen Zugängen auf doppelte Weise zu unterlaufen: Während schon der habitustheoretischen Konzeption von Bildungsprozessen eine Vermittlung zwischen sozialer Struktur und individueller Praxis inhärent ist, geht von Rosenberg noch einen Schritt weiter und bezieht Feldrekonstruktionen mit in seine Studie ein. Anhand dieser, die er auf der Grundlage bestehender Diskursanalysen erstellt, nimmt er den gesellschaftlichen Wandel zweier ‚Praxisformen‘ (vgl. ebd., S. 193 ff. u. 287 ff. und weiter unten in diesem Text) in den Blick und stellt diese den rekonstruierten Prozessen auf Akteursebene gegenüber. Zunächst jedoch zum Habitus, seiner Wandlung bzw. Transformation und den sich hier ergebenden theoretischen Anschlussmöglichkeiten. Sich auf Bourdieu stützend, versteht von Rosenberg (ebd., S. 70) das Habituskonzept

70Zwar

hat von Rosenberg (2016) eine weitere Arbeit zu Bildung vorgelegt, jedoch stehen seine hierin angestellten kulturtheoretischen Ausarbeitungen zum Erfahrungsanspruch kultureller Pluralität sowie die Ausarbeitungen der Unterscheidungslinien zwischen Bildung und Lernen nicht im Fokus der vorliegenden Arbeit, sodass in bildungstheoretischer Hinsicht für die vorliegende Untersuchung seine Ausarbeitungen zur Habitustransformation (von Rosenberg 2011) gewinnbringender erscheinen und ich mich auf diese fokussiere. 71Zur Differenzierung s. weiter unten im Text. 72Zwar wird hier eine andere Grundbegrifflichkeit und teils auch Grundlagentheorie herangezogen als bei dem soeben dargestellten Bildungsansatz von Nohl (2006b), doch bestehen in der Anwendung der Dokumentarischen Methode und der praxeologisch-wissenssoziologischen Grundlegung mit deren Fokus auf der Handlungspraxis der Akteur*innen auch weitgehende Übereinstimmungen. Die Anschlussfähigkeit von Bourdieus Habitustheorie und der praxeologischen Wissenssoziologie wird auch in der vorliegenden Arbeit besprochen (siehe Unterkapitel 4.1).

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

141

„als Dispositionssystem, das die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der sozialen Akteure strukturiert“ und dabei „nicht angeboren […], sondern vielmehr gesellschaftlich, kulturell und historisch bedingt, also sozial produziert“ ist.

Für von Rosenberg (2011, S. 73) ist der „Habitus […] weniger als ein feststehendes Schema zu verstehen als vielmehr ein sich in der Zeit vollziehender dynamischer Prozess“. Zwar betone Bourdieu stets die „Persistenz des Habitus“ (ebd.), doch fänden sich bei Bourdieu auch Hinweise „auf die Möglichkeit von Habitustransformationen“ (ebd.). Von Rosenberg (ebd., S. 76) macht „drei Einschlagpunkte für die Transformation eines Habitus“ aus: Die erste bestehe im mehrdimensionalen Verständnis des Habitus, welches er als von „Bourdieu weitestgehend vernachlässigten Aspekt“ (ebd., S. 76) kennzeichnet. Von Rosenberg (vgl. ebd., S. 77 f.) bezieht sich stattdessen u. a. auf Studien der praxeologischen Wissenssoziologie, in denen von der Überlagerung unterschiedlicher konjunktiver Erfahrungsräume (vgl. Bohnsack 1989) sowie – auf Akteursebene – der Mehrdimensionalität von Orientierungsrahmen (vgl. Nohl 2001) ausgegangen wird. Was in Studien, die mit der Dokumentarischen Methode entstanden sind, in der Regel als unterschiedliche Dimensionen der Handlungspraxis und Erfahrung gefasst wird (vgl. Abschn. 4.1.2 u. 4.1.3), begreift von Rosenberg mit Bourdieu als „unterschiedliche Logiken der Praxis“ (ebd., S. 78; Kursivsetzung S.T.). Den Gedanken der Mehrdimensionalität des Habitus, der in sich unterschiedliche Logiken der Praxis vereint, findet von Rosenberg auch in den Forschungsrichtungen der Intersektionalität und der Postcolonial Studies wieder und nimmt deren Verweis auf die „durchaus hybrid[e] und widerstreitend[e]“ (ebd.) Verfasstheit des Habitus auf, der „keineswegs konflikt- und widerspruchsfrei zu denken“ (Dölling und Krais, zit. n. Rosenberg 2011, S. 79) sei. So verfolgten die Logiken der Praxis jeweils eine gewisse Eigenlogik und seien nicht ohne Weiteres „ineinander überführbar“ (Rosenberg 2011, S. 79). Von Rosenberg (ebd.) zieht daraus folgenden, bildungstheoretischen Schluss: „Für eine Bildungstheorie ergeben sich aus dem Gedanken einer nicht monolithisch gedachten Mehrdimensionalität Möglichkeiten, eine Transformation des Habitus zu konzeptionalisieren, insofern in der Mehrdimensionalität eines Habitus Differenzpotentiale angelegt sind.“

Die Entstehung oder das Vorliegen von „Differenz“ (ebd.) gilt von Rosenberg als entscheidender (potenzieller) Ausgangspunkt für Bildung. Ein Potential für derartige Differenz könne die Mehrdimensionalität des Habitus bergen. Durch die Inkorporierung unterschiedlicher, auch widerstreitender Logiken der Praxis könne hier eine Differenz innerhalb eines Habitus entstehen.

142

3  Bildung und Normativität

In der Mehrdimensionalität des Habitus sieht von Rosenberg (2011, S. 76) jedoch nur eine der drei Einsatzstellen von Habitustransformationen durch Differenzpotentiale. Diese könnten darüber hinaus auch als Momente der „Iterabilität und Inkongruenz [des Habitus; S.T.] in seinem Bezug zu Feldern“ (Rosenberg 2011, S. 83) entstehen. Während es bei der zweiten Einsatzstelle von Bildung, der Iterabität (auch „Iteration“; z. B. ebd., S. 312), um die Wiederaufführung des Habitus in der Praxis geht, wobei Störanfälligkeiten der reibungslosen Wiederholung entstehen (vgl. auch Lüders 2007; Abschn. 3.2.2), eröffne die dritte Einsatzstelle für Bildungsprozesse, die Inkongruenz von Habitus und Feld, in stärkerem Maße als die beiden anderen Einsatzstellen gesellschaftstheoretische Anschlüsse. Differenzpotentiale als Anlass für Bildung könnten z. B. dadurch entstehen, dass ein Habitus auf ein neues Feld trifft oder aber: der Habitus von Transformationsprozessen innerhalb eines Feldes tangiert wird (vgl. Rosenberg 2011, S. 81). Bildungsprozesse, die ihren Ausgangspunkt in derartigen Inkongruenzen zwischen Habitus und Feld nehmen, verweisen insbesondere auf kollektive Aspekte von Bildung. Das Ergebnis hiervon bezeichnet von Rosenberg (2011, z. B. S. 307) als „Passungsschwierigkeit“ und findet in empirischer Hinsicht z. B. Parallelen zu den als Hintergrund von Bildungsprozessen herausgearbeiteten „milieuspezifischen Desintegrationserfahrungen“ bei Nohl (2006b) und den „soziokulturellen Milieuunterschieden“ bei Koller (1999). Von Rosenberg (2011, S. 81) sieht in den „Passungsschwierigkeiten“ das Potential der Verunsicherung des „Habitus in unterschiedlichen Praxisformen […], wodurch die Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis innerhalb eines Habitus neue Gewichtungen erhalten“.73 Die drei genannten Einsatzstellen von Bildungsprozessen arbeitet von Rosenberg nicht nur in theoretischer Auseinandersetzung, sondern auch am empirischen Material heraus und setzt diese in Bezug zu den beiden Verlaufsformen, die die von ihm rekonstruierten Bildungsprozesse annehmen – der Wandlung und der Transformation des Habitus.74 Wenn von Rosenberg (2011, S. 28) konstatiert, dass es mit

73Siehe

zu diesen drei Einsatzstellen für Bildung auch Abschn. 4.1.4 der vorliegenden Arbeit. 74In Auseinandersetzung mit seinem empirischen Material definiert von Rosenberg (2011, S. 285) den Unterschied zwischen Wandlung und Transformation des Habitus gemäß der Frage, ob es nur zur „Transformation einer Logik der Praxis kommt“ oder aber sich eine „Transformation der Relation unterschiedlicher Logiken der Praxis“ vollzieht, wobei er beides als Bildung versteht.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

143

„dem habitustheoretischen Versuch, durch Relationierungen aus dem Dualismus von Subjekt und Gesellschaft auszubrechen, […] kein Subjekt mehr außerhalb der Gesellschaft und damit auch keine außergesellschaftliche Erfahrungsverarbeitung [gibt]“,

kritisiert er diejenigen Ansätze der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung (vorrangig Marotzki 1990), die das Subjekt als Zentrum der Sinnproduktion konzipieren. Doch sei sogar der Habitusbegriff in gewisser Hinsicht defizitär, nehme er doch „Gesellschaft nur vermittelt und aus der Perspektive einer subjektiven und/oder kollektiven Aneignung in den Blick“ (Rosenberg 2011, S. 89). Daran anschließend setzt sich von Rosenberg zum Ziel, „einen Praxisbegriff in Anschlag zu bringen, der sich nicht auf die Strukturen des Habitus beschränkt, sondern den im bildungstheoretischen Diskurs weitestgehend vernachlässigten Feldbegriff in seine Analysen mit einbezieht“ (ebd., S 319 f.). So zielt er darauf ab, anhand von Feldrekonstruktionen gesellschaftliche Eigenlogiken in den Blick zu bekommen, die über die Ebene von Milieus hinausgehen. Diese erstellt er mit Rückgriff auf Diskursanalysen – maßgeblich von Michel Foucault und Andreas Reckwitz – und arbeitet so die Entstehung und Entwicklung der „Praxisform der Nonkonformität“ (ebd., S. 193 ff.) und der „Technologien des Selbst“ (ebd., S. 287 ff.) ab dem 18. Jahrhundert bis heute heraus. Zwar konstatiert er einerseits die Notwendigkeit weitergehender methodologischer Überlegungen, wie derartige Feldrekonstruktionen gewinnbringend mit Habitusrekonstruktionen ins Verhältnis gesetzt werden können (vgl. ebd., S. 321), unternimmt diesbezüglich jedoch auch selbst Ansätze, indem er empirische Bezüge zwischen beiden Perspektiven dahin gehend herausarbeitet, dass er auf der Ebene der einzelnen Bildungsfälle Teile der historisch entstandenen Praxisformen wiedererkennt. Die Feldrekonstruktionen stellten aber nicht nur für die rekonstruierten Bildungsprozesse das „historisch andere“ (ebd., S. 302) dar, sondern ließen auch die eigene Bildungstheorie im Lichte ihrer historischen Kontextuierung erscheinen. Sowohl den konkreten, rekonstruierten Habituswandlungen und -transformationen als auch der zugrunde gelegten Bildungstheorie wird so eine Art gesellschafts(diskurs)analytischer Spiegel vorgehalten. Von Rosenberg (ebd., S. 210) kann anhand seiner eigenen Feldrekonstruktionen die von Lüders konstatierte ‚Ambivalenz von Bildungsprozessen‘ (vgl. Abschn. 3.2.2) auch am eigenen empirischen Material entdecken. Aus den historischen Feldrekonstruktionen leitet von Rosenberg dann auch Maßstäbe zur kritischen Bewertung der Bildungsprozesse ab, was mich zur ethisch-normativen Dimension dieses Bildungsbegriffs bringt. Auch Rosenberg enthält sich einer Definition dessen, was der Inhalt von Bildung sein soll,

144

3  Bildung und Normativität

und auch er verweist nicht auf etwaige gesellschaftliche Erfordernisse. Jedoch stellt er eine andere Form des ‚materialen‘ Bezugs her: Das Bildungsgeschehen erfährt bei ihm eine Relativierung vor dem Hintergrund des Einbezugs historisch entstandener Praxisformen. Von Rosenberg (ebd., S. 211) fasst dies folgendermaßen: „Betrachtet man die in den Biographien gemachten Freiheitsgewinne vor dem Hintergrund der Feldrekonstruktionen, so scheint die gewonnene Autonomie gleichzeitig auf die Inkorporierung und Steigerung einer spezifischen Machttechnik zu verweisen“.

Zwar bleibt der Bildungsbegriff in dem Sinne ein ‚formaler‘, als dass er den Prozess des im Akteur gelagerten, wenngleich durch soziale Strukturen maßgeblich geprägten Habitus fokussiert, zugleich erhalten die Prozesse durch die historisch-gesellschaftliche Verortung, die von Rosenberg anhand der Feldrekonstruktionen einzieht, aber eine kritische Begrenzung, die auf historisch entstandene Strukturen verweist. Diese historisch entstandenen Praxisformen repräsentieren ‚objektive‘ gesellschaftliche Strukturen, doch liegen diese in inkorporierter Form im Habitus vor, stellen also, wenn man hier von ‚Materialität‘ sprechen möchte, eine ‚inkorporierte Materialität‘ dar. Von Rosenberg legt dabei aber weder eine gesellschaftlich begründete Aufgabenbestimmung (vgl. Benner 2012 und Abschn. 3.1) fest – wie sie sich in unterschiedlicher Ausprägung in immanenter und impliziter Form bei den o.g. anderen transformativen Bildungsansätzen andeutete – noch Inhalte für die Bildungsprozesse; weder in allgemeiner Form (als ‚Material‘ der Bildung), noch auf einen ‚objektivierten‘ Inhalt bezogen, wie dies Klafki (vgl. 1974 und Abschn. 3.1) definierte. Anders als bei denjenigen bisher vorgestellten Ansätzen, die ihrem Bildungsansatz durch den Bezug auf eine Gesellschaftsdiagnose einen qualifizierenden Ausgangspunkt geben und zudem ethische Bezüge aufweisen, die man auch im Bennerschen Sinne als – jedoch immanent – ‚material‘ bezeichnen kann, und anders auch als bei Nohl, der auf die sich in den empirischen Bildungsprozessen dokumentierende immanente ‚Materialität‘ – bei ihm im Sinne der Erfahrungen der Sich-Bildenden, die zum ‚Material‘ der Bildung werden – verweist, nimmt von Rosenberg anhand der Feldanalysen ‚objektive‘ Strukturen in den Blick, die über die im Bildungsprozess relevant werdenden Bildungsinhalte hinausgehen und zudem empirischen Gehalt haben. So kann von Rosenberg die Bildungsprozesse und ihre ‚Ergebnisse‘ von einer empirisch untermauerten ­ Position

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

145

aus kritisieren.75 Von Rosenberg, der mit seiner Herangehensweise beide Seiten von Bourdieus Praxisbegriff berücksichtigt, konstatiert, es zeigten „sich hier Perspektiven eines Akteurs, der aus gesellschaftlichen Strukturen entsteht, und eines Akteurs, der mit gesellschaftlichen Strukturen umzugehen versucht“ (ebd., S. 214; Kursivsetzung S.T.). Ihm selbst geht es dann auch mehr um diese wechselseitige Kritik der Bildungsprozesse auf der Ebene von Habitus und Feldrekonstruktionen, denn um die Auflösung der so entstehenden „Doppeldeutigkeit“ (ebd., S. 210). Wie sich bereits andeutete, macht von Rosenberg in seinen eigenen Überlegungen zum ethischen Gehalt von Bildung in Anschluss an Lüders (2007) den Gedanken der Kritik (und ‚Verschiebung‘) (vgl. auch Abschn. 3.2.2.2) zum Ausgangspunkt. Für Bildungsprozesse, die mit einer rekonstruktiven Forschungsmethodik erarbeitet wurden, stellt von Rosenberg (2011, S. 83) die Frage nach der Aufgabenhaftigkeit von Bildung, denn: „Aus der Rekonstruktion des Seins leiten sich keine direkten Sollensschlüsse ab“. Seine Antwort auf diese Frage bewegt sich, wie oben bereits deutlich wurde, nicht auf der Ebene einer Soll-Bestimmung von Bildung, sondern auf einer prozessualen Ebene. Eine Antwort auf dieses Normativitätsproblem könne seines Erachtens eine Praxis der Kritik (als Dekonstruktion) sein, entstünden die bereits genannten Einsatzstellen von Bildung (Iteration, Mehrdimensionalität und Passungsschwierigkeiten) doch im Zuge einer dekonstruktiven Praxis der Verschiebung und der Produktion von Differenz. In diesen Prozessen der Dekonstruktion entstehe also Neues, doch ob dieses ein wünschenswert Neues ist, kann die Dekonstruktion nicht beantworten. Von Rosenberg weist deshalb auf die Grenzen von Dekonstruktion hin und schließt: „Will die Dekonstruktion als Praxis der Kritik durch Verschiebung und Neubildung nicht willkürlich sein, scheint der Anschluss an ethische Fragestellungen unausweichlich“ (ebd., S. 88). An Lüders (2007) anschließend konstatiert von Rosenberg, es gebe „keinen letzten nicht weiter dekonstruierbaren ontologischen Punkt mehr […], welcher einen normativen Halt des Bildungs-

75Der

Bezug zwischen der Empirie der Bildungsprozesse und den Feldrekonstruktionen bewegt sich letztlich auf der Ebene einer Kontrastierung bzw. Parallelisierung, da auf der Ebene der empirischen Habitustransformationen zwar Anteile der historisch entstandenen Praxisformen wiedererkannt werden, der methodologische und forschungspraktische Bezug zwischen ihnen aber nicht ausgereift ist, wie Rosenberg (2011, S. 321) selbst anmerkt. Jedoch ist den Feldrekonstruktionen hinsichtlich ihres empirischen Gehalts ein ungleich größeres Gewicht beizumessen als den theoretischen Vorannahmen, die aus (theoretisch konstatierten) Zeitdiagnosen stammen.

146

3  Bildung und Normativität

gedankens legitimieren könnte“ (Rosenberg 2011, S. 88). Dies führt ihn zu der Schlussfolgerung, „die unabschließbare Differenz zum Anderen selbst zum nicht einholbaren ethischen Hintergrund von Bildung“ (ebd.) zu erklären. Er entwickelt aus dieser Feststellung den Gedanken der „Dekonstruktion“ als einer „Ethik der Differenz […], welche die Nicht-Einholbarkeit der Aufgabenhaftigkeit von Bildung nicht nur problematisiert, sondern diese selbst zum ethischen Prinzip macht“ (ebd., S. 89). Ähnlich wie bei Lüders stellt sich bei dieser Dekonstruktion von Bildung jedoch die Frage, was Bildung dann noch sein kann? Wenn die Voraussetzung und Kriterien von Bildung nicht definierbar sind, wieso wissen wir dann, dass es Bildung ist?76 Bei von Rosenberg erscheint Bildung folglich als „ein unabschließbarer Prozess“ (ebd., S. 317), womit sich Parallelen zu Kollers unabschließbarer Offenhaltung des Widerstreits, Lüders Verstetigung der kritischen Prüfung neuer Diskurspositionen und Nohls verstetigter Ermöglichung neuer Experience zeigen. Die Unabschließbarkeit von Bildung begründet er damit, dass „der Habitus sich immer wieder mit Relationierungen seiner Mehrdimensionalität auseinandersetzen muss“ (ebd., S. 317). Anders als Nohl setzt von Rosenberg dies allerdings nicht als Bildungskriterium an, sondern geht lediglich davon aus, dass künftige Erfahrungen Neurelationierungen wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Reflexion des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Bildungsansatzes möchte ich an dieser Stelle noch einen Moment zurückstellen und stattdessen – angesichts dessen, dass sich dieser Ansatz in Bezug auf die Frage nach Normativität vom folgenden nicht nennenswert unterscheidet – zunächst auf den Ansatz von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) eingehen; was zugleich bedeutet: den Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit einzuführen.

3.2.3.2.2 Zum Bildungsbegriff dieser Arbeit – Steigerung des schöpferischen Umgangs mit erworbenen Habitusdispositionen Zuletzt soll nun noch die Studie „Bildung und Lernen im biographischen Kontext“ (Nohl et al. 2015a) besprochen werden, mit der Arnd-Michael Nohl, Florian

76Während

von Rosenberg dennoch empirisch Bildungsprozesse rekonstruiert, seine dekonstruktive Ethik also für die Bearbeitung der Empirie gewissermaßen wieder hintanstellt, geht Lüders, wie bereits erwähnt, so weit, ihre eigenen empirischen Rekonstruktionen zu hinterfragen.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

147

von Rosenberg und ich an die beiden zuvor dargestellten Ansätze (Nohl 2006b und Rosenberg 2011) anschließen.77 Die Autor*innen nutzen in ihrer Studie die pragmatistischen Handlungstheorie John Deweys, die auch Nohl für seine Bildungstheorie herangezogen hatte, in lerntheoretischer Hinsicht und führen diese in bildungstheoretischer Perspektive mit Bourdieus Theorie der Praxis sowie der praxeologischen Wissenssoziologie zusammen. Die Ausarbeitungen setzen an dem bislang in der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung unzulänglich ausgearbeiteten Verhältnis von Lernen und Bildung an, bei dem ersteres nur der Abgrenzung diente, um letzteres zu konturieren und eingehend auszuleuchten – eine Kritik, die Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) zum Anlass nehmen, um eine elaborierte Verbindung beider erziehungswissenschaftlich relevanter Prozesse vorzulegen.78 Bildung definieren auch Nohl, von Rosenberg und Thomsen als Habitustransformation. Sie verstehen dabei Bourdieus Konzeption des Habitus als „‚ein aktives, schöpferisches Verhältnis und nicht als eine mechanisch repetitive Gewohnheit‘“ (Bourdieu, zit. n. ebd., S. 223), betonen aber gleichermaßen, dass der Habitus gesellschaftliches Produkt ist und eine Aufteilung in subjektive und objektive Anteile nicht zulässt. Mit Bourdieus und Wacquants (zit. n. ebd.) Worten klingt dies folgendermaßen: „‚Wenn man vom Habitus redet, dann geht man davon aus, dass das Individuelle und selbst das Persönliche, Subjektive etwas Gesellschaftliches ist, etwas Kollektives‘“. Für Bildung als Transformation des Habitus, die sich laut den Autor*innen in ‚formaler‘ Abgrenzung vom Lernen, das sich „auf die aneignende Auseinandersetzung mit Ausschnitten aus der Welt“ (ebd., S. 154) erstreckt, hingegen auf die „Selbst- und Weltreferenz in ihrer

77Meine

eigene Untersuchung ist im Kontext der beiden DFG-Projekte entstanden, deren Produkt das im Folgenden besprochene Buch ist. Ich verwende denselben Bildungsbegriff wie Nohl et al. (2015a). Im Folgenden spreche ich der Einfachheit halber von den ‚Autor*innen‘, auch wenn ich u. a. selbst damit gemeint bin. 78Die vorliegende Arbeit geht jedoch quasi einen Schritt dahinter zurück und beschränkt sich auf bildungsrelevante Theorien und empirische Rekonstruktionen – hat aber sicherlich von der intensiven Auslotung der Grenzen und Überschneidungen von Bildung und Lernen profitiert. In meiner Darstellung des Ansatzes von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) fokussiere ich ebenfalls vorrangig die bildungstheoretischen Aspekte. Da es jedoch ein zentrales Anliegen der Autor*innen ist, einen „theoretischen Rahmen“ zu liefern, „innerhalb dessen Bildung und Lernen nicht separat voneinander, sondern im wechselseitigen Bezug herausgearbeitet werden können“ (ebd., S. 210), können die lerntheoretischen Annahmen nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, möchte man die Bildungstheorie verstehen.

148

3  Bildung und Normativität

Gesamtheit“ (ebd., z. B. S. 153) bezieht,79 halten auch Nohl, von Rosenberg und Thomsen (ebd., S. 227 ff.) die drei bereits erwähnten Einsatzstellen der Mehrdimensionalität, Iteration und Passungsschwierigkeiten80 für zentral. Auch sie heben in diesem Zusammenhang die heterogene Verfasstheit des Habitus hervor (ebd., S. 257): „Gerade wenn man davon ausgeht, dass der Habitus nicht völlig homogen ist, sondern unterschiedliche, zum Teil sogar widersprüchliche habitualisierte Handlungspraktiken umfassen kann, wird deutlich, dass wir es hier mit einer ‚working interaction of habits‘ zu tun haben, wie Dewey (1980, S. 31) dies nennt.“

Der Habitus erscheint also auch hier nicht starr, sondern als eine sich in Bewegung befindende, in sich interaktive Struktur. Die innere „Heterogenität und Widersprüchlichkeit“ (ebd., S. 262) des Habitus erklären die Autor*innen mit dem pragmatistischen Grundbegriff des ‚Habit‘ sowie dem praxeologisch-wissenssoziologisch fundierten Begriff der ‚Handlungsorientierung‘. Mit ihnen ziehen Nohl, von Rosenberg und Thomsen zwei Ebenen der Sinnerzeugung unterhalb des Habitus ein, die dessen mehrdimensionale Verfasstheit – und letztlich auch seine Transformierbarkeit, an der sie beteiligt sind – erhellen können. Sie fassen diese beiden Strukturen der Sinnerzeugung folgendermaßen (ebd., S. 26): „Während Habits Praktiken strukturieren, die zwischen Mensch und Welt angesiedelt sind, basieren Handlungsorientierungen auf der Sedimentierung von Erfahrungen und Bedeutungen auf Seiten des Menschen, die im Zuge dieser Praktiken entstanden sind“.

Bei ersteren geht es also stärker um den situationsbezogenen, präreflexiven Austausch zwischen Mensch und Welt, bei letzteren mehr um den Modus Operandi der Bedeutungszuschreibung, der sich aufseiten des Akteurs aus der wiederholten Praxis entwickelt und verfestigt hat. Bildung bedeutet, so die Autor*innen, immer „auch die Transformation des Gesamtbündels an Habits und Handlungsorientierungen“

79Der

Bezug auf den Habitus als Gesamtheit der Selbst- und Weltreferenz ist hier als Verweis auf seine (in vielfältigen konjunktiven Erfahrungsräumen entstandene) Mehrdimensionalität zu verstehen. Eine vollständige Erfassung des Habitus ist schon aufgrund der „Aspekthaftigkeit“ jeder Interpretation (vgl. z. B. Bohnsack 2010a und Abschn. 4.1.2.1) nicht möglich. 80Vgl. hierzu auch Abschn. 4.1.4 und die Ausführungen im Teil zu von Rosenbergs Studie weiter oben in diesem Abschnitt.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

149

(ebd., S. 257). Lernen hingegen bringe (zunächst einmal) Habitusmodifikationen und -differenzierungen mit sich, kann aber – wenn „die sich verändernden Habits und Handlungsorientierungen eine biographieübergreifende Position einnehmen“ (ebd., S. 233) zu Bildung führen.81 Die sich empirisch dokumentierenden Verknüpfungen von Habitustransformationen mit Lernprozessen arbeiten die Autor*innen in typisierender Hinsicht aus (vgl. ebd., S. 209 ff.) und reflektieren dies wiederum theoretisch. So stellen sie, theoretisch wie empirisch, systematische Bezüge von Lernen und Bildung her. Der „Umschlagpunkt zwischen Lernen und Bildung“ (ebd., S. 264) besteht in dieser Bildungskonzeption darin, dass alte Habits und Handlungsorientierungen aufgrund einer „Krise“ (ebd.) – die allerdings, wie dies bereits Nohl (2006b) (vgl. Abschn. 3.2.3.1) konstatierte, nicht am Anfang des Bildungsprozesses stehen muss – ‚ins Leere laufen‘ (Nohl et al. 2015a, S. 264) und so „den Weg frei [machen] für die Entfaltung der neuen Handlungspraktiken, die nunmehr zu zentralen Habits und Handlungsorientierungen werden können“ (ebd., S. 263).82 Die Krise wird im Zuge des Bildungsprozesses nicht im eigentlichen Sinne bearbeitet, vielmehr entsteht in ihrem Kontext ein „Freiraum“ (ebd., S. 264), der – wenn er so groß wird, „dass nicht mehr nur Ausschnitte von Selbst und Welt, sondern die Selbst- und Weltreferenz in ihrer Gesamtheit, d. h. die Lebensorientierungen, neu strukturiert werden“ (ebd.) – zur Habitustransformation führen kann. Zuvor randständige Habits und Handlungsorientierungen können im Bildungsprozess im Zuge einer Krise folglich eine umfassende Relevanz gewinnen und den Habitus neu strukturieren. Dabei schließen diese zunächst randständigen Habits und Handlungsorientierungen an vorgängige biografische Erfahrungen an. Durch ihre empirische Ausarbeitung – und theoretische Reflexion – dessen, wie vorgängige Erfahrungen zu Ressourcen von Bildung werden können (vgl. ebd., S. 74 ff. u. 263 ff.), eröffnen Nohl, von Rosenberg und Thomsen eine

81Mit

dem Fokus auf Lernanlässe und Lernprozesse präzisieren die Autor*innen die hieran beteiligten Habits und Handlungsorientierungen als „Lernhabits“ (Nohl et al. 2015a, S. 24) und als „Lernorientierungen“ (ebd., S. 163 ff.). Erstere begreifen sie als die „sich verstetigenden und routinisierten Austauschprozesse zwischen Mensch und Welt“ (ebd.), also: spezifische „Herangehensweisen an potentielle Lerngegenstände und -anlässe“ (ebd.) (vgl. ausführlicher zu den Lernhabits ebd., S. 169 ff. und zu ihrer empirischen Typisierung: ebd., S. 173 ff.). Unter Lernorientierungen verstehen die Autor*innen habitualisierte Arten und Weisen, sich einem Lerngegenstand zu nähern (vgl. ebd., S. 163 ff.; zur empirischen Ausarbeitung der Lernorientierungstypen siehe ebd., S. 186 ff.). 82In ihren empirischen Ausarbeitungen verorten die Autor*innen diesen Umschlagpunkt innerhalb der Phase der „Relevanzverschiebung“ (vgl. Nohl et al. 2015a, S. 63 ff. u. 263).

150

3  Bildung und Normativität

s­ystematische Erklärung dieses Zusammenhangs. Bei den Ressourcen handelt es sich um unterschiedliche „Erfahrungskomplexe“ (ebd., S. 263), die die Autor*innen als „Gegenmatrix“ (ebd.) und als „Positiv“ (ebd., S. 264) kennzeichnen und „die erst in ihrer Überlagerung zu Bildungsressourcen werden“ (ebd., S. 82).83 So machen sie deutlich, dass Teile der vorgängigen Biografie, die Transformation des Habitus in einer nicht linearen, nicht vorhersagbaren Art und Weise (mit-) strukturieren. Nohl, von Rosenberg und Thomsen (ebd., S. 264) gehen sogar so weit, in den Bildungsressourcen das Potential dafür zu sehen, dass der Habitus „sich im Bildungsprozess mithin aus sich selbst heraus, d. h. auf seinen eigenen Erfahrungen gegründet, transformiert“.84 Gemeint ist hier ein ‚Wieder-Aufsteigen‘ (vgl. ebd.) von in der Vorgeschichte bereits angelegten Erfahrungen, die bislang jedoch keinen (relevanten) Eingang in die Handlungspraxis gefunden hatte. Diese Überlegungen knüpfen an Nohls (2006b) Ausführungen zur Entfaltung des in der Vergangenheit angelegten biografischen Hintergrunds an, konkretisieren diese jedoch deutlich.

3.2.3.2.3 Das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Rahmen von Bildung als Habitustransformation Im Folgenden beziehe ich mich auf die Bildungsansätze von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) sowie jenen von Rosenbergs (2011). Der ethisch-normative Gehalt des Ansatzes von Bildung als Habitustransformation stellt sich mir folgendermaßen dar: Fokussiert wird auch hier der ‚formal‘ definierte Prozess von Bildung als Transformation des auf der Ebene des Akteurs angesiedelten Habitus. Angesichts dessen, dass sich das Habituskonzept einer Aufteilung in subjektive und objektive Anteile entzieht, kann dies jedoch nicht subjektivistisch verkürzt sein, auch wenn es ‚formal‘ ist.85

83Während

die Gegenmatrix „eng an das Herkunftsmilieu des Akteurs gebunden, gleichwohl aber vornehmlich von dessen Auflösung, einer Exklusions- oder Desintegrationserfahrung geprägt ist“ (Nohl et al. 2015a, S. 263), kennzeichnet das Positiv eine biografische „Sensibilität für das Metier, in dem sich später der Bildungsprozess entfalten wird“ (ebd., S. 264) (Siehe zu den Ressourcen von Bildung auch Nohl 2011.). 84Dies ist jedoch keinesfalls als solipsistischer Ablauf des gesamten Prozesses zu verstehen. 85Somit kann hier dasselbe konstatiert werden, wie bereits zuvor für die diskurstheoretisch fundierten Bildungsansätze und die pragmatistisch-wissenssoziologische Herangehensweise von Nohl (2006b) (Mit seinen Feldrekonstruktionen findet von Rosenberg (2011) zudem einen Weg, um dem formalen Bildungskonzept noch mehr ‚Materialität‘ gegenüberzustellen, als die anderen Ansätze – einschließlich Nohl et al. (2015a) – dies tun.).

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

151

Die oben beschriebene Rolle von vorgängigen Erfahrungskomplexen und zuvor randständigen Habits und Handlungsorientierungen im Bildungsansatz von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) verweist zugleich auf die Frage nach der Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Rolle, die bei diesem Bildungsbegriff – ebenso wie jenem von von Rosenberg (2011) – der Vergangenheit zukommt, gestaltet sich einerseits in einer Negation von in der Vergangenheit entstandenen Strukturen, genauer: von den (im Herkunftsmilieu) tradierten Habitusdispositionen, doch findet gleichzeitig auch ein Anknüpfen an andere (zuvor randständige) Komplexe des biografischen Erfahrungshintergrunds statt. Auf diese Art schließt die Transformation des Habitus immer auch an etwas Vorgängiges an und stellt keine gänzliche Negation der Gesamtheit der biografischen Erfahrungen dar. Einige Habitusdispositionen, die in der Vergangenheit entstanden sind, werden im Bildungsprozess überwunden, anderen kommt eine neue – gewichtigere – Bedeutung zu, gänzlich neue kommen hinzu. So werden – um es mit von Rosenbergs Perspektive zu sagen – die Relationen der ‚Logiken der Praxis‘ oder – mit Nohl, von Rosenberg und Thomsen – des ‚Gesamtbündels an Habits und Handlungsorientierungen‘ verschoben bzw. neu zusammengesetzt, was zu einer grundlegenden Transformation des Habitus (in der Gegenwart) führt. Dies beinhaltet jedoch immer auch eine gewisse Kontinuität zum Vergangenen. Während einige alte Habits und Handlungsorientierungen über Bord geworfen werden bzw. in den Hintergrund treten, laufen zahlreiche andere weiter und bekommen im Zuge der Transformation teils einen neuen biografischen Sinn zugeschrieben; einige Logiken der Praxis bleiben in ihren Grundzügen bestehen, erhalten aber durch die Umstrukturierung der Relationen der Logiken der Praxis zueinander in der Gegenwart eine neue Bedeutung.86 Auf diese Art und Weise kann der Bildungsbegriff von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a), wie auch derjenige von von Rosenberg (2011), eine grundlegende Transformation des Habitus erklären, ohne davon auszugehen, dass alles

86Die

Frage danach, wie weit die Fortbewegung vom Tradierten geht bzw. gehen muss, um als Bildung bezeichnet zu werden, wird jedoch etwas unterschiedlich beantwortet. Während von Rosenberg (2011) bereits die ‚Transformation einer Logik der Praxis‘ als Bildung betitelt, so beschreiben Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) Bildung als die Transformation des Habitus ‚in seiner Gesamtheit‘. Hiermit ist gemeint, dass – die Mehrdimensionalität des Habitus vorausgesetzt – bei seiner Transformation also mehrere Habitusdimensionen (d. h. ‚Logiken der Praxis‘) beteiligt sein müssten oder aber – dies schreiben Nohl, von Rosenberg und Thomsen nicht explizit, aber so verstehe ich es und kennzeichne damit auch meine eigene Herangehensweise – das Transformationsgeschehen in einer Habitusdimension zumindest sekundär auch andere Dimensionen betreffen müsste.

152

3  Bildung und Normativität

Vorherige in seiner Gänze negiert und über Bord geworfen wird. In der Gegenwart wird einigen Anteilen aus der Vergangenheit zur umfänglicheren Entfaltung verholfen, während andere randständiger werden oder sich sogar gänzlich verlieren. Was die Zukünftigkeit angeht, so unterscheiden sich beide hier diskutierten Ansätze von jenem Ansatz Nohls (2006b), bei dem weitere Transformationen gleichwohl zur Bedingung von Bildung werden (siehe hierzu Abschn. 3.2.3.1). Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) und von Rosenberg (2011) rechnen durchaus auch mit an den Bildungsprozess anschließenden, erneuten Transformationen des Habitus, doch verzichten sie darauf, das abermals Neue zum ethischen Kriterium zu machen. Zwar müsse, so Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 266), wenn sich der Habitus transformiert hat und in der Folge die neuen Lernhabits und Lernorientierungen „stabil bleiben, […] davon ausgegangen werden, dass die Akteure auch nach dem Bildungsprozess sich auf irritierende Erfahrungen einlassen und auf diesem Wege das Neue orientierungsrelevant werden lassen, dass sich also weitere Bildungsprozesse entfalten können.“

Jedoch wird dies nicht zur Bedingung von Bildung gemacht. So rekonstruieren die Autor*innen empirisch dann auch Formen der Stabilisierung des transformierten Habitus, mit denen neuerliche irritierende Erfahrungen gar nicht erst zugelassen werden oder aber „dieses Neue in das im Zuge des Bildungsprozesses neu entwickelte übergreifende Ordnungsprinzip“ (ebd., S. 267) überführt wird. Im Gegensatz zu z. B. Koller (1999) enthalten sich die beiden hier besprochenen Ansätze, bei denen die Transformation des Habitus im Zentrum von Bildung steht, zudem der Aussage, dass Bildung anzustreben sei. Der Soll-Zustand dieses Bildungsbegriffs beschränkt sich darauf, dass die Transformation – wenn sie denn stattfindet – umfassend sein soll, das heißt die Sinnerzeugungsebene des Habitus betreffen muss. Welcher Art das ‚Ergebnis‘, also der Orientierungsgehalt der Transformation ist, ist hier hingegen nachrangig, wenn nicht gar egal.87

87Dies

öffnet zwar einerseits Tür und Tor für die unter 3.1. eingeführte Kritik an der ‚ethischen Beliebigkeit‘ transformativer Bildung von Fuchs (2013), Rieger-Ladich (2014), Sanders (2014) u. a. Gleichzeitig habe ich in meinen Auseinandersetzungen auch kein schlüssiges Konzept gefunden, das die Bevorzugung einer ethisch-normativen Fundierung von Bildung gegenüber einer anderen rechtfertigen würde. So plädiere ich letztlich für diesen sich ethisch sehr zurückhaltenden Bildungsbegriff und schlage stattdessen vor, diesen zur Grundlage von weiteren ‚Konfrontationen‘ zu machen (Dies sei hier nur angedeutet; ausführlich werde ich dieses Programm im Abschn. 3.3 darlegen und in Kap. 7 in Ansätzen anwenden.).

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

153

Trotz seiner ‚Formalität‘ ist auch dieses Bildungsverständnis nicht subjektivistisch. Gesellschaft wird hier automatisch immer mitgedacht, in methodologischer und theoretischer Hinsicht. Der Habitus ist – dies habe ich des Öfteren erwähnt – nie vorrangig subjektiv gelagert, in ihm wirken die sozialen Strukturen (vgl. auch Abschn. 4.1.3). So findet auch seine Transformation im Kontext der sozial strukturierten Handlungspraxis – d. h. unter der Strukturierung von und in der Auseinandersetzung mit der sozialen Welt – statt. Einem Bildungsverständnis, das auf dem Habitus basiert, wohnen gesellschaftliche Strukturen also immer in immanenter Form inne.88 Das ‚Material(e)‘ der Bildung – hier in der von mir vorgeschlagenen ‚reduzierten‘, des Objektivismus entkleideten Version zu verstehen als bildungsrelevante Erfahrungen der Akteur*innen, die zum Inhalt der Bildung werden – ergibt sich dabei aus dem Gegenstandsbereich, in dessen Kontext Bildung stattfindet und kann durchaus seinerseits expliziten Bezug auf ‚objektive‘ Strukturen aufweisen oder sogar der engen Versionen des Materialitätsbegriffs als objektivierte Inhalte (Klafki 1974) oder ‚objektive‘ gesellschaftliche Erfordernisse (Benner 2012) (vgl. zu beiden Abschn. 3.1) entsprechen – muss dies aber nicht. Dieses immanent ‚Materiale‘, das dem Sich-Bildenden zunächst äußerlich ist und dann zum Inhalt des Bildungsprozesses wird, ist nicht (vorab) antizipierbar, sondern nur in den Bildungsprozessen selbst empirisch bestimmbar. Wie bei den anderen Ansätzen transformativer Bildung ist auch in diesem praxeologischen Bildungsverständnis dennoch eine Steigerungssemantik festzustellen, mit der zugleich – wenn auch minimale – ethische Annahmen einhergehen. Da im Habitus trotz individueller Variationen maßgeblich die inkorporierte gesellschaftliche Struktur wirkt, beinhaltet seine Transformation eine relative Loslösung von tradierten Dispositionen, d. h. von der eigenen Vergangenheit; nicht zu verwechseln mit einer souveränen Freiheit gegenüber der eigenen sozialen Strukturiertheit. So lässt sich Bildung verstehen als Steigerung der Handlungsfähigkeit, d. h. der relativen Freiheit gegenüber der tradierten Struktur. Nicht die gesamte Struktur wird dabei überwunden, sondern die Relevanz der neu strukturierenden Elemente des Habitus wird gesteigert und dadurch der Habitus umstrukturiert. Die ethisch-normative Grundannahme dieses Bildungsverständnisses kann so – in Anlehnung an Bourdieus o. g. Formulierung – als Steigerung des ‚schöpferischen‘ Umgangs mit den erworbenen Habitusdispositionen verstanden werden; zumal im ‚Schöpferischen‘ sowohl die Bedeutung der kreativen (Neu-)Gestaltung als auch des ‚Schöpfens‘ (aus dem bereits Vorhandenen) mitschwingt. 88Wenn

man die Parallelisierung von Materialität mit Objektivismus beibehielte – was ich nicht für zielführend halte, wie an mehreren Stellen dieses Kapitels deutlich gemacht (vgl. hierzu auch Abschn. 3.3) – könnte hier auch von einer immanenten ‚Materialität’ gesprochen werden.

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3  Bildung und Normativität

3.2.4 Kontrastfolie: Transformative Learning als Steigerung kritisch-emanzipativer Reflexion und sozialer Verantwortungsübernahme Im Folgenden soll den in diesem Kapitel vorgestellten transformativen Bildungskonzepten ein pädagogischer Ansatz als Kontrastfolie entgegen gestellt werden, der seinerseits dem Gegenstandsbereich der sozialen (Protest-)Bewegungen und ihrer Spezifik, d. h. dem politisierten Kontext des Transformationsgeschehens (mehr) Rechnung trägt: die Theorie des Transformative Learning89. Angestoßen von Jack Mezirow (1978a u. b) und anfangs unter dem Schlagwort der „Perspective Transformation“ hat sich diese dem transformativen Bildungsbegriff in vielen Zügen ähnliche Theorie in der US-amerikanischen Erwachsenenbildung entwickelt (zum Überblick: Kitchenham 2008; Nohl 2009, 2015 u. 2016b; Cranton und Taylor 2012; Zeuner 2012 u. 2014; Rosenberg 2016, S. 31 ff.). Mezirow entwickelte dieses Konzept Ende der 70er-Jahre unter Anwendung der Grounded Theory (vgl. Mezirow 1978b, S. 1) auf der Grundlage der Evaluation von Lernangeboten, die im Kontext der Frauenbewegung organisiert worden sind (vgl. Mezirow 1978a, S. 102) und in denen es um die Reintegration von Frauen in die Hochschulbildung nach einer längeren Pause in ihrer Erwerbsbiografie (vgl. Mezirow 2000, S. XI) ging. In der Folge entspann sich eine weit verzweigte Auseinandersetzung mit diesem pädagogischen Konzept, das nicht zuletzt auch im Kontext der Bewegungsforschung rezipiert wurde (vgl. z. B. Scott 1992; McDonald et al. 1999; Auretto 2001; Dirkx und Kovan 2003; Walter 2011; English und Peters 2012).90 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird es nicht möglich sein, den Diskussionszusammenhang der Theorie und Forschung zum Transformative-Learning mit all ihren verzweigten Diskussionssträngen, teils kontroversen Schlussfolgerungen und ihrer bald 40-jährigen Tradition in den USA, aber auch Kanada und Südamerika, umfassend darzustellen. Den Fokus meiner Ausführungen lege ich im Folgenden auf die Arbeiten Mezirows – in seiner ­Eigenschaft als Begründer der Theorie – sowie auf jene

89Aufgrund

von Schwierigkeiten der direkten Übersetzung vom Englischen ins Deutsche und umgekehrt, benutze ich im Folgenden entweder die originalsprachigen Begriffe oder setze die deutschen Übersetzungen in einfache Anführungsstriche, um darauf hinzuweisen, dass die englischsprachigen Konzepte, wie das (Transformative) Learning nicht einfach der deutschen Bildung bzw. dem deutschen Lernen einverleibt werden können. 90Cranton und Taylor (2012) heben hervor, dass heutzutage eigentlich nicht mehr von dem einen Ansatz des Transformative Learning gesprochen werden könne, weil verschiedene Auslegungen und Akzentuierungen existierten.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

155

von Autor*innen, die Prozesse des Transformative Learning im Kontext sozialer Bewegungen untersucht haben. Mit der folgenden Darstellung möchte ich die Grundzüge des Transformative Learning, wie Mezirow es ausgearbeitet hat, darstellen und dabei ein besonderes Augenmerk auf den Vergleich zu den zuvor diskutierten Ansätzen transformativer Bildung legen sowie, wie bei allen in diesem Kapitel vorgestellten Ansätzen, die Frage nach der expliziten wie impliziten Normativität des Ansatzes stellen. Im Vordergrund der genannten Erwachsenenbildungsprogramme standen für Mezirow, wie Nohl (2016b, S. 163) hervorhebt, weniger organisatorische oder inhaltliche Fragen als vielmehr „die biographische Bedeutung, die die Wiederaufnahme des Studiums für die Frauen selbst hatte“. Mezirow (1978a, S. 101) meinte hierin eine besondere Form des ‚Lernens‘ Erwachsener identifiziert zu haben, stelle das Erwachsenenleben die Menschen doch immer wieder vor „certain challenges or dilemmas […] that cannot be resolved by the usual way we handle problems –that is, by simply learning more about them or learning how to cope with them more effectively. Life becomes untenable, and we undergo significant phases of reassessment and growth in which familiar assumptions are challenged and new directions and commitments are charted“.

Die von ihm beschriebenen Prozesse zielen, so Mezirow, auf eine ‚Neuvermessung‘ bestehender biografischer ‚Ausrichtungen‘ und ‚Festlegungen‘. Sie ließen sich von anderen Formen des ‚Lernens‘ abgrenzen, bei denen „wir normalerweise eine alte Bedeutung einer neuen Erfahrung zu[ordnen]“ (Mezirow 1997, S. 10). Beim Transformative Learning hingegen „interpretieren wir eine alte (oder neue) Erfahrung von einem Bündel neuer Erwartungen her neu und geben dadurch der alten Erfahrung eine neue Bedeutung und Perspektive“ (ebd.). Dieser über das einfache ‚Lernen‘ hinausgehende, transformative Prozess bestehe im Kern darin, dass Erfahrungen und ihre Interpretation (ergo: die Zuweisung von Bedeutung) neu relationiert würden. Mezirow betrachtet dies als zentrale (Entwicklungs-)Aufgabe des Erwachsenenlebens (vgl. etwa Mezirow 1978a, S. 101) und grenzt es vom kindlichen ‚Lernen‘ ab. Das ‚Lernen‘ in der Kindheit begreift er als sozialisatorischen, ‚formativen Lernprozess‘, bei dem die „meaning perspectives“91 (ebd.) – d. h. die grundlegende Struktur, durch die „die subjektiven Deutungen und Einstellungen eines Individuums in Bezug auf seine Umwelt“ (Zeuner

91In späteren Arbeiten bezeichnet Mezirow (z. B. 2000, S. 16) die ‚Meaning Perspectives‘ auch als „frames of reference“.

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3  Bildung und Normativität

2014, S. 103) charakterisiert werden und anhand derer fortan Erfahrung interpretiert wird – aufgebaut würden. Dahingegen ginge es im Leben Erwachsener jedoch auch darum, „neue Perspektiven zu gewinnen, um zu einem besseren Verständnis sich ändernder Ereignisse zu gelangen“. Mezirow trennt das ‚Lernen‘ Erwachsener also klar vom kindlichen ‚Lernen‘, gleichwohl schafft er durch die Unterscheidung von einer erstmaligen Formation und einer späteren Transformation der Strukturen der Selbst- und Weltinterpretation zugleich Möglichkeiten des Anschlusses zwischen diesen unterschiedlichen, altersspezifischen Varianten des ‚Lernens‘.92 Mezirow (2000) arbeitet eine Theorie des ‚Lernens‘ Erwachsener aus, die verschiedene ‚Lern‘-Stufen beinhaltet und von denen nicht alle Formen transformativ angelegt sind. Er differenziert vier Formen des Learning wie folgt: Erstens eine detailliertere Ausgestaltung, ein „elaborating“ (ebd., S. 19) der ‚Referenzrahmen‘, zweitens das Hinzufügen neuer Rahmen zu den bereits bestehenden, drittens die Transformation von „points of views“ (ebd.) – auch als „Bedeutungsschemata“ (Mezirow 1997, z. B. S. 5) bezeichnet – und viertens die Transformation der „habits of mind“ (Mezirow 2000, S. 19) – oder auch: „Bedeutungsperspektiven“ (vgl. Mezirow 1997, S. 31). Letztere stellten ein umfassendes und zumeist vorreflexives „set of assumptions“ (Mezirow 2000, S. 19) dar, also „broad, generalized, orienting predispositions that act as a filter for interpreting the meaning of experience“ (ebd.). Während die beiden ersten Formen additives ‚Lernen‘ beschreiben und keine Transformation umfassen, werden hinsichtlich der Frage nach Anschlussmöglichkeiten zwischen Ansätzen Transformativer Bildung und des Transformative Learning die beiden letzteren Formen interessant – und diese stehen auch in Mezirows eigenem Fokus.

92Zeuner (2014, S. 99) weist auf den Unterschied hin, dass die Transformative-Learning-Theorie sich explizit nur auf das ‚Lernen‘ Erwachsener beziehe, während „in der deutschen Erziehungswissenschaft transformatives Lernen als Ergebnis von Lernprozessen in jedem Lebensalter gilt“. Im Kontext der transformativen Bildungstheorie deutscher Provenienz liegt der Schwerpunkt jedoch auch auf Prozessen im Erwachsenen- und allenfalls Jugendalter, nicht aber der Kindheit (zur Ausnahme siehe Kramer et al. 2013). Auch wird in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft kontrovers diskutiert, ab welcher Entwicklungsstufe, d. h. in welchem Alter Sozialisation endet und Bildung beginnt. Dies brachte – quasi als äußerste Eckpunkte des Diskurses – einerseits die These von der Selbstbildung im Kindesalter (vgl. z. B. Schäfer 1995, 2005) und andererseits von der Erwachsenensozialisation (vgl. zum Beginn der Debatte Brim und Wheeler 1974; zum Überblick: Griese 1999) hervor.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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Ähnlich wie Marotzkis wegweisende Unterscheidung zwischen dem rahmenimmanenten Lernen auf der einen und der rahmentransformierenden Bildung auf der anderen Seite (siehe Abschn. 3.2.1) grenzt auch Mezirow Transformative Learning, das eine ‚Herausforderung gewohnter Annahmen‘ darstelle und zu „reassesment and growth“ führe, vom gewöhnlichen ‚Lernen‘ ab. Zum Transformative Learning zählt er die beiden höheren Stufen des ‚Lernens‘. Während dabei die weniger umfassende Transformation der ‚Bedeutungsschemata‘ eher auf der Ebene von (Common-Sense-)Theorien und Werturteilen liege, würde mit den Bedeutungsperspektiven hingegen eine umfassendere Struktur der Selbst- und Weltinterpretation transformiert, in die theoretisch-reflexive wie auch vorreflexive Ebenen des Seins einfließen (vgl. Mezirow 1997, S. 31 ff.). Das Verhältnis von Bedeutungsschemata und Bedeutungsperspektiven gestalte sich dabei wie folgt: Mit der umfassenden Bedeutungsperspektive, die Mezirow (1978a, S. 108) auch als „integrated psychological structure with dimensions of thought, feeling and will“ bezeichnet, gingen viele verschiedene ‚Bedeutungsschemata‘ einher. Diese verkörperten die „konkreten Manifestationen unserer gewohnheitsmäßigen Orientierung und Erwartungen“, der „Bedeutungsperspektiven“ (Mezirow 1997, S. 36; Kursivsetzung S.T.). Mezirow gibt ein politisch konnotiertes Beispiel für die Erklärung des Verhältnisses dieser beiden Instanzen der Sinnerzeugung: Während „Ethnozentrismus“ als eine ‚Bedeutungsperspektive‘ gekennzeichnet werden könne, würden konkrete „rassistische […] Klischees“ in diesem Kontext die Bedeutungsschemata bezeichnen. Diese seien weniger umfassend und so auch leichter veränderbar als die übergreifenden ‚Bedeutungsperspektiven‘ (vgl. ebd.). Eine Transformation der Bedeutungsschemata würde in der deutschsprachigen, biografietheoretisch fundierten Bildungsforschung angesichts ihrer Reduzierung auf die theoretisch-reflexiven Anteile des Wissens, wohl nicht als Bildung gefasst werden.93 Das rahmentransformierende Learning, bei dem eine Transformation der ‚Bedeutungsperspektiven‘ respektive der Habits of Mind, also der unbewussten Anteile der ‚Referenzrahmen‘, stattfände, begreift Mezirow als die höchste Form des Transformative Learning (vgl. Mezirow 1997, S. 123 ff.). Diese weist hingegen große Ähnlichkeiten zum Konzept der transformativen Bildung auf.

93Zwar

argumentierte auch Marotzki (1990) in seiner strukturalen Bildungstheorie maßgeblich reflexionstheoretisch, sodass diejenige Form des Transformative Learning, bei der ‚lediglich‘ die Bedeutungsschemata transformiert werden, durchaus mit Marotzkis Bildungsansatz korrespondiert, allerdings ist die Zielformulierung Marotzkis trotz reflexionstheoretischer Herangehensweise eine umfassendere als die ‚bloße‘ Transformation von Alltagstheorien (vgl. Abschn. 3.2.1).

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3  Bildung und Normativität

Zum Anlass von Transformative Learning wird laut Mezirow, wie eingangs im Zitat bereits deutlich wurde, die Konfrontation mit einem Dilemma – andernorts noch konkreter gefasst als ein „disorienting dilemma“ (Mezirow 1978b, S. 12) –, einer Situation, für die unsere erlernten Arten der Problemlösung keine Antwort parat halten.94 Dieses Dilemma kann als „auslösendes Moment“ (Zeuner 2014, S. 118) für eine reflexive „(Selbst-)Hinterfragung“ (ebd.) – die zweite Stufe in Mezirows (2000, S. 22) zehnstufigem, idealtypischen Ablaufmodell des Transformationsprozesses95 – begriffen werden. In einer solchen Reflexion liegt für Mezirow (1997, S. 97) „die entscheidende Kraft bei der […] Transformation von Bedeutungsschemata und Bedeutungsperspektiven“. Er unterscheidet dabei zwischen drei Formen der Reflexion: jene des Inhalts, der Form und der Prämissen (vgl. ebd., S. 86 f.). Während sich die ersten beiden innerhalb des Bereichs der „Problemlösung“ bewegten, wende die dritte Form, die „Reflexion über Prämissen“ – auch als „kritische Reflexion“ bezeichnet – sich der Infragestellung der „Problemstellung“ zu (ebd., S. 87). Nur bei der Transformation der ‚Bedeutungsperspektiven‘ käme es zu einer solchen „Prämissen-Reflexion“ (ebd., S. 91 ff.), d. h. zu einer umfassenden „Neubestimmung des Problems“ (ebd.).96

94Interessant

ist, dass im Transformative-Learning-Diskurs allgemeinhin vom Dilemma ausgegangen wird, während den Ansätzen des deutschsprachigen, biografietheoretischen Bildungsdiskurses zufolge der Prozess mit einer Krise beginnt oder aber eine Krise im Verlauf der Prozesses eine Rolle spielt (vgl. zum Überblick: Koller (2012a); zur Ausarbeitung dessen, dass Krisen nicht notwendigerweise den Auslöser von Bildung darstellen müssen, sondern erst in ihrem Verlauf auftreten können: Nohl (2006b) und (Nohl et al. 2015a, z. B. S. 263)). Während dem Dilemma eine „moralische Konnotation“ anhaftet, da man „[u]nter Dilemma […] einen unvermeidlichen Konflikt zwischen Werten und Pflichten [versteht]“ (Vorstenbosch 2006, S. 59), so besagt die Krise lediglich, dass alte Handlungspraktiken nicht mehr greifen bzw. nicht mehr ausreichend mit biografischem Sinn gefüllt werden können. In dem Sinne bestehen hier zwar weitgehende Übereinstimmungen zwischen beiden Theorieansätzen, die Theorie des Transformative Learning benutzt jedoch eine Begrifflichkeit, mit der sie sich stärker an ethisch-normativ aufgeladene Konzepte anlehnt. 95Mezirows Stufenmodel basiert auf der Grundlage praktischer Erfahrungen im Zuge der Durchführung und Evaluation von Erwachsenenbildungsangeboten. Leider wurde die Art und Weise der Verbindung von Theorieentwicklung und empirischen Daten nicht systematisch nachvollziehbar aufbereitet (dies merkt auch Rosenberg an; vgl. Rosenberg 2016, S. 32). 96Die Unterscheidung von einem Learning als Teil einer Problemlösung auf der einen Seite und einem transformative Learning als grundlegende Neudefinition der Problemstellung auf der anderen Seite korrespondiert auch in Mezirows Ansatz mit der Unterscheidung zwischen Rahmenimmanenz und Rahmentransformation (vgl. Mezirow 1997, S. 86 ff.).

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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Auch Christine Zeuner (2012, S. 95) attestiert der „kritische[n] (Selbst-)Reflexion […] eine Schlüsselrolle“ in Mezirows Transformative-Learning-Theorie. Aufgrund der interaktiven Verfasstheit der Transformative-Learning-Prozesse käme dem ‚reflexiven Diskurs‘ eine große Bedeutung zu (vgl. Zeuner 2014, S. 104). In Anlehnung an Habermas Theorie des kommunikativen Handelns geht es Mezirow (2000, S. 10) beim „reflective discourse“ um die Schaffung eines erwachsenenbildnerischen Rahmens, in dem in kollektiver Auseinandersetzung „a tentative best judgement“ (ebd., S. 11) in Bezug auf ein spezifisches Thema erreicht werden könne. So treten im Rahmen des ‚reflexiven Diskurses‘ also Menschen miteinander in Kontakt und werden dazu veranlasst, eigene Interpretationen zu hinterfragen und kritisch zu reflektieren. Zwar sei nicht immer ein breiter Konsens möglich, doch ginge es hier auch weniger um das Erreichen eines solchen als vielmehr um die Bereitschaft zum Dialog, genauer: „the will and readiness to seek understanding and to reach some reasonable agreement“ (ebd., S. 12). Wichtiger als das Ergebnis erscheint hier also der Prozess, der die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit anderen Weltsichten voraussetzt. In dieser Verknüpfung des Transformative Learning mit der Verbesserung des gegenseitigen Verständnisses in sozialen Gruppen oder der Gesellschaft liegt – bei vielen Gemeinsamkeiten von Transformative Learning und der transformativen Bildungstheorie, die im Folgenden noch ihren Platz finden werden – aus der Perspektive auf Normativität ein erster Unterschied. Zwar haben z. B. Marotzki (1990) und Koller (1999) die Transformation der Selbst- und Weltreferenzen, ganz ähnlich wie Mezirow, in den Kontext einer Gesellschaftsdiagnose gestellt, der zufolge es gelte, die Herausforderungen von Pluralisierung und Individualisierung zu bewältigen. Doch scheint Mezirows Herangehensweise an den Aspekt der Pluralität den Fokus ungleich stärker darauf zu liegen, wie die gesellschaftliche Pluralität im sozialen Miteinander prozessiert wird, als darauf, wie sich diese plurale Verfasstheit der Gesellschaft auf der Ebene des Individuums oder Subjekts niederschlägt. Letzteres stellt jedoch den Fokus der beiden genannten Vertreter des deutschsprachigen transformativen Bildungsdiskurses dar.97 Während letztere also den Umgang mit pluralen Anforderungen auf der Ebene des/der Einzelnen fokussieren, legt Mezirow mehr Gewicht darauf, wie intersubjektive Übereinkünfte im sozialen Kontext zustande kommen können. Allerdings interessiert Mezirow sich durchaus auch eingehend dafür, was die plurale Verfasstheit der Gesellschaft mit den Individuen macht. Der Pluralismus

97Was allerdings insbesondere bei Kollers Ansatz (vgl. Abschn. 3.2.2.1) keinesfalls mit einem Subjekt, das der Gesellschaft gegenüber souveränen ist, zu verwechseln ist.

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3  Bildung und Normativität

moderner Gesellschaften wird bei ihm – übrigens 12 Jahre, bevor Marotzkis dies in seiner strukturalen Bildungstheorie zum Thema machte, und ebenfalls vor der breiten Debatte um die ‚Postmoderne‘, die mit den 1980er-Jahren einsetzte – nicht nur zur gesellschaftlichen Herausforderung, sondern auch zu einem anstrebenswerten pädagogischen Setting, das Erkenntnisprozesse aufseiten der ‚Lernenden‘ befördern könne. So konstatiert er: „[P]luralism must be highly valued for it assures us of the availability of alternative ways of seeing, of multiple realities from which to choose“ (ebd.). Während bei manchen deutschsprachigen Autoren Bildung als notwendige Antwort auf die angenommenen Anforderungen der Moderne – oder anderer Gesellschaftsdiagnosen, z. B. der Kontrollgesellschaft (Lüders 2007) – auf den Plan tritt,98 erscheint dies bei Mezirow in fast umgekehrter Reihenfolge: Die Pluralität der Moderne erhöhe die Anzahl der Anlässe für Transformative Learning und böte einen größeren ‚Auswahlpool an Realitäten‘. Die ‚Lernenden‘ erfassten dabei nicht nur, dass es verschiedene Arten der Interpretation gebe, sie müssten zudem auch zwischen ihnen auswählen. Voraussetzung für diese Fähigkeit des Auswählens ist laut Mezirow wiederum die Entwicklung eines „autonomen, kritischen Denkens“ (Zeuner 2014, S. 101), mit dem der oder die ‚Lernende‘ in der Lage versetzt wird, sich von tradierten Wirklichkeitskonstruktionen zu lösen und neue ‚Referenzrahmen‘ (respektive Meaning Perspectives) aufzubauen. Bei diesen neuen ‚Bedeutungsperspektiven‘ handele es sich – dem o.g. kritischen Impetus des Prozesses angemessen – um solche, „that are progressively more inclusive, discriminating and more integrative of experience“ (Mezirow 1978a, S. 106; Kursivsetzung S.T.). Die veränderte Perspektive soll also kritisch angelegt, aber dennoch – oder gerade dadurch – umfassender werden und mehrere Dimensionen der Erfahrung einbeziehen.99 Den Zusammenhang von kritischem Wählerischsein und der Steigerung des Einbezugs von vielfältigen Erfahrungen verstehe ich hier vor dem Hintergrund von Mezirows Betonung einer universalistischen Perspektive. Gesteigert werden soll nicht nur die Fähigkeit zur kritischen Hinterfragung, sondern die Perspektive soll zudem universeller werden, d. h., kulturelle und psychologische Werturteile in ihre Schranken weisen und stattdessen Werturteilen anhand von universalistischen Prinzipien fällen: Das Ziel seien Bedeutungsperspektiven, 98Anders

sieht dies, wie oben bereits dargelegt, bei Nohl (2006b), der explizit keine Gesellschaftsdiagnose bemüht, sowie bei Rosenberg (2011) und Nohl et al. (2015a) (vgl. Abschn. 3.2.3) aus. 99Der Begriff ‚discriminating‘ sollte hier sicherlich als ‚kritisch‘ oder ‚anspruchsvoll‘ übersetzt und nicht mit dem deutschen Begriff ‚diskriminierend‘ verwechselt werden.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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„that are more universal […], that more clearly identify psychocultural assumptions shaping our actions and causing our needs, that provide criteria for more principled value judgments, enhance our sense of agency or control and give us a clearer meaning and sense of direction in our lives“ (ebd.; Kursivsetzung S.T.).

Deutlich lässt sich hier – wie ich dies auch für alle in diesem Kapitel betrachteten Bildungsansätze, unter je eigenen inhaltlichen Vorzeichen, herausgearbeitet habe – also eine ‚Steigerungssemantik‘ erkennen. Die neuen ‚Bedeutungsperspektiven‘ sollen eine Öffnung im Sinne universalistischer Werte hervorbringen, zugleich aber dem oder der ‚Lernenden‘ zur Steigerung einer Urteilsfähigkeit verhelfen, die auf ethischen Prinzipien beruht – letzteres korrespondiert mit der bereits erwähnten ‚kritischen Auswahl‘.100 Das Weiteren möchte Mezirow die Handlungsfähigkeit der Akteur*innen gesteigert sehen. Es geht ihm zusammenfassend also um die Förderung von Handlungsfähigkeit, welche auf einer breiteren Weltsicht, auf dem Einbezug vielfältiger Erfahrungsdimensionen und der kritischen Reflexion der eigenen Interpretationen basiert. Bis zu diesem Punkt decken sich die Zielsetzungen der Transformative-Learning-Theorie zu großen Teilen mit jenen von Marotzkis Bildungstheorie. Stärker noch als bei Marotzki scheinen die Einzelnen in der Lage, sich durch Reflexion von dem in der Vergangenheit Entstandenen zu lösen. Es mutet zuweilen so an, als genüge der Anstoß (die Konfrontation mit Pluralität z. B., wenn sie ein desorientierendes Dilemma herbeiführt), um die ‚Prämissen‘ der eigenen Bedeutungsperspektiven zu hinterfragen. Mezirows Fokus auf eine (relativ) autonome, kritische Reflexivität der ‚Lernenden‘, die ihnen die Überschreitung der eigenen Prämissen ermöglicht, misst der Vergangenheit und in ihr entstandenen Strukturen also keine nennenswerte Begrenzung der Prozesse bei. Der Fokus auf der Reflexion ist es dann auch, der einen maßgeblichen Unterschied zu den an Marotzkis Ausarbeitungen anschließenden Ansätzen transformativer Bildungstheorie (vgl. Abschn. 3.2.2 u. 3.2.3) markiert. Aber auch innerhalb des Diskurses um Transformative Learning gibt es Autor*innen, die Mezirows reflexionstheoretische Herangehensweise nicht teilen.101 So

100Den

Aspekt der „more principled value judgements“ verstehe ich aus dem Gesamtkontext im Sinne des Ausschlusses ‚unterdrückender‘ Perspektiven und somit ähnlich wie bei Koller (1999), dessen ethisches Kriterium der Offenhaltung des Widerstreits (vgl. Abschn. 3.2.2.1) einerseits für die Gleichwertigkeit aller Positionen plädiert, dabei jedoch all jene ausschließt, die andere Positionen nicht akzeptieren. 101Interessanter Weise sind dies mit Dirkx und Kovan (2003) und English und Peters (2012) gerade zwei Publikationen, die sich mit Tranformative Learning im Kontext sozialer Bewegungen befassen.

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3  Bildung und Normativität

beschreiben beispielsweise Jessica T. Dirkx und John M. Kovan (2003) in ihrer Studie zum Transformative Learning von Umweltaktivisten dieses weder als rationales, reflexives Geschehen, noch sehen sie es durch ein ‚desorientierendes Dilemma‘ ausgelöst. Im Leben der von ihnen erforschten Umweltaktivist*innen verliefen die ‚Perspektiventransformationen‘ hingegen „more gradual“ und „over an extended period of time“ (ebd., S. 114). Diese sich sukzessive vollziehenden Transformationen fänden im Zuge einer steten Auseinandersetzung der Aktivist*innen mit den Anforderungen, die das umweltpolitische Engagement täglich mit sich brächte, statt und nicht aufgrund von kurzfristig auftretenden Ereignissen oder Dilemmata. Die Studie zeige, so die Autor*innen, eine Form von Transformative Learning, bei dem eher eine spirituelle, vorreflexive Einkehr nach innen zum Tragen käme, in deren Zuge die Akteur*innen lernten, den in ihnen selbst entstehenden Bildern zu vertrauen und verschiedene Aspekte des eigenen Selbst besser und tiefer gehend zu verstehen (vgl. ebd., S. 113). Solche ‚tiefgreifenden Lernprozesse‘ beständen in dem stetig neuen Bemühen um ein Gleichgewicht zwischen Gefühlen von Hoffnungslosigkeit und dem Schöpfen neuer Hoffnung im oft kräftezehrenden umweltpolitischen Engagement. Sehen sie zwar den Beginn des Prozesses nicht in einem Dilemma, so vollziehe sich der (teils höchst emotionale) Prozess selbst doch oft als krisenhaftes Geschehen. Die Kraft, die die Akteur*innen durch diese schwierigen Prozesse geleite, sei die Leidenschaftlichkeit, mit der sie hinter ihrem Anliegen stehen und die „‚head, heart, and spirit‘“ (ebd., S. 114) umfasse. Dirkx und Kovan bezeichnen einen solchen Transformationsprozess als internen Kommunikationsprozess mit den „images that arise from these pieces of our being“ (ebd.). Zwar definieren die Autor*innen den Prozess als Transformation, bezeichnen ihn aber ebenso als „a gradual unfolding of the self“ (ebd.), was ja eher das Entfalten eines zuvor bereits Existenten nahelegt. Die ‚Perspektiventransformation‘ dieser Umweltaktivist*innen besteht also weniger darin, ganz neue Selbst- und Weltverhältnisse aufzubauen, als vielmehr darin, das Verhältnis zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ neu zu gewichten, zwischen der Realität des Engagements und den eigenen ‚inneren Bildern‘.102 Diese Studie zeigt, wie Transformative Learning auch als das Aufspüren und den Ausbau des schon Vorhandenen, Vorreflexiven im Selbst

102Zwar klingt diese Prozessbeschreibung zuweilen recht solipsistisch, doch bezieht sich der Prozess immer auf die (innere) Verarbeitung des in der Welt – im umweltpolitischen Engagement – Erfahrenen. So ziehen auch Dirkx und Kovan (2003, S. 115) den Schluss, dass die Erfahrungen der Interviewten nahelegten, „that transformative learning and the process of individuation in which this form of learning is embedded arise from a deep, dialectical engagement both with the world and one’s self“.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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konzipiert werden kann. Dirkx und Kovan bezeichnen dies als „lifelong struggle of the person to be who he or she is called to be“ (ebd., S. 102). Anders als im Zuge (rationaler) Reflexivität bezeichne das Transformative Learning hier die Entwicklung einer kontemplativen Haltung die Akteur*innen, die darin bestehe, die Augen für das zu öffnen, „what has previously been unseen and unknown“ (ebd., S. 115). Die Transformation wird hier also durch ein Innehalten und nicht durch einen reflexiven Diskurs erreicht. Stattdessen wird – auf empirischer Basis – die Überbetonung reflexiver Aspekte kritisiert.103 Eine (Über-)Fokussierung auf den reflexiven Charakter – oder, wie dies in der sozialpsychologisch geprägten Debatte in den USA meist gefasst wird, die „precedence of the cognitive area“ (Illeris 2014, S. 149) – sehen auch andere Transformative-Learning-Theoretiker*innen skeptisch. Zwar habe Mezirow die Kritiken durchaus aufgenommen und in späteren Arbeiten diese Aspekte miteinbezogen, doch sei sein Zugang in der Hauptsache reflexionstheoretisch geblieben (vgl. ebd.).104 Dieser Kritik aus dem eigenen Lager muss allerdings entgegengesetzt werden, dass auch Mezirow – trotz seiner Hervorhebung von Reflexion als Schlüssel zum Transformative Learning – die ‚existenzielle, nicht intellektuelle‘ Dimension der Meaning Perspectives durchaus kennt, beispielsweise wenn er sie als „proposals to experience one’s life“ bezeichnet, in deren Zuge „[f] eelings and events are interpreted existentially, not intellectually as by an observer“ (Mezirow 1978a, S. 105; Kursivsetzung S.T.). Mezirow rechnet also – und zwar schon in den frühen Arbeiten (1978a u. b) –, mit den nicht-reflexiven Anteilen der ‚Bedeutungsperspektiven‘ bzw. ‚Referenzrahmen‘. In späteren Arbeiten schafft er – wenngleich eher am Rande – diesbezüglich auch theoretische Anschlüsse; er bezieht sich hierbei beispielsweise auch auf Polanyis (1967)

103In diese Richtung argumentieren auch English und Peters (2012) auf der Grundlage ihrer Studie zu den Transformative-Learning-Erfahrungen von Frauen im Kontext der Frauenbewegung. Diese würden die umfassenden „psychological habits of mind“ (ebd., S. 113) betreffen und seien durch ein Modell des logischen, rationalen Diskurses nicht angemessen erklärt (vgl. ebd.). Die Autorinnen betonen hingegen Beziehungen – auch in ihrer Konflikthaftigkeit (vgl. ebd., S. 114) und die Bedeutung des Körpers für die Transformationen sowie, ähnlich wie Dirkx und Kovan (2003), die Gradualität des Prozesses „Their transformations occurred slowly and are still in process“ (English und Peters 2012, S. 113). 104Zum Überblick über die Kritik an der Überbetonung von Rationalität und Reflexion – gefasst als Vernachlässigung der Rolle des Unterbewussten und der Emotionen – siehe z. B. Cranton und Taylor (2012). Für einen ‚holistischen Ansatz‘, der körperliche, spirituelle und emotionale Aspekte umfasst, argumentieren ebenfalls Morell und O’Connor (2002); Walter (2011); Papastamatis und Panitsides (2014).

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‚tacit knowledge‘ (vgl. Mezirow 1997, S. 88) und räumt dem ‚präreflexiven Lernen‘ (vgl. ebd., S. 13 f.) sowie der Unterscheidung zwischen reflexivem und nichtreflexivem Handeln (vgl. ebd., S. 87 ff.) Raum ein. Nohl (2016b, S. 166) nimmt Mezirows eigene Verweise auf die erfahrungsbasierte und (präreflexiv-) existenzielle Dimension der Meaning Perspectives auf und begreift diese als „existentiell, in die Praxis eingelassen und – sofern sie nicht gerade transformiert wird – den Betroffenen nicht unbedingt reflexiv zugänglich“. Es wird deutlich, dass Mezirow den nichtreflexiven Anteilen der ‚Bedeutungsperspektiven‘ durchaus Rechnung trägt, doch zieht er daraus nicht den Schluss, auch einen nichtreflexiven Auslöser für Transformative Learning in Betracht zu ziehen. Zwar betrifft die Transformation eine umfassende, mehrere Dimensionen des Seins betreffende Struktur des Selbst- und Weltverhältnisses, ihre Transformierbarkeit sieht Mezirow aber nur durch (kritische) Reflexion angestoßen. Nohl (2016b, S. 164) weist (dennoch) auf die vielfältigen Parallelen von Mezirows Konzept des Transformative Learning und der mit Marotzkis (1990) strukturaler Bildungstheorie in Gang gesetzten deutschsprachigen Bildungstheorie und -forschung hin und bezeichnet den Umstand, dass beide erziehungswissenschaftlichen Diskurse über 20 Jahre lang quasi nebeneinander existieren konnten, ohne sich gegenseitig zur Kenntnis zu nehmen, als „veritable […] Parallelaktion“ (ebd.). Erst in den letzten Jahren hätten es sich einige Wissenschaftler*innen zur Aufgabe gemacht, „Konvergenzen und Divergenzen“ (ebd.) zwischen beiden Ansätzen auszuloten (vgl. Nohl und Rosenberg 2012; Zeuner 2012 u. 2014 und Nohl 2016b). Auch Zeuner sieht weitgehende Parallelen, betont aber hinsichtlich der „intendierten Wirkungen“ (2014, S. 99) der Konzepte auch deren Unterschiedlichkeit. Hiermit ist der Aspekt der Aufgabenhaftigkeit des Transformative Learning – und damit einhergehend auch die Frage nach dem ethisch-normativen Gehalt – angesprochen. Fragen nach der Ethik des Transformative Learning werden auch von Vertretern und Vertreterinnen der Theorie selbst thematisiert, jedoch nur in Bezug auf solche ethischen Aspekte, die sich aus der Rolle des/der Erwachsenenbildner*in in der organisierten Erwachsenenbildung ergeben (vgl. z. B. Mezirow 1991, S. 201 f. u. Ettling 2000), nicht aber in Bezug auf den ethisch-normativen Gehalt der theoretischen Grundannahmen selbst. Der didaktische Blick auf das Transformative Learning scheint hier also zu überwiegen und so ist es auch nicht verwunderlich, dass seine pädagogisch steuerbaren Anteile – also: vor allem die Förderung von kritischer Reflexivität – im Zentrum von Mezirows Aufmerksamkeit stehen. Dieser Fokus auf die Didaktik des Transformative Learning hat auch ethische Implikationen, rückt hier doch quasi automatisch ein zukünftiges ‚Sollen‘ ins Zentrum. Im Anschluss an Mezirows Ausarbeitungen, die sich

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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auf organisierte Lernangebote bezogen, haben andere Autor*innen die Theorie des Transformative Learning hingegen mit empirischen Studien aus Settings ­verbunden, in denen selbstläufige Prozesse zum Tragen kommen, die zu großen Teilen jenseits von curricularen Zielen und Lernangeboten ablaufen.105 Zu ihnen zählt die oben erwähnte Untersuchung von Dirkx und Kovan (2003), die anhand der empirischen Betrachtung des Prozesses zu Aussagen über die Beschaffenheit des Transformative Learning kommen, die sich von Mezirows Fokus auf den kritischen und ‚reflexiven Diskurs‘ maßgeblich unterscheiden. Im Unterschied zu Mezirow fokussieren sie weniger den Soll-Zustand des Transformative Learning als den Prozess selbst. Für die in diesem Kapitel angelegte Perspektive auf Normativität bedeutet dies, dass es nicht die eine Normativität des Transformative Learning gibt, sondern sich hier durchaus auch unterschiedliche Zugänge versammeln: Während Mezirow sein Stufenmodel des Transformative Learning auf der empirischen Grundlage von Erwachsenenbildungsangeboten entwickelte und dieses sich dementsprechend stärker auf didaktisch angeleitete Prozesse bezieht, konzentrieren andere Autor*innen sich vermehrt auf selbstläufige Prozesse. Mezirows Stufen des Transformative Learning lesen sich dementsprechend auch eher didaktisch – als Vorgaben für die in der Gegenwart zu unternehmenden Schritte zur Erreichung des Soll-Zustandes – denn deskriptiv – als Beschreibung des empirisch Analysierten. Von einem durchaus im Bennerschen Sinne auf eine gesellschaftliche Aufgabenhaftigkeit bezogenen (vgl. Benner 2012 u. Abschn. 3.1) ‚materialen‘ Standpunkt aus, wie noch zu zeigen sein wird, konstatiert Mezirow Soll-Zustände für die Zukunft, die durch das Transformative Learning erreicht werden sollen. Die stärker an selbstläufigen Prozessen interessierten Ansätze des Transformative-Learning-Ansatzes hingegen schenken dem empirischen Prozess (in der Gegenwart) mehr Aufmerksamkeit, wodurch ethische Festlegungen eine Begrenzung durch das Empirische erfahren.106 Mezirows dezidierte Verknüpfung der ‚Perspektiventransformation‘ mit Prozessen kritischer Reflexion erinnert stark an Paolo Freires (1973) Konzept der

105Zur Unterscheidung von organisiertem und selbstläufigem Lernen vgl. Nohl und Thomsen (2011). 106Diese Unterscheidung beschreibt nur Tendenzen und die Fokussierung auf den empirischen Prozess schließt ethisch-normative Soll-Formulierungen auch keinesfalls aus – wie in Bezug auf die Ansätze der transformativen Bildung in 3.2 in aller Ausführlichkeit gezeigt wurde –, doch wird anhand der empirischen Überprüfung die Normativität in gewisser Hinsicht relativiert und materiale Festlegungen werden auf ihre den empirischen Prozessen der ‚Lernenden‘ relevante Immanenz begrenzt (vgl. ausführlich hierzu Abschn. 3.3).

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k­ ritischen Bewusstwerdung, „conscientização“ – wie Mezirow (vgl. z. B. 1978a, S. 103) auch selbst betont. U. a. mit diesem Anschluss wird die ethische Dimension seines pädagogischen Konzepts auch zur politischen. In seiner „Pädagogik der Unterdrückten“ hat Freire (1973) die kritische Bewusstwerdung über die Bedingungen des eigenen Seins als pädagogischen Soll-Zustand ausgegeben. Diese sei laut Zeuner (2014, S. 102) nicht nur immer in Hinsicht auf „die Bedeutung individueller und kollektiver Erfahrungen“ konzipiert, sondern rücke deutlich die „Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Interessen und ihr[en] Einfluss auf das Lernen“ (ebd.) ins Zentrum. Zwar lassen sich einige Zielformulierungen Mezirows durchaus auch individualistisch lesen – so z. B., dass der/die transformative ‚Lernende‘ „a new sense of identity within a new meaning perspective [erlangen solle; S.T.] which can lead to greater autonomy, control and responsibility for their own lives“ (Mezirow 1978a, S. 102).107 Doch wird an zahlreichen anderen Stellen deutlich, dass dieses ‚Lernen‘ der Einzelnen immer auch kollektiv gedacht ist. So hätten z. B. „[p]ersonal problems […] their counterpart in public issues“, was die Notwendigkeit sowohl von „individual and collective action“ (Mezirow 1978a, S. 103) begründe.108 Den Zusammenhang von Prozessen auf der individuellen und einer größeren, sozialen und/oder gesellschaftspolitischen Ebene bestätigt unter anderen auch Pierre Walter (2011) mit seiner Reinterpretation der Biografien dreier bekannter Wissenschaftler*innen, die sich in der Umweltbewegung engagierten. Prozesse des eigenen transformativen ‚Lernens‘ seien in den Biografien mit ihrem gesellschaftlichen Wirken eng verwoben gewesen: „[E]ach scientist encouraged a collective, societal process of socioenvironmental transformation predicated on their own transformative learning“ (ebd., S. 39). Die empirischen Beispiele aus Walters Studie verweisen nicht nur auf eine Verzahnung von Prozessen auf der Ebene des/ der Einzelnen und solcher auf der Ebene der Gesellschaft, sondern auch auf das erklärte Ziel von Transformative Learning: die Übernahme sozialer Verantwortung.

107Ettling (2000, S. 539) konstatiert, dass sich angesichts der nennenswerten Unterschiede innerhalb des Diskussionszusammenhangs der Transformative-Learning-Theoretiker*innen in Bezug darauf, wie stark jeweils die individuelle Transformation oder aber der soziale Wandel gemacht würden, auch Kritiker*innen fänden, denen Mezirows Einbezug von Kollektivität und Gesellschaftskritik nicht weit genug ginge. 108So macht Mezirow (1978a, S. 104) deutlich, dass er das Transformative Learning auf der Ebene des und der Einzelnen deutlich verbunden sieht mit den „psychological dimensions“ von unhinterfragten (kulturellen) Annahmen, die „reflections of economic, political, social, religious, occupational or educational systems“ darstellten.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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­ ezirow fasst dies folgendermaßen: Wir (die ‚Lernenden‘) sollten „greater contM rol over our lives as socially responsible, clear-thinking decision makers“ (Mezirow 2000, S. 8; Kursivsetzung S.T.) erlangen. Dem Transformative Learning wird hier die gesellschaftliche Funktion der Förderung von sozialer Verantwortungsübernahme beigemessen.109 Dies ist mit der auf eine teleologische Bestimmung von Bildung bezogenen Unterscheidung zwischen ‚Materialität‘ und ‚Formalität‘, wie sie Benner ausarbeitete, als ‚materialer‘ Bezug zu verstehen, wird hier das transformative ‚Lernen‘ doch deutlich in den Dienst der sozialen Gruppe bzw. Gesellschaft gestellt und ein Ziel von Bildung formuliert, das über die ‚formale‘ Bestimmung der Struktur des ‚Lern‘-Prozesses hinausgeht. Doch steht neben der Übernahme von Verantwortung für die Gesellschaft beim Transformative Learning auch die umgekehrte Richtung im Fokus: Die Verantwortungsübernahme für das eigene Leben, dessen ‚Freiheit‘ gegebenenfalls gegen die gesellschaftlichen Bedingungen verteidigt werden soll. So sei es das Ziel der im Kontext der Frauenbewegung organisierten Kurse, auf deren Grundlage Mezirow seine Theorie entwickelte, die Entwicklung von „consciousness about and liberation from conditions that caused societal and personal suppression of women“ zu ermöglichen. Die Theorie des Transformative Learning ist also zudem emanzipativ gedacht. Da Emanzipation nur als Gegenstück zu etwas Bestehendem, als unterdrückend Identifiziertem, zu denken ist, das im Prozess negiert wird, kann für den Ansatz des Transformative Learning – ähnlich wie dies auch bei Marotzki als Voraussetzung für Bildung gilt – Negation als Bedingung der Möglichkeit des Transformationsgeschehens ausgemacht werden. Jedoch erscheint der Transformative-Learning-Ansatz ungleich kritischer dahin gehend, was negiert wird. Während es bei Marotzki lediglich ‚formal‘ (oder, wie er nennt: struktural) um die Negation des Tradierten geht, legt Mezirow den Fokus auf die Negation der unterdrückenden Anteile des Tradierten bzw. des Bestehenden und gibt damit in ethisch qualifizierender Hinsicht eine machtkritische, Emanzipation betonende Richtung vor.110 Und so seien auch

109Eine Forderung, die sich so ähnlich eingangs auch bei Marotzki (vgl. 1990, S. 17) findet, in seinen weiteren Ausarbeitungen allerdings keine Rolle spielt (vgl. hierzu auch Abschn. 3.2.1 in der vorliegenden Arbeit). 110Es scheint die normative Zielsetzung der Emanzipation, der Überwindung internalisierter Unterdrückung zu sein, die es der Transformative Learning-Theorie erlaubt, die eigenen Ziele und Wahrnehmungen, „our own purposes, values, feelings, and meanings“ zur Grundlage der Handlungen zu machen – „rather than those we have uncritically assimilated from others“ (Mezirow 2000, S. 8) – und diese per se positiv zu setzen. Hieran wäre zu problematisieren bzw. die Frage zu stellen, ob sich persönliches Wachstum und sozial/ gesellschaftlich wertvolle Tugenden notwendiger Weise synchron entwickeln.

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die Erwachsenenbildner*innen im Auftrag des Transformative Learning niemals neutral (Aalsburg Wiessner und Mezirow 2000, S. 339): „Adult educators are activists committed to supporting and extending those features of the culture, social practices, and institutions that foster freer, fuller participation in reflective discourse.“ (ebd.)

Als ‚Aktivisten‘ sind die Pädagog*innen der Durchsetzung ethisch definierter Ziele – der Förderung von ‚freierer und umfassenderer Partizipation am reflexiven bzw. rationalen Diskurs‘ – verpflichtet und nicht bloß der Ermöglichung von nicht näher bestimmten Transformationsprozessen.111 Gefördert werden soll nicht nur die Erweiterung individueller Handlungsfähigkeit, das Ziel ist hingegen „die Entfaltung erweiterter gesellschaftlicher und politischer Handlungsmöglichkeiten, womit die Veränderung von Verhältnissen (z. B. organisatorisch, politisch, gesellschaftlich) möglich wird“ (Zeuner 2014, S. 100; Kursivsetzung S.T.). So steht das Ziel des Transformative Learning (respektive ‚Teaching‘) im Dienste einer gesellschaftskritischen Haltung. Es zeigt sich hier, dass im Unterschied zu den in diesem Kapitel betrachteten Ansätzen transformativer Bildung, von denen sich einige auf Gesellschaftsdiagnosen beziehen, diese jedoch eher zum Ausgangspunkt der Betrachtung von Prozessen auf der Ebene der Subjekte nehmen bzw. ein gesellschaftliches Sollen eher implizit mitdenken und andeuten, beim Transformative Learning in umgekehrter Richtung auch die Gesellschaft dadurch verändert werden soll, dass die Individuen sich verändern. So hat die Theorie des Transformative Learning einen deutlich stärkeren Impetus aufzubieten, auf Erfordernisse, die der Gesellschaft attestiert werden, zu antworten, als die Ansätze der transformativen Bildung.112 So sind bei Mezirow nicht nur die einzelnen Akteur*innen, die sich zu einer kritischeren und sie zur aktiven Teilhabe befähigenden zukünftigen ‚Form‘ transformieren sollen, ihre Transformation soll zudem einer gesellschaftlichen Zukünftigkeit zur Umsetzung

111Siehe zur Diskussion der (ethischen) Rolle der Erwachsenenbildner*innen auch Ettling (2000), die diese in ethischer Hinsicht ebenfalls mit deutlichem Verweis auf eine ‚ideale Gesellschaft‘ als ‚Change Agents‘ und „promoter of a more just world order“ (ebd., S. 540) bezeichnet. 112Auch z. B. der diskurstheoretisch fundierte Ansatz von Lüders (2007), in dem eine gesellschaftsbezogene Aufgabenhaftigkeit von Bildung deutlich angedacht ist, bricht diese wiederum an dem generellen, auch den eigenen Bildungsbegriff betreffenden Prinzip der Kritik, womit sie zugleich relativiert wird.

3.2  Ansätze Transformativer Bildung – Formales Bildungskonzept …

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verhelfen, die – im zuvor bereits erwähnten Sinne der sozialen Verantwortlichkeit und der emanzipierten Subjekte – ‚freier‘ ist.113 Nohl wirft (2016b, S. 174, im Anschluss an Hodge 2014, der sich dem Transformativen Lernen praxistheoretisch nähert) die Frage auf, ob die ‚Lernenden‘ nach dem Prozess des Transformative Learning „weiterhin kritisch“ sind oder ob „sich die kritische Haltung auf die Ablösung von den alten sozialen Praktiken [beschränkt]?“ Gibt es also ein Ende des Prozesses des Transformativen ‚Lernens‘ oder ist das Ergebnis ein fortwährendes Offenhalten des Prozesses (wie dies beispielsweise bei Nohl mit einem ‚Mehr‘ an Experience und bei Koller mit der Offenhaltung des Widerstreits angelegt ist)? Ich möchte dies aus der Logik des bisher Zusammengetragenen heraus beantworten: Wenn durch die kritische Reflexion eine Steigerung von Handlungsfähigkeit erreicht wurde, die alten ‚Bedeutungsperspektiven‘ universelleren gewichen sind und der kritische (gesellschaftliche) Diskurs gestärkt wird, so müsste – sofern die ‚Lernenden‘ sich weiterhin von der universelleren Perspektive (und ihren Widersprüchlichkeiten) berühren lassen, was ja wiederum ein Kriterium für Transformative Learning darstellt – die Wahrscheinlichkeit von zukünftigem transformativem ‚Lernen‘ hoch sein. Die Bedingung hierfür wäre also das Auf-Dauer-Stellen der kritischen Reflexion eigener Vorannahmen und einer Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit anderen ‚Bedeutungsperspektiven‘. Dies korrespondiert auch mit Mezirows Anlehnung an die kritische Theorie, die eine fortwährende Kritik zu ihrem Grundprinzip erhebt. Sicherlich konnte in meinen Überlegungen nicht, wie Nohl (2016b, S. 174) dies fordert, „das konvergierende Potential der Parallelaktionen Bildung und transformatives Lernen erschlossen und auf diese Weise der Forschung neue Horizonte eröffnet“ werden. Auch konnte nur ansatzweise die Spannbreite des Transformative-Learning-Diskurses selbst aufgezeigt werden – für beides hätte es den Einbezug weiterer Arbeiten benötigt. Wohl aber kann der oben eröffnete Vergleich einiges deutlich machen: Die Theorie des Transformative Learning

113Es zeigt sich auch hier allerdings wieder, dass innerhalb des Transformative Learning-Ansatzes verschiedene Ausgestaltungen existieren, die sich zwischen dem Schwerpunkt auf einem für die Gesellschaft gewollten Soll-Zustand (z. B. Emanzipation als Zielsetzung) und einem Seinszustand (Emanzipation als Prozess) bewegen. Mezirow selbst schließt z. B. mit dem Bezug auf Habermas Theorie des kommunikativen Handelns auch an eine Diskursethik an, die den herrschaftsfreien Diskurs der Kommunikationsgemeinschaft (ergo: den Prozess) über eine ethische (Letzt-)Begründung (ergo: das Ergebnis) stellt. (Vgl. zur Wichtigkeit des ethischen Prozesses im Gegensatz zu festgelegten, ethischen Richtlinien im Transformative Learning auch Ettling 2000, S. 537.) Die seinem Ansatz hier attestierte ‚Materialität‘ gibt also lediglich eine Tendenz wieder.

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3  Bildung und Normativität

stellt sich stärker in den Dienst von Gesellschaft und Gesellschaftskritik bzw. von Emanzipation und sozialer Verantwortung. Zwar kann man einwenden, dass diese – ähnlich wie die ‚Kritik‘ bei Lüders (2007) und Rose (2012), die ‚Offenhaltung‘ bei Koller (1999) und die ‚Öffnung‘ bei Nohl (2006b) – gesellschaftsbezogene, letztlich aber doch ‚formale‘ Prinzipien darstellen, jedoch bergen sie in größerem Maße eine Engführung dessen bzw. einen Fokus darauf, was zum Inhalt des pädagogischen Prozesses werden kann. Während z. B. mit Kollers ‚Offenhaltung des Widerstreits‘ eigentlich alles zum Inhalt werden kann, solange dabei keine totalitaristischen Positionen entstehen, ist das Transformative Learning von vornherein stärker darauf ausgerichtet, dass die Inhalte auf soziale Verantwortung verweisen und emanzipativ ‚wirken‘.114 Innerhalb des Transformative Learning gibt es zwar verschiedene Richtungen und einige sind dem transformativen Bildungsansatz – und seiner Verankerung in der empirischen (Bildungs-)Forschung – näher als andere, doch ist der Gedanke des Nutzens für die Gesellschaft oder soziale Gemeinschaft stets vertreten, was das Transformative Learning von dem transformativen Bildungskonzept deutscher Provenienz unterscheidet. Mit diesem Fokus rückt das Konzept des Transformative Learning unter der Fragestellung von Ethik und Normativität in die Nähe von (Bildungs-)Ansätzen, die die Funktionalität von Bildung für die Gesellschaft stärker betonen. Zeuner (vgl. 2014, S. 100) sieht den Transformative-Learning-Ansatz dahin gehend auch als Bindeglied zwischen Ansätzen Kritischer Theorie und anderen Theorien der (Erwachsenen-)Bildung.115

114Es handelt sich bei den ethischen Grundlegungen der (transformativen) Bildung wie auch bei jenen des Transformative Learning also um eine qualifizierende Richtung der ‚Form‘ des Prozesses, nur dass beim Transformative Learning die Bandbreite des Erwünschten enger gesteckt ist. Man sieht auch hier wieder die Ähnlichkeiten der Konzepte und dass die Unterschiede, die ich aufmache, lediglich Tendenzen wiedergeben. 115Das Transformative Learning steht angesichts seiner Nähe zur transformativen Bildung und seines Bezugs auf Themen ‚des Politischen‘ in gewisser Hinsicht auch zwischen Ansätzen politischer Bildung und des transformationstheoretischen Bildungskonzepts (Was nicht bedeutet, dass diese sich jeweils aufeinander beziehen). Hinsichtlich der stärkeren Bezugnahme auf Gesellschaftstheorie zeigen sich aber Ähnlichkeiten zu Ansätzen der politischen Bildung. Diese näher zu betrachten, erschiene mir angesichts ihrer Nähe zum ‚Politischen‘ ebenfalls lohnenswert für die in diesem Kapitel begonnenen Erkundungen, um auf diese Art und Weise hinsichtlich politischer Grundlegungen von ‚Bildung‘ einen noch größeren Kontrast zum eigenen Bildungsansatz aufzuwerfen. Dies sprengt jedoch den Rahmen der vorliegenden Arbeit und muss vorerst eine Absichtserklärung bleiben.

3.3  Bildung und Normativität – Zusammenfassung mit weitergehenden …

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3.3 Bildung und Normativität – Zusammenfassung mit weitergehenden Reflexionen Jedes Bildungsverständnis muss theoretische Vorannahmen treffen, mit denen Bildung als solche erkennbar wird. Während andere pädagogische Konzepte als weitgehend wertneutral gelten, wohnt der Rede von Bildung hingegen eine (­historisch gewachsene) ethische Funktion inne. Zudem schwingen im Bildungskonzept zumeist Dimensionen des Politischen mit; speziell, wenn die Bildungsprozesse im Kontext sozialer (Protest-)Bewegungen verortet werden, die dahin gehend, dass in ihrem Rahmen Kontroversen um den Zustand und die Veränderung der sozialen Welt geführt werden, als Orte des ‚Politischen‘ gelten können. So entsteht ein Spannungsverhältnis zu dem Umstand, dass rekonstruktive, erziehungswissenschaftliche Forschung, und so auch der Forschungszweig der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung, in dem die vorliegende Arbeit verortet ist, sich tendenziell eher durch eine Zurückhaltung gegenüber normativen (Ziel-)Setzungen auszeichnet. Dies veranlasste mich zu intensiveren Auseinandersetzungen mit dem Thema der Normativität des Bildungsbegriffs. Die – durchaus bedenkliche – Denkfigur der ‚Bildung zum Bösen‘ (vgl. Rieger-Ladich 2014 u. Sanders 2014 sowie Abschn. 3.1) bestärkte mich zudem in dem Vorhaben, die verschiedenen Ansätze des transformativen Bildungsbegriffs hinsichtlich ihrer theoretischen Vorannahmen und den damit einhergehenden ethischen Implikationen genauer unter die Lupe zu nehmen.116 Zu diesem Zwecke habe ich zudem als Kontrastfolie das pädagogische Konzept des Transformative Learning hinzugezogen, weil dieses vielfältige Übereinstimmungen mit der transformativen Bildungstheorie aufweist, sich zugleich aber ethisch dezidierter positioniert und zudem auf der empirischen Grundlage von Erwachsenenbildungskursen, die im Kontext einer sozialen Bewegung organisiert wurden, entstand. Rieger-Ladichs (2014) Aufforderung, „über Grenzen eines formalen Bildungsbegriffs nachzudenken“ (ebd., S. 23; Kursivsetzung S.T.), habe ich ernst genommen. Es kann jedoch nicht Ziel dieser Auseinandersetzung mit den ethisch-normativen Vorannahmen verschiedener transformativer Bildungsansätze sein, für die komplexen, in diesem Kapitel aufgeworfenen Problematiken eindeutige Antworten zu finden. So ging es mir mit meinen Reflexionen auch mehr um eine Annäherung an die Fragen, die durch das Thema der Normativität von

116Wie bereits erläutert, verweise ich keinesfalls auf Ansätze der normativen Pädagogik, sondern betrachte die immanente Normativität, die m. E. jeder Bildungsdefinition alleine dadurch innewohnt, dass theoretische Annahmen getätigt werden (müssen).

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3  Bildung und Normativität

Bildung berührt werden, als um die Auflösung der dahinterliegenden Problematiken wie etwa der Grundunterschiedlichkeit zwischen rekonstruktiver Forschung, die pädagogische Prozesse post actu beleuchtet, und anwendungsorientierter pädagogischer Theorie, die nach auf die Zukunft blickenden pädagogischen Zielformulierungen verlangt. In diesem Sinne ist meine Auseinandersetzung eher als das Umreißen der Problematik, denn als Lösungsversuch zu verstehen. Zudem habe ich neben den von Rieger-Ladich fokussierten Grenzen auch die Möglichkeiten dieses Bildungsbegriffs reflektiert. Im Folgenden möchte ich die in diesem Kapitel diskutierten Ausgestaltungen von Bildung hinsichtlich der Erkenntnisse, die ich aus der Auseinandersetzung mit ihrer impliziten und expliziten Normativität gezogen habe, zusammenfassend darstellen. Abschließend werde ich ein erkundendes Vorgehen zwischen Theorie und Empirie als eine Art des Umgangs mit der Normativität von Bildung präsentieren.

3.3.1 Nicht-subjektivistische ‚formale‘ Bildung Bei allen hier vorgestellten Ansätzen transformativer Bildung – ebenso wie bei der Theorie des Transformative Learning – ließ sich übergreifend eine Art Steigerungssemantik herausarbeiten; geht es, ganz allgemein gesprochen, doch allen darum, dass irgendetwas ‚gemehrt‘ wird – sei dies nun als Steigerung subjektbezogener Freiheit, als Steigerung der Deutungsspielräume der Grenzen des eigenen Seins, als Ermöglichung weiterer Experience, als Gewinn von relativen Freiheitsgraden gegenüber der eigenen sozialen Strukturiertheit und Determiniertheit oder aber – beim Transformative Learning – als Steigerung gesellschaftlicher und politischer Handlungsfähigkeit und Verantwortung definiert. Doch die transformativen Bildungsansätze eint nicht nur die mehr oder weniger explizite Grundannahme, dass Bildung eine Steigerung hervorbringt. Angesichts dessen, dass bei allen Ansätzen die Form von Bildung – aufseiten des Individuums, des Subjekts oder des handelnden Akteurs und seines Habitus – im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, hier also die formal beschreibbare (und vom Lernen abgrenzbare) Prozessstruktur in den Blick kommt, können sie zur ‚formalen‘ Bildungstheorie gezählt werden. Ein Bildungsansatz, der seinen ‚formal‘ definierten Ausgangspunkt im Prozess der Subjekte respektive Akteur*innen ansiedelt, muss jedoch, so kann ich am Ende meiner in diesem Kapitel verfolgten Auseinandersetzungen nun mit Sicherheit schlussfolgern, nicht ‚subjektivistisch verkürzt‘ (vgl. Benner 2012 u. Abschn. 3.1) sein. Im Gegenteil, alle hier vorgestellten Bildungsansätze – mit Ausnahme Marotzkis (1990), der das Subjekt und seinen Freiheitsgewinn ins Zentrum

3.3  Bildung und Normativität – Zusammenfassung mit weitergehenden …

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des Prozesses stellt – legten diskurstheoretische oder praxeologische Grundlagentheorien zugrunde, verwehren sich also in methodologischer und theoretischer Hinsicht dem Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus. Eine praxeologische Bildungsforschung beispielsweise kann – angesichts der Konzeption des Habitus als strukturierte und strukturierende Struktur (vgl. Bourdieu 1979, z. B. S. 165 u. Abschn. 4.1.3), in der sich die gesellschaftliche Verfasstheit als System des Wahrnehmens, Denkens und Handelns im Einzelnen niederschlägt – nicht subjektivistisch sein, auch wenn sie einen ‚formalen‘ Bildungsbegriff zum Ausgangspunkt nimmt. Auch das diskurstheoretisch verortete Subjekt ist – angesichts dessen, dass es von Diskursen durchdrungen ist – nicht subjektivistisch konzipiert. Die Parallelisierung von ‚Formalität‘ mit Subjektivismus gilt es folglich zu hinterfragen. Dementsprechend steht die auf der anderen Seite der Medaille stehende Parallelisierung von ‚Materialität‘ mit Objektivismus ebenso zur Debatte. Zwar stimmt es, dass keiner der aufgeführten, maßgeblich ‚formal‘ definierten transformativen Bildungsansätze solche ethische Festlegungen vornimmt, die anhand der in Abschn. 3.1 ausgeführten Einteilungen von Klafki (1974) und Benner (2012) eindeutig als ‚material‘ zu bezeichnen wären – Bildung wird hier weder vorrangig in den Dienst einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe gestellt, noch erscheint als Bildungsinhalt maßgeblich die Vermittlung eines bestimmten ‚objektiven‘ Wissens –, wohl aber gibt es vielfältige – mal explizit vorgebrachte, mal implizit rekonstruierbare – ethische Bezüge und immanente Anknüpfungspunkte an die gesellschaftliche Verfasstheit. So geben einige Ansätze den Bildungsprozessen durch den Bezug auf eine Gesellschaftsdiagnose einen qualifizierenden Ausgangspunkt und verweisen durch ihre ethischen Auseinandersetzungen sogar auf eine qualifizierende Richtung, die – mehr oder weniger implizit – ein gesellschaftliches Sollen nahelegt. Dieses verbleibt allerdings immanenter Art, ist es doch in die ‚formal‘ definierten Prozesse eingelagert und diesen keine äußerliche Bestimmung. Und auch der Ansatz, den ich der vorliegenden Arbeit zugrunde lege und mit dem Bildung als Habitustransformation gefasst wird, entbehrt, wie oben bereits erwähnt, keinesfalls des Einbezugs gesellschaftlicher Strukturen und auch nicht einer (wenn auch minimal-)ethischen Grundlegung, obwohl er in der Reihe der transformativen Bildungsansätze sicherlich in ethischer Hinsicht zu den am enthaltsamsten zählt (vgl. Abschn. 3.2.3.2).117 Insbesondere in der 117Wieso ich dies mit dem Blick auf ethische Fragestellungen nicht als Nachteil betrachte bzw., wo ich zudem auch Vorteil sehe, wird im weiteren Verlauf dieses Unterkapitels (beginnend mit dem Abschnitt „Ethische Unbestimmtheit versus ethische Spezifizierung“, Abschn. 3.3.3) noch deutlich werden.

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3  Bildung und Normativität

Theorie des Transformative Learning rücken, trotz des Fokus auf die ‚formale‘ Prozessstruktur des ‚Lernens‘, zugleich explizitere, auch in gesellschaftlichen Anforderungen begründete Zielbestimmungen in den Fokus. Während die qualifizierende Richtung der ‚Form‘ des Prozesses bei denjenigen transformativen Bildungsansätzen, die einen Verweis auf gesellschaftliche Erfordernisse enthalten, lediglich darin besteht, totalitaristische Tendenzen auszuschließen oder Machtverhältnisse relational verschieben zu wollen – der Verlauf des Prozesses sich also indirekt auf die gesellschaftliche Verfasstheit auswirken würde, die ­Veränderung der letzteren aber in dem Sinne nicht explizit als Ziel markiert wird –, ist beim Transformative Learning die Veränderung der Verhältnisse durch die Stärkung der Prinzipien der ‚sozialen Verantwortung‘ und der ‚Emanzipation‘ deutlicher angedacht. So liegen einige Ansätze transformativer Bildung mit dem Ansatz des transformative Learning hinsichtlich dessen, was im Prozess hervorgebracht werden soll, einerseits nahe beinander, andererseits unterscheiden sie sich hinsichtlich dessen, wie explizit oder implizit der Bezug auf (als solche identifizierte) gesellschaftliche Erfordernisse ist. Für das Transformative Learning wird eine gesellschaftliche Aufgabe deutlich(er) formuliert.118 Deutlich wird also, so unterschiedlich die Ausgestaltung der Ansätze im Einzelnen auch sein mag, dass ihre ‚Formalität‘ gesellschaftliche und ethische Bezüge keinesfalls ausschließt. Ließ sich schon in Bezug auf die transformativen Bildungsansätze die scheinbar eindeutige Einteilung in ‚materiale‘ und ‚formale‘ Bildungsansätze nicht halten bzw. waren bei meinen Analysen viele Zwischenformen zu finden, so wird beim Ansatz des Transformative Learning, wie oben ausgeführt, noch deutlicher, dass ‚formale‘ Definition und gesellschaftliche Zieldefinitionen (oder, auf die Ansätze transformativer Bildung bezogen etwas abgeschwächt formuliert: gesellschaftliche Bezüge) auch zusammengehen können. Angesichts dessen, dass die Unterscheidung in ‚materiale‘ und ‚formale‘ Bildungstheorien also nur scheinbare Klarheit mit sich bringt und Klafkis und Benners Definitionen zudem nicht jegliche Bezüge auf ‚objektive‘ Strukturen berücksichtigen, sondern diese auf ‚objektive‘ Inhalte (vgl. Klafki 1974) respektive Zielbestimmungen (vgl. Benner 2012) beschränken – was eine Engführung darstellt, die m. E. auch bei einer Beibehaltung der Parallelisierung von ‚Materialität‘ mit Objektivismus zu kritisieren wäre, weil sie zum Beispiel den method(olog)ischen Einbezug ‚objektiver‘ Strukturen gar nicht erfasst –, plädiere

118Ich möchte auch hier, wie schon an mehreren Stellen geschehen, noch einmal darauf hinweisen, dass es mir mit dieser Einteilung nur darum geht, Tendenzen herauszuarbeiten.

3.3  Bildung und Normativität – Zusammenfassung mit weitergehenden …

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ich am Ende meiner Auseinandersetzungen nun dafür, diese Begrifflichkeit zu vereinfachen. Zunächst wäre zu überdenken, ob und wo die Unterscheidung in ‚Materialität‘ und ‚Formalität‘ analytisch überhaupt zielführend sein kann. Angesichts dessen, dass zunächst einmal geklärt werden müsste, ob sich die Definition des ‚Materialen‘ an den Inhalten oder an der Zweckbestimmung orientiert und ob es nicht sinnvoller wäre, jeglichen Bezug auf ‚objektive‘ Strukturen als ‚material‘ zu bezeichnen, und ob mit den Inhalten nur solche gemeint sein ­sollen, die (gesellschaftlich) als ‚objektiv‘ gelten sollen oder aber jegliche Themen, die zum Inhalt von Bildung werden, birgt diese Unterscheidung m. E. ein hohes Potential für Missverständnisse. So hielte ich zudem eine gänzliche Loslösung von der Parallelisierung mit Objektivismus bzw. Subjektivismus für sinnvoll. Eine Reduktion der Begrifflichkeiten auf den jeweiligen ‚Kern‘ – wie ich ihn verstehe –, d. h. des ‚Materialen‘ ganz allgemein auf das ‚Material‘, das zum Inhalt der Bildung wird, und des ‚Formalen‘ auf die ‚formale‘ Beschreibung der Form, die der Prozess annimmt, würde dahin gehend Abhilfe schaffen, dass der Aspekt des Gesellschaftsbezugs davon unabhängig erörtert werden müsste – wie ich es in meinen Auseinandersetzungen auch bereits versucht habe. Trennt man die Frage nach der Art und Weise, wie ‚objektive‘ Strukturen in den Bildungsprozess einfließen (sollen), nämlich von der Frage, was der Inhalt von Bildung ist, so muss das Bezeichnete jeweils konkretisiert werden. In jedem Falle – auch bei der Beibehaltung der Begrifflichkeit – sollte, wenn von ‚materialen‘ und ‚formalen‘ Bildungstheorien die Rede ist, deutlich gemacht werden, worauf sich diese Klassifizierung jeweils stützt.119 Da die Unterscheidung in die ‚Formalität‘ respektive ‚Materialität‘ von Bildung den ethischen Gehalt der Bildungsprozesse nicht zufriedenstellend erfasst hat oder, wie ich finde, dies zumindest nicht in übersichtlicher Form leisten kann, möchte ich im Folgenden noch weitere Ordnungskriterien anführen, mit denen die vorgestellten Ansätze hinsichtlich ihrer normativ-ethischen Grundannahmen unterschieden werden können. Zunächst möchte ich hier die unterschiedlichen Relationierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zurate ziehen.

119Da ich mich an Benners und Klafkis Einteilungen orientiert hatte und mich letztlich von ihnen distanziere, möchte zugleich noch einmal darauf hinweisen, dass auch Benner und Klafki selbst die strikte Einteilung in formale und materiale Bildungskonzepte nicht überzeugend fanden und diese nur als Vorbereitung für ihre jeweils ‚dritten Wege‘ genutzt haben (vgl. Abschn. 3.1).

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3.3.2 Relationierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Allen hier vorgestellten transformativen Bildungsansätze – ebenso wie jene Theorie des Transformative Learning – ist gemein, dass im Zuge des Bildungs- respektive Transformative-Learning-Prozesses in der Vergangenheit entstandene Strukturen negiert und überschritten werden (sollen). Ein Unterschied besteht indes darin, in welchem Maße dies angedacht ist. In Marotzkis reflexionstheoretischem Ansatz spielen in der Vergangenheit entstandene Strukturen durchaus eine Rolle – dies macht Marotzki (1990, S. 233) z. B. deutlich, wenn er im Bildungsprozess die Art und Weise der Verarbeitung der „Kontingenz und Geworfenheit“ des Subjekts sieht. Doch fokussiert er mit seiner Analyse vor allem auf die Freiheit des Subjekts, das durch Negation und Reflexion seine eigene Vergangenheit überwindet und den eigenen Freiheitsgrad maßgeblich steigert. Zwar stehen die zu gewinnenden Freiheiten durchaus in einem kontingenten Verhältnis zum Tradierten, bedeutender als die Vergangenheit ist für den Bildungsprozess jedoch die mögliche Zukunft. Sie gilt als Dreh- und Angelpunkt für den Bildungsprozess (vgl. Abschn. 3.2.2.1). Dies hat Marotzkis Ansatz zu großen Teilen mit Mezirows (1978a u. b) Theorie des Transformative Learning gemein (vgl. Abschn. 3.2.4). Anvisiert ist auch hier die Zukünftigkeit des/ der sozial verantwortlichen, kritisch-reflexiven Lernenden. Die in der Vergangenheit entstandenen ‚Bedeutungsperspektiven‘ gelten hierbei zwar als das zu Überwindende, jedoch nicht im Sinne eines (nennenswerten) Hindernisses. Sowohl bei Marotzki als auch bei Mezirow steht die Überschreitung der Vergangenheit im Zeichen einer Zukünftigkeit im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies möchte ich als ‚ethisch hoffnungsvoll‘ bezeichnen – werden hier doch nicht die Grenzen der Transformation hervorgehoben, sondern ihre Möglichkeiten. Allerdings sind die genannten Möglichkeiten im Falle des Transformative Learning auch in didaktischer, auf einen zukünftigen Soll-Zustand abhebender Hinsicht gesetzt,120 wohingegen Marotzki nur auf den empirisch erhobenen Prozess blickt.121 Doch führt

120Ich habe mich in dieser Arbeit aus Gründen des Umfangs und angesichts dessen, dass er der Begründer des Transformative Learning ist, nur auf Mezirows Arbeiten gestützt. Allerdings sind daran anschließend unzählige Arbeiten zum Transformative Learning entstanden, von denen viele empirisch fundiert sind und einige sogar mit dem Habitus-Konzept Bourdieus arbeiten (vgl. Crossley 2003 u. Kap. 2). Auf diese träfe die Analyse des hier für Mezirows Ansatz konstatierten Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Sicherheit nicht in derselben Form zu. 121Zur Rolle der Empirie in Bezug auf die Normativität der Konzepte siehe Abschn. 3.3.4.

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auch Marotzkis Fokus auf die Zukünftigkeit ein Stück weit von der Empirie weg, da Zukünftiges nicht erhoben, sondern nur antizipiert werden kann. Auch den diskurstheoretisch fundierten Bildungsansätzen von Koller (1999) und Lüders (2007) ist die Zukünftigkeit nicht fremd. Jedoch kommt dieser ein anderer, weitaus geringerer Stellenwert zu. Beide konstatieren, dass Bildung letztlich nicht abschließbar ist, d. h. der Widerstreit stets offenzuhalten ist (vgl. Koller 1999) bzw. die Entsubjektivierung fortlaufend dahin gehend überprüft werden müsse, ob sie hinsichtlich des Grades ihrer Machtverstrickung nicht doch eine Subjektivierung sei (vgl. Lüders 2007).122 So betonen sie zwar den (auf die Zukunft verweisenden) Umstand, dass Bildung nie gänzlich zu einem Endpunkt gebracht werden kann, sondern einen fortlaufenden Prozess beschreibt, dennoch definieren sie Bildung nicht vor dem Hintergrund ihrer Zukünftigkeit. Wichtiger ist hingegen – in allen drei von mir betrachteten diskurstheoretischen Bildungsansätzen –, das Verhältnis zum in der Vergangenheit Entstandenen. Ein ‚Entkommen‘ aus den diskursiven Ordnungen halten sie nicht oder nur bedingt für möglich. So stellt Bildung bei Rose (2012) ‚lediglich‘ eine Steigerung der Deutungsspielräume und Veränderung der Subjektpositionen in diskursiven Normen dar. Es entsteht im Zuge eines solchen Bildungsprozesses zwar Neues, doch ist dies relativ zu den aus der Vergangenheit resultierenden und in der Gegenwart wirkenden Diskursen und nicht gänzlich von ihnen abgehoben. Auch Koller und Lüders betonen diese Kontinuität von Vergangenem und in der Gegenwart weiter Wirkendem, doch scheint mir, dass sie dies – weniger als Rose – nicht mit der Transformation zusammen denken, sondern eher als ihr entgegenstehend. Wenn bei Koller dem in den (dominanten) Diskursarten Nicht-Artikulierbaren zum Ausdruck verholfen werden soll, so impliziert dies einen Standpunkt außerhalb der herrschenden Ordnung – auch wenn dies zugleich nicht vollends für möglich gehalten wird (vgl. Koller 1999 und Abschn. 3.2.2.1). Die Steigerung der Seinsungewissheit im Zuge der machtkritischen Grenzverschiebung bei Lüders (2007) kann die diskursive Ordnung ebenfalls nicht verlassen. Dies integriert Lüders jedoch nicht in ihre Bildungstheorie, sondern findet sich stattdessen in der Pattsituation, dass Bildung folglich nicht eindeutig zu identifizieren sei (vgl. Abschn. 3.2.2.2 und weiter unten in diesem Text). Eine relative Kontinuität zum Vorgängigen des Bildungsprozesses zeigt sich auch in den praxeologischen Ansätzen von Bildung, doch wird diese hier – insbesondere im Ansatz von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) –, als systematischer

122In Roses (2012) Bildungsansatz ist hingegen kein Verweis darauf, wie es nach dem Bildungsprozess weitergehen zu hat, zu finden.

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Teil des Transformationsgeschehens begriffen. Bildung wird auch hier keinesfalls als eine gänzliche Loslösung von in der Vergangenheit entstandenen Strukturen verstanden, sondern in der Transformation von Selbst- und Weltverhältnis zugleich die Anknüpfung an Teile der tradierten Struktur gedacht. Dies geschieht entweder dahin gehend, dass vorgängige Anteile des Selbst im Zuge neuer Erfahrungen einen neuen biografischen Sinn bekommen, der das gesamte Selbst ‚hebt‘, während andere, aus der Vergangenheit resultierende Handlungspraktiken gestoppt werden (vgl. Nohl 2006b u. Abschn. 3.2.3.1), oder aber durch eine Neurelationierung der bestehenden Erfahrungsdimensionen bzw. Logiken der Praxis, bei der durchaus in der Vergangenheit Entstandenes weiter besteht und wirkt, dies jedoch (anhand der Gesamtrelation der Erfahrungsdimensionen) einen neuen Sinn erhält (vgl. Rosenberg 2011). Neue Erfahrungen können zudem im Zuge einer in der Gegenwart bestehenden Krise an zuvor randständige Erfahrungskomplexe aus der Vergangenheit anknüpfen und ihnen so zu einer neuen Bedeutung verhelfen, die derart umfassend wird, dass der Habitus – als das ‚Gesamtbündel‘ der sinnerzeugenden Modi Operandi der Handlungspraxis – transformiert wird (vgl. Nohl et al. 2015a). Gerade durch den dezidierten Miteinbezug der Kontinuitäten zur Vergangenheit können diese Ansätze erklären, wie das ‚Neue‘ in die Biografien kommt. Nohl (2006b) fügt dieser Perspektive zwar noch eine immanent ethisch-normative Perspektive auf die Zukünftigkeit hinzu (nämlich den Soll-Zustand weiterer Transformationen), doch betont er gleichzeitig, dass er damit keine „normativen Postulate für zukünftige Bildungsprozesse“ (ebd., S. 25) beabsichtige. So trifft er weniger eine Aussage über die Zukunft als über die gegenwärtige Verfasstheit des Selbst- und Weltverhältnisses in der Gegenwart. Nohl hat so ein Instrument zur ethischen Qualifizierung des transformierten Selbst- und Weltverhältnisses an der Hand, auf das von Rosenberg (2011) sowie Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) verzichten. Sie belassen es bei der umfassenden Neurelationierung des Habitus, der Instanz der biografischen Sinnerzeugung, ohne das Resultat von Bildung, den transformierten Habitus also, in qualifizierender Hinsicht näher zu bestimmen. Diese ethische Zurückhaltung ist zwar zum Gegenstand von Kritik geworden, hat aber, so möchte ich im Folgenden und den weiteren Abschnitt(en) darlegen, durchaus einige Vorteile.

3.3.3 Ethische Unbestimmtheit versus ethische Spezifizierung Einige der Ansätze transformativer Bildung legen also deutlichere (‚formal‘-)ethische Aufgaben von Bildung fest als andere.

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Bei ersteren handelt es sich um die diskurstheoretisch-machtkritischen Ansätze (vgl. Koller 1999; Lüders 2007; Rose 2012). So stellt die Kollersche Steigerung der Anerkennung des Widerstreits und der Hervorbringung jener Diskursarten, die zuvor nicht-artikulierbar waren, eine ethische Konkretisierung der Bildungsprozesse dar (vgl. Abschn. 3.2.2.1), mit deren Fokus das an den Rand Gedrängte und die widerstreitenden Anteile in den Biografien von Menschen in besonders prägnanter Art und Weise in den Blick gerät. Doch bleibt, so möchte ich einwenden, im Zuge dieser ethischen Spezifizierung das, was nicht ‚außerordentlich‘ oder ‚widerstreitend‘ ist, unkonturiert. Zwar zeugt es von einem hohen Maß an Reflexivität des eigenen Ansatzes, wenn Lüders (2007) ihre ethische Festlegung von Bildung (als Ermöglichung machtkritischer Grenzverschiebungen in Prozessen der Entsubjektivierung) sogar so weit treibt, dass Bildung selbst – angesichts des nur relativ möglichen Entzug aus dem Einflussbereich der Macht – nicht mehr zweifelsfrei zu identifizieren ist, Subjektivierung und E ­ntsubjektivierung sich empirisch nicht unterscheiden lassen (vgl. Abschn. 3.2.2.2). Doch zeitigt dies empirische Probleme. Auch Rose (2012) nimmt deutliche ethisch-normative Festlegungen vor, wenn sie die Möglichkeiten und Nutzungen der subversiven Deutungsspielräume gesteigert sehen will, um auf diesem Wege Verschiebung diskursiver Normen zu erreichen (vgl. Abschn. 3.2.2.3). Insbesondere diese Ausgestaltung der Machtkritik bekommt wie selbstverständlich einen Blick auf soziale Kämpfe, geht es hier doch um die Verschiebung von ‚Anrufung‘ und ‚Identifizierung‘, durch die den Subjekten gesellschaftliche Positionen zugewiesen werden und das ethische Sollen dieses Bildungsverständnisses in der „Infragestellung und ggf. Verschiebung der kollektiven Bedingungen des Seins“ (Rose 2012, S. 411; kursiv im Original) besteht. Jedoch, so möchte ich einwenden, stellt diese auf das ‚Politische‘ verweisende ethische Fundierung mit ihrem Fokus auf der Aufdeckung und Verschiebung der Platzvergabe in sozialen Ordnungen zugleich auch eine ethische Engführung dar. Die Antwort auf die Frage, worum es bei sozialen Kämpfen geht, wird hier gleichsam schon mitgeliefert – womit der Blick auf sich eventuell anders gestaltende Bildungsprozesse im Kontext des ‚Politischen‘, in denen auch andere Erfahrungsdimensionen des Lebens eine Rolle könnten, versperrt wird. Alle drei genannten diskurstheoretischen Ansätze legen also klare (‚formal‘-)ethische Kriterien fest, mit denen sie ihr Erkenntnisinteresse (in der empirischen Auswertung) dann auch relativ präzise erfassen können. Zugleich schränken sie damit aber auch die mögliche Spannbreite von Bildung ein. Die anderen Ansätze transformativer Bildung, wozu auch der in der vorliegenden Arbeit verwendete zählt, gehen hingegen ethisch zurückhaltender vor und konzipieren die im Zuge von Bildung stattfindende Steigerung l­ediglich als

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Gewinn von mehr Handlungsfähigkeit gegenüber dem Tradierten (vgl. Marotzki 1990; Nohl 2006b; Rosenberg 2011 und Nohl et al. 2015a). Die Kritik an der Gefahr einer ethischen Beliebigkeit ist bei einem solchen ethisch weitgehend enthaltsamen Bildungsansatz sicherlich nicht von der Hand zu weisen und Extrembeispiele, wie die in Abschn. 3.1 erwähnten Transformationsprozesse mit ethisch-moralisch fraglichem Ausgang, kaum zu entkräften.123 Diese vermeintliche Schwäche stellt – ähnlich paradox anmutend wie bereits bei den o.g. machtkritischen Ansätzen, nur in entgegengesetzter Richtung – m. E. zugleich auch eine Stärke dar. Diese liegt darin, dass die sich ethisch zurückhaltenden Bildungsansätze auch dasjenige in den Blick bekommen, was nicht in erster Linie der vorab antizipierten Problemanalyse entspricht; in Bezug auf die vorliegende Arbeit also u. a., was nicht vorab als ‚politisch‘ oder als ‚politisch emanzipativ‘ definiert wurde. So tritt die empirische Handlungspraxis mit ihren Relevanzen in den Vordergrund und ein etwaiger Zusammenhang des explizit ‚Politischen‘ zum nicht originär bzw. unmittelbar ‚Politischen‘ – in und abseits der politischen ­Praxis – kann empirisch erfasst werden.124 Auf der anderen Seite der Skala in Bezug auf ethisch-normative Bestimmtheit respektive Unbestimmtheit steht die Theorie des Transformative Learning. Die Steigerung der Handlungsfähigkeit und ‚Emanzipation‘ steht hier im Dienste einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Akteur*innen selbst, wie auch deutlicher als bei den transformativen Bildungsansätzen (bei denen sich ja durchaus auch vielfältige immenente Gesellschaftsbezüge zeigen ließen) im Dienste einer Verbesserung der Gesellschaft. Die ethischen Kriterien der Befähigung zum kritischen Diskurs und zur ‚sozialen Verantwortungsübernahme‘ geben der Transformation eine Schlagseite in Richtung des gesellschaftlich bzw. aus gesellschaftskritischer Perspektive Erwünschten. Somit schränken sie das, was zu Transformative Learning wird und werden kann, deutlich ein, bekommen eben dies jedoch – wie oben für die diskurstheoretisch orientierten Ansätze konstatiert – deutlicher in den Blick. Die Fähigkeit einer solchen ethischen Festlegung, das Transformationsgeschehen

123Nohls (2006b) Auseinandersetzungen zur Öffnung für weitere Experiences, die er in der Auseinandersetzung mit Dewey entwickelte, stellen hier, wie bereits erwähnt, sicherlich eine Ausnahme dar, weil mit ihnen totalisierende Selbst- und Weltverhältnisse ausgeschlossen werden (Ich habe allerdings auch bereits die Schwierigkeit erwähnt, die hier mitgedachte zukünftige Projektion zu bestimmen). 124Auf die Rolle der Empirie in Bezug auf die Normativität der Bildungstheorien gehe ich in Abschn. 3.3.4 gesondert ein.

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zu korrigieren und sozial unverträgliche Resultate der Transformation auszuschließen, scheint zunächst auf der Hand zu liegen; letztlich bleibt aber auch diese Herangehensweise nicht dagegen gefeit, relativ zu sein.125 So bietet dieser Grundzug des Transformative Learning ein Mehr an Ethik, aber doch keine Absicherung gegen ethisch-moralische ‚Fehlentwicklungen‘. Zur Erfassung – gerade auch der politischen – Spezifik der Prozesse, hat der dezidierte Blick des Transformative Learning auf politisch relevante Aspekte wie die genannte Befähigung zum kritischen Diskurs und zur soziale Verantwortungsübernahme jedoch wiederum einen analytischen Wert. Es wird deutlich, dass die verschiedenen ethisch-normativen Festlegungen jeweils Möglichkeiten der Erkenntnis eröffnen, während sie hingegen andere verschließen. Eine universelle ethische Fundierung von Bildung, die allen Kontexten, in denen sich Bildung ereignet, gerecht werden kann – d. h. verschiedenen Gesellschaften, zeitgeschichtlichen Kontexten, spezifischen sozialen Räumen oder Prozessen etc. –, scheint aus diesem Grunde nicht im Bereich des Möglichen. Wenn man diesen Befund zum Ausgangspunkt nimmt und nicht die eine universelle Begründung von Bildung sucht, sind m. E. zwei Arten des Umgangs hiermit denkbar: Erstens, es werden – wie in den o.g. diskurstheoretisch-machtkritischen Studien geschehen – ‚formal‘-ethische Annahmen für Bildung vorgenommen, die einer spezifischen Problemlage, einem spezifischen Gegenstandsbereich oder Erkenntnisinteresse (oder, wie beim Transformative Learning, gar einer Gesellschaftsanalyse bzw. einem Gesellschaftsideal) am ehesten zu entsprechen scheinen, und macht diesbezüglich dann den speziellen Fokus und die damit einhergehenden Begrenzungen des Ansatzes kenntlich. Durch solche klar umrissenen ethischen Festlegungen werden die Ergebnisse, d. h. die so rekonstruierten Bildungsprozesse (wenn sie denn in dieser speziellen Ausprägung empirisch auffindbar sind) zwar sehr spezifisch, allerdings immer nur in Bezug auf ihre begrenzte Perspektive aussagekräftig sein. Oder aber man verfolgt den zweiten Weg und wählt ein Bildungsverständnis, das für möglichst viele empirische Ausprägungen Raum lässt. Hier wiederum müsste jedoch der Umstand reflektiert werden, dass das Bildungsverständnis Gefahr läuft, einer gewissen Beliebigkeit anheim zu fallen. In diesen Ansätzen kommt dann der Empirie die Aufgabe der Spezifizierung des Bildungsansatzes zu.

125Es fällt nicht schwer, sich Situationen, Gesellschaftssysteme oder soziale Gruppierungen vorzustellen, in deren Kontext der Verweis auf ‚soziale Verantwortung‘ funktionalisiert wird und dazu dient, Diskriminierungen der jeweils als die ‚Anderen‘ gekennzeichneten zu rechtfertigen.

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Das hier skizzierte Paradoxon zwischen ethischer Unbestimmtheit – respektive Offenheit – und ethischer Spezifizierung – respektive Engführung – scheint mir nicht auflösbar. Die Frage von Koller (1999, S. 42), „ob die paradoxale Struktur […] nicht vielleicht einer Struktur geschuldet ist, die keine anderen als widersprüchliche Lösungen erlaubt“, stellt sich mir in diesem Kontext als passender Kommentar dar.126 Meines Erachtens kann es nur darum gehen, die „unhintergehbare Normativität“ (Lüders 2007, S. 110), den Umstand also, dass normative Festlegungen vorgenommen werden müssen, und die „Nicht-Einholbarkeit der Aufgabenhaftigkeit von Bildung“ (Rosenberg 2011, S. 89), die Unmöglichkeit also, eine ethische Grundlegung über alle anderen (möglichen) zu stellen, gleichermaßen im Blick zu haben und einen transparenten Umgang mit den jeweiligen Vorannahmen zu pflegen.127

3.3.4 Empirie als Spezifizierung ethischer Unbestimmtheit In seinem Plädoyer für die Nutzung von Bourdieus Theorie der Praxis für die Pädagogik wendet sich Eckart Liebau (2006, S. 45) gegen theoretische (Emanzipations-)Forderungen, die nicht auf dem Boden der Praxis stünden: „Es nützt den gesellschaftlichen Subjekten, den Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, Alten eben nichts, wenn der pädagogische Diskurs die allgemeine Notwendigkeit der Emanzipation begründet, weil diese Subjekte eben nicht als allgemeine Subjekte, sondern als konkrete Individuen leben, in konkreten Verhältnissen, die freilich in gesellschaftlichen Bedingungen wurzeln.“

Eine praxeologische Herangehensweise solle, so Liebau, die – oftmals von der Praxis abgehobene – Normativität pädagogischer Konzepte korrigieren. Dies dürfte sich im Prinzip nicht nur auf praxeologische Ansätze, sondern auf all jene Herangehensweisen beziehen, die der Empirie eine Rolle zubilligen, die über die

126Die Frage stellt Koller in einem etwas anderen, aber doch verwandten Kontext; nämlich, wenn er über den Widerspruch bei Lyotard, dass seine Ethik letztlich doch den Platz einer Meta-Ethik einnehmen wolle, obwohl Lyotard gleichzeitig den Metadiskurs als nicht mehr tragfähig ablehne, nachdenkt. 127Aus diesem Gedanken resultiert das in Kap. 7 verfolgte Programm eines erkundenden Vorgehens zwischen Theorie und Empirie, auf das ich weiter unten, im Unterkapitel dieses Kapitels (3.3.5), näher eingehen werde.

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Funktion der bloßen Bestätigungsinstanz theoretischer Vorannahmen hinausgeht. Oben hatte ich bereits angedeutet, dass die Rolle, die der Empirie im Bereich des Normativen eingeräumt wird, durchaus auch Beachtung finden sollte, da nicht nur theoretische Festlegungen, sondern auch das forschungspraktische Vorgehen mit seiner dahinterstehenden Methodologie die Normativität der Bildungsansätze berühren. In der transformativen Bildungstheorie der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung stehen die theoretisch herangetragenen Bildungskonzepte in einem reflexiven Verhältnis zur Empirie. Das bedeutet, dass empirische Auswertungen hier nicht nur durch die Theorie vorstrukturiert sind, sondern auch auf diese zurückwirken.128 Zwar muss die spätere, empirische (und im Sinne des reflexiven Verhältnisses von Theorie und Empirie auch theoretische) Ausgestaltung der Forschung und ihrer Ergebnisse unterschieden werden von der Bildungsdefinition – als ‚formalem‘ Ausgangspunkt der Forschung –, doch stellt die Empirie in den transformativen Bildungsansätzen durchaus eine Korrektur bzw. Präzisierung der Bildungsansätze und ihrer ethischen Implikationen dar. Anhand der empirischen Überprüfung wird die Normativität in gewisser Hinsicht relativiert und ‚materiale‘ Festlegungen werden auf ihre den empirischen Prozessen der Sich-Bildenden relevante Immanenz begrenzt. Die empirische Überprüfung der normativen Grundlegungen kann zwar die eingangs ausgeführte ‚Gefahr‘ von ethisch-moralisch nicht vertretbaren Bildungsprozessen (vgl. Stojanov 2006; Fuchs 2013, 2014; Rieger-Ladich 2014 u. a.; s. auch Abschn. 3.1) nicht ausschließen, jedoch erfährt auch diese eine gewisse Relativierung anhand der empirischen Analyse. So müsste sich in einem Transformationsprozess wie der von Stojanov (2006) vorgebrachten biografischen Entwicklung von Horst Mahler oder der filmischen Figur Walter Whites die Transformation – z. B. als Transformation des Habitus – empirisch beweisen. (Denkbar wäre nämlich durchaus, dass die verschiedenen Anschlüsse Horst Mahlers trotz ihrer scheinbaren Unvereinbarkeit dennoch alle ein und derselben Habitusform [z. B. des ‚Agierens gegen das Establishment‘] entspringen und die jeweiligen Veränderungen sich ‚lediglich‘ auf die Ausschnitte von Welt beziehen, in denen dieser grundlegende Habitus ausagiert wird.). Während das Transformative Learning in der Ausgestaltung von Mezirow hinsichtlich seiner gesellschaftsverändernden Zielsetzung stärker normativ

128Auf das in der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung zugrunde gelegte reflexive Verhältnis von Theorie und Empirie wurde bereits in Abschn. 3.1 ausführlich hingewiesen.

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ist, wird in den Ansätzen der transformativen Bildung eine normative Perspektive erst dann angelegt – bzw. diese nur dann aufrecht erhalten –, wenn die vorliegenden empirischen Prozesse erfolgreich mit normativen Grundlegungen wie „Widerstreit“, „Experience“ oder „Habitustransformation“ beurteilt werden können.129 Marotzki (1990), Koller (1999), Lüders (2007) und Rose (2012) arbeiten in diesem Rahmen ihre empirischen Ergebnisse jeweils an Einzelfällen heraus und tragen dabei vergleichsweise dezidierte ethisch-normative Vorstellungen an die Empirie heran.130 So bleiben Empirie und Theorie zwar weiterhin in einem reflexiven Wechselverhältnis, in dessen Zuge das empirisch Gegebene mit den theoretischen Vorannahmen korrespondieren muss und diese von empirischer Seite her korrigieren kann, doch wird die erfassbare Breite der Empirie von vornherein in gewissem Maße beschränkt. Hingegen kann für die Ansätze, die sich dem empirischen Material mit einem normativ weitgehend unspezifizierten, transformativen Bildungsbegriff nähern und deren ‚fehlende Spezifik‘ (im schlimmsten Falle Beliebigkeit) eingangs noch in gewisser Weise zum Manko erklärt wurde, konstatiert werden, dass hier das sich empirisch Dokumentierende zur Spezifizierung des Bildungsverständnisses führt. Wenn zunächst vorwiegend die Struktur- und Prozesshaftigkeit fokussierende Soll-Festlegungen vorgenommen werden, so ist der Blick freier für das sich empirisch Dokumentierende statt für das, was – normativ – sein soll; was nicht implizieren soll, dass hier keinerlei ethische Annahmen getätigt werden.131 Bei den mit der Dokumentarischen Methode erarbeiteten Untersuchungen, die mit einem solchen ethisch relativ unbestimmten, breit angelegten transformativen Bildungsbegriff arbeiten – also die vorliegende Arbeit ebenso wie jene von Nohl (2006b), von Rosenberg (2011) und Nohl et al. (2015a) –, findet also durchaus eine Spezifizierung statt. Die Erfassung der empirischen Breite steht hierbei im Vordergrund und erst auf dieser Grundlage wird dann durch die Typisierung zahlreicher Bildungsfälle eine

129Dieser Unterschied geht sicherlich auch auf den Umstand zurück, dass die Theorie des Transformative Learning zwar empirisch erarbeitet wurde, in der Folge aber (auch) als didaktisches Konzept dient, während die Ansätze transformativer Bildung sich auf die Analyse vollzogener Prozesse beschränken. 130Der Unterschied zwischen Marotzki (1990) und den anderen hier genannten Ansätzen liegt darin, dass Marotzki seine ethisch-normativen Vorannahmen nicht als solche kennzeichnet, diese also implizit in seinem Ansatz enthalten sind, wohingegen Koller (1999), Lüders (2007) und Rose (2012) ihre Ethik explizit machen. 131Das Minimum von ethischer Festlegung im Rahmen der transformativen Bildungstheorie ist – selbstredend – das Transformationsgeschehen als solches.

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­Spezifizierung erreicht.132 Es steht im Zentrum dieser praxeologischen Perspektive die Frage danach, was transformative Bildung in der sozialen Handlungspraxis der Akteur*innen – fallübergreifend – heißen kann.

3.3.5 Erkundungen zur Normativität zwischen Theorie und Empirie Die dieser Arbeit zugrunde gelegte Konzeption von Bildung als Habitustransformation schließt – wenngleich unter anderen theoretischen Vorzeichen – an Marotzkis Konzept der ‚Rahmentransformation‘ an und legt die umfassende Transformation des Habitus als Generierungsprinzip und Struktur von „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1993, S. 101), der gesamten Art und Weise also, in der Welt zu sein und diese wahrzunehmen, zugrunde. Des Weiteren wird auf qualifizierende Beschränkungen verzichtet. Zwar ist die Habitustransformation an sich durchaus eine theoretische Grundlegung mit ethischen Implikationen, jedoch kommt dieser Bildungsbegriff ohne weitere, explizite ethische Festlegungen aus. Da Ziel und Aufgabe von Bildung nicht letztbegründbar zu bestimmen sind, wird dies mit dem Bildungsbegriff der vorliegenden Untersuchung auch gar nicht erst versucht. Zwar liegt hier auch eine Einsatzstelle für die bereits mehrfach genannte Kritik an einer ethischen Beliebigkeit begründet (vgl. Abschn. 3.1), doch kann dieses Dilemma m. E. generell nicht und insbesondere nicht im Rahmen der vorliegenden Arbeit gelöst werden; ebenso wenig wie die Aufgabenhaftigkeit von Bildung letztbegründlich und universell bestimmbar scheint. So nehme ich dies – mangels überzeugender Argumente für eine ethische Grundlegung von Bildung, die dem Problem des Fehlens einer allgemeingültigen Norm entkommt – in Kauf und fokussiere stattdessen den Vorteil einer sich ethisch zurücknehmenden Konzeption von Bildung. Diese eröffnet Raum für empirische Analysen und aufgrund ihrer relativen Unbestimmtheit zugleich die Möglichkeit zu einem erkundendem Vorgehen, bei dem verschiedene ethische Kriterien erst sukzessive ‚hineingeholt‘ werden und so auch nach der qualifizierenden Aufgabe von Bildung gefragt wird; quasi als ex post-Konfrontation mit verschiedenen ethischen Grundannahmen. Dieses ‚Programm‘ der Erkundungen zur Normativität zwischen Theorie und ­Empirie möchte ich als einen möglichen Umgang mit der Frage der Normativität von ­Bildung unter vielen kennzeichnen und in Kap. 7 ansatzweise in die Forschungspraxis umsetzen. Hierbei soll das produktive Wechselverhältnis also nicht nur

132Vgl.

zum Zusammenhang von Generalisierung und Spezifizierung z. B. Bohnsack (2005).

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zwischen Empirie und einem theoretischen Zugang bestehen, sondern als Oszillieren zwischen der Empirie und verschiedenen ethischen Grundlegungen von Bildung bzw. Transformative Learning. Durch das Herantragen verschiedener normativer Perspektiven an das empirische Material möchte ich mehr Transparenz in Bezug auf Normativität und die eigene Bildungsforschung herbeiführen. Die Konfrontation mit anderen Auslegungen des transformativen Bildungsansatzes soll am empirischen Material – so die Grundidee – die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Ansatzes sowie der anderen Ansätze deutlicher werden lassen. Auf der Grundlage der empirisch breit gefassten und rekonstruierten Bildungsprozesse können die anderen Ansätze meine bisherigen empirischen Ergebnisse konfrontieren und eine zusätzliche Perspektive liefern, mit der Spezifika (z. B. des Gegenstandsbereichs der sozialen Protestbewegungen bzw. des Verhältnisses von Bildung und Gegenstandsbereich) besser erkennbar werden (könnten). So steht am Ende meiner ausführlichen Auseinandersetzung mit der Normativität von Bildung zwar keine ‚Lösung‘ der Problematik (was auch nicht zu erwarten war), doch einige Ansätze des Umgangs mit der Notwendigkeit ethischer Festlegungen bei gleichzeitiger Unmöglichkeit einer ethischen Letztbegründung.

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4

Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Die Perspektive der Dokumentarischen Methode und der praxeologischen Wissenssoziologie (vgl. etwa Bohnsack 2003a u. b, 2006b) bieten den komplexen Hintergrund für die Analyse von Bildungsprozessen in sozialen Bewegungen. Die Wahl einer Methodik zeitigt erkenntnistheoretische Konsequenzen, die den Blick für einige Aspekte schärfen, während sie jenen auf andere Erkenntnismöglichkeiten verstellen. Dies hängt nicht nur mit dem spezifischen methodischen Zugriff zusammen, sondern auch damit, dass die hinter der Methode stehende Methodologie, die damit verbundenen Grundlagentheorien sowie in der Arbeit verwendete Grundbegriffe die theoretischen Prämissen der Interpretation liefern (vgl. hierzu z. B. Bohnsack 2005). Insbesondere im deutschen Wissenschaftsbetrieb beschränkt sich die Forschung zu sozialen Bewegungen traditionell auf makrosoziologische und politikwissenschaftliche Perspektiven, die sich dem Gegenstand entweder gänzlich theoretisch oder, wenn empirisch, dann quantitativ nähern (vgl. hierzu Miethe und Roth 2000, S. 9; zu den wenigen qualitativen Arbeiten siehe Kap. 2). Während diese Ansätze vor allem politische Macht- und Entscheidungsstrukturen in den Blick bekommen, bleiben dabei Fragen nach dem biografischen Kontext und der individuellen wie kollektiven Bedeutsamkeit und Einbettung sozialer Protestaktivität unterbelichtet. Letztere sind für die Rekonstruktion biografischer Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen, wie sie im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, jedoch konstitutiv. Um biografische Prozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen zu erfassen, wurden für den empirischen Teil dieser Arbeit zwei Zugänge der rekonstruktiven Sozialforschung gewählt: das autobiografisch-narrative Interview als Erhebungsverfahren und die Dokumentarische Methode zur Auswertung des so erhobenen Datenmaterials. Letzterer kommt dabei jedoch ein Stellenwert zu, der weit über

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_4

193

194

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

den eines Auswertungsverfahrens hinausgeht.1 Ralf Bohnsack bezeichnet die grundlagentheoretische Fundierung der Dokumentarischen Methode, die er in der Hauptsache auf der Grundlage des Rückgriffs auf Mannheims Wissenssoziologie erarbeitet hat, auch als praxeologische Wissenssoziologie (vgl. z. B. Bohnsack 2003a, 2006b; Bohnsack et al. 2013). Ihren Ausgang nahmen die Dokumentarische Methode und praxeologische Wissenssoziologie in ihrer heutigen Form auf der Grundlage der Auswertung von Gruppendiskussionen.2 Später wurde das Verfahren in Hinblick auf unterschiedliche Erhebungsformen und daraus gewonnene Daten weiterentwickelt: Neben der Interpretation narrativer Interviews, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde und deren Ausarbeitung für die Anwendung im Rahmen der Dokumentarischen Methode in der Hauptsache Arnd-Michael Nohls Verdienst ist (vgl. Nohl 2006a u. b), kamen die dokumentarische Auswertung teilnehmender Beobachtungen (vgl. Vogd 2004) sowie die dokumentarische Bildinterpretation (vgl. Michel 2006; Bohnsack et al. 2015; Kanter 2016), Videografie (vgl. Hampl 2010, 2015; Wagner-Willi 2013; Asbrand und Martens 2018) und Filmanalyse (vgl. Geimer 2010a; Bohnsack et al. 2014; zum Gesamtüberblick über Bild- und Videointerpretation: vgl. Bohnsack 2009) hinzu. Die dokumentarische Interpretation zielt darauf ab, die sich im Datenmaterial dokumentierende „implizite Regelhaftigkeit von Erfahrungen“ (Nohl 2006a, S. 51) zu rekonstruieren. Den damit einhergehenden Fokus auf die „Analyse impliziter oder latenter Bedeutungsgehalte“ (Bohnsack und Marotzki 1998, S. 10) hat sie mit anderen Ansätzen rekonstruktiver Sozialforschung ebenso gemein wie eine praxeologische Zugangsweise (vgl. z. B. Bohnsack 2012). In dieser auf die Handlungspraxis fokussierenden Perspektive liegt u. a. auch die Anschlussfähigkeit der praxeologischen Wissenssoziologie an die Kultursoziologie Pierre Bourdieus und insbesondere seine Theorie der Praxis (Bourdieu 1997; 2001) begründet, auf deren zentralem Grundbegriff des „Habitus“ (Bourdieu 1993) der Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit aufbaut (vgl. hierzu Abschn. 3.2.3). Im ersten Teil dieses Kapitels (Abschn. 4.1) soll es von daher ausführlicher um die

1Als

Methodologie, Grundlagentheorie und Methode zugleich strukturiert die dokumentarische Methode die Erhebung bereits mit. Bohnsack (2013b, S. 175) hebt ihre Doppelstruktur „als methodologisch-erkenntnistheoretisches Konzept wie auch als forschungspraktische Methodik“ hervor (vgl. hierzu auch Schäffer 2012). 2Siehe für erste Arbeiten Bohnsack (1983; 1989), Bohnsack et al. (1995) und zum Überblick über das Gruppendiskussionsverfahren Loos und Schäffer (2001) und Bohnsack et al. (2010).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

195

oben bereits angedeuteten methodologischen Prämissen der Dokumentarischen Methode sowie um die theoretischen Hintergründe der in der Arbeit verwendeten Grundbegrifflichkeiten gehen. Ich beginne dieses Unterkapitel mit einer grundsätzlichen Verortung der Arbeit im biografietheoretischen Ansatz (Abschn. 4.1.1). Im Anschluss daran werde ich die praxeologisch-wissenssoziologische Perspektive darauf beziehen und zudem weitere methodologisch-erkenntnistheoretische Grundlagen und die damit einhergehenden Grundbegriffe darlegen (Abschn. 4.1.2), um sodann die Brücke zu Bourdieus Theorie der Praxis, insbesondere zu seinem Habituskonzept zu schlagen (Abschn. 4.1.3). Im Anschluss werde ich die Transformierbarkeit des Habitus diskutieren und so die Verbindung zum Bildungsbegriff dieser Arbeit ziehen (Abschn. 4.1.4). Als Erhebungsverfahren war das narrative Interview für die vorliegende Arbeit, die zur Rekonstruktion biografischer Bildungsprozesse und ihrer Spezifik im Kontext sozialer Protestbewegungen an den Erfahrungen der Akteur*innen ansetzt, das Mittel der Wahl. Im zweiten Teil dieses Kapitels (Abschn. 4.2) wird es ausführlich um die Grundlagen und forschungspraktische Nutzung narrativer Interviews, insbesondere in der dokumentarischen Forschungspraxis und der Anwendung in der vorliegenden Arbeit gehen. Dabei werde ich zunächst auf das Sampling und die Datenerhebung der vorliegenden Studie eingehen (Abschn. 4.2.1), um in einem zweiten Schritt die Interpretationsschritte der dokumentarischen Interpretation von narrativen Interviews darzulegen (Abschn. 4.2.2). Am Endpunkt dieser detaillierten Darstellung des dokumentarischen Interpretationsverfahrens und seiner konkreten Anwendung im Rahmen der vorliegenden Arbeit stehen Reflexionen zu einer prozessanalytischen Typenbildung (vgl. von Rosenberg 2012), die ich – das Vorgehen etwas spezifizierend – als prozessanalytische Typisierung von Habitustransformationsverläufen fasse. Zudem stelle ich hier Überlegungen zu ihrer Verortung im Verhältnis zu anderen Varianten der dokumentarischen Typenbildung an.

4.1 Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen und den Grundbegriffen Es wird in der dokumentarischen Forschungspraxis und Theorie allgemeinhin davon ausgegangen, dass der Forschungsgegenstand und das empirische Material durch die methodologischen Hintergründe und die – theoretisch verankerten – Grundbegriffe strukturiert werden und zudem das empirische Material in theoriegenerierender Absicht ausgewertet wird. Ein solches reflexives Verhältnis von

196

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Empirie und Theorie kann als grundlegend für die dokumentarische Forschungspraxis gelten (vgl. z. B. Bohnsack 2005, 2010a; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2009; Nohl et al. 2013; Nohl et al. 2015a, S. 15 ff.). Geimer und von Rosenberg (2013) weisen darauf hin, dass darin eine Parallele zum Empirie-Theorie-Verhältnis der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung (vgl. Kap. 3 der vorliegenden Arbeit) besteht, wenngleich beide Forschungsrichtungen dies „unabhängig voneinander entwickelt“ (ebd., S. 142) haben.3 Davon ausgehend, dass die Typenbildung, wie sie im Zentrum meiner empirischen Erarbeitungen steht, als Form der Theoriegenerierung anzusehen ist, möchte ich die vorliegende Arbeit in die Tradition all jener stellen, die eine systematische Verbindung theoretischer Reflexionen und empirischer Rekonstruktionen vorgelegt haben. Im Hinblick auf die aus dem reflexiven Verhältnis von Theorie und Empirie resultierende „Paradigmenabhängigkeit der eigenen Forschung“ (Bohnsack 2005, S. 71) scheint es angebracht, die theoretische Grundlegung der Methodik sowie der verwendeten Grundbegriffe, d. h. ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede, eingehender darzulegen.

4.1.1 Die biografietheoretische Perspektive Wie in Kap.  2 herausgearbeitet, herrschte in der Erforschung sozialer Bewegungen lange Zeit eine Distanz zu, um nicht zu sagen eine Berührungsangst mit biografischen Ansätzen vor; und dies kann insbesondere in der deutschsprachigen, stark politikwissenschaftlich und historisch orientierten Forschungslandschaft zu sozialen Bewegungen in eingeschränkter Form eigentlich bis heute gelten. Aus einer solchen Meso- bis Makroperspektive auf kollektive Akteur*innen und strukturpolitische Bedingungen und Wirkungen erscheinen biografische Zugänge zu sehr auf den Einzelnen bzw. die Einzelne gerichtet und in dem Sinne individualisierend. Dem entgegen steht das Argument, dass gesellschaftliche Entwicklungen nie nur aus strukturellen Bedingungen erklärbar sind, sondern es letztlich immer auch Einzelne sind, die diese umsetzen, in

3Nohl

(2016a) hält das reflexive Wechselverhältnis von Theorie und Empirie in der rekonstruktiven Sozialforschung sogar noch für weiter ausbaufähig. Er kritisiert, dass zumeist die Forschung lediglich vorab von Grundlagentheorien strukturiert würde und als Ergebnis der Forschung die Gegenstandstheorie stünde (vgl. ebd., S. 105). Die empirischen Ergebnisse der Forschung würden hingegen selten auf die Grundlagentheorien rückbezogen, um diese ggf. weiterzuentwickeln (vgl. ebd., S. 119). Nohl plädiert daher für eine „reziprok reflexive[…] Beziehung zwischen Grundbegriffen und empirischer Analyse“ (ebd.).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

197

Gang setzen oder verhindern (vgl. Kap. 2). Letztlich verweist diese Thematik also auf die Frage nach dem Verhältnis von ‚innen‘ und ‚außen‘ oder danach, ob die gesellschaftliche Struktur oder die Handlungsvollzüge und Sinngebungen der einzelnen Akteur*innen als prozessbestimmende Instanz gelten sollten. Diese Frage nach dem Subjektivismus und Objektivismus in den Sozialwissenschaften wurde in den Geistes- und Sozialwissenschaften stets heftig diskutiert und – je nach aktuellem Forschungsparadigma – anders beantwortet. Meine Arbeit verorte ich, wie in Kap. 3 bereits in Bezug auf den Bildungsbegriff deutlich gemacht, im Kontext der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung. Der biografietheoretische Ansatz, wie er sich heutzutage „als Teildisziplin in einer Reihe von Humanwissenschaften“ (Schulze 2006, S. 49), so auch in der Soziologie und Erziehungswissenschaft, etabliert hat, versteht sich als Perspektive jenseits dieser Dualität. Disziplin übergreifend kann es als unumstritten gelten, dass das individuelle Leben „nicht lediglich eine Ansammlung einzelner Lebensgeschehnisse“ ist, sondern „vielmehr in sich die Ordnung einer sozialen Struktur“ (Bude 1984, S. 22) trägt. Unterschiede bestünden jedoch in Bezug auf die Gewichtung in diesem Spannungsfeld, so Theodor Schulze (2006, S. 46): Im erziehungswissenschaftlichen Biografie­ verständnis sei „der Blick vom biographischen Subjekt auf die Gesellschaft gerichtet, im soziologischen Biographieverständnis ist der Blick [hingegen; S.T.] von der Gesellschaft auf das Individuum gerichtet“. Zwar mag dies in Grundzügen durchaus die unterschiedlichen Antworten der beiden Disziplinen auf die Frage danach wiedergeben, ob gesellschaftliche Struktur oder die Handlungen eines Akteurs im Fokus der Aufmerksamkeit stehen sollten, doch scheinen die Perspektiven einander mittlerweile stärker durchdrungen zu haben, als dies bei Schulze anklingt. Gabriele Rosenthal (2014, S. 511) z. B., die ich hier als Vertreterin der soziologischen Biografieforschung anführen möchte, sieht das Biografiekonzept als Aufhebung der Dichotomisierung von ‚individueller‘ Lebensgeschichte und ‚objektiver‘ Strukturen; Biografie würde hingegen verstanden „als ein soziales Konstrukt […], das auf kollektive Regeln, Diskurse […] und gesellschaftliche Rahmenbedingungen verweist und sowohl in seiner Entwicklung als auch im deutenden Rückblick immer beides zugleich ist: ein individuelles und ein kollektives Produkt.“

Ähnlich liest es sich bei den Autoren der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung Heinz-Hermann Krüger und Winfried Marotzki (2006, S. 8):

198

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

„Biographie ist als Konzept strukturell auf der Schnittstelle von Subjektivität und gesellschaftlicher Objektivität, von Mikro- und Makroebene angesiedelt und eröffnet somit die Möglichkeit, Lern- und Bildungsprozesse im Spannungsfeld subjektiver und objektiver Analysen zu erfassen“.

Gerade aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive wird zuweilen die „hohe Affinität“ zwischen Biografieforschung und Erziehungswissenschaft im Allgemeinen (ebd., S. 7) und Biografieforschung und Erwachsenenbildung im Speziellen (Alheit 1995, S. 277) betont – sei doch die biografische Perspektive, d. h. ein Bezug auf lebensgeschichtliche Prozesse, für diese Disziplinen grundlegend.4 Im biografietheoretischen Ansatz sehen Krüger und Marotzki (vgl. 2006, S. 8) den bevorzugten Zugang zu erziehungswissenschaftlich relevanten Prozessen, da sich diese im Spannungsfeld von innerer Erfahrungswelt und äußerlichen Strukturen konstituierten. Die besondere Perspektive der erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung bestünde in ihrer Suche nach der „Nähe zu Leitkategorien wie beispielsweise Lernen […], Erziehung […] oder Bildung, die dann die Perspektive erzeugen, unter der Biographieforschung betrieben wird“ (Marotzki 2006, S. 60).5 Der Blick auf diese Prozesse führt – neben der Analyse der sie strukturierenden Strukturen – immer auch zur Frage nach Emergenz (und den Möglichkeiten und Grenzen ihres Auftretens). Alheit und Dausien (2006, S. 441) fassen dies wie folgt: „Biographien als konkret gelebtes Leben beinhalten immer beides: Emergenz und Struktur. Biographisches Handeln und biographische Sinnkonstruktionen als subjektive Leistungen sind gerade in ihrem Charakter der historischen Einmaligkeit und der relativen Offenheit gegenüber der Zukunft angewiesen auf gesellschaftliche Strukturen, auf Orientierungsmuster, institutionalisierte Prozeduren, geronnene interaktive Formen und Regeln, die als Gerüststrukturen ‚hinter dem Rücken‘ je konkreter biographischer Prozesse wirksam sind“.

4Desweiteren

trete – schon in ihrer historischen Entstehung – bei „beiden […] ein Interesse an Aufklärung und Bildung der Menschen, an der Entfaltung ihrer Kräfte und an der Vielfalt ihrer Lebensentwürfe in Erscheinung“, so Schulze (2006, S. 49 f.), der zudem darauf verweist, dass Erziehungswissenschaft und Biografieforschung in ihrer Entstehung beide „aus den gesellschaftlichen Transformationsprozessen zu Beginn der Neuzeit in Europa hervor[gegangen]“ seien. 5Folgerichtig hat Marotzki (1990) mit seiner strukturalen Bildungstheorie die „Programmatik einer allgemeinen erziehungswissenschaftlichen Biografieforschung mit einem bildungstheoretischen Zuschnitt“ (Marotzki 2006, S. 60) begründet. Siehe ausführlich dazu Abschn. 3.2.

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

199

Doch der Aspekt der Emergenz in seinem Verhältnis zu gesellschaftlichen Institutionen und Normen, das Verhältnis von bestehender Struktur und der Entstehung des biografisch Neuen also, interessiert nicht nur die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung. Auch soziologische Biografieforscher*innen richten den Blick auf die Bedingungen der Möglichkeit von Veränderungen: Rosenthal beispielsweise betont den Konstruktionscharakter von Biografien, der immer wieder neu zu leisten sei und „mit Hilfe von gesellschaftlich (also durch ein Kollektiv oder vielmehr durch mehrere Kollektive) vorgegebenen, teilweise institutionalisierten und teilweise im Lauf der Sozialisation internalisierten Mustern“ (Rosenthal 2014, S. 510; im Original hervorgehoben) vonstattengehe. Zwar stelle sich im Laufe der Lebensgeschichte eine gewisse Verfestigung der dominanten Muster ein, doch betont sie, dass es immer wieder Anlässe (wie Krisen) gebe, in denen Modifikationen der internalisierten Muster vonnöten würden (vgl. ebd.), d. h. also auch: möglich seien. Die von Schütze (1981) entwickelten „Prozeßstrukturen des Lebenslaufs“ – als biografieanalytische Kategorien zur Erfassung der unterschiedlichen biografischen Relationierungen des für die Biografieforschung zentralen Verhältnisses von äußeren Ereignissen, Stukturen und Normen auf der einen und deren Verarbeitung im Akteur, bzw. in der Akteurin auf der anderen Seite – stellen ein Konzept dar, das die relative Konstanz grundlegender biografischer Strukturen erklären kann und gleichzeitig verschiedene Ansatzpunkte für Veränderungen bereithält. Schütze führte in den 1970er-Jahren im Zuge einer Gemeindezusammenlegung narrativ fundierte Interviews mit Lokalpolitikern durch (vgl. Schütze 1976). Anfangs interessierte sich Schütze – von Nohl (2004, S. 93) als „Nestor der deutschsprachigen Biographieforschung“ bezeichnet – hier noch nicht so sehr für die Biografien der Interviewten. Der Fokus lag hingegen darauf, wie die Kommunalpolitiker die Umstände der Gemeindefusion erlebten. Im Zuge seiner Auswertungen wuchs gleichwohl Schützes Interesse an den Gesamtbiografien, sodass er sich in der Folge der Analyse von Biografien sehr unterschiedlicher Akteure – z. B. eines Müllers und eines Soldaten – zuwandte (vgl. Nohl 2005, S. 2) und sukzessive die biografietheoretische Perspektive ausbaute. Aus der Beschäftigung mit den Lebensgeschichten seiner Interviewpartner6 arbeitete er formalanalytische Narrationsmechanismen heraus (siehe hierzu Abschn. 4.2.1) und entwickelte analytische Kategorien zur Erklärung von biografischen Verläufen, denen die Annahme zugrunde lag, dass sich in autobiografischen

6Soweit

ich dies überblicke, handelte es sich hierbei nur um Männer.

200

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Erzählungen mindestens ebenso die Art und Weise der internen „Erfahrungsaufschichtung“ (Schütze, z. B. 1983 u. 1984) wie der Einfluss äußerer Strukturen rekonstruieren ließe. Auf diese ‚biografischen Ordnungsstrukturen‘ (vgl. Schütze 1981), die er als „Prozeßstrukturen des Lebenslaufs“ (ebd.) bezeichnet – und insbesondere auf den für die bildungstheoretische Perspektive der vorliegenden Arbeit interessanten ‚biografischen Wandlungsprozess‘ – möchte ich im Folgenden etwas ausführlicher eingehen. Schütze (1983, S. 284) unterscheidet vier „elementare Formen dieser Prozeßstrukturen […], die im Prinzip (wenn auch z. T. nur spurenweise) in allen Lebensabläufen anzutreffen“ seien und „die als Typen von Lebensschicksalen gesellschaftliche Relevanz besitzen“ (ebd.): die institutionellen Ablaufmuster, die Handlungsschemata, die Verlaufskurve und den Wandlungsprozess (vgl. zum Überblick auch Schütze 1981).7,8 Während die Prozessstruktur der institutionellen Ablaufsmuster und -erwartungen des Lebensablaufs eine vorrangige Orientierung an gesellschaftlichen Institutionen und ihren festgelegten Abläufen und Normen beschreibt – Schütze (1981, S. 68) nennt dies auch „eine Gesamterwartung regelmäßiger sequenzieller Zusammenhänge des Lebenszyklus mit normativer Geltung“ –, liegt den biografischen Handlungsschemata eine interaktionistische Relationierung dieses Verhältnis zugrunde, in dessen Zuge der/die ‚Biografieträger*in‘ in einen kommunikativen Prozess zu anderen Menschen wie auch zur „eigene[n] Selbstidentität und/oder kollektive[n] soziale[n] Einheiten“ (ebd., S. 70) trete. Im Gegensatz zur Prozessstruktur der institutionellen Ablaufmuster liegt bei jener der Handlungsschemata im Spannungsfeld von Akteur und Struktur also das Heft des Handelns deutlicher aufseiten des Akteurs. Verlaufskurven stehen im Gegensatz hierzu für die am stärksten durch strukturelle Bedingungen geprägte Prozessstruktur, bei der die Geschehnisse als fremdstrukturiert erfahren werden und die „Ereignisse und Erlebnisse […] nicht im Bezugsrahmen eigener intentionaler Hervorbringung wahrgenommen und interpretiert werden“ (ebd., S. 89) können.9 Verlaufskurven können sowohl als Steigkurven als auch als 7Neben

diesen Prozessstrukturen von größerer Tragweite spricht Schütze auch von ‚kleineren‘, in ihrem Wirkungsgrad und zeitlich beschränkten Prozessstrukturen, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden soll. 8Nohl (2004, S. 113, FN 82) betont die empirische Fundierung dieser Kategorien, die Schütze „theoretisch kaum ausgearbeitet“ habe, womit ihnen nicht der Status grundlagentheoretisch fundierter Kategorien zukäme. 9Das Konzept der Verlaufskurve geht ursprünglich auf Anselm Strauss und Barney Glasers Krankenhausstudien zurück, mit dem sie den Krankheitsverlauf von unheilbaren Kranken im Endstadium beschrieben (Glaser und Strauss 1968).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

201

­ allkurven identifiziert werden (vgl. Nohl 2004, S. 95) – wobei Schütze in erster F Linie letztere, die „Verlaufskurven des Erleidens“ (vgl. auch Schütze 1995), als Zustand einer „permanenten Diskrepanz zwischen Aktivitätsplanung und -realisierung“ (Schütze 1984, S. 93) anhand der Lebensgeschichten „Arbeitsloser, Auswanderer, Alkoholiker und psychiatrischer Patienten“ (Schütze 1981, S. 101), von Menschen also, die gesellschaftliche Randpositionen zu bewältigen haben. Dem biografischen Wandlungsprozess kommt insofern ein besonderer Stellenwert zu, als Schütze damit biografische Prozesse fasst, bei denen „eine Umschichtung der lebensgeschichtlich-gegenwärtig dominanten Ordnungsstruktur des Lebensablaufs“ (ebd., S. 103) vollzogen wird. Die Ordnung, die die Prozessstrukturen des Lebenslaufs herstellen, versteht Schütze also nicht in statischer, unveränderlicher Art und Weise. Vielmehr sieht er in der „Lebensgeschichte […] eine sequentiell geordnete Aufschichtung größerer und kleinerer in sich sequentiell geordneter Prozeßstrukturen. Mit dem Wechsel der dominanten Prozeßstruktur im Fortschreiten der Lebenszeit ändert sich auch die jeweilige Gesamtdeutung der Lebensgeschichte durch den Biographieträger“ (Schütze 1983, S. 284).

Während Schütze einerseits die Sequenzialität der Prozessstrukturen betont, spricht er gleichzeitig vom hierarchischen Verhältnis, in dem die Prozessstrukturen zueinanderstehen können. Dies impliziert, dass mehrere Prozessstrukturen gleichzeitig in einer Biografie vorhanden sind, zu einem bestimmten Zeitpunkt jedoch jeweils eine Prozessstruktur die dominante darstellt. Im biografischen Wandlungsprozess vollzieht sich (in der Regel, jedoch nicht notwendiger Weise) auch eine Wandlung der oben genannten ‚Gesamtdeutung‘. Oft käme es im Zuge des Wandlungsprozesses „zur autobiographischen Thematisierung“, die „stets eine Umschichtung der biografischen Gesamtformung [beinhalte]“ (Schütze 1981, S. 103). Dies bringt den Wandlungsprozess in die Nähe des transformativen Bildungsprozesses (vgl. Kap. 3) – wie dies auch Marotzki (1990) herausgearbeitet hat, und ist somit für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse – nicht zuletzt, da Schütze selbst in späteren Arbeiten biografische Wandlung und Bildung gleichsetzt.10

10In

diesem „synonyme[n] Gebrauch“ sieht Nohl (2004, S. 93) den „(vorläufigen) Endpunkt einer Entwicklung, in der die rekonstruktive Sozialforschung und eine philosophisch begründete Bildungstheorie sich aufeinander zu bewegt haben“.

202

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Schütze legt sich mit den Prozessstrukturen des Lebenslaufs nicht handlungs- oder strukturtheoretisch fest, sondern präsentiert hier Kategorien, die verschiedene Formen der Relationierung von (innerer) ‚Erfahrungsaufschichtung‘ und (äußeren) Bedingungen bereithalten. Zwar ist letztere als Resultat der gemachten Erfahrungen, also auch der strukturellen Bedingungen zu betrachten, doch liegt der Fokus bei Schützes Perspektive – wie letztlich in allen biografietheoretischen Ansätzen – auf der Ebene der Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen des Akteurs. Zwar verweisen die Kategorien der Prozessstrukturen in unterschiedlichem Maße auf die Differenz zwischen Handlung und Struktur, doch kommt hier vor allem die jeweilige Gewichtung zur Geltung, wie diese Aspekte im Akteur strukturiert sind. Schütze kann so verschiedene biografische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsformen – d. h. Modi der Erfahrungsaufschichtung – dessen benennen, wie der einzelne Akteur sich im Verhältnis zur sozialen Struktur erfährt. Jedoch kann Schütze nicht in systematischer Weise herausarbeiten, wie diese zustande kommen.11 Auch vernachlässigt Schütze m. E. eine mittlere Ebene von Biografien zwischen Handlung und Struktur, also die Kollektivität wie beispielsweise Milieuzusammenhänge. Auf beides kann die praxeologische Wissenssoziologie strukturiertere Antworten geben.

4.1.2 Grundlagen der Praxeologischen Wissenssoziologie Die Dokumentarische Methode, wie sie Bohnsack entwickelt hat, greift zu großen Teilen auf Mannheims wissenssoziologische Arbeiten zurück, in denen er bereits Anfang der 1920er-Jahre von der dokumentarischen Methode der

11Zudem

scheint sein Fokus, wenn er konstatiert, die Lebensgeschichte sei „von den Deutungsmustern und Interpretationen des Biographieträgers entscheidend geprägt“ (Schütze 1983, S. 284), letztlich doch stärker auf dem Einfluss der Deutungsmuster des Individuums auf seine Lebensgeschichte als – in umgekehrter Richtung – auf der Entstehung der Deutungsmuster im Kontext der Lebensgeschichte mit all ihren strukturellen und kollektiven Bedingungen zu liegen. Dies wird auch dort deutlich, wo Schütze drei „Stoßrichtungen“ der Auswertung narrativer Interviews benennt und eine davon den Vorschlag beinhaltet, „auf der Grundlage der Erhebung, Transkription und ­Analyse einer autobiographischen Stegreiferzählung […] eine biographische Beratung mit dem Betroffenen“ (ebd., S. 293) durchzuführen. Eine solche Einzelfallauswertung kann dem sozialarbeiterischen Tun sicherlich dienlich sein, nicht aber der rekonstruktiven Sozial- und Bildungsforschung, die ihre Aussagekraft ja gerade aus der Generalisierbarkeit ihrer empirischen Ergebnisse gewinnt. (Zur Kritik an Schützes Interesse am Einzelfall siehe auch Nohl 2004, S. 112 ff.).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

203

­Interpretation (vgl. Mannheim 200412) sprach. Neben der Wissenssoziologie Mannheims, die in der Hauptsache den theoretischen Hintergrund der praxeologischen Wissenssoziologie stellt, flossen auch Bohnsacks (teils kritische) Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen des rekonstruktiven Paradigmas ein, etwa mit der Ethnomethodologie Harold Garfinkels. Als erster hatte Garfinkel Mannheims Begriff der dokumentarischen Methode wieder aufgegriffen und diese in einer ethnomethodologischen Fassung konzipiert (vgl. Bohnsack et al. 2013, S. 12) als eine Methode, „mit deren Hilfe die Handelnden das Problem der unaufhebbaren Indexikalität von alltagssprachlichen Ausdrücken und von Handlungen bewältigen“ (Meuser 2013, S. 231). Garfinkel betont, dass soziale Realität und das als ‚Normalität‘ Wahrgenommene nicht als an sich gegeben, sondern als Produkt der steten interaktiven Herstellung betrachtet werden müssten. Im Fokus steht dabei das Interesse an den ‚Ethnomethoden‘, ergo: den Methoden der Sinnzuschreibung des Alltags (vgl. z. B. Schäffer 2012). Mit dieser Analyseeinstellung rückt eine „singuläre Erscheinung (der indexikalische Ausdruck) […] als ein Dokument eines zugrunde liegenden Musters“ (ebd.) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Allerdings bleibt der ethnomethodologische Ansatz „auf die formalen und ubiquitären Strukturen dieser Praxis beschränkt“ (Bohnsack 2013a, S. 245) und ist zudem nicht in der Lage, „stratifikatorische oder soziallagenbedingte Differenzen der Herstellung von Ordnung [zu; S.T.] analysieren“ (Meuser 2013, S. 232 f.).13 In der heutigen Ausgestaltung der Dokumentarischen Methode Bohnsacks stellt die systematische Verknüpfung von Wissensbeständen mit der sozialen Lagerung hingegen eines der Grundprinzipien – um nicht zu sagen das Grundprinzip – dar. Zentral für diese Analyseperspektive der Dokumentarischen Methode ist Mannheims Einteilung der Wissensformen in kommunikativ-generalisiertes Wissen auf der einen und konjunktives Wissen auf der anderen Seite (vgl. Mannheim 198014, z. B. S. 211 ff., 264 ff., 285 ff.), wie er sie in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts im Zuge seiner Arbeiten „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“ (Mannheim 2004), „Strukturen des Denkens“ (1980) und „Ideologie und Utopie“ (199515) ausgearbeitet hat.

12Zuerst

erschienen 1921/1922. ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem ethnomethodologischen Ansatz siehe z. B. Bohnsack (2003a, S. 57 ff.). 14Zuerst erschienen 1922. 15Zuerst erschienen 1926. 13Zur

204

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

4.1.2.1 Zum kommunikativen und konjunktiven Wissen und dem konjunktiven Erfahrungsraum Bohnsack (2014a, S. 37) bezeichnet die Unterscheidung von kommunikativen und konjunktiven Wissensformen auch als „Leitdifferenz“ der Dokumentarischen Methode. Beim konjunktiven Wissen handelt es sich zumeist um ein atheoretisches Wissen (Mannheim 1980, S. 73 ff.), welches in die Handlungspraxis der Akteur*innen eingelassen ist und sich auf der Ebene eines als selbstverständlich angesehenen, ‚impliziten‘ oder ‚stillschweigenden Wissens‘ (Polanyi 1985) befindet. Obwohl dieses Wissen handlungsleitend ist, kann es in seiner vorreflexiven Eigenschaft von den Handelnden selbst nicht ohne weiteres expliziert werden (vgl. etwa Bohnsack et al. 2013, S. 12). Mannheim (1980), und Bohnsack daran anschließend, sprechen diesbezüglich von einem „intuitiven Erfassen“ bzw. „Verstehen“ (Bohnsack 2003a, S. 61; vgl. Mannheim 1980, S. 271), das die Handelnden verbindet. Diese konjunktive Eigenschaft der Erfahrung betonend, wird der soziale Handlungs- und Wissenszusammenhang, innerhalb dessen das konjunktive Wissen entsteht und wirkt, von Mannheim (1980, S. 215 ff.) als „konjunktiver Erfahrungsraum“ bezeichnet. Das konjunktive Wissen bezieht sich unmittelbar auf den Hintergrund der „Erlebnisschichtung“ (Mannheim 1964, S. 536) der Handelnden, die mit der praxeologischen Wissenssoziologie konsequent kollektiv gedacht ist.16 Das kommunikative Wissen hat hingegen die Verständigung und wechselseitige Interpretation (vgl. Mannheim 1980, S. 271; Bohnsack 2003a, S. 59 ff.) über die Grenzen konjunktiver Erfahrungsräume hinweg zum Ziel. Es verweist auf explizite Wissensbestände, die den Beteiligten reflexiv verfügbar und von der unmittelbaren Erfahrungsbasis ein Stück weit abstrahiert sind (vgl. Mannheim 1980, S. 289). Das kommunikativ-generalisierte Wissen hat somit theoretischen Charakter. Es „streift seine genetische Gebundenheit an einen bestimmten Erfahrungsraum ab“ und bezieht sich vielmehr – „relativ überkonjunktiv“ (ebd.) – auf „in einem [übergreifenden; S.T.] System festgelegte[…] Begriffe“ (ebd.) und ihre kommunikativen „Begriffsbedeutsamkeiten“ (ebd.).17

16Das

konjunktive Wissen entsteht im kollektiven Zusammenhang konjunktiver Erfahrungsräume und so ist unter der Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie die für Schütze zentrale ‚Erfahrungsaufschichtung‘ der Akteur*innen auch nie nur zwischen Handlung und Struktur aufgespannt, sondern vor allem von der kollektiven Strukturierung und Verankerung des Wissens geprägt (vgl. dazu weiter unten auch die Abschn. 4.1.2.1–4.1.2.3). 17Zum Überblick über die beiden Wissensformen siehe auch Bohnsack (2003a, S. 165 f.).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

205

Die Gemeinsamkeit der Erfahrung, über die der konjunktive Erfahrungsraum konstituiert wird, bezieht sich jedoch keinesfalls nur auf gemeinsames Erleben. Sie umfasst neben Erfahrungen, die sich in „interaktiver Kopräsenz“ (Meuser 2013, S. 225) vollziehen, auch strukturidentische Erfahrungen, bei denen eine Homologie der Erfahrung angenommen wird (vgl. Mannheim 1980, S. 222 ff., Bohnsack 2003a, S. 111). Mannheim (1964, S. 180) macht dies am Beispiel der Generationslagerung deutlich: „Von einer verwandten Lagerung einer zur gleichen Zeit einsetzenden Generation kann […] nur insofern gesprochen werden, als und insofern es sich um eine potentielle Partizipation an gemeinsam verbindenden Ereignissen und Erlebnisgehalten handelt. Nur ein gemeinsamer historisch-sozialer Lebensraum ermöglicht, daß die geburtsmäßige Lagerung in der chronologischen Zeit zu einer soziologisch-relevanten werde“.

Ein konjunktiver Erfahrungsraum kann also nicht über bloße äußerliche ‚Fakten‘ wie der Zugehörigkeit zu einer Generation, sondern nur dahin gehend bestimmt werden, ob diese Zugehörigkeit auch eine Gleichartigkeit des Erlebens mit sich bringt.18

4.1.2.2 Zur Seinsverbundenheit des Wissens und zur Einklammerung des Geltungscharakters Den Zusammenhang der Modi des Denkens und Handelns mit den konjunktiven Erfahrungsräumen – oder genauer: ihre (relative) Abhängigkeit – bezeichnet Mannheim auch als „Seinsgebundenheit des Denkens“ (Mannheim 1995, S. 73; kursiv im Original), bzw. „Seinsverbundenheit des Wissens“ (ebd., S. 229). Mit seinem Verweis auf die soziale Verfasstheit des Wissens macht er den Einfluss historisch-sozialer Strukturen auf das Wissen stark. So ist das Wissen immer auch eines, das durch soziale Gruppen und ihre gesellschaftliche Positionierung

18Nohl hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass letztlich nur empirisch analysiert werden kann, ob eine gemeinsame soziale Lagerung auch wirklich dazu führt, dass „Menschen derartige strukturidentische Erfahrungen machen“ (Nohl 2012b, S. 157) und welcher Art die kollektiven Wissensstrukturen tatsächlich seien, innerhalb derer „sie jene [Erfahrungen; S. T.] bewältigen“ (ebd.). Jedoch geht auch er davon aus, dass eine soziale Strukturierung des die Akteur*innen verbindenden Wissens existiert; diese – empirisch sich dokumentierende – soziale Strukturierung herauszuarbeiten ist im Rahmen der dokumentarischen Interpretation Gegenstand der soziogenetischen Typenbildung (vgl. ebd.). (Siehe zu den verschiedenen Formen der Typenbildung Abschn. 4.2.2.3).

206

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

strukturiert wird und in diesem Sinne „perspektivisch“ (Mannheim 1980, S. 213) ist. In der Metapher einer Landschaft erläutert Mannheim, dass auch die soziale Welt nur perspektivisch erfassbar sei und Forschende wie Alltagshandelnde notgedrungen einen „Ort im Raume“ (ebd., S. 212) einnehmen müssten, um zu einer Erkenntnis zu gelangen. Ohne einen solchen Standort „verschwände […] die Landschaft“ resp. „jener Gegenstand“ (ebd.) der Betrachtung. Mannheim (1995, S. 229) spricht diesbezüglich auch „von der ‚seinsverbundenen – oder standortgebundenen – Aspektstruktur‘ eines [jeden; S.T.] Denkers“. Die ‚Aspektstruktur‘ sieht Mannheim gleichermaßen im Alltagshandeln und dem ihm zugrunde liegenden Wissen sowie im Wissen und der Erkenntnis von sozialwissenschaftlich Forschenden (vgl. z. B. Bohnsack et al. 1995, S. 430) und schlussfolgert daraus die methodologisch-methodische Notwendigkeit einer „genetischen“ Analyseeinstellung (Mannheim 1980, S. 85) für den Forschungsprozess. Nicht das Was einer Handlung – den „objektiven Sinn“ (Mannheim 2004, S. 115) – gelte es zu erforschen, sondern das Wie – den „Dokumentsinn“ (ebd., S. 125). Diesem Perspektivwechsel folgend, geht es in der dokumentarischen Forschungspraxis darum, eine „Beobachterhaltung“ (Bohnsack 2007, S. 182) methodisch umzusetzen, „welche […] nicht lediglich die Common Sense Theorien nachzeichnen [kann]“ (ebd.), sondern darüberhinausgehend den „modus operandi, die Struktur der Handlungspraxis“ (Bohnsack 2013a, S. 246) rekonstruiert. Die hierfür nötige Analyseeinstellung bezeichnet Mannheim auch als „Einklammerung des Geltungscharakters“ (Mannheim 1980, S. 66 u. 88), welche das forschungsleitende Prinzip für die Dokumentarische Methode liefert. Bohnsack (2003a, S. 64) fasst den Kern dieses Prinzips als „Distanz gegenüber der Frage, ob die zu interpretierenden Darstellungen […] den Geltungskriterien der Wahrheit oder der normativen Richtigkeit entsprechen. Das heißt, es interessiert nicht, ob die Darstellungen (faktisch) wahr oder richtig sind, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden oder deren Orientierungen dokumentiert“.

Dieses praxeologisch-wissenssoziologische Prinzip der Einklammerung des Geltungscharakters ist grundlegend für die dokumentarische Forschungspraxis, bei deren Analyse es um „den Prozess der (erlebnismäßigen) Herstellung von Wirklichkeit“ (ebd.) geht und nicht darum, „[w]as diese Wirklichkeit jenseits des milieuspezifischen Er-Lebens ist“ (ebd.). Wie bereits erwähnt, hatte Mannheim auch die Erkenntnisse der sozialwissenschaftlich Forschenden als von der ‚Aspektstruktur‘ des Wissens betroffenes, ‚perspektivisches‘ Wissen gekennzeichnet. Auch dieses in seinem Geltungscharakter

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

207

einzuklammern, ist Teil der dokumentarischen Forschungspraxis – z. B. in Form der komparativen Analyse (vgl. Abschn. 4.2.2.2), mit der die Standortgebundenheit der Forschenden durch andere empirische Vergleichsfälle kontrolliert werden soll. An dem Gedanken der Standortgebundenheit der eigenen Forschung weiter ansetzend, möchte ich in der vorliegenden Arbeit das Prinzip der Einklammerung des Geltungscharakters nicht nur auf die – in einem politisierten, d. h. normativ aufgeladenem Kontext (vgl. Abschn. 3.1) verorteten – Orientierungen der Interviewten und auf die komparative Art und Weise der Interpretation anwenden, sondern – zumindest ansatzweise – auch auf die theoretischen Prämissen der eigenen Arbeit. Die in Kap. 3 begonnene (und in Kap. 7 fortzusetzende) Hinterfragung der impliziten und expliziten Normativität verschiedener Bildungsverständnisse, bei der auch vor dem eigenen Bildungsansatz nicht Halt gemacht wird, verstehe ich als Umsetzung dieses Prinzips, mit dem die eigene ‚Standortgebundenheit‘ des wissenschaftlich hergestellten Wissens, wenn schon nicht eingeholt, dann zumindest in gewissem Maße reflektiert wird.

4.1.2.3 Zum mehrdimensionalen Orientierungsrahmen Die Summe des konjunktiven Wissens bildet bei Mannheim (2004, S. 117) den „gesamt-geistigen ‚Habitus‘“, der also in umfassender Art und Weise das Denken und Handeln der Akteur*innen formt.19 Bohnsack schließt sich dem Konzept eines solchen umfassenden, „geistigen Gebilde[s]“ (Mannheim 1980, z. B. S. 101), das Mannheim „zwischen den Ebenen des Sozialen und Geistigen“ (ebd.) ansiedelt, an, findet aber einen eigenen Begriff für ein solches, die Praxis orientierendes Muster: den des „Orientierungsrahmens“ (z. B. Bohnsack 2003a, S. 201 u. 2010b). Als übergreifendes, „aus der kollektiven Sozialisationsgeschichte der Akteure, d. h. aus deren milieuspezifischen Bindungen, genauer: aus der Bindung an die ‚konjunktiven Erfahrungsräume‘ […] des Milieus, der Generation und des Geschlechts etc.“ (Bohnsack 2006a, S. 132) resultierendes Organisationsprinzip kommt dem Orientierungsrahmen in der praxeologischen Wissenssoziologie eine zentrale Rolle zu. Mit ihrem Fokus auf konjunktive, „habitualisierte[…] Wissensbestände“ (ebd.) steht im Zentrum dokumentarischer Forschung zumeist die Rekonstruktion und Typisierung verschiedener kollektiver Orientierungsrahmen (vgl. Abschn. 4.2.2.3). Das die Orientierungsrahmen formende, handlungsleitende Wissen hat vorreflexiven Charakter und strukturiert das routinierte, „habituelle Handeln“ (Bohnsack et al. 1995, S. 11) der Akteur*innen – ein Begriff, den

19Allerdings

arbeitet Mannheim den Habitus als Grundbegriff nicht weiter aus.

208

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Bohnsack in Auseinandersetzung mit Bourdieus Habitusbegriff eingeführt hat. Der Orientierungsrahmen konstituiert sich über „inkorporiert[e], d. h. in den modus operandi der körperlichen und sprachlichen Praktiken eingeschrieben[e]“ (Bohnsack 2006a, S. 132) Wissensbestände.20 Somit ist er in den Akteur*innen angesiedelt, bildet jedoch zugleich die kollektiv-soziale Strukturierung seiner Entstehung ab. Sowohl Mannheims Perspektive auf homologe Erfahrungen und das aus ihnen resultierende konjunktive Wissen als auch Bohnsacks daran anschließendes Konzept des kollektiv verfassten, das habituelle Handeln strukturierenden Orientierungsrahmens setzen also die Sozialität des Wissens und Handelns als Fundament. Zudem wird von der Überlagerung unterschiedlicher konjunktiver Erfahrungsräume ausgegangen. Im Rahmen der praxeologischen Wissenssoziologie entstandene Studien konnten dann den mehrdimensionalen Charakter der Orientierungsrahmen von Jugendlichen rekonstruieren. So wurde die Relevanz von Bildungsmilieu-, Generations- und Geschlechtsspezifika und sozialräumlichen Erfahrungsräumen (vgl. Bohnsack 1989) sowie solchen der Migrationslagerung (vgl. Nohl 2001) in ihrem Zusammenspiel empirisch analysiert, ohne dabei eine Dimension (a priori) zentral zu setzen. Das in generations-, geschlechts-, u. a. spezifischen Erfahrungsräumen, respektive Milieus (vgl. ebd.) (re-)produzierte Wissen gerät so ins Zentrum der Aufmerksamkeit dokumentarischer Forschungspraxis.

4.1.2.4 Zum Ideologiebegriff und der Besonderheit politischer Erfahrungs-zusammenhänge Den oben ausgeführten Ansatz der Seinsverbundenheit des Wissens weiterdenkend, ‚enttarnt‘ Mannheim (vgl. 1995, S. 50 ff.) schließlich ein jedes Denken und Wissen – das eigene inbegriffen – als ideologisch. In Bezug auf meinen Forschungsgegenstand ist dies von besonderem Interesse, weil sich hier ein Spannungsfeld auftut zwischen der Ideologiehaftigkeit von Orientierungen im politisierten Kontext sozialer Bewegungen und der generellen Ideologiehaftigkeit des Wissens, wie es Mannheim konstatiert. Dies wirft die Frage auf, inwiefern das politische Denken insbesondere ein ideologisches ist. Mannheim (1995, S. 70 ff.) führt hierzu zunächst einmal aus, dass „das Denken bei allen Parteien und in sämtlichen Epochen ideologisch“ und vom histo-

20Auch

in den Begriffen des ‚Modus Operandi‘ und der ‚Inkorporierung‘ zeigen sich Bohnsacks Bezüge auf Bourdieus Theorie der Praxis (siehe ausführlich dazu Abschn. 4.1.3).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

209

rischen „Denkstandort“ (ebd.) geprägt ist, womit er auf die historisch-soziale Verortung jeglichen Denkens und Wissens hinweist und dies dementsprechend als „wertfrei“ (ebd., S. 75 ff.) kennzeichnet. Abgesehen von der Ideologiehaftigkeit einer Epoche (der sich wohl niemand entziehen kann), ist die Rekonstruktion von Ideologie in Bezug auf das Verhältnis von Individuen und sozialen Gruppen in der Gesellschaft bei Mannheim – zunächst noch einmal ganz allgemein gesprochen – das Gegenteil von „einer immanenten Interpretation“ (ebd., S. 54). Er zielt damit auf jegliche Verallgemeinerungen in sozialer Interaktion ab, in deren Zuge man „den intendierten Gehalt […] nicht durch eine direkte verstehende Versenkung in das Gesagte zu erfassen versucht“ (ebd.), sondern diese „aus der Seinslage des Subjektes her erfaßt“ (ebd.). Gemeint ist hier also der Umstand, dass Äußerungen, Handlungen etc. (auch) vor dem Hintergrund dessen, wer sie aus welcher sozialen Stellung heraus tätigt, bewertet werden. Ideologie-rekonstruktives Denken, so Mannheim, würde „die sog. ‚Ideen‘ auf den Träger und dessen konkrete Lage im sozialen Raum [funktionalisieren]“ (ebd.; Kursivsetzung S.T.). Er räumt dabei ein, „daß zum Handeln eine bestimmte Selbsthyposthasierung nötig ist und dass auch die Aussageform im Denken stets zur Verabsolutierung zwingt“ (ebd., S. 76). Eine solche Ideologiehaftigkeit des Denkens und Wissens kennzeichnet er somit in gewisser Weise als Normalzustand.21 So ist dieser allgemeine, wertfreie Ideologiebegriff auch nicht originär politisch. Andersherum betrachtet, ist demnach jedoch auch kein Wissen originär unpolitisch; verweist Mannheim mit der Betonung der Perspektivität, der Abhängigkeit des Wissens von der Positionierung in der Gesellschaft, doch auf den sozialen ‚Standort‘, aus dem heraus wiederum politische Machtinteressen und Motivlagen entstehen. Nicht nur sei das Denken (und Wissen) kollektiv verfasst und standortgebunden, zugleich bestünde auch ein dialektisches Verhältnis der gesellschaftlichen Gruppen und ihrer Positionierungen zueinander: Gruppen handelten und dächten „mit- und gegeneinander“ (Mannheim 1995, S. 5). Dem konjunktiven Wissen wohnt also aufgrund seiner kollektiven Verfasstheit in sozialen Gruppen, die wiederum auf Machtverhältnisse verweisen, immer eine gewisse

21Es wurde bereits oben erwähnt, dass er dies auch für das Wissen und Denken der Forschenden konstatiert und für die Forschung schlussfolgert, was an anderer Stelle bereits als ‚Einklammerung des Geltungscharakters‘ bezeichnet wurde, nämlich, dass es nicht darum gehen könne, zu ermitteln, „welche von den Parteiungen recht hat, sondern […] die Genesis möglicher Wahrheit im Zusammenhang mit dem Sozialprozeß“ (ebd., S. 75) zu ergründen.

210

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Politizität inne22 – und auf Bildungsprozesse im politisierten Kontext sozialer (Protest-)Bewegungen kann dies sicherlich insbesondere gelten (vgl. hierzu auch Abschn. 3.1). Mannheim unterscheidet jedoch einen „partikularen“ von einem „totalen Ideologiebegriff“ (Mannheim 1995, S. 53). Während der partikulare Ideologiebegriff hinsichtlich einzelner Äußerungen und Handlungen von Menschen annimmt, „dass dieses oder jenes Interesse kausal zu jener Lüge oder Verhüllung zwingt“ (ebd., S. 55) und dies als „Funktionalisierung nur auf der psychologischen Ebene“ (ebd., S. 54) versteht, kennzeichnet er das totale Ideologieverständnis als eine Perspektive, die „die gesamte Weltanschauung des Gegners (einschließlich der kategorialen Apparatur) in Frage [stellt] und auch diese Kategorien vom Kollektivsubjekt her verstehen“ (ebd.) will. Der partikulare Ideologiebegriff bleibt hingegen an Individuen und ihre Erfahrungen gebunden, womit der „Erlebnisakt zum alleinigen Sitz der Ideologiebildung“ (ebd., S. 56) gemacht würde, was es wiederum nicht ermögliche, „das Individuum in der Richtung irgendeiner Kollektivität […] [zu] transzendieren.“ (ebd.). Anders stellt sich dies hingegen bei einer totalen Ideologie dar: Eine solche funktionalisiere eine bestimmte Idee „nicht auf ein psychologisches, reales, sondern auf ein ‚Zurechnungssubjekt‘ hin“ (ebd.). Mannheim macht die Bedeutung, die er hier dem Erfahrungsbezug hinsichtlich der Unterscheidung zwischen partikularem und totalem Ideologiebegriff beimisst, an anderer Stelle am Beispiel politischer Gruppierungen und ‚politischer Auffassungen‘ (Mannheim 1980, S. 77 ff.; s. u.) deutlich: „aus den verschiedensten individuellen Schicksalen und Erlebniszusammenhängen heraus kann man zur gleichen Auffassung und Verhaltensweise gegenüber den politischen Ereignissen geraten. Eine Übereinstimmung vieler Individuen aber […] würde, wenn sich diese Zufallsreihe noch so oft wiederholte, kein Gemeinschaftsbewusstsein zustande bringen. […] Gemeinschaftserlebnis entsteht nur dort und von dem Zeitpunkt an, wo die verschiedenen Individuen zumindest gewissen äußeren Schicksalen gegenüber (in unserem Beispiel: dem Politischen gegenüber) denselben Erlebniszusammenhang in sich vollziehen.“

22Mannheims

Ausführungen zur Politizität des Wissens wurde im Rahmen der dokumentarischen Forschungspraxis bislang wenig aufgegriffen (eine erste Ausnahme bildet hier Nohl 2009). Unter der Perspektive auf den „impliziten modus operandi kommunikativen Wissens“ (Nohl 2016c) untersucht Nohl die von Mannheim benutzten Begriffe der ‚Ideologie‘, des ‚Denkstils‘, der ‚Denkweise‘ u. a. eingehender, die in der Rezeption durch die dokumentarische Methode bisher kaum vorkommen.

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

211

Ähnlich wie bei dem Beispiel zum Generationenzusammenhang sieht Mannheim einen politischen „Erlebniszusammenhang“ oder einen auf das ‚Politische‘ bezogenen konjunktiven Erfahrungsraum nur dort, wo homologe Erfahrungen „dem Politischen gegenüber“ (s. o.) gemacht wurden. Die obige Feststellung, dass dem konjunktiven Wissen eines Erfahrungsraums immer auch eine gewisse Politizität innewohnt, bedeutet im Umkehrschluss also nicht, dass alle, die eine ‚politische Auffassung‘ teilen, sogleich demselben konjunktiven Erfahrungsraum angehören. Mannheim behandelt einen solchen, auf das Politische bezogenen Erfahrungsraum hier zunächst nicht anders als jeden anderen Erfahrungsraum auch. Jedoch kann das ‚Politische‘ resp. Ideologische in einem politisierten Erlebniszusammenhang von der individuellen – psychologischen, wie Mannheim dies fasst (s. o.) – Erfahrungsbasis abheben und ein Kollektivsubjekt ausprägen, wie Mannheim (1980, S. 78) in der Fortführung des oben begonnenen Gedankens deutlich macht: „Aus diesen gemeinschaftlich vollzogenen Erlebnisstrecken, die das Individuum in solchen Fällen ganz explizit nicht als die seinen, sondern als der Gemeinschaft angehörig erlebt, steigen dann jene Gebilde hervor, die man politische Ideologien, Parteiprogramme usw. nennt.“

Mannheim konstatiert hier, dass der konjunktive Erfahrungsraum die individuelle – aber durchaus kollektiv geteilte – Erfahrungsbasis verlassen und zu ‚politischer Ideologie‘ werden kann. Bei letzterer erlebe sich „das einzelne Individuum in sich die Funktionalität […] gegenüber der Gemeinschaft“ (ebd.), es entwickle ein „Bewußtsein davon, daß es nicht nur seine Lebensstrecke beschreitet und daß die entstehenden Gebilde als Funktionen des Gemeinschaftsstromes genommen werden“ (ebd.) müssten. Während das Wissen, das aus konjunktiven Erfahrungsräumen resultiert, zwar kollektiv strukturiert ist (aber nicht notwendiger Weise von den Einzelnen so wahrgenommen wird), beschreibt Mannheim dies in Bezug auf politische Ideologie und politische (Partei-)Zugehörigkeit also genau umgekehrt: Der/die Einzelne handelt und denkt „nicht nur im eigenen Namen, sondern im Namen aller“ (ebd.) zur jeweiligen Gruppierung gezählten (ebd.). Dieses Denken und Wissen stellt insofern eine totale Ideologie dar, als sich hier „von selbst all jene Motivationszusammenhänge aus[schalten], die aus ganz anderen Reihen, z. B. aus seiner individuell zufälligen Existenz herrühren“ (ebd.). So erfasse das Individuum sich selbst und seine ‚Ideen‘ als Teil „des Gemeinschaftsstromes“, für das Erleben [würde; S.T.] „[…] die Funktionalität gewisser Ideologien nicht dem eigenen Schicksal, sondern dem gemeinsamen Schicksal gegenüber erlebt“ (ebd., S. 78).

212

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Mannheim zieht hier also eine Unterscheidungslinie zwischen zwei Formen von politischem Denken ein: Während auf der einen Seite ein auf gemeinsamen Erfahrungen im Kontext des ‚Politischen‘ basierendes Denken und Wissen steht, wird diesem ein solches Wissen und Denken entgegengesetzt, dass sich von der eigentlichen Erfahrungsbasis gelöst hat und (im Sinne des totalen Ideologiebegriffs) von einer politischen Haltung und Zugehörigkeit dominiert ist, die ein ‚Kollektivsubjekt‘ über das Individuum mit seinen real gemachten Erfahrungen stellt. An diesen Gedanken von Mannheim anschließend, schlussfolgert Nohl (2009, S. 300), dass die Anbindung oder eben Loslösung von der praktischen Erfahrung ein immanentes Kriterium darstellen kann, um „die Angemessenheit politischen Wissens“ zu beurteilen. Nicht nur weist Mannheim mit dieser Differenzierung von Arten des politischen Denkens und Wissens also Ansätze für politische Bildung aus, zudem steckt er das Spannungsfeld ab, in dem sich das Wissen im Kontext des ‚Politischen‘ bewegt: Während einerseits jedes Denken ideologisch ist und in gewisser Weise Verallgemeinerungen selbstverständlicher Teil der Handlungspraxis sind (vgl. Mannheim 1980, S. 76), so müsse es andererseits darum gehen, den Bezug zur Erlebnisbasis zu behalten und immer wieder neu herzustellen, in Mannheims Worten: „Selbsthyposthasierungen immer wieder rückgängig“ (ebd.) zu machen, „um auf diesem Wege ein Offensein zur Ergänzung zu erzwingen“ (ebd.; kursiv im Original). Diese ‚Offenheit für Ergänzungen‘ trägt neu gemachten Erfahrungen Rechnung, die vorgängigen Erfahrungen womöglich widersprechen. Im totalen ideologischen Denken sieht Mannheim diese Flexibilität jedoch nicht (mehr), gerade weil es zu großen Teilen von der Erfahrung abstrahiert ist. Prägnant fasst Mannheim (1995, S. 34) dies andernorts zusammen: „Während das Wissen, das neuen Tatsachen Rechnung tragen will, stets seinen experimentellen Charakter bewahren muß, kann sich das von einer politischen Haltung beherrschte Denken nicht erlauben, ständig an neue Erlebnisse angepasst zu werden.“

Mit diesen Gedanken Mannheims lässt sich also nicht nur das politisch-ideologische Denken und Wissen an das nicht politische (mit Mannheim ebenfalls ideologische) Denken anschließen, sondern zudem das Spannungsverhältnis von tradiertem Wissen, neuen Erfahrungen und dem Kontext des ‚Politischen‘ umreißen. Schon mit seinem Verweis auf die generelle Seinsverbundenheit des Wissens hatte Mannheim nahegelegt, das Wissen eines Akteurs nicht als individuelles zu begreifen, sondern als soziales Wissen, in das dessen Positionierung in der Gesell-

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

213

schaft und damit einhergehende politische Motivlagen eingelassen sind. Mit seiner Unterscheidung der beiden Formen von Ideologie kann er darüber hinaus ein Instrumentarium zur Identifizierung verschiedener Formen des Wissens in einem explizit politisierten Kontext wie jenem der sozialen Bewegungen liefern. Im Zentrum der Analyse der vorliegenden Arbeit steht zwar der Prozess der Transformation des handlungsleitenden Wissens der Akteur*innen und nicht dessen inhaltliche Qualifizierung – zudem lege ich hier einen Bildungsbegriff an, der auf qualifizierende Beschränkungen dessen, was Bildung in inhaltlicher Hinsicht, d. h. über die Habitustransformation hinaus, ist oder sein kann, verzichtet – doch kann die Unterscheidung der beiden Ideologieformen des Wissens auch zur Prozesserhellung beitragen. So scheint es durchaus lohnenswert, das im Kontext sozialer Bewegungen zu transformierende und transformierte Wissen daraufhin zu überprüfen, inwiefern es auf seine Erfahrungsbasis verweist oder sich – zugunsten der von Mannheim so bezeichneten „Funktionen des Gemeinschaftsstromes“ (Mannheim 1980, S. 77) – von ihr losgelöst hat, bzw. am Prozessverlauf zu rekonstruieren, wo und in welcher Weise eine solche potenzielle Loslösung stattfindet.23

4.1.3 Bourdieus Habitusbegriff und die praxeologischwissenssoziologische Perspektive Nachdem ich soeben die Grundlagen und Grundbegriffe der Praxeologischen Wissenssoziologie erläutert habe, möchte ich im Folgenden Grundzüge von Bourdieus Habitustheorie erläutern, an die die habitustheoretische Auslegung des transformativen Bildungsbegriffs, wie ich sie der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt habe, anschließt. Der Fokus der Darstellung soll dabei auf der Anschlussfähigkeit der praxeologischen Wissenssoziologie und Bourdieus Kultursoziologie, insbesondere seiner Konzeption des Habitus, liegen. Zwischen der praxeologischen Wissenssoziologie und Bourdieus Kultursoziologie lassen sich vielfältige Gemeinsamkeiten identifizieren. Erstere operiert, wie bereits ausgeführt, vorrangig mit dem Konzept des Orientierungsrahmens. Oftmals wird dieser jedoch mit dem Habitus gleichgesetzt oder zumindest „weitgehend synonym verwendet“ (Bohnsack 2006a, S. 132).24 Die Annahme

23In

Kap. 7 habe ich dieses Unterfangen in erkundender Weise begonnen. neueren Arbeiten differenziert Bohnsack (2012, 2014a) beide Konzepte und konzipiert den Orientierungsrahmen dahin gehend als Erweiterung von Bourdieus Habitusbegriff, dass er umfassender sei und mehrere methodologische Anschlüsse zulasse. In der vorliegenden Arbeit beschränke ich mich aber auf frühere Arbeiten Bohnsacks. 24In

214

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

„dass sich in dem modus operandi von Praktiken ‚der individuelle oder kollektive ‚Habitus‘‘ […] dokumentiert“, kann, so Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 164), als übergreifende Gemeinsamkeit der meisten im Kontext der Dokumentarischen Methode entstandenen Arbeiten gelten. Verschiedene Arbeiten haben die Anschlussfähigkeit von dokumentarischer Methode und Bourdieus Habituskonzept zudem bereits theoretisch hergestellt und empirisch nachgewiesen (vgl. u. a. Michel 2006; Rosenberg 2011; Geimer 2010a und b; Kramer 2011; Kramer et al. 2013; Nohl et al. 2015a). Im Folgenden möchte ich diese Schnittstelle etwas genauer betrachten, indem ich Bourdieus habitustheoretische Grundannahmen darlege und diese mit den theoretischen Prämissen und Grundbegriffen der praxeologischen Wissenssoziologie zusammenbringe.25 Bourdieus Habitustheorie und die praxeologische Wissenssoziologie blicken beide auf einen gemeinsamen „theoriegeschichtliche[n] Schnittpunkt“ (Rosenberg 2011, S. 95; vgl. auch Bohnsack 2003a, S. 151) zurück. Bei der Entwicklung des Habitusbegriffs bezieht sich Bourdieu auf die Ausarbeitungen des Kunsthistorikers Erwin Panofski, der seinerseits die Schriften Mannheims rezipiert hatte, welche wiederum ihrerseits – wie bereits oben ausführlich dargelegt – maßgebliche Grundlage der praxeologischen Wissenssoziologie Bohnsacks darstellen (vgl. ebd.). Eingangs wurde bereits die praxeologische Perspektive als Gemeinsamkeit der beiden Ansätze benannt. Ebenso wie die praxeologische Wissenssoziologie geht auch Bourdieu in seiner im „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (1979) entfalteten und später in „Sozialer Sinn“ (1993) fortgesetzten praxeologischen Perspektive von der Annahme aus, dass soziale Strukturen in der individuellen und kollektiven Handlungspraxis von Akteur*innen wirken. Bourdieu räumt so der Praxis in der sozialwissenschaftlichen Analyse einen zentralen Stellenwert ein. Ähnlich wie Mannheim mit dem konjunktiven Erfahrungsraum – vielleicht etwas pointierter (vgl. Meuser 2013) – konzipiert Bourdieu den Habitus als Überwindung des Dualismus von Subjektivismus und Objektivismus in den Sozialwissenschaften. Mit der ‚praxeologischen Erkenntnisweise‘ (vgl. Bourdieu 1979, S. 147) rückt er den „doppelte[n] Prozeß der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität“ (ebd.) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dem

25Dabei

gilt es zu beachten, dass ich Bourdieus theoretisches Werk nicht umfassend behandeln kann und seinem Habitusbegriff – und weiteren damit verknüpften Begrifflichkeiten – in der vorliegenden Arbeit eher den oben bereits erwähnten Stellenwert „zentrale[r] Grundbegriffe, die allerdings theoretisch verankert sind“ (Nohl 2016a, S. 111, FN 5) zukommen lasse.

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

215

Habitus als „System dauerhafter […] Dispositionen […], der, alle vergangenen Erfahrungen integrierend, wie eine Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix funktioniert“ (ebd.) kommt dabei eine zweifache Funktion zu: Er ist sowohl Produkt – das „opus operatum“ (ebd., z. B. S. 171) – der gesellschaftlichen Praxis als auch ihr Erzeugungsprinzip – der „modus operandi“ (ebd., z. B. S. 189). Gesellschaft wird so auch hier, ebenso wie in der praxeologischen Wissenssoziologie, in den Akteur verlagert und (re-)produziert sich in der sozialen Praxis der Handelnden. Diese vermittelnde Funktion des Habitus führt Bourdieu (ebd., S. 165) weiter aus und bezeichnet die verschiedenen Habitus übergreifend als: „strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein“.

Mit dem Habitus, der also sowohl als strukturierte Struktur das Opus Operatum von Praxis als auch als strukturierende Struktur den Modus Operandi der Praxis darstellt, kann das Fortwirken gesellschaftlicher Strukturen erklärt werden, ohne dass hierzu ein*e rationale*r Akteur*in benötigt würde. Bourdieu betont so die Wirkmächtigkeit sozialer Struktur und zugleich die produktive Funktion des Habitus als „generative[s] Prinzip“ (ebd., z. B. S. 149) von Praxisformen.26 Als eine entscheidende Gemeinsamkeit von Bourdieus Habituskonzept (und der dahinter stehenden Theorie der Praxis) und der Bohnsackschen praxeologischen Wissenssoziologie (die sich, wie bereits dargelegt, zu großen Teilen auf Mannheims Wissenssoziologie stützt) kann folglich die „Repräsentation sozialer Strukturen im Wissen“ (Meuser 2013, S. 223) gelten. Wie der konjunktive Erfahrungsraum, so stellt auch der Habitus letztlich eine „wissenssoziologische Kategorie“ (ebd., S. 223) dar, die ein zumeist atheoretisch-implizites Wissen, bzw. einen „praktischen Sinn“ (Bourdieu 1993) bezeichnet, den die Akteur*innen inkorporiert haben. Hier findet sich eine Analogie zur ‚Beobachterhaltung‘ nach Mannheim, mit der der dokumentarische Sinn fokussiert wird. Bohnsack (2013b, S. 196) hebt hervor, dass in beiden Traditionen der „Gegenstand der empirischen Analyse […] das in Dokumenten oder Produkten (Texten und

26An

der Frage, in welchem Ausmaß der Habitus von der sozialen Struktur determiniert ist, scheiden sich die Geister und Disziplinen. Rieger-Ladich (2005) hält die stärker deterministisch ausgelegten Lesarten von Bourdieus Werk für einseitig fehlerhaft (ebenso: Liebau 2006). Auch in der vorliegenden Arbeit wird ein stärker dynamisch ausgelegtes Verständnis des Habitus präferiert. (Siehe hierzu ausführlich Abschn. 4.1.4).

216

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Bildern) der Alltagspraxis (also im „opus operatum“) gespeicherte implizite, inkorporierte Wissen“, der Modus Operandi, ist. Auch Bourdieu vollzieht also einen Wechsel der Analyseeinstellung „von der statistischen Regelmäßigkeit […] zum Erzeugungsprinzip dieser observierten Ordnung“ (Bourdieu 1979, S. 164; kursiv im Original). Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit steht so der Modus Operandi des Habitus als Erzeugungsprinzip von Praxis, was mit dem Fokus der praxeologischen Wissenssoziologie auf dem Modus Operandi der Struktur der Handlungspraxis (vgl. z. B. Bohnsack 2013a, S. 246) korrespondiert. Bohnsack (2013b, S. 196) konstatiert hierzu: „Wesentlich für diese Analyseeinstellung oder Beobachterhaltung ist in beiden Traditionen der Bruch mit den Vorannahmen des Common Sense und der Illusion des zweckrationalen, normorientierten und in diesem Sinne deduktiven Handelns“. Er hebt jedoch auch einen Unterschied zwischen Habitus und konjunktivem Erfahrungsraum hervor: Während die (praxeologische) Wissenssoziologie die habituelle Übereinstimmung, also die Konjunktion zentral setze, so stünde bei Bourdieus Habituskonzept die Distinktion im Vordergrund (vgl. Bohnsack 2003a, S. 68). Rückt mit Mannheim also vorzüglich die innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums bestehende Gemeinsamkeit in den Blick, so werden mit Bourdieus Theorieangebot Unterschiede und soziale Ungleichheiten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sowie die Dynamik zwischen Habitus und gesellschaftlicher Struktur verstärkt in den Mittelpunkt gestellt. Trotz dieser Annäherung an die Praxis von unterschiedlichen theoriegeschichtlichen Perspektiven aus beschreiben Habitus und konjunktiver Erfahrungsraum letztlich aber etwas ganz Ähnliches: Auch Bourdieu (1979, S. 188) konstatiert – ähnlich wie Mannheims Aussagen in Bezug auf den konjunktiven Erfahrungsraum – eine „Homologiebeziehung […] zwischen den Habitusformen der Mitglieder einer selben Gruppe oder Klasse“. So könne „zwar ausgeschlossen werden, dass alle Mitglieder ein und derselben Klasse (oder selbst nur zwei von ihnen) dieselben Erfahrungen – und zumal in gleicher zeitlicher Ordnung – gemacht haben; ebenso sicher ist aber auch, dass jedes Mitglied derselben Klasse sich mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als jedes Mitglied einer anderen Klasse in seiner Eigenschaft als Akteur oder Zeuge den für die Mitglieder dieser Klasse häufigsten Situationen konfrontiert sieht“.

Die Mitglieder einer ‚Klasse‘ oder ‚Gruppe‘ müssen laut Bourdieu nicht unbedingt „dieselben Erfahrungen“ (s. o.; Kursivsetzung S.T.) gemacht haben, dennoch gleichen sich die „grundlegenden Strukturen“ (ebd.), deren „Produkt“ (ebd.) der Habitus der Mitglieder einer Klasse ist. Bourdieu kennzeichnet diesen

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

217

Zusammenhang als eine „für die gesellschaftlichen Bedingungen der Erzeugung dieser Habitusformen charakteristische Verschiedenheit in der Gleichartigkeit“ (ebd., S. 188; Kursivsetzung S.T.). So existierten zwar „singuläre[…] Weltsichten“ (ebd.) und „Erfahrungen“ (ebd., S. 187), diese fügten sich jedoch in den übergreifenden Gruppen-, bzw. Klassenhabitus und stellten lediglich eine Variation desselben dar. Er macht damit deutlich, dass seine Theorie zwar einzelne ‚organische Individuen‘ (vgl. ebd., S. 187) und ihre subjektiven Erfahrungen kennt, jedoch die Gleichartigkeit der Erfahrungen (bzw. der Erfahrungen produzierenden Situationen), die „allen Mitgliedern derselben Gruppe oder Klasse gemein“ (ebd., S. 188) seien, zentral setzt. Während sich Bourdieus und Mannheims Ausführungen zur Homologie der Habitusformen bzw. des konjunktiven Wissens auf den ersten Blick gleichen, scheint aber auch hier bei näherer Betrachtung ein unterschiedlicher Fluchtpunkt auf: Mannheims Fokus auf konjunktive Erfahrungsräume legt sich nicht darauf fest, welcher Art die Gruppe ist, die einen solchen teilt, sondern definiert diesen von den homologen Erfahrungen her. Bourdieu hingegen setzt voraus, dass innerhalb einer sozialen ‚Gruppe‘ oder ‚Klasse‘ – und erstere nennt er nie ohne letztere, wohl aber anders herum – zwar durchaus unterschiedliche subjektive Erfahrungen vorliegen, diese aber übergreifend durch die gruppen-, vornehmlich klassenspezifische Struktur, welche auf die Verfügbarkeit von Kapitalien verweist (vgl. Bourdieu 1983), strukturiert seien (vgl. hierzu auch Amling 2015, S. 31). Die Einzelerfahrungen stellen also vorrangig Variationen desselben Klassenhabitus dar. Mannheims Beispiel des Generationenzusammenhangs steht gewissermaßen quer zu dieser Perspektive: die von Bourdieu benannte Verschiedenheit (der subjektiven Erfahrungen) in der Gleichartigkeit (der klassenspezifischen Lagerung) präsentiert sich in Mannheims Beispiel vielmehr in umgekehrter Richtung als eine Gleichartigkeit (von Generationsangehörigen) in der (unterschiedliche soziale Klassen übergreifenden) Verschiedenheit. Dieser – hier nur an wenigen Zitaten herausgearbeitete – Unterschied, der zunächst einmal nur ein Unterschied der Blickrichtung ist, schlägt sich jedoch auch in der empirischen Fundierung von Bourdieus theoretischen Aussagen nieder. So kritisiert Meuser (2013, S. 228), Bourdieu habe „[s]tatt die habitustypische Verknüpfungslogik von sozialer Lage und dieser korrespondierenden ‚Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix‘ […] interpretativ zu entschlüsseln, […] aus statistischen Verteilungen auf das Obwalten eines Habitus“ (Meuser 2013, S. 228) geschlossen und folglich die rekonstruktive Methodik „nicht konsequent“ angewandt. Ebenso wie Meuser macht auch Amling (2015, S. 29 ff.) stark, dass nur mit empirischen Rekonstruktionen nachgewiesen werden könne, ob die so konstatierten Gemeinsamkeiten für die Akteur*innen auch „tatsächlich handlungspraktisch

218

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

relevant“ (ebd., S. 30; kursiv im Original) seien. Bohnsack rekurriert auf diesen Umstand, wenn er Bourdieus Interpretation im Anschluss an Mannheim (1980, S. 87) als „kausal-genetische“ (Bohnsack 2003a, S. 152) kennzeichnet. Unterschiede im Lebensstil würden einseitig kausal der Klassenzugehörigkeit zugerechnet, dabei aber die „Grundlage des Erlebens der Klassenangehörigen“ (ebd.; kursiv im Original) vernachlässigt. So bleibe es denn bei Bourdieu „empirisch auch weitgehend ungeklärt […], wie bspw. der klassenspezifische Habitus gender- und generationenspezifisch überlagert und modifiziert wird“ (Bohnsack 2013b, S. 196).27 Mit der praxeologischen Wissenssoziologie lassen sich auch Erfahrungshintergründe als primär praxisrelevant denken, die nicht klassenspezifisch – d. h. vorrangig an Kapitalien gebunden – sind. Die dokumentarische Interpretation zielt – wie in Abschn. 4.1.2 bereits dargelegt – statt der ‚kausalgenetischen‘ auf eine soziogenetische Interpretation, d. h. auf rekonstruktive Typenbildungen, für deren Erarbeitung unterschiedliche Dimensionen in ihrem Zusammenspiel berücksichtigt werden (vgl. Abschn. 4.2.2.3 in diesem Kapitel). Der Habitus wird mit der praxeologischen Wissenssoziologie also nicht einseitig klassenspezifisch interpretiert, sondern vielmehr mehrdimensional gedacht. Aufgrund ihrer „Annahme einer Mehrdimensionalität des Habitus oder der Überlagerung verschiedener Habitus oder ‚konjunktiver Erfahrungsräume‘“ (Amling 2015, S. 32; kursiv im Original) ist die praxeologische Wissenssoziologie prädestiniert, das Habituskonzept auch bildungstheoretisch anschließbar zu machen. Aus der Kritik dessen, dass sich der Habitus bei Bourdieu eher eindimensional präsentiert (vgl. hierzu auch Bohnsack 2003a, S. 152 f.; Rosenberg 2011, S. 76), sollte allerdings keinesfalls der Schluss gezogen werden, das Kind mit dem Bade ausschütten und die Bedeutung sozialer Klassenzugehörigkeit und anderer Machtverhältnisse für nichtig zu erklären. Bourdieu trägt mit dem Habitus, der Betonung seiner Trägheit – dem sogenannten „Hysteresis-Effekt“ (z. B. Bourdieu 1997, S. 238 f.) – und der Kapitelsortentheorie (vgl. Bourdieu 1983) der sozialen Struktur und der von ihr hervorgebrachten Ungleichheit mehr Rechnung als die (praxeologische) Wissenssoziologie.28 Dem Habitus attestiert Bourdieu (2001, S. 220) eine „außerordentliche Trägheit […], die aus der Einschreibung

27Meuser

(2013, S. 229) weist jedoch auch darauf hin, dass Bourdieu sich „[i]n neueren Arbeiten […] einer soziogenetischen Interpretation anzunähern“ scheint. 28Auf Bourdieus Kapitalsortentheorie gehe ich in der vorliegenden Arbeit nicht weiter ein. Hier läge ein Ansatzpunkt, um der bildungstheoretischen Ausrichtung (von Bildung als Habitustransformation) eine stärkere Schlagseite in Richtung sozialer Ungleichheitsforschung und symbolische Kämpfe zu geben (vgl. Koller 2009).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

219

der ­sozialen Strukturen in die Körper resultiert“. Diese ‚Einverleibung‘ der sozialen Strukturen bezeichnet er auch als „körperliche […] Hexis“, die als „einverleibte[r] Mythos, die dauerhafte Art und Weise, sich zu geben, zu sprechen, zu gehen, und darin auch: zu fühlen und zu denken“ (Bourdieu 1979, S. 195; kursiv im Original) präge. Auch für die praxeologische Wissenssoziologie ist, wie bereits in Abschn. 4.1.2 ausgeführt, die Annahme der Inkorporierung des konjunktiven Wissens zentral (vgl. z. B. Bohnsack 2006a, S. 132). Dies resultiert jedoch aus Bohnsacks Auseinandersetzungen mit Bourdieu und ist kein originärer Fokus von Mannheim gewesen. Meuser (2013, S. 227) zufolge weist Bourdieu mit dieser dezidiert „körpersoziologische[n] Fundierung des praktischen Verstehens […] einen Weg, wie die Struktur des atheoretischen oder vortheoretischen Modus der konjunktiven Erfahrung, von dem Mannheim spricht, einer genaueren Klärung zugeführt werden kann.“ Das Konzept der Inkorporierung erklärt jedoch nicht nur die Beschaffenheit des atheoretischen Wissens und die (relative) Einheitlichkeit des Individuums bei unterschiedlichsten Rollenanforderungen des Sozialen (vgl. Krais und Gebauer 2002, S. 63 ff.), Bourdieu liefert mit dem Konzept der „Einverleibung einer Herrschaftsbeziehung“ (Bourdieu 2001, S. 216; Kursivsetzung S.T.) auch Anhaltspunkte für die Perpetuierung symbolischer Ordnung und Macht (vgl. ebd., S. 220 ff.). Diese setze sich in der Praxis insbesondere deshalb so nachhaltig fort, weil sie „ihre Wirksamkeit nicht in der reinen Logik erkennenden Bewusstseins, sondern in dunklen Dispositionen des Habitus“ zöge, aus denen „eine sich selber undurchsichtige Beziehung praktischen Erkennens und Anerkennens“ (ebd., S. 218) hervorginge. Bourdieu betont hier die vorreflexive Ebene des Habitus und gibt ihm zugleich eine sehr existenzielle Ebene, die nicht einfach durch Reflexion oder einzelne neue Erfahrungen abzustreifen ist. Vielmehr würde sich der Körper – mitunter trotz gegenteiliger Anweisungen des Bewusstseins – mit „der Gewalt der den Gesellschaftsstrukturen inhärenten Zensuren“ (Bourdieu 2001, S. 217) solidarisieren; Bourdieu (ebd.) nennt diesbezüglich Beispiele wie „Scham, Schüchternheit, Ängstlichkeit, Schuldgefühle“. Trotz Bourdieus dezidierter Betonung der Insistenz des Habitus zur Aufrechterhaltung seiner sozialen Strukturiertheit und damit einhergehenden symbolischen Ordnungen, hält er den Habitus dennoch durchaus für transformierbar (wie im folgenden Abschn. 4.1.4 deutlich werden wird). Jedoch verweist er dadurch, dass er der Leiblichkeit einen zentralen Platz gibt, darauf, dass diese Transformation voraussetzungsvoll ist und nicht durch bloße „Bewusstwerdung“ (ebd., S. 220) vonstattengehen kann. Gegen die einverleibte Struktur bewirke „nur eine wahre Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Training wiederholte Übungen einschließt, eine dauerhafte Transformation des Habitus“ (ebd.).

220

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

4.1.4 Zur Transformierbarkeit des Habitus Der Konzeption von Bildung als Habitustransformation liegt die Annahme ihrer Möglichkeit zugrunde. Diese Feststellung scheint banal, jedoch ist sie angesichts manch enggeführter Lesarten des Habitus, die in der Erziehungswissenschaft lange dominierten und sie auf Distanz zum Habituskonzept hielten, durchaus erwähnenswert.29 So wurde die oben bereits genannte, von Bourdieu als Hysteresis bezeichnete Annahme der Trägheit des Habitus von erziehungswissenschaftlicher Seite lange Zeit deterministisch rezipiert. Auch Bourdieus „Zurückweisung der autonomen Instanz eines […] Subjektes“ (Nohl et al. 2015a, S. 223) – etwa, wenn er „die Geschichte eines Individuums [als; S.T.] nie etwas anderes als eine gewisse Spezifizierung der kollektiven Geschichte seiner Gruppe oder Klasse“ (Bourdieu 1979, S. 189) kennzeichnet – hat dem Habituskonzept den Vorwurf des Determinismus eingebracht. Doch hält Bourdieu selbst durchaus auch Ansätze bereit, die es erlauben, die Transformation des Habitus zu denken, und sieht in ihm keinesfalls nur das überdeterminierte Produkt sozialer Strukturen, sondern zugleich auch das Erzeugungsprinzip für anschließende ‚Korrekturen‘ (vgl. Bourdieu 2001, S. 209) oder sogar „eine dauerhafte Transformation des Habitus“ (ebd., S. 220). Denn trotz der Beharrungskräfte des Habitus, seien die habituellen Dispositionen „einer Art ständiger Revision unterworfen“ (ebd., S. 207).30 In der Erziehungswissenschaft mehren sich daher diejenigen Rezeptionen des Habituskonzepts, die neben den repetitiven, die soziale Struktur sichernden Eigenschaften des Habitus auch die Konzeption als „dynamisches Prinzip“ (Rieger-Ladich 2005) zur Kenntnis nehmen.31 So weisen z. B. Nohl, Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 223) darauf hin, dass das Habituskonzept keinesfalls deterministisch gelesen werden muss, sondern vielmehr „einem relationalen Prinzip [entspricht], in dem die Strukturen der Gesellschaft die Bedingung der

29Zu

einem Überblick verschiedener Zumutungen, die der Erziehungswissenschaft durch Bourdieu widerfahre und eine disziplinäre Distanz erklären könnten, siehe Liebau (2006). Zum Determinismusvorwurf (sowie einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Möglichkeit von Habitustransformation) siehe auch Rieger-Ladich (2005). 30Lenger et al. (2013, S. 30) weisen darauf hin, dass der Habitus, wenn man seine „Entwicklung […] in der Primärsozialisation eines Menschen“ verortet, „einen weitaus deterministischeren Einschlag [bekommt] als unter Mitberücksichtigung der Sekundäroder sogar Tertiärsozialisation“. 31Siehe z. B. auch Alkemeyer (2006) und Kramer et al. (2013, S. 197).

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

221

Möglichkeit von sozialem Handeln darstellen, gleichzeitig die Akteure mit den erworbenen Dispositionen jedoch auch einen schöpferischen Umgang finden ­können.“ Und auch Faulstich (2013, S. 167) hebt hervor, dass Bourdieu mit „dem Konzept des Akteurs im sozialen Feld die gesellschaftliche Struktur dynamisiert und den Spielraum des Handelns geöffnet“ habe. Im „Grad, in dem Interaktionen routiniert ablaufen oder aber aufbrechen“, sieht er „ein Maß für die Offenheit, bzw. die Festgelegtheit des Habitus“ (ebd., S. 166). Bourdieu (2001, S. 207) selbst konstatiert, dass sich „[i]n Abhängigkeit von neuen Erfahrungen […] die Habitus unaufhörlich [ändern]“. Als Einsatzstelle für derartige neue Erfahrungen sieht er u. a. einen Wechsel der Position in der sozialen Struktur, z. B. durch biografische Statuspassagen wie „soziales Altern“ (ebd., S. 206 f.), das mit Verlusten an sozialem Kapital und symbolischen Kapital einhergehen kann. Zudem fasst Bourdieu (2001, S. 209) hier Diskrepanzerfahrungen ins Auge, die auf Positionswechseln der Akteur*innen (mit ihren Habitusformen) im sozialen Raum beruhen: „Wahrscheinlich können die, die sich in der Gesellschaft am ‚rechten Platz‘ befinden, sich ihren Dispositionen mehr und vollständiger überlassen oder ihnen vertrauen […] als die, die – etwa als soziale Auf- oder Absteiger – Zwischenpositionen einnehmen; diese haben wiederum mehr Chancen, sich dessen bewusst zu werden, was sich für andere von selbst versteht, sind sie doch gezwungen, auf sich achtzugeben und schon die ersten Regungen eines Habitus bewusst zu korrigieren, der wenig angemessene oder ganz deplatzierte Verhaltensformen hervorbringen kann“.

Es deutet sich hier an, dass die Akteur*innen mit ihren erworbenen, routinierten Habitusformen, die das Opus Operatum bisheriger Praxis darstellen, in der Handlungspraxis in Kontakt mit sozialen Räumen und Feldern kommen können, in denen die habituellen Routinen gestört werden, der Habitus mit „Aktualisierungsbedingungen“ (ebd., S. 206) konfrontiert wird und (einige) Dispositionen „dysfunktional“ (ebd., S.  207) werden. Diesen strukturelle Veränderungen auf Akteursseite können zudem mit gesellschaftlichen Transformationen wie einem „plötzlichen Wandel“ (ebd., S. 207) der Gesellschaftsstruktur oder einer „tiefe[n] Krise“ (ebd., S. 206) des Feldes, in deren Zuge „seine Regelmäßigkeiten (oder sogar seine Regeln) grundlegend erschüttert werden“ (ebd.), im Zusammenhang stehen. Verantwortlich für Veränderungen des Habitus zeichnet Bourdieu also Veränderungen der Position von Akteur*innen im sozialen Raum bzw. des Feldes (wobei die Veränderungen von beiden Seiten herrühren können). Dies ist auch fassbar als Veränderungen des Verhältnisses der habituellen Dispositionen

222

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

von Akteur*innen und ihren Anwendungsbedingungen. Bourdieu (2001, S. 204) gibt sogar an, das Habituskonzept einst entwickelt zu haben, um „Mißverhältnissen zwischen objektiven Strukturen und einverleibten Strukturen […] gerecht zu werden“. Er legt den Fokus also durchaus stärker auf Dissonanzen zwischen dem Habitus und seinen Anwendungsbedingungen als auf die – von vielen Rezipienten überschätzte – „Übereinstimmung von Habitus und Struktur“ (ebd.), gegen deren einseitige Betonung als „Prinzip der Bewahrung und Wiederholung“ er sich – zumindest in den „Meditationen“ (Bourdieu 2001) – verwahrt und die er sogar als „Sonderfall“ (ebd., S. 204) kennzeichnet. Von Rosenberg (2011, S. 81) bezeichnet die „Inkongruenz zwischen Habitus und Feld“ auch als „Passungsschwierigkeit“ (ebd.) und kennzeichnet diese als einen von drei „Einschlagpunkte[n]“ (ebd., S. 76) für Bildung, verstanden als Habitustransformation. Er folgert, dass durch eine solche Inkongruenz der „Habitus in unterschiedlichen Praxisformen bestärkt oder verunsichert werden [kann], wodurch die Relation von unterschiedlichen Logiken der Praxis innerhalb eines Habitus neue Gewichtungen erhalten“ (Rosenberg 2011, S. 81).32 Nicht nur die Passungsschwierigkeit zwischen dem Habitus und seiner kollektiven Einbindung betont von Rosenberg hier, sondern auch einen weiteren, zweiten ‚Einschlagpunkt‘ für die Transformation des Habitus: die Mehrdimensionalität der sozialen Einbindungen und folglich des Habitus selbst. An den bereits ausgeführten praxeologisch-wissenssoziologischen Gedanken der Mehrdimensionalität des Orientierungsrahmens resp. Habitus (vgl. Abschn. 4.1.2 und 4.1.3) anschließend geht von Rosenberg „davon aus […], dass sich innerhalb eines Habitus unterschiedliche Erfahrungsräume […] [resp. Logiken der Praxis; S.T.] versammeln“ (ebd., S. 78).33 Auch Bourdieu selbst kennt einen in sich nicht homogenen Habitus. Allerdings versteht er dies – im Gegensatz zu anderen (vgl. von Rosenberg 2011; Meuser 2013; Nohl et al. 2015a; Amling 2015) – nicht als reguläre Verfasstheit des Habitus, sondern eher als ein aus den o. g. Passungsschwierigkeiten resultierendes Manko. Ein ‚gespaltener‘ Habitus könne das Ergebnis von „widersprüchlichen Positionen [sein], die auf ihre Inhaber strukturelle ‚Doppelzwänge‘ ausüben können“ und denen „oft zerrissene, in sich widersprüchliche Habitus“ (Bourdieu 2001, S. 206) entsprächen. So ist bei Bourdieu der Habitus nicht ‚regulär‘ mehrdimensional angelegt, sondern lediglich als

32Auf

Passungsschwierigkeiten verweisen auch die Arbeiten von El-Mafaalani (2012), Helsper et al. (2013) und Koller (2002a) u. (2009). 33Ausführlicher zu den Ausführungen von Rosenbergs siehe Abschn. 3.2.3.

4.1  Zu den grundlagentheoretischen und methodologischen Prämissen …

223

Resultat von einer durch widersprüchliche soziale Anforderungen produzierten „Gespaltenheit“[, die] Leiden verursachen“ (ebd.) kann. Dennoch hat Bourdieu hiermit eine weitere Einsatzstelle für Habitustransformationen geliefert bzw., so möchte ich dies fassen, die o. g. Passungsschwierigkeit von ihrer inneren Seite her beleuchtet (wenngleich er das Resultat als Defizit fasst). Das Transformationspotential des Habitus bzw. die eigentliche Transformation hat Bourdieu dann jedoch nicht weiter ausgearbeitet. Nicht auf das ‚Leid‘ fokussierend, sondern auf die Potentiale eines Habitus, der „als ein mehrdimensionales Gewebe unterschiedlicher Prozessstrukturen konzeptiona­ lisiert [ist], das sich uneindeutig, widersprüchlich und ambivalent generieren kann“ (Nohl et al. 2015a, S. 228) schauend, werden Prozesse denkbar, in deren Zuge die Prozessstrukturen in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden. Für die transformative Bildungstheorie eignet sich ein mehrdimensional konzipierter Habitusbegriff deshalb besonders gut, weil der Habitus einerseits auf die „Selbst- und Weltreferenz in ihrer Totalität“34 (Nohl et al. 2015a, S. 256), d. h. auf grundlegende Veränderungen des „Rahmen[s] der Welt- und Selbstauslegung“ (Marotzki 1990, S. 180) verweist, seine mehrdimensionale Verfasstheit jedoch auch Einsatzstellen für die Transformation dieser umfassenden Struktur liefert. Als dritte bildungstheoretische Einsatzstelle fasst von (Rosenberg 2011, S. 83) die „Iterabilität“ oder auch „Iteration“ (ebd., S. 312) des Habitus. Hierbei geht es darum, dass der Habitus in der Praxis eine stete Wiederaufführung erfahren muss, wobei wiederum Störanfälligkeiten der reibungslosen Wiederholung entstehen können.35 Zwar ist der Habitus relativ persistent, dennoch existiert er nicht jenseits der Handlungspraxis der Akteur*innen. Die Praxis ist bei Bourdieu „das Produkt der dialektischen Beziehung zwischen einer Situation und einem […] Habitus“ (Bourdieu 1979, S. 169; kursiv im Original); Praxis setzt sich also aus immer neuen – wenn auch zumeist homologen – Situationen zusammen.

34Der

Bezug auf den Habitus als Gesamtheit der Selbst- und Weltreferenz ist hier, wie bereits in Kap. 3 angemerkt, als Verweis auf seine (in vielfältigen konjunktiven Erfahrungsräumen entstandene) Mehrdimensionalität zu verstehen und keinesfalls als Anmaßung, den Habitus als „Totalität eines Individuums“ rekonstruieren zu können – oder dies gar zu wollen, wie dies Bohnsack (2017, S. 126) krisiert. Eine vollständige Erfassung des persönlichen Habitus ist schon aufgrund der „Aspekthaftigkeit“ jeder Interpretation (vgl. z. B. Bohnsack 2010a und Abschn. 4.1.2.1) nicht möglich. 35Judith Butler hat dies in „ihrer sprachphilosophischen Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieu […] unter Bezugnahme auf Jacques Derridas Konzept der Iteration“ (Nohl et al. 2015a, S. 227) ausgearbeitet.

224

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

In ­dieser steten Notwendigkeit der Wiederaufführung ist „nicht nur der unter dem ­Stichwort Persistenz verhandelte Drang zur Reproduktion, sondern auch die Möglichkeit der Modifizierung, Wandlung und Transformation angelegt“ (Nohl et al. 2015a, S. 227). Die drei genannten Einsatzstellen für die Transformation des Habitus: Passungsschwierigkeiten, Mehrdimensionalität und Iteration – von denen auch Nohl, von Rosenberg und Thomsen (ebd., S. 229) ausgehen und hierbei an von Rosenbergs Ausarbeitungen anschließen – verwiesen „gemeinsam auf den zentralen bildungstheoretischen Ausgangspunkt, den Habitus als ein dynamisches, potentiell nicht festgestelltes Konzept zu verstehen, das Möglichkeiten eröffnet, auch die kollektive und gesellschaftliche Strukturiertheit von Selbst- und Weltverhältnissen zu systematisieren.“

In dieser dynamisierten Lesart liefert das Habituskonzept eine Möglichkeit eines transformativen Bildungsbegriffs, bei dem die Dualität von Subjektivismus und Objektivismus zurückgewiesen wird und Bildung voraussetzungsvoll, aber möglich ist.

4.2 Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews und Reflexionen der eigenen Forschungspraxis Jedes Erhebungsverfahren bringt einen eigenen methodischen Fokus und daraus resultierende spezifische Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis mit sich und zugleich gelten die methodisch-methodologischen Grundzüge der Dokumentarischen Methode (vgl. Abschn. 4.1) für die Interpretation jeglichen in ihrem Rahmen ausgewerteten Datenmaterials. Während das Gruppendiskussionsverfahren auf Interaktion beruht und der sich hier entspinnende, selbstläufige Diskurs als „direkter und valider Zugang zu milieuspezifischen Bedeutungsmustern“ (Bohnsack 2003a, S. 115) gilt, verschiebt sich beim Erhebungsverfahren des biografischen Interviews der Fokus stärker in Richtung des einzelnen Akteurs und seiner Biografie. Das Gruppendiskussionsverfahren bietet anhand seines Zugriffs auf „Realgruppen einen leichteren Zugang zur Kollektivität“ (Nohl 2012b, S. 165), wohingegen „bei der Analyse von narrativen Interviews immer schon von der einzelnen Erhebung abstrahiert werden muss, um den kollektiven Hintergrund von Orientierungen in valider Weise zu identifizieren“. Der Zugang zu ­kollektiven

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

225

Strukturen muss beim narrativen Interview im Vergleich zum Gruppendiskussionsverfahren also in gewisser Weise über einen Umweg erfolgen, jedoch liegen die Stärken des narrativen Interviews ebenso auf der Hand: Es bietet – um noch einmal Schütze (1983, S. 295) zu zitieren – einen direkten Zugriff auf die „lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers“ und eignet sich so in besonderer Weise zur Erfassung von biografischen Prozessen. Das narrative Interview oder korrekter: das autobiografisch-narrative Interview, wie es von Schütze als Erhebungs- und Auswertungsverfahren der „interpretativen Soziologie“ (Schütze 1995, S. 117) entwickelt wurde, nahm seinen Ausgang in einer Studie, die er in den 1970er-Jahren über lokalpolitische Machtverhältnisse im Zuge einer Gemeindezusammenlegung durchführte (vgl. Schütze 1976). Im Zuge dieser und späterer Interviews entwickelte Schütze nicht nur die unter Abschn. 4.1.1 ausgeführten Kategorien der Prozessstrukturen des Lebenslaufs (vgl. Schütze 1981), sondern mit dem narrativen Interview und der Narrationsanalyse36 ein eigenes Verfahren zur Erhebung und Auswertung von narrativen Interviews. Auf dieses greift die Dokumentarische Methode in vielerlei Hinsicht zurück. Im Folgenden werde ich zunächst auf das Sampling und die Datenerhebung der vorliegenden Studie eingehen (Abschn. 4.2.1) und dabei auch die Grundkoordinaten der Erhebung narrativer Interviews, wie sie Schütze vorgeschlagen hat, darstellen. Während sich die Dokumentarische Methode bei der Erhebung an Schützes Vorgehen orientiert, geht sie in der Auswertung jedoch eigene Wege. Zwar folgt sie in der Analyse der Textsorten Schützes Narrationsanalyse, doch ist bei der weiteren Analyse im Gegensatz zu Schützes Methodik das übergeordnete Ziel z. B. immer die fallübergreifende Typenbildung. Dabei geht die dokumentarische Interpretation narrativer Interviews – anders als Schütze – von Anfang an komparativ an das erhobene Datenmaterial heran. Diesen Unterschied sowie weitere theoretische Grundlagen und die Forschungspraxis der dokumentarischen Auswertung narrativer Interviews (Abschn. 4.2.2) werde ich im Anschluss anhand der Darstellung der einzelnen Schritte des dokumentarischen Procedere mit narrativen Interviews von der Erhebung bis zur Typenbildung verdeutlichen.

36Es

kursieren verschiedene Bezeichnung für das Verfahren. Riemann (2006) nennt es u. a. „Erzählanalyse“. In einer späteren Version seines Artikels „Prozeßstrukturen des Lebenslaufs“ bezeichne Schütze das Verfahren, laut Nohl (vgl. 2006a, S. 34), als „Narrationsstrukturanalyse“. Oft spricht Schütze jedoch auch von „Biographieanalyse oder Interaktionsanalyse“ (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2009, S. 218). Przyborski und Wohlrab-Sahr (vgl. ebd.) zufolge habe sich die Bezeichnung Narrationsanalyse weitgehend durchgesetzt.

226

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

In Verbindung mit der Darstellung der Auswertungsschritte werde ich auch Einblicke in den Forschungsprozess der vorliegenden Studie geben sowie Reflexionen zur von mir angewandten Form der Typenbildung anstellen.

4.2.1 Sampling und Datenerhebung Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen biografische Bildungsprozesse, die sich im Kontext sozialer Protestbewegungen vollziehen. Der Kontext der sozialen Protestbewegungen bildete einen von zwei Gegenstandsbereichen, in denen im Rahmen zweier aufeinanderfolgender DFG-Forschungsprojekte zunächst Bildung und später Lernen erforscht werden sollte. Die vorliegende Arbeit entstand im Kontext dieser beiden Projekte.37 Die Samplingstrategie der Projektarbeit und jene der vorliegenden Studie sind somit weitgehend deckungsgleich, wobei die sozialen Bewegungen im Rahmen der Forschungsprojekte lediglich einen von zwei Gegenstandsbereichen darstellten.38 Im Folgenden werde ich die Zusammenstellung des Samples meiner Studie näher erläutern.

4.2.1.1 Samplingstrategie der vorliegenden Studie Der Zugang zu Menschen aus dem Gegenstandsbereich der Bewegungen wurde größtenteils über das Schneeballverfahren per Email und Mundpropaganda hergestellt. Verfolgt wurde dabei in den beiden genannten DFG-Projekten und so auch in der vorliegenden Arbeit zunächst die Samplingstrategie des „theoretical sampling“ von Glaser und Strauss (1969). Da die Suche nach Habitustransformationen – sei dies im Kontext sozialer Bewegungsaktivität ­

37Im

ersten DFG-Projekt mit dem Titel „Bildung – Transformation und Tradierung im Zusammenhang von Individualität und Kollektivität“ wurden zunächst Bildungsprozesse fokussiert, während im Folgeprojekt „Lernorientierungen diesseits und jenseits des Bildungsprozesses: Der biographisch kontextuierte Aufbau von Wissen und Können“ die bereits bildungstheoretisch ausgewerteten empirischen Daten sowie all jene Interviews, in denen sich keine Bildung gezeigt hatte, lerntheoretisch ausgewertet und reinterpretiert wurden. Beide Forschungsprojekte fanden unter der Leitung von Arnd-Michael Nohl statt. 38Als zweiter Gegenstandsbereich wurde in den genannten DFG-Projekten derjenige der ‚kulturellen Pluralität‘ untersucht. Auf der Grundlage dieses Samples entstand von Rosenbergs (2016) Arbeit „Lernen, Bildung und kulturelle Pluralität: Auf dem Weg zu einer empirisch fundierten Theorie“. Auf der Grundlage der Erhebungen in beiden Gegenstandsbereichen (sowie den Ergebnissen weiterer, vorgängiger Forschung von Nohl 2006b und Rosenberg 2011) ist die gemeinsame Projektpublikation „Bildung und Lernen im biographischen Kontext“ (Nohl et al. 2015a) entstanden.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

227

oder anderer Bereiche – ein Kriterium ist, das weder vorab abgefragt werden kann, noch die Ausgestaltung einer solchen Habitustransformation im jeweiligen Gegenstandsbereich ohne die Auswertung erster Interviews eindeutig zu bestimmen war, ist das für das Theoretical Sampling charakteristische Handin-Hand-Gehen von ersten Auswertungen der Daten und der Konkretisierung neuer Erhebungen passend. Dies wurde in der vorliegenden Arbeit im Sinne der dokumentarischen Forschungspraxis umgesetzt, bei der zunächst erste Fälle ausgewertet werden, um dann eine gezielte Suche nach passenden Vergleichsfällen (vgl. Nohl 2013b, S. 173 ff.) folgen zu lassen. Die Auswahl der weiteren Vergleichsfälle fand anhand des sich empirisch Dokumentierenden – induktiv – wie auch anhand des theoretisch Gesuchten – reflexiv – statt (vgl. Nohl et al. 2015a, S. 16). Es wurde zunächst anhand von ‚harten Fakten‘ darauf geachtet, dass Menschen verschiedener Lebensalter und gleichermaßen Frauen und Männer befragt wurden. Davon ausgehend, dass mit einem Hochschulabschluss regelmäßig höhere Positionen in der Sozialstruktur eingenommen werden als mit einer beruflichen Bildung, wurde als Suchraster zudem das Unterscheidungskriterium ‚Hochschulabschluss‘ versus ‚berufliche Qualifizierung‘ angelegt. Zwar konnten insgesamt mehr Menschen, die ein Hochschulstudium absolviert haben oder dies zum Zeitpunkt des Interviews taten, für Interviews gewonnen werden39 – was nahelegt, dass sich in denjenigen sozialen Protestbewegungen, aus denen ich Interviewpartner*innen gewonnen habe, überproportional viele Akademiker*innen bewegen40 –, für die in diesem Kontext letztlich ‚gefundenen‘ und rekonstruierten Habitustransformationen lassen sich jedoch keine ausbildungsniveaubezogenen Unterschiede konstatieren, so viel möchte ich hier an Ergebnissen vorweg nehmen. Ebenso wenig unterschieden sich die rekonstruierten Bildungsprozesse von Frauen und Männern hinsichtlich ihres phasenhaften Verlaufs, der ja im Fokus meines Forschungsvorhabens stand, voneinander. Was das Lebensalter der Interviewten angeht, hatte ich mich – gemäß der Samplingstrategie, die wir im DFG-Projekt in Anlehnung an die Vorarbeit von

39Konkret

sind es fünf beruflich Qualifizierte und 17 Interviewte mit Hochschulstudium. (Vgl. zur Übersicht auch die Tab. 4.1 weiter unten im Text). 40Dies würde anhand meines vergleichsweise kleinen Samples (und auch für die jüngere Generation) bestätigen, was die NSB-Forschung für die ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ der 1980er- und 1990er-Jahre konstatierte: „Übereinstimmend wird davon ausgegangen, daß es sich vorwiegend um jüngere Personen handelt, die einen überdurchschnittlich hohen Bildungsgrad aufweisen“ (Hellmann 1998b, S. 16).

228

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Nohl (2006a) verfolgten – auf junge Erwachsene Anfang 20 und Erwachsene in der Lebensmitte, d. h. im Alter von ca. 40 Jahren (plus), festgelegt. Im Laufe der ersten Auswertungen zeigte sich, dass den mit jungen Erwachsenen geführten Interviews keine Bildungsprozesse zu finden waren. Zwar wiesen sie vielfältiges Lernen auf, jedoch nichts, was auf die Transformation des Habitus hindeutete. In der Folge habe ich mich, der bildungstheoretischen Ausrichtung meiner Studie geschuldet, auf diejenigen Interviewpartner*innen in der Lebensmitte konzentriert (und später noch etwas ältere Menschen hinzugezogen, bei denen sich ebenfalls Bildungsprozesse finden ließen). Sicherlich wäre der strukturierte Vergleich der Prozesse der jungen Erwachsenen und der Erwachsenen in der Lebensmitte aufschlussreich gewesen, aufgrund meines Fokus auf Bildung, habe ich diesen Forschungsstrang jedoch nicht weiter verfolgt.41 Aufgrund dessen, dass sich mein Sample zu großen Teilen aus Menschen aus dem Umfeld linksautonomer und linksradikaler Bewegungen zusammensetzte und sich hier in vielen Fälle eine hohe Relevanz von oppositionellen, negationsreichen Orientierungen dokumentierte, hatte ich kurzzeitig die Idee, als Kontrastfälle solche Bildungsprozesse heranzuziehen, die sich im Kontext eines christlichen Engagements vollziehen. Auch diesen Strang habe ich allerdings alsbald wieder verworfen, nachdem sich in den beiden Interviews, die ich sodann mit christlich Engagierten führte, keine Bildungsprozesse abzeichneten und sich zudem herausstellte, dass die Typenbildung – die sich nun auf Bildungsprozesse im Kontext eines Engagements in sozialen Protestbewegungen aus dem linksalternativen bis linkradikalen Bereich beschränkt –, schon so weit fortgeschritten war, dass sie als ‚gesättigt‘ gelten konnte. (Tab. 4.1 gibt einen Überblick über alle erhobenen Interviews und ihre weitere Verwendung42). Nachdem ich das Sample der vorliegenden Arbeit vorgestellt habe, werde ich im Folgenden auf die Erhebung selbst – in theoretischer wie forschungspraktischer Perspektive – eingehen.

41Die

Interviews mit den jungen Erwachsenen im Kontext sozialer Bewegungen konnten jedoch für die empirischen Ausarbeitungen zu Lernprozessen in Nohl (2014) und in Nohl et al. (2015a) genutzt werden. Zum Überblick über alle geführten Interviews siehe die bereits erwähnte Tab. 4.1. (Ein Überblick über diejenigen Interviews, auf denen die beiden Typenbildungen basieren, findet sich im Kap. 5 in einer weiteren Tabelle). 42Ich gebe in der Tabelle jeweils nur maximal zwei Bewegungen pro Person an, und zwar jene, denen die Interviewten am ehesten zuzurechnen sind. Es sei aber darauf verwiesen, dass zahlreiche Interviewpartner*innen in mehreren Bewegungen zugleich aktiv sind, was insbesondere für die Aktivist*innen der ‚autonomen Bewegung‘ gilt, der sich etliche der Interviewten zugehörig fühl(t)en und deren Aktivitäten sich auf verschiedene Themenfelder verteilt (vgl. Pfahl-Traughber 2008).

Umweltbewegung

Umwelt- und feministi- Ja (Erstinterpret Nohl) sche Bewegung

20

20

20

35

SB02-aka Hr. Friedrichsdorf

SB03-aka in spe Hr. Lange

SB04-aka in spe Fr. Hustedt

SB05-aka Fr. Orlik

Tierschutzbewegung

Umweltbewegung, ‚Antifa‘

Autonome Linke, ‚Antifa‘

38

SB01-aka Hr. Hahnemann

Nein

Ja

Ja (Erstinterpret Nohl)

Nein

… ausführlich interpretiert?

Nein

Nein

Nein

Nein

Nein

Ja/nein

(Fortsetzung)

k. Bildungsprozess erkennbar

k. Bildungsprozess rekonstruiert (verwendet in Nohl 2014 u. Nohl et al. 2015a)

k. Bildungsprozess rekonstruiert (verwendet in Nohl 2014 u. Nohl et al. 2015a)

k. Bildungsprozess rekonstruiert (verwendet in Nohl 2014 u. Nohl et al. 2015a)

k. Bildungsprozess erkennbar

Wenn nein, warum nicht? (Andere Verwendung?)

… für mindestens eine der Bildungsphasentypiken herangezogen?

Wurde das erhobene Material …?

Soziale Bewegung

Lfd.nr., Ausbildungsni- Alter veaua und anonymisierter Name

Tab. 4.1   Überblick über alle erhobenen Interviews und ihre weitere Verwendung

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews … 229

‚LGBTQ‘-Bewegung

38

47

40

40

40

50

38

29

SB06-aka Fr. Hübner

SB07-aka Hr. Rieger

SB08-aka Hr. Rouf

SB09-ber Fr. Weber

SB10-aka Fr. Kubitschek

SB11-aka Hr. Heinze

SB12-ber Fr. Fröhlich

SB13-aka Fr. Zurhold

Ja

Nein

Ja

… ausführlich interpretiert?

Antirassistische Bewegung

Autonome Linke

Undogmatische Linke der 80er-Jahre

Nein

Nein

Nein

Autonome und Frauen- Ja bewegung

Nein

Nein

Nein

Ja

Ja

Nein

Nein

Nein

Ja/nein

(Fortsetzung)

k. Bildungsprozess erkennbar

k. Bildungsprozess erkennbar

k. Bildungsprozess erkennbar

k. Bildungsprozess rekonstruiert

k. Bildungsprozess erkennbar

Rekonstruierter Bildungsprozess steht nicht im Kontext v. sozialer Bewegung

Wenn nein, warum nicht? (Andere Verwendung?)

… für mindestens eine der Bildungsphasentypiken herangezogen?

Wurde das erhobene Material …?

Hausbesesetzer*-innen, Ja Autonome

Autonome Linke

Undogmatische Linke der 80er-Jahre

Soziale Bewegung

Lfd.nr., Ausbildungsni- Alter veaua und anonymisierter Name

Tab. 4.1   (Fortsetzung)

230 4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Autonome, ‚LGBTQ‘-Bewegung

31

49

38

40

52

51

54

SB14-aka Fr. Richter

SB15-ber Hr. Büchner

SB16-ber Hr. Jänsch

SB17-aka Hr. Wiesberg

SB18-ber Fr. Hans

SB19-aka Fr. Bach

SB20-aka Fr. Stier

Ja

… ausführlich interpretiert?

Ja

Studierendenbewegung Ja (nach „68“), Friedensbewegung

Nein

Nein

Nein

Ja

Nein

Nein

Nein

Ja

‚Antifa‘ und feministische Bewegung

Christliches Engagement

Christliches Engagement

‚LGBTQ‘-Bewegung

Ja

Ja

Ja/nein

(Fortsetzung)

k. Bildungsprozess erkennbar

k. Bildungsprozess erkennbar

k. Bildungsprozess erkennbar

Wenn nein, warum nicht? (Andere Verwendung?)

… für mindestens eine der Bildungsphasentypiken herangezogen?

Wurde das erhobene Material …?

Autonome und ‚Antifa‘ Ja

Soziale Bewegung

Lfd.nr., Ausbildungsni- Alter veaua und anonymisierter Name

Tab. 4.1   (Fortsetzung)

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews … 231

… ausführlich interpretiert?

58

SB23-aka Fr. Burgemann

Globalisierungskritiker*innen

Nein

Nein

Ja

Nein

Ja/nein

k. Bildungsprozess erkennbar

Interview wurde v. Thiemo Bloh erhoben und von mir nicht weiter bearbeitet

Wenn nein, warum nicht? (Andere Verwendung?)

… für mindestens eine der Bildungsphasentypiken herangezogen?

Wurde das erhobene Material …?

Studierendenbewegung Ja der 68er, Globalisierungskritiker*innen

= Hochschulstudium; ber = berufliche Qualifizierung

65

aaka

Soziale Bewegung

k.A. Studierendenbewegung Nein der 68er

SB22-aka Hr. Waldorfer

SB21-ber Fr. Hof

Lfd.nr., Ausbildungsni- Alter veaua und anonymisierter Name

Tab. 4.1   (Fortsetzung)

232 4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

233

4.2.1.2 Erhebung der narrativen Interviews – in theoretischer und forschungspraktischer Perspektive Die Erhebung narrativer Interviews zielt in erster Linie auf die Initiierung einer Stegreiferzählung, auch als autobiografische Anfangserzählung bezeichnet (vgl. Schütze 1983). In dieser sieht Schütze in besonderer Weise die Bedingungen für die Entfaltung der von ihm und Werner Kallmeyer benannten Zugzwänge des Erzählens (vgl. Kallmeyer und Schütze 1977) gegeben, Narrationsmechanismen, in denen sich die Erfahrungsaufschichtung der Interviewten besonders deutlich dokumentierten (vgl. auch Nohl 2006a, S. 29). Besonderer Bedeutung wird hier der Selbstläufigkeit der Erzählung beigemessen, die von äußeren Strukturierungen weitgehend unbeeinflusst sein soll, damit sich die spezifische Erfahrungsaufschichtung der Informant*innen dokumentieren kann. Przyborski und Wohlrab-Sahr (2009, S. 67) streichen heraus, dass „der erste Schritt der Erhebung“ darin besteht, „[d]ie möglichen Interviewpartner in adäquater Weise über […] die Art und Weise der Erhebung zu informieren“. Unter einer ‚adäquaten Information‘ kann in Hinsicht auf das Ziel der Hervorbringung einer weitgehend unbeeinflussten, selbstläufigen Erzählung weniger eine dezidierte Erläuterung des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses als vielmehr die Kommunizierung des generellen Interesses der Forschenden an der Perspektive des/der Interviewten verstanden werden (vgl. auch ebd., S. 74 f.). Indes lässt es sich ohne die Nennung wenigstens des groben thematischen Rahmens schwerlich Interviewpartner*innen finden, zumal den Befragten plausibilisiert werden muss, warum speziell sie angesprochen wurden. Bei Kontaktaufnahme mit möglichen Interviewpartner*innen für die vorliegende Studie wurde also einerseits – um eine Beeinflussung der biografischen Erzählung durch antizipierte Erwartungen hinsichtlich eines Bildungsprozesses weitestgehend zu vermeiden – das Forschungsinteresse so vage wie möglich gehalten, und andererseits hervorgehoben, dass es darum geht, Erfahrungen von Menschen, die sich in sozialen Bewegungen engagieren oder dies einmal taten, aus erster Hand erzählt zu bekommen. Somit wurden als Forschungsthemen gegenüber den Interviewpartner*innen die soziale Bewegung und die in diesem Kontext gemachten Erfahrungen benannt, ohne das Interesse weitergehend zu konkretisieren. Darüber hinaus machte ich deutlich, dass ein über das Thema der sozialen Bewegung hinausgehendes Interesse an der gesamten Lebensgeschichte besteht. Dazu, wie eine autobiografische Stegreiferzählung im Interview hervorgelockt und wie der weitere Ablauf narrativer Interviews gestaltet wird, hat Schütze (1983, S. 285) klare Richtlinien formuliert:

234

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

„Das autobiographisch-narrative Interview hat drei zentrale Teile: Auf eine autobiographisch-orientierte Erzählaufforderung (entweder zur gesamten Lebensgeschichte, oder zu sozialwissenschaftlich besonders interessierenden Phasen der Lebensgeschichte […] folgt als erster Hauptteil die autobiographische Anfangserzählung, die – sofern sie zum Erzählgegenstand tatsächlich die Lebensgeschichte des Informanten hat […] – vom interviewenden Forscher nicht unterbrochen wird. Erst nachdem eine Erzählkoda (z. B.: ‚So, das war’s: nicht viel, aber immerhin …‘) erfolgt ist, beginnt der interviewende Forscher mit seinen Nachfragen.“

Der/die Interviewer*in wartet also ab, bis die Stegreiferzählung, die durch eine auf die Biografie oder einen biografischen Abschnitt zielende Erzählaufforderung in Gang gesetzt wurde, von alleine beendet wird. Erst im Anschluss folgt ein Nachfrageteil als zweiter von drei Teilen des narrativen Interviews. Ziel der nun gestellten Nachfragen, die immanent sind, d. h. an das im ersten Teil Erzählte anschließen und – ebenso wie die Erzählaufforderung zu Beginn des Interviews – erzählgenerierend sein sollen, ist es, das „tangentielle Erzählpotential“ (ebd.) zu mobilisieren. Dieses wird durch Nachfragen zu denjenigen Themen, an denen sich in der Stegreiferzählung bereits Ansätze „weiterer Erzählmöglichkeit“ angedeutet hatten, oder zu „Stellen mangelnder Plausibilisierung“ abgefragt (ebd.). Im letzten Teil des narrativen Interviews geht es dann einerseits um die Erzeugung der „Beschreibung von Zuständen“ und „immer wiederkehrenden Abläufen“ als auch darum, „Argumentationsdruck“ (Nohl 2006a, S. 25) zu erzeugen. Schütze (1983, S. 285) möchte hierbei anhand von beschreibenden und theoretisierenden Textsorten die „Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit des Informanten als Experte und Theoretiker seiner selbst“ erfassen. Die Reihenfolge der drei Teile des biografischen Interviews erklärt sich aus der unterschiedlichen Bedeutung, die Schütze (vgl. 1987) den verschiedenen Textsorten Erzählung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung beimisst. Nohl (2012a, S. 20 ff.)43 fasst Schützes Textsortendefinitionen prägnant zusammen: Während in Erzählungen „Handlungs- und Geschehensabläufe“ dargestellt werden, „die ein[en] Anfang und ein Ende haben“ (ebd., S. 20), zeichnen sich „Beschreibungen […] dadurch aus, dass in ihnen immer wiederkehrende Handlungsabläufe oder feststehende Sachverhalte […] dargestellt werden“ (ebd., S. 21) Argumentationen

43Während

ich mich bislang auf die Erstausgabe von Nohls „Interview und dokumentarische Methode“ von 2006 bezogen habe, verwende ich hier die neuere Ausgabe von 2012, weil in der neueren Ausgabe den Textsorten diejenige der Bewertung als eigenständige Textsorte hinzugefügt wurde.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

235

hingegen „sind (alltags-) theoretische Zusammenfassungen und Stellungnahmen zu den Motiven, Gründen und Bedingungen für eigenes oder fremdes Handeln“ (ebd.). Bewertungen schließlich sind als „evaluative, einschätzende Prädikate“ zu verstehen, die jedoch „eng mit den Argumentationen zusammen[hängen]“ (ebd.). Entscheidend für die Bedeutung der unterschiedlichen Textsorten im Erhebungsund späteren Interpretationsprozess ist, dass insbesondere Erzählungen sich nahe an den Erfahrungen der Interviewten befinden, weil sich in ihnen laut Kallmeyer und Schütze (1977, S. 188) die bereits erwähnten „Zugzwänge des Erzählens“ selbstläufig entfalteten.44 Der Generierung von Erzählungen kommt also ein gewichtiger Stellenwert zu, doch können auch beschreibende Textteile nahe an der Erfahrung liegen, sofern sie sich auf die Schilderung von Zuständen und Handlungsabläufen in der erzählten Zeit – im Gegensatz zur Erzählzeit, verstanden als Zeitpunkt, an dem das Interview stattfindet – beziehen (vgl. hierzu Nohl 2012a). In theoretisierenden Textteilen hingegen würde in der Regel „vor allem der Kommunikationssituation des Interviews selbst Rechnung“ (Nohl 2012a, S. 24) getragen. Letztere Textsorte steht nicht im Fokus der dokumentarischen Interpretation, ist angesichts ihres Bezugs zur Erzählzeit für die Analyse von Transformationsprozessen jedoch keinesfalls unbedeutend (vgl. Abschn. 4.2.2.2). Die im Rahmen der vorliegenden Studie geführten Interviews wurden mit einer Erzählaufforderung eingeleitet, in der die Interviewpartner*innen gebeten wurden, ihr Leben so ausführlich zu erzählen, wie sie dies möchten. Als Beispiel soll hier die Erzählaufforderung aus dem Interview mit „Herrn Büchner“45, die als typisch gelten kann, dienen: „ja gut, also wie angekündigt stelle ich dir eine ganz allgemeine Eingangsfrage, ich würd dich einfach bitten, mir dein Leben zu erzählen so ausführlich wie du das möchtest, //mhm// ich hab Zeit; (14)46“.

44Diese

stellen Gestaltungsmechanismen dar, die sich in Narrationen daran zeigen, wie die einzelnen formalen Elemente und thematischen Inhalte miteinander verknüpft werden, welche Hintergrundkonstruktionen z. B. nötig werden, um die Vordergrunderzählung zu plausibilisieren. (Zur Analyse des „Vordergrund-Hintergrund-Verhältnis[es]“ vgl. Nohl 2006a, S. 28). 45Die

Interviewerin bekam den Kontakt zu Herrn Büchner über gemeinsame Bekannte, weshalb in diesem Interview die Du-Form verwendet wurde, während in anderen Interviews gesiezt wurde. 46Zur Erklärung: „//mhm//“ entspricht einem zustimmenden, parasprachlichen Laut des Interviewpartners, während „(14)“ auf 14 s Pause verweist; zu weiteren Richtlinien der Transkription siehe die Übersicht im Anhang.

236

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Die Erzählaufforderung wurde – wie im obigen Beispiel auch explizit benannt – absichtlich allgemein gehalten. Es wurde betont, dass der Detaillierungsgrad von den Interviewten selbst bestimmt werden kann und keine Eile bestehe.47 Es hat sich anhand der Stegreiferzählungen in der vorliegenden Studie gezeigt, dass die Interviewten ihre Narrationen trotz derart global formulierter Erzählaufforderungen thematisch in Bezug auf das von ihnen antizipierte Forschungsinteresse strukturieren. Da unmittelbar vor der Interviewsituation nicht weiter über das Forschungsvorhaben gesprochen wurde, brachte offenbar alleine die bei der ersten Kontaktaufnahme gegebene Information die Interviewten dazu, ihre ‚Politisierungsbiografie‘ zu erzählen. Dies kann mit Kallmeyers und Schützes (1977) „Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang“ erklärt werden: Der/die Interviewte hat eine Vorstellung vom Forschungsinteresse entwickelt und nicht unbegrenzt Zeit und Konzentrationsfähigkeit zu Verfügung, um alle erinnerten Erfahrungen detailliert zu erzählen. So wird dementsprechend die eigene Biografie in Richtung des vermuteten Forschungsthemas kondensiert und nur dasjenige erzählt, „was als ‚Ereignisknoten‘ innerhalb der zu erzählenden Geschichte relevant“ (ebd.) erscheint. Dies wirft die Frage auf, ob das soziale Bewegungsengagement in einer solchen Narration einen größeren Stellenwert einnimmt, als dieses real für die Biografie hat; und ob folglich von einem methodisch bedingten Bias gesprochen werden muss? Aus mehreren Gründen ist dies meines Erachtens zu verneinen: Zunächst einmal steht für die Auswertung mit der Dokumentarischen Methode das ‚Wie‘ eines Textes, der als Dokument für einen spezifischen Habitus betrachtet wird, im Zentrum des Interesses (siehe ausführlich hierzu Abschn. 4.1.2 und 4.2.2.2). Dieser übergreifende Modus Operandi muss sich passagen- und themenübergreifend dokumentieren, sodass ein spezielles Oberthema zwar ein thematisches Schlaglicht setzen mag, nicht aber die Rekonstruktion des Habitus und seiner Entwicklungsgeschichte verstellt. Auch sorgen die ‚Zugzwänge des Erzählens‘ in narrativen Interviews quasi ‚automatisch‘ dafür, dass neben dem thematischen Schwerpunkt auch andere Dimensionen der Lebensgeschichte thematisiert werden. Desweiteren kann man einwenden, dass lediglich diejenigen ihre (soziale Protest-)‚Bewegungsbiografie‘ erzählen können, die auch tatsächlich auf eine solche zurückblicken. Im Sample der vorliegenden Arbeit finden sich beispielsweise drei Interviews, in denen sich trotz des zuvor genannten Forschungsinteresses Berührungspunkte zu sozialen

47Kritik

an der Interviewführung könnte am hier benutzten Wort „einfach“ geübt werden, da dies implizieren könnte, die Aufgabe sei leicht zu bewältigen.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

237

­ rotestbewegungen, wenn überhaupt, nur randständig dokumentieren und die P aus diesem Grunde nicht weiter ausgewertet wurden.48 Trotz der aufgezählten Einwände gilt bei der Auswertung, die Möglichkeit einer leichten Verzerrung im Blick zu behalten; ebenso wie es bei der Erhebung wichtig erscheint, das Forschungsinteresse zwar bei Kontaktaufnahme grob zu erwähnen, dieses jedoch direkt vor der Interviewsituation nicht weiter zu elaborieren. So betont auch Nohl (2012a, S. 18), dass es sich „als sinnvoll erwiesen [hat], auch solche narrativen Interviews, die nur der Untersuchung eines bestimmten biografischen Themas oder Zeitabschnitts dienten, mit einer auf die ganze Autobiografie abzielenden Eingangsfrage zu beginnen.“ Zum Procedere der narrativen Interviewführung gibt Schütze zwar an, die Anfangserzählung solle vom Interviewer/von der Interviewerin nicht unterbrochen werden. Jedoch schränkt er diese Aussage in einem Nebensatz wieder ein: Dies gelte nur, insofern die Erzählung „so verständlich abläuft, daß ihr der Zuhörer folgen kann“ (Schütze 1983, S. 285). Von dieser Einschränkung sollte gemäß der rekonstruktiven Forschungslogik (für die Schütze ja eigentlich steht und die Bohnsack (2003a, S. 20) mit dem Satz „Weniger Eingriff schafft mehr Kontrollmöglichkeiten“ auf den Punkt bringt) meines Erachtens unbedingt Abstand genommen werden, denn die Verständlichkeit im Moment der Interviewsituation kann aus Sicht der dokumentarischen Interpretation kein Kriterium sein. Sowohl der Objekt- als auch der Dokumentsinn werden keineswegs in der Interviewsituation selbst, sondern erst und ausschließlich in der eingehenden Interpretation des transkribierten Interviewtexts erschlossen (siehe hierzu Abschn. 4.2.2.1 bis 4.2.2.3). Denn gerade das anfangs nicht leicht Verständliche deutet möglicherweise auf orientierungsmäßige Unterschiede zwischen Interpretierenden auf der einen und den Interviewten auf der anderen Seite hin. Nachdem die Stegreiferzählungen in den Interviews der vorliegenden Studie entfaltet und schließlich beendet wurden, folgten erzählgenerierende, immanente Nachfragen. Diese schlossen, wie von Schütze intendiert, an bereits Erwähntes an. Erst im letzten Teil des Interviews wurden in jenen (wenigen) Interviews, in denen Thematiken ausgespart wurden, die für das Forschungsinteresse als wichtig erachtet wurden oder die in anderen, bereits geführten Interviews erwähnt wurden, zusätzlich exmanente Nachfragen gestellt. Zwar kommt auch theoretisierenden Textsorten für die Auswertung von biografischen Wandlungs- und Bildungsprozessen durchaus eine Bedeutung zu (siehe auch hierzu ausführlich

48Hierbei

handelt es sich um Herrn Hübner (SB06), Frau Fröhlich (SB12) und Herrn Wiesberg (SB17); siehe zum Überblick über das Sample Tab. 5.1.

238

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Abschn. 4.2.2.2 und 4.2.2.3), doch wiesen bereits die mit erzählgenerierenden Fragen eingeleiteten Teile der Interviews genügend theoretisierende Textteile auf, sodass auf die gezielte Hervorbringung von Argumentationen und Bewertungen, wie Schütze dies für den dritten Teil des narrativen Interviews konzipiert hat, in den meisten Interviews verzichtet wurde.

4.2.2 Theoretische Grundlagen und Forschungspraxis der dokumentarischen Auswertung narrativer Interviews Während sich das dokumentarische Vorgehen mit narrativen Interviews bezüglich der Erhebung in Gänze auf Schützes Verfahren stützt, geht die Dokumentarische Methode bei der Auswertung narrativer Interviews eigene Wege, wenngleich auch hier zahlreiche Grundannahmen von Schützes Narrationsanalyse einfließen. Im Folgenden werde ich die einzelnen Schritte der dokumentarischen Interpretation von Interviews ausführlich hinsichtlich der Theorie als auch des praktischen Vorgehens im Rahmen der vorliegenden Studie erläutern. Während es in der formulierenden Interpretation (Abschn. 4.2.2.1) zunächst darum geht, den ‚objektiven Sinn‘ (vgl. Mannheim 2004, z. B. S. 113), d. h. den thematischen Gehalt der Interviews zu erfassen und Passagen für die weitergehende Analyse zu identifizieren, wird im nächsten Schritt, der reflektierenden Interpretation (Abschn. 4.2.2.2), die Rekonstruktion des „Dokumentsinn[s]“ (ebd.) angestrebt. Die Analyseeinstellung fragt nun nach dem sich in der Narration dokumentierenden Modus Operandi der Handlungspraxis (vgl. z. B. Bohnsack 2013a, S. 246), d. h. auch „nach dem der Praxis zugrunde liegenden Habitus“ (Bohnsack et al. 2013, S. 13). Dabei ist sie von Anfang an komparativ (vgl. z. B. Nohl 2006a, S. 50 ff.) angelegt. Je weiter der Forschungsprozess fortschreitet, umso stärker tritt der Einzelfall zugunsten der Entwicklung fallübergreifender Typenbildungen (Abschn. 4.2.2.3) in den Hintergrund. Die in der vorliegenden Arbeit praktizierte Typenbildung als Transformationsanalyse des Habitus wird schließlich hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Typenbildungsformen diskutiert, was – zum besseren Verständnis – zunächst die Darstellung der sinngenetischen, soziogenetischen und der relationalen Typenbildungsformen voraussetzt.

4.2.2.1 Formulierende Interpretation: Erfassung des thematischen Gehalts Der erste Auswertungsschritt der Dokumentarischen Methode besteht in der „formulierenden Interpretation“ (Bohnsack 2003a, S. 134 f.; vgl. auch Nohl 2006a,

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

239

S. 46 f.), im Zuge derer zunächst ein „thematischer Verlauf“ (Bohnsack 2003a, S. 135), d. h. ein grober, an der Chronologie des Interviews orientierter Überblick über dessen thematischen Gehalt erstellt wird. Dieser Arbeitsschritt erfolgt noch vor der Transkription des Interviews und dient der Orientierung des/der Forschenden sowie der Identifizierung und Auswahl der für die Transkription relevanten Passagen. Bei biografischen Interviews liegt das Hauptinteresse auf der Stegreiferzählung, da sich insbesondere dort – um es erneut und diesmal mit Schützes eigenen Worten zu sagen – die für das narrative Interview typischen „Datentexte [finden lassen; S.T.], die die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers […] lückenlos reproduzieren“ (Schütze 1983, S. 295). Während folglich für die vorliegende Studie die Anfangserzählungen aller ausgewerteten Interviews transkribiert wurden, fiel die Auswahl darüber hinaus auf zusätzliche Passagen, die für das Forschungsinteresse von besonderer Bedeutung sind. Desweiteren wurden sogenannte „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack 2003a, S. 33) transkribiert, also Passagen, in denen sich ein besonderer Detaillierungsgrad oder eine „metaphorische Dichte“ (ebd.) zeigte, ebenso wie Passagen zu Themen, die in mehreren Interviews auftauchen (vgl. zu den Kriterien der Passagenauswahl Nohl 2006a, S. 46). Nohl hebt hervor, dass gerade jene Passagen, deren Themen nicht unbedingt vorab von den Forschenden antizipiert wurden, „unter Umständen ein Korrektiv zu den Themen der Forschenden darstellen können“ (ebd.). Auf der Grundlage der Transkription49 der ausgewählten Passagen, die in Ansätzen ebenfalls bereits als Interpretationsschritt gelten muss – wie sich z. B. anhand der Entscheidung verdeutlichen lässt, das gesprochene Wort ‚das‘ entweder als Artikel bzw. Relativpronomen (‚das‘) oder aber als Konjunktion (‚dass‘) zu verschriftlichen –, folgt der zweite formulierende Interpretationsschritt, die „formulierende Feininterpretation“ (Nohl 2006a, S. 46). Sie dient der Erfassung des immanenten Sinngehalts. Ziel ist es nun, den Inhalt eines Textes in seiner allgemeinen Bedeutung zu erfassen. Zu diesem Zwecke wird „jeder Abschnitt sequentiell nach mehr oder weniger markanten Themenwechseln durchgesehen. Auf diese Weise werden Oberthemen und Unterthemen identifiziert“ (Nohl 2006a, S. 46). Oberthemen werden mit eigenen Worten betitelt und der Inhalt der Unterthemen – ebenfalls mit eigenen Worten – paraphrasiert, „ohne […] zu dessen Geltungsansprüchen (hinsichtlich Wahrheits- oder Realitätsgehalt) Stellung zu nehmen“ (Bohnsack 2003a, S. 134). Zentrale Begriffe der Interviewten werden jedoch übernommen, um für den Dokumentsinn relevante Begriffe nicht zu verfälschen.

49Für

die Richtlinien der Transkription siehe Anhang.

240

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Bohnsack (ebd.) konstatiert, dass es sich bei der formulierenden Interpretation – trotz der scheinbar bloßen Wiedergabe des Gesagten – bereits um eine Interpretation handelt, „da ja hier etwas begrifflich-theoretisch expliziert wird, was im Text implizit bleibt“. Diesen Aspekt macht auch Nohl (2006a, S. 47) stark, wenn er betont, den Forschenden würde anhand dieses Interpretationsschrittes praktisch „vor Augen geführt, dass der thematische Gehalt nicht selbstverständlich, sondern interpretationsbedürftig“ sei. In diesem Sinne dient schon die formulierende Feininterpretation dem paradox anmutenden Prozess des besseren Verständnisses des Datenmaterials auf dem Wege der „methodologischen Grundhaltung der Fremdheit“ (Bohnsack 2003a, S. 209) gegenüber dem Text. Im nächsten Interpretationsschritt, der reflektierenden Interpretation, wird diese Analyseeinstellung maßgebend. Denn: Während die Schritte der formulierende Interpretation „als immanente zu betrachten sind, weil sie den Sinngehalt ins Auge fassen und nicht nach einer Genesis dieses Sinngehalts fragen“ (Mannheim 1980, S. 86), wird eben diese Genese in der reflektierenden Interpretation (und allen darauf folgenden Interpretationsschritten) zum Gegenstand der Interpretation.

4.2.2.2 Reflektierende Interpretation: Komparative Analyse des Modus Operandi von Praktiken Die Dokumentarische Methode betrachtet einen (Interview-)Text als Dokument für einen spezifischen Orientierungsrahmen – oder in der vorliegenden Arbeit: Habitus.50 Der Habitus ist nicht unmittelbar zugänglich, sondern dokumentiert sich in der Art und Weise, wie im Interview – sequenz- und themenübergreifend – Erfahrenes bearbeitet wird. Die Rekonstruktion des Habitus und schließlich seiner Transformationen bewegt sich auf der Ebene des von Mannheim als „Dokumentsinn“ (Mannheim 2004) bezeichneten Sinngehalts des Textes, zu dessen Erfassung ein „Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie“ (Bohnsack et al. 2013, S. 13 ff.) vonnöten ist. Dieser zentrale Perspektivwechsel geschieht erstmalig mit dem Auswertungsschritt der reflektierenden Interpretation. Gefragt wird an diesem Punkt der Interpretation nun nicht mehr nach dem thematischen Gehalt des Textes, sondern nach dem Modus Operandi seiner Herstellung wie auch der in ihm erzählten Handlung. Diese Perspektive

50Beide

Begriffe werden in Studien, die im Rahmen der praxeologischen Wissenssoziologie entstanden sind, meist gleichgesetzt. Im Folgenden verwende auch ich sie synonym. Ausführlich zum Verhältnis von Orientierungsrahmen und Habitus vgl. Abschn. 4.1.2 und 4.1.3.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

241

schafft eine analytische Distanz zum Text und somit die Voraussetzung für die Umsetzung des bereits erwähnten Grundprinzips der rekonstruktiven Sozialforschung: des „methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ (Bohnsack 2003a, S. 21; kursiv im Original).51 Doch wie wird der Dokumentsinn nun forschungspraktisch herausgearbeitet? Da er in erster Linie auf das „atheoretische“ und „konjunktive Wissen“ (vgl. Mannheim 1980; Bohnsack 2013a, z. B. S. 59 ff. sowie Abschn. 4.1.2 in der vorliegenden Arbeit) verweist und dieses Wissen in das „habituelle Handeln“ (Bohnsack et al. 1995, S. 11 f.) eingelassen – also nahe an der Handlungspraxis und nicht ohne Weiteres explizierbar – ist, muss der Dokumentsinn durch die Rekonstruktion der Handlungspraxis erfasst werden. Zwar beobachten wir anhand eines narrativen Interviews nicht die Handlungspraxis selbst, doch bekommen wir über die Erzählungen einen Zugang zur Erfahrungsaufschichtung der Beforschten (vgl. Abschn. 4.2.1.2). Davon ausgehend, dass letztere „selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen, somit also über ein implizites Wissen verfügen, welches ihnen reflexiv nicht so ohne weiteres zugänglich ist“ (Bohnsack et al. 2013, S. 12), lenkt auch die Dokumentarische Methode den Blick von den „subjektiven Sinnzuschreibungen“ (Nohl 2006a, S. 50) der Interviewten – also den Alltagstheorien, eigentheoretischen Reflexionen und Bewertungen – hin zu ihren handlungsleitenden Orientierungen, die von den Akteur*innen selten expliziert werden (können) und sich vielmehr als implizites, inkorporiertes Wissen in der (erzählten) Handlungspraxis dokumentieren. Schützes formalanalytische Ausarbeitungen zur Bedeutung der verschiedenen Textsorten – insbesondere zur Erfahrungsnähe von Erzählungen in Abgrenzung zu erfahrungsfernen Argumentationen – und die praxeologisch-wissenssoziologische Unterscheidung von konjunktiv-atheoretischem Wissen (als Resultat der unhinterfragten, in konjunktive Erfahrungsräume eingebetteten Handlungspraxis) und kommunikativ-theoretischem Wissen, das „abstrakt und damit von der Handlungspraxis abgehoben“ (Nohl 2006a, S. 49) bleibt, greifen also nahtlos ineinander. Oder, wie Nohl (ebd., S. 34) dies formuliert: Die „dokumentarische Interpretation von Interviews“

51Eine solche Analyseperspektive, von Bohnsack (2003a, S. 209) auch als „methodologische Grundhaltung der Fremdheit“ oder „analytische Distanz“ (Bohnsack und Marotzki 1998, S. 11) seitens der Forschenden bezeichnet, findet sich z. B. auch bei Hitzler (1991), der dies „Dummheit als Methode“ nennt, und Schütze (1993, S. 208), der vom „verfremdeten Blickwinkel“ spricht. Mit dem Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie trägt die dokumentarische Methode Mannheims Beobachterhaltung Rechnung (vgl. Abschn. 4.1.2).

242

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

kann sich auf die „Textsortentrennung stützen und sie grundlagentheoretisch […] untermauern“. Der Auswertungsschritt der reflektierenden Interpretation von narrativen Interviews setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Während es zunächst darum geht, das vorliegende Textdokument hinsichtlich seiner formalen Struktur zu erfassen, wird im zweiten Schritt sein semantischer Gehalt analysiert. Da aber die „Semantik des Textes […] von seiner formalen Konstruktion nicht zu trennen“ (Nohl 2006a, S. 47) ist, fließen auch die formalanalytisch gewonnenen Erkenntnisse in die semantische Interpretation mit ein. In der formalen Analyse, die sich noch auf der Ebene des Einzelinterviews bewegt, werden zunächst insbesondere anhand der autobiografischen Stehgreiferzählung, aber auch anhand von Passagen aus dem Nachfrageteil, die verschiedene Textsorten identifiziert52 und die Struktur des Textes dahin gehend analysiert, welche Textteile den Vordergrund der Narration bilden und welche hingegen als Hintergrundkonstruktionen z. B. der Elaboration oder Explikation des (im Vordergrund) Gesagten dienen. Auf diesem Wege kann ein Grundverständnis der Erfahrungsaufschichtung des/der Interviewten gewonnen werden. Dieses gibt auch bereits wichtige Hinweise für die semantische Interpretation: Anhand der Textsortendifferenzierung und ihres Vordergrund-Hintergrund-Verhältnisses können zum Beispiel Anhaltspunkte für etwaige biografische Wandlungen oder gar Habitustransformation gefunden werden. Wenn eine Erzählung durch eine Bewertung oder Argumentation ‚überformt‘ (vgl. Bohnsack 2003a, S. 103) wird, d. h. wenn die erzählte Handlungspraxis sich nicht mit den auf die Erzählzeit verweisenden kommunikativen Stellungnahmen oder Explikationen zu decken scheint, so kann dies – an dieser Stelle des Interpretationsprozesses noch vage formuliert – als erster Hinweis auf Veränderungen des Modus Operandi registriert werden. Diese Stellen können insbesondere für eine spätere Analyse von Habitustransformationen (vgl. Abschn. 4.2.2.3.3 und in empirischer Ausarbeitung Kap. 5, 6 und 7) Bedeutung erlangen, da an solchen Stellen der Überformung vor allem der sich im Interview, also in einer gegenwärtigen Kommunikationssituation, dokumentierende Status quo zum Ausdruck kommt (vgl. Nohl 2012a, S. 24). Bei der darauf folgenden semantischen Interpretation setzt die Dokumentarische Methode von Anfang an auf ein komparatives Vorgehen; konkret bedeutet dies: innerhalb des ersten Interviews werden bereits die Passagen miteinander verglichen und der interviewübergreifende Vergleich beginnt mit dem zweiten

52Zu

den unterschiedlichen Textsorten siehe Abschn. 4.2.1.2.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

243

zu interpretierenden Interview. Denn während zu Beginn nur die „Vergleichshorizonte des Interpreten“ (Bohnsack 2003a, S. 137) herangezogen werden können, gilt es, diese alsbald mit empirisch beobachtbaren Vergleichshorizonten zu ersetzen (vgl. etwa Nentwig-Gesemann 2013, S. 312 oder Bohnsack 2013a, S. 252). Im Gegensatz zur objektiv-hermeneutischen Vorgehensweise, bei der gedankenexperimentell gearbeitet wird, setzt die dokumentarische Interpretation auf die konsequente Einbeziehung empirischer Vergleichshorizonte, um so der Standortgebundenheit (vgl. Mannheim 1995 und Abschn. 4.1.2) der Forschenden mit ihren Normalitätsvorstellungen von Anfang an die Empirie entgegenzusetzen. Der Vergleich wird so von den Orientierungen der Forschenden losgelöst und „intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar“ (Bohnsack 2003a, S. 137). Nur auf diesem Wege ließe sich einer „Nostrifizierung“ (Matthes, zit. n. Nohl 2006a, S. 54) vorbeugen, die Nohl (ebd.) als „ein unvermitteltes Hineinnehmen des fremden Falles in die eigenen Selbstverständlichkeiten – selbst dann, wenn an dem Fall nur auffällt, dass er den eigenen Selbstverständlichkeiten widerspricht“ – kennzeichnet. Auf diesem Wege erfahren die normativen Horizonte der Forschenden durch die komparative Analyse, die als integraler Bestandteil der reflektierenden Interpretation gelten kann, eine Relativierung. Nohl (2013b, S. 272) möchte sie jedoch weniger als methodisches Vorgehen, das an einer spezifischen Stelle des Interpretationsprozesses greift, denn „als einen die gesamte Forschungspraxis und alle Einzelmethoden durchwirkenden Stil“ verstanden wissen.53 Dient die komparative Analyse einerseits der Validität der Auswertung, so hat sie auch und vor allem eine erkenntnisgenerierende Funktion: Über den Kontrast zu anderen Fällen wird ein gemeinsames Tertium Comparationis bestimmt, das im Laufe der weiteren Analyse stetig ‚geschärft‘ wird.54 Der komparativen Sequenzanalyse kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu: Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass die Praxis nicht von Situation zu Situation verschieden ist, sondern eine Prozessstruktur aufweist. Diese implizite Regelhaftigkeit lässt sich in der Sequenzanalyse nachzeichnen. Ein Modus Operandi, mit einem spezifischen Orientierungsproblem umzugehen – ich möchte an dieser Stelle noch nicht von

53Die

komparative Analyse bleibt auch für den nächsten Interpretationsschritt der Typenbildung konstitutiv. Bezüglich des Verhältnisses von reflektierender Interpretation und komparativer Analyse konstatiert Nohl (2013b, S. 276), dass erstere, „da sie an empirische Vergleichshorizonte gebunden ist, nicht nur Voraussetzung, sondern auch Produkt der komparativen Analyse“ sei. 54Zur schrittweisen Abstrahierung des Tertium Comparationis und seiner darin inbegriffenen ständigen Veränderung im Verlauf von der reflektierenden Interpretation zur Typenbildung vgl. Nohl 2013b.

244

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Habitus sprechen, höchstens von einem ersten, auf den Habitus verweisenden Indiz –, dokumentiert sich im Interview anhand einer ersten Äußerung und den spezifischen darauf folgenden ersten, zweiten und weiteren Anschlussäußerungen (vgl. Nohl 2006a, S. 50 ff.). Anhand dieser sequenziellen, zunächst fallinternen Analyse dokumentiert sich der spezifische Umgang mit einem Thema, der zudem in der komparativen Analyse mit den sich dokumentierenden Modi Operandi der Behandlung desselben Themas in unterschiedlichen Interviews – fallübergreifend – kontrastiert wird.55 Auf diesem Wege ermöglicht die komparative Sequenzanalyse den schrittweisen Zugriff der Interpretierenden auf die unterschiedlichen Modi Operandi, in denen ein Thema von verschiedenen Informanten behandelt wird. Wird dieses komparative Vorgehen im weiteren Forschungsverlauf konsequent verfolgt und nach dem Prinzip des minimalen und maximalen Kontrasts (vgl. z. B. Nentwig-Gesemann 2013, S. 309) vorgegangen – d. h. zunächst durch den Einbezug weiterer Fälle, die dem bisher herausgearbeiteten Muster ähnlich sind und sich nur in einem Merkmal unterscheiden und später auch durch solche, die größere Kontraste aufweisen –, so werden bereits herausgearbeitete, fallübergreifende Orientierungen (und das Tertium Comparationis) spezifischer und an mehreren Fällen deutlicher. Die Generalisierbarkeit nimmt dann – gerade durch die Spezifizierung (vgl. zu diesem Zusammenhang etwa Bohnsack 2013a u. Nentwig-Gesemann 2013) – sukzessive zu und bewegt sich in Richtung Typenbildung.

4.2.2.3 Typenbildung mit der Dokumentarischen Methode Bei stringenter Fortsetzung der komparativen Analyse wird der herausgearbeitete Orientierungsrahmen vom Einzelfall losgelöst, von anderen Orientierungsrahmen unterscheidbar und so eine „‚Abstraktion‘ [erreicht; S.T.], mit der die Typenbildung beginnt“ (Bohnsack 2013a, S. 270). Es kristallisieren sich verschiedene Orientierungsrahmen heraus, die als Ansätze einer sinngenetischen Typenbildung genutzt werden können.56 Zunächst soll diese – grundlegende – Form

55Nohl (vgl. 2006a, S. 53) macht dies am Beispiel des Orientierungsproblems ‚Schulanfang‘ nachvollziehbar. Während auf die Nennung des Schulbeginns in einem fiktiven Interview eine erste Anschlussäußerung folgt, die das Ereignis unter dem Aspekt der Fremdheitserfahrung bearbeitet und dies in einer zweiten Anschlussäußerung sich bestätigt, so sind in einem andern Interview andere Anschlussäußerungen, die z. B. auf die Freude über die ersten Lernerfahrungen verweisen, denkbar. 56Bereits an diesem Punkt der Typenbildung schlägt die Typenbildung als Prozessanalyse von Habitustransformation, wie sie in der vorliegenden Studie umgesetzt wurden, einen anderen Weg ein, dessen Spezifik sich jedoch nur nachvollziehen lässt, wenn vorab die ‚etablierten‘ Varianten der Typenbildung erläutert werden.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

245

der Typenbildung erläutert werden, um im nächsten Schritt auf die komplexeren Typenbildungsformen der soziogenetischen und relationalen Typenbildung einzugehen. Da die drei genannten als die grundlegenden, methodisch-methodologisch umfassend ausgearbeiteten Formen dokumentarischer Typenbildung gelten können und die Typenbildung der vorliegenden Arbeit vor dieser Vergleichsfolie eingeordnet werden soll, wird ihnen zunächst Platz eingeräumt werden, wenngleich die Typenbildung der vorliegenden Arbeit einige Besonderheiten aufweist.

4.2.2.3.1 Sinngenetische Typenbildung Die sinngenetische Typenbildung hat Bohnsack in Anlehnung an Mannheims „sinngenetische Interpretation“ (Mannheim 1980, S. 86) entwickelt. Ziel der sinngenetischen Typenbildung sind verschiedene Typen, die, mit Mannheim (1980, S. 87) gesprochen, die „immanent-sinnmäßig gegebenen verschiedenen geistigen Gebilde“ repräsentieren, die sich unter einer Perspektive finden lassen. Bohnsack und Nohl (2010, S. 117) übersetzen dies als „Frage nach dem Sinn einer Handlung oder Äußerung“, die aus dokumentarischer Sicht immer auch gleichermaßen eine Frage nach der sie erzeugenden Struktur – dem „generativen (Sinn-) Muster“ – sei und deren Beantwortung (ergo: Forschungsergebnis) die Herausarbeitung des „modus operandi“, des „Orientierungsrahmen[s] oder auch […] Habitus“ darstelle. Mannheim nennt diese ‚Gebilde‘ an anderer Stelle auch „Motive“ (s. u.) und verweist, wie in o. g. Zitat bereits anklang, auf ihre (Sinn-) Immanenz, da beim Interpretationsschritt der sinngenetischen Interpretation die „Sphäre des Sinnes […] nicht transzendiert“ (Mannheim 1980, S. 86) würde. Die sinngenetische Interpretation suche „nicht die faktische Entstehung, sondern den Ursprung der in einem System enthaltenen Motive durch eine rein typologische Nebeneinanderstellung der (in der betreffenden Sphäre) überhaupt möglichen Motive aufzuweisen und die für die getroffene Wahl immanent entscheidenden Gründe darzulegen“ (Mannheim 1980, S. 86; kursiv im Original).

Rekonstruiert werden im Rahmen der sinngenetischen Interpretation, um weiter in Mannheims Terminologie zu verbleiben, also verschiedene Motive oder geistige Gebilde, die in einer Sphäre des Sinns als immanent gelten können. Liest man die ‚Sphäre des Sinnes‘ in der Sprache der Dokumentarischen Methode als die „Richtung der Beobachtung“ (Bohnsack 2003a, S. 142), als ein spezielles „Thema, bzw. eine Problemstellung“ (Nohl 2013a, S. 8), so bedeutet dies, dass verschiedene Modi Operandi der Sinnerzeugung unter einer thematischen Perspektive zum Gegenstand der Typenbildung werden. Dieser thematische Rahmen

246

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

ist aber nicht exmanent, sondern deckt sich mit den in der Handlungspraxis der Informanten vorhandenen Relevanzen, die Mannheim im o. g. Zitat – sprachlich etwas intentional anmutend – als ‚immanent entscheidende Gründe‘ bezeichnete. Um dies praktisch am Thema der vorliegenden Arbeit zu verdeutlichen, könnte die thematische Perspektive z. B. die Zugehörigkeit zu einer Protestbewegung sein. Diese weist sowohl für die Handlungspraxis der Interviewten wie auch für die Fragestellung der Forschenden eine Relevanz auf. Die sinngenetischen Typen würden nun den sich empirisch dokumentierenden Sinnmustern folgen, also die Orientierungsrahmen, mit denen das Engagement in einer Protestbewegung verknüpft ist, abbilden. Die Herausarbeitung der Orientierungsrahmen resp. Habitus wurde in der vorliegenden Arbeit im Ansatz auch so umgesetzt, dann aber – wie eingangs bereits erwähnt – der Fokus nicht auf ihre Typisierung gelegt, sondern auf den Prozess ihrer Transformation (siehe Abschn. 4.2.2.3.3). In welcher ‚Richtung der Beobachtung‘ die so entstehenden Typen zu finden sind – oder, um dies mit einer in der Dokumentarischen Methode etwas geläufigeren Terminologie zu sagen: welche Dimension hierbei zunächst in den Blick gerät –, ist generell abhängig vom Forschungsinteresse und wird, so sollte deutlich geworden sein, auch davon beeinflusst, welches Tertium Comparationis das Datenmaterial selbst nahelegt. Eine „sinngenetische Typenbildung kann eindimensional (d. h. auf eine Problemstellung beschränkt) bleiben, man kann jedoch auch in verschiedenen Dimensionen sinngenetische Typen bilden“ (Nohl 2013a, S. 8). Was eine sinngenetische Typenbildung indes nicht leistet, ist einen systematischen Zusammenhang zwischen den Orientierungsrahmen und ihrer sozialen Entstehung oder Einbettung aufzuzeigen; ebenso wenig wird der Zusammenhang zwischen den Orientierungsrahmen verschiedener thematischer Dimensionen erfasst. Dies leisten hingegen die weiterführenden Formen der Typenbildung.

4.2.2.3.2 Weiterführende Formen der Typenbildung Auf der sinngenetischen Typenbildung aufbauend werden im weiteren Forschungsprozess nunmehr nicht nur Orientierungsrahmen typisiert, sondern diese zum Zwecke der „soziogenetischen“ Typenbildung (Bohnsack 2003a, S. 152 ff.) in den Kontext spezifischer Erfahrungsräume gestellt oder aber – mit der Intention einer „relationalen Typenbildung“ (Nohl 2013a) – die Orientierungsrahmen, die in Bezug auf verschiedene thematische Dimensionen rekonstruiert wurden, miteinander in Beziehung gesetzt. Das Grundprinzip – und laut Nohl (vgl. 2013a, S. 8) auch die Prämisse – dieser weiterführenden, auf der sinngenetischen aufbauenden Typenbildungsformen, ist hierbei die

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

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Mehrdimensionalität.57 Die systematische Variation der Vergleichsfälle und des Tertium Comparationis in der komparativen Analyse bleibt weiterhin das bestimmende Prinzip auch der dokumentarischen Typenbildung. Auf diesem Wege sollen die Bedeutung verschiedener Erfahrungshintergründe und die mit ihnen einhergehenden Orientierungen deutlich werden.58 Iris Nentwig-Gesemann (2013, S. 316) nennt die soziogenetische Typenbildung den „abschließenden, zentralen Schritt der Dokumentarischen Methode, der die sinngenetische Typenbildung zwar voraussetzt, die Typen aber wieder vollständig neu komponiert“. Denn in diesem in Anlehnung an Mannheims „soziogenetische Interpretation“ (Mannheim 1980, S. 85 ff.) benannten Auswertungsschritt bilde nun die Basistypik mit ihren verschiedenen Typen lediglich das Tertium Comparationis (vgl. Bohnsack 2013a, S. 263) für die Rekonstruktion dessen, „welchem spezifischen Erfahrungsraum, welcher Erfahrungsdimension oder welcher sozialen Lagerung eine generelle Orientierung zuzurechnen ist, wofür sie also typisch ist“ (ebd., S. 270). Wie in der komparativen Sequenzanalyse bereits angelegt, ist bei der soziogenetischen Typenbildung „[d]er Kontrast in der Gemeinsamkeit […] fundamentales Prinzip der Generierung einzelner Typiken und […] zugleich die Klammer, die eine ganze Typologie zusammenhält“ (Bohnsack 2003a, S. 143). Erst durch die Kontrastierung mit anderen Fällen bzw. Fallgruppen wird die Spezifik eines Typus deutlich. Die Forschenden vergleichen hier also zunächst zwei Fälle, die hinsichtlich ihrer Erfahrungshintergründe überwiegend Gemeinsamkeiten aufweisen und sich lediglich in einem Aspekt unterscheiden, um dann im nächsten Schritt andere Vergleichsfälle heranzuziehen, die sich von erstem Vergleichsfall wiederum in Bezug auf eine Erfahrungsdimension unterscheiden. Auf diesem Wege wird Stück für Stück die Relevanz spezifischer Erfahrungsräume für die Ausprägung eines Typus herausgearbeitet. So ließ sich in einem Forschungsprojekt zu den Orientierungsproblemen Jugendlicher mit ‚Migrationshintergrund‘ in einem Fallvergleich, in den auch Jugendliche ohne Migrationshintergrund in die Komparation mit einbezogen wurden, „beispiels-

57Während Bohnsack (2013a, S. 263) den Schritt der Mehrdimensionalität, also der Einbeziehung mehrerer Dimensionen in die Typik, zur soziogenetischen Interpretation zählt und damit den Vorgang bezeichnet, „einen Fall zugleich mehreren Typiken zuzuordnen“, kennzeichnet Nohl sie, wie soeben erwähnt, als deren Voraussetzung und somit bereits als Teil der sinngenetischen Typenbildung. Hier deutet sich an, dass es sinnvoll wäre, den Begriff der ‚Dimension‘ klarer zu definieren. 58Zu den Details der Mehrdimensionalität der Typenbildung vgl. beispielsweise auch Bohnsack und Nohl (2010), Bohnsack (2010a) und Bohnsack (2013a).

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4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

weise zeigen, dass dasselbe (z. B. migrationstypische) Orientierungsproblem durch geschlechtstypische Differenzierungen und in unterschiedlichen lebenszyklischen Phasen, also in diesen spezifischen Variationen, in seiner Grundstruktur als ein generelles Orientierungsmuster identifizierbar bleibt“ (Bohnsack et al. 2013, S. 17). Eine Typik wird laut Bohnsack (2013a, S. 263) nur dann valide und generalisierbar, wenn sie – wie in oben genanntem Beispiel – „in ihrer Relation zu und ihrer Überlagerung durch andere Typiken […] innerhalb einer ganzen Typologie verortet werden kann“ (ebd.). In den Blick geraten so als ‚Ort‘ der Genese spezifischer Orientierungen alters-, generations-, geschlechts-, milieuund bildungsmilieutypische Erfahrungsräume.59 Im Kontext verschiedener Erfahrungsräume wird für die soziogenetische Typenbildung die Basistypik zunächst hinsichtlich sozialer Zusammenhänge spezifiziert (vgl. Bohnsack 2013a, S. 262 ff.), um dann die Genese der Orientierungen im Kontext eines oder mehrerer Erfahrungsräume herauszuarbeiten (vgl. ebd., S. 267 ff.). Die Frage nach der sozialen Genese eines Orientierungsrahmens kann aber am empirischen Material nicht immer gleichermaßen klar mit bekannten Formen sozialer Lagerung beantwortet werden. Auch bei solchen Studien, deren Suchstrategien sich „auf etablierte Dimensionen gesellschaftlicher Heterogenität“ (Nohl 2013a, S. 54) oder konjunktive Erfahrungsräume in Organisationen60 stützen, ist es nicht in jedem Fall möglich, eine Relevanz dieser Erfahrungsräume bzw. organisationaler Zugehörigkeiten für die praktischen Erfahrungen der Untersuchten nachzuweisen. Desweiteren gibt es Forschungsfelder, „für die in der Gesellschaft noch keine (auch im öffentlichen Diskurs etablierten) Differenzkategorien vorhanden sind bzw. für die die etablierten Unterscheidungen sich als nicht sinnvoll erweisen“ (Nohl 2013a, S. 55). Für diese Fälle schlägt Nohl eine relationale Typenbildung vor, deren Ziel es ist, „herauszuarbeiten, wie die Orientierungen, die in unterschiedlichen Dimensionen zu finden waren, miteinander zusammenhängen“ (ebd., S. 9). Diese Vorgehensweise ermöglicht

59Es ist jedoch zu betonen, dass es darum geht, diejenigen existenziellen Erfahrungshintergründe zu rekonstruieren, die für die spezifische Praxis (und den sich in ihr dokumentierenden Modus Operandi) tatsächlich relevant sind. Wie in Abschn. 4.1.2 ausgeführt, wird in der praxeologischen Wissenssoziologie nicht angenommen, dass die bloße Erfahrung derselben Umstände den gemeinsamen Erfahrungsraum begründet: „Nur dort und insoweit Probleme und Sachverhalte in einer von der Struktur her identischen Art und Weise erfahren und bewältigt werden, kann man von einem kollektiven Erfahrungsraum mit seinem entsprechenden Orientierungsrahmen sprechen.“ (Nohl 2013a, S. 49; Kursivsetzung S.T.). 60Nohl bezieht sich hier auf die Studie von Anja Mensching (2008) zu Hierarchien in der Polizei.

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es also, f­allübergreifende Verbindungen auch dort herauszuarbeiten, wo kein typisierbarer Zusammenhang zwischen Orientierungsrahmen und spezifischen Erfahrungszusammenhängen gefunden werden konnte. Stattdessen zeigt Nohl auf, wie in drei verschiedenen Forschungsprojekten61 Typiken aus verschiedenen thematischen Dimensionen, d. h. aus verschiedenen Tertia Comparationis, herausgearbeitet wurden und schließlich als Resultat der relationalen Typenbildung typikübergreifende Zusammenhänge zwischen einzelnen Typen rekonstruiert werden konnten (vgl. ausführlich Nohl 2013a).

4.2.2.3.3 Typenbildung als Prozessanalyse von Habitustransformationsverläufen Während die soziogenetische Typenbildung also auf den Zusammenhang von spezifischen Orientierungsrahmen und ihrer sozialen Genese abzielt, ist es das Bestreben der relationalen Typenbildung, überall dort, wo sich aus verschiedenen Gründen eine solche soziogenetische Typenbildung nicht realisieren lässt, stattdessen typisierbare Zusammenhänge zwischen den Orientierungsrahmen aus verschiedenen thematischen Dimensionen zu rekonstruieren. Da es bei der Analyse von biografischen Prozessverläufen, wie sie im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht, nun aber nicht (nur) um die Rekonstruktion von Orientierungsrahmen – resp. Habitus – und deren sozialer Genese geht, sondern in erster Linie um ihre Transformation, findet nun ein erneuter Wechsel der Analyseperspektive statt: Ziel der Rekonstruktion sind nicht verschiedene Habitus, sondern die „Tradierungs- und Transformationsgeschichte ihrer Habitusdispositionen“ (Rosenberg 2012, S. 203); im Falle der vorliegenden Arbeit konkret: die Phasen dieser Transformation.62 Die Ausarbeitungen von Rosenbergs prozessanalytischer Typenbildung (vgl. Rosenberg 2012) möchte ich im Folgenden wiedergeben und mich seiner Herangehensweise anschließen – mit zwei Ausnahmen: Zwecks genauerer Bezeichnung dessen, was in meiner Arbeit typisiert wird, konkretisiere ich die

61Hierbei

handelt es sich hier um die Arbeit der Studiengruppe „Kulturelles Kapital in der Migration“ (Nohl et al. 2010 u. Nohl 2014), Anne-Christin Schondelmayers (2010) Studie zur interkulturellen Handlungskompetenz von Entwicklungshelfer*innen und Auslandskorrespondent*innen und die Untersuchung von Heike Radvan (2010) zum pädagogischen Umgang mit Antisemitismus in der offenen Jugendarbeit. 62Auf den Umstand, dass bei der einer Phasentypik „nicht die unterschiedlichen Orientierungsrahmen, sondern die Wandlungen der Orientierungen […] zum Ausgangspunkt der Typik [ge]macht“ werden, habe ich bereits früher (Thomsen 2009, S. 42) aufmerksam gemacht, ohne dies jedoch methodisch-methodologisch weitergehend zu reflektieren.

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4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Bezeichnung als prozessanalytische Typisierung von Habitustransformationsverläufen, zudem möchte ich diese nicht als eigenständige Typenbildungsform verstanden wissen, sondern als Sonderform der anderen Typenbildungsvarianten, wie im Folgenden methodisch-methodologisch begründet werden soll. Darauf, dass nicht nur verschiedene Orientierungsrahmen zum Ausgangspunkt einer Typenbildung gemacht, sondern auch Prozesse zum Gegenstand der komparativen Analyse und schließlich Typenbildung werden können, wies schon Bohnsack (2003a, S. 144 ff.) hin. Zentral für seine Reflexionen ist der – von ihm sehr breit gefasste – Begriff der „Prozessstruktur“. Diese umfasse sowohl Ablaufdynamiken in einzelnen Biografien, wie sie in der vorliegenden Arbeit fokussiert werden,63 als auch den „Erlebnishintergrund“ von Orientierungen, der „nur als Interaktionsprozess […] in adäquater Weise zu erfassen ist, also als Prozessstruktur verstanden werden“ müsse (ebd., S. 142).64 Die Differenz beider Verständnisse von Prozessstrukturen kennzeichnet Bohnsack als „Unterschiede zwischen der Milieuanalyse und der Analyse von Individualbiographien“ (ebd., S. 147). Im Zentrum der Aufmerksamkeit der ersteren lägen nicht die biografischen Entwürfe selbst, sondern ihre „Bedingungen der Konstitution, Reproduktion und Veränderung“ (ebd., S. 146), d. h. milieubezogene und intergenerationelle Interaktionen.65 Ein derart weit gefasstes Verständnis von Prozessstrukturen kann in autobiografischen Interviews nicht, oder höchstens ansatzweise erfasst werden. Während Bohnsacks Ausarbeitungen zur Prozessstruktur von Erlebnishintergründen der Milieuanalyse sich auf empirische Daten, die in Gruppendiskussionen erhoben wurden, stützen, in denen sich in der Performanz der Erhebungssituation selbst bereits Elemente des – z. B. milieuspezifischen – Interaktionsprozesses dokumentieren, können mittels narrativer Interviews diese

63Bohnsack (vgl. 2003a, S.  147 ff.) bezieht sich diesbezüglich sowohl auf Schützes Prozessstrukturen des Lebenslaufs als auch auf an „Entwicklungstypiken“ (ebd., S. 147) interessierte Arbeiten, die im Rahmen der Chicagoer Schule entstanden sind. 64Als Beispiel für letzteres gibt Bohnsack die Einbindung in ein dörfliches Milieu an, in dem die „Identitätsgewissheit“ (ebd.) der Einzelnen in Interaktion zwischen den Milieuangehörigen stetig ausgehandelt würde. 65So sei „[a]uch Generationstypisches […] als Prozessstruktur zu verstehen“ (Bohnsack 2003a, S. 146); die generationstypische Ausprägung eines Themas, z. B. „Selbstwert“ (ebd.), sei in ihrer Entstehung und Reproduktion nicht von derjenigen der jeweils anderen Generation zu trennen. Eine solche intergenerationelle Prozessstruktur dokumentiert sich zwar auch in der einzelnen Biografie, geht in ihrer Genese aber deutlich über diese – und sogar über die Lebenszeit der Einzelnen – hinaus.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

251

existenziellen Hintergründe ‚nur‘ anhand der Erfahrungsaufschichtung einzelner Informant*innen erfasst werden. Empirisch dokumentiert sich im biografischen Interview nicht die eigentliche interaktive Prozessstruktur von Erlebnishintergründen, sondern ihre Sedimentierung in der Lebensgeschichte des/der Einzelnen. Zwar zielt auch die Analyse der sich in den Biografien dokumentierenden Prozessstrukturen darauf ab, die für die Orientierung/den Habitus relevanten Erfahrungshintergründe zu erfassen, doch wird hier das innerhalb der Individualbiografie Erfahrene und Erzählbare erfasst. Nur aus dieser Perspektive heraus gerät die z. B. milieubezogene Genese der existenziellen Hintergründe in den Blick. Prozessstrukturen als Erfahrungshintergründe des Habitus (und seiner Transformation) fließen in die Auswertung biografischer Prozesse also anhand der Analyse der sich in autobiografischen Interviews dokumentierenden Erfahrungsaufschichtung ein, der im Zentrum der Beobachtung stehende Prozess ist aber unweigerlich stärker auf die Ablaufdynamiken auf der Ebene von Individualbiografien bezogen – ohne aber dabei individualistisch konzeptioniert zu sein. Von Rosenberg (2012) nennt einen solchen systematisierten Zugriff auf biografische Prozesse und ihre Prozessstrukturen auf der Grundlage narrativer Interviews „prozessanalytische Typenbildung“ und nähert sich dem Vorhaben habitustheoretisch, indem er, wie im obigem Zitat bereits deutlich wurde, zwischen Habitusfunktion und Habitusgeschichte unterscheidet: „Während bei der Analyse der Funktion des Habitus die Rekonstruktion von handlungsleitenden Mustern im Vordergrund steht, geht es bei der Analyse der Geschichte des Habitus um die Prozesse der Entwicklung, Strukturierung und gegebenenfalls Modifizierung eines Habitus, also um dessen Genese“ (ebd., S. 194). Ziel dieser prozessanalytischen Typenbildung ist es, mittels komparativer Analyse unterschiedliche Prozessverläufe, resp. „Habitusprozessverläufe in den Blick“ (ebd., S. 199) zu bekommen.66 Wie aber sieht die Erarbeitung einer solchen Typik genau aus? Wie ordnet sich die prozessanalytische Typisierung von Habitustransformationsverläufen – wie ich sie begrifflich in Bezug auf die vorliegende

66Empirisch

wurde dies von von Rosenberg (2011) umgesetzt, indem er zwei Arten von Prozessverläufen, die er voneinander als Wandlungsprozesse auf der einen und Transformationsprozesse auf der anderen Seite abgrenzt hat (vgl. ebd., z. B. S. 285), rekonstruierte. Nohl (2006b) hat bereits zuvor eine prozessorientierte Typenbildung vorgelegt, die als mehrdimensionale, soziogenetische (nach Lebensalterspezifiken differenzierte) Phasentypik spontaner Bildungsprozesse gelten kann. Die Phasentypik der Habitustransformationen in Nohl et al. (2015a) fußt auf der Basis der Erhebungen der oben genannten Arbeiten sowie auf neuen Erhebungen – u. a. auch jenen Interviews, die die Grundlage der vorliegenden Arbeit bilden.

252

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Arbeit konkretisieren möchte –, in die Reihe der anderen Typenbildungsformen ein, wenn bei ihr nicht der Orientierungsrahmen resp. Habitus, sondern der Prozess seiner Transformation die ‚Sinnhaftigkeit des Zusammenhangs‘ darstellt? Was ist bei der Analyse von Prozessverläufen des Habitus das Überindividuelle, das es zu typisieren gilt und das in der Gesamtheit die Basistypik bildet? In welcher ‚Beobachtungsrichtung‘ und auf welcher Abstraktions-, Generalisierungsund Komplexitätsebene bewegt sich eine solche Typenbildung im Verhältnis zu den anderen Varianten der Typenbildung? Diese Fragen gilt es im Folgenden zu diskutieren. Zu diesem Zwecke möchte ich sowohl einen Einblick in das forschungspraktische Vorgehen im Rahmen dieser Arbeit geben, als auch weitere theoretische Überlegungen hinzuziehen. Die Erarbeitung der prozessanalytischen Typenbildung der vorliegenden Arbeit zeichnete sich durch ein zweischrittiges Vorgehen aus. Galt es zunächst, verschiedene Habitus zu rekonstruieren – jedoch nicht (in erster Linie), um deren Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeit fallübergreifend herauszuarbeiten – so wurde im zweiten Schritt die Transformation des Habitus – sofern eine solche zu finden war – in ihrem phasenhaften Verlauf, d. h. in Form einer Phasentypik rekonstruiert. Davon ausgehend, dass der Habitus die Gesamtheit der Welt- und Selbstverhältnisse bezeichnet, muss ein Modus Operandi, für den der Anspruch erhoben werden kann, dass er den Habitus repräsentiert, sich in verschiedenen Dimensionen der Biografie dokumentieren. Von Rosenberg streicht die Mehrdimensionalität des Habitus heraus und kennzeichnet das Konzept von Mehrdimensionalität zugleich als Besonderheit der dokumentarischen Forschungspraxis, womit sie sich „ein Stück weit von den empirischen Arbeiten Pierre Bourdieus ab[hebe], insofern Bourdieu meist eine habituelle Disposition […] beschreibt, Überlagerungsverhältnisse jedoch weitestgehend vernachlässigt“ (Rosenberg 2011, S. 98). Der Aspekt der Mehrdimensionalität des Habitus ist, so wurde dies bereits dargelegt (vgl. Abschn. 3.2.3 und 4.1.4), insbesondere für die Rekonstruktion von Bildungsprozessen von Bedeutung, da (nun praxeologisch-wissenssoziologisch formuliert) in der Überlappung unterschiedlicher Erfahrungsräume und dem mit ihnen einhergehenden – durchaus voneinander abweichenden – Wissensbeständen ein Ansatzpunkt für die Möglichkeit von Habitustransformationen liegt (vgl. Rosenberg 2011, S. 78 ff.). Die Rekonstruktion des Habitus wurde demzufolge mehrdimensional angelegt. Konkret wurde der Habitus des einzelnen Falls zunächst fallintern, komparativ-sequenzanalytisch rekonstruiert. Für die dimensionsspezifischen Tertia Comparationis wurde so jeweils ein übergreifendes Tertium Comparationis gefunden, das den Habitus dimensionsübergreifend (aber noch nicht fallübergreifend) erfasst.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

253

Ist eine solche mehrdimensionale Habitusrekonstruktion zwar unablässig für die prozessanalytische Typenbildung zum Verlauf von Habitustransformationen, so stellt sie dennoch nur den Ausgangspunkt der Prozessanalyse dar. Während bei der ‚normalen‘ sinngenetischen Typenbildung die verschiedenen Habitus fallübergreifend typisiert werden, verbleibt die Habitusrekonstruktion hier – tendenziell – auf der Ebene des Einzelfalls.67 In der Folge tritt eine andere Perspektive in den Vordergrund: Die Suche nach Dokumenten der Transformation des rekonstruierten Habitus. Zentral ist hierbei der Kontrast zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit. Zur Identifizierung von Habitustransformationen kommen so, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, z. B. theoretische Textsorten ins Spiel: Weicht der Modus Operandi der auf die Erzählzeit verweisenden Argumentationen und Bewertungen nämlich von jenem, der erzählten Zeit entspringenden ab, so kann dies als Indiz für ein Transformationsgeschehen gewertet werden. Ebenso verhält es sich mit Überformungen von Erzählungen der Vergangenheit durch Theoretisierungen aus der Erzählzeit. Letztlich kann eine Habitustransformation jedoch nur dort konstatiert werden, wo sich sequenzanalytisch zu unterschiedlichen Zeitpunkten68 in homologen Situationen zwei verschiedenartige Modi Operandi der Handlungspraxis dokumentieren. Es müssen also verschiedenartige Verkettungen von einer erzählten Handlung mit einer zweiten, dritten usw. Anschlusshandlung rekonstruierbar sein (vgl. Nohl 2006a, S. 50 ff. u. Abschn. 4.2.2.2), und dies zudem in mehreren Dimensionen. Der Prozess der Habitustransformation wird in seiner Phasenhaftigkeit fallübergreifend herausgearbeitet. Rosenberg (2012, S. 199) konstatiert, dass die der Prozessanalyse eigene Perspektive auf die „Geschichte des Habitus“ auch ein verändertes „Tertium Comparationis gegenüber der sinn- und soziogenetischen Typenbildung“ mit sich bringe. Während die sinngenetische Typenbildung, wie oben bereits dargelegt, normalerweise auf der typisierenden Abgrenzung verschiedener Orientierungsrahmen resp. Habitus unter dem Gesichtspunkt einer „spezifischen Orientierungsproblematik“ (Bohnsack 2003a, S. 141; kursiv im Original) basiert, ist das Tertium Comparationis der prozessanalytischen Typisierung von Habitustransformationsverläufen ein anderes: Die Typik setzt sich hier aus den voneinander abgrenzbaren Phasen eines Prozesses zusammen; diese bilden im Falle der prozessanalytischen Typenbildung die einzelnen Typen. Die

67Zwar

werden auch fallübergreifende Gemeinsamkeiten und Kontraste registriert, jedoch nicht in typisierender Absicht erfasst. 68Sofern sich der Habitus nicht abermals transformiert hat, wären diese: ein Zeitpunkt in der erzählten Zeit und derjenige in der Erzählzeit, d. h. der Zeitpunkt des Interviews.

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4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

spezifische Abfolge dieser Typen (also Phasen), d. h. ihre sequenzielle Gesamtheit, der Prozessverlauf, bringt dann die Sinnhaftigkeit des Prozesses hervor; im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist dies die Transformation des Habitus.69 Jedoch sagen die Verlaufsformen von Habitustransformationen alleine (in qualifizierender Hinsicht) nichts darüber aus, welcher ‚inhaltlicher‘ Art der transformierte Habitus ist. Bei allen anderen Typenbildungen mit der Dokumentarischen Methode bauen die weiterführenden Typenbildungen jeweils auf der sinngenetischen Rekonstruktion verschiedener Orientierungsrahmen oder Habitus auf, sodass von Rosenberg in Bezug auf das anders gelagerte Tertium Comparationis der prozessanalytischen Typenbildung gegenüber sowohl der sinngenetischen als auch soziogenetischen (wie übrigens auch der relationalen) Typenbildung zuzustimmen ist. Bildlich gesprochen kann das Tertium Comparationis der prozessanalytischen Typisierung von Habitusverläufen als quer liegend zu den ‚gemeinsamen Dritten‘ anderer Typenbildungsformen gesehen werden. Jedoch ist damit die Frage, ob die biografische Prozessanalyse von Habitusverläufen eine eigene Art der Typenbildung darstellt, sich also jenseits der sinngenetischen, soziogenetischen und/oder relationalen Typenbildung bewegt, keinesfalls geklärt. Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, die prozessanalytische Typenbildung als Sonderform der anderen Typenbildungsformen zu betrachten. Denn, so wird deutlich werden: Die Prozessanalyse ist zunächst einmal sinngenetisch und kann – hieran anschließend – ebenso relationale wie auch soziogenetische Formen annehmen. Trotz verändertem Tertium Comparationis ist es auch in der Prozessanalyse – wie bei der ‚herkömmlichen‘ sinngenetischen Typenbildung – ein ‚generatives Sinnmuster‘ (vgl. z. B. Bohnsack und Nohl 2010, S. 117), nach dessen Ausprägungen die Typen strukturiert werden. In der Phasentypik repräsentiert der einzelne Typus, d. h. die einzelne Phase durchaus auch einen Modus Operandi der Praxis, der von den Modi Operandi anderer Phasen abgrenzbar ist – wenngleich dieser sich nicht auf der (übergeordneten) Ebene eines Orientierungsrahmens oder Habitus bewegt.70 Die einzelne Phase

69Eine

prozessanalytische Typisierung von Habitusverläufen muss sich nicht auf Habitustransformationen beschränken, sondern kann ebenso etwaige Wandlungs- (vgl. Rosenberg 2011) oder Modifikationsprozesse des Habitus (vgl. Nohl et al. 2015a) rekonstruieren. 70Hier wird, nebenbei bemerkt, deutlich, dass es sinnvoll ist, diese Begrifflichkeiten klar zu definieren: Nicht jeder Modus Operandi der Praxis muss zugleich einen Orientierungsrahmen repräsentieren, wenngleich – in umgekehrter Richtung – jeder Orientierungsrahmen einen Modus Operandi darstellt.

4.2  Die dokumentarische Verfahrensweise mit narrativen Interviews …

255

des ­Transformationsprozesses kann also durchaus als generatives Sinnmuster betrachtet werden; wobei der Modus Operandi einer solchen Phase auf einer dem Habitus untergeordneten Ebene rangiert. Die prozessanalytische Phasentypik (von Habitusverläufen) stellt in ihrer einfachen, d. h. nur auf eine Problemstellung bezogenen Ausführung so gesehen eine sinngenetische Typenbildung dar; wobei hier der Unterschied zur ‚konventionellen‘ sinngenetischen Typenbildung darin besteht, dass die einzelnen Phasen zudem in ihrer Verbindung einen (Phasen-)Verlauf darstellen, während die typisierten Orientierungen ‚normalerweise‘ unverbunden nebeneinander stehen. Sie umfasst unterschiedliche, zeitlich und hinsichtlich der Modi Operandi der Handlungspraxis voneinander abgrenzbare Phasen, in denen sich ein je eigener Modus Operandi der Verknüpfung von Selbst und Welt dokumentiert – mal stärker kollektiv verfasst, mal als individuelle Handlungspraxis, mal reflexionsbasiert, mal vorreflexiv, aktionistisch, … Ein Unterschied besteht jedoch darin, dass das Kollektive dieser Typen anders gelagert ist. Während der typisierte Orientierungsrahmen der ‚normalen‘ sinngenetischen Typenbildung quasi für sich steht (als eine von mehreren typisierbaren Arten des handlungspraktischen Umgangs mit einem Thema), hat die Phase für sich genommen keine Relevanz bzw. erhält diese nur vor dem Hintergrund des gesamten Prozesses, d. h. aller Phasen in ihrer sequenziellen Gesamtheit. Und so geht es bei der prozessanalytischen Typenbildung nicht zuletzt auch um eine Typisierung des gesamten Prozessverlaufs und nicht nur um die Typisierung seiner einzelnen Phasen. Am Ende der Typisierung kann dann eine übergreifende Phasentypik stehen, bei der in allen Fällen derselbe typisierte Prozessverlauf (mit denselben Phasen) rekonstruiert wurde oder aber es werden verschiedene Verläufe (als typisierte Relationen von aufeinanderfolgenden Phasen) rekonstruiert. Wenn nun über die sinngenetische Ebene hinaus die „Frage nach der sozialen Genese“ (Bohnsack und Nohl 2010, S. 117; kursiv im Original) von Prozessverläufen (z. B. der Habitustransformation) herausgearbeitet werden soll, so müssen, die existenziellen Erfahrungshintergründe, die für bestimmte Phasen des Prozesses oder aber auch für seinen gesamten Verlauf als typisch gelten können, in die prozessanalytische Typisierung mit einfließen. Für die soziogenetische Typenbildung gilt, wie bereits erwähnt, dass sie auf einer (sinngenetischen) Basistypik aufbaut und die Herausarbeitung „unterschiedliche[r] Dimensionen und Erfahrungsräume des Falles“ (vgl. Bohnsack 2003a, S. 152) zum Ziel hat. Bei der relationalen Typenbildung geht es hingegen darum, unter verschiedenen thematischen Dimensionen (sinngenetisch) rekonstruierte Orientierungsrahmen miteinander in Beziehung zu setzen. Auf die prozessanalytische Typenbildung übertragen, deutet dies Folgendes: Für eine soziogenetisch-prozessanalytische

256

4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

Typenbildung müssten eine oder mehrere Erfahrungsdimension(en) für spezifische Verläufe der Transformationsprozesse auszumachen sein. Beim relational-prozessanalytischen Vorgehen müssten hingegen spezifische, typisierte Prozessverläufe in Relation zu spezifischen, ebenfalls zuvor typisierten Orientierungsrahmen resp. Habitus zu setzen sein. Verschiedene Verläufe von Habitustransformation würden so typisierbar in ihrem Verhältnis zu verschiedenen Habitusformen.71 Im Folgenden möchte ich nun nicht nur das in diesem Kapitel Erarbeitete zusammenfassen, sondern zudem meine eigenen, in den Kap. 5, 6 und 7 dargestellten empirischen Ausarbeitungen in diese methodologischen Überlegungen einordnen.

4.3 Zusammenfassung und Ausblick auf die empirischen Kapitel Zu Beginn dieses Kapitels hatte ich konstatiert, dass in der vorliegenden Arbeit die Perspektive der Dokumentarischen Methode und der praxeologischen Wissenssoziologie den komplexen Hintergrund für die Analyse von Bildungsprozessen in sozialen Bewegungen böten. In der Folge habe ich die verschiedenen Grundannahmen sukzessive entfaltet und dargelegt, wie die theoretischen Grundlagen von Methodologie, Methodik und der Grundbegriffe miteinander in Beziehung stehen. Zudem habe ich die Arbeitsschritte der Dokumentarischen Methode ausführlich dargestellt, das Vorgehen der vorliegenden Studie reflektiert und so transparent gemacht wie möglich. In den folgenden drei Kapiteln, von denen Kap. 5 und 6 ausschließlich empirischer Art sind und Kap. 7 sowohl empirische als auch theoretische Erkundungen enthält, wird der Umgang mit dem empirischen Material deutlicher werden. Vor dem Hintergrund der im vorliegenden Kapitel entfalteten theoretischen und method(olog)ischen Grundlagen möchte ich dieses Kapitel nun abschließen mit einem Ausblick auf die empirischen Kapitel sowie mit einer Reflexion dessen, wie die dort präsentierten Ausarbeitungen methodisch einzuordnen sind. Während ich in Kap. 5 zunächst einen Überblick über das Sample und die Kurzbiografien meiner Interviewpartner*innen geben werde, wird sodann die Phasentypik adoleszenter Bildungsprozesse im Zuge der Einfindung in soziale

71Ob

eine soziogenetisch-prozessanalytische oder eine relational-prozessanalytische Typisierung von Habitusverläufen verfolgt wird, ist davon abhängig, welche Zusammenhänge sich im empirischen Material zeigen.

4.3  Zusammenfassung und Ausblick auf die empirischen Kapitel

257

Protestbewegungen im Zentrum des Kapitels stehen. In dieser Typik habe ich die fallübergreifenden, sinngenetischen Phasen von Habitustransformationen, wie sie sich im Zuge der ‚Einfindung‘ in eine soziale Protestbewegung im Jugendalter in ihrer typischen Verbindung als Prozessverlauf darstellen, herausgearbeitet. In Kap. 6 entfalte ich sodann die Phasentypik adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen, die sich auf derselben Ebene der Typenbildung bewegt. Hier rekonstruierte ich zwei unterschiedliche Prozessverläufe: So unterscheiden sich die Phasen derjenigen Akteur*innen, deren Bildungsprozess im Erwachsenenalter im Rahmen eines – in veränderter Form oder einer anderen Bewegung – fortgesetzten Bewegungsengagements stattfindet, von den Prozessverläufen jener, die sich aus dem Engagement zurückziehen. Neben dieser Differenzierung sind hier aber auch etliche übergreifende Gemeinsamkeiten des phasenhaften Verlaufs der Prozesse zu konstatieren. Der Vergleich der Verläufe dieser Bildungsprozesse im Erwachsenenalter mit jenen im Jugendalter ermöglichte mir eine wechselseitige Kontrastierung, auf deren Wege das Besondere im Allgemeinen verdeutlicht und die Generalisierbarkeit erhöht wird (vgl. hierzu Bohnsack 2005). Auf diesem Wege werden soziogenetische Typisierungen möglich. Solche habe ich – zumindest einen Erfahrungshintergrund abdeckend – anhand der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Phasentypiken in der Adoleszenz und Erwachsenenalter herausarbeitet. Doch beschränkte sich der Vergleich der Prozessverläufe, wie bereits angedeutet, nicht auf die Kontrastierung von adoleszenten und adulten Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen. Unter Einbezug derjenigen Prozesse, die sich im Erwachsenenalter im Zuge des Rückzugs aus dem Bewegungsengagement vollziehen, konnte noch ein weiterer Prozessverlauf einbezogen werden. Dies ermöglichte mir eine wechselseitige Kontrastierung von drei verschiedenen Prozessverläufen mit teils identischen, teils voneinander abweichenden Phasen. So wurden neben typischen Unterschieden, die eine Lebensalterspezifik betreffen und auf soziogenetische Zusammenhänge verweisen (vgl. Kap. 8), auch solche deutlich, die einen Unterschied zwischen denjenigen Bildungsprozessen (Jugendlicher wie Erwachsener), die sich im Rahmen des Engagements in sozialen Bewegungen vollziehen, und solchen (von Erwachsenen), die sich jenseits der Bewegungen zutragen, deutlich. Dies legt eine Spezifik von Bildungsprozessen in sozialen Bewegungen in Abgrenzung zu jenen jenseits sozialer Bewegungen nahe. Dies könnte angesichts dessen, dass die soziale Bewegung als spezifischer Erfahrungsraum eine andere Ausprägung der Phasen mit sich bringt, als die Erfahrungsräume jenseits der Bewegung die tun, ebenfalls auf einen soziogenetischen Zusammenhang verweisen. Wenn die typischen Prozessverläufe des Verbleibs in respektive des Rückzugs aus der sozialen Bewegung aber eher mit

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4  Grundbegriffe, Methodologie und methodischer Zugang

einem oder mehreren spezifischen Habitusformen relationiert würden, so wiese dies in Richtung einer relational-prozessanalytischen Typisierung. Keines von beiden habe ich in der vorliegenden Arbeit vorgenommen, da angesichts dessen, dass ich mich in meinen empirischen Rekonstruktionen nur auf zwei Bildungsfälle stütze, bei denen ein Bildungsprozess im Zuge eines Rückzug aus den sozialen Bewegungen zu konstatieren ist (und ich zudem keine strukturiert aufbereitete Typisierung verschiedener Habitusformen vorgenommen habe), hier nur Ansätze eines typischen Phasenverlaufs zu konstatieren sind. Wohl aber deutet sich, angesichts dessen, dass der Rückzug aus der Bewegung bei beiden Frauen im Kontext einer Distanzierung vom Habitus der politisierten Negation (den sie beide im Kontext ihrer Einfindung in die soziale Bewegung ausgebildet hatten) stattfindet, eine Relation zwischen Habitusform und Prozessverlauf ebenso an wie ein Zusammenhang zwischen dem Rückzug aus dem Erfahrungsraum der sozialen Bewegung und des spezifischen Prozessverlaufs. Diese genauer auszuarbeiten würde allerdings eine Typisierung der verschiedenen Habitusformen zur Voraussetzung haben und bleibt aus diesem Grunde Anschlussarbeiten vorbehalten.72 Doch habe ich in der vorliegenden Arbeit durchaus Erkundungen vorgenommen, die – wenn auch nicht in typisierter Form – in Richtung einer solchen Relationierung von Habitusformen und bestimmten Prozessverläufen weisen. In Kap. 7 werde ich anhand von zwei Bildungsfällen, von denen sich einer im Zuge der Einfindung in eine soziale Bewegung im Jugendalter und einer im Zuge des fortgesetzten Engagements in sozialen Bewegungen im Erwachsenenalter vollzieht, eine spezifische Form des Prozessverlaufs vor dem Hintergrund der sich in den beiden Lebensgeschichten dokumentierenden Habitusformen diskutieren. Dies ist eingebettet in darüber hinausgehende Erkundungen zwischen Empirie und Theorie, mit denen ich am empirischen Material zudem Fragen nach der Normativität von Bildung und Bildungsforschung (vgl. Kap. 3) nachgehe. Das Kap. 7 habe ich dahin gehend als Erkundung gekennzeichnet, als dass meine Erkundungen nicht in typisierender Absicht geschehen und ich hier verschiedene, theoretische Gedankenstränge mit dem empirischen Material lediglich versuchsweise zusammengebracht habe. Im Schlussteil der vorliegenden Arbeit, in Kap. 8, werde ich schließlich die übergreifenden, empirischen Gemeinsamkeiten und die soziogenetischen Unterschiede reflektieren, die sich an den verschiedenen Phasentypiken in Bezug auf das Lebensalter dokumentieren und in Bezug auf den Unterschied zwischen dem Verbleib im Bewegungskontext und dem Rückzug aus diesem zumindest

72In Ansätzen

greife ich dieses Thema aber im Kap. 8 noch auf.

Literatur

259

andeuten. Außerdem werde ich hier Ansätze für eine weitere Erforschung des relational-prozessanalytischen Zusammenhangs von spezifischen Prozessverläufen und Habitusformen aufzeigen.

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5

Empirische Rekonstruktionen der Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen

In diesem Kapitel – und den beiden folgenden – gilt es nun, den empirischen Rekonstruktionen Raum zu geben.1 Alle Interviewten des Samples dieser Arbeit traten bereits im Jugendalter in Kontakt mit sozialen Bewegungen. Dies gestaltete sich allerdings nicht in allen Fällen als Bildungsprozess. So wurden für die vorliegende Studie z. B. auch drei Interviews mit jungen Erwachsenen geführt, die sich einer sozialen Protestbewegung zugehörig fühlen, in deren Lebensgeschichten sich aber eine weitgehende Kontinuität zu den in ihren Elternhäusern erworbenen Habitus dokumentierte, welche problemlos an die sozialen Bewegungen anschließbar erschienen. Mit dem Beginn des Engagements in einer sozialen Protestbewegung ging in diesen Biografien kein Bildungsprozess im Sinne einer Habitustransformation einher. So habe ich mich im weiteren Verlauf der Forschung auf die Interviews mit Menschen im mittleren Lebensalter konzentriert, in denen zahlreiche Anhaltspunkte für Bildungsprozesse zu finden waren.2 Auch die Befragten mittleren Alters blicken im biografischen Interview auf ihre Jugend zurück und auch bei ihnen erfolgte der Anschluss an eine soziale Bewegung bereits im Jugendalter. All jene von ihnen, bei denen sich in diesem Kontext Bildungsprozesse identifizieren ließen, habe ich zur Entwicklung der in

1Zur

Samplingstrategie und Methodik der empirischen Erhebung und Rekonstruktion siehe Kap. 4. 2Ein Vergleich der Interviews mit jungen Erwachsenen und jenen in der Lebensmitte hinsichtlich eines eventuellen systematischen Zusammenhangs zwischen der Generationszugehörigkeit und/oder sozialen Herkunft auf der einen und dem Zustandekommen von Bildung im Kontext sozialer Bewegungen auf der anderen Seite, hätte den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt. Es schiene jedoch lohnenswert, hieran für weitere Forschungen anzuknüpfen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_5

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268

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

diesem Kapitel zu präsentierenden Phasentypik hinzugezogen. Im Zentrum steht hierbei der phasenhafte Ablauf der Bildungsprozesse, die sich im Jugendalter im Kontext von sozialen Protestbewegungen vollziehen. Die adoleszenten Bildungsprozesse zeichnen sich dadurch aus, dass sich in den autobiografischen Schilderungen Transformationen des in der Kindheit und Jugend ausgebildeten (Primär-) Habitus rekonstruieren ließen. Es dokumentierte sich, wie sich der Habitus der Jugendlichen im Zuge der neuen Erfahrungen, die sie im Kontext von Protestbewegung machten, neu strukturiert. In Anlehnung an Schäffer (1996, z. B. S. 103), der die „stilistischen Einfindungsprozesse“ (ebd.) von jugendlichen Bands in einen Musikstil herausgearbeitet hat und diese als ein „Finden ohne bewußtes Suchen“ (ebd.) beschreibt, möchte ich die sich im Kontext sozialer Protestbewegungen dokumentierenden Bildungsprozesse im Jugendalter als adoleszente ‚Einfindung‘ fassen und auf diesem Wege den tentativen, erkundenden Charakter der Bildungsprozesse der Jugendlichen betonen. Ähnlich wie Schäffer dies für die von ihm untersuchten „Ein-Findungsprozesse“ (ebd.) in einen Musikstil beschreibt, so kann auch für die von mir betrachteten Bildungsprozesse der Jugendlichen im Kontext sozialer Bewegungen konstatiert werden, dass Bildung sich hier zuvorderst über einen „Prozess des Machens“ (ebd., S. 230) vollzieht, an dessen Anfang nicht klar ist, was am Ende herauskommt. Nicht bei allen, jedoch bei vielen der Interviewten, die in der Jugend einen solchen Bildungsprozess der adoleszenten Einfindung in eine soziale Bewegung durchlaufen, ließen sich in denselben Lebensgeschichten, aber zu einem späteren biografischen Zeitpunkt weitere Bildungsprozesse rekonstruieren. Die Bildungsprozesse im Erwachsenenalter gestalten sich als Transformation des im jugendlichen Bildungsprozess ausgebildeten Habitus, der zuvor über Jahre hinweg Bestand hatte. Sie werden Gegenstand des sechsten Kapitels sein. Die Tab. 5.1 bietet einen Überblick über die Fälle, auf denen die beiden in diesem und im nächsten Kapitel vorgestellten Phasentypiken jeweils beruhen.3 Zudem gibt sie eine erste Idee davon, welche sozialen Bewegungen hierbei eine Rolle spielen.4

3Zum

Überblick über alle geführten Interviews siehe Tab. 4.1 in Kap. 4. der Interviewten sind mehr oder weniger zur ‚autonomen Bewegung‘ zu zählen, deren Aktivitäten sich laut Pfahl-Traughber (2008) auf diverse Protestbewegungen verteilt. So zählt er zu den politischen Betätigungsfeldern der ‚Autonomen‘ seit den 1980er-Jahren u. a. Hausbesetzungen und Proteste gegen Atomkraft, Rassismus, Faschismus und Globalisierung. (Im Interview mit Frau Kubitschek dokumentiert sich zudem deutlich, dass sie selbst auch Teile der feministischen Frauen-/Lesbenbewegung zur autonomen Bewegung zählt.) Ein gewisses ‚Springen‘ zwischen den verschiedenen Protestbewegungen, wie

4Viele

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

269

Tab. 5.1   Überblick über das für die Phasentypiken verwendete Sample Anonymisierter Alter Soziale Bewegung/en Name

Herangezogen zur ­Phasentypik … … adoleszenter … adulter Bildung Bildung

Hr. Büchner

49

Autonome Linke/‚Antifa‘, Antirassismus-Bewegung

ja

ja

Fr. Richter

31

Autonome Linke/‚Antifa‘, politische ja Aktionskunst, ‚LGBTQ‘-Bewegung

Fr. Kubitschek

40

Hausbesetzer*innen, Autonome Linke/‚Antifa‘, Frauen-/Lesbenbewegung

ja

ja

Fr. Weber

40

Hausbesetzer*innen, Autonome Linke/‚Antifa‘

ja

ja

Fr. Bach

51

‚Antifa‘, Frauen-/Lesbenbewegung

ja

ja

Hr. Waldorfer

65

Schüler*innen- und Studierenden- ja bewegung der 68er, Globalisierungskritiker*innen

nein

Fr. Stier

54

Schüler*innen- und Studierendenbewegung (nach „68“), Friedensbewegung

ja

nein

nein

Da alle in der vorliegenden Studie herangezogenen Erhebungen und empirischen Ausarbeitungen im Kontext zweier aufeinanderfolgender DFG-Forschungsprojekte entstanden sind, stellen die hier präsentierten Ergebnisse das Resultat einer engen Abstimmung und Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der o. g. Projekte dar (vgl. hierzu die gemeinsame Projektpublikation Nohl et al. 2015).5 In der Projektarbeit erarbeitete ich zunächst die Bildungsphasentypiken im Kontext sozialer Bewegungen, welche dann – gegenstandsübergreifend und auch Vorarbeiten von Nohl (2006) und von Rosenberg (2011) mit einbeziehend – generalisiert wurden (siehe Nohl et al. 2015, S. 31–74). An mir war es dann, vor dem

Pfahl-Traughber es konstatiert, ist auch in etlichen der von mir geführten Interviews zu erkennen, sodass die in der Tabelle angegebene Bewegung nur den jeweiligen Schwerpunkt des Engagements markiert. 5Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den in der vorliegenden Arbeit präsentierten Phasentypiken und der Phasentypik in Nohl et al. (2015) reflektiere ich in Kap. 8.

270

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Hintergrund dieser bereichs- und lebensalterübergreifend generalisierten Phasentypik für meine eigene Studie das Spezifische der Bildungsphasen im Kontext der sozialen Bewegungen (wieder) herauszustreichen. Wie bereits erwähnt, gibt die im Zentrum dieses Kapitels stehende Typenbildung die rekonstruierte Ablaufdynamik der Bildungsprozesse in ihrer Phasenhaftigkeit wieder. Diese Phasen der Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen wurden fallübergreifend rekonstruiert. Dementsprechend soll auch der Fokus der Darstellung auf den einzelnen Phasen und nicht auf den Biografien in ihrer Gesamtgestalt liegen. Im Folgenden werde ich also nicht einzelne Biografien chronologisch nachvollziehen, sondern die jeweilige Phase quer durch die Fälle hindurch explizieren. Zum Zwecke der Übersicht über das Sample und, um den Lesenden dennoch eine Vorstellung von den einzelnen Biografien zu vermitteln, werde ich aber zunächst die Lebensgeschichten in aller Kürze zusammenfassen (Abschn. 5.1). Daran anschließend werde ich den biografischen Erfahrungshintergründen der adoleszenten Bildungsprozesse Aufmerksamkeit zollen. Diese Erfahrungen aus der Kindheit und frühen Jugend zu betrachten, ist von Bedeutung, um zu erkennen, woran die Akteur*innen im Bildungsprozess biografisch anknüpfen (Abschn. 5.2). Der Erkundung der biografischen Hintergründe folgt schließlich die Phasentypik der Bildungsprozesse, die sich im Jugendalter im Kontext des Anschlusses an soziale Protestbewegungen in den Lebensgeschichten meiner Interviewpartner*innen dokumentierten (Abschn. 5.3). Einzelfallübergreifend kann hier konstatiert werden, dass die ­ Bildungsprozesse bei allen mit einer Phase der unbestimmten Offenheit für soziale Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation (Abschn. 5.3.1) beginnt. Die jugendlichen Akteur*innen finden hierüber neue soziale Anschlüsse. Es folgt die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis (Abschn. 5.3.2). Im Kontext der neuen Anschlüsse an eine bestehende oder auch an eine sich erst in der Handlungspraxis der Jugendlichen formierenden Gruppe, bildet sich auf der Grundlage habitueller Gemeinsamkeiten – so z. B. eines kollektiven Distinktionsbestrebens –, eine neue Gruppenpraxis aus, die andere, vorher dagewesene Handlungsvollzüge unmittelbar ablöst. Die hier entstandene, neue biografische Orientierungsqualität wird zudem, wenn nicht bereits geschehen, in der Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis (Abschn. 5.3.3) an einen politischen Kontext angebunden. Es folgen sodann weitere soziale Anschlüsse und Erfahrungen, die zur Intensivierung und Ausdifferenzierung der neuen politisierten Orientierung führen, sodass von einer Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten (Abschn. 5.3.4) gesprochen

5.1  Kurzdarstellung der Fälle

271

werden kann. Hier dokumentiert sich, dass die neu ausgebildete Orientierung umfassenden Charakter hat und sich eine Transformation des Habitus abzeichnet. In der letzten Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie (abschn. 5.3.5) erfährt die eigene Biografie vor dem Hintergrund der Transformation des Habitus, die sich hiermit bestätigt, eine reflexive Überprüfung und wird – insbesondere, aber nicht ausschließlich hinsichtlich ihrer ‚Politizität‘ bzw. vor dem Hintergrund der eigenen, politisierten Praxis – neu interpretiert.

5.1 Kurzdarstellung der Fälle Da die einzelnen Biografien in der Darstellung einer auf Habitustransformationen blickenden Typenbildung, wie sie in der vorliegenden Untersuchung erarbeitet wurde, nur in einer bruchstückhaften Form und vorrangig zum Zwecke der Erläuterung der jeweiligen Phase zu finden sind, möchte ich nun in aller Kürze einen Überblick über die zur Typenbildung herangezogenen Lebensgeschichten geben. Die Reihenfolge der Darstellung wurde willkürlich gewählt. Thomas Büchner Herr Büchner ist zum Zeitpunkt des Interviews 49 Jahre alt. Gemeinsam mit einem Klassenkameraden wird er in seiner Jugend Teil der „Blueser“6-Bewegung der DDR, was als Beginn seines adoleszenten Bildungsprozesses gelten kann. Der Anschluss an diese Bewegung ist nicht zuletzt auch eine Antwort auf die staatstreue Linie seiner neuen Schule, deren Schüler*innen zu großen Teilen „Kinder von Armee-Angehörigen, oder von der Staatssicherheit“ sind. Die zunächst eher (jugend-)kulturell gelebte Praxis der Blueser mündet für den jungen Thomas Büchner erst an dem Punkt in eine Politisierung, als er zum Militär eingezogen wird und dort seine persönlichen Freiheiten bedroht sieht. Gemeinsam mit einigen ‚Peers‘ unterläuft er in systematischer Weise die Regeln der Armee, was auch für sein weiteres Leben in der DDR, wo er über den Militärdienst hinaus als Systemkritiker gilt, nicht ohne Folgen bleibt. Mit einiger Beharrlichkeit erstreitet er sich die Erlaubnis zur Ausreise aus der DDR und verlässt sie schließlich mit dem Ziel West-Berlin, wo er sich fortan im Milieu der Hausbesetzer*innen bewegt und hier Kontakte knüpft, die ihn schließlich nach Hamburg bringen. Im Zuge der pogromartigen Ausschreitungen in

6Alle

in dieser Kurzdarstellung der Fälle zitierten Begriffe stammen aus den jeweiligen biografischen Interviews.

272

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

­ ostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 stellt sich bei Thomas Büchner – diesR mal im Erwachsenenalter – ein weiterer Bildungsprozess ein, in dessen Folge sein Engagement in den Bereichen Antirassismus und Aufarbeitung der NS-Geschichte für ihn nicht mehr wegzudenken sein wird. Tanja Richter Frau Richter, zum Zeitpunkt des Interviews 31 Jahre alt, bewegt sich in verschiedenen Zusammenhängen, die sich am Schnittpunkt von künstlerisch-ästhetischen Praktiken und politischem Engagement verorten lassen. Ihr jugendlicher Bildungsprozess findet seinen Beginn im Kontakt zu zwei Hausbesetzern. Kurze Zeit nach dem Mauerfall folgt die junge Tanja Richter, damals 14-jährige Schülerin eines Internats in Berlin-Prenzlauer Berg, gemeinsam mit einigen Mitschüler*innen der Einladung der beiden Hausbesetzer zu ihrer autonomen Künstler*innengruppe, der sie sich umgehend anschließt. In der so kennengelernten Praxis lokalpolitisch ausgerichteter Protest-Aktionskunst, geht sie voll auf und trägt Teile des Erlebten auch zurück ins Internat, wo sie und ihre Mitschüler*innen in der Folge mehr Partizipations- und G ­ estaltungsmöglichkeiten einfordern – und diese auch bekommen. Im Laufe der Jahre kommt Tanja Richter mit verschiedensten Thematiken und Formen politischen Engagements in Kontakt: von institutionell geförderten schulischen Demokratieprojekten und Hochschulpolitik, über Friedensmärsche, sozialistische Gruppen und feministische Netzwerke bis hin zur ‚LGBTQ‘-Bewegung7. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei immer auf der Schaffung von „Räumen“ für Kreativität und (Mit-)Gestaltung und dem basisdemokratischen Austausch der Beteiligten. Bettina Kubitschek Bettina Kubitschek ist eine zum Zeitpunkt des Interviews 40-jährige Frau, die ursprünglich aus Süddeutschland stammt. Als eines der wenigen Kinder ihrer Arbeitersiedlung besucht sie das Gymnasium und entwickelt so früh ein Gespür für soziale Ungleichheit. Anlässlich dieser Differenzerfahrung sowie im Rahmen einer sich alsbald am Gymnasium gegen den ‚Mainstream‘ formierenden Gruppe beginnt bei Bettina Kubitschek ein adoleszenter Bildungsprozess. Gemeinsam mit den Mitgliedern der o. g. Gruppe findet sie Zugang zur Friedensbewegung und zudem einen Job in einem feministischen Cafékollektiv. Die tradierten Orientierungen des von ihr als „konservativ“ bezeichneten Umfelds lehnt sie mehr und mehr ab, bricht nach dem Schulabschluss schließlich durch eine zweijährige

7LGBTQ

steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender und Queer.

5.1  Kurzdarstellung der Fälle

273

­ uszeit des Herumreisens und Jobbens aus der gefühlten Enge aus und landet im A Anschluss in Hamburg, wo sie ein Studium der Sozialarbeit beginnt. In Hamburg kommt sie in Kontakt mit Hausbesetzer*innen und dem linksautonomen Milieu, in dessen Kontext sie viele Jahre ihres Lebens verbringen wird. Für die schon früh begonnene Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands findet sie in der autonomen Bewegung vielfältige Anknüpfungspunkte. Als Sozialarbeiterin arbeitet sie in der flexiblen Jugendhilfe und später in einem antirassistischen Projekt. Es stellt sich bei Frau Kubitschek im Alter von Mitte 30 ein zweiter Bildungsprozess ein, der maßgeblich mit dem Rückzug von einigen Teilen und Themen der Bewegung zusammenhängt. Heutzutage legt Frau Kubitschek, deren Zeit als in Vollzeit arbeitende Mutter begrenzt ist, den Schwerpunkt ihres Engagements auf feministische Themen. Anja Weber Bei Anja Weber, zum Zeitpunkt des Interviews ebenfalls 40 Jahre alt, begann der adoleszente Bildungsprozess mit kollektiven Aktionismen in der Jugend: ­Drogenkonsum und exzessive Demonstrationsbesuche prägen über einige Zeit die Praxis ihrer Peergroup im ländlichen Raum. Nachdem diese sich jedoch nach und nach auflöst und mehrere Bezugspersonen in größere Städte ziehen, geht auch Frau Weber im Alter von knapp 20 Jahren von Memmingen nach Berlin, um dort in einem besetzten Haus unterzukommen. Über 15 Jahre hinweg bewegt sie sich fortan in verschiedenen Teilen des dortigen linksautonomen Milieus. Sie wohnt in verschiedenen besetzten Häusern und Hausprojekten, besucht Demonstrationen und andere Protestveranstaltungen und arbeitet in einem Kollektiv. Mit Mitte 30 setzt jedoch eine schleichende Distanzierung von diesen Zusammenhängen und der politischen Ausrichtung ein, die nicht zuletzt mit generellen Auflösungserscheinungen in ihrem angestammten Bewegungsmilieu einhergeht, das zugleich ihr gesamtes Lebensumfeld darstellt. In diesem Kontext entspinnt sich ein zweiter Bildungsprozess, in dessen Zuge Frau Weber ihrem Leben einen neuen ‚Sinn‘ gibt. So entwickelt sie in diesem Zusammenhang z. B. den Wunsch, einen Beruf zu erlernen und entscheidet sich für die Ausbildung zur Krankenschwester; eine Arbeit, die sie mit dem Gefühl, etwas „Sinnvolles“ zu tun, erfüllt. Sandra Bach Sandra Bach ist zum Zeitpunkt des Interviews 51 Jahre alt. In ihrer Kindheit und Jugend wuchs sie an verschiedenen Orten Deutschlands auf. Der adoleszente Bildungsprozess beginnt mit ihrem Anschluss an die Jugendorganisation der DKP, der allerdings nicht lange währt, weil die junge Frau Bach Positionen vertritt, die der politischen Linie der Organisation nicht entsprechen. Sandra Bach findet indes

274

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

alsbald neue Anschlüsse – im Umfeld der „Antifa“-Bewegung und bei einem linken Motoradclub. Zudem pflegt sie Kontakte zu einem Zusammenschluss von Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden, und partizipiert an Aktionen der Friedens- und Umweltbewegungen. Ihr politisches Engagement ist maßgeblich von der Opposition gegen ihr Elternhaus geprägt, im Kontext der Anschlüsse an die Bewegungen macht sie aber neue Erfahrungen, die über eine bloße Distinktion hinausweisen und einen ersten Bildungsprozess markieren, in dessen Zuge sie ihren tradierten Habitus transformiert. Nach der Geburt ihres Sohnes und einer längeren, nicht zuletzt durch (zeit-)ökonomische Zwänge bedingten Pause des Engagements, welche inhaltlich wie zeitlich im Kontext ihres homosexuellen Coming-outs steht, verlagert sie ihren Fokus auf feministische Frauenzusammenhänge. Die Erfahrungen im Kontext der Frauen-/Lesbenbewegung führen schließlich zu einem zweiten Bildungsprozess. Seit einigen Jahren ist Frau Bach aufgrund eines Rückenleidens frühverrentet, arbeitet jedoch – neben ihrem ehrenamtlichen Engagement – auch entgeltlich in einem lesbischen Verein. Peter Waldorfer Peter Waldorfer ist zum Zeitpunkt des Interviews 66 Jahre alt und wohnhaft in Hamburg. Kurze Zeit vor dem Interview hat er mit Eintritt des Rentenalters seine langjährige Berufstätigkeit als Lehrer beendet. Seine Kindheit verbrachte er als Berliner Flüchtlingskind in Bayern. Sein dortiges Aufwachsen stellt er in den Rahmen einer kollektiven Marginalisierungserfahrung. Nach einer Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, in die ihn sein Vater drängte, geht er zur Bundeswehr und findet am Ort seiner Stationierung mittels seiner Leidenschaft zum Musizieren Anschluss ans lokale Musiker*innen-Milieu, das maßgeblich aus Studierenden besteht. Hier kommt er in Kontakt mit alternativen, politischen Ideen und wird alsbald Teil der Schüler*innen- und Studierendenbewegung. Nachdem er alle hierfür nötigen Schulabschlüsse nachgeholt hat, beginnt er ein Lehramtsstudium und arbeitet dann als Lehrer an einem Hamburger Kolleg. Seine Lehrertätigkeit begreift er – wie seine gesamte Lebensführung – als Teil und Ausdruck seines politischen Engagements. So ist es ihm auch äußerst wichtig, auf keinen Fall verbeamtet zu werden und seine (politische) Unabhängigkeit zu bewahren. Herr Waldorfer lebt seit über 30 Jahren in einem linksalternativen Hausprojekt und ist heutzutage zudem vor allem im Rahmen von „Attac“ politisch aktiv. Christine Stier Frau Stier ist zum Zeitpunkt des Interviews 55 Jahre alt. Sie wächst auf dem Land auf und entwickelt früh den Wunsch, „da weg“ zu ziehen. Im Jugendalter findet sie Anschluss an die Schüler*innen- und Studierendenproteste der frühen

5.2  Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend

275

70er-Jahre. Hier und über die anschließende Mitgliedschaft bei den Jusos kann die junge Frau Stier sich vom dörflichen Milieu distinguieren. Als eines der ersten ‚Mädchen vom Dorf‘, die im Zuge der „Bildungsreform“ die gymnasialen „Oberstufe“ besuchen darf, weicht sie auch in Bezug auf das Bildungsniveau von ihrem dörflichen Herkunftsmilieu ab, nicht aber dahin gehend, dass sie früh heiratet. Auf Anraten ihres Ehemanns absolviert sie ein Lehramtsstudium, obwohl sie eigentlich in den Entwicklungsdienst wollte. Doch auch in dem Beruf der Lehrerin bleibt ihr politisches Interesse zentral und ihr oberstes Ziel die „Weltveränderung“. Aus Empörung über den „Radikalenerlass“ tritt sie aus der SPD aus und findet nach einer Phase der politischen Heimatlosigkeit, in der sie sich trotzdem weiterhin „in politischen Zirkeln“ bewegt, Anschluss an die neu aufkommende Friedensbewegung. Zu dieser fühlt sie sich bis heute zugehörig und ist in deren Rahmen nach wie vor äußerst rege engagiert.

5.2 Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend Die Bildungsprozesse fallen auf einen bestimmten biografischen Boden. Ohne diesen spezifischen biografischen Erfahrungshintergrund würde sich der Bildungsprozess vermutlich anders gestalten oder eventuell gar nicht (in dieser Form) stattfinden. Arnd-Michael Nohl (vgl. Nohl 2011; Nohl et al.2015, S. 74 ff., 263 ff.) hat – u. a. auch anhand von einigen biografischen Erzählungen, auf denen auch meine empirischen Ausarbeitungen beruhen – in detaillierter Weise herausgearbeitet, wie sich als „Gegenmatrix“ (ebd., S. 23) bezeichnete Auflösungs- und Desintegrationserfahrungen fallübergreifend mit einer biografisch erworbenen „Feinfühligkeit“ (ebd.) für einen bestimmten Themenbereich – einer als „Positiv“ (ebd.) gekennzeichneten, biographischen Sensibilität – zu einer Ressource für den Bildungsprozess zusammenfinden. Der Bildungsprozess, so reflektiert Nohl die empirischen Ausarbeitungen in theoretischer Hinsicht, nimmt seinen Ausgang in einer „inspirierende[n] Situation“ (ebd.), in der die beiden oben genannten „Erfahrungskomplexe“ (ebd.) zur Ressource amalgieren. Ich möchte an dieser Stelle nicht versuchen, Nohls Arbeit zu wiederholen. Zudem kann ich in der vorliegenden Untersuchung keine derart umfassende und systematische Ausarbeitung der biografischen Hintergründe hinsichtlich ihres typischen Zusammenhangs zum Bildungsprozess leisten. So beschränke ich

276

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

mich im Folgenden darauf, an sechs von sieben Fällen8 herauszuarbeiten, welche Erfahrungskomplexe und -qualitäten sich in den Schilderungen der Kindheitserlebnisse finden lassen, die in der einen oder anderen Form für den späteren, in der Adoleszenz stattfindenden Bildungsprozess eine Rolle spielen werden. Beginnen möchte ich die Betrachtung der biografischen Hintergründe anhand der Kindheitsschilderungen von Frau Weber, einer zum Zeitpunkt des Interviews 40-jährigen Frau. Auf der Grundlage eines „relativ behü:teten Zuhause[s]“ (Z. 30)9 genoss Anja Weber das freie Spiel in einer „Riesengang“ von Kindern (Z. 32–39):10 „wir sind auf nen Dorf aufgewachsen und es war ähm Anfang der Siebziger und so da gabs kaum Autos, das war geil du konntest immer auf der Straße in dem ganzen Dorf. eigentlich war das ganze Dorf unser Spielplatz. es gab damals auch noch nicht so die Zeit, dieses ähm (2) dass die Mütter immer am Kinderspielplatz dabei standen und so. //mhm// was glaube ich eher son Großstadtphänomen ist, beziehungsweise heutige Zeit Phänomen. also wir waren noch ziemlich unbeobachtet. als Kind. wir waren immer sone Riesengang ((stöhnt)). (2)“

Die Wahrnehmung einer ‚behüteten Kindheit‘ und der Umstand des weitgehenden Unbeaufsichtigt-Seins seitens der Eltern widerspricht sich in ihrer Schilderung nicht. Im Fokus steht hingegen, dass die Kinder im dörflichen Radius den gesamten Raum für sich nutzen konnten, was Frau Weber bis heute „geil“ findet. Ihre kindliche Spielpraxis konnten die Kinder auf diese Art und Weise frei und relativ getrennt von der Sphäre der Erwachsenen entfalten – Frau Weber sieht dies als typisch für die „Siebziger“ sowie den ländlichen Alltag im Allgemeinen an. Das tägliche Unterwegssein in einer „Riesengang“ von Kindern erinnert sie bis heute gerne, wie sich nicht zuletzt im (sehnsuchtsvollen?) Stöhnen am Ende der Passage dokumentiert. Im späteren Bildungsprozess, so wird in Abschn. 5.3 8Frau

Stier bleibt in diesem Unterkapitel zu den biografischen Hintergründen der Bildungsprozesse unerwähnt, weil sich in ihrer biografischen Erzählung keine Angaben über ihre Kindheit oder die Eltern befinden. Die einzigen beiden Informationen über ihre Herkunft bestehen darin, dass sie ihre Herkunftsfamilie als „kleinbürgerlich-bäuerlich“ (Z. 29) betitelt und dass sie in einem dörflichen Milieu aufwuchs, das sie als Jugendliche alsbald verlassen wollte (siehe hierzu ausführlicher Abschn. 5.3.1 zum Beginn des ­Bildungsprozesses). 9Auch hier gilt, wie in allen Teilen dieser Arbeit, in denen die empirischen Ausarbeitungen vorgestellt werden: Sofern keine andere Quelle angegeben wird, stammen die Zitate aus dem jeweiligen Interview. Die Zeilennummer gebe ich überall dort an, wo ich ein Zitat anbringe, das nicht aus der an dieser Stelle präsentierten Passage stammt. 10Zu den Richtlinien der Transkription siehe Anhang.

5.2  Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend

277

zu sehen sein, lassen sich zahlreiche Homologien zu dieser kindlichen Freiheit und der positiven Bezugnahme auf die Einbindung in eine Peergroup finden. Doch können auch Verbindungslinien des Bildungsprozesses zu Erfahrungen ihrer Kindheit gezogen werden, die Frau Weber weniger positiv erinnert. So endet die Zeit der unbeschwerten sozialen Einbindung in die dörfliche Peergroup für Anja Weber abrupt, als sie umzugsbedingt die Schule wechseln muss. Dies kennzeichnet Frau Weber dementsprechend auch als den „erste[n] Bruch“ ihres Lebens (Z. 44–58): „als ich die dritte Klasse beendet hatte, sind wir dann weggezogen. das war glaube ich so der erste Bruch bei mir. also so vielleicht biographisch ein Bruch vielleicht so Kinder Kinder stecken das ja eigentlich ganz gut weg, aber ick fand das damals ziemlich dramatisch. eigentlich sind wir nur drei Dörfer weiter @gezogen@. @(.)@ @aber @(1)@ man hat mir so als als@ wie alt war ich denn da zehn oder so glaube man hat ja nicht son großen Radius @als Kind@ //°Man nimmt das anders war.°// Ja, ja ich war halt weg. ich war halt tatsächlich weg. ich hatte dann ja immer das Gefühl ich bin dann ich seh die nie wieder. und letztendlich muss man sagen ich hab die dann auch eigentlich mehr oder weniger nicht mehr gesehen. //mhm// die ganzen Kids da. aber zumindest habe ich dann ein eigenes Zimmer gekriegt. @(.)@ und ähm ja bin auf ne andere Schule gegangen. das war irgendwie (.) nen bisschen schwierig, weil ich da zuerst also selbst drei Dörfer weiter kaum zu glauben, wird man geärgert, (.) weil man plötzlich nen anderen Dialekt @spricht@ //Ach echt,// @ (.)@ //@(.)@// Total lustig.“

Das Verlassen ihres Herkunftsorts und ihrer Freunde nach dem dritten Schuljahr wird von Anja Weber als einschneidendes Erlebnis erinnert. Zwar äußert sie die Theorie, Kinder würden „das ja eigentlich ganz gut weg[stecken]“, gleichzeitig betont sie jedoch, den Umzug „ziemlich dramatisch“ wahrgenommen zu haben. In der neuen Schulklasse bekommt sie (u. a.) aufgrund ihrer Mundart eine Außenseiterposition – die sich auch an anderen Stellen des Interviews dokumentiert. Anja Weber wird „geärgert“. Wenngleich sie dies rückblickend relativiert und lediglich als „irgendwie (.) nen bisschen schwierig“ bewertet und den Umstand, nur wenige Kilometer vom Geburtsort entfernt schon sprachlich aufzufallen, abschließend sogar als „[t]otal lustig“ bezeichnet, so dokumentiert sich dennoch eine gewisse soziale Desintegration und Exklusion. Eine Außenseiterposition der jungen Anja Weber lässt sich auch in der folgenden Passage sehen, in der sie neben den Problemen des sozialen Anschlusses an die neue Klassengemeinschaft auch solche, die sich auf den Wissensstand beziehen, deutlich macht (Z. 497–508): „ich konnte von Anfang an immer gut schreiben, und lesen, (2) da hatte ich keine Mühe, (2) aber als ich dann, ich glaube das fing dann schon in der vierten Klasse an, das war, ich bin in die vierte Klasse in diese neue Schule gekommen, wo ich mich

278

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

auch nicht so wohl gefühlt habe, (.) und da fing das dann an, die hatten dann im Deutschen hatten die schon die Fälle durchgenommen und so, das hatten wir noch gar nicht, die hatten dann hinten im Klassenzimmer Riesenplakate mit erster Fall, zweiter Fall, dritter Fall, //mhm// und dann hat der zwischendurch immer wieder dieser Lehrer zwischendurch immer gefragt, und welcher Fall ist es? und die ganze Klasse hat sich umgedreht, und hat es dann so abgeschätzt (2) da- (du-) ich wusste gar nicht wovon die reden, und hab mich jetzt aber auch nicht getraut zu fragen,“

Kann sich Frau Weber hinsichtlich ihrer ersten drei Schuljahre nicht an schlechte Schulleistungen erinnern, so beginnen mit dem Schulwechsel neben der sozialen Desintegration auch lernbezogene Probleme. Sie kann dem behandelten Stoff nicht folgen und wird von den Lehrenden auch nicht auf den Stand der anderen Schüler*innen gebracht. Anja Weber zieht alsbald, so formuliert sie es in einer anderen Passage, für sich den Schluss, „an dieser ganzen Schulscheiße“ (Z. 527) nicht mehr interessiert zu sein. Es dokumentiert sich hier, dass bei der jungen Anja Weber bis dato aufgebaute, milieubezogene Wissensbestände und soziale Zusammenhänge durch den Umzug prekär bzw. aufgelöst werden und sich dies auch auf ihre Orientierung zum schulischen Wissenserwerb auswirkt. An die Stelle von einem sozialen Zugehörigkeitsgefühl treten eine Verunsicherung und das Gefühl, nicht vollwertiges Mitglied der Klassengemeinschaft zu sein. Die Suche nach sozialer Einbindung, so wird sich später zeigen, bereitet alsbald den Boden für Anja Webers erste bildsame Praktiken in der Adoleszenz.11 Herr Büchner, zum Zeitpunkt des Interviews 49 Jahre alt und in der DDR aufgewachsen, schildert seine Kindheit ähnlich frei und unbeaufsichtigt wie Frau Weber die ihrige: Mit einer „kleine[n] Bande da von Jugendlichen“ (Z. 28) hätten sie sich „tage- stundenlang […] draußen rum treiben“ (Z. 27 f.) lassen. Trotz dieser Freiheiten kennzeichnet Thomas Büchner sich indes auch als „ein sehr sehr behütetes Einzelkind“ (Z. 30). Dies macht er maßgeblich an seiner fürsorglichen Mutter fest, für die er „einfach das Ein und Alles“ (Z. 31) gewesen sei und an der auch sein „großes Herz hing“ (Z. 45).12 Die Beziehung zu seinem Vater kann Herr Büchner hingegen nicht derart positiv fassen. Das Verhältnis sei „eigentlich auch ein sehr sehr herzliches“ (Z. 36) gewesen, jedoch markiert hier das Wort 11Das

Thema ihres Verhältnisses zum (schulischen) Wissenserwerb wird vor allem in ihrem zweiten Bildungsprozess, den sie im Erwachsenenalter durchläuft, eine Rolle spielen (vgl. hierzu Abschn. 6.2.1). 12Wie sich dies bereits bei Frau Weber dokumentierte, so stellen sich auch in Herrn Büchners Schilderung die kindliche Freiheit und die elterliche (hier: mütterliche) Fürsorge nicht als Gegensätze dar.

5.2  Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend

279

„eigentlich“ (und ein darauffolgendes ‚Aber‘), dass es hier Einschränkungen gab. Es ist jedoch weniger die „strengere“ (Z. 44) Erziehungsvorstellung seines Vaters als vielmehr der Umstand, dass dieser später „ziemlich viel getrunken“ (Z. 47) habe und „dann auch sehr oft jähzornig geworden“ (Z. 47 f.) sei, was den jungen Thomas Büchner dazu veranlasste, sich stärker an seiner Mutter zu orientieren. Doch auch der Vater liefert prägende Impulse, an die sein Sohn im späteren jugendlichen Bildungsprozess in positiver Weise anknüpfen kann. In der folgenden Passage kontrastiert er die unterschiedlichen Orientierungen seiner Eltern hinsichtlich ihrer „politischen Ausrichtung der Erziehung“ (Z. 71–84): „dazu muss ich sagen noch was zu mein- der unterschiedlichen Erziehungen meiner Eltern, meine Mutter hat versucht immer (.) Probleme die es gab von mir fernzuhalten, mein Vater hat mich so erzogen, was so Ende der Sechziger in der Siebziger in der DDR schon sehr oft gegen den Staat ausgerichtet, sone Sachen, wie RIAS, also Westradio hören, weiß ich, Westfernsehen gucken, hatte in dem seinem Auto es nicht sein lassen können irgendwie an den Grenzen irgendwie den Hertha-Wimpel drin zu lassen, was natürlich, kann ich erinnern, zu endlosen Streitdiskussionen zwischen meinen Eltern überführt, wo meine Mutter sagt, nimm doch bitte diesen Wimpel raus, wir stehen hier drei Stunden an der Grenzlinie wegen diesem Wimpel, mein Vater nein, prompt standen wir drei Stunden, außerhalb der Reihe wurden auseinandergenommen, nur weil mein Vater meinte, den lass ich drinne, //@(.)@// so, äh, (.) er hat, wie gesagt, mein Vater hat mich s- schon so erzogen, ach im Westen ist alles besser, sag ich das mal ganz pauschal, meine Mutter war da weitaus m ­ oderater“.

Während die Mutter hier etwas von der Welt Abschirmendes und Schützendes repräsentiert, gehörte es zu den Erziehungsvorstellungen von Thomas Büchners Vater, seinem Sohn Westmedien und Dinge, die „gegen den Staat ausgerichtet“ (Z. 74 f.) waren, nahezubringen. Im symbolischen Akt seines Vaters, den „Hertha-Wimpel“ nicht vom Auto zu entfernen, demonstriert er mit Mitteln des zivilen Ungehorsams eine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Westen. Er transportiert dabei mit dem an sich unpolitischen Symbol eine politische Position, für deren Demonstration er für sich und seine Familie die Unannehmlichkeiten des verlängerten Wartens an der Grenze in Kauf nimmt. Herr Büchners Vater steht mit dieser symbolischen Herausforderung der Staatsmacht – sowie mit seiner andernorts erwähnten, relativen erzieherischen Strenge – im Gegensatz zur behütenden Mutter für den Themenkomplex von Macht und Machtinfragestellung bzw. Konfrontation. Beide Pole, so viel soll hier vorweggenommen werden, sind für Herrn Büchners späteren jugendlichen Bildungsprozess von Bedeutung. Doch kommen auch in Herrn Büchners Jugend Erfahrungen von milieubezogener Desintegration und sozialer Exklusion hinzu und auch diese entstehen, ganz ähnlich wie bei Frau Weber, im Kontext einer umzugsbedingten

280

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

­ erauslösung aus dem vertrauten sozialen Umfeld. Nach der Scheidung von seiH nem Vater veranlasst Thomas Büchners Mutter den Umzug von Halberstadt nach Ost-Berlin, weil sie sich dort beruflich besser aufstellen kann. Der jugendliche Thomas Büchner nimmt dies mit Ängsten auf: „mit vierzehn bin ich dann mit meiner Mutter heulend wie ein Schlosshund, und dem Käfig von dem Wellensittich, aufm Schoß von Halberstadt nach Berlin gezogen; ich habe die gesamte Fahrt, was damals glaube ich so dreieinhalb Stunden gedauert hat, nur geheult, hab meiner Mutter endlose Vorwürfe gemacht, die sie mir glaube ich zwanzig Jahre später nochmal erzählt hat, weil ich wirklich geheult, ich werde nie wieder Freunde finden, du bist schuld daran, dass ich keine mehr habe, und und (2)“.

In der Tat findet er sich in der neuen Schulklasse als Außenseiter wieder, jedoch nicht vorrangig – wie zuvor antizipiert –, weil er der Neue ist, der niemanden kennt (Z. 104–116): „die Schule war Berlin-Hohenschönhausen am See, viele Kinder diese- die dort zur Schule gegangen, waren entweder Kinder von Armee-Angehörigen, oder von der Staatssicherheit; //mhm// wo ich ja so durch meine Erziehung so dachte mmh, o.k., mmh, (.) hatte ich so ein bisschen meine Probleme, dann bin ich natürlich in diese Klasse gekommen, und war, wie das einfach so glaube ich überall so ist wenn du neu irgendwohin kommst, bist du der Außenseiter. wurde dann- hatte dann natürlich, s- da ich ziemlich n lockeren Umgang dann einfach auch hatte, auch so mit Mädchen oder so, mich da irgendwie mit den Mädchen zuerst angefreundet, und habe dann nach zwei drei Tagen eine Ansage bekommen, lass die Finger davon, das ist meine Freundin; //aha// ich hab das eigentlich so überhaupt gar nicht verstanden, ich sagte, du, ich sitze neben der und ich rede mit der, mehr ist da einfach nicht; na jedenfalls wurde ein Riesentheater da draus gemacht, und dann wurde ich u­ mgesetzt;“

Zwar war Thomas Büchner in der Klasse nun der „Neuling“ und somit – seiner eigenen Theorie, dass „das einfach […] so ist wenn du neu irgendwohin kommst“, zufolge – automatisch „Außenseiter“, doch ergibt sich diese Position auch aus seiner eigenen Milieufremdheit gegenüber seinen neuen Mitschüler*innen, die zu großen Teilen „Kinder von Armee-Angehörigen, oder von der Staatssicherheit“ waren. Nicht nur, was die politischen Orientierungen angeht, steht Thomas Bücher diesem Milieu, das sich von seiner familiären Sozialisation stark unterscheidet, habituell distanziert gegenüber. Auch anhand des Umgangs mit den Klassenkameradinnen dokumentiert sich eine habituelle Differenz. Sein „lockere[r] Umgang […] auch so mit Mädchen“ kommt bei den männlichen Klassenkameraden nicht gut an und bringt ihn zudem in die Rolle des Konkurrenten. Thomas Büchner findet sich in Berlin-Hohenschönhausen also in ­mehrfacher

5.2  Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend

281

Hinsicht sozial desintegriert, um nicht zu sagen exkludiert, wieder. Die familiären Hintergründe (hier im weitesten Sinne die weltanschaulichen Orientierungen seiner Eltern), auf die sich Herr Büchner zum Teil noch heute in positiver Weise bezieht und an die er, so wird sich zeigen, im Bildungsprozess durchaus anknüpft, werden in diesem anderen Milieu gleichfalls zur Ursache von habitueller Differenzerfahrung und sozialer Exklusion – welche ihrerseits zum alsbald folgenden Bildungsprozess beitragen. Auch Frau Kubitschek, zum Zeitpunkt des Interviews ebenfalls 40 Jahre alt, berichtet aus ihrer Kindheit von Differenzerfahrungen milieubezogener Art. Bei ihr ist es nicht ein Umzug, der diese herbeiführt, sondern ihr Wechsel auf das Gymnasium in der fünften Klasse. Als Kind aus einer schwäbischen Arbeiter*innen-Siedlung nimmt sie dort in doppelter Hinsicht eine Sonderposition ein (Z. 26–43): „ich war das zweite Kind aus unserer Siedlung, das überhaupt aufs Gymnasium gegangen ist, und als ich aufs Gymnasium gekommen bin ähm (1) war das so dermeine erste Berührung mit Menschen mit Eigenheim, und äh da gabs dann sogar welche die ham Tennis und Golf gespielt und wir waren die da- ähm (.) mit den kleinen Wohnungen in den Siedlungen, und das da das war für mich schon mh mh ein B- Bruch auf jeden Fall und das war für mich ein Bruch mit meiner Siedlungsherkunft, //mhm// und das für mich aber auch ne Welt, die ich so nicht kannte und die ich also wo ich glaube ich so das erste mal dachte naja irgendwas ist hier aber (1) @ungerecht@ wieso wieso weil in Baden-Württemberg ist es man geht ab der vierten schon in die //mhm// ne ab der fünften ins Gymnasium. ich bin mit fünf in die Schule gekommen, da war ich grad mal neun. //ja// und das war für mich glaub ich schon so dass ich dachte aha, ist ja- (.) sehr interessant. bis dahin hatte ich so kein Bewusstsein von Unterschieden. mir gings gut, mir hat nie was gefehlt. //mhm// meine Eltern ham gearbeitet. alle beide. also sind wir in Urlaub gefahren. also ich war en glückliches Kind. mir hat nichts ich hatte kein Bewusstsein von Defizit oder so, //mhm// und äh das war schon (2) n:: n Bruch. auf jeden Fall, und da kam ein Teil der Gesellschaft dazu, der mir bis dahin fremd war. //mhm// so vielleicht“.

Frau Kubitschek war „das zweite Kind“ ihrer Siedlung, das ein Gymnasium besuchte. Dieser Umstand besondert sie in ihrem Herkunftsmilieu. Den Fokus legt sie in ihrer Darstellung aber auf die Sonderposition, die sie als Milieuandere auf dem Gymnasium einnahm. Durch die neuen Klassenkamerad*innen wird sie mit den Lebensstilen reicherer Bevölkerungsgruppen konfrontiert und nimmt deutlich einen Unterschied zu ihrer „Siedlungsherkunft“ wahr. Sie geht sogar so weit, dies als „Bruch“ mit letzterer zu bezeichnen – wobei sich hier aus dem Kontext erschließt, dass nicht sie selbst einen Bruch vornimmt, sondern dass die ihr bislang bekannte und von ihr als einheitlich wahrgenommene Welt einen Bruch erfährt, indem ein anderer Teil der „Gesellschaft dazu[kommt]“, der ihr „bis dahin fremd

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

war“. Ihr primärsozialisatorisch im Elternhaus und Siedlungsmilieu ausgebildetes konjunktives Wissen erfährt hier eine Konfrontation respektive Erweiterung, die selbiges zwar nicht auflöst, in gewisser Hinsicht aber fraglich werden lässt. Es kommt das (kommunikative) Wissen um einen anderen, von ihr als „fremd“ gekennzeichneten Lebensstil der „Menschen mit Eigenheim“ und ihren freizeitbezogenen Handlungspraktiken („Tennis und Golf“) hinzu, von deren Existenz Bettina Kubitschek bis dahin nichts ahnte. Den Kontrast zu den finanziellen Möglichkeiten ihrer eigenen Eltern vor Augen geführt, reflektiert die damals Neunjährige den Wohlstand einiger Familien ihrer Mitschüler*innen als „ungerecht“, obwohl sie selbst als „glückliches Kind“ zuvor kein „Bewusstsein von Defizit“ gehabt habe. Das Thema des Schulwechsels wird hier als eines der Milieudifferenz bearbeitet. Es kann eine biografische Sensibilisierung für soziale Ungleichheit konstatiert werden; eine Thematik, die sich auch im späteren Bildungsprozess – sowie in Frau Kubitscheks weiterer biografischer E ­ ntwicklung – wiederfinden wird. Doch es lässt sich noch ein weiterer Aspekt identifizieren, der für Frau Kubitscheks Biografie und insbesondere ihren Bildungsprozess im Erwachsenenalter von Bedeutung ist: Die Sonderposition, die Bettina Kubitschek durch den Besuch des Gymnasiums innerhalb ihres Herkunftsmilieus einnahm, zeigt sich dort auch aufgrund der milieuuntypischen Arbeitsteilung ihrer Eltern und der sozialen Rolle ihrer Mutter (Z. 657–671): „Also ich glaube dass ich aus ner Familie komme die also mit sehr starken Frauen. //mhm// und ähm also das hab ich einfach schon mitgekriegt. dann bin ich so groß geworden, dass meine Mutter (.) immer gearbeitet hat. immer ihr eigenes Geld verdient hat. und nach meinem Empfinden als Kind, weil sie ja als Verkäuferin auch samstags arbeiten musste. fast mehr gearbeitet hat, als mein Vater. also so äh aber ich war da auch wirklich stolz auf meine Mutter. das war ja nicht die Regel. (2) und meine Mutter hat sich nie äh übern Mund fahren lassen. auch nicht von irgendwelchen Männern, und ist manchmal ganz schön angegangen worden, auch im Bekanntenkreis und so. das war nicht üblich. ich bin ja nicht in intellektuellen Kreisen groß geworden. //mhm// ne, mh äh überhaupt nicht //ja// und ähm (2) und hab da glaube ich schon sehr früh ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass erstens meine Mutter sagen kann, was sie will. dass sie zweitens Recht hat und dass drittens irgendwelche Männer herkommen und glauben ihr trotzdem den Mund verbieten zu können. //mhm// also das glaube ich ist schon was was ich von ganz klein (2) mitgekriegt hab.“

Mit ihrer Arbeitsteilung zeigen sich Frau Kubitscheks Eltern, und im Speziellen ihre Mutter, an die Erwartungen ihres Milieu unangepasst. Ihre Mutter, die sich nicht „übern Mund fahren lassen“ hat, wird von Bettina Kubitschek als ‚sehr starke Frau‘ wahrgenommen (und eine solche, ‚starke‘ Rolle der ­ weiblichen

5.2  Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend

283

Familienmitglieder als generelle familiäre Tradition gekennzeichnet). Es dokumentiert sich hier, dass Frau Kubitschek in ihrer Mutter, deren Verhalten von den milieutypischen Standards abwich und so in gewisser Weise nonkonformistisch – „nicht die Regel“ – war, ein Vorbild fand. Das Frauenbild, auf das Frau Kubitschek sich auch heute noch in positiver Art und Weise bezieht, ist somit zugleich ein positiver biografischer Anknüpfungspunkt sowie zugleich ein – milieubedingter – Anlass für Differenzerfahrungen. Beides wird dann auch im Bildungsprozess thematisch wiederzufinden sein. Frau Richter, eine zum Zeitpunkt des Interviews 32-jährige Frau, berichtet hingegen keinerlei negativ bewertete Erfahrungen aus ihrer Kindheit. Zwar dokumentiert sich auch bei ihr eine soziale Desintegrationserfahrung, anders als bei den bisher betrachteten Biografien erhält diese aber keine existenzielle Note und wird von ihr selbst auch nicht negativ, sondern allemal neutral konnotiert. Die junge Tanja Richter besucht seit der ersten Schulklasse ein Internat in Ost-Berlin. Es ist nicht der Internatsbesuch, den sie als Desintegration (im Sinne, dass sie von der Familie getrennt ist) erfährt, wie man vielleicht hätte vermuten können. Sie schildert diesen hingegen als neutralen Fakt: „und bin quasi […] die ganzen zehn Jahre einfach in ner Gruppe von Leuten halt groß geworden. Also °unter den Internatsschülern° und war dann aber am Wochenende immer Zuhause. //mhm// Aber in der Woche halt da. (.)“ (Z. 30–32). Durch den Internatsbesuch befindet sie sich jedoch im Zentrum des sich in der Folge des Mauerfalls vollziehenden gesellschaftlichen Umwälzungs- und Desintegrationsprozesses. Dieser tangiert ihren Alltag als Schülerin des Internats insofern, als das Ende der DDR die Routine der Schule quasi zum Erliegen bringt (Z. 107–121): Und dann, also mit der Wende hat sich dann natürlich alles total auf en Kopf gestellt. Also diese ganze (.) Strukturierung in der Schule brach erstma völlig zusammen. Im Internat auch. Also, was dann hieß, dass ich die (.) also so absurde Dinge, wie plötzlich gabs nich mehr von eins bis fünf Schulnoten, sondern von eins bis sechs @(.)@ Des is auch so okay@ hm, was soll das jetzt? aber @gut@. Und ähm. Und die Lehrer wurden halt ausgetauscht. Also //mhm// es wurden ja dann Leute, die in der SED waren irgendwie entlassen oder versetzt oder was auch immer, also durften dann nich mehr Lehrer sein. Und bei den Erziehern halt auch und dann hast du natürlich schon mitgekriegt, so okay, die warn dann irgendwie so in Positionen und (.) Hhm (2) Und en ziemlicher Umbruch auch, also, bis hin keine Ahnung zu den Sachen, die man i:n=der also die Lehrer wussten teilweise auch nich was solln sie uns jetzt vermitteln? so, ne, also welche Bücher jetzt und Bla //mhm// und es war halt alles so, so en bisschen so en zwischen Abwarten und Anarchie@ keine Ahnung Chaos so also so alles, alles auf einmal. //mhm// Und. Und, das hat aber auch halt (3) für uns also (.) diese ((stockend)) dieses ganze organisierte Freizeitsding is dann halt eigentlich wegegebrochen. Also (2) gab dann natürlich noch Erzieher, aber so die wussten halt auch nich so richtig.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Die Auflösung der durch das politische System geprägten tradierten Verhältnisse stellt auch in der Schule „alles total auf en Kopf“. Zwar wird das Alte teilweise durch neue Praxen und bisherige Lehrer*innen durch neue ersetzt, doch herrscht eine allgemeine Orientierungslosigkeit durch das (von oben auferlegt) Neue vor: Die Lehrer*innen „wussten teilweise […] nich“, wie auch die Erzieher*innen „nich so richtig [wussten]“, woran sie sich in ihrem Lehrplan oder anderen Angeboten orientieren sollten. Auch Frau Richter als Schülerin scheint zwischen Ablehnung – hier z. B. repräsentiert durch das Thema der Änderung der Schulnoten, was Frau Richter als „absurde[s] Ding“ kennzeichnet – und Hinnahme des Neuen – „aber @gut@“ – zu pendeln. Eine neue schulische Handlungspraxis von Lehrpersonal und Schülerschaft hat sich noch nicht ausgeformt, das Internat befindet sich „zwischen Abwarten und Anarchie@“. Diese kollektive Desintegrationserfahrung öffnet – so wird noch zu zeigen sein (vgl. Abschn. 5.3) – einen Raum für Neues und kann als einer der ermöglichenden Aspekte von Frau Richters jugendlichem Bildungsprozess gelten. Der Unterschied des Charakters dieser Auflösungserfahrung liegt im Vergleich zu den biografischen Hintergründen der anderen betrachteten Lebensgeschichten darin, dass Tanja Richter diese Erfahrung nicht auf sich selbst beziehen muss. Zwar hat die gesellschaftliche Umstrukturierung unmittelbare Auswirkungen auf ihren Alltag, doch betrifft dies nicht sie allein, sondern alle Internatsangehörigen, Schüler*innen wie Lehrer*innen. Hier liegt ein maßgeblicher Unterschied zu den anderen Fällen – und wohl auch eine mögliche Erklärung dafür, warum Frau Richter diese Erfahrung von sozialer Desintegration im Gegensatz zu den anderen Akteur*innen nicht negativ konnotiert. Es finden sich in ihren Kindheitsschilderungen jedoch noch weitere biografische Thematiken, die im anschließenden Bildungsprozess wiederauftauchen werden. Zunächst einmal wäre da die Wahrnehmung der räumlichen Begrenztheit in der DDR zu nennen. Dies beschäftigte Tanja Richter bereits als junges Mädchen. Wenn ihr Vater sie nach den Wochenenden zurück ins Internat fuhr, mussten sie von Falkensee aus eine lange Strecke „immer […] um die Mauer rumfahren“, um ins Zentrum Ost-Berlins zu kommen. Im Zuge der Schilderung dieser Fahrten und ihrer wiederkehrenden Reflexion verschiedener Stationen der Reise, erinnert Frau Richter z. B. folgende „Situation“ (Z. 99–106): „wo mein Vater mal fürn Trabi irgendwie en Ersatzteil kaufen musste und ist dann halt irgendwie mit dem Trabi hier in den Seitenstraßen rumgefahren und dann hatte er halt geparkt und gsacht ja, ich geh jetzt da mal schnell was kaufen und dann saß ich da halt im Auto und dachte mir okay. Da vorne steht jetzt die Mauer, die Straße is jetzt zu Ende da, des is doch komisch @irgendwie@ @(.)@ //mhm// also so. // mhm// (.) So, aber es war halt so, okay, ähm. (2) als Kind so en stückweit okay, so,

5.2  Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend

285

des is halt die Wirklichkeit, so is sie und (.) ach, genau und einma warn wir aufm Fernsehturm und ham rübergeguckt; das fand ich auch aufregend. hä, da gibt’s noch ne Stadt hinter der Mauer“.

Die Existenz der Berliner Mauer war für die junge Tanja Richter allgegenwärtig, da sie gemeinsam mit ihrem Vater zweimal wöchentlich die Strecke zwischen Falkensee und Berlin-Prenzlauer Berg um West-Berlin herum zurücklegte. Es dokumentiert sich in dieser Schilderung – neben der für die Kindheit typischen Akzeptanz des Vorgefundenen („es war halt so“) – auch ein vages Gefühl des Befremdens hinsichtlich dessen, dass die Straße, die sie betrachtete, durch die Mauer einfach abgeschnitten wurde. Frau Richter erinnert ihren damaligen Gedanken, dies „komisch @irgendwie@“ gefunden zu haben. Es dokumentiert sich hier eine Sensibilität für den Zustand der geteilten Stadt und den damit einhergehenden begrenzten Raum, für die Tanja Richter als Kind noch keine Worte hat. Durch den Blick vom Fernsehturm kann sie sich des ‚Dahinters‘ vergewissern und feststellen, dass es dort „noch ne Stadt“ gibt; diese (virtuelle) Erweiterung des Raumes erinnert Frau Richter als „aufregend“. Der Bezug zum ‚Raum‘ wird später ein zentrales Thema in ihrem jugendlichen Bildungsprozess darstellen. So verweist der biografische Hintergrund von Frau Richters Bildungsprozess mit ihrer Erfahrung der Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten und des später folgenden gesellschaftlichen Umbruchs des Mauerfalls bereits in doppelter Weise auf politische Verhältnisse, wenngleich Frau Richter als Kind und Jugendliche eher deren Niederschlag in ihrem Alltagsleben – den begrenzten Raum und, später, die entstandene (pädagogische) Leerstelle – wahrnimmt. Als eine weitere Thematik, die als biografischer Erfahrungshintergrund des Bildungsprozesses gesehen werden kann, ist zudem Tanja Richters erkundende Herangehensweise an die Welt. Von der Zeit vor dem Mauerfall berichtet sie von vielfältigen Nachmittagsangeboten im Sinne einer „gute[n] sozialistische Erziehung @(2)@“ (Z. 21) an ihrem Internat. Unter anderem wurden die Kinder losgeschickt, um kleinere Dienste in der Nachbarschaft zu erledigen (Z. 25–30): „so Geschichten wie okay wir gehen in der Nachbarschaft Altstoffe sammeln. @ Und@ klingeln dann überall in der Straße die Omas raus ((Stimme kindlich verstellt)) Habt Ihr noch Papier und Gläser? @(.)@ also so was halt auch. ähh (2) was also so was ich damals halt witzig fand, ich glaub ich war ja son neugieriges Kind und dann joa fand ich das ganz cool“.

Die junge Tanja Richter genießt den Kontakt zu Menschen, die sie nicht (unbedingt) persönlich kennt, sie findet das Klingeln bei Nachbarn „ganz cool“. Einer Theorie zum eigenen Selbst zufolge beschreibt sie sich in diesem Kontext dann auch als ein „neugieriges Kind“ (Z. 29). Dieses Selbstbild hält

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

sie bis heute aufrecht und sieht dies u. a. in ihrer Sehbehinderung begründet. Am Ende des Interviews von der Interviewerin gefragt, ob sie noch etwas über die Sehbehinderung sagen könne, stellt Frau Richter folgende Vermutung auf (Z. 563–565): „Ich weiß nicht, obs mich neugieriger gemacht hat manchmal einfach Dinge dann mich reinzuschmeißen und die @zu erleben sozusagen@ oder ob dies so einfach meine Art is? weiß nich, aber wenn ich was spannend finde @dann geh ich nah ran@“.

Sie stellt hier ihre Neugierde in den Kontext der eigenen Sehbehinderung. Aus der physischen Notwendigkeit, ‚nah ranzugehen‘ vermutet Frau Richter die Entstehung einer generellen Neugierde. Diese habitualisierte Offenheit für Neues, wie man ihre Neugierde in theoretischer Begrifflichkeit fassen könnte,13 wird ihr nicht nur den neuen sozialen Anschluss bringen, in dem der Bildungsprozess seinen Ausgangspunkt nimmt, sondern auch im Zuge des Bildungsprozesses zu einer handlungsleitenden Orientierung werden. Zusammenfassend kann als biografischer Erfahrungshintergrund für Frau Richter festgehalten werden, dass sie schon früh mit der räumlichen Begrenztheit (der DDR) konfrontiert war, eine Sensibilität für diese Thematik entwickelt hat und zudem eine habitualisierte Offenheit für Neues aufweist. Im Kontext des Mauerfalls kommt dann eine gesellschaftliche Auflösungserfahrung hinzu, die Tanja Richter jedoch nicht in negativer Art und Weise erinnert, sondern die vielmehr einen Raum für den alsbald folgenden Bildungsprozess eröffnet. Im Gegensatz zu diesen tendenziell eher positiv konnotierten biografischen Hintergründen von Frau Richter, verhält es sich bei den biografischen Erzählungen von Frau Bach und Herrn Waldorfer (die ich hier nur in aller Kürze erwähnen möchte, da sie in Abschn. 7.2 noch einmal gesondert betrachtet werden) geradezu umgekehrt: Ihre biografischen Kindheitserzählungen sind dominiert von Erfahrungen, die sie als im negativen Sinne einschneidend erinnern. Bei den von ihnen negativ konnotierten Erfahrungen handelt es sich dann aber – ganz ähnlich wie bereits bei Frau Weber, Frau Kubitschek und Herrn Büchner gesehen –, ebenfalls um Momente von sozialer Desintegration, Marginalisierung und/oder Exklusion.

13Frau

Richters Theorie zum eigenen Selbst folge ich hier insofern, als eine solche ‚Neugierde‘ nicht nur Frau Richter selbst konstatiert, sondern sich eine habitualisierte Offenheit für Neues in der Tat an zahlreichen Stellen des Interviews rekonstruieren lässt, wie in Abschn. 5.3 noch zu sehen sein wird.

5.2  Biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in der Jugend

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Als innerdeutsches Flüchtlingskind im Bayern der Nachkriegszeit macht Peter Waldorfer Marginalisierungs- und Exklusionserfahrungen. Die Mitglieder seiner Familie haben sich „als Berliner […] am Bodensee […] als quasi Persona non grata“ (45 f.) gefühlt und er selbst sei, als er „als Hochdeutsch sprechendes Kind dann in die (.) erste Klasse“ (Z. 49) kam, marginalisiert worden. Auch Sandra Bach litt in ihrer Kindheit unter den Folgen lokaler – und daraus resultierender sozialer – Desintegration, allerdings berichtet sie keine Marginalisierungs- oder Exklusionserfahrungen. Zwei Jahre nach ihrer Geburt verließ die Familie den Heimatort ihrer Mutter. Aufgrund der häufigen Arbeitsplatzwechsel ihres Vaters ist die Familie „von da ab so alle anderthalb bis zwei Jahre ungefähr umgezogen“ (Z. 374). Sandra Bach hat dies als „total ätzend“ (Z. 378) empfunden. In den ständig wechselnden Schulklassen kommt ihr eine soziale Außenseiterposition zu, da „es […] sich nich richtig lohnt[e,] Freundschaften zu schließen, weil du weißt (.) is eh nich für länger“ (Z. 379 f.). So dokumentiert sich hier eine von der Interviewten negativ bewertete Erfahrung sozialer Desintegration. Die hier aufscheinenden Thematiken von fehlender sozialer Einbindung werden in den späteren Bildungsprozessen von Frau Bach und Herrn Waldorfer von Bedeutung sein. Neben diesen Momenten von Desintegration bzw. Marginalisierung und/oder Exklusion wird es in den späteren Bildungsprozessen jedoch auch um ihre Erfahrungen mit einem Erziehungsstil gehen, bei dem – wie es Frau Bach (Z. 378) formuliert –, „auf Kinderbedürfnisse keine Rücksicht genommen wurde“ bzw. – in den Worten Herrn Waldorfers (Z. 63 f.) – „jemand […] ständig autoritär bestimmt wos lang geht in der Familie“. Bei Frau Bach trifft dies vorrangig auf den Vater zu, in Herrn Waldorfers biografischer Erzählung wird neben dem Vater auch die autoritäre und gewaltvolle Erziehung in der Schule thematisiert. Diese Erfahrungen von als einseitig machtvoll und wenig fürsorglich wahrgenommener Autorität unterscheidet Frau Bachs und Herrn Waldorfers biografische Erzählungen von den anderen.14

14Dieser

Unterschied könnte auf generationsspezifische Unterschiede verweisen, da Frau Bach und Herr Waldorfer mit ca. 15–20 Jahren Abstand die Ältesten des Samples sind. (Frau Stier, die altersmäßig derselben Generation wie Frau Bach und Herr Waldorfer angehört, kann hier leider, wie bereits erwähnt, wegen mangelnder Informationen zu ihren biografischen Hintergründen nicht zugeordnet werden.) Aufgrund meiner thematischen Fokussierung auf die fallübergreifende Phasentypik der Bildungsprozesse, werde ich zeitgeschichtliche und generationelle Unterschiede jedoch nicht in strukturierter Form herausarbeiten.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Zusammenfassung Zusammenfassend ist zu den biografischen Hintergründen der Bildungsprozesse zu konstatieren, dass sich in allen hier betrachteten Biografien Momente von sozialer Desintegration, Marginalisierung und/oder Exklusion dokumentieren. Während diese Erfahrungskomplexe in fünf der sechs Lebensgeschichten mit einer negativen Konnotation erinnert werden, blickt Frau Richter auf die (hier: gesellschaftlich bedingte) Auflösungserfahrung als einzige in relativ neutraler Art und Weise – als ‚Faktum‘ – zurück. Dies scheint ihr möglich, weil das Moment des Brüchigwerdens eines milieubezogenen Wissens bei ihr – im Gegensatz zu den anderen Fällen – nicht mit dem Verlust sozialer Anschlüsse oder mit Marginalisierungserfahrungen, die sie auf ihr eigenes Selbst beziehen müsste, einhergeht.15 Neben den genannten negativ (bis neutral) erinnerten Erfahrungskomplexen ließen sich in den Lebensgeschichten von Frau Richter, Herrn Büchner, Frau Kubitschek und Frau Weber auch für den späteren Bildungsprozess relevante biografische Erfahrungen aus der Kindheit rekonstruieren, auf die sie sich in positiver Weise beziehen. Diese lassen sich zusammenfassen als Vorbilder (nonkonformistischen Handelns) aus der eigenen Familie, positiv erfahrene soziale Einbindung in Familie und kindliche Peergroup, Erfahrungen (relativer) kindlicher Freiheit und die Vorzüge einer offenen Haltung gegenüber der Welt. Zwar waren derart positiv konnotierte biografische Hintergründe der Bildungsprozesse in den biografischen Erzählungen von Herrn Waldorfer und Frau Bach nicht zu entdecken, doch lohnt sich hier ein Blick auf die Thematiken, um die es in den biografischen Hintergründen insgesamt geht, unabhängig von ihrer positiven oder negativen Bewertung durch die Interviewten selbst. So scheint hier nämlich immer wieder die Thematik von sozialer Einbindung auf – entweder in ihrer gelungenen Variante oder aber als prekäre Erfahrung von Desintegration, Marginalisierung oder Exklusion. In einigen Fällen machen die Befragten sowohl positiv wahrgenommene als auch negativ bewertete Erfahrungen sozialer Zugehörigkeit bzw. ihrer Abwesenheit. Auf ähnliche Weise ließen sich auch die Themen der Erfahrung von relativer Freiheit respektive Selbstbestimmtheit mit jenen der relativen Fremdbestimmtheit bzw. fehlender Mitbestimmung als zwei Seiten einer (thematischen) Medaille sehen. Diejenigen, die zumindest auch auf positive Erfahrungen des Gefühls von Freiheit zurückblicken können, knüpfen an diese im späteren Bildungsprozess an. In jenen Fällen, in denen im biografischen

15Auch

die Erfahrung des begrenzten Raumes in der DDR erhält bei ihr keine stark negativ ausgeprägte Konnotation, sondern eher den Status der ‚Befremdung‘.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

289

Erfahrungshintergrund keine positiv konnotierten Erfahrungen von sozialer Zugehörigkeit oder Selbstbestimmung zu rekonstruieren sind, wird diese Erfahrung spätestens mit Beginn des Bildungsprozesses ins Leben der Sich-Bildenden treten, so viel möchte ich an dieser Stelle bereits vorwegnehmen.

5.3 Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Zuge der Einfindung in soziale Protestbewegungen Alle Interviewten, auf deren autobiografische Erzählungen sich die empirischen Rekonstruktionen dieser Arbeit stützen, fanden bereits im Jugendalter den Anschluss an eine soziale Protestbewegung. In diesem Prozess, den ich, wie eingangs in diesem Kapitel bereits erwähnt, in Anlehnung an Schäffer (1996) als ‚Einfindung‘ in eine soziale Protestbewegung bezeichne, um den tentativen, erkundenden Charakter der Prozesse hervorzuheben,16 treffen die jugendlichen Akteur*innen mit ihrem sich bis dato formierten Habitus auf ein Bewegungsmilieu, in dessen Kontext sich ihr Habitus transformiert. Im Folgenden soll anhand der Lebensgeschichten von Herrn Büchner, Frau Bach, Frau Richter, Frau Kubitschek, Frau Weber, Herrn Waldorfer und Frau Stier nachvollzogen werden, wie die erste, maßgeblich vom Herkunftsmilieu geprägte Ausgestaltung des Habitus im Zuge der Einfindung der jugendlichen Akteur*innen in eine soziale Protestbewegung in ein neues habituelles Gefüge transformiert wird, mit dem die Entstehung einer politischen Orientierung einhergeht, das jedoch über politische Thematiken weit hinausgeht. Fokussiert werden dabei all jene Aspekte der Biografien, die als bestimmend für den fallübergreifenden, phasenhaften Ablauf der Prozesse identifiziert werden konnten. Zwecks Nachvollziehbarkeit der späteren Entwicklungen der Prozesse zeige ich die ersten beiden Phasen der adoleszenten Bildungsprozesse nicht nur an exemplarischen Fällen, sondern an allen sieben Fällen, auf deren Basis die Typik entstanden ist. In den folgenden Phasen werde ich aus Gründen des Umfangs und der Lesbarkeit hingegen jeweils einzelne Fälle ausführlich exemplarisch heranziehen, während ich andere nur zusammenfassend darstelle.

16Bei

den von Burkhard Schäffer (1996) untersuchten jugendlichen Musikgruppen vollzieht sich das Sich-Einfinden in die ästhetische Praxis eines Musikstils zunächst über einen „Prozess des Machens“ (ebd., S. 230), an dessen Anfang nicht klar ist, was am Ende herauskommt.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

5.3.1 Die Phase der unbestimmten Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation Am Anfang eines Bildungsprozesses ist noch nicht absehbar, ob dies tatsächlich der Beginn von Bildung sein wird. Die retrospektive Vergegenwärtigung der Lebensgeschichten, wie sie meine Interviewpartner*innen in ihren biografischen Narrationen vorgenommen haben, eröffnet jedoch den interpretatorischen Zugriff darauf, ob ein Bildungsprozess stattgefunden und wie sich dessen Anfang gestaltet hat. Eine unbestimmte Offenheit für neue soziale Anschlüsse ist also nicht exklusiv in Bildungsprozessen zu finden,17 allerdings scheint sie für Bildung unabdingbar. Im fallübergreifenden Vergleich wurde zudem deutlich, dass die unbestimmte, also nicht zielgerichtete Offenheit für neue soziale Anschlüsse in allen Bildungsprozessen, die sich im Rahmen der vorliegenden Studie im Kontext sozialer Protestbewegungen im Jugendalter rekonstruieren ließen, durch die eine oder andere Form von Negation charakterisiert und zudem kollektiv strukturiert ist. Die Negation bezieht sich auf im Elternhaus und Herkunftsmilieu tradierte Wissensmuster, ebenso wie auf Orientierungen und Strukturen, die in anderen Kontexten, so z. B. der Schule, als dominant erlebt werden. Wie die Offenheit sich zugleich gegen etwas richten und dennoch in gewisser Hinsicht unbestimmt bleiben kann, soll im Folgenden anhand aller sieben empirischen Fälle dargelegt werden. Diese untergliedern sich in jene, bei denen sich die Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation von Anfang an als politische Praxis präsentiert, und solche Prozesse, die mit einem jugendkulturellen Anschluss beginnen, in dem eine ‚Politizität‘ der Praxis zunächst nur am Rande aufblitzt. Mit letzterer Gruppe werde ich meine Darstellung der Phase der unbestimmten Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation – am Beispiel Frau Webers – beginnen. Im Vergleich zu ihren Erfahrungen aus der Grundschule kann die jugendliche Anja Weber in ihrer Realschulklasse zunächst als integriert gelten.18 Doch versucht sie nun ihrerseits, sich von der Klassengemeinschaft abzugrenzen (Z. 65–72):

17Sie

konnte vielmehr auch in einigen Interviews gefunden werden, in denen kein Bildungsprozess identifiziert werden konnte. 18Vgl. zu Frau Webers Erfahrungen von sozialer Desintegration und Marginalisierung in der Grundschule Abschn. 5.2 zum biografischen Erfahrungshintergrund der Bildungsfälle.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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„auf jeden Fall ((seufzend)) würde ich jetzt mal es so im Nachhinein sagen, war ich da in ner ziemlich bescheuerten Klasse. insofern, dass die alle, dass die Mädchen da alle total blöd warn. und ich glaube wir warn, (2) total blöd, so pubertierend blöd. (1) und ähm und so stulle würde ich jetzt auch mal son bisschen sagen und dann hab ich aber mit (1) mit vierzehn hab ich angefangen zu rauchen, und so vielleicht mit fünfzehn oder so hab ich dann ein paar andere Leute kennengelernt. auch auf der Schule aber nicht in meiner Klasse. und da fing das dann an dass ich glaube ich son ander- andern Weg auch bisschen eingeschlagen habe.“

Schließt sich Frau Weber zunächst selbst in den Kreis der als „pubertierend blöd“ betitelten Mädchen mit ein, so markiert die Feststellung „und dann hab ich aber […] angefangen zu rauchen“ [Hervorhebung S.T.] eine Loslösung von dieser Peergroup. Im Rauchen demonstriert sie auf performative Art und Weise eine suchende Haltung, eine Offenheit für Möglichkeiten der Distinktion, ohne dabei schon gezielt zu wissen, wonach sie sucht. In diesem Sinne ist die Offenheit der jungen Frau Weber unbestimmt, wenngleich sie sich gegen etwas richtet. Über diese Selbstmarginalisierung, mit der sie sich von der Mehrheit ihrer Peers abgrenzt und mit der sie an die ihr bereits aus der Grundschulklasse vertraute Position der Marginalisierten anknüpft, lernt sie schließlich auch „andere“ [Hervorhebung S.T.] Schüler*innen ihrer Schule kennen. Im kollektiven Zusammenschluss dieser neuen Peergroup kann Anja Weber ihre Distinktionsbestrebungen kollektivieren und eine habituelle Übereinstimmung herstellen. Hier beginnt für die junge Frau Weber das, was sie rückblickend als „andern Weg“ reflektiert; eine Negation und Ablösungsbewegung von ihrer Peergroup und – darüberhinausgehend – vom als ‚normal‘ Antizipierten. Mit dem Einschlagen eines ‚anderen Weges‘ deutet sich eine Lockerung ihres tradierten habituellen Gefüges an, was ich als Beginn ihres adoleszenten Bildungsprozesses kennzeichnen möchte. Wie sich hier bereits andeutet und in den Ausarbeitungen zu späteren Phasen dieses jugendlichen Bildungsprozesses bestätigt werden wird, ist der Kontext von Frau Webers Offenheit für neue soziale Anschlüsse und Praktiken ein kollektiv strukturierter, jugendkultureller, für den ein Distinktionsbestreben und die Negierung der Norm zentral sind. Politische Konfliktlinien spielen in der ersten Phase des Bildungsprozesses bei der jugendlichen Frau Weber indes noch keine Rolle. Auch bei Peter Waldorfer dokumentiert sich eine Offenheit für neue soziale Anschlüsse und Praktiken, die zunächst nicht eine politische, sondern eine kulturelle Praxis, das Musizieren, ins Zentrum stellt. Nach dem Abschluss der ihm vom Vater auferlegten Lehre als Automechaniker landet er, auch hier nicht wirklich aus seinem eigenen Wunsch heraus, bei der Bundeswehr. Die dreijährige ­Verpflichtung bewertet er dann auch als „absoluten Tiefpunkt“ dieser Phase seiner

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Biografie. Im Rückblick kann er der Zeit dennoch etwas Positives abgewinnen, weil sich am Ort seiner Stationierung über ein gemeinsames Musizieren Kontakte zum Studierendenmilieu der späten 60er-Jahre ergeben.19 Herr Waldorfers unbestimmte Offenheit für diesen neuen, kollektiven Anschluss geht, wie dies bereits im Falle Frau Webers zu sehen war, mit der Negation des Tradierten und der an ihn in diesem Zusammenhang gestellten Erwartungen einher. Seine Ablehnung des vom Vater vorgegebenen Lebenswegs sowie des ebenfalls vom Vater propagierten „autoritär[en]“ (Z. 64) Prinzips, „dass in der Gesellschaft einer führen muss. (.) sowohl im Staat wie in der Familie“ (Z. 65 f.) – eine hierarchische Ordnung, die er in der Bundeswehr wiederfand –, bilden den Erfahrungshintergrund seiner Offenheit für das kreative Milieu der Studierenden. Ähnlich wie schon bei Anja Weber gesehen, gehen eine Negation des Tradierten und eine Öffnung für neue Anschlüsse und Erfahrungen hier miteinander Hand in Hand. Die Negation legt also gewissermaßen den Grundstein für die Öffnung, die in theoriebildender Absicht wiederum als erster Schritt einer Dynamisierung des habituellen Gefüges bezeichnet werden kann.20 Zwar wissen wir heute, dass das Studierendenmilieu der ausgehenden 1960er-Jahre sich stetig mehr politisierte, doch ist davon bei Herrn Waldorfer in Bezug auf diese erste Phase seines Bildungsprozesses zunächst keine Rede. Auch bei den im Folgenden vorgestellten beiden jugendlichen Akteur*innen ist der Beginn des Bildungsprozesses zunächst vorrangig jugendkulturell gerahmt, doch treten hier die politischen Konfliktlinien, anhand derer sich ihre jugendkulturelle Praxis bewegt, bereits deutlicher hervor. Der Anschluss, den die jugendliche Tanja Richter an eine künstlerisch-kreative Gruppe im Kontext der Hausbesetzer*innen-Bewegung findet, kann als deutlich politisierter gelten als derjenige von Peter Waldorfer an das Musiker*innen- und

19Peter

Waldorfers Einlassungen hierzu fallen recht knapp aus, sodass ich mich hier darauf beschränke, den Hintergrund des Anschlusses darzustellen, ohne Transkriptauszüge hinzuzuziehen. Die Kürze der Darstellung von Erlebnissen ist jedoch typisch für das gesamte Interview, das von theoretisierenden Reflexionen durchzogen ist und vergleichsweise wenige ausführliche Schilderungen von konkreten Ereignissen enthält. 20Es ist nicht zu rekonstruieren und würde deshalb wenig Sinn ergeben, hier bestimmen zu wollen, was Ursache und was Wirkung ist, d. h., was zuerst da war: die Öffnung für neue Anschlüsse oder die Lockerung bzw. Dynamisierung des habituellen Gefüges. Ob die Öffnung letztlich eine nachhaltige Lockerung bzw. Dynamisierung des habituellen Gefüges bedeutet, ist letztlich nur retrospektiv, vor dem Hintergrund des weiteren Prozessverlaufs zu beurteilen.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

293

Studierendenmilieu.21 Doch zunächst zu den Umständen, die Tanja Richters Offenheit für den neuen Anschluss flankieren: Im sehr jungen Alter von 14 Jahren trifft sie, deren ‚Neugierde‘ im Unterkapitel zum biografischen Erfahrungshintergrund bereits als eine vom Kindesalter an ausgebildete habitualisierte Offenheit interpretiert wurde,22 im Zuge der ‚Wende‘ zudem auf eine gesellschaftspolitische Öffnung, die in ihrem Internatsalltag eine zuvor nicht dagewesene strukturelle Leerstelle entstehen lässt. Wie bereits in Abschn. 5.2 gesehen, äußert sich dies für die Schüler*innen u. a. ganz konkret darin, dass es die vorher übliche organisierte Nachmittagsbeschäftigung nicht mehr gab. In diese pädagogische Lücke fällt ein Angebot, das zwei benachbarte Hausbesetzer den Schüler*innen unterbreiten (Z. 125–134): „Und dann (.) war halt quasi (.) gabs halt so (.) ein Ereignis, was glaub ich ziemlich wichtig war is das nämlich ähm (.) zwe:i, ich glaub die warn damals Kunststudenten? die ähm neben neben uns also neben uns in nem besetzten Haus gewohnt ham; inner (Donke) […]. Ähm. °Robert° und Petter. Die sind dann zu uns ins Internat gekommen und ham gefracht, ob jemand Lust hätte mit denen irgendwie Kunst zu machen. Die irgendwie so einmal die Woche ob wir nich ma vorbeikommen wollen und gucken. //mhm// @weil ich ja so neugierig war@ fand ich des natürlich sehr interessant. Ja gehen wa ma hin @(.)@ Und ähm ja. Des war dann quasi, sozusagen die Eintrittskarte in die ganz:e ähm autonome organisierte künstlerische politische Welt, die da irgendwie auch war //mhm// plötzlich.“

Aus dem Milieu der Hausbesetzer*innen gehen zwei „Kunststudenten“ auf die Schüler*innen des Internats zu und unterbreiten ihnen das Angebot, sich gemeinsam künstlerisch zu betätigen. Sie treffen sowohl bei Tanja Richter und anderen Schüler*innen als auch beim Personal des Internats, wie sich an anderer Stelle des Interviews dokumentiert, auf offene Ohren – eine Offenheit, die sich aus dem gesellschaftlichen und schulischen ‚Dazwischen‘ erklären lässt. Mit einer Theorie zum eigenen, neugierigen Selbst begründet Tanja Richter den – scheinbar

21Ich

möchte an dieser Stelle jedoch daran erinnern, dass ich hier keine Fakten rekonstruiere, sondern mich darauf beziehe, wie sich die Praxis in der Schilderung der Interviewten dokumentiert. 22Wenngleich für das Jugendalter generell eine größere Offenheit für neue Erfahrungen konstatiert werden kann und diese zudem für den Beginn aller hier vorgestellten Bildungsprozesse rekonstruiert wurde – die Offenheit für neue soziale Anschlüsse und Praktiken ist ja sogar Namensgeberin für diese erste Phase des adoleszenten Bildungsprozesses –, so liegt bei Frau Richter eine Offenheit für Neues jedoch in besonders stark ausgeprägter Form vor. Zudem, so viel darf vorweggenommen werden, bleibt diese auch im Erwachsenenalter in habitualisierter, verstetigter Form bestehen.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

ohne Umschweife getroffenen – Beschluss, die sich ihr bietende Option wahrzunehmen und mit einigen ihrer Peers „ma hin“ zu gehen. Tanja Richter selbst folgt zunächst keinen politischen Absichten, sondern lediglich ihrer Neugierde. Sie hat zudem auch keine konkreten Erwartungen; diese ‚neue Welt‘ eröffnet sich ihr hingegen „plötzlich“, d. h. unerwartet und ungeplant. Ohne politische Intentionen zu verfolgen, kommt sie so in das für sie neue, politisierte Milieu der Hausbesetzer*innen, in dem im Kontext der Negierung gesellschaftlicher Normen eine „autonome organisierte künstlerische politische Welt“ gelebt wird. Ihre Offenheit für diesen neuen, kollektiven Anschluss schafft also den Rahmen für sich in der Folge in diesem Kontext entspinnende Erfahrungen, die schließlich zur Transformation ihres Habitus führen werden. Die Offenheit selbst stellt bereits den ersten Schritt der für den Bildungsprozess nötigen Lockerung des bisherigen habituellen Gefüges dar.23 Auch Thomas Büchner verschlägt seine unbestimmte Offenheit für neue soziale Anschlüsse und Praktiken in eine ‚Welt‘, in der die (politisierte) Ablehnung der Norm konstitutiv ist. Während bei Frau Richter u. a. ein gesellschaftlicher Umbruch den Rahmen für den neuen kollektiven Gruppenanschluss liefert, ist es bei Thomas Büchner – ganz ähnlich wie bei Anja Weber – wiederum eine marginalisierte Position an der Schule, in deren Kontext die Offenheit erwächst, die ihn letztlich in die Blueser-Bewegung Ost-Berlins geleiten wird. Nach dem von seiner Mutter veranlassten Umzug von Halberstadt nach Berlin kommt Thomas Büchner als neuer Schüler in eine Klasse, in der er eine deutliche habituelle Distanz zu den „Kinder[n] von Armee-Angehörigen, oder von der Staatssicherheit“ verspürt, wie er das Gros seiner Mitschüler*innen klassifiziert. Er ist in der neuen Klasse nicht nur sozial exkludiert, sondern lehnt die Klassenkamerad*innen auch selbst ab.24 In diesem Kontext erweckt der Mitschüler „Oleg“ (Z. 122) seine Aufmerksamkeit, weil dieser sich deutlich von den anderen unterschied und überhaupt „komplett anders als alle anderen Leute [aussah], […] wahnsinnig lange Haare, Hosen, vierzig, fünfzig Flicken auf den Hosen [hatte], also, man würde sagen, Hippie“ (Z. 124 ff.). Thomas Büchner ist von diesem

23Dies

wiederum kann in Bezug auf die Lebensgeschichte von Frau Richter wie auch aller anderen zu dieser Typik hinzugezogenen Fälle von Bildung selbstverständlich nur aufgrund der Kenntnis um den gesamten nachfolgenden Prozess konstatiert werden. Wie eingangs bereits erwähnt, führen weder die Offenheit für neue Anschlüsse und Erfahrungen noch die Negation tradierten Wissens oder Normen automatisch zu einem Bildungsprozess. 24Vgl. auch hierzu ausführlich die Darstellungen im Abschn.  5.2 zum biografischen Erfahrungshintergrund der Bildungsfälle.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

295

Klassenkameraden fasziniert, der anhand seines Äußeren eine Negation des im Klassenverband dominanten Milieus und den damit einhergehenden Orientierungen repräsentiert. Die Freundschaft der beiden Jugendlichen „manifestiert“ sich schließlich, als beide im „Staatsbürgerkundeunterricht“ des Klassenzimmers verwiesen werden (Z. 131–141): „das Schlüsselerlebnis glaube ich, war- wo ich mit Oleg zusammen gekommen bin, war im Staatsbürgerkundeunterricht, es ging um dem Molotov-Ribbentrop-Vertrag, den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion; dieser Punkt existierte im Geschichtsunterricht der DDR nicht. zur da-maligen Zeit, obs später nochmal geändert hat, müsste man nochmal nach(gucken), ich bin mir nicht ganz sicher, ich habe so was gehört; jedenfalls haben wir uns beide gemeldet und haben gesagt, äh, das war aber (halt) abgesprochen, dass Polen, nein, Entschuldigung, Polen überfallen wurde und aufgeteilt wurde; die Staatsbürgerkundelehrerin ist komplett ausgeflippt, hat uns der Klasse verwiesen, und dann standen wir uns beide eben halt irgendwie auf dem Gang und haben gesagt, hm, warum hat die uns jetzt wohl rausgeschmissen? so, darüber ist unsere Freundschaft, glaube ich, hat sich die da so manifestiert, o.k.“

Der Initialfunke für ihre Freundschaft ist das gemeinsame Widersprechen sowie – eventuell noch bedeutender – der darauffolgende disziplinarische Ausschluss aus dem Unterricht. Die beiden Jugendlichen verbindet in dieser Situation nun eine Außenseiterposition, die ihnen aufgrund ihrer gemeinsamen Handlung, der im Unterricht vermittelten Geschichtsschreibung widersprochen zu haben, zukommt – und nicht mehr, wie dies zuvor bei Thomas Büchner der Fall war, aufgrund des Status‘ als ‚Neuling‘.25 Maßgeblich durch diese inspirierende Situation befeuert, findet Thomas Büchner in Oleg – quasi bevor er danach suchte – einen Verbündeten in seiner marginalisierten Position in der Klasse. Sowohl die Abgrenzung vom Milieu der Armee- und Staatssicherheitsangehörigen als auch der Disput im Unterricht verweisen deutlich auf politische Konfliktlinien. Dennoch kann für den jungen Herrn Büchner hier (noch) keine politische Orientierung im eigentlichen Sinne konstatiert werden, erzählt er doch vordergründig die Entstehung einer neuen Freundschaft und die Entdeckung von Möglichkeiten jugendkultureller Distinktion, die sich ihm mittels Olegs Äußerem

25In

dieser Gemeinsamkeit der beiden Schüler, die nicht zuletzt überhaupt erst dadurch zustande kommt, dass sie beide über ein hier als subversiv präsentiertes, dem Schulbuch widersprechendes Wissen verfügen, dokumentiert sich eventuell auch ein homologer Milieuhintergrund.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

präsentieren. Es deutet sich hier der Beginn einer Dynamisierung seines Habitus an, die sich alsbald in der „Blueser“-Bewegung Ost-Berlins, „wo sich eben Gleichgesinnte, Langhaarige, diese Blueser-Hippies“ (Z. 142 f.) trafen und in die ihn Oleg sodann einführt, fortsetzen wird. Auch bei Frau Kubitschek entsteht im Kontext einer kollektiven Negation der vorherrschenden „Stimmung“ an der Schule ein neues Gemeinschaftsgefühl. Als Arbeiterkind am Gymnasium kann auch sie auf habituelle Differenz- und Marginalisierungserfahrungen zurückblicken26 und, ähnlich wie bei Herrn Büchners Allianz mit Oleg, entsteht in diesem Kontext auch bei ihr eine Offenheit für neue Zusammenschlüsse (Z. 50–55): „ich war auf nem ziemlich autoritären Gymnasium das war sehr Junge Union geprägt //mhm// und von der Stimmung her fand ichs ähm so mit zunehmendem Alter ziemlich ätzend, (.). aber wir waren, daraus entsteht ja dann immer so ne eingeschworene, Gemeinde. also wir warn dann halt sone Hippie, Punkclique, die dann also du hattest so klare Gegner. @(.)@“.

Ihre Bewertung des Schulklimas als „ziemlich ätzend“ begründet Frau Kubitschek mit dem „autoritären“ Charakter der Schule sowie mit den Mitschüler*innen, deren christlich-konservative Gesinnung ihr habituell fern war. Frau Kubitscheks Theorie, dass sich „daraus“ – respektive aus konservativen und autoritären Strukturen – „immer“ eine durch starken Zusammenhalt geprägte Gegengruppierung bilde, liefert zugleich eine Beschreibung ihrer am Gymnasium entstehenden Peergroup, die sich in der Negation formiert. Das Verbindende der Gruppe ist die gemeinsame Ablehnung derjenigen, die dem Gymnasium eine „Junge Union“-Prägung gaben und somit (implizit) für die Herstellung und Aufrechterhaltung derjenigen sozialen Differenzen, von denen Frau Kubitschek und ihre Peers sich betroffen fühlen, stehen. Es zeigt sich hier eine Form der Vergemeinschaftung, in der nach außen die Differenz betont wird – sie hatten „klare Gegner“ –, sodass innerhalb der Gruppe verstärkt die Gemeinsamkeit thematisiert werden kann, wenngleich die Gruppe an sich „sehr gemischt“ (Z. 60) war, wie Frau Kubitschek an anderer Stelle angibt. Auf der Ebene des Habitus gesprochen, können die Jugendlichen mit denjenigen Anteilen ihres Habitus, die zuvor in gewisser Weise prekär und zur Grundlage von Marginalisierung geworden sind, an ein Kollektiv andocken. Die individuelle

26Siehe

auch hierzu ausführlich die Darstellung von Frau Kubitscheks biografischem Erfahrungshintergrund in Abschn. 5.2.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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Erfahrung habitueller Differenz und Marginalisierung beim Eintritt ins Gymnasium findet im konjunktiven Erfahrungsraum dieser Peergroup eine Überführung in eine kollektive – und positiv gerahmte – Selbstmarginalisierung. Diese geht über die Kollektivierung konjunktiver Erfahrungen hinaus, sie bildet zugleich die Basis für die Entstehung ‚des Neuen‘. Bettina Kubitscheks habituelles Gefüge erfährt hier eine kollektiv gerahmte Dynamisierung und wird in der Folge neu geordnet werden, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird. Die Kennzeichnung der eigenen Gruppe als „Hippie, Punkclique“ und die Hervorhebung des Zusammenhalts verweisen auf den vorrangig kulturellen Charakter dieser Peergroup, obgleich – wie bei Herrn Büchner und Frau Richter auch – hier bereits deutlich politische Konfliktlinien aufscheinen; z. B. wenn Frau Kubitschek die christlich-konservativ gesinnten Mitschüler*innen mit politischem Vokabular benennt. Dennoch kann noch nicht ohne Weiteres von einer (expliziten) politischen Orientierung der jugendlichen Akteurinnen und Akteure gesprochen werden. Politische Lagerzugehörigkeiten und jugendkultureller Ausdruck bilden hier eine Gemengelage, in der weder das eine noch das andere ‚in reiner Form‘ vorhanden ist. Dem Entstehen dieser im schulischen Kontext sich formierenden jugendkulturellen Peergroup folgt indes alsbald der Einfluss politischer Ereignisse, welche als Gelegenheitsstruktur für die Explizierung der bislang eher implizit gebliebenen politischen Positionierung gesehen werden können (s. Abschn. 5.3). Bei allen bislang besprochenen Fällen dokumentierte sich die politische Dimension ihrer Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken im Kontext der Negation noch recht diffus, wenngleich politische Konfliktlinien in unterschiedlichem Maße bereits in der Praxis der Jugendlichen aufscheinen. Doch scheint das jugendkulturelle Element der Handlungspraxis (noch) zu überwiegen. Anhand des Bildungsbeginns von Frau Bach soll nun hingegen eine kontrastierende Perspektive auf einen Bildungsprozess eröffnet werden, bei dem die Offenheit für neue soziale Anschlüsse und Praktiken von Anfang an politisch gerahmt wird. Wie bei allen für die vorliegende Arbeit Interviewten beginnt auch bei der jungen Frau Bach der Bildungsprozess im frühen Jugendalter. Doch stellt sie diese Offenheit für neue Anschüsse und Praktiken – im Gegensatz zu vielen anderen – von Anfang an in den Kontext politischer Auseinandersetzungen (Z. 29–37): „also ich hab angefangen mich zu engagieren, (1) so zwischen 14 und 16. (1) ich erinner mich mit (.) 14, (.) war der erste Wahlkampf den ich so (.) ganz bewusst (.) wahrgenommen hab. das war 72 (.) Willi Brandt, (.) //hmhm okay// (.) und den fand ich einfach toll. (.) ja? (.) hat mich so überzeugt, (.) außerdem meine beste Freundin

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

bzw. deren Mutter war politisch engagiert in der SPD, und (.) da (.) zog das so (.) hat mich so mitgezogen. (.) außerdem (.) war noch klasse m- mein Vater ist wahnsinnig konservativ. (.) der wählt so schwarz bis braun. (.) und den hat das total auf die Palme gebracht; was mit 14 bis 16 natürlich klasse is @(1)@. (1) mit 16 reichte das nicht mehr so ganz (1) um zu provoziern dann bin ich in die SDAJ eingetreten, das ist die äh oder das war die Jugendorganisation der DKP. (1)“.

Im Alter von „14“ Jahren nimmt Frau Bach das erste Mal einen politischen „Wahlkampf […] wahr“. Sie lässt sich von „Willi Brandt“ affizieren und findet ihn „einfach toll“. Diese erste bewusste Wahrnehmung eines Politikers und seiner politischen Partei vollzieht sich zudem unter dem Einfluss eines weiteren erwachsenen Vorbilds, der „Mutter“ von Sandra Bachs „beste[r] Freundin“. Diese sei aktive Sozialdemokratin gewesen und habe die junge Frau Bach „mitgezogen“. Zwei erwachsene, nicht zur Herkunftsfamilie zugehörige Vorbilder – eines im direkten Kontakt, eines medial vermittelt –, bringen Sandra Bach also zum ersten Mal in Berührung mit Politik und bilden zudem einen politischen Kontrapunkt zu ihrem Vater. Anhand ihrer Faszination für die SPD und deren Spitzenkandidaten eröffnet sich die Möglichkeit der Distinktion von ihrem als „wahnsinnig konservativ“ gekennzeichneten Vater, dessen Erzürnen sie „klasse“ findet. Die junge Sandra Bach hat hier also nicht (vorrangig) die politischen Inhalte der verschiedenen Lager im Blick. Dies bestätigt sich, wenn sie sich – als die bloße politische Sympathiebekundung mit der SPD nach einer Weile nicht mehr die nicht mehr die gewünschte Wirkung erzielt –, einer Organisation anschließt, mit der sie sich des Vaters Empörung gewiss zu sein schien; so jedenfalls präsentiert Frau Bach ihren Eintritt in die „Jugendorganisation der DKP“. Der soziale Anschluss, den sie nun herstellt, ist kein jugendkulturell-unbestimmter mehr, sondern ein politisch institutionalisierter: die Jugendorganisation einer politischen Partei. Dies unterscheidet ihre Praxis deutlich von jener der anderen Jugendlichen, deren neue kollektive Anschlüsse zunächst jugendkulturell geprägt waren und eine politische Dimension in diesen kulturellen Praxisformen lediglich ‚mitschwang‘. Doch überwiegt auch bei Frau Bach das adoleszenzspezifische Distinktionsbestreben, dokumentiert sich als vorrangiges Movens ihres Eintritts in die politische Organisation doch eine Negation der tradierten Orientierungen ihres Vaters.27 Ihre Offenheit für diesen explizit politischen Anschluss erscheint damit in gewisser Weise ebenso unbestimmt wie die Offenheit anderer

27Von

ihrer Mutter distanziert sich Frau Bach hier nicht, bezieht sich aber auch in keiner anderen Weise auf sie. Ihre Mutter findet im gesamten Interview lediglich einmal als „Hausfrau“ (Z. 388) und einmal in Bezug auf ihren Geburtsort Erwähnung.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

299

I­nterviewpartner*innen für stärker jugendkulturelle Anschlüsse und Praktiken. Eine nähere Bestimmung erhalten diese Formen der Offenheit – bei Frau Bach wie bei allen anderen auch – nur durch die Negation, aus der heraus sie entstehen, nicht aber dahin gehend, worauf sie sich im Speziellen richten. So erscheint auch Frau Bachs politischer Anschluss nicht zielgerichtet bzw. sein vorrangiges Ziel in der performativen Negation des Tradierten zu bestehen. Ähnlich wie sich dies bei Frau Bach dokumentierte, zeigt auch der Fall von Frau Stier, dass die Unterschiede zwischen denen, die der Impuls der Negation zunächst in jugendkulturelle Praxen führt, und jenen, die von Anfang an politische Ausdrucksformen und Strukturen nutzen, nicht notwendigerweise allzu groß sein müssen. In gewisser Weise stellt Frau Stiers Bildungsbeginn diesbezüglich eine Zwischenform dar: Zwar findet auch sie bereits als Jugendliche Anschluss an die Jugendorganisation einer politischen Partei, doch ist dessen Anbahnung bei ihr deutlicher in einem kollektiven, jugendkulturellen Kontext verortet als bei Frau Bach. Schon in den allerersten Zeilen des Interviews erwähnt Christine Stier ihre Distinktionsbemühungen im Jugendalter; negiert wird hier die ländliche Umgebung. Schon früh sei ihr Wunsch entstanden, „da weg“ zu gehen (Z. 2–9): „gut dann fangen wir mal mit den biographischen Ursprüngen an; ich bin vom Dorf; ich bin 1954 geborn, in m kleinen Dorf, (.) und mir war ziemlich früh klar so mit der Pubertät, dass ich da weg will @(.)@ //@(.)@// naja und dann wenn se des mal nachrechnen das war dann fünfund- also Ende der 60er Jahre (1) bin ich natürlich irgendwie: in die ((seufzt)) weiß gar nich wie ich des nennen soll (1) sach ich mal in die (.) politische Stimmung dieser Zeit geraten, der End-68er Anfang-70er, und äh (.) das hat mich natürlich sehr geprägt. also dieses (Thema) is alles anders, und alles is neu und spannend und es war sowieso überall spannender als in meinem Dorf, // hmhm//“.

Nicht nur stellen ihre räumlichen bzw. milieubezogenen Distinktionsbestrebungen das erste Thema dar, mit dem Frau Stier ihre autobiografische Erzählung beginnt, sie stellt dieses zudem sogleich in den Kontext der Studierendenproteste „der End-68er Anfang-70er“, in die sie als Jugendliche ungeplant und nicht zielgerichtet hinein-„geraten“ sei. Insbesondere die ‚Andersheit‘ dieses Bewegungsmilieus spricht sie an. Ihr Wunsch nach Distinktion vom Herkunftsmilieu findet seinen Ausdruck in ihrer Affizierung durch die „politische Stimmung dieser Zeit“ – letztere wird von Frau Stier als etwas präsentiert, dem

300

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

man sich schwerlich entziehen habe können und das sie „natürlich sehr geprägt“ habe.28 Durch den Schulbesuch „in der Stadt“ findet Christine Stiers Offenheit für den Anschluss an die Bewegung schließlich handlungspraktische Anknüpfungspunkte (Z. 9–19): „(.) und ich weiß noch ich bin zur Realschule, (.) und wir fanden ganz toll, (.) also überall s- demonstrierten die Schüler und die Studenten, (.) als da in der Stadt in der ich zur Schule gegangen bin gabs keine Studenten aber Schüler, und n Hessenkolleg, und das war (.) also hing auch viel mit Jungs zusammen und das warn natürlich (ganz toll) (.) ganz tolle Kerle @(.)@ also das (.) @fiel@ mir eben nur grad ein. ja. (.) also auf jeden Fall denk ich n äh Motiv war mit Sicherheit so weg. (.) weg aus diesem aus diesem Dorf, und auch (.) n bisschen auch aus dieser vorbestimmtem Laufbahn, (.) ich weiß nicht ob sie so vorbestimmt gewesen wäre aber (.) ja jedenfalls wollt ich da weg, dann bin ich sehr früh in die SPD eingetreten, ich weiß nicht ob ich 15 oder 16 war, (.) und äh war dann ne ganz aktive Jungsozialistin, (.) ja,“

Frau Stier und ihre Mitschüler*innen sind von der schieren Anzahl der vielen Proteste begeistert. Es lässt sich aus Frau Stiers Reflexion über ein weiteres „Motiv“ [respektive für ihre Beteiligung an den Protesten] implizit herauslesen, dass sie nicht nur Zuschauerin, sondern auch an den Protesten Beteiligte war.29 Gemeinsam mit einer nicht näher spezifizierten Peergroup („wir“) nimmt sie so an einer politischen Praxis im Kontext einer sozialen Protestbewegung teil. Für ihre Motivlage spielen die sich im Rahmen der Protestbewegung der Schüler*innen und Studierenden auftuenden sozialen Kontakte zu den „Jungs“ aus dem in der Nähe ansässigen „Hessenkolleg“ ebenso eine Rolle, wie auch die bereits genannte Orientierung, dem als eng wahrgenommenen ländlichen Milieu entfliehen zu wollen und ‚Anderes‘ kennenzulernen. Die sich hier anbahnende Dynamisierung ihres habituellen Gefüges im Kontext des Anschlusses an eine soziale Bewegung beginnt bei der jungen Frau Stier also, neben einem mit der

28Mit

ihrem Verweis auf die „politische Stimmung dieser Zeit“ deutet Frau Stier etwas an, das man als gesellschaftliche Kontingenz- und Gelegenheitsstruktur bzw. als erfahrungsbefördernden Zeitkontext betiteln könnte. Diese gesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen, welche auf der Ebene der Akteure und Akteurinnen sich wiederum als generationelle Unterschiede abzeichnen (können), in strukturierter Form herauszuarbeiten, soll nicht Gegenstand der im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehenden Phasentypik von Bildung sein. Wohl aber würde sich ein vertiefender Blick auf diese Zusammenhänge an anderer Stelle durchaus lohnen. 29Frau Stier bestätigte dies am 25.06.2010 zudem in einer Email.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

301

Negation institutionalisierter Ablaufmuster des Lebenslaufs – „dieser vorbestimmten Laufbahn“ – verknüpften Distinktionsbestreben auch im Rahmen weiterer adoleszenzspezifischer Aspekte. Christine Stiers anschließender Eintritt in die Jugendorganisation der „SPD“ präsentiert sich einerseits wie ein logischer Schluss aus dem zuvor genannten Wunsch, die dörfliche Umgebung und die tradierten biografischen Normerwartungen zu verlassen, andererseits jedoch auch etwas unvermittelt, weil zuvor keine Rede von einer politischen Partei war. Es dokumentiert sich hier im Modus Operandi der Erzählung, dass die Mitgliedschaft in der „SPD“ sich für Christine Stier als eine handlungspraktische Fortsetzung derselben Beweggründe präsentiert, mit denen sie sich auch an den Demonstrationen der Schüler*innen- und Studierendenbewegung beteiligte. Die Suche nach Distinktion und nach einer neuen Orientierung in der Negation des Tradierten der eigenen Herkunft bringt sie über die Schüler*innen- und Studierendenbewegung in eine politische Partei – die zu dieser Zeit jedoch in engem Zusammenhang mit einer sozialen Bewegung stand.30 Zusammenfassung Alle sieben Interviewten zeigen in ihrer frühen Jugend eine Offenheit für neue soziale Anschlüsse und Praktiken. Diese ist dahin gehend als unbestimmt zu bezeichnen, als sie sich lediglich über eine Negation – des im Elternhaus und Herkunftsmilieu Tradierten, gesellschaftlicher Normen und/oder der Normen von Milieus, in die sie in ihrer Kindheit und Jugend (z. B. durch Umzüge und Schulwechsel) ‚hineingeraten‘ – bestimmen lässt. Mit den neuen, kollektiven Anschlüssen verfolgen die jugendlichen Akteur*innen noch keine (klaren) und

30Thörmer und Einemann (2007, S. 12) machen den engen Zusammenhang zwischen der auf Gesellschaftsveränderung abzielenden Studierendenbewegung und den Jungsozialist(inn)en deutlich, wenn sie hervorheben, dass die „Juso-AG“ nach einem richtungsweisenden Bundeskongress im Jahr 1969 „nicht nur als Jugendverband der SPD, sondern gleichzeitig als innerparteiliche – sozialistische – Richtungsorganisation“ galt, womit „der Verband mit seinen gesellschaftsverändernden Zielvorstellungen für viele Jugendliche attraktiv geworden“ sei. „Traten in der Mitte der 1960er Jahre noch ca. 35.000 neue Mitglieder unter 35 Jahren – also im Juso-Alter – pro Jahr der SPD bei, so steigerten sich die Eintrittszahlen dieser Altersgruppe auf bis zu 100.000 im Jahre 1972.“ Frau Stiers Eintritt in die Jugendorganisation der SPD fand genau zur Hochzeit dieser Eintrittswelle statt. Auch hier zeigen sich also Hinweise auf eine gesellschaftliche Kontingenz- und Gelegenheitsstruktur.

302

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

schon gar nicht reflektierten Zielvorstellungen. So erstrecken sich die neu entdeckten kollektiven Praktiken dann auch von adoleszenter ‚Kontrakultur‘ – wie ich das Gros der kulturellen Praktiken hier spezifizieren möchte31 – bis hin zu expliziter, politisch-oppositioneller Positionierung in sozialen Protestbewegungen oder ihnen nahestehenden politischen Organisationen. Die ‚Politizität‘ respektive ‚Kulturalität‘ kann jedoch nur als grobe Unterscheidungslinie für die kollektive Praxis in dieser Phase gelten, mit der die Bildungsprozesse im Jugendalter im Kontext sozialer Protestbewegungen beginnen. In den empirischen Fällen präsentiert sich die Grenze zwischen einer Offenheit für jugendkulturelle Anschlüsse und einer Offenheit für politische Anschlüsse als fließend. Dies liegt vor allem daran, dass die Jugendlichen für sich selbst auch jene Praxen, die in einem politisierten Bewegungskontext stattfinden, nicht ohne Weiteres als politische Praxis begreifen – siehe beispielsweise die biografische Erzählung von Herrn Büchner. Auch bei jenen, die explizit politisches Vokabular nutzen – siehe Frau Kubitschek – oder sogar Mitglied in einer politischen Partei werden – siehe Frau Bach und Frau Stier – zeigt sich, dass adoleszenzspezifische Orientierungen die Offenheit für diese Anschlüsse maßgeblich (mit-)bestimmen. Jenseits der Frage, wie (politisch) zielgerichtet die am Beginn der Bildungsprozesse stehende Offenheit ist, wird in allen hier zurate gezogenen biografischen Erzählungen deutlich, dass mit der Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation zugleich auch eine Lockerung bzw.

31Mit

der Rede von ‚Kontrakultur‘, statt beispielsweise ‚Subkultur‘, möchte ich den Konflikt betonen, in dem sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ihrer Praxis zum gesellschaftlichen Mainstream positionieren, ohne dies bereits als politisch oppositionell zu kennzeichnen. Die weit verzweigte wissenschaftliche Diskussion um die Subkulturtheorie und den sich in diesem Zuge – teils als Gegenkonzept – entwickelten Begriff der Kontrakultur hier ausführlich darzulegen, würde den Rahmen meiner Arbeit sprengen, da die Subkulturtheorie (maßgeblich vom Symbolischen Interaktionismus der Chicagoer Schule geprägt) eine lange Tradition in der Soziologie und Anthropologie aufweist. Ich belasse es an dieser Stelle mit dem Verweis auf John Milton Yingers (1982) Prägung des Kontrakulturbegriffs als Gegenkonzept zu anderen, intragesellschaftlichen (Sub-)Kulturen, welche hingegen nicht im Konflikt zur Mehrheitsgesellschaft stehen. Während Yinger (ebd., S. 39) für Kultur im Allgemeinen ihre umfassende Eigenschaft als „all those historically created designs for living“ hervorhebt, ginge es bei Kontrakultur im Gegensatz dazu um „all those situationally created designs for living formed in contexts of high anomie and intrasocietal conflict“ (ebd., S. 39 f.). Subkultur(en) hingegegen sieht er als „primarily the product not of conflict with the larger society but of socialisation and interaction within a subsociety“ (ebd., S. 41). An diese Unterscheidung Yingers schließe ich hier an.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

303

­ ynamisierung32 des tradierten habituellen Gefüges zu konstatieren ist. Die D jugendlichen Akteur*innen zeigen sich offen für neue kollektive Anschlüsse oder Praxisformen, es deutet sich in dieser Offenheit aber auch schon eine Öffnung für neue Orientierungen an, die sie in der (noch fremden) Praxis antizipieren. Die Öffnung für neue Orientierungen kann als erstes Zeichen einer Lockerung bzw. Dynamisierung des Habitus gelten. Dies führt nicht notwendiger Weise zu seiner späteren Transformation des Habitus, kann jedoch als ihre Voraussetzung gelten, da sie sich in allen hier dargestellten adoleszenten Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen rekonstruieren ließ. Bereits in dieser ersten Phase des Bildungsprozesses deutet sich also fallübergreifend an, dass die Öffnung für neue Anschlüsse und Praktiken im Kontext einer Negation (von Anteilen des Tradierten) eine Dynamisierung des bisher ausgebildeten habituellen Gefüges (ent-) stehen lässt, oder – in umgekehrter Richtung –: Die Lockerung des habituellen Gefüges eine Offenheit für neue Anschlüsse und Erfahrungen mit sich bringt.33 Vor dem Hintergrund der Dynamisierung des tradierten habituellen Gefüges wird sich im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis die Ausbildung neuer biografischer Bedeutsamkeiten und Orientierungsqualitäten fortsetzen und an Fahrt aufnehmen, wie in der Darstellung der nächsten Phase des Bildungsprozesses zu sehen sein wird.

5.3.2 Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis Nachdem die unbestimmte Offenheit den Jugendlichen neue soziale Anschlüsse gebracht hat, machen sie in der nun folgenden Phase des Bildungsprozesses neue Erfahrungen im Kontext der sich hier – und in weiteren Anschlüssen – eröffnenden kollektiven Gruppenpraxis. Mit den neuen Handlungspraktiken nimmt die Dynamisierung des Habitus an Fahrt auf, sie lösen die alten Handlungsvollzüge fast vollständig ab und bekommen unmittelbar eine hohe Bedeutsamkeit und Orientierungsqualität. In den neuen Gruppenpraktiken machen die 32Diese

beiden Begriffe habe ich hier gleichgesetzt und möchte mit ihnen zum Ausdruck bringen, dass der tradierte Habitus in Bewegung gerät und so gewissermaßen in der – gelockerten oder eben dynamisierten – Struktur des Habitus ‚Freiräume‘ für neue Erfahrungen entstehen, ohne dass zu diesem Zeitpunkt schon klar ist, wie diese im Folgenden gefüllt werden und wie genau der Prozess sich entwickeln wird. 33Die Chronologie ist hier nicht zu klären.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Jugendlichen zahlreiche neue Erfahrungen, die den Prozess des Entstehens eines neuen Orientierungsrahmens bzw. eines transformierten Habitus befeuern. Diese Praktiken sind oftmals aktionistisch geprägt, d. h. sie gestalten sich größtenteils als unüberlegte, einer Planung oder Reflexion entbehrende kollektive Handlungen, die teilweise erst in der Situation selbst neu entstehen.34 Die empirische Spannbreite dieser ersten Erfahrungen in einer kollektiven Gruppenpraxis erstreckt sich von erkundenden Partizipationen an den Praktiken bereits bestehender Gruppen bis hin zu experimentellen Vergemeinschaftungen in jugendkultureller Praxis, in deren Zuge sich eine neue Gruppe und Gruppenpraxis überhaupt erst formiert. Zudem unterscheiden sich die Fälle in dieser Phase des Bildungsprozesses dahin gehend, ob die neuen, kollektiven Anschlüsse und ihre Handlungspraxis von den Jugendlichen bereits als politisch erachtet werden oder nicht.35 Die verschiedenen Ausgestaltungen dieser Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis sollen im Folgenden – noch einmal anhand aller sieben Fälle – aufgezeigt werden. Am Beginn des jugendlichen Bildungsprozesses von Anja Weber stand eine Selbstmarginalisierung, die sie nach außen anhand des Rauchens demonstrierte. Auf diese folgt alsbald das Kennenlernen neuer Peers an der Schule, mit denen sie ihre Distinktionsbestrebungen kollektivieren kann. Die neue, kollektive Praxis dieser Jugendlichen kennzeichnet Frau Weber rückblickend als den Beginn eines „anderen Weg[s]“. Sie gestaltet sich wie folgt (Z. 72–81): „die eine die war so ähm (1) son bisschen punkig angehaucht (.) und war glaube ich so von ihrer von ihrer Entwicklung schon bisschen weiter. also so bißchen, nen anderen Weg gehen und die ((räuspern)) und die hat mich dann glaub ich son bisschen mitgezogen. das war ganz witzig. wir ham dann (.) angefangen zu kiffen, und (2) (°muss i mal°) aufpassen da warn wir ja noch jung da war ja der Radius auch noch nicht so groß. wir sind immer mit nem Mofa rumgefahren @auf jeden Fall@ und ähm ((seufzt)) (2) es fing dann glaube ich zu der, Zeit, so an (.) dass man (.) Spießer blöd fand und so ne. ich glaub das fing dann irgendwie so an.“ 34Solche

„Aktionismen“ haben mit dem habituellen Handeln zwar die „Vorreflexivität und kollektive Einbindung“ (Gaffer und Liell 2013, S. 210) der Praxis gemein, unterscheiden sich aber deutlich hinsichtlich ihrer „Zeitlichkeit“ (ebd.): Während das habituelle Handeln als „kontinuierlich, dauerhaft, beständig“ (ebd.) gelten kann, zeichnen sich Aktionismen dadurch aus, dass sie „situationsorientiert, diskontinuierlich, eigendynamisch“ (ebd.) strukturiert sind. Zum Begriff des ‚Aktionismus‘, wie er im Kontext einer Studie mit der Dokumentarischen Methode entwickelt wurde, vgl. Bohnsack et al. (1995); zur weiteren theoretischen Fundierung siehe Bohnsack und Nohl (2001) und Nohl (2006). 35Zur Übersicht über die sich zwischen diesen beiden Polen ergebende Spannbreite der Ausgestaltung dieser Bildungsphase siehe Abb. 5.1.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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Abb. 5.1   Die Entstehung neuer Orientierungen und biografischer Bedeutsamkeiten zwischen bestehenden und sich neuformierenden kollektiven Zusammenschlüssen resp. Anschlüssen und dem Grad der politischen resp. kulturellen Verortung. (© Sarah Thomsen)

Frau Weber führt dies weiter aus (Z. 91–95): „(ah was haben wir denn da gemacht so) ich überleg grad, weil wir dann. (3) wir ham eigentlich eigentlich zu der Zeit, ziemlich viel (1) gekifft, gesoffen //@(.)@// (1) und in irgendwelchen komischen Zimmern rumgehockt. beziehungsweise im Sommer auf em Feld oder draußen und im Winter in irgendwelchen Diskos oder so (.) ziemlich viel mit Drogen experimentiert.“

Eine der neuen Peers wird von Frau Weber als „schon […] weiter“ im Prozess der Distinktion wahrgenommen. Dieser anfängliche Moment der Affizierung durch ‚das Neue‘, an dem noch nicht von einem geteilten Erfahrungsraum der Jugendlichen gesprochen werden kann, sondern Anja Weber von jemandem „mitgezogen“ wird, ist von kurzer Dauer. Schon ab dem nächsten Satz berichtet sie ausschließlich von einem kollektiven Akteur („wir ham dann (.) angefangen zu kiffen“, „wir sind immer mit nem Mofa rumgefahren“, usw.). Die neue Handlungspraxis scheint Frau Webers alte Handlungsvollzüge unmittelbar abzulösen. Sie konstituiert sich rund um Praktiken, mit denen der Negation der Norm und des Tradierten Ausdruck verliehen werden kann.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Die Jugendlichen distinguieren sich stilistisch – über das „punkig[e]“ Äußere –, handlungspraktisch – über den Drogenkonsum und den ausgedehnten gemeinsamen Zeitvertreib – und verbal – über eine sich der eigenen Positionierung versichernde Wiederholung der kollektiven Orientierung, dass „man (.) Spießer blöd fand“ und selbst „nen anderen Weg“ ginge. Über Praktiken der kollektiven Selbstversicherung bzw. der gegenseitigen, die Jugendlichen verbindenden (Selbst-)Bestätigung, formiert sich hier eine jugendkulturelle Gruppenpraxis, die Vergemeinschaftung nach innen über das gemeinsame Feiern und nach außen über Abgrenzung erreicht. Aufgrund ihrer Verortung in der Negation der Norm kann diese Praxis als kontrakulturell spezifiziert werden. Die kollektive Praxis der Jugendlichen weist Parallelen zu den biografischen Kindheitserfahrungen des von Anja Weber sehr geschätzten, freien und von Erwachsenen unbeaufsichtigten Spiels mit der „Riesengang“ (Z. 38) von Kindern auf; nur dass das ‚Spiel‘ nun jugend- bzw. kontrakulturelle Züge trägt. Die sich bereits in der ersten Phase des Bildungsprozess dokumentierende Lockerung und Dynamisierung des Habitus kommt nun in Schwung. Die Jugendlichen setzen dem bekannten und – wie sie es wahrnehmen – an der Norm orientierten Leben eine kollektive Handlungspraxis entgegen, die die alten Handlungsvollzüge nahtlos ab löst und in der nun neue Orientierungsqualitäten entstehen. Statt der Erfüllung schulischer Erwartungen oder der Erwartungen der „Spießer“ – die ich hier als diejenigen deute, die sich weitgehend an gesellschaftliche Normen halten – zu entsprechen, wird dem Feiern von Partys, dem ‚experimentellen‘ Umgang mit Drogen und einem – zweckfreien – gemeinsamen Zeitvertreib („in komischen Zimmern rumgehockt“) oberste Priorität eingeräumt. Es dokumentiert sich hier, wie die neue Orientierung, die sich als Ablehnung der tradierten und institutionalisierten Muster des Lebenslaufs beschreiben lässt, unmittelbar eine große Bedeutsamkeit erhalten hat. Dass dieser neuen Orientierung auch eine weitergehende, biografische Bedeutsamkeit zukommt – auch wenn sie sich an dieser Stelle des Prozesses noch weitgehend auf die zeitliche und örtliche Unmittelbarkeit der jugendkulturellen Handlungen zu beschränken scheint – wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die mit ihr verknüpfte Handlungspraxis über einige Jahre hinweg fortbestehen wird, wie anhand der Darstellung der weiteren Phasen von Frau Webers jugendlichem Bildungsprozesses noch zu sehen sein wird. Auch im Falle Peter Waldorfers sind die ersten Erfahrungen im Kontext einer kollektiven Praxis (jugend-)kulturell geprägt und auch in seinem Fall entbehren diese weiterhin (noch) größtenteils politischer Rahmungen, wenngleich dem Kulturellen bereits ein Hauch des ‚Dagegen‘ anhaftet. In „Mainz“, dem Ort seiner Stationierung bei der Bundeswehr, findet der knapp 20-Jährige Kontakte zu Studierenden der örtlichen „Kunsthochschule“ (Z. 98–102):

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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„dadurch dass ich äh am Bodensee schon in ner Dixieland den Kontrabass (.) äh gespielt habe, konnt ich dann in Mainz in Jazzbands einsteigen und hatte dann den Kontakt zu Studenten dort. //hmhm// (dort) war die Kunsthochschule, Franz (Belinger) (.) und so weiter, und da wurden dann die Godard Filme gezeigt damals“.

Auch zu diesen ersten Partizipationen sind Herr Waldorfers Schilderungen wieder recht knapp. Ob Peter Waldorfer im Studierendenmilieu vorrangig auf eine bestehende kollektive Praxis trifft, an der er erkundend partizipiert und in die er sich sukzessive einfindet, oder aber sich ein konjunktiver Erfahrungsraum in der kollektiven Praxis der Band(s) überhaupt erst ausformt, ist nicht zu ergründen – vermutlich liegt es irgendwo dazwischen. In jedem Falle steht für ihn zunächst der kulturelle Aspekt des Anschlusses an dieses Milieu im Vordergrund, etwaige politische Themen scheinen anhand der Erwähnung der Filme eines für seine radikale Gesellschaftskritik bekannten Regisseurs nur schwach auf. In ihnen deutet sich – vorsichtig gesprochen – zumindest auch eine politische Komponente des neuen sozialen Anschlusses an,36 jedoch bleibt diese hier sehr vage und die kulturelle Praxis steht deutlich im Vordergrund. Trotz der Kürze seiner Einlassungen dokumentiert sich ein neuer Erfahrungsraum, der sich im Kontext der Studierenden der Kunsthochschule für Peter Waldorfer eröffnet und den er als Gegenhorizont zur „stupiden Kaserne“ präsentiert (Z. 102–108): „und das war also (mehr) (.) äh tagsüber in dieser stupiden Kaserne, wo ich dann so ne Art Gewerbeschullehrer war, und (.) den Leuten beibringen musste wie man Motoren repariert, (.) so Panzer und alle Motoren und Lastwagenmotoren, und abends war dann eben (.) mit 24-stündigem Ausgang (.) (gibt) so ne rote Karte dass man rein und raus darf wann man will wenn man da Vorgesetzter ist. so dass ich da quasi als Stabsunteroffizier dann so meine freie Bahn hatte ne? auf diese Art dann äh mit den Mainzer Studenten da mein Leben leben konnte“.

Der junge Herr Waldorfer führt eine Art Doppelleben zwischen seinem Dienst bei der Bundeswehr und dem studentischen Milieu. Es dokumentiert sich hier eine Trennung zwischen dem Ausführen einer Rolle im Rahmen seiner Verpflichtungen bei der Bundeswehr auf der einen Seite, bei der er den Eindruck hat, nichts zu lernen, und der Idee eines ‚authentischen Selbst‘ im anregenden

36Zwar

geht Herr Waldorfer darauf nicht selbst ein, doch kann, insbesondere für einen jungen Soldaten, durchaus ein politisches Moment der „Godard-Filme“ angenommen werden. So kann beispielsweise der Godard-Film „Der kleine Soldat“ ob der Brutalität, mit der er Kriegsszenen zeigt, meines Erachtens als Antikriegsfilm gelten kann.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

studentischen Milieu auf der anderen Seite. Den sich hier auftuenden, neuen Erfahrungsraum der musizierenden Studierenden macht er sich fast unmittelbar zu eigen. Dies dokumentiert sich daran, dass er die Praxis des studentischen Milieus fortan als ‚sein‘, (respektive eigentliches) „Leben“ begreift, wohingegen er in der Kaserne bestimmte Aufgaben übernehmen „musste“, diese ihm aber keine Orientierungsqualität boten, sondern als „stupide“ abgelehnt werden. Gerade vor dem Hintergrund dessen, dass er aufgrund seines Vaters eine Lehre absolvieren musste und nicht weiter am schulischen Lernen teilhaben durfte, bekommt das anregende Milieu der Studierenden nun den Stellenwert ‚seines Lebens‘ zugeschrieben, d. h. des Lebens, mit dem er sich identisch fühlt. Auch kann in der Formulierung „mein Leben“ der Verweis auf ein Gefühl von Selbstbestimmung, wie er es in der als autoritär-fremdbestimmt empfundenen Kindheit vermisste (vgl. Abschn. 5.2), vermutet werden.37 Diese neuen Erfahrungen bekommen für Peter Waldorfer unmittelbar eine hohe Bedeutsamkeit. Die mit einer Offenheit für neue Anschlüsse begonnene Dynamisierung seines Habitus nimmt vor dem Hintergrund der neuen Erfahrungen in der kollektiven Praxis der Studierenden nun an Fahrt auf und es kristallisiert sich eine hohe Orientierungsqualität der neu empfundenen ‚Selbstbestimmung‘ heraus – eine neue biografische Bedeutsamkeit, die auch für Herrn Waldorfers weiteren Bildungsprozess zentral bleiben wird. Dass dieser neue Erfahrungsraum eine neue Orientierungsqualität für Peter Waldorfer bereithält, dokumentiert sich u. a. auch darin, dass der Kontakt zum Studierendenmilieu ihn dazu bewegt, die eigene schulische und berufliche Laufbahn neu zu überdenken (Z. 108–113): „und äh (.) genau da entschloss ich mich dann, das kann doch nicht alles gewesen sein die Mittlere Reife nochmal nachzuholen, und hab das dann auch innerhalb von drei Monaten geschafft, als äh (.) Externer in so ner normalen Mittelschule oder Realschule, und äh dann bin ich erst mal drei Monate mit nem Kumpel nach Ägypten getrampt, (.) so einmal ums nahöstliche Mittelmeer herum, um mir zu überlegen ob ich dann das Abitur mache oder nich“.

Er holt die „Mittlere Reife“ binnen kürzester Zeit als „Externer“ nach und nimmt sich im Anschluss eine Auszeit, um darüber nachzudenken, ob er nun auch noch

37Wie

ich in den Ausführungen zu den biografischen Erfahrungshintergründen der Bildungsprozesse ich bereits angedeutet hatte, macht Herr Waldorfer in Bezug auf den thematischen Erfahrungskomplex ‚Selbst- vs. Fremdbestimmung‘ an dieser Stelle des Bildungsprozesses nun eine positive Erfahrung von Selbstbestimmung, die andere Interviewpartner/innen bereits in ihren Kindheitserfahrungen aufweisen (vgl. Abschn. 5.2).

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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„das Abitur“ absolvieren will. Dieser Entscheidung wohnt vor dem Erfahrungshintergrund der unfreiwilligen Einspurung auf eine Laufbahn als Mechaniker durch seinen Vater eine besondere biografische Bedeutsamkeit inne.38 Herr Waldorfer führt das ‚alte‘ Leben als Bundeswehrsoldat im Anschluss noch eine Weile fort, doch hat dies für ihn keine Orientierungsrelevanz mehr. Es bahnt sich hier ein neues habituelles Gefüge an, das – zunächst einmal ganz allgemein gesprochen – sich als Entwicklung biografischer Orientierungen charakterisieren lässt, die sich maßgeblich von jenen, tradierten des Elternhauses unterscheiden. Der Prozess bezieht sich an dieser Stelle noch stark auf Peter Waldorfers individuelle Entwicklung, beschränkt sich jedoch keinesfalls auf diese, wie an späterer Stelle noch zu zeigen sein wird. Während aus Herrn Waldorfers Erzählung nicht deutlich zu rekonstruieren ist, wie und ob sein studentischer Musiker*innen-Zusammenhang bereits politisiert ist, kann dies über die „Blueser“-Bewegung Ost-Berlins – zumindest, was ihre Außenwirkung und öffentliche Wahrnehmung angeht – hingegen durchaus behauptet werden.39 Dies bedeutet jedoch nicht, dass für Thomas Büchner politische Rahmungen dieses Milieus im Vordergrund standen. Von der Praxis der „Blueser“, die er durch seinen neuen Freund Oleg kennenlernt, erzählt Herr Büchner Folgendes (Z. 145–155): „wir sind da in viel auf irgendwelchen Diskos aufs Dorf gefahren, oder äh durch die ganze DDR gefahren, das muss man sich so vorstellen, das war wirklich, du konntest in jedes Kaff hinfahren, und du hast Leute gekannt; also, und alle, es war son, son Zusammengehörigkeitsgefühl, was, was wirklich schon ziemlich klasse (fan-) war, so ne? man hat d- gleichen Interessen gehabt, man hat Musik gehört, war so ein bisschen opportunistisch, hat viel getrunken natürlich, der Umgang was Sex anbetraf das war alles ziemlich locker, also unglaublich locker f- aus der heutigen Sicht finde ich, und (.) äh da wurde ich dann eben halt auch als der jung- der

38Zwar

finden sich in Herrn Waldorfers Ausführungen zu diesen ersten Erfahrungen im studentischen Milieu und den daraus erwachsenden Themen keine Aussagen, in denen sich eine soziale Bestätigung der neuen Orientierung dokumentieren. Wohl aber kann davon ausgegangen werden, dass der mehrmonatigen Auszeit, die er sich in Form der Reise nach „Ägypten“ gönnt, nicht zuletzt auch ein Moment der Suspendierung von –negative – sozialen Rückmeldungen (z. B. seitens seines dominanten Vaters) anhaftete und ihm den Freiraum gab, sich jenseits der Bewertungen der sozialen Umwelt „zu überlegen“, wie es weitergehen soll. 39So konstatiert z. B. Rauhut (2008, S. 6), dass der gemeinsame Nenner der ‚Blueser- und Kundenszene‘ in den Idealen „der Hippieära ‚Freiheit‘, ‚Authentizität‘ und ‚Nonkonformismus‘“ bestanden habe und der Blues in der DDR „in weitreichende kulturelle und politische Bedeutungszusammenhänge gestellt“ (ebd.) worden sei.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

J­ üngere eingeführt, weil die mit denen ich dort zusammen war, die waren alle so im Schnitt teilweise um fünf bis zehn Jahre älter; haben mich da(nn eben halt) wirklich unter die Fittiche genommen, und es gab schon diverse Situationen, wo ich natürlich äh @(.)@ ich muss ja immer darüber na- lachen, wenn ich daran nachdenke, ob ich das @bewusst eingesetzt habe; ich hab natürlich auch gewusst, dass sie für mich da sind, na, //mhm// das waren wirklich große, teilweise waren es wirklich richtige Bauern ne, so, vom Land, Trecker fahren, der eine weiß ich, der hatte Hände, die waren so groß wie ein Unterteller //@(.)@//, der hieß komischerweise auch Tanja, //@(.)@// ich weiß nicht warum, die waren wirklich da, wenn es Ärger mit den Dorf-Deppen gab, komischerweise gabs bei mir immer Ärger wegen Frauen, ich weiß gar nicht warum, ich wollte ja nur manchmal @tanzen mit ihnen, und denn war das wirklich so, s- die haben sich denn da aufgebaut, und ich war denn wirklich über diesen Ausbruch von der Gewalt einfach ver- so schockiert“.

Es eröffnet sich für Herrn Büchner in diesem Milieu ein neuer sozialer Anschluss, durch den er – im Gegensatz zu seiner anfänglichen Befürchtung, aufgrund des Umzugs nach Ost-Berlin keine Freunde mehr zu finden – nun „in jede[m] Kaff […] Leute“ kennt. Die mit Oleg im Klassenverband begonnene, vergemeinschaftete Marginalisierung wird hier an die kollektive Selbstmarginalisierung eines (Bewegung-)Milieus angeschlossen. Gemeinsamkeit stellen sie über kollektives Herumreisen, Feiern, über hohen Alkoholkonsum, gemeinsames Musikhören, einen „locker[en]“ „Umgang was Sex anbetraf“ und einen nonkonformen Kleidungsstil her. Zur Gemeinschaftsbildung gehört zudem die Inszenierung von Gewaltexzessen, in deren Verlauf Thomas Büchner, der den Status des „Jüngere[n]“ erhält, jedoch von den anderen beschützt wird und nicht seine eigene körperliche Unversehrtheit riskieren muss. Die gewaltvollen Auseinandersetzungen enthalten ein Moment der kollektiven und konjunktiven Selbstvergewisserung, ein ‚Wir gegen die‘. So bestätigen sich die jungen Akteur*innen einerseits gegenseitig – in konjunktiv-affirmativer Art und Weise innerhalb des eigenen Milieus – und bekommen zugleich negative Außenreaktionen, die aber ebenfalls der Bestätigung der kollektiven Orientierung dienen – denn mit den „Dorf-Deppen“, die man kollektiv ablehnte, im Konflikt zu stehen, stärkt den Zusammenhalt. Trotz eines Moments der (reflexiven) Distanz zur gewalttätigen Seite, über die er „einfach […] so schockiert“ war, überwiegt beim jugendlichen Thomas Büchner das Einlassen auf diese aktionistisch orientierte Handlungspraxis. Während Thomas Büchners bei den Bluesern das schulische Milieu und Teile der restlichen Gesellschaft negieren kann, sind durchaus auch Anknüpfungspunkte an andere Teile seines biografischen Erfahrungshintergrunds zu entdecken, an die er in affirmativer Hinsicht anschließt. So lässt sich in der Praxis der Blueser z. B. der väterliche Nonkonformismus wiederentdecken, sowie,

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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ähnlich wie bei Frau Weber, das an der Kindheit geschätzte und im Interview hervorgehobene unbeaufsichtigte – d. h. von den Konventionen der Erwachsenen respektive der restlichen Gesellschaftsmitglieder losgelöste – kindliche Spiel. Zudem können Ähnlichkeiten zwischen der mütterlichen Fürsorge und – wenngleich in stark abgewandelter Ausgestaltung – der schlagkräftigen Protektion seitens eines Mannes, den sie „Tanja“ nennen, konstatiert werden. Es entwickelt sich bei Thomas Büchner im Kontext der Blueser eine neue Orientierung, die sich mit Begriffen wie ‚Freiheit‘ und ‚Selbstbestimmung‘ umschreiben lässt. Zwar schließt diese, wie soeben ausgeführt, an Teile des Tradierten (insbesondere den Nonkonformismus das Vaters) an, zugleich stellt sie aber etwas Eigenständiges und Neues dar, nicht nur, weil sie mit einer grundlegend anderen Handlungspraxis verbunden ist, sondern vor allem, weil sie diejenigen biografischen Erfahrungshintergründe, an die sie anknüpft, radikalisiert. Die neue Orientierung erhält im Rahmen der neuen, kollektiven Handlungspraxis eine hohe biografische Bedeutsamkeit und Orientierungsqualität, ohne dass mit ihr schon eine eindeutige politisch oppositionelle Positionierung einherginge. Zwar brechen die neue Handlungspraxis und der Stil dieses Milieus mit den Konventionen und tragen durchaus kontrakulturelle bis hin zu politisch oppositionelle Züge, doch politisiert Thomas Büchner die Praxis der Blueser selbst nicht. Und auch politische Rahmungen durch andere tangieren ihn (noch) nicht. Dies dokumentiert sich beispielsweise, wenn er an anderer Stelle des Interviews angibt, politische Symbole wie das „Anarchozeichen“ (Z. 193) in dieser Zeit eher als Bilder, die er „gelebt“ (Z. 195) habe, denn im Hinblick auf ihre politische Bedeutung wahrgenommen zu haben. Es dokumentiert sich bei Herrn Büchner im Rahmen der Praxis einer sich im größeren Kontext eines Bewegungsmilieus befindlichen Gruppe also die Ausbildung neuer biografischer Bedeutsamkeiten, die sich zu diesem Zeitpunkt des Bildungsprozesses noch vorrangig in den eigenen, konkreten Handlungsvollzügen äußern und nicht so sehr politisiert werden. Im weiteren Verlauf des Bildungsprozesses werden diese neuen Orientierungen einen umfassenderen und politisierten Charakter bekommen und letztlich zu einer Transformation seines Habitus führen. Während bei Frau Weber zu sehen war, wie sich im Kreise ihrer Peers eine neue jugendkulturelle Praxis überhaupt erst formiert, findet bei Herrn Büchner – so wie dies auch bei Herrn Waldorfer der Fall war – ein neuer sozialer Anschluss an ein bereits bestehendes (Bewegungs-)Milieu statt. Doch steht auch für Thomas Büchner und Peter Waldorfer die kollektive Gruppenpraxis – von überschaubarer Größe – im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, während das größere Bewegungsmilieu einen von ihnen nur am Rande zur Kenntnis genommenen Rahmen der Handlungspraxis bildet. Trotz des Aufscheinens des Kontexts einer

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

(in unterschiedlichem Maße politisierten) Bewegung bei beiden letztgenannten, überwiegt in allen drei Fällen die kulturelle Ausrichtung der Handlungspraxis deutlich gegenüber etwaigen politischen Rahmungen. Bei der jungen Tanja Richter steht zwar auch eine kulturell-ästhetische Praxis im Zentrum ihres neuen sozialen Anschlusses, doch ist diese in die politisierte Praxis einer Gruppe von Hausbesetzer*innen eingelassen, in der politische Geltungsansprüche deutlicher werden als bei der nonkonformistischen Praxis der ‚Blueser‘-Bewegung. Frau Richter berichtet, wie sie und ihre Internatsmitschüler*innen dem Angebot der hausbesetzenden Kunststudierenden nachkommen und sich nicht nur ansehen, was diese tun, sondern sogleich an deren Praxis partizipieren (Z. 130–149): „Und ähm ja. des war dann quasi, sozusagen die Eintrittskarte in die ganz:e ähm autonome organisierte künstlerische politische Welt, die da irgendwie auch war // mhm// plötzlich. Und naja, desdes war dann ziemlich wichtig, also da hab ich dann (3) ((lautes Ausatmen)) jaaa. was ham wir da lauter Sachen gemacht, also irgendwie angefangen von ähhm (.) von kleinen Aktionen auf der Straße zu, dass die Auguststraße halt weiter ne Einbahnstraße blieb und nich ne Doppelt-Durchgangsstraße und dann ham wir irgendwie protestiert mit ner Ente @und@ nem Klavier, was fressen kann @(.)@ und wir wollen (k)eine Einbahnstraße@ und irgendwie mit denen da halt Straßentheater gemacht und ähm, dann gabs noch so ne Aktion von von von Kunst äh hinter den Museen, wo so verschiedene Leute so Skulpturen einfach in inner Stadt verteilt hatten? an irgendwelchen normalen Orten //mhm// also so en zum Beispiel so en Stier, der stand dann an der Spree und hat dann den, en Fernseher zertrümmert@ oder irgendwie wir ham dann irgendwie mit irgendwelchen Müllsachen an Werbeplakate getackert, weil wir dachten ja die Werbung finden wir sowieso @doof@ und keine Ahnung und hhm und das warn dann s:o nochma ne andere Umgang mit öffentlichem Raum halt auch z:u (.) zu erfahren und zu merken Oh man kann da man kann da ja auch eigentlich was machen. Also des is eigentlich auch en (.) en Ausdrucksfeld und von sagen, was einem wichtig is oder was einem // mhm// h:::m was man fin ((stockend)) also so (.) was die eigenen Bedürfnisse Interessen sind oder so. Ja unn dann ham wir, joa, noch viele andre Sachen gemacht, wie Theater, ode:r viel Fotogeschichten, ode:r ham Film=Filme gedreht halt und (2) ja und des war so en bisschen so ganz viel selber machen und ausprobieren und neugierig an Sachen rangehen“.

Die jugendliche Frau Richter bekommt hier Zugang zu einer bereits bestehenden kollektiven Praxis im Kontext einer sozialen Bewegung. Bei den politischen Aktionskünstler*innen aus einem besetzten Haus stößt sie auf eine ihr neue, „autonom organisierte künstlerische politische Welt“. Die Metapher der „Eintrittskarte“ verdeutlicht ihre Wahrnehmung, in einen exklusiven Raum eingetreten zu sein, der sich von bisher Bekanntem unterscheidet. Eine – gegebenenfalls

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anfänglich ‚nur‘ erkundende – Partizipation an der hier vorgefundenen Handlungspraxis geht zügig in einen Anschluss an die Gruppe und ihre Praxis über: So berichtet sie von den Aktionen der Gruppe sogleich im Plural, ebenso wie sie inhaltliche Positionierungen im Plural formuliert: „wir dachten ja die Werbung finden wir sowieso @doof@“ (Kursivsetzung S.T.). Diese neue kollektive Handlungspraxis macht sich Tanja Richter zu eigen und sie bekommt unmittelbar den Stellenwert einer neuen biografischen Orientierungsqualität. Diese besteht vor allem in der Erfahrung dessen, dass es möglich ist, den Sozialraum mit künstlerischen Mitteln zu politisieren und dabei eigene gesellschaftliche Gestaltungsansprüche zu entwickeln und diesen auch Ausdruck zu verleihen. Sie selbst fasst diese Erkenntnis mit den Worten: „Oh […] man kann da [im öffentlichen Raum; S.T.] ja auch eigentlich was machen“. Es zeichnet sich hier im Kontext der Praxis einer politisierten Gruppe die Entstehung neuer Orientierungen ab. Die (alterstypische) Abwesenheit von gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen wird nun von einer neuen Perspektive auf Gesellschaft, den öffentlichen Raum und ihre eigene Rolle darin abgelöst. Frau Richter kann in der kollektiven Gruppenpraxis einerseits an ihre biografischen Ressourcen anknüpfen – so findet ihre habitualisierte Offenheit hier einen Anwendungsbereich –, zudem verändert sich das schon in ihrer Kindheit relevante Verhältnis zum öffentlichen Raum. Dieser wird im Vergleich zu vorher nun erfahren als ein Ort, in den sie eigene Gestaltungsansprüche einbringen und in den sie hineinwirken kann, und steht somit im Kontrast zum als begrenzt erfahrenen Raum in der DDR. Die Dynamisierung ihres Habitus schreitet im Zuge der neuen, kollektiven Praxis mit großen Schritten voran, es zeigen sich hier bereits deutliche Ansätze des späteren, transformierten Habitus, für den die (kreative Mit-)Gestaltung von öffentlichen Räumen zentral sein wird. Der neuen, in der politisierten Gruppenpraxis im Kontext einer sozialen Bewegung entstandenen Orientierung wohnt auch bereits eine politische Dimension inne, kann das kollektive Bemühen um Einflussnahme auf öffentliche Entscheidungen doch als eine Orientierung zum ‚Politischen‘ begriffen werden. Noch deutlicher als Frau Richter entwickelt Frau Kubitschek im Kontext ihrer ersten Partizipationen an kollektiven Praktiken sozialer Protestbewegungen eine Orientierung, die politische Züge trägt. Der Entstehung ihrer schulischen Peergroup folgt alsbald die Partizipation an Demonstrationen der Friedensbewegung (Z. 54–58): „also wir warn dann halt sone Hippie, Punkclique, die dann also du hattest so klare Gegner. @(.)@ //@(.)@// und dann ne gab dann so diese ersten äh Friedens äh äh Demos und diese ganzen Geschichten. und dann wars so sehr leicht da einzusteigen. //mhm// und ich glaube auch äh (2) sehr offen.“

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Von der Peergroup am Gymnasium, die sich in der Negation der „Gegner“ zusammenfindet, scheint es nur ein kleiner Schritt bis zur Teilnahme an den Ausdrucksformen einer sozialen Bewegung – in Frau Kubitscheks Erzählung sind diese beiden Handlungsstränge schlicht durch ein „und dann“ verbunden. Es deutet sich an, dass die bisherigen Orientierungen der Peergroup in der Friedensbewegung problemlos aufgehen können. So kennzeichnet sie den Einstieg in die Friedensbewegung zumindest als „sehr leicht“. Er präsentiert sich in gewisser Weise als logische Folge der Formierung der kontrakulturellen Peergroup. Frau Kubitschek erinnert den Zugang zur Bewegung zudem als durchlässig, als „sehr offen“. An einer anderen Stelle des Interviews fasst sie noch einmal zusammen, wie die kollektiven Partizipationen ihrer Peergroup an den Aktivitäten sozialer Bewegungen ‚losgingen‘; diesmal bezieht sie sich auf die Anti-Atomkraft-Bewegung (Z. 43–50): „und dann ähm (.) das war ja dann auch alles Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger war das ja dann ungefähr, als ich dann auch so sehr @pubertär wurde,@ und das war gerade ähm na diese ganzen Cruise-Missiles-Geschichten und ähm (2) und äh (.) dann ging es bei uns los. Wackersdorf sagt dir ja wahrscheinlich auch was mit der Wiederaufbereitungsanlage, die wurde dann damals schon geplant, (.) und das war sone Zeit wo wo wir (2) eigentlich so gar kein gar kein es war so gar keine Frage dass man da dann irgendwie einsteigt.“

Der ‚Einstieg‘ ins Engagement ist kollektiv gerahmt: „[D]ann ging es bei uns los“. Der neuen Handlungspraxis des Demonstrierens geht, so stellt es sich hier dar, keine Reflexion voraus; es bestand „keine Frage, dass man da […] einsteigt“. Die Opposition, die die Peergroup ‚im Kleinen‘ an der Schule praktizierte, findet hier ‚im Großen‘ Anschluss an eine politische Bewegung. Die gemeinschaftsstiftende Negation der Peergroup kann im größeren konjunktiven Erfahrungsraum des ‚Dagegen-Seins‘ der Anti-Atomkraft-Bewegung nahtlos aufgehen – zumindest werden keine Probleme des Anschlusses berichtet und es ist zudem aus dem weiteren Verlauf des Interviews klar, dass die Peergroup das Engagement in diesem Kontext fortführte.40 Neben diesen Anschlüssen findet Bettina Kubitschek im Alter von „fünfzehn“ (Z. 72) zudem über einen Schülerinnenjob Zugang zur kollektiven Praxis eines feministischen „Cafékollektiv[s]“ (ebd.). Die jugendliche Frau Kubitschek und ihre gleichaltrige Freundin stellen in ihrer Rolle der Angestellten 40Auch

hier scheint eine Kontingenz der gesellschaftlichen Bedingungen auf: Der Einstieg in die Frieden- und Umweltbewegungen wurde in Frau Kubitscheks Jugend insofern erleichtert, als diese in den 1980er-Jahren eine Hochphase erreicht hatten.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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des ­Cafékollektivs, die zudem um vieles jünger als die anderen Frauen waren, keine vollwertigen Mitglieder der Gruppe dar. Dennoch bietet sich ihnen in diesem Rahmen die Möglichkeit, die politisierte Praxis der Frauen zu erkunden. So nimmt Bettina Kubitschek an verschiedensten Ausgestaltungen der feministischen Praxis dieser Frauen teil: Sie erlebt ihren „ersten achten März“ (Z. 87) – den internationalen Frauentag –, macht ihren „ersten Wendo-Kurs“ (Z. 86) – eine Selbstverteidigungssportart für Frauen –, verkehrt in einem „Frauenzentrum“ (Z. 701), lernt dort die Arbeit eines „Frauenverlag[s]“ (Z. 701) kennen und erlebt zudem ein lesbisches „Coming-out“ (Z. 699) einer der Frauen mit. Diesen „ersten wirklichen feministischen Kontakte[n]“ (Z. 80) schreibt Frau Kubitschek rückblickend eine „Vorbildfunktion“ (Z. 85) zu. Während am Anfang für Bettina Kubitschek noch alles neu war, ist davon auszugehen, dass im Laufe der „drei Jahre“ (Z. 74), die sie im Frauenkollektiv verbringt, dessen kollektive Praxis zur gemeinsam geteilten wird und in dieser politisierten Praxis der Frauenbewegung ein konjunktiver Erfahrungsraum entsteht, den Bettina Kubitschek teilt. Sie bewertet ihren Anschluss abschließend nicht nur als „ne total schöne Zeit“ (Z. 88), sondern misst den Erfahrungen auch die Bedeutung des Anfangs ihres ‚feministischen Engagements‘ bei. Auch bei Frau Kubitschek dokumentiert sich also, wie die mit einer unbestimmten Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse begonnene Dynamisierung ihres Habitus nun, im Kontext der Partizipation an der Praxis verschiedener sozialer Bewegungen, voranschreitet und neue biografische Bedeutsamkeiten entstehen. So wird die Selbstverortung im politischen Protest, so viel soll hier vorweggenommen werden, die nächsten 20 Jahre ihres Lebens maßgeblich prägen – und dies betrifft nicht nur die (eher reflexiv gelagerte) Ausbildung einer ‚Protestlerinnen-Identität‘, sondern auch maßgeblich die unreflektierten Anteile ihrer Handlungspraxis und Lebensvollzüge im Kontext des linksautonomen Milieus. Zudem wird das Engagement im feministischen Kontext im weiteren Verlauf ihrer Biografie nicht mehr wegzudenken sein, wie noch an späterer Stelle zu sehen sein wird.41 Ähnlich wie bei Frau Kubitschek finden auch Frau Stiers erste Partizipationen an einer kollektiven Praxis in einem politisierten Kontext statt. Im Unterschied zu den Anschlüssen Frau Kubitscheks handelt es sich bei Christine Stiers neuem Anschluss aber um eine politische Organisation, die Jugendorganisation der SPD, die zu dieser Zeit jedoch, wie bereits erwähnt, in engem Zusammenhang zu einer sozialen Bewegung stand.

41Vgl.

hierzu auch Frau Kubitscheks adulten Bildungsprozess, dargestellt in Kap. 6.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Nachdem die jugendliche Frau Stier und einige ihrer Peers von der Realschule an den Aktionen der Schüler*innen- und Studierendenbewegung partizipieren, folgt alsbald der Anschluss an die Jusos, von dem sie Folgendes berichtet (Z. 19–26) „und äh war dann ne ganz aktive Jungsozialistin, (.) ja, (.) () so mit ganz viel Enthusiasmus und wir ham wirklich gedacht woa jetzt (.) alles ändert sich, alles wird toll, (.) und im Dorf war ich natürlich die einzige Jungsozialistin aber das war ganz klasse wei:l ich musste dann immer, (.) so auf Kreis (Dierdorf) war das, @(.)@ dann zu den Treffen in die Stadt, (.) und da hab ich dann natürlich auch spannende Leute, für meine Verhältnisse damals spannende Leute kennengelernt, und da war hat man einfach ganz viel gemacht, (1) und es hat ganz viel Spaß gemacht. (.) ähm ja das warn so die (.) die Anfänge, (1)“.

Der Eintritt in die politische Organisation der Jungsozialisten bietet der jungen Frau Stier eine Gelegenheitsstruktur, dem Bedürfnis nach einer Distinktion von ihrem dörflichen Umfeld Ausdruck zu geben, sowohl räumlich – weil sie zu den Treffen in die Stadt fuhr –, als auch handlungspraktisch – als einziges Juso-Mitglied in ihrem Herkunftsort. Diese Sonderposition bewertet sie positiv („klasse“). Das dortige Engagement verschafft ihr neue soziale Kontakte, die sie – hinsichtlich der Andersartigkeit im Vergleich zu ihrem Herkunftsmilieu42 – als „spannend“ empfand. Die junge Frau Stier tritt alleine in die Jugendorganisation der SPD ein,43 kann jedoch mit den anderen Jungsozialist*innen problemlos einen konjunktiven Erfahrungsraum ausbilden, sodass von einer weitgehenden Homologie der biografischen Hintergrunderfahrungen auszugehen ist. Der konjunktive Erfahrungsraum dokumentiert sich im Interview z. B. an der Figur eines denkenden Kollektivs („wir haben […] gedacht“). Ihr Engagement in der politischen Organisation verknüpfen die jungen Menschen mit der Überzeugung: „alles ändert sich, alles wird toll“. Der sich hier dokumentierende – genauso fundamental wie unspezifisch klingende – Glaube an einen grundlegenden Umschwung, deckt sich mit dem Wunsch der jungen Christine Stier, aus dem tradierten Milieu ­auszubrechen und tradierte Bahnen des Lebenslaufes hinter sich zu lassen. Die zuvor nur angestrebte Distinktion findet in der politischen Jugendorganisation eine Gelegenheitsstruktur und somit eine reale Umsetzung. Frau Stier kann nun 42Die

Interessantheit dieser Kontakte erscheint in Frau Stiers autobiografischer Erzählung allerdings dahin gehend relativiert, dass sie diese aus heutiger Sicht nur angesichts ihres damaligen Vergleichshorizontes des Dorfes („für meine Verhältnisse damals“) als interessant erachtet. 43Diese Information stammt aus Ihrer Email vom 25.06.2010.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

317

das zuvor nur Anvisierte und in der Protestbewegung Angefangene weiter ‚mit Leben füllen‘ und eine kollektive Handlungspraxis ausbilden, in der ein zunächst vager Wunsch nach Distinktion konkretisiert wird. Die Dynamisierung ihres habituellen Gefüges, die mit der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken im Kontext einer Negation begann, setzt sich nun also dahin gehend fort, dass die neuen Orientierungen im Kollektiv an Form annehmen und somit weiter an biografischer Bedeutsamkeit und Orientierungsqualität hinzugewinnen. Ihre Orientierungen an Distinktion und Aufbruch, die die junge Frau Stier und ihre Mitstreiter*innen mit der neuen, politisierten Handlungspraxis verbinden, entfalten sich im Kontext einer politischen Organisation, die wiederum (in dieser Zeit) starke Überschneidungen mit der Studierendenbewegung aufweist. Die neue Handlungspraxis ist eine politische und zugleich dokumentiert sich hier eine Aufbruchsstimmung, die ein Lebensgefühl der jungen Menschen wiedergibt, welches ebenso adoleszenzspezifische Züge in sich trägt. Obwohl die Handlungspraxis von Frau Stier und den anderen Jungsozialist*innen, von denen sie hier berichtet, von ihnen selbst und aufgrund der Parteizugehörigkeit klar politisch gerahmt ist, scheint der Unterschied zu den oben dargestellten Fällen adoleszenter Bildungsprozesse, bei denen die ersten Erfahrungen kollektiver Praxis eher jugendkulturelle Züge trugen, nicht allzu groß. Dies mag daran liegen, dass Frau Stier keine näher bezeichneten politischen Inhalte oder Auseinandersetzungen berichtet. Stattdessen steht ein Distinktionsbestreben, dem sie wiederholt Ausdruck verleiht, für Frau Stier zentral, ebenso wie für diejenigen, die an jugendkulturellen Praktiken partizipieren oder diese kollektiv neu entstehen lassen. Eine Ausnahme, was die (erfolgreiche) jugendkulturelle Vergemeinschaftung der Negation des Tradierten angeht, bildet – zumindest anfänglich – Frau Bachs jugendlicher Bildungsprozess. Ihr gelingt es zunächst nicht, das eigene Distinktionsbestreben an die Praxis einer politischen Organisation, der „Jugendorganisation der DKP“ (Z. 37), anzubinden. Rückblickend ist dieser erste kollektive und politische Anschluss von wenig Erfolg gekrönt und Frau Bach bezeichnet die sich hier zusammengefundenen und um einiges älteren „Männer“ (Z. 38) als einen „furchtbar konservative[n] Haufen“ (Z. 37 f.). Zwar schätzt die junge Sandra Bach die kulturellen Angebote der „SDAJ“ (Z. 36), hält aber alsbald Ausschau nach Anschlüssen, die nicht „so eng und (.) so auf Parteilinie“ (Z. 46) liegen.44 Die Entstehung eines konjunktiven Erfahrungsraums ist hier nicht zu

44Aber

auch die politische Organisation will Sandra Bach nicht. Als sie eine eigene Meinung zum Abtreibungsrecht vertritt, die nicht auf Parteilinie liegt, wird sie saus der Partei ausgeschlossen (vgl. Z. 47 ff.).

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

konstatieren – nicht zuletzt, so ist zu vermuten, weil zwischen den „Männer[n] so (.) zwischen (.) 35 und 50“ (Z. 38) und der jugendlichen Sandra Bach die homologen Erfahrungen fehlen. Frau Bach macht aber alsbald andernorts weitere erste Erfahrungen in einer neuen, kollektiven, politisierten Praxis, an die sie diesmal unmittelbar mit ihren eigenen Erfahrungen anschließen kann. Als sie nach dem Schulabschluss ein Studium in Marburg beginnt, wo sie sich „son bisschen in der Hochschul(.)politik um[…]guckt“ (Z. 62 f.), wird sie durch eine Kommilitonin auch auf eine Veranstaltung des Vereins der Verfolgten des Naziregimes aufmerksam (Z. 235–246): „und dann bin ich mal mit zum VVN Abend gegangen, (.) hab da dann (.) n sehr spannendes Ehepaar kennengelernt, die warn beide (.) an die 80, (.) Heinz und Liesel, (.) die an dem Abend ihre (.) Geschichte erzählt haben wie sie ähm (.) von den Nazis verfolgt worden sind, (.) zwischen 33 und 45. was (.) einfach (.) ja unglaublich bewegend gewesen ist. (1) wie (1) diese Schilderung, (.) tagelang irgendwie (.) nackt und bis zu den Knien im Wasser stehen (.) gefangen gehalten zu werden und solche Sachen, (2) du hast zwar in der Schule, (.) ähm das dritte Reich abgehandelt im (.) Geschichtsunterricht, vielleicht auch den einen oder andern Film gesehn, nur so Zeitzeugen zu hörn is nochmal was ganz anderes denk ich. (2) und ähm (.) über diesen Kontakt zum VVN, (1) kam dann ganz schnell auch der Kontakt zum LMC, beziehungsweise (.) die Teilnahme an irgendwelchen Aktionen. (.) dass der Schmidt sein Unwesen trieb in Marburg das wusst ich vorher schon, fand ich auch nich so toll, (.) und dann einfach Leute zu finden die das mit mir zusammen auch nich so toll fanden, war ne gute Erfahrung. (3)“

Auf der Veranstaltung des Vereins der Verfolgten des Naziregimes wird sie mit den Lebensgeschichten zweier im Nationalsozialismus Verfolgter konfrontiert, was sie nachhaltig ‚bewegt‘. Obwohl Frau Bach im „Geschichtsunterricht“ die Ära der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland durchgenommen hatte, macht es für sie einen qualitativen Unterschied, „Zeitzeugen zu hörn“ – dies sei „nochmal was ganz anderes“. Es dokumentiert sich hier eine existenzielle Berührung durch und die Entstehung einer Sensibilisierung für die Gräueltaten im Nationalsozialismus. Diese bildet den Hintergrund für weitere Anschlüsse, die sich im Kontext des „VVN“ ergeben.45

45Eine

solche existenzielle Berührung und Sensibilisierung durch den Nationalsozialismus spielt auch in anderen biografischen Interviews, so z. B. bei Frau Weber, Frau Richter und Frau Kubitschek, eine Rolle. Es dokumentiert sich bei Frau Bach, wie auch in den anderen genannten Fällen, eine existenzielle Wahrnehmung politischer und historischer Ereignisse, welche – neben anderen Aspekten – den Kontext der Fortsetzung der zunächst mit

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

319

Über den „VVN“ stößt Frau Bach nicht nur auf den Linken Motoradclub „LMC“ (auf den an anderer Stelle noch einzugehen sein wird), auch kam hierüber ihre „Teilnahme an irgendwelchen Aktionen“ zustande; gemeint sind die ‚Aktionen‘ der „ziemlich muntere[n] Antifaszene“ 46 (Z. 69) Marburgs – so wird aus dem Verweis auf das „Unwesen“ eines Herrn „Schmidt“, den sie in einer späteren Passage des Interviews als „Neonazi“ (Z. 263) betitelt, deutlich. In der ‚Antifa‘ – bzw. im VVN und im LMC –47 trifft sie auf „Leute […] die das mit mir zusammen auch nich so toll fanden“, mit denen sie also ihre existenzielle Sensibilisierung durch die Konfrontation mit dem Holocaust vergemeinschaften und politisieren kann. Dieses ‚Finden‘ funktioniert über die Partizipation an der kollektiven Handlungspraxis der ‚Antifa‘. Zu ihrem ersten Kontakt mit der ‚Antifa‘ kam es im Zuge eines „Burschenschaftstreffen“, so erinnert sich Frau Bach vage. Seitens des „AStA“ (Z. 230) habe sich Widerstand dagegen formiert, diese „in (vollem Wegs) übers Unigelände (.) laufen zu lassen“ (Z. 231). An der Gegenaktion beteiligt sich die junge Frau Bach und so entsteht der Kontakt zur ‚Antifa‘-Bewegung. In gewisser Weise durchläuft Frau Bach hier die erste Phase des Bildungsprozesses, der unbestimmten Offenheit für soziale Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation, in Ansätzen noch einmal. Auch diesmal ist die Offenheit in der Negation verortet, z. B. in der Ablehnung der „farbentragende[n] Burschen(.)schaftler“ (Z. 228). Zudem lehnte sie zuvor die vielen Vertreter(inn)en des „RCDS“ (Z. 64) im „AStA“ (Z. 63) ab, von den sie sich mit Verweis auf die „albernen kleinen Aktentaschen“ (Z. 67 f.) – mehr habituell, denn politisch begründet – abgrenzte.

einer vagen Offenheit begonnenen Dynamisierung des Habitus bildet. (Vgl. zur existenziellen Sensibilisierung politischer Ereignisse als Kontext von Politisierung auch Thomsen 2010.) Auch dies ließe sich als Kontingenzstruktur dieser Bildungsprozesse bezeichnen. Mit meinem Fokus auf die Phasen von Bildung werde ich diese Thematik im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht systematisch ausarbeiten, sehe in der systematischen Betrachtung der gesellschaftlichen Kontexte und historischen Hintergründe von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen aber Potential für anschließende Forschungsarbeiten. 46In den biografischen Interviews sprechen die Befragten selbst oft von der ‚Antifaszene‘ oder der autonomen ‚Szene‘. Haunss (2013) sieht in den Autonomen, zu denen er auch den „Antifa-Bereich“ (ebd., S. 28) zählt, sowohl Merkmale einer Bewegung als auch einer Szene und konstatiert hier eine „enge[…] Verzahnung von politischem Aktivismus und Alltagspraxen“ (ebd., S. 37). Das, was Haunss und die Interviewten selbst als ‚Szene‘ bezeichnen, fasse ich hier als Bewegungsmilieu (vgl. ausführlich hierzu Kap. 2). 47Es wird in der Passage nicht ganz deutlich, auf welche Gruppe sie die folgende Äußerung bezieht, aber letztlich dokumentiert sich im Interview, dass es auf alle drei genannten Anschlüsse zutrifft.

320

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Die Praxis, an der sie im Kontext der ‚Antifa‘ partizipiert und sich in der Folge „ziemlich engagiert“ (Z. 71), gestaltet sich wie folgt (Z. 71–90): „dann so ab (1) 80 ungefähr, (2) ähm in der Nähe von Marburg gab es (.) äh (.) n en Nazizentrum, und zwar (.) Hans Schmidt, (.) war so n führender Kopf in der Neonaziszene, der hatte (.) ne Maurerei in Marburg in der Nähe von Marburg, (.) und hat da son Schulungszentrum (.) draus gemacht, (.) und der hatte auch auf diesem Maurereigrundstück so (.) ähm (1) weiß nich wie ich das nennen soll so son Mittelding zwischen nem Bunker, und ner Festhalle (.) errichtet. () hieß des. (1) ähm wo die regelmäßig irgendwelche Zusammenkünfte (.) gemacht haben, da gabs n (.) groß abgezäuntes also mit richtig Mauer drum Areal, (.) wo die so ähm (.) Kampfgruppenspielchen gemacht haben, (1) und (.) ähm (.) die ham (.) Jugendarbeit gemacht, (.) ziemlich fatale mit nem (.) Jugendzentrum in Marburg. (.) ham da ziemlich viele Jugendliche (.) einfach (.) dafür interessiert. (1) die aus welchen Gründen auch immer das dann klasse fanden was der Schmidt machte, (.) und (1) äh (.) wir ham relativ viel (1) versucht rauszukriegen, zum einen was die da treiben? (.) und dann (.) ihn immer wieder angezeigt, (1) es gab äh (.) ne ganze Reihe von gerichtlichen Kontaktverboten die gegen ihn ausgesprochen waren, zu anderen (.) Nazigrößen, (.) zum Beispiel irgendn (.) Däne, dann einer aus ähm (.) Amerika, und immer wenn wir wussten die kommen, (.) ähm ham wir versucht durchzusetzen dass die Polizei dieses Kontaktverbot auch durchsetzt. aber das war damals ausgesprochen @schwierig@. (.) dann ham wir die (.) Maurerei öfter des (.) einfach kurzerhand abgeriegelt. (.) und dafür gesorgt dass da halt niemand hinkam, oder Beobachtungsmärsche gemacht, (.) oder solche //hm// Dinge. oder halt auch auch mal aufm Bahnhof aufgetaucht wenn wir wussten, der und der kommt mit dem Zug, (2)“.

Frau Bach wartet hier mit Fakten über das das „Schulungszentrum“ eines als ‚Nazi‘ gekennzeichneten Mannes auf und berichtet im Anschluss von der kollektiven Praxis im Kontext der ‚Antifa‘, die darauf gerichtet war, Informationen zu sammeln, um einerseits auf die staatliche ‚Durchsetzung‘ der „gerichtlichen Kontaktverbote[…] zu anderen (.) Nazigrößen“ zu pochen in andererseits – auf eigene Faust – den Zugang zum Zentrum zu versperren. Im gemeinsamen Ziel, die Aktivitäten der Rechtsextremen zu behindern, erscheint die Gruppe – wie dies auch in zahlreichen Erzählungen der kollektiven Praxis anderer Interviewpartner*innen der Fall war –, als kollektiver Akteur. So spricht Frau Bach in dieser Passage mehrmals im Plural (z. B. „wir ham […] versucht …“, „wir wussten“), was sich deutlich unterscheidet von den Erzählungen ihrer Zeit bei der ‚SDAJ‘, wo sie als Außenstehende sprach: „die ham“ (Z. 43 u. 58). Auffällig – und durchaus unterschiedlich zu den anderen Schilderungen von Erfahrungen, die in den neuen Anschlüssen gemacht werden – ist, dass Frau Bachs Erzählung der ‚Antifa‘-Gruppe ohne die Nennung signifikanter Anderer auskommt. Die jungen Erwachsenen bestätigen sich hier in ihren Orientierungen gegenseitig durch

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

321

die gemeinsame Praxis und die Funktion der Gruppe – die Zusammenkünfte der Rechten zu verhindern. Es scheint so als stünde letzteres im Vordergrund, worüber Individualität nachrangig wird.48 Gleichzeitig sind es jedoch die – individuell empfundene – Sensibilisierung für rechtes Gedankengut und dessen Negation, die in der Praxis der ‚Antifa‘-Gruppe eine Vergemeinschaftung finden, und die als Kern der hier neu entstehenden Orientierung in der Negation gelten können. Frau Bach kann so in diesem zweiten Anschluss an eine kollektive, politisierte Gruppenpraxis an eigene Erfahrungshintergrunde anschließen. (Erinnert sei in diesem Kontext auch an den rechtskonservativen („schwarz bis braun“ (Z. 34 f.) wählenden) Vater; auch dessen politischen Orientierungen steht die ‚Antifa‘ konträr entgegen.) Die kollektive Gruppenpraxis gibt den genannten Negationen einen handlungspraktischen Ausdruck und politisiert sie, wobei die neue Orientierung sich maßgeblich über die politisierte Negation (von konservativen und ideologisch rechts verorteten Weltbildern) definiert und – zumindest soweit sich dies in Frau Bachs autobiografischer Erzählung dokumentiert – nicht so sehr eigene, das binäre Schema einer Negation überschreitende, Werte setzt. Die mit der Offenheit für Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation begonnene Dynamisierung des Habitus findet hier eine Fortsetzung in den neuen Erfahrungen, die Frau Bach im Zuge kollektiven und politisierten Praxis macht, und die zur Entstehung einer neuen Orientierung führen. Es deutet sich also auch bei Frau Bach ein transformierter Habitus an, weil hier im Kontext der Praxis einer sozialen Bewegung und vor dem Hintergrund der Lockerung des habituellen Gefüges neue biografische Bedeutsamkeiten entstehen, die sich vor allem als Sensibilisierung für diskriminierende Ideologien und Praktiken und als politisierte Orientierung, gegen diese vorzugehen, beschreiben lassen. Zusammenfassung Nachdem die jugendlichen Akteur*innen zu Beginn der Bildungsprozesse eine unbestimmte Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Nega­ tion an den Tag legten, die ich als erstes Zeichen einer Lockerung des h­ abituellen

48Aus

dem Umstand, dass sich in Frau Bachs Schilderung keinerlei Interaktionen oder Erfahrungen, die über das reine politische Ziel (Aufmärsche von Rechtsradikalen zu verhindern) hinausgehen, dokumentieren, ließe sich eventuell etwas über die Art und Weise der Vergemeinschaftung in Frau Bachs Antifa-Gruppe schließen. Andererseits scheint die Art und Weise der biografischen Erzählung, bei der Aspekte des ‚Politischen‘ fokussiert und wenige andere Erfahrungen erzählt werden, auch typisch für Frau Bachs Modus Operandi der Erzählung im Allgemeinen zu sein (dies wird auch in Kap. 7, wenn es um ihren späteren Bildungsprozess im Erwachsenenalter geht, nochmals thematisiert werden).

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Gefüges interpretiere, geraten sie alsbald in neue, kollektive soziale Zusam­ menhänge. In der nun beginnenden Phase der Entstehung neuer biogra­fischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis partizipieren die Jugendlichen entweder in erkundender Art und Weise an der kollektiven Gruppenpraxis, der sie sich angeschlossen haben, oder aber sie finden sich durch kollektives, experimentelles Handeln in eine neue Gruppenpraxis ein, die im kollektiven Handeln neu entsteht und über die sich die Gruppe überhaupt erst formiert. So bilden sich neue konjunktive Erfahrungsräume, in denen weitgehende habituelle Übereinstimmung gefunden wird und in denen die für den Beginn des Bildungsprozesses bestimmende Negation kollektiviert werden kann. Die jugendlichen Akteur*innen finden in der neuen Handlungspraxis Möglichkeiten der Kollektivierung eigener Erfahrungshintergründe und bilden in der Vergemeinschaftung wiederum eine gemeinsame Praxis aus, die das Fortschreiten der in der ersten Phase des Bildungsprozesses begonnenen Lockerung bzw. Dynamisierung des Habitus ermöglicht und den Jugendlichen und jungen Erwachsenen alternative Orientierungsqualitäten eröffnet, die sich zu dem Negierten konträr verhalten. Es dokumentiert sich in diesen Fällen adoleszenter Bildungsprozesse, dass diese neu gefundenen oder neu entstehenden Handlungspraktiken alte Handlungsvollzüge fast unmittelbar ersetzen. Den in diesen Handlungspraktiken entstehenden und sich entfaltenden neuen Orientierungen kommt bereits in dieser Phase eine wichtige Orientierungsfunktion zu, sie haben alte Orientierungen fast unmittelbar abgelöst. Die Ausbildung dieser neuen Orientierungen und ihnen beigemessener, neuer biografischer Bedeutsamkeiten, in denen sich erstmalig die im Bildungsprozess vonstattengehende Transformation des Habitus der jugendlichen Akteur*innen andeutet, findet zumeist im Rahmen von Vergemeinschaftungsprozessen kleinerer Gruppen statt. In diesen Gruppen dokumentiert sich – in unterschiedlich starker Ausprägung – eine gegenseitige Selbstversicherung resp. positiv verstärkende soziale Bestätigung durch Angehörige des konjunktiven Erfahrungsraums, weshalb ich hier auch von konjunktiver sozialer Bestätigung sprechen möchte. Aber auch negative Reaktionen der Umwelt, so z. B. von den Bekämpften „Spießern“, „Nazis“ oder „Dorf-Deppen“, können als (negativ verstärkende) soziale Bestätigung fungieren. (Dies dokumentiert sich in den Interviews allerdings nicht in allen Fällen.) Trotz der unterschiedlichen Arten von ersten Partizipationen der jugendlichen Akteur*innen an den Praktiken einer Peergroup, einer Gruppe im erweiterten Bewegungskontext, einer sozialen Bewegung oder auch einer politischen Organisation kann für diese Phase des Bildungsprozesses vor allem auch die Gemeinsamkeit der Distinktionsbemühungen und der Suche nach Freiheiten jenseits bestimmter Normen – Aspekte, die als adoleszenztypisch gelten können.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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Die Partizipationen an einer kollektiven Gruppenpraxis (im Kleinen) und die Verortung in einem (größeren) Bewegungskontext laufen in dieser Phase oftmals parallel, allerdings wird der Bezug der kollektiven Gruppenpraxis zu einer Bewegung (noch) nicht von allen hergestellt – und selbst wenn dieser augenscheinlich besteht, so bedeutet dies keinesfalls, dass von den Akteur*innen die Praxis selbst in allen Fällen bereits als eine politische definiert wird. Unterschiedlichkeiten bestehen in dieser Phase des Bildungsprozesses also dahin gehend, ob sie bereits als Teil einer größeren Bewegung gelten kann und ob und wie explizit die neue Gruppenpraxis von den Akteur*innen politisch verortet wird.49 Während bei Frau Weber und Herrn Waldorfer das ‚Politische‘, wenn überhaupt, höchstens randständig eine Rolle spielt, bewegen sich Herr Büchner und Frau Richter in Milieus, die zugleich Teil einer sozialen Bewegung sind – jedoch nimmt Frau Richter die politischen Implikationen ihrer neuen, kollektiven Handlungspraxis weitaus deutlicher wahr als Herr Büchner, für den die hedonistisch-kulturelle Praxis der ‚Blueser‘ im Vordergrund steht. Für Frau Kubitschek steht zu diesem Zeitpunkt die kollektive Praxis ihrer kontrakulturellen bis oppositionellen Peergroup am Gymnasium im Vordergrund, die Praxis dieser Gruppe fügt sich jedoch wie selbstverständlich in die größeren Ziele der Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegungen, an deren Aktionen die Jugendlichen partizipieren. Bei Frau Kubitschek ist die Verbindung von kultureller Praxis mit deren politischer Positionierung in dieser Phase des Bildungsprozesses also schon deutlicher ausgeprägt. Noch stärker ist dies bei Frau Stier der Fall, die in eine politische Organisation eintrat. Auch bei Frau Bach ist die politisierte Dimension ihrer Handlungspraxis schon in dieser Phase äußerst prominent, führt ihre erste Partizipation an der Handlungspraxis der ‚Antifa‘ doch dazu, dass diese in der Folge unmittelbar zur zentralen Handlungspraxis der jungen Frau Bach im Kontext der ‚Antifa‘-Bewegung wird.

5.3.3 Die Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis Während in der vorangegangenen Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis 49Siehe

zu diesem und anderen sich innerhalb der übergreifenden Gemeinsamkeit der Phase (der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in neuer, kollektiver Praxis) dokumentierenden Unterschiede auch die graphische Übersicht (Abb. 5.1).

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

die neue Handlungspraxis und Orientierung von einigen Interviewten bereits als politisch definiert wurde, zeigten sich hier doch auch zahlreiche Fälle, bei denen der (jugend-)kulturelle Aspekt der Praxis deutlich im Vordergrund stand und das ‚Politische‘ keine oder eine nachrangige Rolle spielte. In diesen biografischen Erzählungen dokumentiert sich zunächst ‚nur‘ eine kollektive Einbindung jugendkultureller Art. Auch wenn mit den kulturell-ästhetischen Ausdrucksmitteln politische Konfliktlinien in gewissem Maße bereits abgesteckt sind,50 so kann doch nachvollzogen werden, wie in diesen Biografien die kollektive Praxis der Jugendgruppe und die damit verbundene Orientierung erst zu einem späteren Zeitpunkt politisiert wird, also von den Akteur*innen selbst in einen politischen Kontext gesetzt wird. In jenen biografischen Bildungsprozessen, bei denen die Phase der Entstehung neuer biographischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis zugleich bereits mit einer Politisierung der Handlungspraxis einhergeht (namentlich: Frau Bach, Frau Stier, Frau Richter und Frau Kubitschek), findet sich – logischer Weise – die Politisierung einer zuvor kulturellen Praxis nicht als eigenständige Phase; wobei sich bei den beiden letztgenannten jungen Frauen eine Steigerung der Politisierung der eigenen Praxis dokumentiert, weshalb sie in gewisser Weise als Zwischen-Fälle ­gelten können. Im Folgenden möchte ich die Phase der Politisierung der neuen Orientierung und jugendkulturellen Gruppenpraxis anhand der betreffenden drei Fälle von Frau Weber, Herrn Waldorfer und Herrn Büchner darlegen, bei denen die neue Praxis zuvor weitgehend kulturell gerahmt war. Während bei Herrn Waldorfer nun sowohl eine deutlichere Anbindung seiner neuen Orientierung an eine soziale Bewegung als zuvor zu konstatieren ist und er zudem auch eine institutionelle Anerkennung dieser nun politisierten Orientierung seitens der Schule verzeichnen kann, formieren sich Frau Webers und insbesondere Herrn Büchner Politisierung der neuen Praxis vor dem Hintergrund von Konfrontationen mit den staatlichen Organen – wenngleich in sehr unterschiedlicher Art und Weise, wie ich im Folgenden eingehender zeigen werde. Beginnen möchte ich die Darstellung mit Frau Weber, bei der sich in der vorangegangenen Phase neue biografische Bedeutsamkeiten im Kontext ihrer ersten Erfahrungen in der kollektiven Praxis ihrer kontrakulturellen Peergroup dokumentieren. Während diese Gruppenpraxis einer expliziten politischen 50Nicolle

Pfaff (2006) arbeitete heraus, dass „für einen erheblichen Teil der Jugendlichen die Orientierung an sowie die Rezeption und Ästhetik eines jugendkulturellen Stils entlang politischer Konfliktlinien verläuft“ (ebd., S. 281). Ausführlicher hierzu siehe auch Kap. 8 der vorliegenden Arbeit.

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Positionierung entbehrte, kommt es im Kontext einer (erneuten) sozialen Desintegrationserfahrung zur Gründung ihrer ersten „Politgruppe“: Zwei wichtige Bezugspersonen, ihre Schwester und eine Freundin, verlassen den Heimatort (Z. 95–115): „und dann (.) war ich glaube ich so (1) neunzehn neunzehn oder zwanzig da hatt ich dann, da erst die eine Freundin ist nach Berlin gezogen meine Schwester ist nach Kaiserslautern gezogen. da hab ich eben dieses Gefühl gehabt jetzt bricht alles- alles weg und //mhm// das war so meine das warn meine Bezugsleute. und dann musste es irgendwie kurze Zeit später gewesen sein, dass wir in Memmingen die erste, (.) also meine erste Politgruppe gegründet haben. das war irgendwie, das war lustig und zwar ging damals war das ähm diese diese Shell Kampagne. Anti-Shellkampagne //ja// mit diesem ganzen @Shell to hell@ und so. @das war total geil@. und wir haben tatsächlich, ne jetzt wollte ich grad sagen wir ham ne Anti-Shellgruppe gegründet. nee, das stimmt gar nicht. wir ham ne Politgruppe gegründet und das erste Thema was wir hatten war Anti-Shellkampagne. genau so wars und dann haben wir Plakate gemacht. (1) was ham wir eigentlich mit den Plakaten gewollt, @(.)@ ham wir die geklebt? Nee die ham wir doch gar nicht drucken können, oder, @Oh Gott das weiß ich gar nicht mehr@ auf jeden Fall sind wir glaube ich jedes Wochenende in ganz Deutschland auf irgendne Demo gefahren //ahm// und wir hatten echt Stress //@(.)@// also muss das mal sagen weil. du bist ja dann eigentlich noch son bisschen halb betrunken (.) @in irgendnem Auto gelegen@ @(.)@ und bist dann irgendwo in irgendner Stadt dann von Wasserwerfer eingedeckt worden. das war auf jeden Fall echt (1) ne lustige Zeit.“

Den Wegzug zweier für sie wichtiger Menschen nimmt die junge Frau Weber als den Beginn der Auflösung ihrer Peergroup und dementsprechend dramatisch wahr: „jetzt bricht alles […] weg“. In diese Zeit der Umstrukturierung ihres sozialen Bezugsrahmens, fällt die Gründung ihrer ersten als politisch gekennzeichneten Gruppe. Vor dem Hintergrund der drohenden Auflösung politisieren sich die Zurückgelassenen. Waren die verbindenden Elemente vorher Drogen, Partys-Feiern und eine kontrakulturelle Orientierung, die sich vorwiegend in der Ablehnung von „Spießern“ dokumentierte, so kommen nun Demonstrationsbesuche und andere politische Ausdrucksformen zur Handlungspraxis hinzu. Die zuvor praktizierte jugendkulturelle Negation geht nun in der größeren Struktur einer (hier noch nicht genauer definierten) linken Protestbewegung auf. Zwar wird die ‚Politizität‘ der kollektiven Handlungspraxis betont, doch treten konkrete politische Inhalte in Frau Webers Erzählung in den Hintergrund. So beleuchtet sie z. B. die bereits erwähnte ersten „Kampagne“ lediglich unter dem Aspekt des Spaßes, den sie im Zuge der Aktionen hatte – „das war lustig“, „@ das war total geil@“. Die Art der Vergemeinschaftung dieser – jetzt als ‚politisch‘ gekennzeichneten – Gruppe bleibt derjenigen der schulischen Peergroup also

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

ganz ähnlich; wenngleich für die Beteiligten als konstituierendes Merkmal der Gruppe nun das ‚Politisch-Sein‘ gilt. In dieser politisierten Handlungspraxis treten die regelmäßigen Demonstrationsbesuche („jedes Wochenende in ganz Deutschland“) sowie die in diesem Kontext sich entfachende Konfrontation mit der Staatsmacht („in irgendner Stadt […] von Wasserwerfer eingedeckt“ zu werden) als positiv bewertete Erlebnisse von Gemeinschaft auf. In der Auseinandersetzung mit der Polizei kann die Gruppe ihre nun habitualisierte und kollektivierte Negation der Norm öffentlich aufführen und sich zugleich politisch im Protest verorten. Während innerhalb der Gruppe der Zusammenhalt stark gemacht wird und so eine (positive) soziale (Selbst-)Bestätigung der neuen Praxis und Orientierung erreicht wird, dienen die Auseinandersetzungen mit der Polizei quasi als eine Art negativ verstärkende soziale Bestätigung. Auch diese Ablehnung der Praxis von sozialen Anderen, in diesem Fall von staatlichen Organen, trägt zur Festigung der neuen Orientierung in der – nun politisierten – Negation bei, wie sich an Frau Webers positiver Bewertung der „Wasserwerfer“-Einsätze gegen sich selbst und die anderen Demonstranten dokumentiert. Bei Herrn Büchner stellt eine solche ‚negative soziale Bestätigung‘ sogar in der Hauptsache die Gelegenheitsstruktur für seine Verortung in der politisierten Opposition dar. Auch er definierte als Jugendlicher, wie bereits zu sehen war, die neue Praxis, die er im Rahmen der ‚Blueser‘ kennenlernte, zunächst nicht als politisch. Als sein Freund Oleg von einem Westurlaub nicht in die DDR zurückkehrt, setzt sich diesbezüglich jedoch eine Veränderung in Gang. Thomas Büchner bekommt von Oleg nun per Post Berichte über große Demonstrationen der „syndikalistischen Anarchisten“ (Z. 185 f.) und ‚Prügeleien‘ mit „Nazis“ (Z. 188) im Ruhrgebiet. Diese neuen (wenn auch nur berichteten) Erfahrungen sprechen ihn an, er fühlt sich „politisch […] beeinflusst“ (Z. 183). Im Unterschied zu den Gewaltexzessen in der Blueser-Bewegung wird der Gewalt hier eine politische Bedeutung beigemessen, weil mittels ihrer ein gesellschaftlicher Gestaltungsanspruch formuliert wird – etwa dem Rechtsextremismus etwas entgegenzusetzen. Für Herrn Büchner kann ein virtueller Anschluss an diese politische Bewegung konstatiert werden. Doch dies bildet nur den Hintergrund für die Erfahrungen, die er im Folgenden selbst machen wird. Mit der Einberufung zum Militär werden die Erfahrungsansprüche eines autoritär organisierten institutionellen Ablaufmusters an ihn herangetragen. Herr Büchner versucht zunächst, sich diesen zu entziehen: Er ignoriert die Einberufung und wohnt bei Freunden. Als ihm klar wird, dass das Militär ihn zwingen und sogar hinter Gitter bringen kann, entscheidet er, den Wehrdienst als geringeres Übel anzusehen, und stellt sich. Nach ein paar Tagen in Einzelhaft

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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wird er zu seinem Stationierungsort auf Rügen gebracht. Das Ankommen dort gestaltet sich konfrontationsreich (Z. 335–347): „ich komme dann in Prora-Rügen an, es war abends, keine Ahnung, das war glaube ich Stubenreinigung schon, so neunzehn, zwanzig Uhr, und auf dem Flur stand son Hauptmann, a:h (2) wie gesagt dasselbe Bild wie, oder Geschichte wie auch in Golm, meinte mich anbrüllen zu müssen, wer er überhaupt ist, wer ich überhaupt bin, und warum ich jetzt erst komme, hier zehn Tage später, er hat dann glaube ich so von mir dieselbe Antwort gekriegt, wer er überhaupt ist, was er überhaupt von mir will, //hm// kann mich ja einfach auch vernünftig anreden, irgendwie so einfach ziemlich trotzig einfach glaube ich war ich da in bestimmten Punkten, und wo ich einfach auch diese Autoritäten einfach auch nicht so akzeptiert habe; ((schnieft)) und das war natürlich für alle Leute, die da gerade so im Flur rumhangen so ziemlich der Brüller, dass da jemand äh so in Frage stellt, //mhm// also so; weil natürlich das auf jeden Fall einfach auch Schikanen nach sich gezogen hat, weil sie einfach am längeren Hebel gesessen haben;“

Thomas Büchner zeigt sich von den disziplinarischen Maßnahmen unbeeindruckt und lässt sich z. B. das ‚Anbrüllen‘ nicht kommentarlos gefallen. Mit seiner Reaktion („kann mich ja einfach auch vernünftig anreden“) fordert er einen respektvollen Umgangston ein. Er zeigt auf diese Art und Weise seine Ablehnung der autoritären Struktur des Militärs, in dessen Hierarchie ihm eine Rolle ganz unten zugedacht ist. Die Rolle des Degradierten, die er hier zugewiesen bekommt, nimmt er nicht an. Seine schon für den Kontext der Blueser-Praxis herausgearbeitete Orientierung an einem nonkonformen und ‚selbstbestimmten‘ Leben veranlasst ihn dazu, die hierarchische Rollenverteilung zu ignorieren und sich auf im Zivilleben übliche Prinzipien des menschlichen Umgangs zu berufen. Dass dieses Verhalten jenseits der Norm liegt, zeigt auch die Reaktion der anderen Wehrdienstleistenden, für die dies „der Brüller“ war. Zur Teilhabe an dem autoritär organisierten institutionellen Ablaufmuster ‚Militär‘ gezwungen, gibt es für Herrn Büchner aber keine Möglichkeit, seine Orientierung an nonkonformistischer Selbstbestimmung ungestört zu leben. An diesem Punkt, an dem sein Leben jenseits der Norm an Grenzen stößt, geht Herr Büchner in Opposition.51 In der Folge gelingt es ihm, seine Opposition mit Gleichgesinnten in Form eines gemeinschaftlichen Unterlaufens formeller und 51Sein

Verhalten, an der eigenen Orientierung trotz widriger Umstände festzuhalten und dafür keine Unannehmlichkeiten zu scheuen, weist Ähnlichkeit zum Verhalten seines Vaters an der DDR-Grenze auf, wenngleich Thomas Büchner hier das Maß an Konfrontation, das sein Vater an zivilem Ungehorsam vorlegte, radikalisiert und in die direkte Auseinandersetzung geht, während sein Vater symbolisch blieb.

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informeller Regeln zu kollektivieren. Als Dienstjüngste sollen er und andere Wehrdienstleistende einer informellen Hierarchie zufolge die Aufgaben des nächst höheren „Diensthalbjahr[s]“ übernehmen. Herr Büchner und einige andere weisen dies zurück (Z. 370–384): „und diese Sache haben wir denn als Neuankömmlinge komischerweise komplett aufm- auf den Kopf gestellt, ich- ich kann heute nicht sagen, wie es zustande gekommen (ist), es haben sich, in dieser Kompanie wo ungefähr dreißig vierzig Leute sind, so sechs sieben Leute gefunden, die so eine ähnliche Sozialisation hatten wir ich; viel rumreisen, überall Leute kennen, und wir haben und denn zu sechst, zu siebent hingestellt zu diesem zweiten Halbjahr, und haben gesagt, hier, Arschlecken. nicht mit uns; ihr macht genau dasselbe wie wir, und schikaniert wird erstmal überhaupt niemand; ich muss natürlich sagen, dass da durchaus auch Leute bei waren, (.) die auch (2) kein Problem damit hatten einfach auch Gewalt auszuüben, also ich kann mich an eine Situation erinnern, da sollten Leute, so- so in- Sachen wie mit der Zahnbürste das Klo putzen schikaniert werden; so, und dann gabs wirklich so eine Situation, dann, das Gebäude wo wir waren, das war so ein vierstöckiger NaziBau, Prora-Rügen ist (eigentlich) auch ziemlich berühmt, da wurde einer von den Schlimmsten einfach wirklich mal über der Treppenschacht gehalten, und (gsacht) Alter, passiert dis noch einmal dann fällst du hier runter;“

Es findet sich eine Gruppe junger Männer aus dem ersten „Diensthalbjahr“ zusammen, die gemeinsam (im Rahmen des Möglichen) die autoritär organisierte Institution und ihre informellen, aber „von oben […] geduldet[en]“ (Z. 364 f.) hierarchischen Regeln unterläuft. Herr Büchner vermutet eine „ähnliche Sozialisation“ der Mitglieder dieser neuen Peergroup. Es dokumentiert sich hier, dass die jungen Männer (zumindest in dieser Dimension) habituelle Gemeinsamkeiten aufweisen, setzen sie der autoritär-hierarchischen Struktur doch gemeinsame, konträr gelagerte Orientierungen entgegen. Thomas Büchners neue Orientierung an ‚Selbstbestimmung‘ findet im Militärdienst also einen weiteren sozialen Raum der Anwendung und eine kollektive Fortführung. Zudem trägt die neue Orientierung nun aber deutlichere politische Züge. In der Struktur des Militärs sehen die jungen Männer ihre Freiheiten und Menschlichkeit gefährdet. Ihre Opposition zu bezeugen, ist der Gruppe auch Gewaltandrohung ein legitimes Mittel. Die Peergroup bildet hier also eine Kontrakultur aus, die im Kontext des Militärdienstes durchaus politisch ist – weil sie Gestaltungsansprüche erhebt (wenngleich diese öffentlich aufgeführt und weniger verbalisiert werden). War es bei den Bluesern maßgeblich ein hedonistisch gelagerter Aktionismus jenseits der Norm, mit dem Thomas Büchner der neuen Orientierung an ‚Freiheit‘ und ‚Selbstbestimmung‘ Ausdruck gab, so wird die Fortführung der

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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hedonistischen Praxis im Militär aufgrund des neuen Kontextes zur politischen Opposition. Und auch von staatlicher Seite wird Herr Büchner als Systemkritiker wahrgenommen. Aufgrund seiner kritischen Briefe an Freunde droht ihm sogar eine längere Militärhaft für „militärischen Geheimnisverrat“ (Z. 451), was letztlich aber auf eine 10-tägige Einzelhaft heruntergebrochen wird. Anders als bei Frau Weber, bei der die Auseinandersetzungen mit der Polizei als eine Art negativ gelagerte soziale Bestätigung der politisierten Praxis fungieren, entsteht bei Herrn Büchern die Politisierung der eigenen Praxis überhaupt erst im Kontext des äußeren Drucks einer hierarchischen Struktur.52 Einige Jahre, nachdem Peter Waldorfers Bildungsprozess im Kontext des Studierendenmilieus mit der Ausbildung neuer biografischer Bedeutsamkeiten begonnen hatte und er in der Folge das, was er als seine ‚Authentizität‘ empfand – hierzu zählt auch der Erwerb höherer Schulabschlüsse – zentral setzte, kommt er in Kontakt mit der 68er-Bewegung. Diesen erwähnt er erstmals als längere Hintergrundkonstruktion zum Thema seiner Studienwahl. Im Zuge der Schilderung dieser berufsbiografischen Überlegungen gibt er an, sich für „Politik […] und Geschichte […] schon immer interessiert“ (Z. 122) zu haben und geht in diesem Kontext auf seine erste Kontaktaufnahme zur Bewegung der ‚68er‘ ein, der im Kontext der „Notstandsgesetze“ entstand (Z. 129–136): „und die Gewerkschaften ham sich da (.) und Heinrich Böll und=und Günther Grass und wie sie alle hießen so. °ja°? sind halt auch (.) auf die Barrikaden gegangen, und da (.) das war so mein erster (.) Impuls dass ich dann nämlich zu dieser=ähm (.) Demonstration im Mai 1968 gefahrn bin; mit meinen Abendgymnasiasten mit den=diesen fünf; ähm äh gegen diese Notstandsgesetze. ne?“

Die sich an den Notstandsgesetzen entfachenden politischen Auseinandersetzungen – nicht zuletzt auch führender Intellektueller – veranlassen ihn, mit ein paar weiteren „Abendgymnasiasten“ zu seiner ersten Demonstration „im Mai 1968“ zu gehen. Sich in diesen Protest einzureihen, sei sein „erster Impuls“ zur politischen Aktion gewesen. Seine neue, schon an mehreren Stellen thematisierte

52Da

sich die Frage aufzudrängen scheint, ob eine solche Entstehung von Politisierung im Kontext eines äußeren Drucks einer Institution denn wieder verschwindet, wenn der Druck nachlässt, möchte ich an dieser Stelle die Information vorwegnehmen, dass Herrn Büchner die Entscheidung, sich politisch zu positionieren (oder eben nicht), nach dem Militärdienst gar nicht offen steht, da er sich im Wehrdienst einen Namen als Systemkritiker gemacht hat, über den nun eine Akte bei der Staatssicherheit geführt wird und der weiter beobachtet wird.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Orientierung an der Ablehnung von Autorität bzw. der Gleichsetzung von Autorität mit Fremdbestimmung und Unrecht kann Peter Waldorfer hier an die politische Idee von Antiautoritarismus einer Bewegung anschließen und so mit anderen kollektivieren und zudem politisieren. Peter Waldorfer geht von nun an nicht nur auf Demonstrationen, sondern setzt sich auch intensiv mit den geplanten „Notstandsgesetze[n]“ (Z. 126) und ihren potenziellen Folgen auseinander. Das Verfassen von „Flugblätter[n]“ führt neben der beabsichtigten politischen Einflussnahme auch zu schulischem Erfolg (Z. 151–157): „also man war nicht nur in diesem Schulunterricht, nicht nur im Geschichtsunterricht, sondern man man erlebte die Geschichte mit, und man machte sogar selber mit indem man Flugblätter schrieb, da (irgendwie) 500 Flugblätter geschrieben ham, im Haus der Jugend dann, 200 Leute zusammen gekriegt gegen diesen Auszug aufzuklären, gegen diese Notstandsgesetze, und so. (.) das war der Grund warum der Geschichtslehrer dann äh mir und nem anderen ne eins gegeben hat“.

Sein politisches Wissen, das er sich im Kontext des Bewegungsengagements aneignet, wird mit schulisch-institutioneller Anerkennung in Form der Bestnote im Geschichtsunterricht honoriert. Die schulischen Anforderungen und das neue politische Engagement – „Geschichtsunterricht“ und „die Geschichte […] selber mit[machen]“ – fügen sich hier scheinbar reibungslos ineinander.53 So kann konstatiert werden, dass seine Wissensaneignung zu den Themen Politik und Geschichte und sein politisches Engagement hier als Einheit bzw. als zwei Seiten einer Medaille auftauchen. Nicht nur die bereits erwähnte Orientierung an der Ablehnung von Autorität und deren Gleichsetzung mit Fremdbestimmung respektive Unrecht, sondern auch die – in gewisser Weise damit verbundene – Orientierung am weiteren Wissenserwerb werden hier in eine politische Positionierung und Praxis überführt. Da dies gut ineinander aufzugehen scheint, kann Herr Waldorfer dann auch Geschichte und Politik zum zentralen Inhalt seiner Wissensaspiration erklären, an denen er „schon immer interessiert“ gewesen sei. Die im Kontext der musizierenden Student*innen entstandene Orientierung an gesteigertem Wissenserwerb, bekommt hier über die individuelle biografische Bedeutsamkeit hinaus nun auch eine Verbindung zu einer p­ olitisierten

53Dieses

Einhergehen von politischer Orientierung mit den Erfordernissen der gesellschaftlichen Institution Schule ist Herr Waldorfer allerdings suspekt – ein Aspekt, auf den ich später noch einmal gesondert eingehen werde und der in Kap. 7 erneut zum Thema werden wird.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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­ andlungspraxis. Auf habitueller Ebene kann Herr Waldorfer in der 1968er-BeH wegung, in der Antibürgerlichkeit und Antiautoritarismus politisiert werden, zudem mit seiner Negation der familiär tradierten, ‚autoritären‘ Strukturen andocken. So schließt er hier an biografische Hintergründe an und bildet in diesem Zuge zugleich etwas ganz anderes, Neues aus; es deutet sich die Transformation des Habitus an. Zusammenfassung Nachdem die Bildungsprozesse in den Lebensgeschichten von Herrn Waldorfer, Herrn Büchner und Frau Weber mit kollektiven Anschlüssen und einer vergemeinschafteten Handlungspraxis begannen, die von den Akteur*innen selbst nicht in politischer Hinsicht erfahren wurden – wenngleich mindestens bei Herrn Büchner die Praxis schon im Kontext eines Bewegungsmilieu stand –, so ändert sich dies in der hier besprochenen Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis. Hatten die jugendlichen Akteur*innen zwar in der jugendkulturellen Handlungspraxis bereits Möglichkeiten der Kollektivierung eigener Erfahrungshintergründe gefunden und neue biografische Orientierungen ausgebildet, mit denen die Dynamisierung des Habitus an Fahrt aufnahm, so zeigt sich nun eine Politisierung der neuen Orientierung und Handlungspraxis. Es fällt auf, dass in allen drei Bildungsprozessen, in denen die jugendkulturelle Praxis erst einige Zeit nach den ersten Erfahrungen im Kontext neuer Anschlüsse politisiert wird, die eine oder andere Form von sozialer Bestätigung für den Prozess der Politisierung eine Rolle spielt. Vor dem Hintergrund von Tendenzen der Auflösung ihrer Peergroup schließen Frau Weber und ihre (verbleibenden) Peers sich einer Protestbewegung an, in deren Rahmen sie Kampagnen umsetzen und demonstrieren gehen. Es dokumentiert sich, dass der Modus Operandi der zuvor praktizierten, kollektiven Praxis nun zwar politisiert und mit politischen Handlungen gefüllt wird, im Grunde aber weiter fortgesetzt wird. Die positive Erlebnisqualität der Praxis und die gegenseitige konjunktive (Selbst-)Bestätigung stehen auch im politischen Aktionismus der Jugendgruppe weiterhin im Vordergrund; negative Reaktionen, z. B. von der Polizei, verstärken den Zusammenhalt sowie den „Spaß“. Negative Reaktionen ‚von außen‘ bekommt auch Herr Büchner für seine Weigerung, sich der hierarchischen Ordnung im Militärdienst zu beugen. Sein Festhalten an der Orientierung an nonkonformer ‚Selbstbestimmung‘, die er bei den ‚Bluesern‘ zur Entfaltung brachte, kann er aber mit anderen Wehrdienstleistenden kollektivieren. Von den Peers bekommt er hierfür also durchaus positive soziale Bestätigung, in der sich das habituell Verbindende ausdrückt. Diese Haltung macht ihn jedoch auch zum politischen Gegner des Staats. Die negative institutionelle Bestätigung tut

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

der neuen Politisierung von Herrn Büchners Praxis also keinen Abbruch; vielmehr scheint es zuweilen auf, dass diese sich dadurch noch verstärkt – so wird er mindestens zu gleichen Teilen als Gegner des Staates gelabelt wie er sich selbst als solcher wahrnimmt. Herr Waldorfers Politisierung nimmt in der Hauptsache durch ein politisches Thema und dessen öffentliche Diskussion an Fahrt auf: die „Notstandsgesetze“. Soziale Bestätigung spielt auch in seinem Fall eine Rolle, bei ihm auch in positiv-verstärkender Form, da er für seine theoretischen Auseinandersetzungen mit politischen Themen, die im Kontext dieser neuen Bewegungen entstehen, schulische Anerkennung bekommt.54

5.3.4 Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten Nachdem die jugendlichen Akteur*innen in den vorangegangenen beiden Phasen kollektive Anschlüsse gefunden haben, deren Praxis alte Handlungsvollzüge ablösten, und sie in diesen Kontexten neue, politisierte Orientierungen ausgebildet haben, die unmittelbar eine hohe Orientierungsqualität erhielten, verstetigen sie in der Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten die für den Bildungsprozess relevanten Handlungspraktiken. An diesem Punkt des Bildungsprozesses bestätigt sich, dass die zuvor im Kontext der Dynamisierung des Habitus entstandenen neuen Orientierungen derart umfassenden Charakter haben, dass sie den Status übergreifender Lebensorientierungen bekommen und von einer Transformation des Habitus gesprochen werden kann. Ein paar Jahre nach der Gründung der ersten politischen Gruppe zieht Frau Weber relativ spontan und mit nur einem Auto voll Habseligkeiten von Memmingen nach Berlin. Sie ist mittlerweile derart in die autonome Bewegung eingebettet, dass sie in diesem Kontext überregionale Kontakte pflegt, so ist sie beispielsweise mit einem Berliner Hausbesetzer liiert. Ihr Umzug weist orientierungsmäßig also mehr Kontinuitäten als Brüche auf. In Berlin-Friedrichshain

54Momente

von sozialer Bestätigung der neuen Praxis und Orientierung – in positiv, aber teils auch in negativ verstärkender Form – fanden sich bereits in der vorangegangenen Phase und werden auch in der Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten eine maßgebliche Rolle spielen. Ich möchte deshalb hier anmerken, dass Formen von sozialer Bestätigung für die Bildungsprozesse relevant sind, diese aber als eine Komponente des Bildungsprozesses benennen, der kein fester ‚Ort‘ zukommt, im Sinne dessen, dass die exklusiv mit einer Phase verknüpft wäre.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

333

führt sie dann auch die im Herkunftsort begonnene Orientierung und Handlungspraxis einer politisierten Negation fort. War es in Memmingen noch vorwiegend die Polizei, die als Abgrenzungsfolie nach außen diente, so kommen nun „Faschos“ hinzu (Z. 162–170): „einundneunzig bin ich nach Berlin gezogen. genau. das war noch die Zeit wo noch die ganzen die ganzen ähm Straßenschilder im Osten zugesprüht warn, //mhm// noch von dieser Anfangszeit. das war ja kurz nach der Mainzerräumung. ((seufzt)) joa. da war ganz schön was los. viele Demos (5) viele (1) viele (.) Faschos im Kiez im irgendwelcher Alarm. (.) Überfälle, und so.“

Frau Webers „Anfangszeit“ in Berlin ist von den Nachwehen der „Mainzerräumung“, der Räumung eines besetzten Hauses in Berlin-Friedrichshain, geprägt. Die Hausbesetzer*innen-Bewegung dieser Zeit erinnert sie als sehr aktiv, es wurden „viele Demos“ organisiert. Doch neben diesen politischen Aktionen, die sich auf die öffentliche Artikulierung einer politischen Meinung richten, spielen in Frau Webers Schilderung auch die „viele[n] (1) viele[n] (.) Faschos im Kiez“ eine gewichtige Rolle. Im Milieu der Hausbesetzer*innen wird „Alarm“ geschlagen, wenn Rechtsextreme in der Gegend gesichtet werden. Es entsteht der Eindruck eines Kriegs zwischen Linken und Rechten. Frau Weber gibt an, zu dieser „Zeit, […] immer ähm Gas oder so in der Tasche“ gehabt zu haben, „weil […] es war immer klar du kannst jederzeit nem Fascho begegnen“ (176 ff.). Des Weiteren habe es von rechter Seite auch Angriffe auf die besetzten Häuser gegeben (vgl. Z. 182 f.). Es überwiegt in der Rückschau jedoch nicht die Angst, sondern ein positives Resümee des Zusammenhalts der Bewohner*innen und Unterstützer*innen der besetzten Häuser (von denen Frau Weber selbst innerhalb von vier Jahren zwei bewohnte). Die Abgrenzung nach außen stärkt den Zusammenhang nach innen – wie dies schon über ihre Memminger Zeit in Bezug auf die Auseinandersetzungen mit der Polizei anklang. Sowohl die Kämpfe mit „Bullen“ als auch mit den Rechtsextremen führen zu Frau Webers Bewertung dieser Phase als „hochpolitische Zeit“ (Z. 189–195): „und die Liebig das war auch auf jeden Fall viel (.) viel ähm (2) viel Spaß viel Alkohol auch viel viel Drogen haben wir damals auch konsumiert. aber es war auch immer im Prinzip wars ne hochpolitische Zeit. fande ich so ne //mhm// war dann irgendwie Bullen ritten wieder ein wegen irgendwelchen Graspflanzen auf dem Dach. oder es gab nachts Alarm, weil direkt vorne an der Frankfurter wurden Faschos gesichtet, und alle mussten los oder ich mein jeden dritten Tag irgendwo ne Demo und irgendwie, (s hat) irgendwie (.) so also von dem Sinn eigentlich sone hochpolitische Zeit, aber es war halt auch (1) Sturm-und-Drang-Zeit. Hormonmäßig irgendwie also es war so beides.“

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Die sich hier dokumentierende Praxis vollzieht sich vor dem Hintergrund der Abgrenzung von erklärten Gegnern – Neonazis und der Polizei. Die kontrakulturelle Orientierung, die Frau Webers jugendkulturelle Peergroup im Heimatort von Anfang an den Tag legte, findet hier (repräsentiert anhand des Drogenkonsums) eine Fortführung und Intensivierung und wird auch hier, wie schon in Frau Webers erster politischen Gruppe, weiter politisiert. Frau Weber selbst fasst den Prozess der Intensivierung und Politisierung ihrer Orientierung in der Negation an anderer Stelle des Interviews folgendermaßen: „[J]ede Demo die de mitmachst hat dich ja mehr noch, hat dich ja immer weiter weg gebracht von denen“ (Z. 825 f.) – von all jenen also, von denen sich die Bewegung der Autonomen abgrenzte. Der Modus Operandi, mit dem hier Gemeinschaft inszeniert wird, beinhaltet neben der gemeinsam geteilten Praxis des Feierns zudem auch eine (negativ verstärkende) soziale Bestätigung anhand der Auseinandersetzungen mit den kollektiv und in politischer Hinsicht abgelehnten Rechtsextremen und der Polizei. Gerade (wenn auch nicht ausschließlich) in diesen regelmäßig aufgeführten, kollektiven Negationen liegt die Politisierbarkeit der eigenen Praxis, da hier mit anderen gesellschaftlichen Gruppen bzw. staatlichen Organen um die Umsetzbarkeit von gesellschaftlichen Geltungsansprüchen und die Deutungsmacht gerungen wird. Mit dem Verweis auf die „Sturm-und-Drang-Zeit“ misst Frau Weber selbst der Handlungspraxis dieses Milieus eine Adoleszenzspezifik bei – und in der Tat scheinen hier Momente aus einer noch früheren Zeit auf, mutet das Geschilderte doch u. a. ähnlich wie Frau Webers positiv erinnerte biografische Erfahrung des unbeaufsichtigten Kinderspiels an. Doch lässt Frau Weber gleichzeitig auch ­keinen Zweifel daran, dass sie die geschilderte Praxis – auch noch aus heutiger Sicht – als Ausdruck einer politischen Orientierung sieht. Nach der Trennung von ihrem damaligen Freund besetzt Anja Weber mit anderen Frauen zusammen „das Vorderhaus […] von dem besetzten Hinterhaus“ (Z. 202). In dem Spruch „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“ (Z. 205), den die Besetzerinnen an der Hausfassade aufhängen, dokumentiert sich abermals die Mischung eines sich von Konventionen abgrenzenden Leben, das zugleich mit einem politischen Geltungsanspruch verbunden wird und im Kontext der sozialen Protestbewegung steht. In der folgenden Passage, in der es um die Zeit unmittelbar nach ihrer Besetzung des Vorderhauses geht, dokumentiert sich abermals die hohe Bedeutung des politisierten ‚Aktionismus‘ und der politisierten Inszenierung von Gemeinschaft in Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen (Z. 206–230):

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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„das war super //@(.)@// vierundzwanzig Stunden Wache halten. hab in der Zeit, das war super. wir sind, wir sind manchmal in die Liebig und dann so (.) Flugblätter zu verteilen und was abzumachen. sind dann da immer eingeschlafen wenn wir irgendwo auf nem Sofa lagen, also @mach mal fünf Minuten die Augen zu@. wir ham ich glaube wir ham. ich glaube das höchste der Gefühle war so immer mal am äh Stück vier Stunden schlafen oder so. dann hattest du wieder Dienst musstest du wieder aufn Balkon und raus und konntest ja jeden Tag geräumt werden und das aller Beste war aber, dass das Hinterhaus uns auch nicht leiden konnte, //ahm// die wollten uns nämlich auch raus haben. und dann haben die irgendwann haben die nämlich auch mit der Flex dann auch und die (Barri) wollten die (.) ähm also (1) ähm wie sagt man? jetzt hab ich ne Wortfindungsstörung. also zerstören. //@ aufbrechen@.// @aufbrechen, genau, genau. stand da echt mit ner Flex@ und hat geflext. //Die vom Hinterhaus?// Mhm. eine also der der der der pädophilie, Chef vom Hinterhaus irgendwie mit dem wir dann natürlich überhaupt nicht konnten, versuchte unsere Flex äh unsere Tür aufzuflexen. eine ist dann übers Dach runter. hat ihn versucht aufzuhalten. dann gabs en totales Tumult. wir ham über Walkietalkie dann in der Liebig dann Bescheid gesagt. völlig hysterisch, wir werden geräumt vom Hinterhaus. kam irgendwie. ich hab sie dann gesehen stand auf dem Balkon ne und ne riesen Gruppe kam dann irgendwie angerannt. es war ja damals total geil. ne du hast Alarm geschlagen und es kam sofort, ne das war echt so diese diese hochsensible Zeit. irgendwie wenn jemand angegriffen wurde warn sofort alle da. war irgendwie echt cool.“

Der bereits herausgearbeitete Modus Operandi der Vergemeinschaftung, inneren Zusammenhalt über äußere Feinde zu erreichen, dokumentiert sich hier noch einmal in besonders markanter Weise. Die drohende Räumung durch die Polizei, welche ein „vierundzwanzig Stunden Wache“-Halten erforderte, wie auch die handfesten Auseinandersetzungen mit den Besetzer*innen des „Hinterhaus[es]“, welche Frau Weber kurz darauf sogar als „Krieg“ (Z. 232) betitelt, finden in ihrer Schilderung eine positive Bewertung („super“, „das aller Beste“). Dies verwundert nur vor dem Hintergrund nicht, dass Frau Weber anlässlich dieser äußeren Bedrohung einen sozialen Zusammenhalt in Teilen der ‚Szene‘ erfuhr, den sie positiv bewertet. Die positiv verstärkende und konjunktiv wirkende soziale Bestätigung ihrer neuen Orientierung innerhalb des eigenen Milieus erfährt hier also eine Verstetigung. Die Inhalte dieser Praxis treten hinter das Gemeinschaftserlebnis zurück, so dokumentiert sich in ihrer Erzählstruktur vor allem eine hohe Relevanz der Sozialbeziehungen. Es zeigt sich hier deutlich der kollektive soziale Zusammenhalt (den Anja Weber in ihrer späteren Kindheit vermisste). Doch wird die Praxis von ihr und den anderen Mitgliedern des Milieus zugleich als politische begriffen. Im Hausbesetzer*innen-Milieu Berlins findet die kollektive, politisierte Praxis von Frau Webers erster politischer Gruppe aus dem Heimatort also eine

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Fortführung, die zudem dahin gehend, dass sie nun alle Lebensbereiche umfasst, als Intensivierung bezeichnet werden kann. Die sich anfänglich nur gegen sogenannte „Spießer“ (Z. 80) richtende Orientierung hat Frau Weber mittlerweile in ein Milieu geführt, in dem die Negation nicht nur auf weitere Gruppen – „Faschos“ (Z. 169), „Bullen“ (Z. 192) und „das Hinterhaus“ (Z. 213) – ausgeweitet wurde, sondern auch alle anderen Dimensionen ihres Lebens von der neuen Orientierung betroffen sind. Alle relevanten Beziehungen stammen nun aus diesem Milieu – Frau Weber spricht an anderer Stelle auch von der Wohngruppe als „Wahlfamilie“ (Z. 665) –, ebenso wie die Berufsbiografie maßgeblich von den kollektiven Orientierungen der ‚Szene‘ geprägt sind. So hat Anja Weber berufsbiografische Planungen zu diesem Zeitpunkt komplett suspendiert. Dies war ihr überhaupt nur möglich, da sie in diesem Milieu über ein reguläres Erwerbsleben nicht nachdenken musste, wie sie andernorts angibt, da „man […] ja nicht viel Geld in den besetzten Häusern“ benötigte und „keine Miete gezahlt“ (Z. 354 f.) habe. Ihre neue Handlungspraxis spielt sich zur Gänze im linksradikalen bzw. autonomen [sic!] Milieu ab, dessen kollektive Orientierung Frau Weber am Ende des Interviews folgendermaßen zusammenfasst (Z. 850–853): „[W]ir brauchen keine Familien mehr, (.) so also keine Blutsverwandten in dem Sinn, sondern wir suchen uns unsre Familien selbst, und wir wir arbeiten in Kollektiven, ne, und (.) wir schaffen uns alles selbst“. Auch bei Frau Kubitschek ist die berufsbiografische Planung in den frühen 1990er-Jahren nach ihrem Umzug nach Hamburg und vor dem Hintergrund ihrer Festigung der sozialen Einbindung ins linksautonome Hausbesetzer*innen-Milieu nachrangig. Nach der Schulzeit und einer längeren Auszeit des Reisens und Jobbens verschlägt es sie in Hamburg in ein ganz ähnliches Milieu wie jenes von Frau Weber. Im Gegensatz zu Frau Weber studiert Frau Kubitschek zwar und findet nicht zuletzt auch im universitären Kontext Anschlussmöglichkeiten für ihre politische Orientierung, doch habe es hier „keinen großen Druck“ gegeben, das Studium in berufsbiografischer Hinsicht zu verfolgen. Vielmehr diente es der Intensivierung der kollektiven, politisierten Orientierung und Handlungspraxis, jedenfalls waren ihr die im Studium zu erwerbenden „Scheine“ „auch ein bisschen egal“.55 Von ihrem Start in Hamburg erzählt Frau Kubitschek Folgendes (Z. 182–202): „und ähm, hab dann aber relativ schnell äh war ja dann Anfang der Neunziger auch alles noch relativ (.) ä::h, wie soll ich sagen ähm (2) also wenn du irgendwie 55Am

Rande sei hier bemerkt, dass Frau Kubitschek diesen Umstand als Spezifik der damaligen Zeit interpretiert.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

337

anti- antirassistisch oder antifaschistisch interessiert und feministisch äh äh geprägt warst. dann hatteste relat- also es ging ruckizucki in in ner angefangen zu studieren dann haben wir sowieso erstmal die halbe Uni besetzt, weil es aus- @es gab immer Gründe@ @(.)@ dann hab ich bei meiner Freundin Marie unterm Hochbett gewohnt. die hatten glaube ich gerade in der Hafenstraße n Haus besetzt. und natürlich gabs ne Frauen-Lesben-Etage, so und dann war (.) der Anknüpfungspunkt // ja// natürlich sofort da ich hab dann auch eigentlich zwei Jahre lang Pflichtseminare besucht und auch mal irgendwelche Scheine gemacht aber frag mich nicht was es war es war mir eigentlich (1) auch ein bisschen egal. und es ging damals auch noch. muss man mal ganz ehrlich sagen //mhm// also das studieren also man konnte damals wirklich noch leben neben studie-. also es war nicht so wirklich (3) mh es gab keinen großen Druck. Ich drücks drücks mal so aus. und es war aber auch ne ne ganz ne starke Politisierung in in Teilen von unserer ähm Professorenschaft. weil ich weiß auch noch wir hatten dann ähm °ich meine, es war dann nach der Räumung der Mainzer in Berlin schon.° (1) das war ja so oberkrass alles. und wir hatten dann so aus Solidarität son äh äh Profs mit in die Flora und in die (Berger) und ich weiß nicht wo, und wir haben da unsere Seminare abgehalten.“

Mit ihrer politischen Orientierung bieten sich für die junge Frau Kubitschek auch in Hamburg vielfältige Anschlussmöglichkeiten: „[R]uckizucki“ ist sie auch hier ins linksautonome Milieu integriert, wo die verschiedenen inhaltlichen Bereiche linker Politik ineinander überzugehen scheinen. Frau Kubitschek fasst die im Milieu dominante Stimmung lachend mit den Worten zusammen, es habe „immer Gründe“ (respektive für Protest) gegeben.56 Auch für Frau Kubitscheks Fortführung und Intensivierung ihrer politisierten Praxis kann eine gemeinschaftsstiftende, politisierte Negation bestimmter politischer Orientierungen konstatiert werden, wie sie schon für Frau Kubitscheks erste politische Anschlüsse u. a. an die Anti-Atomkraft-Bewegung herausgearbeitet wurde. Die politisierte Negation findet so in der neuen Stadt und im Kontext neuer Anschlüsse eine Fortführung und erstreckt sich über alle Lebensbereiche. Ähnlich wie bei Frau Weber steht die politisierte Praxis in dieser Phase der Fortführung bzw. Intensivierung der neuen Orientierung und Handlungspraxis derart im Vordergrund, dass das gesamte Leben sich im Kontext der Strukturen des Bewegungsmilieus abspielen. Hier findet eine soziale Festigung der ausbildeten Orientierung am ‚politisierten Dagegen‘ statt, diese erreicht eine Wirkungsbreite, die sich nicht auf politische Aktionen reduziert, sondern mehrere Lebensbereiche umfasst und so für den Habitus zentral wird. Die in der Folge der anfänglichen D ­ ynamisierung

56Dass

hier auch der zeitspezifische Kontext eine Rolle spielt, legen die Sympathien der „Professorenschaft“ mit den kollektiven Orientierungen des Milieus, in dem sich Frau Kubitschek bewegt, nahe.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

ihres habituellen Gefüges entstandene neue Orientierung bekommt nun auch Relevanz für alle privaten Beziehungen sowie für berufsbiografische Planungen; letztere werden nicht nur nachrangig, sondern das Studium selbst kann mit den kollektiven Orientierungen des linksautonomen Milieus verbunden werden: So werden beispielsweise „Seminare“ in besetzte Häuser wie „die Flora und in die (Berger)“ verlegt. Neben der Relevanz der neuen Orientierung für vielfältige Erfahrungsdimensionen kann hier also zu einem gewissen Grad ihre institutionelle Anerkennung und Bestätigung (durch einzelne Vertreter*innen der Universität) konstatiert werden. Ganz im Gegensatz zu Frau Weber und Frau Kubitschek, bei denen die Fortführung der neuen Orientierung sich als Ausweitung kollektiver Praxis gestaltet, kommt der junge Herr Büchner an einen Punkt, an dem er seine neue Orientierung nicht mehr vergemeinschaften kann. Nach einer kurzen Einzelhaft am Ende des Militärdiensts wieder in Freiheit angelangt, setzt sich Thomas Büchners schlechte „Gemütslage“ (Z. 226), die bereits vor dem Wehrdienst aufgrund des Wegzugs der guten Freunde in den Westen begonnen hatte, fort. Weitere Freunde haben die DDR verlassen und er fühlt sich sozial desintegriert. Hinter die Politisierung seiner (ursprünglich hedonistischen) Orientierung kann er nun nicht mehr zurück. Eine Passung mit dem System der DDR herzustellen, vermag er nach den Erfahrungen im Militär nun überhaupt nicht mehr, seine Distanz zum Staat verstärkt sich. Um der staatlichen Macht, der er unterlegen ist und zu der er nun in Opposition steht, zu entgehen, beschließt er, die DDR zu verlassen. Insofern gestaltet sich bei Herrn Büchner die Fortsetzung seiner neuen Orientierung dergestalt, dass er in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen will, wo er die Orientierung an einem hedonistisch-selbstbestimmten Leben jenseits der Norm wieder ungestört ausleben zu können glaubt.57 Nachdem er sich in letzter Sekunde gegen die Inanspruchnahme von Fluchthilfe entschieden hat, treiben ihm die „Freunde“ (Z. 616), „ehemalige DDR-Bürger, die diese Fluchthilfe organisierten“ (Z. 618) „Claire“ (Z. 621) auf, eine junge BRD-Bürgerin von achtzehn Jahren, die bereit ist, ihn zu heiraten. Während Herr Büchner nun zwar in der DDR abgesehen von seiner Mutter weitgehend sozial desintegriert war, dokumentiert sich hier zugleich, dass er weiterhin auf soziale

57Die

Besonderheit der Politisierung besteht bei Herrn Büchner darin, dass er prinzipiell weiterhin hedonistisch orientiert ist und nur dann, wenn er dies nicht ungestört (jenseits der Norm) ausleben kann, sondern staatlicherseits daran gehindert wird und sich und andere in seiner/ihrer Menschlichkeit bedroht sieht, in die die Opposition, das heißt gegen die Norm, wechselt.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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Unterstützung – und das bedeutet auch soziale Bestätigung seiner Orientierung – zählen konnte, nun durch Freunde, die jetzt im Westen lebten. Von nun an hat Herr Büchner einmal monatlich einen Termin bei der Staatssicherheit. Da Claires Eltern ihr nicht die nötigen Papiere aushändigen, wird der Ausreiseantrag abgelehnt, was Herrn Büchner jedoch nicht daran hindert, weiterhin regelmäßig bei seinem Sachbearbeiter vorstellig zu werden (Z. 722–738): „haben diesen Antrag abgelehnt, und ich bin einfach stoisch einfach weiter jeden Mi- Dienstag dahingegangen zum Tag, wo ich einfach, (.) in der Vergangenheit immer mein Sprechtermin war, sacht=er, was wollen sie eigentlich, sie haben gar keinen Termin, und ich ach, ich wollte mich einfach mal wieder in Erinnerung bringen, einfach wirklich dickfellig, und immer wieder sagte er, ja, ihr Antrag- ich kann ihnen weiter nichts sagen, ihr Antrag ist abgelehnt; das zog sich dann so ungefähr drei vier Monate hin, //˚@(.)@˚// und ich war am Arbeiten, war Feierabend, krieg einen Anruf, ich soll sofort reinkommen, ich soll mich bei der Staatssicherheit melden; (2) bin dahin gefahren, ich sag, wat wollen se denn? ((genervt)), ich bin am Arbeiten @(2)@ @das ist doch, das ist voll blödsinnige Antwort@, sacht, setzen se sich dahin, wie gesagt in der dritten Person hat der Mann mit mir gesprochen; und sagt, und der fing dann so kryptisch an zu reden, und sagt er, wollen sie immer noch dorthin wo das Wolfsgesetz herrscht? ich sag, hä?, (2) um was gehts denn?, na wollen sie immer noch nach West-Berlin zu ihrer Frau, (.) ja, (1) dann setzen se sich jetzt hin, dann machen wa jetzt die Papiere fertig; ich- ich- ich- ich glaube, ich war, ich glaube ich war nicht mal überrascht, ich war völlig aus dem, °der hat mi da° komplett, kalt erwischt so;“

Herr Büchner lässt sich von der Ablehnung seines Ausreiseantrags scheinbar nicht beeindrucken und bewegt sich wieder, wie schon in anderen Punkten gesehen, jenseits des Erwarteten. Er erscheint hartnäckig weiterhin regalmäßig – jetzt oder sogar wöchentlich, „jeden […] Dienstag“ – bei der Staatssicherheit. Mit diesem Vorgehen befindet er sich jenseits dessen, womit der Staat umgehen kann.58 Nach mehreren „Monate[n]“ – oder sogar „über ein[em] Jahr“ (Z. 643), wie er an anderer Stelle angibt – wird sein Antrag schließlich doch genehmigt. (In gewisser Weise zollt ihm hier sogar der erklärte Gegner, die „Staatssicherheit“, letztlich eine positiv verstärkende soziale Bestätigung seiner neuen Orientierung.) Herr Büchners Fortsetzung und Intensivierung seiner Orientierung besteht hier darin, dass er sich als Individuum jenseits der institutionellen Erwartungen bewegt und durch Beharrlichkeit gegen die institutionellen Ablaufmuster des 58Im

Gegensatz zum Militärdienst, wo er im Kollektiv der Peergroup etwas erreichte, indem er sich gegen das Gegebene stellt, kann er in dieser Situation (nun alleine und auf den guten Willen des Sachbearbeiters angewiesen) nur jenseits der Erwarteten und nicht im Dagegen etwas erreichen.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Staates bestehen kann und ausreisen darf. Dass er unter diesen sozial in vielerlei Hinsicht isolierten Bedingungen weiter an der neuen Orientierung festhält, unterstreicht den Eindruck, dass diese eine biografische Bedeutsamkeit erlangt hat, die Thomas Büchners Selbst- und Weltverhältnis in seiner Gesamtheit umfasst und vielfältige Dimensionen seines Habitus betrifft. Bei Frau Richter besteht die Fortführung und Intensivierung der neuen, politisierten Gruppenpraxis u. a. in einer Überführung ihrer neuen Orientierung und Praxis an die Schule. Die Internatsschüler*innen wollen ihre neu ausgebildeten Gestaltungsansprüche dort umsetzen und treffen auf kontingente Bedingungen (Z. 150–166): „Und ich glaub das, also den Schwung sozusagen ham wir dann mitgenommen und ham einfach in der Schule dann auch ja wir wollen auch unsern eigenen Raum und @(.)@ wir wollen ne Schülerzeitung machen und ähm wir und sind dann so halt irgendwie an unsre Lehrer und Erzieher rangetreten und, was wollten wir noch, ne Gitarre wollten wir noch und ne Videokamera wollten wir auch ausleihen @also so ganz viele Ideen@ und das Nette war halt, dass die uns dann ähm relativ bereitwillig warn uns da auch zu unterstützen mit dem was halt möglich war. //mhm// Also die konnten jetzt auch nich zaubern, aber irgendwie j:a und dann durften wir halt den Schulkopierer benutzen irgendwie und irgendwie nen Raum, weils Platz gab durften wir, also war dann auch okay irgendwie, dass wir einen Raum gekricht ham und (.) und das war dann quasi so gleich die Anwendung von @dem@ von dem, was wir da gelernt ham einfach gleich (.) ja selber Räume aufzumachen und zu gestalten und h::m (2) ja und dann ((stockend)) ja gabs so Sachen wie okay dann muss man nen Klassensprecher wählen. Und dann wurd ich natürlich Klassensprecher, weil ich immer so frech war @(.)@ und, und des war aber quasi in so ner Atmosphäre w::o (.) also was glaub ich schon wichtig war ist, ist dass das quasi auf ähm Gut=Gutwilligkeit gestoßen is bei den Andern. Also, dass die en Interesse daran hatten, dass wir auch irgendwie uns einbringen oder Unterricht mitgestalten oder was auch immer so. Und des war dan:n, hat natürlich motiviert dann auch en Haufen Dinge auszuprobieren so äh:m (2) genau“.

Frau Richter und andere Jugendliche des Internats wollen in der Folge ihrer Erfahrungen im besetzten Künstlerhaus nun auch an der Schule mehr selbst gestalten. Sie stellen Ansprüche, „wollten“ (Z. 151, 152, 153; Kursivsetzung S.T.) einen eigenen „Raum“ und Mittel, um sich filmerisch, journalistisch und musikalisch zu betätigen, und versuchen so, die neue Praxis des Ausdrucks eigener Gestaltungsansprüche (mit künstlerischen Mitteln) auch auf den schulischen Lebensbereich auszudehnen. So initiieren die Schüler*innen im Alltag ihrer Bildungsinstitution eine neue Praxis, welche in der Folge seitens der „Lehrer und Erzieher“ eine soziale Bewährung erfährt. Zwar wird dies von Frau Richter nicht explizit als politisch gekennzeichnet, doch letztlich etablieren sie Strukturen der

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Mitgestaltung und Mitbestimmung in ihrer Schule und setzen das um, was sie im politisch-aktionskünstlerischen Engagement erfahren haben. Die Schüler*innen machen Vorschläge, wie der immer noch vorhandene pädagogische Leerraum ausgestaltet werden kann, und das Internatspersonal unterstützt sie in der Umsetzung ihrer Ideen. Auch diese institutionelle Bestätigung der neuen Praxis ist bei Frau Richter also dadurch begünstigt, dass das Internat sich immer noch im gesellschaftlichen ‚Dazwischen‘ befindet und hier eine Offenheit dafür entstanden ist, dieses Dazwischen neu zu füllen. Die neue, durchaus politisierte Züge tragende Handlungspraxis der Jugendlichen trifft so auf kontingente gesellschaftliche Bedingungen, die sich auf der Ebene der Schule niederschlagen. Die positiv gelagerte soziale Bestätigung und Anerkennung seitens der Institution hält Frau Richter für „wichtig“, weil sie sich durch die „Gutwilligkeit“ in ihrer Herangehensweise, „en Haufen Dinge auszuprobieren“, bestärkt sieht, also die begonnene Praxis zu vertiefen. Das Neue dieser Handlungspraxis wird im Rahmen des Internats weiter erkundet und bestätigt, es erfährt also eine Fortsetzung und Intensivierung in einem anderen Kontext. Zudem gestaltet sich die Intensivierung der politisierten Praxis bei der jungen Tanja Richter auch in einer reflexiven Form. Ihr neu entfachtes lokalpolitisches Interesse an Themen des Sozialraumes kann sie im Anschluss an eine „Pressekonferenz“, die sie mit ihren beiden neuen Freunden aus dem besetzten Haus besucht, vertiefen. Dort wird ein Buch über die Geschichte ihres Internatsgebäudes präsentiert, das Tanja Richter im Anschluss sogleich liest (Z. 174 ff.): „dann hab ich halt dieses Buch gelesen, irgendwie mit dreizehn oder vierzehn, ich weiß nich genau, halt diese ganze wahnsinnige Geschichte von diesem Haus von also ((stockend)) s:o ja jüdischem Le=Leben […] //ja// Und des is natürlich (3) also ich glaub, wenn Du=wenn Du das dann irgendwie merkst, das ist so en Ort an dem Du Dich aufhältst und was da eigentlich da=dahintersteckt //ja// Also so, irgendwie keine Ahnung, erzähl ma die Geschichte über dieses Mietshaus hier, oder so ne @(.)@ dann kriegst Du plötzlich so nen ganz andern Bezug auch zu Geschichte halt //mhm// Und dann siehst Du halt den (2) das halt alles auch en bisschen anders und dann, also nimmst des viel mehr wahr, was da an Geschichte da is und //mhm// Naja, und des klar und dann natürlich auch so Sachen wie okay, also irgendwie also so Nazis find ich halt scheiße @(.)@ und dann muss man ja natürlich auch auf irgendwelche Demos gehen und die en bisschen stören oder so und (.) so gut es halt geht. Und (2) ja.“

Mittels eines Buchs über die Geschichte des Internatsgebäudes erschließt sich die jugendliche Frau Richter dessen bewegte und zutiefst politische Geschichte und bekommt so „nen ganz andern Bezug auch zu Geschichte“. Die im K ­ ollektiv

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der künstlerisch-aktionistischen Hausbesetzer*innen begonnene Politisierung des Sozialraums findet auf diesem Wege eine Intensivierung. Zwar ist die Lektüre des Buchs eine reflexive Praxis, die Tanja Richter alleine vollzieht, doch ist diese in die kollektive Praxis der Gruppe eingebettet – es waren wiederum die beiden Kunststudenten „Robert und Petter“ (Z. 169), durch die Tanja Richter auf die Pressekonferenz gelangte. In der Folge der Lektüre weitet Tanja Richter ihre Wahrnehmung der geschichtlichen Umstände auch andere Bereiche ihres Sozialraums aus, so gibt sie an, generell „des viel mehr wahr[genommen zu haben], was da an Geschichte da is“. Ihre Beschäftigung mit der Geschichte des Hauses erhält so eine politische Tragweite, die weit über den sozialweltlichen Aufhänger des Buches hinausgeht. Auch das Engagement gegen heutige „Nazis“ stellt sie in den Kontext dieser Reflexionen der politischen Vergangenheit des Sozialraums. Es zeigt sich hier, wie in der Folge von Tanja Richters anfänglich durch ‚Neugierde‘ motiviertem Eintritt in die „autonome organisierte künstlerische politische Welt“ (Z. 133) in diesem Kontext entstandene Orientierungen an der (politischen) Mitgestaltung des Sozialraumes immer weitere Kreise in ihren Lebensvollzügen zieht und mehrere Dimensionen des Habitus betrifft. Im Gegensatz zum Beispiel zu Frau Weber und Herrn Büchner, bei denen die soziale Bestätigung der neuen Orientierungen auch negativ gelagerter Art ist – sich aber dennoch orientierungsbestätigend auswirkt –, bekommt Frau Richter für ihre neue Orientierung an der Mitgestaltung und Politisierung des Sozialraumes auch institutionelle Anerkennung. Schon in der Schulzeit beginnt sie, „Bildungsarbeit“ (Z. 191) zu machen, so z. B., indem sie an einer „Initiative vom pädagogischen Landesinstitut“ (Z. 209 f.) teilnimmt und als Schülerin ihre eigenen Mitschüler*innen zum Thema „Mitbestimmung“ fortbildet. Im Kontext dieser Seminaraktivitäten sei es des Öfteren darum gegangen, Ausgrenzungen entgegenzuwirken, ihnen „ne andere Praxis auch entgegenzusetzen an Mitenander °sozusagen“ (Z. 197). Auch nach der Schulzeit kann Frau Richter diese Praxis der Vermittlung der Orientierung an andere im Rahmen eines freiwilligen sozialen Jahres in Polen fortführen. Frau Richter vertieft so anhand der Auseinandersetzung mit der Geschichte sowie im Zuge eigener Bildungsarbeit ihre im Kontext der autonomen Künstlergruppe gewonnene Orientierung, den Sozialraum aktiv politisch mitzugestalten statt „nur […] irgendwo zu sein“ (Z. 199). Dieses gestaltet sich nun derart umfassend und verschiedene Dimensionen ihres Lebens übergreifend, dass sich ein transformatierter Habitus abzeichnet. Auch bei Herrn Waldorfer findet die Fortführung der neuen Orientierung neben dem fortlaufenden Engagement in Teilen der 68er-Bewegung auch in Form einer reflexiven Vertiefung von politisch relevanten Thematiken statt. Alleine die

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Aufnahme des Studiums kann als Intensivierung seiner neuen Orientierungen gesehen werden, in deren Kontext dem steten (kritischen) Wissenserwerb eine gewichtige Rolle als Kontrapart zu den biografischen Orientierungen aus seiner Primärsozialisation zukommt. Doch auch die politisierte Form seiner neuen Orientierung an Authentizität und Selbstbestimmung, die er auch auf andere Menschen ausweitet und zum gesellschaftlichen Geltungsanspruch erhebt, erfährt in der Aufnahme des Studiums eine Fortführung und Intensivierung. Im Studienfach „Geschichte“ kann er die im schulischen Geschichtsunterricht und in der 68er-Bewegung begonnene Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Politik vertiefen. So setzt er sich im Studium dann u. a. mit der „autoritären Strukturierung der kaiserlichen männlichen Jugend“ auseinander, die später „dann übergegangen is äh zu den Nazis“ (Z. 172 ff.) und gibt an, dass ihn diese und ähnliche „inhaltliche Auseinandersetzungen […] mitgeprägt“ (Z. 175 f.) hätten. Ähnlich wie bei Frau Kubitschek, deren Seminare als politische ‚Solidaritätsaktion‘ in besetzte Häuser verlegt wurden, oder wie bei der institutionellen Anerkennung von Frau Richters neuer Orientierung, die zudem in Form eines Buches sozial gefestigt wird, ist auch bei Herrn Waldorfer eine institutionelle Bestätigung zu sehen. Für den im Kontext seiner neuen Orientierung zentralen Punkt der Kritik (z. B. an Autoritäten) findet er im Kontext der Universität institutionelle Möglichkeiten der Fortführung und Verstetigung. Auch grenzt er sich von den sogenannten „K-Gruppen“ (Z. 184) aufgrund ihrer „furchtbar autoritär[er]“ (Z. 190) Gruppenstruktur im Verlauf seines Studiums ab. Er verortet sich in der Folge bei den sogenannten „Spontis“ (Z. 192), der „undogmatischen Linken“ (ebd.). Sich „nicht einsperren lassen“ (Z. 195) – auch nicht von anderen linken Gruppen – ist weiterhin der Grundpfeiler seiner neuen Orientierung, für die er u. a. im „politische[n] Plenum“ (Z. 194) an der Universität Hamburg eine adäquate Form der Vergemeinschaftung findet. Diese neue, seinen Habitus nun in voller Breite prägende Orientierung, hat in allen Lebensbereichen Orientierungsrelevanz erhalten. So zieht Herr Waldorfer beispielsweise in ein Wohnprojekt ein, in dem eine Praxis der basisdemokratischen Verhandlung von Vorstellungen angewendet wird (vgl. Z. 305 ff.) und die Bewohner*innen sich z. B. gemeinsam der (antiautoritären) „Kinderladenbewegung“ (Z. 314) verschreiben und einen Kinderladen im eigenen Haus gründen. In seiner späteren Rolle als Lehrer wird er sich vehement gegen „das autoritäre[…] Gehabe“ (Z. 414 f.) seiner Kolleg*innen wehren, um hier nur einige Beispiele zu nennen. Aufgrund der vielfältigen Dimensionen, in denen die

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neue Orientierung biografisch bedeutsam wird, zeichnet sich hier deutlich ein transformierter Habitus ab.59 Auch bei Frau Bach und Frau Stier zeigt sich eine Fortsetzung und Intensivierung ihrer neu gewonnenen und politisierten Orientierungen. Im Kontext des ‚Linken Motoradclubs‘, dessen Praxis ebenso aus ‚gemeinsamem Schrauben‘ besteht wie darin, „Ordnerarbeiten […] bei Großveranstaltungen. also diese ganzen großen Demos“ (Z. 110) zu organisieren, findet Frau Bach über längere Zeit „ne gute Kombination aus politischer Arbeit“ (Z. 113) und „Spaß am Motorradfahren“ (ebd.). Mit anderen Aktivist*innen aus dem Kontext der ‚Antifa‘ teilt sie im Zusammenleben einen – auch als politisch definierten – Alltag, in dem die neue Orientierung umfassende Bedeutung erhält. Frau Stiers politische Praxis erhält mit dem „Radikalenerlass“ (Z. 55) einen Dämpfer, sie tritt „aus der SPD aus“ (Z. 75). Ihre politisierte Orientierung setzt sie nun – ähnlich wie jene Herrn Waldorfers – zunächst in Form einer reflexiven Vertiefung ihres politischen Interesses fort. Es steht für sie außer Frage, dass sie „natürlich Politik studieren [wollte]“ (Z. 46 f.). Zwar nahm sie aus strategischen Gründen auch „Germanistik“ (Z. 51) hinzu, „aber inhaltlich interessiert haben mich (.) ja so diese politischen Dinge“ (Z. 53 f.). Mit ihrem Politikstudium verband sie u. a. die Idee, in den „Entwicklungsdienst“ (Z. 47) zu gehen, da es ihr „immer um Weltveränderung“ (ebd.) gegangen sei. Später findet sie Anschluss an die sich im Kontext des „Nato-Doppelbeschluss“ (Z. 86) formierenden „Friedensbewegungen“ (Z. 87). In diesem Kontext engagiert sie sich zum Zeitpunkt des Interviews weiterhin sehr aktiv. Zusammenfassung In der Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten dokumentiert sich übergreifend, dass die Akteur*innen die neue Orientierung und die begonnene Praxis fortführen und intensivieren und sich zudem neue ‚Orte‘ und soziale Anschlüsse suchen, in denen sie mit ihren biografischen Erfahrungen und dem sich im dynamischen Prozess befindlichen Habitus andocken können. So ziehen sie in größere Städte und schließen sich dortigen Bewegungsmilieus an, tragen die neu entwickelten, politischen Orientierungen und Geltungsansprüche in eine Institution wie die Schule oder vertiefen sie in reflexiver Art und Weise anhand der Lektüre eines

59Der Bildungsprozess von Herrn Waldorfer wird in Kap. 7 noch einmal sehr ausführlich unter der besonderen Fragestellung nach der Art und Weise – des Inhalts, wenn man so will – seines transformierten Habitus betrachtet.

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Buches oder sogar der Aufnahme eines Studiengangs – letztere Praxis ist zwar eine, die die jeweiligen Akteur*innen alleine durchführen, doch steht auch diese Praxis klar im Kontext ihrer kollektiven Verortung durch die Akteur*innen. Verschiedenste ‚Orte‘ werden so zu Gelegenheitsstrukturen der Fortführung und Intensivierung der neuen, politisierten Orientierungen, ebenso wie verschiedene Formen der sozialen Bestätigung zur Verstetigung der Orientierung beitragen. Relevant sind hierbei sowohl solche, die die neuen Orientierungen anhand von positiven Rückmeldungen bestätigen als auch jene, die durch ihre negative Reaktion paradoxer Weise ebenso zu einer Bestätigung der neuen Orientierungen beitragen,60 welche sich im Zuge dieser Phase des Bildungsprozesses weiter festigen und ausdifferenzieren und zudem eine Orientierungsrelevanz für mehrere Dimensionen des Lebens gewinnen, sodass nun von einem transformierten Habitus gesprochen werden kann.

5.3.5 Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie Im Zuge eines Bildungsprozesses werden alte Handlungspraktiken und Orientierungen gestoppt und neue Orientierungen ausgebildet. Wenn diese an biografischer Bedeutung gewinnen und in mehreren Erfahrungsdimensionen orientierungsrelevant werden, zeichnet sich eine Transformation des Habitus ab. Diese kann schließlich als vollendet gelten, wenn die Akteur*innen vor dem Hintergrund dieser den transformierten Habitus konstituierenden neuen Orientierung(en) eine neue Perspektive auf ihre bisherige Biografie gewinnen und diese in neuer Form reflektieren. Narrationsanalytisch zeigt sich dies an theorielastigen Textsorten,61 mit denen der oder die Interviewte der eigenen Perspektive aus der Erzählzeit, d. h. zum Zeitpunkt des Interviews, Ausdruck gibt. Werden Handlungen und Gedanken, die in der erzählten Zeit gelagert sind, aus der Erzählzeit heraus reflektiert und zeigt sich dabei eine Diskrepanz, also ein anderer Modus Operandi der (gegenwärtigen) Interpretation als der in der Vergangenheit wirksame, so dokumentiert

60Letzteres

erklärt sich daraus, dass negative Reaktionen von sozialen Akteur*innen, die ihrerseits von den sich bildenden jugendlichen Akteur*innen abgelehnt werden, das Umgekehrte ihrer Intention hervorbringen können. 61Zur Textsortentrennung im Rahmen der Dokumentarischen Methode siehe Abschn. 4.2.1.2 und 4.2.2.2.

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sich hier eine Reinterpretation eigener Erfahrungen. Bezieht sich eine solche in umfassender Weise auf die Biografie insgesamt, so dokumentiert sich, dass ein Bildungsprozess stattgefunden hat, also eine Vollendung der mit der Dynamisierung des habituellen Gefüges begonnenen Transformation des (Primär-)Habitus zu konstatieren ist. In Bezug auf die von mir für dieses Kapitel interpretierten Fälle von adoleszenten Bildungsprozessen im Kontext sozialer Protestbewegungen liegt allerdings eine Schwierigkeit der Auswertung vor: Da in vier von sieben Interviews nach dem jugendlichen Bildungsprozess jeweils noch ein weiterer Bildungsprozess im Erwachsenenalter rekonstruiert werden konnte, wurden die gesuchten Reinterpretationen (als Ausdruck des ersten Bildungsprozesses) vom späteren Bildungsprozess überformt. Es ist zumindest methodisch schwierig und unwahrscheinlich, Reflexionen zu finden, aus denen die Orientierungen des/der Befragten zum Zeitpunkt nach dem ersten und vor dem zweiten Bildungsprozess ‚sprechen‘.62 So stellte es sich dann auch bei all jenen, die zu einem späteren Zeitpunkt einen weiteren Bildungsprozess durchlaufen haben, als schwierig heraus, eine solche Reinterpretation der eigenen Biografie aus der ‚post-adoleszenten‘ bzw. ‚prä-adulten (Bildungs-)Perspektive‘ zu finden. Nur bei denjenigen drei Interviewten, die keine zweite, an den ersten Bildungsprozess anschließende Transformation des Habitus aufweisen, fand ich die Reflexion von biografischen Erfahrungskomplexen, die für die jugendlichen Bildungsprozesse von Relevanz waren. Bei ihnen handelt es sich um Frau Richter, Herrn Waldorfer und Frau Stier, deren Form der Reinterpretation der eigenen Biografie ich im Folgenden vorstellen werde. Eine Reinterpretation der eigenen Biografie, die den Bildungsprozess in der Jugend abschließt, ist im Falle Frau Richters in Form einer retrospektiven Selbstvergewisserung der politischen Aspekte ihrer Kindheit und Jugend zu erkennen (Z. 33–55): „mit der sozialistischen Erziehung in der Schule, muss man noch dazu sagen, da gabs natürlich auch so was wie äh Pioniere und Fahnenappell und ähm wir gehen jetzt Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht besuchen und legen Blumen nieder und so //mhm// Und irgendwie wir fahren mal nach ähm nach ähm Sachsenhausen und gucken uns das KZ an und so. Also das war halt schon auch (.) alles en Thema halt, sozusagen. °Was ich° damals als Kind fand ich das joa es wars halt so. (.)“.

62Dies

könnten nur erzählte Reflexionen aus der betreffenden, biografischen Zeitspanne sein. Diese sind in einzelnen Interviews sicherlich zu finden, aber damit ist nicht in jedem Fall zu rechnen.

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Tanja Richter trägt hier erste Faktoren zusammen, die ihr Leben in einen politischen Kontext stellen. Zunächst einmal nennt sie hier Aspekte „der sozialistischen Erziehung“ am Internat. Der „Fahnenappell“, die Blumenniederlegungen an den Gräbern von Luxemburg und Liebknecht und „KZ“-Besuche haben sie in ihrer Kindheit nicht weiter berührt, sie stellen vielmehr die Normalität dar. Mit der Feststellung „das war halt schon auch (.) alles en Thema halt“ deutet sie an, dass diese Praktiken (oder Teile davon) jedoch heutzutage eine wie auch immer geartete Relevanz für sie haben. Sie stellt dem noch weitere „Einfluss(bilder)“ (Z. 47) gegenüber, welche für sie persönlich bedeutsamer waren, und erwähnt in diesem Zusammenhang, dass sie in Berlin-Prenzlauer Berg, wo das Internat war, „ja auch en stückweit mit dem mit dem ja jüdischen Leben konfrontiert“ gewesen sei. Zudem kommt sie auf die Atomreaktor-Katastrophe von Tschernobyl zu sprechen, von der sie als 8-Jährige über das Fernsehen erfuhr. „und dann hab ich mich irgendwann ma erinnert, dass des so was noch en Einfluss war als ich irgendwie noch relativ klein war, war so, dass ich im Fernsehen irgendwie diese (.) diese Tschernobyl? Sachen gesehen hab //mhm// Also daran konnt ich mich noch erinnern, dass man da irgendwie vor dem Fernseher saß und irgendwie ja hm is was passiert, also man versteht das also ich hab das nich wirklich verstanden //mhm// Was jetzt genau, aber irgendwie war das halt (.) hab ich das halt mitgekriegt sozusagen. (3) […] (.) Und das war dann später vielleicht auch so nen Anhaltspunkt zu sagen so ja. ok. hier Castor find ich doof. @(.)@ und irgendwie Atomkraft auch und ich fahr lieber, also ich fahr ich muss sowieso Fahrrad fahren, aber ich finds auch viel besser als Auto. Und naja @(.)@; so Sachen halt //mhm// Ähm. (2)“.

Zwar habe sie damals „nich wirklich verstanden“, was passiert sei, dennoch rechnet sie dem die Wichtigkeit zu, dass es ihre spätere ablehnende Haltung zur Atomkraft und die Bejahung von ökologischen Lösungen („Fahrrad fahren“) beeinflusst habe. Darauf, dass die Erfahrung von Tschernobyl eine erste Erfahrung mit einer gesellschaftspolitischen Thematik ist, an die sie retrospektiv anknüpft, um ihre Biografie als eine politische Biografie neu zu schreiben, verweist der Nebensatz „und dann hab ich mich irgendwann ma erinnert“. Hierin wird deutlich, dass bei Frau Richter eine Beschäftigung mit der eigenen Biografie stattgefunden hat und dass sie diese aus ihrem heutigen, transformierten und politisierten Habitus heraus, nach ihren politisch deutbaren Gehalten reinterpretiert. So versichert sie sich z. B in der Schilderung, wie sie die Wende wahrnahm, auch des ‚Unpolitisch-Seins‘ ihrer Eltern. Ihr Vater habe zwar kommunistische Schriften gelesen, wie ihres Erachtens jeder, der in der DDR auswuchs, und diese z.T. auch geschätzt, gleichzeitig sei er aber kein Gegner des Westens gewesen. Die Eltern hätten sich ihres Erachtens durch die DDR „so durchgewurschtelt“

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

(Z. 68) und „halt so dazwischen irgendwie“ (Z. 66) gestanden, insgesamt sei die Familie in der DDR „eigenlich […] zufrieden“ (Z. 69) gewesen – womit sie sich erklärt, warum sie von der „Vorwendestimmung“ nicht viel mitbekam (Z. 70–84): „Und deshalb hab ich jetzt so von der Vorwendestimmung (.) so richtig erstma nix mitgekriegt? Also so, ne, wo man jetzt, wenn das anders gewesen wär, dann hätte man vielleicht des schon gemerkt so //ja// Und so wars dann halt eher, okay, man sah dann halt irgendwie mit den Wahlen, ja des da war irgendwas los. Aber, ich war halt da war ich zwölf oder so. Also da, hm, das nimmt man halt so hin. @(.)@ denkt man sich noch nich so viel. Und dann, äh war halt die Situation, dass dann im (.) am vierten November war dann halt diese Großdemo in auf en Alex //mhm// da wurden wir dann alle freitags nachhause geschickt //Ach// also weil normalerweise ging die Schule bis samstags und da hat man dann gesagt, nee äh, ihr habt jetzt ma nen Tach mehr frei @(.)@ was denn irgendwie schon so Aha was is en da jetzt los @(.)@ Und dann hab ich des halt im Fernsehen gesehen? und dachte auch so (2) ja k=krass so, also die:se Stimmung wie einfach die Leute d:a gesacht ham ähm, was sie halt stört und so viel Leute halt da warn um zu protestieren. Also ohne, dass ich mich damit jetzt so hm (.) schon aktiv irgendwie in Verbindung setzen konnte. //ja// und dann war ja, die Woche später fiel ja dann schon die Mauer //mhm// Und des war dann ziemlich lustig, weil dann @(kamen meine Eltern)@ mit dem Trabi an und so @(.)@ hä wir fahren wir gehen jetzt nach West-Berlin @(.)@ und dann sind wir natürlich (.) ja, ma gucken gegangen wie alle andern auch und standen da in diesen Massen von Leuten. hm ja und das war sehr lustig. (.)“.

Sie reflektiert, dass sie die Ereignisse, die zur ‚Wende‘ führten, vielleicht bewusster erlebt hätte, wäre die Thematisierung der DDR in ihrer Familie – die sie vor dem Hintergrund dieser retrospektiven Reflexion des Einflusses der politischen Orientierungen ihrer Familie auf ihre eigene Wahrnehmung als politisch unengagiert schildert – eine andere gewesen. Was sie selbst betrifft, so habe Frau Richter als Kind die Fälschungen der Wahlergebnisse im Mai 1989 zwar mitbekommen, wenn sie auch nichts Genaueres verstanden habe („mit den Wahlen, ja des da war irgendwas los“). Sie äußert in Bezug auf ihr junges Alter die Theorie: Mit 12 Jahren nehme man „das […] halt so hin. @(.)@ denkt […] sich noch nich so viel“. Sie verdeutlicht hier bei sich selbst als Kind – was ja eigentlich als selbstverständlich für die Phase der Kindheit gelten kann – die Abwesenheit eines gesellschaftlichen Gestaltungsanspruches, welchen sie aber auch für ihre Eltern konstatiert. Gleichzeitig schildert Frau Richter, dass die vielen protestierenden Menschen kurz vor dem Mauerfall sie (in nicht genauer ausgeführter Weise) berührten: „ja k=krass so“. Erzählerisch scheint sie die Zuhörerin hier schon auf den Wendepunkt, ab dem sie dann die Dinge nicht mehr so hinnahm, vorzubereiten, welcher sich im Kontakt zu den Künstlern mit ihrer politisch-ästhetischen Praxis und in der dort gewonnenen Orientierung an dem Ausdruck eigener

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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gesellschaftspolitischer Gestaltungsansprüche, manifestiert. Hier zeigt sich, dass sie ihrer biografischen Narration einen deutlichen Vorher-Nachher-Spannungsbogen verleiht, welcher ihre Biografie entlang der Linie der Abwesenheit respektive des späteren Vorhandenseins gesellschaftspolitischer Gestaltungsansprüche in zwei unterschiedliche Abschnitte – vor und nach dem Transformationsprozess – einteilt und eine Reinterpretation der eigenen Biografie dokumentiert. Ähnlich wie Frau Richter vergewissert sich auch Herr Waldorfer der politischen Momente seiner Kindheitserlebnisse. Darüber hinaus analysiert er (quasi mit einer, wie er selbst es auch nennt, „sozialpsychologisch[en]“ (Z. 42) Analyseeinstellung) zudem, inwiefern einige seiner zentralen Kindheitserlebnisse mit seiner heutigen politischen Orientierung zusammenhängen.63 Dass ein solcher Zusammenhang zwischen seiner politischen Orientierung und den eigenen biografischen Erfahrungen aus der Kindheit besteht, die er als Berliner Nachkriegskind in Bayern mit einem Vater verbrachte, der Kriegsheimkehrer war und gewaltvoll gegen seine Familie vorging, steht für Herrn Waldorfer außer Frage. Irgendwann sei ihm (Z. 35–43): „aufgefallen, dass (.) wahrscheinlich das ganze Engagement was man einbringt, (.) äh unter anderem auch zu tun hat a um äh (.) diese Konflikte eben nich selber zu schüren, irgendwie sondern °äh ich äh° übertreib jetzt vielleicht mal um Konflikte (.) wenn man sie erkannt hat versuchen auszugleichen oder zu beseitigen, (.) und äh vor allem was dieses Machtkampf betrifft, äh gerade der Machtkamp- äh kampf gegenüber jemand den man ja als Kind besonders mag, zum Beispiel die Mutter. (.) dass man äh das=is vielleicht im Erwachsenenalter dann äh wenn man das mehr rational versucht aufzuarbeiten, äh plötzlich °äh° erkennt man sich wieder hier Südamerikareisen und so weiter ne? auf der Seite der unterdrückten Völker dann. man abstrahiert das (.) vielleicht. (.) wäre jetzt sozial-psychologisch vielleicht interessant sowas mal äh auch mal zu untersuchen. @(1)@“.

Herr Waldorfer erklärt sich hier seinen ureigenen Impuls für „das ganze [politische; S.T.] Engagement“ über eigene Gewalterfahrungen in der eigenen Familie. Er zieht eine Parallele zwischen der familiären Gewalt (hier als „Macht[…]kampf gegenüber jemand den man ja als Kind besonders mag, zum Beispiel die Mutter“ bezeichnet) und seiner späteren politischen Positionierung, „auf der Seite der

63Eigentlich

liest sich die gesamte biografische Erzählung Herrn Waldorfers als eine einzige Politisierung seiner biografischen Erfahrungen. Eine ausführliche Darlegung seiner eigenen Kindheitsreflexionen und deren Überprüfung auf ihre ‚Politizität‘ hin findet sich in Kap. 7.2.2.

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

unterdrückten Völker“ zu stehen. Dieser Modus Operandi der (Re-)Interpretation – Parallelen zwischen dem im Kleinen der Familie oder des Dorfs Erlebten und größeren, politischen Strukturen zu ziehen –, kann bei Herrn Waldorfer als typische Interpretationsfigur von Selbst und Welt gelten, zieht sie sich doch durch diverse Passagen seines biografischen Interviews.64 Wichtiger als die Art und Weise seiner Reinterpretation der eigenen Biografie ist an dieser Stelle indes der Umstand, dass sie stattfindet. Es dokumentiert sich so, dass Herr Waldorfer im Zuge des Bildungsprozesses eine relative Distanz zur biografischen Handlungspraxis der Kindheit und frühen Jugend erlangt hat, in deren Zuge er sein eigenes Leben im Lichte des neuen, politisierten Habitus neu reflektieren und – politisch – reinterpretieren kann. Frau Stiers Reinterpretation der eigenen Biografie gestaltet sich etwas anders als die soeben für Herrn Waldorfer und Frau Richter herausgearbeitete Selbstvergewisserung der vorrangig politischen Aspekte des eigenen Lebens. Sie legt hingegen den Fokus ihrer Reflexion auf die eigenen Beweggründe für das Engagement in sozialen Bewegungen, ohne dabei so sehr auf die Aspekte, die ihre Biografie politisch machen, einzugehen. So analysiert sie beispielsweise bereits in den ersten Sätzen des Interviews das Ziel, vom Dorf wegzukommen, als ein „Motiv“ (Z. 15) für ihr beginnendes Engagement; und es folgen etliche Passagen, in denen sie ihre ‚Motive‘ oder ihren „persönlichen Gewinn“ (Z. 413) thematisiert. Letzteren konkretisiert Frau Stier gegen Ende des Interviews auf Nachfrage des Interviewers hin und zählt diesbezüglich zunächst Aspekte wie die Bekanntschaft mit „interessante[n], spannende[n] Leuten“ (Z. 632 f.) und den Erwerb von Fähigkeiten wie etwa „Dinge gut und schnell zu organisieren“ (Z. 629) und „vor ner Gruppe [zu] reden“ (Z. 630) auf. Außerdem erwähnt sie „narzistische Anteile“ (Z. 644). Diese hielten sich zwar bei ihr selbst in Grenzen, dennoch führt sie hierzu – auch in Bezug auf sich selbst – Folgendes aus (Z. 650–658): „äh zum Thema Narzissmus gehört aber schon auch noch dieses ähm (2) ich bin ein bisschen anders als die andern und das gefällt mir, (.) //hmhm// ja? […] und ich gemerkt hab, ja es sind so ganz äh (2) ich bin ja gar nich so sehr anders. aber für meine Selbstdefinition war das schon wichtig. (4) und schon auch n Stück das Gefü:hl, ähm (6) wie soll ich das sagen auf der richtigen Seite, oder auf der guten Seite zu stehn, () wir sind nich in nem Western, wos äh (.) Gute und Böse gibt, (1) aber schon des Gefühl so auf der Seite der Menschen zu sein die (.) äh=denens nich so gut geht, (1) auf dieser Welt, ja. (.) des hab ich des hab ich auch davon. dieses Gefühl. (3)“.

64In Kap. 7 werde ich dafür argumentieren, dass sich u. a. in diesem Modus Operandi der Erfahrungsaufschichtung und der Selbst- und Weltinterpretation ein Habitus einer ‚politisierten Authentizität‘ dokumentiert.

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

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Frau Stier zählt zwei Formen ihres ‚persönlichen Gewinns‘ durch ihre Bewegungsbeteiligung auf: Erstens habe sie ihr die willkommene Möglichkeit geboten, sich von anderen zu distinguieren, „ein bisschen anders als die anderen“ zu sein. Zweitens könne sie sich so „auf der guten Seite“ wähnen. In der Art und Weise dieser Reflexion des eigenen, im Engagement befriedigten „kleine[n] Narzissmus“ (Z. 648) – wie Frau Stier das Thema kurz vor der oben zitierten Passage selbst betitelt – dokumentiert sich neben dem, was Frau Stier für ihren ‚Gewinn‘ hält – aber noch mehr: Zu den eigenen, jugendlichen Bestrebungen, sich von anderen abzuheben, geht sie aus heutiger Sicht auf Distanz. Zwar „war“ (Hervorhebung S.T.) dies in der Vergangenheit für ihre „Selbstdefinition“ von Bedeutung, doch habe sie später bemerkt, eigentlich doch „gar nich so sehr anders“ zu sein als die anderen. So stellt sie in ihrer biografischen Reflexion aus heutiger Sicht also durchaus eine ihrer für den damaligen Beginn des Bildungsprozesses relevanten Orientierungen in Frage. Hier deuten sich einerseits biografische Veränderungen an, die sich in den über 30 Jahren seit ihrem Bildungsprozess vollzogen haben, vor allem aber eine ausgeprägte Selbstreflexion, die auch vor der ‚Enttarnung‘ eigener Beweggründe nicht halt macht. Neben dieser – sozusagen aus ‚fortgeschrittener Erwachsenensicht‘ formulierten – Hinterfragung des für viele der jugendlichen Bildungsprozesse der vorliegenden Studie typischen Aspekts der Distinktion, reflektiert sich Frau Stier indes in Kontinuität zu ihrer politisierten Praxis und den damit einhergehenden moralischen Orientierungen. Das Bestreben, sich auf die „Seite der Menschen“ zu schlagen, die in irgendeiner Form benachteiligt sind, hat für sie bis heute ungebrochene Gültigkeit, wie sich an der Formulierung – nun im Präsens! – „des hab ich auch davon“ [Kursivsetzung S.T.] dokumentiert. Im Anschluss an die oben zitierte Passage reflektiert Frau Stier nach den ‚Gewinnen‘ nun auch die „Verlustseite“ (Z. 660) ihrer Bewegungsbiografie. In ähnlicher Form wie in ihren Äußerungen zu den ‚Motiven‘ lässt sie auch hier Raum für Kontingenzen, vergewissert sich dann aber doch der Richtigkeit des eingeschlagenen politischen Wegs (Z. 671–682): „und natürlich auch ähm (.) manchmal denk ich schon ja, wär ich bei den (.) Grünen, (.) gelandet, oder bei der SPD geblieben, dann hätt ich andere hm (.) Karrieren gemacht. ja? (.) also aus dieser Zeit (.) kenn ich halt auch noch @(.)@ ganz viele Leute die haben Karrieren gemacht. (1) und das weiß ich schon das liegt nicht unbedingt daran dass die irgendwie begabter qualifizierter oder sowas als ich (.) gewesen wärn. (.) manchmal eher im Gegenteil, (.) ja. (.) aber das is auch nich schlimm, also des is so (.) des hat sich halt so entwickelt, (.) und sone (.) Unangepasstheit, und Unabhängigkeit ist mir schon (1) also für mich persönlich auch was Wichtiges. also auch wenn das jetzt nix Radikales, oder Besonderes, aber des (.)

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5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

gibt son Teil in mir der will (.) äh der will da nich ja sagen; (.) ja? () (.) ja. ich will da meine (.) meine Autonomie bewahren. und nich zu Gunsten (.) einer Parteilinie, oder (.) um des lieben Friedens willen mal so die Klappe halten, das (.) das kann ich nich gut. (4)“.

Zwar klingt hier eine gewisse Wehmut an, dass „viele Leute“, die sie von damals kannte – respektive ihre ehemaligen Parteigenossinnen und -genossen – „Karrieren gemacht“ hätten, während ihr selbst dies nicht zuteil wurde. Doch stellt sie sodann ihre eigene Orientierung an „Unangepasstheit und Unabhängigkeit“ letztlich höher. Auch heute noch „will“ sie „da nicht ja sagen“ und bleibt, statt sich einer „Parteilinie“ zu beugen, lieber ‚autonom‘. Sie scheint also keinesfalls generell unzufrieden mit ihrer politischen Praxis in der Friedensbewegung als vielmehr mit der damit einhergehenden Konsequenz, dass ihr so die Berufspolitikerinnen-Laufbahn versagt blieb. Ähnlich wie im vorangegangenen Zitat wird hier deutlich, dass Frau Stier ihre eigene Entwicklung nicht als alternativlos betrachtet. Und dennoch kann diese Reinterpretation der eigenen Biografie als Dokument eines transformierten Habitus gelten, da sie letztlich – auch über 30 Jahre später – ihre im adoleszenten Bildungsprozess entwickelten Orientierungen bestätigt, wenn auch nicht, ohne über Kontingenzen nachzudenken. Dass Frau Stier hier – im Gegensatz zu den anderen beiden Interviewten – in der Reinterpretation der eigenen Biografie alternative biografische Entwicklungsmöglichkeiten thematisiert (um schließlich festzustellen, dass es dennoch gut ist, wie es ist), verweist m. E. nicht so sehr auf eine Abkehr von den im Bildungsprozess ausgebildeten Orientierungen als vielmehr auf die Verfasstheit des Habitus selbst, der Kontingenzen zulässt.65 Zusammenfassung Bei allen drei Interviewten, bei denen sich kein weiterer Bildungsprozess im Erwachsenenalter rekonstruieren ließ, ließen sich Passagen finden, in denen eine Reinterpretation der eigenen Biografie deutlich wird. Von der im Zuge des Bildungsprozesses neu gewonnenen Perspektive des transformierten Habitus aus, wird das eigene Leben in neuem Lichte betrachtet. Während sich dies bei Frau

65Ihre

Reflexion der Kontingenzen der eigenen Biografie zeugt sicherlich von einer gewissen Offenheit in Bezug auf die (Re-)Interpretation des eigenen Geworden-Seins. Bei dieser spezifischen Form der Reflexion ihrer eigenen Biografie ist die Frage danach, ob sich hier nicht eventuell doch eine Offenheit für weitergehende biografische Veränderungen abzeichnet, also nicht abwegig. Dass die Offenheit der Interpretation des eigenen Geworden-Seins, wie in der ersten Phase des adoleszenten Bildungsprozesses, mit

5.3  Die Phasen adoleszenter Bildungsprozesse …

353

Richter und Herrn Waldorfer derart gestaltet, dass sie die Aspekte ihres Lebens auf ihre Politizität hin prüfen, reflektiert Frau Stier ihre eigene Biografie quasi in umgekehrter Richtung: Sie prüft ihre eigene politische Orientierung auf ihre Verstrickung mit biografischen Aspekten hin. Anstatt sich derjenigen biografischen Erfahrungen zu vergewissern, die ihre eigene Politisierung als logische Konsequenz erscheinen lassen, reinterpretiert Frau Stier ihre eigene Biografie, indem sie deren Kontingenzen reflektiert und letztlich – wie die beiden anderen hier betrachteten Interviewten – zum Schluss kommt, dass sie biografisch dort ist, wo sie heute am besten hinpasst. In Begrifflichkeiten des Habitus ausgedrückt steht Frau Stiers transformierter Habitus in Passung mit dem (Bewegungs-)Milieu.

5.3.6 Zusammenfassung der Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Zuge der Einfindung in eine soziale Protestbewegung Zusammenfassend zeigt sich, dass Prozesse von transformativer Bildung im Jugendalter im Kontext sozialer Protestbewegungen oftmals bereits im sehr jungen Jugendalter von ca. 13 bis 16 Jahren beginnen. Alle die hier betrachteten jugendlichen Bildungsprozesse finden ihren Anfang im Kollektiv der Peergroup und werden – fast ausschließlich – kollektiv durchlaufen. Am Anfang dieser jugendlichen Bildungsprozesse steht eine Phase der unbestimmten Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation. Als unbestimmt kann diese Offenheit gelten, weil die jugendlichen Akteur*innen mit ihr keine reflektierten Zielvorstellungen verfolgen. Die Offenheit lässt sich jedoch in negativer Hinsicht näher bestimmen: Alle Jugendlichen zeigen eine unbestimmte Offenheit für neue soziale Anschlüsse und Praktiken, weil sie etwas anderes ablehnen. Während sich dies in einigen Fällen auf tradierte Herkunftsmilieus und/oder das Elternhaus bezieht, betrifft es in anderen Fällen eher das Milieu, in das sie (aufgrund von Umzügen) gelangen, das ihnen

einer erneuten Dynamisierung ihres habituellen Gefüges einhergeht, ist also nicht auszuschließen; allerdings auch nicht abschließend zu klären, da der zukünftige Prozessverlauf nicht abzusehen ist. Die Offenheit für die Reflexion von Kontingenzen der eigenen Biografie muss zudem die Konsolidierung des transformierten Habitus nicht schmälern, sie kann diese hingegen sogar untermauern. Denn – so möchte ich argumentieren –, nur wer größtenteils in Passung mit den eigenen Orientierungen und Handlungsvollzügen steht, kann sich Fragen nach den Kontingenzen des eigenen Seins stellen, ohne dabei in Zweifel zu geraten. Eben solche Zweifel sind bei Frau Stier jedoch nicht zu rekonstruieren.

354

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

aber fremd bleibt und das zudem zum Auslöser von Marginalisierungs- oder Exklusionserfahrungen wird. Ist bei einigen die Offenheit für neue Anschlüsse bereits auf politische Anschlüsse ausgerichtet, so zeigen zahlreiche Akteur*innen eine unbestimmte Offenheit für jugendkulturelle Praktiken im Kontext von Negation. Diese interpretiere ich als eine Lockerung bzw. Dynamisierung des tradierten habituellen Gefüges. Auf diese erste Phase des jugendlichen Bildungsprozesses folgt alsbald eine zweite, die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis. Hier finden eine erkundende Partizipation an einer bestehenden, kollektiven Gruppenpraxis oder auch die Entstehung einer neuen Gruppenpraxis und eines neuen konjunktiven Erfahrungsraumes im Zuge von gemeinsamen, teils aktionistischen Gruppenpraktiken statt. Die neuen Handlungsvollzüge bekommen dabei unmittelbar eine hohe Bedeutsamkeit und Orientierungsqualität und es zeichnen sich ein Voranschreiten der Dynamisierung des Habitus und das Entstehen neuer Orientierungen ab. Es zeigen sich bereits in dieser Phase Formen sozialer Bestätigung – entweder positiv verstärkend im konjunktiven Erfahrungsraum der neuen Gruppe bzw. dem neuen Milieu oder aber negativ gelagert und dennoch zugleich orientierungsverstärkend, durch Milieufremde, deren Urteil abgelehnt wird. Das Moment einer sozialen Bestätigung ließ sich in dieser Phase aber nicht für alle hier rekonstruierten Bildungsprozesse rekonstruieren. Die neuen Orientierungen und die kollektive Gruppenpraxis sind in dieser Phase noch in unterschiedlichem Ausmaß politisch verortet. Während bei einigen das ‚Politische‘ keine oder nur eine randständige Bedeutung hat, definieren andere ihre Praxis bereits als politisch und stellen sie in den Kontext einer sozialen Bewegung und/oder schließen sich ihr an. Bei jenen, deren neue kollektive Praxis bis dato nicht als politisch erachtet wurde, schließt erst später eine Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis an. Es sind hierbei unterschiedliche Kontexte, die die jungen Akteur*innen schließlich dazu veranlassen, ihre neue Orientierung und Praxis in einen politischen Kontext zu stellen: politische Gesetzesvorhaben und die Vorbilder und Affizierungen einer Bewegung, eine sich anbahnende Auflösung der jugendlichen Peergroup oder aber Erfahrungen mit einer Institution, die keinen Raum für die neue, im Kontext der kollektiven kulturellen Praxis ausgebildete Orientierung lässt. In allen drei Fällen spielt dabei soziale Bestätigung, mal in konjunktiv bestätigender, mal in negativ ablehnender oder sogar repressiver Hinsicht eine Rolle; wobei auch die negative Form zur Bestätigung der neuen politisierten Orientierungen beiträgt.

Literatur

355

Auf die Politisierung der neuen Orientierung folgt die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten. Hier führen die jugendlichen Akteur*innen ihre neue Orientierung und Praxis fort, wobei verschiedenste ‚Orte‘ zu Gelegenheitsstrukturen von Intensivierung und Ausdifferenzierung der neuen, politisierten Orientierungen werden und weitere, neue Anschlüsse entstehen. Die Praxis wird, auch wenn hier auch reflexive Formen, die individuell durchgeführt werden, zu rekonstruieren sind, von den Akteur*innen immer kollektiv in und im Sinne der politischen Bewegung verortet. Formen sozialer Bestätigung – sowohl als positive wie auch negative Verstärkung – sind in dieser Phase für jeden der rekonstruierten adoleszenten Bildungsprozesse zu konstatieren; jedoch nicht in jedem Falle in beiden Varianten. Am Ende des Prozesses steht eine Reinterpretation der eigenen Biografie. Hier findet aus der Perspektive des transformierten Habitus, welcher eine Distanz zu transformierten biografischen Vollzügen und Bedeutsamkeiten ermöglicht, eine reflexive Neuinterpretation der eigenen Biografie statt. Diese ist in allen drei Fällen meines Samples, in denen eine solche Reinterpretation der eigenen Biografie im Anschluss an den adoleszenten Bildungsprozess zu rekonstruieren war, zu finden.66

Literatur Bohnsack, R., & Nohl, A.-M. (2001). Jugendkulturen und Aktionismus. Eine rekonstruktive empirische Analyse am Beispiel des Breakdance. In H. Merkens & L. Zinnecker (Hrsg.), Jahrbuch Jugendforschung (S. 17–37). Opladen: Leske + Budrich. Bohnsack, R., Loos, P., Schäffer, B., Städtler, K., & Wild, B. (1995). Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe. Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen. Opladen. Leske + Budrich. Gaffer, Y., & Liell, C. (2013). Handlungstheoretische und methodologische Aspekte der dokumentarischen Interpretation jugendkultureller Praktiken. In R. Bohnsack, I. Nentwig-Gesemann & A.-M. Nohl (Hrsg.), Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 3. aktualisierte Aufl. (S. 195–222). Wiesbaden: Springer VS. Haunss, S. (2013). Die Autonomen – eine soziale Bewegung zwischen radikaler Gesellschaftskritik und Subjektivismus. In. R. Schultens & M. Glaser (Hrsg.). ‚Linke‘ Militanz im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen (S. 26–46). Halle: Brandung Leipzig.

66Vermutlich

aus Gründen der Überformung der Erzählung durch den später anschließenden, adulten Bildungsprozess ist eine Reinterpretation der eigenen Biografie nur in jenen biografischen Erzählungen zu finden, bei denen auf den Bildungsprozess in der Jugend kein weiterer Bildungsprozess folgt.

356

5  Empirische Rekonstruktionen der Phasen …

Nohl, A.-M. (2006). Bildung und Spontaneität. Phasen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern – Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen. Opladen: Leske + Budrich. Nohl, A.-M. (2011). Ressourcen von Bildung. Empirische Rekonstruktionen zum biographisch situierten Hintergrund transformativer Lernprozesse. Zeitschrift für Pädagogik, 57(6), 911–927. Nohl, A.-M., Rosenberg, F. v., & Thomsen, S. (2015). Bildung und Lernen im biographischen Kontext. Empirische Typisierungen und pragmatistisch-praxistheoretische Reflexionen. Wiesbaden: Springer VS. Pfaff, N. (2006). Jugendkultur und Politisierung. Eine multimethodische Studie zur Entwicklung politischer Orientierungen im Jugendalter. Wiesbaden. VS. Pfahl-Traughber, A. (2008). Die Autonomen zwischen Anarchie und Bewegung, Gewaltfixiertheit und Lebensgefühl. Zu den Besonderheiten einer linksextremistischen Subkultur. Bundeszentrale für politische Bildung. www.bpb.de/politik/extremismus/ linksextremismus/33632/autonome?p=all. Zugegriffen 10. Dezember 2015. Rauhut, M. (2008). Blues in der DDR. Kulturelle Symbolik und politische Interpretation. In PostSkriptum. Forschungszentrum Populäre Musik der Humboldt-Universität zu Berlin. http.//www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst08/Rauhut.pdf. Zugegriffen 18. Februar 2010. Rosenberg, F. v. (2011). Bildung und Habitustransformation. Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen. Bielefeld: transcript. Schäffer, B. (1996). Die Band. Stil und ästhetische Praxis im Jugendalter. Opladen: Leske + Budrich. Thomsen, S. (2010). Von der Jugendkultur zur politischen Positionierung. Bildung als jugendliches Sich-Einfinden in eine politische Grundorientierung im Kontext von sozialen Bewegungen. Neue Praxis, 40(3), 279–294. Thörmer, H., & Einemann, E. (2007). Aufstieg und Krise der Generation Schröder. Einblicke aus vier Jahrzehnten. Marburg: Schüren. Yinger, J. M. (1982). Countercultures. The Promise and Peril of a World Turned Upside Down. New York: Free Press.

6

Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen

In einigen der Lebensgeschichten meiner Interviewpartner*innen zeigten sich neben den in Kap. 5 dargestellten adoleszenten Bildungsprozessen im Kontext der Einfindung in eine soziale Protestbewegung zudem adulte Bildungsprozesse, d. h. Bildungsprozesse, die sich zu einem späteren biografischen Zeitpunkt im Erwachsenenalter rekonstruieren ließen. Konkret handelt es sich hier um die Lebensgeschichten von vier Befragten: Herrn Büchner, Frau Bach, Frau Weber und Frau Kubitschek. Diese Transformationen des Habitus der Erwachsenen vollziehen sich zwar im Kontext sozialer Bewegungen, dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Fortsetzung des Bewegungsengagements, sondern kann auch eine Abkehr von der sozialen Bewegung bedeuten. Während Frau Bach und Herr Büchner ihr Engagement in einer sozialen Bewegung – wenn auch in veränderter Form und teils in einer anderen Bewegung – fortführen (Abschn. 6.1), ist für Frau Kubitschek und Frau Weber eine Distanzierung von der Handlungspraxis und den kollektiven Orientierungen der Bewegung, der sie sich einst zugehörig fühlten, zu rekonstruieren (Abschn. 6.2). Trotz dieses gewichtigen Unterschiedes weisen die Bildungsprozesse im Erwachsenenalter, was ihren phasenhaften Verlauf angeht, mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Das vorliegende uel schließe ich deshalb mit einer Zusammenfassung ab, in der die übergreifende Phasentypik der adulten Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen präsentiert wird, ohne die Binnendifferenzierung dabei aus den Augen zu verlieren (Abschn. 6.3). Auch bei den Rekonstruktionen der Bildungsprozesse im Erwachsenenalter stand, wie schon bei den jugendlichen Bildungsprozessen in Abschn. 5.3, die Phasenhaftigkeit der Prozesse im Fokus. Die Art und Weise der Darstellung wird sich dagegen etwas von derjenigen des vorangegangenen Kapitels unterscheiden. Ich möchte im Folgenden die Phasen der adulten Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen sukzessive, d.  h. anhand der einzelnen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_6

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358

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

­ ildungsgeschichten, entfalten. Doch wird auch hierbei der Fokus weiterhin auf B den fallübergreifenden Aspekten der Prozesse und nicht etwa auf den einzelnen Lebensgeschichten in ihrer Gesamtgestalt liegen.

6.1 Bildung im Engagement In eine soziale Protestbewegung und ihre kollektiven Strukturen und Orientierungen hineingefunden zu haben, muss nicht notwendiger Weise bedeuten, dass der in diesem Kontext transformierte Habitus ein Leben lang Bestand hat. Auch im Rahmen eines fortgesetzten Engagements in sozialen Bewegungen kann es zur Entstehung neuer Orientierungen und, wenn diese umfassenden, d. h. handlungsleitenden Charakter in mehreren Dimensionen des Lebens erhalten, schließlich auch zur Transformation des habituellen Gefüges kommen. So kann z. B. anhand von Herrn Büchners lebensgeschichtlicher Erzählung, mit dessen adultem Bildungsprozess ich meine Darstellung hier beginnen möchte, nachvollzogen werden, wie sich sein in der Jugend ausgebildeter Habitus eines politisierten Eintretens für die eigenen Freiheiten im Kontext einer sozialen Bewegung abermals transformiert.

6.1.1 Der adulte Bildungsprozess von Thomas Büchner: Von einer politisierten Verteidigung eigener Freiheiten zur politisierten Verteidigung der Freiheiten anderer Bei Herrn Büchner, so habe ich bereits in Abschn. 5.3 herausgearbeitet, setzte an dem Punkt, an dem er seine persönlichen Freiheiten im institutionellen Ablaufmuster des Militärs bedroht sah, eine Politisierung seiner zunächst jugendkulturellen Praxis in der DDR ein. Einmal im Konflikt mit dem System, konnte er auch nach dem Militärdienst nicht mehr hinter seine nun angetretene Rolle des Systemkritikers zurück, mit der er sich einen Namen bei den staatlichen Machtorganen gemacht hatte. Sein Leben in der DDR war in der Folge in mehreren Dimensionen prekär geworden.1

1Siehe

neben der ausführlichen Darstellung seines jugendlichen Bildungsprozesses in Abschn. 5.3 auch den Exkurs zu den für den adulten Bildungsprozess relevanten biografischen Hintergründen (weiter hinten in diesem Unterkapitel). Dort werde ich nochmals auf die Zeit vor der Ausreise aus der DDR zu sprechen kommen.

6.1  Bildung im Engagement

359

Nach mehrjähriger Beharrlichkeit erreicht er im Alter von Mitte 20 endlich seine Ausreise aus der DDR. An seinem künftigen Wohnort West-Berlin legt er – wenig überraschend – eine Offenheit für neue soziale Anschlüsse an den Tag. Eine Freundin hatte ihm bereits ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft organisiert, deren „wahnsinnig offen[e]“ (Z. 775) Atmosphäre die Last der Verschwiegenheit von ihm abfallen lässt, von der er sich aufgrund der „Angst“, die er „in der DDR“ (Z. 778) hatte, beschwert gefühlt hatte. Über diese neuen Kontakte „rutscht“ (Z. 807) er ohne größeres eigenes Zutun ins Milieu der „Besetzer“ (Z. 820) „hinein“ (ebd.), wie er die verschiedenen Strömungen der „Musikszene“ (Z. 807), „Subkultur, Kneipenkultur, Drogenszene, Ex-Hausbesetzer“ (Z. 807 f.) übergreifend betitelt. Durch dieses Milieu, das sich gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Politik und Kultur befindet, knüpft Thomas Büchner zahlreiche Kontakte, so auch nach Hamburg, wo er kurzerhand hinzieht. Auch dort geht er in der spaßorientierten Praxis eines seiner Einschätzung nach „sicherlich auch politisiert[en]“ (Z. 838) Milieus auf, dessen Angehörige sich aber explizit nicht als ‚politisch Organisierte‘ begriffen hätten oder – wie Herr Büchner dies ausdrückt – sich „Tot=un=Teufel dis Label angehangen […], sie wären jetzt Autonome oder so was“ (Z. 838 f.). Was sein Umfeld angeht, sind hier Parallelen zur hedonistischen Praxis, die er mit den Bluesern in seiner Jugend teilte, zu erkennen. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Herr Büchner selbst in diesen ersten Jahren, erst in West-Berlin, dann in Hamburg, nun durchaus an politischen Protestaktionen teilnimmt – z. B. gegen den „IWF“ (Z. 824) und zum „Kubadreieck“ (Z. 830) – und sogar „denn auch teilweise auf den Plenas“ (Z. 833 f.) an der Vorbereitung der genannten Protestaktionen teilnimmt. Seine Praxis trägt, im Gegensatz zur Blueser-Zeit in der DDR, die am Anfang seines adoleszenten Bildungsprozesses stand, nun deutlichere politische Züge. Dennoch grenzt Thomas Büchner diese Aktivitäten aus seiner Anfangszeit in Westdeutschland – „vor der Mauer“ (Z. 831)2 – erzählerisch scharf von einer späteren Zeit ab, die er mit der Nennung der Stadt „Hoyerswerda“ (Z. 891) einläutet. „Hoyerswerda“ steht in seiner biografischen Erzählung für eine Zäsur, auf die etwas Neues folgt, das nun in Thomas Büchners (politische) Biografie Einzug hält. Als sich zu Beginn der 1990er-Jahre rassistische Ausschreitungen gegen Asylbewerber*innen und andere Migrant*innen in mehreren deutschen Städten ereigneten, setzte dies bei dem mittlerweile ca. 30-jährigen Thomas Büchner und großen Teilen seines sozialen Umfeldes eine abrupte Veränderung in Gang (Z. 890 ff.):

2Aus

dem Kontext wird klar, dass er hier ‚vor dem Mauerfall‘ meint.

360

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

„dann ging natürlich die Geschichte weiter, (2) was ah was ja allen bekannt ist, Hoyerswerda, (.) wo glaube ich auch richtig viele Leute, d- die sagen wir mal so, was ich vorhin schon sachte, mit Politik peripher wat zu tun hatten, so Hausbesetzer, Punker, Subkulturkreisen, und haben gesagt, das geht so nicht; ne, die dann wirklich auch losgefahren sind, und ich muss auch sagen, dass sie zumindest gleichberechtigt waren wie einige organisierte Autonome, und die genauso da agiert haben in Hoyerswerda wie alle anderen; d- es gab denn keinen Unterschied mehr; da (ham wa) gesagt, das geht zu weit, das können wir nicht zulassen, so, ne? und dann wurde dann wirklich, dann war dat so abends in der Kneipe irgendwie nachts um drei, o.k., wir fahren um fünf nach Hoyerswerda, so, ne? ich hab jenen Tag allerdings nach Hoyerswerda verpennt, (2) aber es sollte ja noch die nächsten Jahre genug Möglichkeiten geben; ich m- ich würde sagen, ä:h (.) nicht Hoyerswerda war für mich ausschlaggebend, sondern die Sachen (.) danach; ich hab dann viel mit Leuten hier aus diesem Umfeld von der KPDRZ zu tun gehabt, was so ein bisschen die Gurkentruppe, den Namen haben sie sich selber gegeben, weil sie so ein bisschen chaotisch waren, und nicht in das Bild der klassischen politischen Autonomen gepasst haben, ä:h (.) aber eben halt wirklich zu jedem Anlass einfach wirklich Monate, wochenlang unterwegs waren; dieses Flüchtlingsheim, dort gab es dat, also ich- ich krieg sie einfach auch nicht mehr zusammen so;“

Der Angriff auf eine Unterkunft für Asylbewerber*innen löst bei Herrn Büchner sowie bei großen Teilen seines „peripher“ politisierten Umfeldes eine moralische Entrüstung aus, die in die kollektive Einschätzung, so etwas „nicht zulassen“ zu „können“, mündet und sie zu einem Aktionismus veranlasst, der – auch von ihnen selbst – so zuvor nicht antizipiert wurde. Ohne weitere Planung beschließen sie „in der Kneipe irgendwie nachts um drei“ spontan, am nächsten Morgen von Hamburg aus „nach Hoyerswerda“ zu fahren. Dass Herr Büchner die Abfahrt am nächsten Tag verpasst, ändert nichts an der hohen persönlichen Bedeutsamkeit dieser ersten, kollektiv-aktionistischen Handlungsvollzüge, auf die alsbald vergleichbare folgen werden.3 Im Nachgang der rassistischen Ausschreitungen findet Herr Büchner losen Anschluss an eine politisierte Gruppe, deren Engagement gegen rassistische Angriffe sich durch Intensität und Beständigkeit auszeichnet, obwohl sie sich selbst – mit Hinweis auf ihr „[C]haotisch“-Sein und in Abgrenzung zu den gut „organisierte[n] Autonome[n]“ – zuweilen als die „Gurkentruppe“ bezeichneten. Jedoch – und hierin liegt ein Grund, warum diese ersten gemeinsamen Aktionismen Herrn Büchner so beeindruckten (wie auch weiter unten noch einmal deutlicher werden wird) – seien die ‚herkömmlichen‘ Distinktionslinien plötzlich

3Herr

Büchner hebt im Anschluss an diese Passage insbesondere die „Erlebnisse neunzehnhundertzweiund-neunzig in Rostock“ (Z. 909) als „sehr prägend“ (Z. 908 f.) hervor.

6.1  Bildung im Engagement

361

ohnehin obsolet gewesen: „[E]s gab denn keinen Unterschied mehr“ zwischen den ‚Autonomen‘ und anderen, stärker kulturell verorteten Aktivist*innen; in ihrer Empörung sind sie alle gleich bzw. „gleichberechtigt“. Es zeigt sich hier, wie sich laut Herrn Büchners Darstellung über verschiedene Milieus hinweg4 ein konjunktiver Erfahrungsraum ‚der Empörten‘ auftut, der zunächst einmal in der gemeinsamen Bereitschaft zum sofortigen Handeln gegen die rassistischen Übergriffe besteht. Herr Büchner hat nach dieser hier neu entstehenden Praxis nicht gesucht, wohl aber legt er eine unmittelbare Offenheit für diese sich nun entfaltende, kollektive Handlungspraxis in einem politisierten Kontext an den Tag. Diese Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken in einem politisierten Kontext – wie ich diese erste Phase von Herrn Büchners adulten Bildungsprozesses hier bezeichnen möchte – fußt bei ihm und seiner Schilderung zufolge auch in seinem Umfeld auf einer ethisch-moralischen Empfänglichkeit für die Thematik. In dem Moment, in dem diese Empfänglichkeit mit den Erfahrungsansprüchen des gesellschaftlichen Ereignisses der rassistischen Ausschreitungen konfrontiert wird, ruft dies eine Art kollektiv geteilten ‚moralischen Schock‘ hervor, der bei Herrn Büchner und seinem Umfeld eine unmittelbare Bereitschaft zur Veränderung ihrer routinierten Handlungspraxis hervorruft und kollektive Zusammenschlüsse zwischen Teilen des linksalternativen und linksradikalen Milieus ermöglicht, die zuvor nicht bestanden hatten. Diese hier an den Tag gelegte Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken in einem politisierten Kontext kann zugleich als Beginn einer Dynamisierung seines habituellen Gefüges gelten, zeigt er sich hier doch unmittelbar offen für eine neue, kollektive und politisierte Praxisform, in der sich – in einem noch nicht konkreten Sinne – bereits eine neue Orientierung andeutet.5

4Oder

über Teile eines weit gefassten – linksalternativ bis linksradikalen – Milieus hinweg; je nachdem, wie groß man den Milieubegriff hier ansetzt. 5Man könnte die Offenheit für diesen neuen, gesellschaftlichen Erfahrungsanspruch auch als Voraussetzung einer in der Folge stattfindenden Dynamisierung seines Habitus betrachten. Angesichts einer zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden biografischen Sensibilisierung für das Thema des Sich-Einsetzens für andere (vgl. ausführlich hierzu den Exkurs zu den biografischen Erfahrungshintergründen weiter unten im Text), drückt sich in Herrn Büchners Offenheit meines Erachtens aber eine bereits in Ansätzen begonnene Dynamisierung seines Habitus aus. Es versteht sich vor dem rekonstruktiven Hintergrund eigentlich von selbst, an dieser Stelle scheint es mir aber dennoch sinnvoll darauf hinzuweisen, dass das, was ich hier für Herrn Büchner konstatiere, keinesfalls für die anderen Akteur*innen, die mit ihm an den Ereignissen beteiligt sind, gelten muss. Die sich hier abzeichnende kollektive Orientierung kann verschiedene Bedeutungen für die Habitus der Beteiligten haben. So kann die Offenheit bei einigen die Voraussetzung für eine nachfolgende Dynamisierung des Habitus darstellen, für andere einer bereits begonnenen Dynamisierung Ausdruck verleihen und bei wieder anderen sich mit dem bestehenden habituellen Gefüge decken.

362

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Herrn Büchners Offenheit für neue, politische Anschlüsse und Praktiken, die sich laut seinen Schilderungen in einem ganzen Milieu dokumentiert, kann dabei werde als inhaltlich klar bestimmt noch als gänzlich unbestimmt gelten: Ähnlich wie beim Beginn der jugendlichen Bildungsprozesse (vgl. Abschn. 5.3.1) ist die Praxis, auf die sich Herr Büchner hier einlässt, ihm nicht nur noch nicht vertraut, sondern entsteht vielmehr erst im Zuge des Aktionismus selbst.6 Dies lässt auch seine Offenheit zu einem gewissen Grad noch unbestimmt bleiben, kann er doch nicht vollends antizipieren, wohin ihn diese führen wird. Gleichzeitig aber scheint es keinesfalls beliebig, was die Empörung auslöst, und zwar eine Gefährdung von Menschen, die einer gesellschaftlichen Minderheit angehören. In dem Sinne kann die Offenheit als eine Empfänglichkeit für die Gefährdung von Minderheiten bestimmt werden, worin sich zugleich seine neue Orientierung andeutet. So macht Thomas Büchner in der Folge auch neue Erfahrungen in diesen ersten, kollektiven Aktionismen, die er so nicht vorhersehen konnte. Das Neue, das im Kontext der neuen, kollektiven Handlungspraxis im politisierten Kontext in sein Leben tritt, besteht neben dem moralischen Schock über die Ausschreitungen vor allem in der sich über Milieugrenzen hinweg erstreckenden, einhelligen Entschlossenheit der sich an dieser neu entfaltenden Praxis Beteiligten (Z. 915 ff.): „und ich muss einfach sagen, es war wirklich (.) wahnsinnig beeindruckend, (3) wie viele Leute gesagt haben, wir fahren sofort los; wir fahren sofort los, es gab kein Diskutieren, gar nichts, //mhm// damals muss man sich vorstellen gab’s viel viel weniger Autos, wir sind mit irgendwelchen Schrodderkisten gefahren, (.) und- und es waren eben sehr sehr verschiedene Leute dabei, a- also eben Leute die wirklich, sagen wir mal Sozialarbeiter waren, die überhaupt nicht (2) glaube ich darauf vorbereitet waren sich mit einem Mob gewalttätig auseinanderzusetzen, es gab natürlich einige Leute, die das sehr wohl wussten, und auch dazu bereit waren, aber viele Leute, würd ich sagen, nicht; (.) d- also zumindest, was ich so im Überblick hatte“.

Die Entschlossenheit, die verschiedenste Menschen aus dem linksalternativen bis linksautonomen Milieu trotz der Gefahr, sich auch „gewalttätig auseinander[…] setzen“ zu müssen, an den Tag legten, stellt eine neue Erfahrung für ­Thomas Büchner dar, die ihn in positiver Weise bewegt. Für viele scheint es außer Frage zu stehen, dass sie „sofort los[fahren]“. Sie stürzen sich in die Aktion und

6So

konstatiert Herr Büchner z. B. kurz vor der hier besprochenen Passage, dass vor dem Mauerfall die „Antifa […] verhältnismäßig wenig“ (Z. 840) vorhanden gewesen sei, diese sich also überhaupt erst im Zuge und Nachgang der hier geschilderten Ereignisse konstituiert habe.

6.1  Bildung im Engagement

363

v­ erlieren „kein Wort“ darüber, es gab „kein Diskutieren“.7 In der unmittelbaren Bereitschaft einzugreifen dokumentiert sich das bereits erwähnte, konjunktiv geteilte moralische Empfinden der Akteur*innen. Es finden sich hier unterschiedliche Menschen im politisierten Aktionismus und dem gemeinsamen Ziel, ein sich abzeichnendes Pogrom zu „verhindern“ (Z. 933), vereint. Die kollektive Orientierung, von der dieser Aktionismus getragen wird, lässt sich Thomas Büchners Ausführungen zufolge also fassen als ein Einsatz für bedrohte Menschen. Während er bisher das Verbindende hervorgehoben hat, zeigen sich aber alsbald auch erste Trennungslinien, auf die Herr Büchner im Anschluss an die abermalige Betonung der kollektiven Entschlossenheit eingeht (Z. 932 ff.): „es war überhaupt nichts groß abgesprochen, kein Konzept, nichts, wir haben gesagt, wir müssen dahin, wir müssen das verhindern; u::nd naja und waren denn in diesem Zentrum drei vier, ach ins- ach nicht mal, zweihundert Leute, und was sich eben halt (2) leider ausgezeichnet- äh ausgezeichnet, oder abgezeichnet hat, ist (.) dass (.) die Leute (.) dann eben (.) doch (2) viel Angst bekommen haben, dass das Jugendzentrum überfallen wird, und es gar nicht mehr darum ging, di- die Leute da im Heim zu schützen; //mhm// also man muss dazu sagen, es waren im Prinzip diese ersten Angriffe von den Nazis und dem Pöbel dis waren da einfach schon gelaufen, und (.) für uns war das irgendwie, (sag ich), ich bin ja nicht hier um n Jugendzentrum in der Innenstadt zu schützen; und es gab- e- und wie- und irgendwie fand ich das irritierend, die Leute die sich am politischsten halten- hielten, haben am meisten debattiert was zu tun ist; wer haben gesagt, ey, wir diskutieren hier nicht, wir fahren jetzt dorthin, wir suchen einen Weg wie wir dorthin kommen;“

Die – von Herrn Büchner zunächst hoch geschätzte – Bereitschaft, sich ungeplant und ohne „Konzept“ in die sich ihnen präsentierende Situation zu stürzen, habe den Nachteil gehabt, dass viele Angereiste dem eigenen Vorhaben, „den Nazis und dem Pöbel“ Einhalt zu gebieten, aufgrund von „Angst“ nicht nachkommen konnten. Herr Büchner prangert diese Diskrepanz zwischen den politischen Ansprüchen und dem realen Handeln gerade derjenigen, „die sich am politischsten“ gebärdeten, an. Statt zum Ort der rassistischen Ausschreitungen zu fahren, habe man sich darauf konzentriert, ein linkes „Jugendzentrum [….] zu „schützen“ respektive eigene Freiheiten oder genauer: die Freiheiten des eigenen Milieus zu

7Die

hier entstehende neue Praxis steht somit einerseits deutlich in einem politischen Kontext und weist aber zugleich auch Ähnlichkeiten zur ihm bereits bekannten aktionistischen Praxis der ‚Blueser‘ auf. In Nohl et al. (2015a, S. 173 ff.) haben wir diese ungeplante Form des Handelns als „Lernhabit des Aktionismus“ bezeichnet und diesen als einen von mehreren Lernmodi im Rahmen des umfassenderen Bildungsprozesses typisiert.

364

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

verteidigen – und zu ‚debattieren‘, was hier als Gegenteil eines beherzten Eingreifens angeführt wird. Thomas Büchner und seine Bezugspersonen hingegen halten an ihrem ursprünglichen Ziel fest und suchen weiter nach Mitteln und Wegen, die Ausschreitungen zu unterbinden und an den Ort des Geschehens zu kommen. Das Thema der „Angst“ trennt also die kollektiv am Einsatz für bedrohte Menschen Orientierten in solche, die ihren Befürchtungen Raum geben und sich zurückziehen, und jene, die – wie Herr Büchner – am ursprünglichen Plan festhalten. Diese Unterscheidung ist wichtig, um die neue Orientierung, die sich bei Herrn Büchner im Zuge dieser ersten Erfahrungen im Kontext einer neuen, kollektiven Praxis entwickeln, vollumfänglich zu erfassen, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. In der folgenden Schilderung konkretisiert Thomas Büchner seine Kritik an einigen Mitstreiter(inne)n noch einmal, nachdem er zunächst das hohe Maß an persönlichem Einsatz jener Tage rekapituliert (Z. 974 ff.): „wir sind Montag hochgefahren, von Sonntag zu Montag fing das ja an, und (.) wir sind dann immer bis Freitag glaube ich einmal, zweimal waren wir glaube ich in Berlin, weil wir einfach wirklich mal in Ruhe pennen wollten, und sind dann aber auch wirklich gleich den nächsten Tach auch wieder nach ein paar Stunden Schlaf wieder hingefahren, und haben dann irgendwann, das heißt- ey, das ist doch, das ist doch frustrierend, du bist da mit zweihundert Leuten //mhm// es i-, für mich ist es heute immer noch ein Rätsel, wie diese verhältnismäßig starke linke Szene, radikale Linke, dort so versagt hat; für mich hat sich an diesem Tag oder in diesen Tagen komplett versagt“.

Es dokumentiert sich hier, wie allumfassend die neue, politisierte Praxis Herrn Büchners Leben und das seines Umfeldes füllte. Über Tage oder sogar Wochen hinweg praktizieren sie einen kollektiven Einsatz, zu dessen Zwecke sie „immer“ wieder zum Ort des Geschehens fahren und nur für kurze Phasen des Ausruhens nach Hamburg zurückkehren. Es dokumentiert sich hier deutlich ein konjunktiver Erfahrungsraum, in dessen Rahmen auch von einer gegenseitigen, positiven sozialen Verstärkung und Bestätigung der neuen Orientierung auszugehen ist. Doch dieser hohen Einsatzbereitschaft folgt auch eine dementsprechend starke Frustration über diejenigen, die sich, trotz des anfänglich kollektiven Aktivismus, nicht derart intensiv engagierten. Die letztlich doch als gering bewertete Anzahl an Menschen, die sich an den Aktionen gegen die rassistischen Ausschreitungen beteiligten, bewertet Herr Büchner rückblickend als ‚Versagen der linken Szene‘, worin sich eine starke Unzufriedenheit mit dem Verlauf der Gegenaktionen dokumentiert – die bis zum Zeitpunkt des Interviews Bestand hat. Die anfängliche Euphorie weicht einer Enttäuschung, um nicht zu sagen: einer abermaligen

6.1  Bildung im Engagement

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­ oralischen Entrüstung – diesmal über das ‚eigene Lager‘. Herr Büchner nimmt m dies als Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahr; ein Thema, das ihn weit über die Ereignisse hinaus beschäftigen wird und bereits zuvor in anderen Kontexten beschäftigte, wie ich im Exkurs erläutern werde. Diese Enttäuschungserfahrung ist für die Entstehung seiner neuen Orientierung am (entschlossenen) Einsatz für bedrohte Menschen mindestens genauso bedeutsam wie seine anfängliche Begeisterung über die Entschlossenheit seines sozialen Umfeldes, den rassistischen Ausschreitungen etwas entgegenzusetzen. Vor dem Hintergrund des so empfundenen Auseinanderklaffens von formuliertem Anspruch und realen Handlungen vieler Menschen aus der autonomen Bewegung, entscheiden Herr Büchner und seine Mitstreiter*innen, an der im Anschluss an die Ausschreitungen stattfindenden „Großdemo“ nicht teilzunehmen (Z. 982 ff.): „und wir haben dann auch gesagt (komme), ich fahre nicht zu der Großdemo hin, (.) was soll ich da? (.) die Tage wo es notwendig gewesen wäre, eine Mobilisierung dorthin zu kriegen, hat nicht stattgefunden;“

Ihre Teilnahme an einer nachträglichen „Großdemo“ lehnen Herr Büchner und seine neuen politischen Bezugspersonen aufgrund ihres lediglich symbolischen Charakters kollektiv ab. Das nachträgliche Demonstrieren erscheint aus seiner Perspektive geradezu als heuchlerische Geste, die an dem Geschehenen nichts verändern kann und deshalb von ihm als wertlos betrachtet wird. Es dokumentiert sich hier also, auch vor dem bereits erwähnten negativen Gegenhorizont des ‚Debattierens‘ (vgl. Z. 944), die kollektive Orientierung an einem praktischen und unmittelbaren Eingreifen gegen die Rechten bzw. zugunsten der bedrohten Menschen und an der Ablehnung von lediglich symbolischen Bekenntnissen. Während die Orientierung eines handfesten Eingreifens in Situationen, in denen er selbst bedroht oder in seiner Freiheit eingeschränkt wird, bereits konstitutiv für Herrn Büchners Bildungsprozess in der Adoleszenz war,8 ist es nun der Einsatz für die Verteidigung der Freiheiten anderer, der den Kern seiner sich hier dokumentierenden, neuen Orientierung ausmacht. Im Unterschied zu seiner Opposition in der DDR, in die er ging, als er sich selbst an einem selbstbestimmtem, ‚freien‘ Leben gehindert sah, kann nun ein kollektiver Einsatz für die Rechte und Freiheiten von anderen konstatiert werden.

8Diese

Orientierung war für ihn im Kontext der ‚Blueser‘ handlungsleitend geworden und im Zuge der Erfahrungen im Militärdienst politisiert worden (vgl. hierzu ausführlich Abschn. 5.3).

366

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Die neue Orientierung erhält unmittelbar eine hohe biografische Bedeutsamkeit und Orientierungsqualität für Herrn Büchner, wie sich daran dokumentiert, wie allumfassend die neue Handlungspraxis in dieser Phase des Bildungsprozesses Herrn Büchners Handlungsvollzüge füllt, was im Gegenzug auch bedeutet, dass sie andere, vorherige Handlungsvollzüge randständig werden lässt. Mit Blick auf die Phasenhaftigkeit seines adulten Bildungsprozesses ist deshalb nach der Phase der Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken in einem politisierten Kontext nun eine Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis im politisierten Kontext zu konstatieren. Eine mit der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken begonnene Dynamisierung seines habituellen Gefüges nimmt im Zuge der neuen Erfahrungen in einer kollektiven, politisierten Praxis also deutlich an Fahrt auf. Dass die hohe Bedeutsamkeit der neuen Orientierung an länger zurückliegende biografische Erfahrungen anschließt, hatte ich bereits erwähnt und möchte dies im Folgenden in einem Exkurs näher erläutern. Exkurs zu im adulten Bildungsprozess relevanten, latenten Erfahrungshintergründen aus Herrn Büchners jungem Erwachsenenalter

Die Tragweite der neuen Orientierungsqualität, die hier bei Herrn Büchner im Zuge der neuen Erfahrungen im kollektiven, politisierten Kontext entstanden ist, wird besonders deutlich, wenn man einen Blick auf die biografischen Hintergründe wirft, an die Herr Büchners adulter Bildungsprozess anschließt. Angesichts der bereits erwähnten Thematik einer Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und praktischem Handeln einiger Aktivist*innen dokumentiert sich ein Groll in Herrn Büchners Schilderung. Ein solcher ist auch an anderen Stellen des Interviews zu finden, nämlich immer dort, wo es um ein ähnliches Auseinanderklaffen von proklamierten Werten und schlussendlichem Handeln geht. Es zeigt sich eine solche Homologie z. B. in der Art und Weise, wie er die ausbleibende Unterstützung seines Vaters thematisiert, als er, Thomas Büchner, die DDR verlassen wollte und für seinen Ausreiseantrag eine „Unterschrift“ seines Vaters benötigte (Z. 1339 ff.): „es ging um diese Unterschrift; und mein Vater fing an rumzudrucksen; hmhm, kann ich nicht, ich sag, wie? (.) wie hast du mich denn erzogen? (.) du hast mich doch teilweise auch mit so erzogen, wo ich jetzt bin; (.) und dann sagte ich so, wo ist dein Problem? ich- ich muss sagen ich bin in solchen Gesprächen auch nicht diplomatisch, ich werd da einfach sehr pissig, so, ne, (.) ich sagte, weißt du was, du bist für mich ein feiger Opportunist; ja, sagt er, ich arbeite, er war zu der Zeit Elektriker, ich habe da am Wochenende ne Arbeitsstelle, also sprich normalerweise Arbeitstag war ja Freitag bis Sonnabend, ah bis- Montag bis Freitag in der DDR, und die haben wohl

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367

sonnabends in der Stasi-Filiale Lampen montiert; denn könnte ich dort ja denn nicht mehr arbeiten; ich sach weißte was, du bist für mich jämmerlich; jämmerlich; (2)“

Aus Angst um seinen Wochenendjob, in dessen Rahmen er „sonnabends in der Stasi-Filiale Lampen montiert[e]“, habe der Vater sich nicht getraut, die Ausreisepläne seines Sohnes mit seiner „Unterschrift“ zu unterstützen. Herr Büchner weist seinen Vater im darauffolgenden Schlagabtausch, wie er ihn im Interview erinnert, auf die Diskrepanz seines Verhaltens zu den in seiner ‚Erziehung‘ vertretenen Werten hin. Seinen Vater, der ihm bisher als (nonkonformistisches) Vorbild gedient hatte (vgl. Abschn. 5.2), weil er stets bemüht gewesen sei, seinem Sohn den freiheitlichen Wert von zivilem Ungehorsam zu vermitteln – erinnert sei hier an den „Hertha-Wimpel“ (Z. 77), den sein Vater trotz zu erwartender Konsequenzen an der DDR-Grenze am Auto behielt – betitelt Herr Büchner nun als „feige[n] Opportunist[en]“ (Z. 1344). Die Diskrepanz im Verhalten des Vaters zwischen nonkonformer Performanz im Allgemeinen, bei der kein größeres persönliches Risiko eingegangen wird, und ängstlicher Zurückhaltung, wenn es darum geht, konkret für etwas einzutreten, woraus auch persönliche Nachteile entstehen könnten, empfindet Herr Büchner als „jämmerlich“ (Z. 1349). Es dokumentiert sich hier neben einer Enttäuschung auch starker Ärger, wenn nicht gar Verachtung oder Verbitterung. Eine homologe Erfahrung und dieselbe Orientierung, mit dem Erlebten umzugehen, dokumentiert sich auch in Thomas Büchners Ausführungen zum Verhalten seiner ehemaligen Arbeitskolleg*innen, nachdem er „diesen Antrag [auf Ausreise; S. T.] gestellt“ (Z. 655) hatte. Ebenso wie seinem Vater wirft er auch ihnen vor, keine Zivilcourage zu seinen Gunsten gezeigt zu haben. Zwar hätten viele hinter vorgehaltener Hand auf die DDR „geschimpft“ (Z. 661), sich dann aber Sorgen darum gemacht, wegen seines Ausreiseantrags auf ihre „Prämie“ (Z. 672), die „jede Brigade […] zum Jahresende“ (Z. 669 f.) erhielt, verzichten zu müssen. Auch diese ehemaligen Kolleg*innen sind deshalb aus seiner Sicht ein „feiges Pack“ (Z. 675) und „verlogene Opportunisten“ (Z. 680). Die sich im bisherigen Verlauf seines Bildungsprozesses abzeichnende neue Orientierung an einem Eintreten für die Freiheiten und Rechte anderer wird vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen im jungen Erwachsenenalter, dass sich andere – zudem noch der eigene Vater, der ihm in der Kindheit und Jugend als Vorbild in Sachen ‚Nonkonformismus‘ galt – wegen befürchteter Konsequenzen nicht für ihn einsetzen oder sogar von ihm abwandten, noch einmal mehr hinsichtlich ihrer biografischen Relevanz erfassbar. Es kann hier eine biografisch bedingte Sensibilität für Situationen, in denen die Rechte oder

368

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Bedürfnisse Einzelner prekär werden und andere aus Gründen der Konfliktvermeidung nicht einschreiten, konstatiert werden. Die Enttäuschung, die aus den eigenen Erfahrungen mit einem solchen, von ihm als ‚opportunistisch‘ bezeichneten Verhalten resultiert, kann als eine biografische Erfahrung von Marginalisierung gekennzeichnet werden, mit der zudem eine gewisse soziale Desintegration einhergeht. Diese Erfahrung hat keinen akut destabilisierenden Charakter, wirkt jedoch latent fort. Dies dokumentiert sich nicht zuletzt daran, dass sie einige Jahre später in Herrn Büchners adultem Bildungsprozess (indirekt) eine Rolle spielt: In der hohen Orientierungsqualität, die er dem Sich-Einsetzen für andere (trotz zu erwartender Konsequenzen für das eigene Leben) zukommen lässt, kann man zumindest eine Antwort Herrn Büchners auf diese biografische Erfahrung sehen, mit der er seiner biografisch entstandenen Sensibilität für diese Thematik Ausdruck verleiht. Aus der „Geschichte mit diesen ganzen Heimen“ (Z. 1002) habe er den Schluss gezogen, „dass da einfach auch weiter gemacht werden muss“ (Z. 1005), so reflektiert Herr Büchner gegen Ende des Interviews. Sein Engagement im ­Rahmen der ‚Antifa‘, wo er seine neue Orientierung und Handlungspraxis verwirklicht sieht, stellt Herr Büchner in den Folgejahren auf Dauer, sodass im Anschluss an die Ausbildung der neuen Orientierung im Kontext der neuen Handlungspraxis im politisierten Kontext eine Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten konstatiert werden kann.9 Doch auch an andere Kontexte kann er seine neue Orientierung anschließen und diese dort weiter entfalten. Als bedeutsam ist hier seine Freundschaft zu einem älteren, „jüdischen“ (Z. 1080) Herrn einzustufen, der im Dritten Reich als Jude nicht nur selbst verfolgt, sondern auch zum „Widerstandskämpfer“ (Z. 1114) wurde. Die Freundschaft der beiden Männer entwickelte sich folgendermaßen: Angestoßen durch einen Freund aus dem ‚Antifa‘-Milieu widmet sich Herr Büchner ausgiebig der geschichtlichen Beschäftigung mit der Shoah (vgl. Z. 1009 ff.) und liest u. a. auch die Biografie des Herrn Blumenthal. Da ihn diese sehr beeindruckt – er gibt

9Über

die Art und Weise der Zusammenschlüsse im Kontext der ‚Antifa‘ berichtet Herr Büchner nichts weiter. Mit Haunss (2013, S. 28), demzufolge bei der ‚Antifa‘ „formalisierte Organisationsstrukturen neben informellen Kleingruppenstrukturen“ stehen, ist aber davon auszugehen, dass sich Thomas Büchner im Gegensatz zu der losen Milieuzugehörigkeit in seinen ersten Jahren in West-Berlin und Hamburg nun verstärkt an eine zu einem gewissen Grad organisierte (‚Antifa‘-)Gruppe im Kontext einer Bewegung bindet.

6.1  Bildung im Engagement

369

an, völlig „von den Socken“ (Z. 1086) gewesen zu sein –, schreibt Herr Büchner den Autor an, über den er dann auch tatsächlich Kontakt zum hochbetagten Herrn Blumenthal bekommt. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine enge Freundschaft, die zu pflegen Herr Büchner seitdem „einmal im Monat nach Köln“ (Z. 1107) fährt. Von der freundschaftlichen Verbindung nicht zu trennen ist die intensive, gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die einen gewichtigen Teil der Verbundenheit beider Männer ausmacht. Angesichts von Herrn Blumenthals ‚Verbitterung‘ (vgl. Z. 1117) haben diese Auseinandersetzungen teils auch durchaus harten Charakter, es gibt „manchmal auch Streit“ (Z. 1130). Herr Büchner erzählt ausführlicher über Herrn Blumenthal (Z. 1111–1129), „der natürlich einen (.) unheimlichen Brass du Hass eigentlich auch immer noch (.) auf die Deutschen hat, weil sie im Prinzip seine komplette Familie ermordet haben, also ich muss dazu sagen kurz dazu, er war natürlich auch Widerstandskämpfer, er hat auch illegal gelebt, (2) man muss, man soll das Buch lesen, ist nicht meine Geschichte, ich find ihn faszinierend, bin immer wieder überrascht, was er für Geschichten nochmal rausholt, (.) habe spät auch begriffen, warum er so ist wie er ist, verbittert, aber kann denn auch an bestimmten Sachen manchmal nachempfinden, wie er womöglich damals war, und wie eben halt auch Menschen, er sagt, ich bin kein politischer Mensch, ich bin auch kein böser oder gewalttätiger Mensch, aber ich musste etwas tun; man musste einfach was machen, //mhm// sagt er, und er hat auch wirklich, muss man sagen, keinen Unterschied gemacht, ob dis jüdische Kinder waren, (2) ob dis Deserteure waren, ob das arme Leute waren, er war jemand, der einfach immer Leuten einfach auch geholfen hat, und das finde ich irgendwie (2) f- in der heutigen Zeit findet man so was fast nicht mehr; //mhm// so, vielleicht sind wir uns in bestimmten Punkten auch sehr ähnlich, ich weiß es nicht, kann es mir gut vorstellen; (.) also (1) also er sagt zum Beispiel, für ihn ist Geiz einfach das schl- einer der schlimmsten Sachen auf dieser Erle- Erde, natürlich auch (2) ist er auch nicht fr- wer ist schon frei von irgendwelchen Vorurteilen? aber (.) ich glaub auch, also an bestimmten Punkten finde ich sind wir uns sehr ähnlich;“

Herr Büchner gibt an, „nachempfinden“ zu können, wie Herr Blumenthals „Brass“ bzw. „Hass“ auf die Deutschen vor dem Hintergrund des erlebten Unrechts entstanden sei. Herr Blumenthal wird hier vorgestellt als ehemaliger „Widerstandskämpfer“ – also als jemand, der auch vor Gewalt nicht zurückschreckte, wie sich dann auch in der Argumentation, er sei an sich „kein […] gewalttätiger Mensch, aber“, indirekt dokumentiert – und zugleich als Mensch, „der einfach immer Leuten […] geholfen“ habe. Zu diesem (implizit verbleibenden) Thema der Hilfe für andere trotz einer hierfür nötigen Gewaltanwendung zitiert Herr Büchner den älteren Herrn mit den Worten „ich musste etwas tun“, um dann zu ergänzen: „man musste einfach was machen“ (Kursivsetzung S.T.). So ist es zwar einerseits

370

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Herr Blumenthal, dessen Handlungen erzählt werden und der die Notwendigkeit zum (nicht näher bestimmten) Eingreifen verspürte, durch die Ergänzung des Personalpronomens „man“ bekommt die Aussage in Herrn Büchners Schilderung aber zugleich eine generalisierte Gültigkeit. Es ist folglich davon auszugehen, dass Herr Büchner hier auch seiner eigenen Orientierung Ausdruck verleiht, der zufolge es Situationen gibt, in denen es zugunsten des höheren Guts – Menschen, die in Gefahr sind oder in anderer Form ‚Hilfe‘ benötigen, zu ‚helfen‘ – legitim ist, Gewalt anzuwenden (Herr Büchner erwähnt dies hier nicht explizit, aber es liegt auf der Hand, dass mit Herrn Blumenthals Handlungspraxis eine Gefahr für sein eigenes Leben einherging.). Im Anschluss betont Herr Büchner, dass die Praxis des älteren Herrn, vielen Menschen zu ‚helfen‘, heutzutage „fast nicht mehr“ zu finden sei. Zwar bewertet er dies nicht explizit, aus dem Kontext ergibt sich jedoch, dass er sich in positiver Weise auf Herrn Blumenthals Handlungen bezieht. Der ältere Herr erscheint somit als impliziter positiver Gegenhorizont zu Thomas Büchners einstigem Vorbild, seinem Vater, von dem er angesichts dessen, dass dieser ihm in Bezug auf seinen Ausreisewunsch aus der DDR die Unterstützung verweigert hatte, wie soeben im Exkurs zum biografischen Hintergrund dieses Bildungsprozesses dargelegt, bitter enttäuscht wurde. Zwar setzt Herr Büchner seine eigene, im Kontext der ‚Antifa‘ neu ausgebildete Praxis – bei der gewaltvolle Auseinandersetzungen zur Umsetzung der kollektiven Orientierung zumindest prinzipiell infrage k­ ommen10 – nicht direkt in Beziehung zu Herrn Blumenthals Praxis als „Widerstandskämpfer“ im Nationalsozialismus, doch wird vor dem Hintergrund dessen, dass er kurz darauf eine ‚Ähnlichkeit‘ zwischen sich und Herrn Blumenthal vermutet, ein solcher Vergleich zumindest nahegelegt. Es dokumentiert sich hier eine Vorbildfunktion Herrn Blumenthals für Herrn Büchner, der in der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte des älteren Herrn seine eigene, politisierte Orientierung – die Rechte von anderen (diskriminierten oder bedrohten) Menschen zu verteidigen – (wieder)findet und diese in seinem Vorbild zumindest indirekt sozial bestätigt sieht. Die neue Orientierung an einem Einsatz für die Verteidigung anderer Menschen wird hier also fortgeführt und intensiviert. Sie findet soziale Bestätigung in einem politischen und zugleich freundschaftlichen Kontakt, der Herrn Büchner zur Auseinandersetzung mit seinem politisch-moralischen Empfinden veranlasst,

10Vgl.

Herr Büchners Äußerungen zu den möglichen ‚gewalttätigen Auseinandersetzungen‘ mit dem „Mob“ (Z. 922) im Kontext der rassistischen Ausschreitungen Anfang der 1990er-Jahre.

6.1  Bildung im Engagement

371

das über politische Orientierungen im engeren Sinne hinausweist. So geht es in seinen durch den Kontakt zu Herrn Blumenthal angeregten Auseinandersetzungen auch nicht mehr ‚nur‘ um den politisierten Einsatz für diskriminierte Menschen, sondern z. B. auch darum, „Geiz“ abzulehnen; ein Wert, der zwar politisch anschließbar, aber nicht an sich politisch ist, sondern vielmehr auf eine generelle Orientierung an Menschlichkeit verweist; ein Aspekt der neuen, biografisch bedeutsamen Orientierung, auf den ich im Folgenden eingehen möchte. Was die inhaltliche Qualifizierung von Herrn Büchners neuer Orientierung angeht, scheint es mir nämlich interessant, dass er sein teils radikal anmutendes Eintreten für ‚Antifa‘-Politik mit einem hohen Stellenwert von Menschlichkeit verbindet und dabei zudem ein geringes Maß an (totaler) Ideologisierung11 aufweist. (Auch dies stellt übrigens eine Homologie zu Herr Blumenthal dar, der nur „politisch“ wurde, weil er dies angesichts der gesellschaftspolitischen Umstände für notwendig erachtete.) Was Herr Büchner im Umgang mit dem älteren Herrn zeigt, nämlich allem voran ein intensives Interesse an dem Menschen Herrn Blumenthal und die Bereitschaft, sich mit ihm – auch im „Streit“ (Z. 1130) – auseinanderzusetzen, dokumentiert sich an anderen Stellen des Interviews auch für andere Kontexte. So ist es Teil von Herr Büchners neuer Orientierung an einem Eintreten für die Freiheiten und Rechte (auch) von anderen, dass er dabei nicht paternalistisch vorgeht, sondern den Interaktionspartner*innen und ihrer Sicht im konkreten, sozialen Kontakt einen höheren Stellenwert einräumt als politischen Ideologien. Dies dokumentiert sich z. B. an der Unsicherheit einiger Linker im Umgang mit Überlebenden des Holocausts, die er im Rahmen einer Veranstaltung beobachtete. Diese kommentiert er mit dem Rat: „[N]imm doch die Person wie jede andere Person, […] sie sind ja auch trotzdem Menschen wie du und ich“ (1073 ff.). Auch an einer Anekdote über eine Reise zu den „Apachen“ (1164) in den USA wird diese Haltung deutlich – und nebenbei zeigt sich hier ein weiterer Kontext, in dem sich die umfassende Orientierungsrelevanz von Herrn Büchners neuer Orientierung dokumentiert. Gemeinsam mit einer Gruppe internationalistisch orientierter, politischer Aktivist*innen wollte Herr Büchner die Apachen mit Geld unterstützen, welches sie durch ein Konzert erwirtschafteten. Von diesen wurden sie als „Whities“ (Z. 1178) allerdings zunächst wenig freundlich aufgenommen, was einige seine Begleiter*innen empörte, die

11Im

Mannheimschen Sinne bezeichnet der „totale Ideologiebegriff“ (Mannheim 1995, S. 53) eine Perspektive, bei der das „Individuum in der Richtung irgendeiner Kollektivität [transzendiert]“ (ebd., S. 56) und so von der Erfahrungsbasis abgehoben wird (vgl. hierzu ausführlicher Abschn. 4.1.2.4 in der vorliegenden Arbeit).

372

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Herr Büchner mit folgenden Worten zitiert: „[I]ch reise hier wieder ab, wissen die denn überhaupt nicht zu schätzen, was wir hier sind? oder was wir gemacht haben?“ (Z. 1190 ff.). Er hingegen nahm die ablehnende Haltung gelassen und kommentierte sie lediglich mit den Worten: „hm, sie werden ihre Erfahrungen gemacht haben“ (Z. 1192 f.). Hier zeigt sich eine Wertschätzung von Menschen mit ihren jeweiligen Erfahrungen, die sich jenseits von ‚totaler Ideologie‘ bewegt. Zusammenfassend schließe ich daraus, dass Herr Büchner Menschen (in einer Minderheitenposition) unterstützt, weil er es für richtig hält, und nicht, weil er ihre Dankbarkeit erwartet oder in ihnen seine politischen Ideen bestätigt sehen will. Sowohl an den geschilderten Interaktionen mit Herrn Blumenthal als auch anhand der Anekdote über die versuchte Unterstützung der Apachen wurde deutlich, dass Herr Büchner seine im Zuge der aktionistischen, kollektiven Praxis im politisierten Kontext ausgebildete neue Orientierung in vielfältiger Weise und in verschiedenen sozialen Kontexten fortsetzt und intensiviert. Er verbindet seine ganze Person mit dieser Orientierung, die für ihn eine umfassende Orientierungsqualität erhält, womit sich eine Transformation seines Habitus abzeichnet. Den transformierten Habitus möchte ich demnach als Habitus der radikalen Verteidigung der Menschlichkeit anderer (benachteiligter oder bedrohter) ­Menschen12 fassen. Anhand der Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie, die am vorläufigen Ende von Herrn Büchners adulten Bildungsprozesses steht, lässt sich die Transformation seines Habitus schließlich auch bekräftigen. Herr Büchner reflektiert rückblickend sowohl die Ereignisse im Kontext der rassistischen Angriffe in Rostock-Lichtenhagen und andernorts, als auch weiter zurückliegende biografische Hintergründe. Zu ersterem gibt er Folgendes an: Im Nachgang der Erfahrungen in Rostock habe er entschieden, dass „Antifa-Politik“ (Z. 1006) für ihn in der Folge dasjenige sein werde, „als was“ er „sich begreift“ (Z. 1008) und wofür er „auch immer noch bindend stehe“ (Z. 1009). In dieser Formulierung dokumentiert sich, welch gewichtigen Anteil seiner selbst, seiner Identität, er heutzutage mit dem Engagement gegen rechts verbindet. Dementsprechend

12‚Menschlichkeit‘

ist hier durchaus im Sinne der Fürsorge und Anteilnahme gemeint, jedoch verbindet sich dieser harmonisch und friedliebend anmutende Aspekt seines Habitus bei Herrn Büchner auch mit dem Gegenpol einer Radikalität, die auch vor Gewalt gegen all jene, die die Menschlichkeit anderer bedrohen, nicht zurückschreckt. Schuhmacher (2013, S. 66) kennzeichnet diese beiden Pole als typisches „Spannungsfeld“ der ‚Antifa‘-Bewegung.

6.1  Bildung im Engagement

373

beschäftigt es ihn auch zum Zeitpunkt des Interviews noch, wie die Aktionen gegen die rassistischen Ausschreitungen damals hätten erfolgreicher verlaufen können (Z. 987 ff.): „was im Nachhinein glaube ich ist mir dann klar geworden, diese Leute (.) wären auch alle gegangen, wirklich nach Hause gegangen, wenn da vielleicht tausend, zweitausend Leute gewesen wären, und ihnen wirklich ganz klar gegenüber gestanden hätten und gesach, verpisst euch hier; das wär glaube ich durchaus möglich gewesen; und ich, vielleicht hätte es auch für die nächsten Jahre auch was ändern können, ich- vielleicht ist das son- so ein Wunschdenken von mir, aber ich bin der Meinung, dass da die Linke auf jeden Fall für mich an dem Tag, oder egal ob Antifa oder sonst, einfach auch an vielen Sachen versagt hat; (2) m- auf jeden Fall für mich auch so mit ein bisschen Wehmut, (2)“.

In den Reflexionen dessen, was zur Umsetzung des Ziels, die Angreifer der Migrant*innen zu vertreiben, gefehlt hat und wie es anders hätte laufen können, dokumentiert sich eine bis heute überdauernde Unzufriedenheit mit den Ergebnissen, sogar „Wehmut“, die – wenn man sie wortwörtlich nimmt – d­ arauf schließen lässt, dass Herr Büchner sich die Zeit von damals zurückwünscht, um die Interventionen vor dem Hintergrund des heutigen Wissens und später angestellter Reflexionen besser planen und zum Erfolg bringen zu können. In dieser Rekapitulation und Reinterpretation der damaligen Ereignisse dokumentiert sich, dass die im Bildungsprozess ausgebildete Orientierung für Herrn Büchner bis heute handlungsleitend ist. Dass die neue Orientierung zudem biografische Orientierungsqualität weit über den ‚Antifa‘-Aktivismus hinaus gewonnen hat, hatte ich bereits angedeutet. Deutlich wird dies beispielsweise anhand der folgenden Reflexionen, in denen Herr Büchner vor dem Hintergrund seiner neuen Orientierung an dem Einsatz für benachteiligte oder bedrohte Menschen eine Reinterpretation seiner biografischen Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend vornimmt. Im argumentativen Nachfrageteil des Interviews möchte die Interviewerin wissen, woher seiner Meinung nach „dieser Impuls kam“ (Z. 1231) „in der DDR gegen diese Autoritäten […] aufzubegehren“ (Z. 1230). Interessant ist hier, dass Herr Büchner in seiner Antwort zunächst ausführlich auf die „Erziehung“ durch seine „Mutter“ (Z. 1239) eingeht, die für ihn „immer […] da[gewesen]“ (ebd.) sei und ihn regelrecht „verhätschelt“ (Z. 1240) habe. Diesen Ausführungen schließt er eine Aussage an, die er einst über „Retter im Holocaust“ gelesen habe (Z. 1252 ff.): „[K]ann ich mir natürlich nicht anmaßen, das, aber ich fand es sehr sehr passend; das ist- da hat glaube ich irgendwann Ende der Neunziger hat mal Eva Fogelman, die hat zehn Jahre lang so eine Studie gemacht, über Retter (.) während der

374

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­ olocaust, so ne, //mhm// ä:h (2) die haben gesagt, dass diese Leute eben halt (.) H einen liebevollen und demokratischen Erziehungsstil genossen haben, in dem Nächstenliebe, Achtung, Toleranz feste Werte waren, diese w- diese Menschen hatten später den Mut, (2) hinzuschauen und zu sehen, was viele nicht sehen wollten; und das hat sie im Prinzip an vielen Punkten, zu einem unabhängigen Kopf, wie sie es genannt hat, //mhm// und ich- ich meine, ich bin ja auch manchmal (.) so (5)“.

Was er sich hier „natürlich nicht anmaßen“ könne, bleibt unausgesprochen, es liegt aber nahe, dass er damit den Vergleich zwischen sich und den „Rettern im Holocaust“ meint. Jedenfalls zählt er sich selbst, so hatte er ja unmittelbar vor dieser Passage am Beispiel der Erziehung seiner Mutter ausgeführt, zu denjenigen, die „einen liebevollen und demokratischen Erziehungsstil genossen haben“. Diese Menschen hätten sich, so zitiert er die Autorin weiter, in späteren Lebensphasen „zu einem unabhängigen Kopf“ entwickelt und den „Mut“ gehabt, „zu sehen, was viele nicht sehen wollten“. Diese Eigenschaften – zumindest ­erstere – attestiert sich Herr Büchner selbst auch („ich bin ja auch manchmal (.) so“). Wichtiger noch als der eigentliche Inhalt erscheint mir für die Frage nach der Art und Weise der Reinterpretation seiner eigenen Biografie aber die sich hier dokumentierende Neuinterpretation des jeweiligen Anteils, den er den beiden Elternteilen an seiner eigenen Entwicklung zuschreibt. Während er am Anfang seiner biografischen Erzählung seine Mutter und seinen Vater als in gleichem Maße prägend darstellte – wenngleich hier beiden eine je eigene Rolle zukam; der Mutter die fürsorgliche und dem Vater jene des nonkonformistischen Vorbildes13 –, so erwähnt er in den Reflexionen am Ende des Interviews nun nur noch seine Mutter. Während er im jugendlichen Einfindungsprozess in eine soziale Bewegung an das Beispiel seines Vaters anschloss – und dessen Orientierung radikalisierte –, so wurde dessen Vorbildfunktion im weiteren Verlauf seines Lebens obsolet bzw. als opportunistisch enttarnt. Stattdessen bekam ein Wert wie Menschlichkeit, für den seine Mutter steht, nun eine größere Bedeutung. In seiner Reinterpretation der eigenen Biografie gewichtet Herr Büchner die Rolle seiner ihm zugewandten und als ‚liebevoll‘ wahrgenommen Mutter nun höher, während er den Vater – an einer anderen, teils schon erwähnten Stelle des Interviews – angesichts seiner „rassistische Sprüche“ (Z. 1318) und seines ‚Opportunismus‘

13Vgl.

ausführlich hierzu die Ausführungen zu den biografischen Hintergründen der Bildungsprozesse in der Jugend (Abschn. 5.2).

6.1  Bildung im Engagement

375

(Z. 1344) ablehnt. Es dokumentiert sich hier, wie Herr Büchner sein eigenes Leben und seine biografische Entwicklung im Sinne seines transformierten Habitus der radikalen Verteidigung der Menschlichkeit anderer neuinterpretiert.

6.1.2 Der adulte Bildungsprozess von Sandra Bach: Von einer politisierten Negation zur politisierten Positivsetzung einer zuvor randständigen Erfahrungsdimension Auch Sandra Bach, die im Jugend- bzw. jungen Erwachsenenalter Anschluss an die „Antifa-szene“ (Z. 69) gefunden hatte, im linken Motoradclub „LMC“ (Z. 109) aktiv war, Kontakte zu einem Verein von Verfolgten während des Nationalsozialismus, dem „VVN“ (Z. 91) pflegte und an Aktionen der Friedensund Umweltbewegungen (vgl. Z. 249 ff.) partizipierte (vgl. Abschn. 5.3), durchläuft im Erwachsenenalter einen weiteren Bildungsprozess, der sich im Rahmen einer Fortsetzung ihres Engagements im Kontext sozialer Bewegungen zuträgt.14 Einige Jahre lang kann das Engagement in diesen verschiedenen Bewegungen, die auf der Ebene von Frau Bachs Orientierung bzw. ihrem im jugendlichen Bildungsprozess herausgebildeten Habitus der politisierten Negation durchaus verbunden sind,15 als ihr vorrangiger Lebensinhalt gelten. Rückblickend betitelt sie die damalige Praxis jedoch als „Demo[…]tourismus“ (Z. 256) – ein Begriff, der die Sinnhaftigkeit des Unterfangens infrage stellt und einen Hinweis darauf gibt, dass Sandra Bach sich von dieser Form des Engagements im weiteren Verlauf ihres Lebens distanziert hat.

14Die

Darstellung der Phasen von Frau Bachs Kindheit und Jugend werde ich im Folgenden etwas kürzer halten als bei Herrn Büchner und den anderen in diesem Kapitel vorgestellten Bildungsprozessen, da ich auf ihren adulten Bildungsprozess in Kap. 7 noch einmal ausführlich eingehen werde, dann unter der Perspektive der Frage nach Normativität und der inhaltlichen Qualifizierung ihres transformierten Habitus.

15So

bezeichnet Frau Bach diese auch übergreifend als „Widerstands- oder (.) soziale Bewegung[en]“ (Z. 247f.) und hebt hervor, dass es sich in diesem Netz sozialer Bewegungen wie bei einem „Schneeball“-Prinzip (Z. 246) verhalte: Über eine Bewegung sei sie hineingekommen und hätte dann sukzessive auch Zugang zu den anderen sozialen Bewegungen bekommen.

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Der Beginn dieses Prozesses fällt ungefähr mit der Geburt ihres S ­ohnes zusammen, die sie ohne den Vater des Kindes, aber mit Unterstützung von Menschen aus dem linken Motoradclub, großzieht. In diesem Zeitraum lässt ihr Engagement in den oben aufgezählten sozialen Bewegungen nach: Wenngleich sie weiterhin an „so kleinere[n] Sachen“ teilnimmt – „gegen die Volkszählung“ (Z. 154 f.) und den „Irakkrieg“ (Z. 156) –, begreift sie diese Phase doch insgesamt als „Pause“ (Z. 135, 157) vom politischen Engagement. Dies liegt auch in ihrer Doppelbelastung als alleinerziehende und berufstätige Mutter begründet, jedoch gibt es auch inhaltliche Beweggründe. Frau Bach gibt an, sie habe bereits zu ihrer aktiven Zeit in den genannten sozialen Bewegungen (Z. 122–129) „immer wieder (1) wie so Reibungspunkte oder (.) Grenzen gemerkt […], (.) wenn ich mich in Richtung Feminismus oder frauenbezogener Arbeit (.) orientiert hab, (.) und versucht hab solche Themen einzubringen in (.) in die Friedensarbeit, in die Umweltarbeit, die Antifaarbeit, (.) gabs da immer n Punkt da war Schluss. (.) da hats die Jungs nich mehr interessiert. (.) da warn andere Dinge wichtiger, (1) und ähm (1) bei mir hats dafür dazu gefü:hrt, (.) dass sich mein Interesse dann verlagert hat. (.) dass ich irgendwann gesagt habe (.) m- mein Hauptinteresse wird sich (.) in Zukunft ähm auf die frauen- feministische Arbeit konzentriern, und ich lass (.) Frieden und Umwelt (.) und die Nazis, (.) mal den andern. (.) sollen sich darum ­kümmern. (2)“

Frau Bach erzählt hier, in den sozialen Bewegungen, in denen sie sich im jungen Erwachsenenalter engagierte, „immer wieder“ auf Granit oder zumindest geringes Interesse gestoßen zu sein, wenn sie versuchte, das Interesse der – offenbar vornehmlich männlichen – Mitstreiter für ‚feministische‘ oder „frauenbezogene“ Themen zu wecken. Dies habe sie schließlich, so gibt sie rückblickend an, zu einer Verlagerung ihres Engagements auf „feministische Arbeit“ und dem damit einhergehenden Beschluss, „Frieden und Umwelt (.) und die Nazis, (.) mal den andern“ zu überlassen, veranlasst. Es dokumentiert sich hier eine Distanzierung von ihrer bisherigen politischen Praxis, in deren Vollzug sie „Reibungspunkte“ wahrnahm. Mit dieser Distanzierung geht jedoch keine grundlegende Ablehnung der anderen Bewegungen einher. Frau Bach beschreibt hingegen eine Distanzierung von ihrer bisherigen politischen Einbindung, ohne diese zu negieren. Sie verortet sich – trotz des bereits erwähnten zeitweiligen Rückzugs – weiterhin in der Kontinuität eines (generellen) politischen Aktivismus in den linken sozialen Bewegungen. Die politische Neuausrichtung bzw. ‚Verlagerung‘ ihres „Interesse[s]“ präsentiert Frau Bach hier als unmittelbare Konsequenz aus der empfundenen Distanz, jedoch wird anhand der vorangegangenen Passage deutlich, dass der – handlungspraktisch vollzogenen – politischen Neuausrichtung noch eine mehrjährige Pause vorausging,

6.1  Bildung im Engagement

377

es sich hier zunächst also eher um eine innerliche Distanzierung gehandelt zu haben scheint. Auch wenn die Distanzierung zunächst also Züge einer gewissen sozialen Desintegration und eines Rückzugs aus dem Bewegungsengagement trägt, so bringt sie letztlich jedoch auch bei Frau Bach eine (erneute) Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken in einem politisierten Kontext mit sich. Frau Bach bleibt hier also, wie Herr Büchner, weiterhin an einem politisierten Kontext orientiert und richtet ihre Offenheit auf neue kollektive Anschlüsse und Praktiken, die zum Repertoire und Kontext einer sozialen Bewegung gehören. Ihre Offenheit ist darüber hinaus, ebenfalls ähnlich jener Herrn Büchners, in dem Sinne als bestimmt oder zielgerichtet zu bezeichnen, als Sandra Bach eine Ausrichtung auf bestimmte politische Inhalte – „Feminismus“ – anvisiert. Mit der Offenheit für neue Anschlüsse im Kontext des Feminismus zeigt sie sich also offen für neue Orientierungen bzw. es deutet sich eine neue Orientierung an, wenngleich diese an dem Punkt des Prozesses nur durch eine vage Richtungsgebung bestimmt ist. Denn die Zielrichtung ‚Feminismus‘ bedeutet keinesfalls, dass Frau Bach die neuen Erfahrungen, die die Verlagerung ihres Engagements mit sich bringen wird, bereits in vollem Maße antizipieren kann. In diesem Sinne wohnt ihrer Offenheit, trotz der relativen (inhaltlichen) Bestimmtheit also durchaus auch etwas Unbestimmtes inne. In Sandra Bachs Distanzierung von der bisherigen politischen Praxis und der Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken in einem politisierten Kontext kann ein erstes Anzeichen für eine Dynamisierung ihres habituellen Gefüges gesehen werden. Einige Jahre später findet diese dann in Frau Bachs homosexuellem „Coming-out“ (Z. 158) eine Fortsetzung. Erst kurze Zeit nach ihrem veränderten Umgang mit der eigenen sexuellen Orientierung, setzt Frau Bach ihre Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken dann auch wirklich – über den bisherigen partiellen Rückzug hinausgehend – in die Tat um und schaut sich nach neuen Möglichkeiten des politischen Engagements um16 (Z. 157 ff.): „und (4) 95 wars=so ziemlich (2) genau, (.) ähm (2) da war ich (.) sozusagen durch mein Coming-out, (.) das hatte sich ne ganze Weile hingezogen, (1) und ähm (.) hab mich dann umgeguckt (.) zu sehn wo kann ich mich engagieren? (.) weil (.) mich politisch zu engagieren is für mich auch immer ne Möglichkeit in Kontakt zu kommen. (1) mit andern. (.) hab ich so von (.) von Jugend auf, (.) ist das n Muster. (.) und hab mich dann umgeguckt, was es so gibt, (.) und bin auf das Lesbische Netzwerk gestoßen. (2)“

16Dies

wird zudem davon begünstigt, dass ihr Sohn mittlerweile das Teenageralter erreicht hat und Frau Bach wieder mehr Zeit für sich selbst hat.

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6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Vor dem Hintergrund ihres „Coming-out[s]“ sucht Sandra Bach nach einer handlungspraktischen Umsetzung ihrer Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im politisierten Kontext, die sie bereits als feministisch konkretisiert hatte; sie möchte sich „engagieren“. In einer Theorie zum eigenen Selbst attestiert sie dem eigenen Vorgehen dabei das zugrunde liegende „Muster“, sich über politische Aktivität in Beziehung zu anderen Menschen zu setzen, „in Kontakt zu kommen“. Ihre Suche führt sie zum „Lesbische[n] Netzwerk“, in dem sie – so wird im Folgenden zu sehen sein – das Thema weiblicher Homosexualität kollektivieren und neue biografische Bedeutsamkeiten entwickeln kann, die alsbald dimensionsübergreifenden Charakter erhalten. So bilden Frau Bachs Coming-out und ihre inhaltliche Distanzierung von den Protestbewegungen, zu denen sie sich in ihrer jungen Erwachsenenzeit zugehörig fühlte, den Hintergrund ihrer Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken in einem politisierten Kontext und zugleich den Beginn ihres adulten Bildungsprozesses. Im ‚Lesbischen Netzwerk‘, an dessen jährlicher „Mitfrauenversammlung“ (Z. 163) sie sogleich teilnimmt, wie sie im Anschluss an die oben zitierte Passage berichtet, macht sie erste Erfahrungen in einer neuen, kollektiven und politisierten Praxis, ohne diese bereits vollumfänglich zu teilen. Doch gehen diese ersten, erprobenden Partizipationen an der Praxis der Frauen fast unmittelbar in einen Anschluss an die politische Gruppe über (Z. 164 ff.): „und da bin ich dann hingefahren. (.) hab die Frauen kennengelernt, (.) fand das spannend was die machen, (.) und bin seitdem (.) im Verein aktiv. (.) zwei Jahre später in den Vorstand gewählt worden, das ist bei uns so, wenn du regelmäßig an den Arbeitstreffen teilnimmst wirst du irgendwann zur Strafe in den Vorstand @ gewählt@, @(1)@ und (.) seit sieben Jahren mach ich jetzt die Vereinsverwaltung, (.) und seit (.) fünf Jahren die Finanzen noch dazu.“

Zwischen dem ersten „[H]infahren“ und der „aktiv[en]“ Mitgliedschaft liegt in ihrer Erzählung nur die Erwähnung dessen, dass sie die Praxis der anderen Frauen als „spannend“ empfunden hat. Frau Bach schließt sich der Gruppe unmittelbar an. Während sie zunächst davon spricht, „die Frauen kennengelernt“ (Kursivsetzung S.T.) zu haben, so wechselt sie zwei Zeilen später bereits zum Personalpronomen „uns“, denkt sich und die Frauen also sodann als Gemeinschaft. In der Folge engagiert sich Frau Bach rege im Kontext dieses politischen Vereins und übernimmt sogar alsbald Führungsaufgaben. Im Zuge ihrer Partizipation an der Praxis der Frauen entstehen bei Frau Bach fast unmittelbar neue biografische Bedeutsamkeiten. In der Gemeinschaft der Frauen erlebt sie nicht nur theoretisch, sondern im direkten, sozialen Kontakt – so

6.1  Bildung im Engagement

379

führt sie an anderer Stelle des Interviews aus –, dass sie „nich die einzige“ „auf der Welt“ (Z. 424) ist, sondern „es auch andere gibt“ (Z. 426), die lesbisch leben und lieben. Mit der Politisierung ihres Lesbisch-Seins setzen die Frauen dem (potenziellen) Stigma eine eigene Normalität – und in ihrem exklusiven Kreis sogar eine Norm – entgegen. Frau Bach kann in diesem neuen Kontext also in positiver, d. h. sozial bestätigter Art und Weise, an ihre Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend anschließen, die dadurch geprägt waren, dass sie eben nicht als ganze Person – und schon gar nicht in Bezug auf ihre Liebe zu einem anderen Mädchen – akzeptiert wurde. Um im Folgenden die biografische Tragweite der von Frau Bach hier bloß angedeuteten Erfahrung, sich als „die einzige“ gefühlt zu haben, besser nachvollziehbar werden zu lassen, werde ich auch zu den biografischen Hintergründen des adulten Bildungsprozesses von Frau Bach einen Exkurs einfügen. Exkurs zu im adulten Bildungsprozess relevanten, latenten Erfahrungshintergründen aus Frau Bachs Kindheit und Jugend

Die biografische Bedeutung ihres Anschlusses an das ‚Lesbische Netzwerk‘ und ihrer hier gemachten Erfahrung, die eigene sexuelle Orientierung an ein Kollektiv anbinden zu können, wird erst dann in vollem Umfang begreiflich, wenn man betrachtet, an welche biografischen Erfahrungshintergründe Frau Bachs adulter Bildungsprozess anschließt. Zentral ist hier eine Erfahrungsdimension, die in ihrem jugendlichen Bildungsprozess interessanter Weise keine Rolle gespielt hat, obwohl hier biografische Erfahrungen angesprochen sind, die auf Ereignissen aus Frau Bachs Jugend fußen.17 Es geht hier um eine prägende Erfahrung, die bis zum Beginn des adulten Bildungsprozesses als weitgehend unbearbeitet gelten kann und der durchaus ein prekärer, im Sinne von destabilisierender Charakter zugesprochen werden kann, wenngleich dieser über viele Jahre lediglich latent vorhanden war und nicht akut destabilisierend gewirkt hat. Es handelt sich dabei um die Erfahrungen im Kontext ihrer bereits erwähnten ersten Liebe im Jugendalter, die im Suizid ihrer Freundin endete (Z. 405 ff.):

17Der

Umstand, dass eine Erfahrungsdimension, die für den adulten Bildungsprozess zentral ist, für den adoleszenten Bildungsprozess keinerlei Rolle spielt, verweist wiederum auf die Mehrdimensionalität des Habitus (vgl. Abschn. 4.1.3) und deren Bedeutung für Bildungsprozesse. So wurde im adoleszenten Bildungsprozess diese Thematik und Habitusdimension offenbar nicht tangiert, wohingegen sie in einer späteren Lebensphase dann in den Vordergrund tritt. In einer anderen Dimension des Habitus kann sich also stets das (Negations-)Potential für weitere Bildungsprozesse verbergen.

380

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

„ich (.) hab mich mit 15 in meine beste Freundin verliebt. (1) und ähm (3) hatte überhaupt keine (1) Bilder, Begriffe, sonst irgendwas, (.) für das was da passiert is. weil (2) Lesben oder sowas kam nich vor. (.) also weder (.) in meiner Erziehung, noch sonst (.) in irgendwelchen Medien zu denen ich Zugang hatte, (.) in Büchern, (.) zu denen ich Zugang hatte; nichts. also da war einfach (1) n völlig leeres Feld. (.) es war nur das Gefühl, (.) dass (.) was bei mir (.) nicht so is wie bei allen andern. (.) und dass das vermutlich nich in Ordnung is. (.) und das war (.) bei ihr auch so. (.) und bei ihr leider so, (1) dass sie damit nich fertig wurde. (.) und sich erhängt hat. (2) an unserer Lieblingsschaukel aufm Spielplatz. und hat n Brief hinterlassen in dem sie das (.) halt erklärt hat, dass das auch mit mir zu tun hat, (.) ähm was mich erst mal sehr sehr hetero hat werden lassen. (.) diese ganze Geschichte. also ich hatte (.) tierisch Angst. dies- dies alles war wahnsinnig gefährlich. (.) kostet Menschen das Leben, (.) darf nich sein. hab mit 19 geheiratet, (.) mit 22 () oder knapp 23 n Kind gekriegt, (.) also ich war so (.) hetero wirklich wie @nur irgendwas@. (.) aber ich bins einfach nich. (3)“

Im Zuge der Verliebtheit in die beste Freundin entsteht bei der jungen Sandra Bach – aus Mangel an anderen Vorbildern – die Wahrnehmung, ­ „nich in Ordnung“ zu sein; ein Zustand, den sie am Rande bemerkt auch in Bezug auf andere Themen aus ihrem Elternhaus kennt, in dem „auf die […] Kinderbedürfnisse keine Rücksicht“ (Z.  377  f.) genommen worden sei. Ihre Freundin treibt die im sozialen Umfeld und in der Gesellschaft im Allgemeinen herrschende Sprachlosigkeit in Bezug auf Homosexualität in den Suizid. Der jugendlichen Sandra Bach bieten sich keine anderen Möglichkeiten, als den betreffenden Teil ihres Selbst (in der Welt) zu negieren. Sie gibt an, in der Folge „sehr sehr hetero“ geworden zu sein. In der Formulierung des ‚Geworden-Seins‘ dokumentiert sich die Tragweite des Erfahrenen: Den homosexuellen Empfindungen kehrt sie nicht nur rational den Rücken, ihr Selbst- und Weltverhältnis ist in den nächsten 15 Jahren dasjenige einer heterosexuellen Frau. Sandra Bach betont dies in der Feststellung: „[I]ch war so (.) hetero wirklich wie @nur irgendwas@.“18

18Diese

umfassende Abkapselung und Negierung ihrer Homosexualität – nicht nur aus ihrem mehr oder minder bewussten Selbst(- und Weltverhältnis), das ich hier als die auf den Habitus bezogene, ihn aber reflektierende und explizierende persönliche Identität verstehe, sondern in gewisser Weise auch aus ihrem gesamten (vorreflexiven) Sein – erklärt nebenbei bemerkt auch, warum diese Erfahrungsdimension für ihren adoleszenten Bildungsprozess offenbar keine Rolle gespielt hat. Eventuell hat der adoleszente Bildungsprozess – im Sinne eines Stellvertreterschauplatzes – auch dazu beigetragen, dass Frau Bach ihre Homosexualität längerfristig kapseln konnte; dies bleibt aber letztlich spekulativ.

6.1  Bildung im Engagement

381

In der unmittelbar auf die o. g. Feststellung folgenden Theorie zum eigenen Selbst „aber ich bins einfach nich“ dokumentiert sich hingegen Frau Bachs Perspektive zum Zeitpunkt des Interviews. Während die erste, in der Vergangenheitsform gefasste Aussage auf den Habitus verweist, wie er sich bei Frau Bach in der Jugend ausgebildet hatte (und sie ihn in der Folge mehr als zwei Jahrzehnte lang mit Leben füllte), so dokumentiert sich in der zweiten Aussage anhand der Gegenwartsform das habituelle Gefüge, wie es sich zum Zeitpunkt des Interviews gestaltet, respektive sich im adulten Bildungsprozess im Kontext des ‚Lesbischen Netzwerks‘ herausgebildet hat. Es ist nicht – wie man zunächst annehmen könnte – zuvorderst das Coming-out, sondern vor allem der darauffolgende Anschluss an die Frauen-/ Lesbenbewegung, der ihr eine Rethematisierung dieses in starkem Maße angst- und schambesetzten Teils ihrer Lebensgeschichte ermöglicht. Hatte sie nämlich z. B. trotz Coming-outs weiterhin eine diffuse Angst, andere mit ihrer Homosexualität „um[zu]bringen“ (Z. 435), so kann sie in der feministischen Bewegung diese ehemals als persönliche Problematik erlebte biografische Erfahrung in einem kollektivierten und zugleich politisierten Licht neu erfahren und zum Schluss kommen, „dass es auch nichts Schlimmes is“ (Z. 429). Im Kreise einer Frauengruppe im Kontext der feministischen Bewegung findet Frau Bach viele Jahre nach dem Suizid ihrer Freundin also Möglichkeiten der Integration dieser traumatischen Erfahrung in die eigene Lebensgeschichte. Im Kontext der kollektiven und politisierten Praxis der Frauen kann Frau Bach sich selbst also in neuem Lichte erfahren. Das sich zu Beginn des Bildungsprozess angedeutete Interesse am Feminismus gewinnt nun unmittelbar an Orientierungsrelevanz und erfährt zudem eine Konkretisierung: als Orientierung an einer Politisierung des Frauseins und Lesbisch-Seins. Für diese zweite Phase von Frau Bachs Bildungsprozess, die auch in ihrem Fall als Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis im politisierten Kontext zu bezeichnen ist, kann also festgehalten werden, dass eine mit der Distanzierung von ihrer bisherigen politischen Einbindung sowie mit ihrem Coming-out begonnene Dynamisierung ihres Habitus sich im Kontext der Frauen-/Lesbenbewegung fortsetzt. Durch die neuen Erfahrungen in der Gemeinschaft der Frauen rückt eine zuvor randständige Dimension ihres Habitus ins Zentrum der Aufmerksamkeit und ihre neue Orientierung gewinnt quasi unmittelbar an biografischer Bedeutsamkeit. Dabei kommt der im ‚Lesbischen Netzwerk‘ stattfindenden, konjunktiven sozialen Bestätigung – d. h. auf homologen Erfahrungen und kollektiven Orientierungen basierenden sozialen

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6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Handlungen und kollektiven Selbstrepräsentationen, über die die Akteurinnen gegenseitig ihre Orientierungen bekräftigen – eine wichtige Rolle zu. Frau Bach bekommt hier in Bezug auf ihre neue Orientierung und Handlungspraxis sozialen Rückhalt und findet in diesem feministischen Anschluss im Austausch über die eigenen Erfahrungen als Frau und Lesbe eine (politisierte) Erweiterung ihrer eigenen Perspektive; es entsteht bei ihr „son (.) weiterer Blick. dank der Frauenbewegung“ (Z. 427), wie sie es selbst nennt. Im Anschluss an diese ersten Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis im politisierten Kontext ist auch bei Frau Bach sodann eine Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten zu rekonstruieren. Nicht nur führt sie das Engagement im ‚Lesbischen Netzwerk‘ seit ca. 15 Jahren fort und bezeichnet dieses als ihre „Traumvorstellung von politischer @Arbeit@“ (Z. 205), auch bringt sie sich gemeinsam mit anderen Frauen aus dem Verein in den „Landesfrauenrat“ (Z. 339) ein, in dessen Rahmen sie sich mit Frauen verschiedenster politischer Couleur auseinandersetzen muss und dies auch tut. Frau Bach hat also nicht nur eine Orientierung an der Politisierung des Frauseins und ihrer sexuellen Orientierung ausgebildet, sondern im Kontext der neuen, kollektiven Handlungspraxis auch die Bereitschaft dazugewonnen, sich mit politisch Andersdenkenden auseinanderzusetzen; wenngleich Provokation auch hier weiterhin eine Rolle spielt.19 Die politischen Schlagabtausche im Landesfrauenrat beinhalten Momente sozialer Bestätigung – sowohl als kollektive Selbstvergewisserung Sandra Bachs und ihrer Mitstreiterinnen in Form einer konjunktiven, positiven Verstärkung, als auch als negativ verstärkende Bestätigung durch die Auseinandersetzungen mit den politischen Gegnerinnen.20 Sie dienen aber durchaus auch der politischen Gestaltung. Im Gegensatz zum Habitus der politisierten Negation, den Frau Bach im jugendlichen Bildungsprozess ausgebildet hatte, ist es ihr nun möglich, mit politischen Kontrahentinnen in einem gemeinsamen Gremium zu agieren und hier vorhandene Differenzen auszuhalten.

19Dass

ihr die Auseinandersetzung mit politisch Andersdenkenden meines Erachtens vor allem vor dem Hintergrund der identitätsversichernden, kollektiven Politisierung des Frauseins und Lesbisch-Seins möglich ist, möchte ich in Kap. 7 näher erläutern. Dort wird es auch ausführlicher um die Art und Weise ihres Engagements im Kontext des ‚Landesfrauenrats‘ und um die nähere inhaltliche Bestimmung ihrer neuen Orientierung gehen. 20Auch solchen negativen Außenreaktionen kann, wie ich bereits in Abschn. 5.3 aufgezeigt habe, durchaus der Stellenwert einer sozialen Bestätigung der neuen Orientierung zukommen.

6.1  Bildung im Engagement

383

Die Dynamisierung von Frau Bachs Habitus setzt sich in der Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung also auch in einem anderen Kontext fort und die neue Orientierung zeitigt Konsequenzen, die über die ‚bloße‘ Kollektivierung der sexuellen Orientierungen hinausgehen. Es zeichnet sich hier ab, dass Frau Bachs neue Orientierung eine weitere Ausdifferenzierung erfährt und auch in anderen Kontexten ‚Anwendung‘ und soziale Bestätigung findet. So erlangt sie beispielsweise auch durch ein Theaterstück, das sie gemeinsam mit einer Partnerin aus einer „kritisch feministischen“ (Z. 299) Perspektive produziert, einen gewissen Bekanntheitsgrad im erweiterten feministischen Milieu und wird u. a. für den einen oder anderen „Vortrag“ (Z. 296) angefragt; auch dies stellt sicherlich eine soziale Bestätigung ihrer neuen Orientierung dar. Doch auch ihr soziales Leben spielt sich maßgeblich im Bewegungsmilieu ab, sodass davon gesprochen werden kann, dass die neue Orientierung immer mehr an biografischer Orientierungsqualität gewinnt und verschiedene Dimensionen von Sandra Bachs Habitus tangiert. Diesen transformierten Habitus möchte ich als Habitus einer politisierten Positivsetzung der Erfahrungsdimension des Frau- und Lesbisch-Seins bezeichnen. Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie markiert schließlich auch bei Sandra Bach das vorläufige Ende ihres Bildungsprozesses. Dass ihr biografisches Interview insgesamt stark von Reflexionen durchzogen ist, kann bereits als ein Indiz für eine reflexive Bearbeitung der eigenen Lebensgeschichte gelten. Doch lassen sich auch Reflexionen finden, in denen eine Reinterpretation der eigenen Lebensgeschichte vor dem Hintergrund des im adulten Bildungsprozess ausgebildeten Habitus einer politisierten Positivsetzung der Erfahrungsdimension des Frau- und Lesbisch-Seins deutlich wird. Im Exkurs zu den für den adulten Bildungsprozess relevanten, latenten Erfahrungshintergründen aus Frau Bachs Kindheit und Jugend war ich bereits auf eine Passage des Interviews mit Frau Bach eingegangen, in der sie die biografischen Folgen reflektiert, die ihre erste Liebe und der darauffolgende Suizid ihrer Freundin für ihr eigenes Leben hatten. Diese bestehen darin, dass sie lange Zeit ein (heterosexuelles) Leben gelebt habe, das ihr eigentlich nicht entspräche – was sie mit der Aussage „ich bins einfach nich“ (Z. 417) deutlich macht. Hier dokumentiert sich, dass Frau Bach selbst davon ausgeht, eine Art eigentlichen Kern ihrer selbst (wieder)entdeckt zu haben, der zuvor lange Zeit keinen Raum bekommen hatte.21 Den Wendepunkt sieht

21Wenn

man hier mit Frau Bachs Perspektive geht, kann ihre Bildung im Erwachsenenalter auch als ein Prozess interpretiert werden, in dessen Zuge sie zu dem wird, was sie schon längst hätte sein können, hätte es nicht biografische Erfahrungen wie das tragische Ende ihrer ersten Verliebtheit gegeben, die sie zu ‚einer anderen‘ gemacht hatten.

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6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Frau Bach in ihrem Kontakt zur Frauenbewegung begründet, was sie im Zuge der Reflexion dessen, wie sie „diese Geschichte“ – und damit meint sie hier den Suizid ihrer Jugendfreundin – schließlich ‚hinter sich lassen‘ konnte, deutlich macht. Es habe (Z. 422–427) „einfach (.) ne ganze (.) Weile (.) erstens des Heilungsprozesses gebraucht, diese Geschichte das hinter mir zu lassen. (.) und einfach auch (.) n Hintergrund dazu entwickeln, (.) dass ich aber nich die einzige bin auf der Welt; (.) der das so geht, beziehungsweise (.) meine damalige Freundin die () oder das wir die beiden einzigen sind, (.) ähm (.) sondern dass es auch andere gibt das hat sich einfach erst im Laufe (.) der Zeit (.) ergeben. son (.) weiterer Blick. dank der Frauenbewegung @ zum Glück@. ne? (1)“

Frau Bach deutet hier an, dass zwischen dem Suizid ihrer Freundin und ihrer heutigen Perspektive ein langer Weg liegt, den sie sodann als „Heilungsprozess“ reflektiert. Dessen Ermöglichung spricht sie der Frauenbewegung zu, in deren Kontext sie einen neuen Blick auf sich und ihre eigenen Erfahrungen habe entwickeln können. Hatte sie sich zunächst (gemeinsam mit ihrer Freundin) als einzige lesbische Frau begriffen, so kann Frau Bach sich im Kontext der feministischen Bewegung und ihrer lesbischen Mitstreiterinnen als Teil einer größeren gesellschaftlichen Gruppe sehen, sich selbst in der „Welt“ anders – kollektiv – verorten und dementsprechend auch ihre eigene Biografie in neuem Lichte sehen. Durch diese Reflexionen ihres eigenen Geworden-Seins vermag sie eine biografische Kohärenz zwischen ihrem einstigen Selbst- und Weltverhältnis und ihrer heutigen, durch den transformierten Habitus geprägten Perspektive herzustellen.

6.1.3 Zusammenfassung der Phasen adulter Bildungsprozesse im Zuge des fortgesetzten Engagements in sozialen Bewegungen Die beiden soeben vorgestellten adulten Bildungsprozesse vollzogen sich im ­Rahmen eines fortgesetzten Engagements in sozialen Bewegungen. Herr Büchner reagiert mit politischem Aktionismus auf ein gesellschaftliches Ereignis, wodurch bei ihm ein Prozess in Gang gesetzt wird, in dessen Verlauf er seinen Habitus der politisierten Verteidigung eigener (nonkonformistischer) Freiheiten hin zu einem Habitus des politisierten Eintretens für die Freiheiten und Menschlichkeit anderer transformiert. Bei Frau Bach findet eine Verlagerung ihres Engagements von einst

6.1  Bildung im Engagement

385

mehreren, thematisch unterschiedlich ausgerichteten sozialen Bewegungen – in denen sie mit ihrem Habitus einer breit angelegten, politisierten Negation andocken konnte –, auf nunmehr nur eine soziale Bewegung statt. Dieser Prozess, in dessen Zuge sie einen transformierten Habitus ausbildet, für den die politisierte Positivsetzung einer zuvor randständigen Dimension des Habitus – ihr Frau- und Lesbisch-Sein – zentral ist, nimmt seinen Ausgangspunkt in der Distanzierung Frau Bachs von ihrer bisherigen Einbindung in soziale Protestbewegungen. So steht am Anfang beider hier betrachteten Bildungsprozesse eine Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken in einem politisierten Kontext. In dieser ersten Phase des adulten Bildungsprozesses im fortgesetzten Bewegungsengagement ist in Ansätzen bereits eine Dynamisierung der Habitus erkennbar. Diese schreitet bei beiden Akteur*innen fort, als sie im Kontext der neuen Anschlüsse und Handlungspraxis neue Erfahrungen machen und in diesem Kontext eine neue Orientierung ausbilden bzw. eine sich zuvor in Ansätzen bereits angedeutete Orientierung an Form annimmt. Diese erhält im Zuge der neuen, kollektiven und politisierten Handlungspraxis unmittelbar eine hohe biografische Orientierungsqualität, weshalb ich hier von einer Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis im politisierten Kontext spreche. In der darauffolgenden Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten bestätigt sich diese hohe biografische Bedeutsamkeit der neuen Orientierung nicht nur in der bereits genannten, neuen Handlungspraxis, sondern auch in anderen sozialen Kontexten. Sie erfährt hier eine weitere Ausdifferenzierung, sowie soziale Bestätigung. In beiden Fällen ist vor allem die Fortsetzung der bereits in der vorangegangenen Phase vorhandenen, positiv verstärkenden sozialen Bestätigung im konjunktiven Erfahrungsraum der Aktivist*innen zu nennen, aber auch eine positive Bestärkung durch Vorbilder spielt (im Falle Herrn Büchners) eine Rolle sowie Formen negativ verstärkender sozialer Bestätigung – letztere lassen sich zumindest erahnen, wenn man sich z. B. Herrn Büchners aktionistische ‚Antifa‘-Praxis vor Augen führt, die auf der Konfrontation mit Rechten fußt, oder aber an Frau Bachs politische Schlagabtausche im Landesfrauenrat denkt, die durchaus konfrontativ angelegt sind. Am vorläufigen Ende der adulten Bildungsprozesse steht eine Reinterpretation der eigenen Biografie. In ihren biografischen Reflexionen wird deutlich, dass sowohl Frau Bach als auch Herr Büchner vor dem Hintergrund ihrer transformierten Habitus ihr eigenes ‚Geworden-Seins’ in neuem Lichte interpretieren, womit sich die Transformationen ihrer Habitus bestätigen.

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6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

6.2 Bildung im Rückzug vom Engagement Während bei Herrn Büchner und Frau Bach Bildungsprozesse im Erwachsenenalter rekonstruiert werden konnten, die sich im Zuge einer Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen vollzogen – wenn hier auch Verlagerungen auf andere Bewegungen oder Teile einer Bewegung vorlagen –, gestalten sich die adulten Bildungsprozesse von Frau Weber und Frau Kubitschek im Rahmen eines Rückzugs aus der Bewegung, in der beide Frauen ihr junges Erwachsenenleben verbrachten. Im Kontext des linksautonomen Bewegungsmilieus konnten sie – die eine in Hamburg, die andere in Berlin – ihre im jugendlichen Bildungsprozess ausgebildeten Habitus einer politisierten Negation an ein Kollektiv anbinden, doch führt es sie Ende der 1990er-Jahre im Alter von Mitte 30 beide wieder aus dem Bewegungsmilieu hinaus. Während Frau Kubitschek dabei weiterhin einen Wunsch nach neuen Anschlüssen im Kontext sozialer Bewegungen hegt, welcher aber weitgehend unerfüllt bleibt, distanziert sich Frau Weber im Rahmen ihres adulten Bildungsprozesses, mit dessen Darstellung ich im Folgenden beginnen möchte, gänzlich von der sozialen Bewegung und dem Bewegungsmilieu.

6.2.1 Der adulte Bildungsprozess von Anja Weber: Von einer kollektiv gelagerten politisierten Negation zur individuellen Verbesserung von Missständen Frau Weber hatte nach ihrem Bildungsprozess in der Jugend einige Jahre im Hausbesetzer*innen-Milieu Berlins verbracht und ihre Aktivitäten dann immer mehr in die autonome Bewegung verlagert. Ihre Einbindung in das autonome Milieu, in dessen Rahmen sie über viele Jahre hinweg nahezu alle Lebensvollzüge realisiert hatte, wird Ende der 1990er-Jahre gleich in mehreren Dimensionen brüchig. Im Kontext dieser vielfältigen Auflösungserscheinungen (ent-) steht auch bei Frau Weber zu Beginn ihres Bildungsprozesses im Erwachsenenalter eine Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken. Doch handelt es sich hier nicht, wie bei ihrem jugendlichen Bildungsprozess gesehen, um eine Offenheit für kollektive Anschlüsse und auch nicht, wie bei den adulten Bildungsprozessen von Frau Bach und Herrn Büchner, um eine Offenheit für politisierte Praktiken.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

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6.2.1.1 Die Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken vor dem Hintergrund von akuten Desintegrationserfahrungen Durch den „Konkurs“ (Z. 341) des Kneipenkollektivs „Ska“ (Z. 339), in dem sie über Jahre hinweg gearbeitet hat, gerät Frau Webers finanzielles Auskommen ins Wanken. War es ihr zuvor im Kontext des Bewegungsmilieus doch mehr als ein Jahrzehnt lang gelungen, berufsbiografische Planungen fast gänzlich zu suspendieren, so trifft sie dies nun hart. Statt einer institutionell gerahmten Berufsbiografie hat Frau Weber sich in den Jahren zuvor eine – maßgeblich durch ihre exponierte Stellung in den für die Bewegung relevanten Einrichtungen des Cafékollektivs und des „Lautsprecherwagen[s]“ begründete – „Weddingkarriere“ (Z. 297) erarbeitet, d. h. eine vornehmlich an Sozialität ausgerichtete Etablierung im linksautonomen Milieu Weddings. Dort konnte sie sozial integriert leben, ohne sich mit berufsbiografischen Fragen zu konfrontieren.22 Wie sie in der folgenden Passage angibt, habe sie in diesem Milieu generell sehr „wenig Geld“ benötigt, was sich mit dem „Ende“ des Kneipenkollektivs allerdings abrupt ändert (Z. 341 ff.): „es [war] dann zu Ende mit dem Ska. und son bisschen (2) bisschen ne ich wollt grad sagen, son bisschen wars dann generell zu Ende aber es war glaub ich der Anfang eigentlich schon son bisschen von dem, dass ich mich so (.) aus diesem ganzen Szeneding son bisschen verabschiedet hab würde ich jetzt mal tippen. ich hab dann zwar noch lange Lautsprecherwagen gemacht, (2), aber ich glaub das war dann auch schon son bisschen der Anfang, dass ich. (°was hab ich dann eigentlich gemacht?°) ich hab dann angefangen dass ich () Umschulungen, und so. //mhm// ich hatte ja den Luxus eigentlich, dass ich (2) dass ich ähm mir wenig Sorgen um mein Auskommen machen musste. und von da aus wirklich Zeit hatte //ja?// um auf Demos zu gehen und irgendwie ja. ja ich war immer hatte immer irgendwelche Jobs und hab dann aber auch immer wieder Arbeitslosengeld gekriegt, es war irgendwie @ganz einfach@ @(.)@ so und man braucht ja nicht viel Geld in den besetzten Häusern hast ja keine Miete gezahlt. und (1) Essen war irgendwie auch oft da. @(.)@ das stand da dann halt. ne aber im Ernst man hat da wirklich wenig Geld gebraucht.“

22Frau

Webers Suspendierung der berufsbiografischen Thematik im Kontext des Bewegungsmilieus hatte ich bereits in Abschn. 5.3 thematisiert. Auf die biografischen Hintergründe dieses Lebens jenseits der institutionellen Ablaufmuster eines (beruflichen) Lebenslaufs werde ich später noch einmal ausführlicher eingehen.

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6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Mit der Schließung des „Ska[s]“ endet die Zeit der relativen finanziellen Sorglosigkeit, die sie vor allem in den kollektiv organisierten Strukturen der Hausbesetzer*innen verbracht hatte und in der sie problemlos „immer irgendwelche Jobs“ gefunden hatte.23 Gerade weil der Konkurs des Kneipenkollektivs nicht das Einzige ist, das in dieser Phase ihres Lebens zu einem Ende kommt, erhält die Schließung der Kneipe den Status eines Sinnbilds für das ‚generelle Ende‘ (von Frau Webers Zeit in der sozialen Bewegung). Denn zeitgleich datiert sie auch den Beginn ihres Rückzugs aus dem „Szeneding“ im Allgemeinen; ohne hier bereits auf die Hintergründe einzugehen, die an späterer Stelle noch deutlich werden. Es bleibt festzuhalten, dass neben dem finanziellen Auskommen zu dieser Zeit also auch ihr Gefühl der Zugehörigkeit zum autonomen Milieu insgesamt brüchig wird. Anja Weber verspürt eine Distanz zu den Inhalten und Ausdrucksformen der autonomen Bewegung, in deren Kontext sie sich ca. 15 Jahre lang bewegt hatte. Auf die Nachfrage der Interviewerin nach dieser bereits zuvor erwähnten Lebensphase schildert sie den Beginn ihrer Entfremdung von vormals zentralen Handlungspraktiken (Z. 643 ff.): „also man wurde dann zeitweise auch gesiezt im Lautsprecher()@ //@(.)@// @ da fing’s dann irgendwie@ an ein bisschen komisch zu werden, (2) aber (7) ich glaube, (.) ich glaube ich hab ahm damals gar nicht- gar nicht so- so drüber nachgedacht, warum und wieso, ich glaube ich hat- hat wirklich auch ein bisschen (.) der Reiz nachgelassen na, man hatte ja jetzt wirklich auch schon sich hundert Mal die Blase unterkühlt auf irgendwelchen stundenlangen Demos, und ahm- und ein bisschen (.) würde ich im Nachhinein sagen, (2) war’s halt irgendwann nicht mehr die Ausdrucksform //mhm// die man brauchte, m- oder die man wollte oder so, es war tatsächlich, ja, es war auch zu mühsam so ein bisschen was, und das ist halt letztendlich dann auch mehr vom dem ahm von der- von der, wie nennt man das, diese- diese finanzielle Notwendigkeit oder diese- diese wirtschaftliche ahm ahm ahm Verpflichtung, die du dann ja auch eingehst, und du- du- du-, also es war ja bei mir relativ spät, dass ich dann wirklich gesagt habe, ich will jetzt einen Beruf haben und ik wollte damals ja auch Geld verdienen, das war klar mit diesem Jobben das geht auch nicht mehr so gut, // mhm // war dann über dreißig und man kriegte keine

23Das

Ende dieser sorglosen Zeit erklärt sich hier nur mit dem aus anderen Passagen des Interviews herrührenden Kontextwissen, dass Frau Weber mittlerweile aus dem besetzten Haus in eine Wohngemeinschaft im Wedding gezogen ist, in der sie Miete zahlen muss. Damit hat sie sich auf Strukturen eingelassen, in denen sie Geld verdienen muss, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, wenn auch im milieuinternen Kneipenkollektiv. Dies wird erst dann zum Problem, als sie aufgrund des Konkurses nicht weiter im „Ska“ arbeiten kann.

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389

coolen Jobs mehr das hat dann so aufgehört, und dann (.) war das so ein gleichzeitiges Ding dieses (2) ja, das nimmt dann mehr Raum ein auch so na, und- (.) und gleichzeitig (.) es sind glaube ich haben viele Sachen nicht mehr gestimmt, also die Ausdrucksform hat nicht mehr gestimmt, die Familie hat wieder einen höheren Stellenwert gekriegt, ich glaub, das hat plötzlich auch nicht mehr gestimmt, // mhm // und diese- diese ahm Wunschfamilie, oder diese ahm Wahlfamilie die man hatte, das war ja (.) die WG dann damals, die ist gescheitert, also oder wir sind auseinandergegangen, und (.) ganz viele in der Szene sind ja dann so (2) weggegangen, sind ja dann wieder ganz vi- viele Neue dazu gekommen, so Jüngere und so, und das hat sich alles so, also diese Wahlfamilie hat sich so ein bisschen zerbröckelt // mhm// sag ich mal, na,“

Nicht nur im Cafékollektiv kann Frau Weber nicht mehr arbeiten, auch generell funktioniert das über Jahre hinweg unkompliziert gewesene „Jobben“ nun mit „über dreißig“ nicht mehr. Neben den ökonomischen Zwängen kommen zu dieser Zeit aber noch etliche andere ihrer routinierten Handlungszusammenhänge ins Straucheln. So verliert die politische „Ausdrucksform“ der „stundenlangen Demos“ für Anja Weber allmählich ihren „Reiz“, sie nimmt diese nunmehr als „mühsam“ wahr. Der u. a. auch auf eine Altersthematik verweisende Umstand – so jedenfalls fasst es Frau Weber selbst –, mittlerweile im Lautsprecherwagen „gesiezt“ zu werden, dürfte die einsetzende Entfremdung von ihrer langjährigen politischen Praxis wohl verstärkt haben; Frau Weber schildert dies jedenfalls als Beginn einer Befremdung: Von da an sei es „komisch“ geworden. Zudem befindet sich ihre Wohngemeinschaft in Auflösung, ebenso wie sich das gesamte politische Milieu (altersbedingt) umstrukturiert; „ganz viele“ verlassen die Strukturen, während „Jüngere“ hinzukommen. Sowohl das Ende ihrer „WG“ als auch die generationelle Umstrukturierung in der „Szene“ verhandelt Frau Weber unter dem Thema des ‚Zerbröckelns‘ ihrer „Wahlfamilie“. Es wird deutlich, dass Frau Weber zu diesem Zeitpunkt mit einer Vielzahl von Desintegrationserscheinungen konfrontiert ist, von denen einige durch äußerliche Veränderungen entstehen, während andere auf eine Veränderung ihrer Orientierungen verweisen. So kann die Erwähnung des fehlenden „Reiz[es]“ von Demonstrationen als Indiz dafür gelten, dass Anja Weber diese Handlungspraxis nicht mehr im selben Maße mit Sinn füllen kann wie zuvor. Doch nicht nur ihre politische Praxis hat „nicht mehr gestimmt“ (Z. 663). Die “Familie“ wird wieder wichtiger, sodass die langjährig praktizierte Priorisierung der Bezugspersonen aus dem Bewegungsmilieu über Herkunftsfamilie plötzlich auch „nicht mehr gestimmt“ (Z. 664) hat. In dieser fehlenden ‚Stimmigkeit‘ deutet sich – etliche Jahre nach dem adoleszenten Bildungsprozess – nun eine erneute Dynamisierung

390

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

ihres habituellen Gefüges an. Frau Webers Habitus scheint nicht mehr in fragloser Passung mit der eigenen Praxis im Kontext der Bewegung bzw. des Bewegungsmilieus. Frau Webers alte Handlungspraktiken haben zu großen Teilen sowohl ihre Sinnhaftigkeit als auch ihre – soziale und ökonomische – Funktionalität verloren, sodass ein (akut) destabilisierender Zustand von Desintegration konstatiert werden kann. Mit diesem Brüchigwerden ihrer bisherigen Lebensweise, das sich über mehrere biografische Dimensionen erstreckt, ist eine Leerstelle oder – positiver ausgedrückt – ein breiter Raum für Neues entstanden, die bzw. den Frau Weber nun mit einer Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken zu füllen sucht. Sie bleibt dabei nicht an dem Punkt stehen, sich darüber zu beklagen, dass es schwieriger wird, Jobs zu finden, und sie aus diesem Grunde umdenken müsse, sondern setzt stattdessen eine Neuausrichtung in diesem Lebensbereich auf die eigene Agenda und beschließt: „[I]ch will jetzt einen Beruf haben“ (Kursivsetzung S.T.). Frau Webers Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken vor dem Hintergrund von akuten Desintegrationserfahrungen bezieht sich also allem voran auf die berufliche Dimension. So erhält Frau Webers Offenheit zwar eine positive Bestimmtheit, diese fällt an dieser Stelle des Prozesses allerdings noch sehr vage aus, da ihr die Art des geplanten Berufs selbst noch nicht bekannt ist. Dass die sich hier andeutende neue Orientierung letztlich aber nicht auf die Dimension des Erwerbslebens beschränkt bleibt, sondern den Beginn einer individuellen Praxis jenseits der kollektiven Strukturen einer sozialen Bewegung markiert und darüber hinaus auch andere Erfahrungsdimensionen betreffen wird, wird im Folgenden noch deutlich werden.

6.2.1.2 Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, individuellen Praxis Frau Weber entscheidet sich schließlich für eine Umschulung zur „Mediengestalterin“ (Z. 362) und entfernt sich durch das Einschlagen dieses vornehmlich individuellen Wegs von ihrer bisherigen Praxis im Kontext des Bewegungsmilieus, die durch und durch kollektiv gelagert war. Eine solche Ausbildung wäre angesichts ihres institutionalisierten Charakters – so ist anzunehmen – für sie in den letzten 15 Jahren nicht infrage gekommen, weil sie sich jenseits des Bewegungsmilieus und somit auch in gewisser Weise auf Abwegen

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391

ihres im adoleszenten Bildungsprozess ausgebildeten Habitus der politisierten Negation bewegt, zu dem auch die Ablehnung institutionalisierter Ablaufmuster des Lebenslaufes zählte.24 Mit dem Beginn der „Umschulung“ kommen Frau Webers politische Handlungsvollzüge fast gänzlich zum Erliegen kommen (Z. 357 ff.): „irgendwie war dann glaube ich als dann anfing dann so mit mit der. als ich die Umschulung dann gemacht habe. das war dann hab ich dann ja, dann hab ich son bisschen aufgehört auf jede Demo rennen zu müssen oder ((seufzt)) (2)“.

Die neue Handlungspraxis im Rahmen der beruflichen Weiterbildung löst Frau Webers vorherige Handlungspraxis im linksautonomen Milieu ziemlich unmittelbar ab. Dies verdeutlicht, dass mit dem Schritt des Erlernens eines Berufs an sich bereits eine neue Orientierungsqualität einhergeht. Doch bedeutet dies keinesfalls, dass auch der Inhalt dieser beruflichen Schulungsmaßnahme für Frau Weber orientierungsrelevant wird. Ganz im Gegenteil, sie kann wenig Begeisterung und Engagement für das neue Fach aufbringen und hat im Unterricht „lieber gechattet“ (Z. 373), sodass auch ihre Leistungen dementsprechend schlecht ausfallen. Als sie eine Prüfung nicht besteht, ist sie am Boden zerstört. „[T]otal am Heulen“ (Z. 591) verfällt sie in ein ihr bereits aus der Kindheit bekanntes biografisches Muster, „dieses, ich bin halt zu blöd, ich kann das nicht, und ((schluckt)) konnte das schon in der Schule nicht“ (Z. 592 f.). Diese Wahrnehmung verweist auf einen biografischen Erfahrungshintergrund, der mir wichtig scheint, um ihren adulten Bildungsprozess in Gänze zu verstehen. Aus diesem Grunde werde ich im folgenden Exkurs den Blick zurück auf einen Aspekt aus Frau Webers Kindheit und Jugend richten.

24Dies

bedeutet allerdings keinesfalls im Umkehrschluss, dass jede Form von institutioneller Ausbildung und (institutionalisiertem) Beruf sich prinzipiell mit dem Bewegungsmilieu widersprochen hätten. Frau Kubitschek z. B., deren adulten Bildungsprozess ich im Anschluss vorstellen werde und die sich in Hamburg in ähnlichen Kreisen bewegte, absolvierte ja beispielsweise ein Studium. Wohl aber war es in dem Bewegungsmilieu, zu dem sich Frau Weber zugehörig fühlte, laut ihrer Darstellung durchaus üblich, sich zur Gänze in dieser Nische (und Nischenökonomie) zu bewegen; was zumindest auf ihre eigene Handlungspraxis vollends zutraf.

392

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Erster Exkurs zu im adulten Bildungsprozess relevanten, latenten Erfahrungshintergründen aus Frau Webers Kindheit und Jugend

Anja Webers jugendlicher Bildungsprozess im Kontext der Einfindung in eine soziale Protestbewegung entfaltete sich, wie ich ausführlich in Kap. 5 dargelegt habe, u. a. vor dem Hintergrund sozialer und lernbezogener Schwierigkeiten, die sich für die junge Anja Weber in der Folge des Umzugs ihrer Familie und dem daraus resultierenden Schulwechsel ergaben, in dessen Zuge sie eine Desintegration ihrer sozialen Zusammenhänge und milieubezogenen Wissensbestände erfuhr. Aber auch in ihrem Bildungsprozess im Erwachsenenalter spielt diese Erfahrung aus ihrer Kindheit und Jugend eine Rolle. Es geht hierbei insbesondere um ihr in diesem Kontext entstandenes Verhältnis zum schulischen Wissenserwerb. In der neuen Schulklasse ist Anja Weber nicht auf dem Kenntnisstand der neuen Mitschüler*innen. Zum Teil weiß sie nicht einmal, „wovon die reden“ (Z. 513). Anstatt nachzufragen, was sie sich „nicht getraut“ (ebd.) hat, entwickelte die junge Anja Weber schließlich folgende Haltung zur Schule (Z. 527 ff.): „ich war an dieser ganzen Schulscheiße eigentlich nicht interessiert, sondern (2) was mich interessiert hat, waren in der Schule die Pausen@, und ahm ansonsten das Rauskommen halt, nachmittags raus aus der Schule, Schul- ah weg, Schulranzen weg, und rausgehen, also das war irgendwie so ein bisschen mein Leben“.

In dieser Passage dokumentiert sich die bereits in Abschn. 5.3 für Anja Webers Jugend als typisch herausgearbeitete Negation – hier in ihrer auf die Institution Schule und den dort beabsichtigten Wissenserwerb bezogenen Form. In der „Pubertät“ (Z. 538) verstärkt sich bei ihr die Orientierung, die Schule lediglich als Pflichtprogramm zu sehen und sich darüber hinaus nicht für schulische Inhalte zu interessieren (Z. 545 ff.): „ich hab dann überhaupt nichts mehr für die Schule gemacht, also so richtig gar nichts mehr, ich hab morgens im Bus oder kurz vor der Stunde meine Hausaufgaben abgeschrieben, und hab einfach, war (ik) einfach auch stinkfaul, und ich war immer, immer eine schlechte Schülerin eigentlich so, also ich gle- ich glaub jetzt letztendlich übertreibe ich’s auch ein bisschen insofern, dass ich natürlich für Arbeiten dann auch gelernt hab und manchmal so Motivation hatte, dat muss ich jetzt noch hinkriegen oder, und konnte dann auch mal gute Noten schreiben in einzelnen Fächern, also ich konnte mich schon auch überwinden, aber im Prinzip hat dieses Schulsystem mir die ganze Zeit vermittelt, dass ich’s auch nicht kann;“

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Frau Weber beschreibt hier, wie sie als Jugendliche schulische Erwartungen unterwanderte, z. B., indem sie die „Hausaufgaben abgeschrieben“ hat, und bezeichnet sich selbst aus heutiger Sicht als „stinkfaul“ und als „schlechte Schülerin“. Hierfür zeichnet sie rückblickend nicht sich selbst, sondern neben ihrer damaligen (eingangs erwähnten) Entwicklungsphase der „Pubertät“ vor allem das „Schulsystem“ verantwortlich. Dieses habe ihr stets das Gefühl der Unzulänglichkeit „vermittelt“. Doch auch ihre Eltern hätten durch ihre „Abhörver-(2)aktionen“ (Z. 569), an denen Anja Weber „natürlich kläglich gescheitert“ (Z. 575) sei, das Gefühl der persönlichen Unzulänglichkeit noch verstärkt. Anstatt sich darüber zu empören, dass ihr die betreffenden Inhalte in der Schule nicht vermittelt wurden, schreiben auch die Eltern ihrer Tochter selbst das Unwissen ursächlich zu (Z. 575 ff.): „[G]enau das Gefühl habe ich dann von denen dann auch noch vermittelt gekriegt, also nicht dieses, (.) das hat dir niemand beigebracht oder was, sondern //mhm// das weißt du nicht?“

Das so entstandene Selbstbild, zu „blöd“ (z. B. Z. 558, 592) zu sein, begleitet Frau Weber über viele Jahre hinweg. Anders als die am Beginn des adulten Bildungsprozesses stehenden, akuten Desintegrationserfahrungen, ist Frau Webers Selbst(- und Welt-)verhältnis zum Lernen eher als latenter biografischer Hintergrund zu verstehen, der schon über lange Zeit bestanden hat und nicht akut destabilisierenden Charakter hat. Doch wird dieses Thema im Zuge des adulten Bildungsprozesses aktualisiert und Frau Weber kann das alte Selbstbild überwinden, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Angesichts ihres geringen Selbstvertrauens in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten zum Wissenserwerb, dessen Entstehung ich soeben im Exkurs umrissen habe, ist es nicht verwunderlich, dass Frau Webers biografische Destabilisierung nach der nicht bestandenen Prüfung im Rahmen ihrer Umschulung nun vollends auf ihrem Höhepunkt angekommen zu sein scheint. Verbessert wird die Situation sicherlich auch nicht dadurch, dass ihr der Beruf, den sie im Begriff ist zu erlernen, eigentlich sinnentleert erscheint. Eine neue Perspektive auf ihre Berufswahl hatte ihr kurze Zeit vor der besagten „Prüfung“ ein Erlebnis eröffnet, das sie im „Krankenhaus“ gehabt hat, bzw. hat ihr dieses unverhofft einen alten berufsbiografischen Wunsch wieder in Erinnerung gerufen (Z. 379 ff.): „also, bei der Umschulung war dann ähm. (3) kurz vor dem Ende glaube ich kurz vor der Prüfung. ist meine Mutter ins Krankenhaus gekommen. und die lag dann mehrere Wochen im Krankenhaus. und dann bin ich (1) habe ich mich glaube ich

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krankschreiben lassen und bin glaub ich zwei Wochen oder so, da runter gefahren. bin mit meinem Vater dann jeden Tag ins Krankenhaus gegangen. und da habe ich dann ähm gemerkt dass ich die ähm bewundere, weil sie halt weil die also diese diese äh Pfleger und Pflegerin da, weil sie aus meiner Sicht damals son ähm. son ähm na (.) ähm jetzt fällt mir wieder das Wort nicht ein. was hab ich vorhin gesagt. son sinn- sinnvollen Job haben, weißt de son sinnvollen Job machen. //ja// und ich werd Mediengestalterin für Digital und Printmedien, Slash @Medienoperating.@ und wer will das eigentlich wissen, weißte landest irgendwann in der Werbeagentur und biste total bescheuert so. und da kam dann mein alter Traum wieder auf, ich sollte Hebamme lernen.“

Unter dem Eindruck des Pflegepersonals im Krankenhaus, dessen Tätigkeit sie ‚bewundert‘. besinnt sich Frau Weber ihres „alten Traum[s]“, „Hebamme“ zu werden. Wie wir bereits wissen, genügte die Bewunderung dieses pflegerischen Berufs zwar offenbar noch nicht, um angesichts des Misserfolgs bei der Prüfung im Rahmen der Mediengestaltungsausbildung keine Selbstzweifel aufkommen zu lassen, doch dauert es nicht lange, bis Frau Weber beginnt, sich nach einem anderen Ausbildungsplatz umzusehen, nun als Hebamme.25 Diese neue, individuell gelagerte Handlungspraxis der Suche nach einem Ausbildungsplatz – ­alsbald nicht mehr als Hebamme, sondern aufgrund der besseren „Möglichkeiten danach“ (Z. 405) als „Krankenschwester“ (Z. 403) – fokussiert Frau Weber in der folgenden Zeit intensiv und lässt sich, wie sie im Anschluss an die oben zitierte Passage erwähnt, auch von schlechten Erfahrungen, wie z. B. der „echt total herablassend[en]“ (Z. 418) Behandlung bei einem Vorgespräch in Bezug auf ihr fortgeschrittenes Alter nicht entmutigen. Dies mag daran liegen, dass ihre Suche nach einem Ausbildungsplatz im Gesundheitssektor deutlich mit der Suche nach einem neuen biografischen Sinn verknüpft ist bzw. es ihr möglich erscheint, diesen in einer Ausbildung im Gesundheitsbereich zu verwirklichen – wie sich in der Rede vom „alten Traum“ und der Reflexion einer solchen Tätigkeit als „sinnvoll“ dokumentiert. Die neue Orientierung an einer berufsbiografischen Planung wird hier nun konkretisiert: Es geht Frau Weber nicht mehr lediglich darum, überhaupt einen Beruf zu erlernen, stattdessen soll dieser nun „sinnvoll“ sein, sogar die Verwirklichung eines „Traum[s]“ darstellen. Die Orientierung an einer stärkeren Gewichtung der berufsbiografischen Dimension ihrer Biografie verknüpft Frau

25Was

aus der Umschulung zur Mediengestalterin wurde, scheint nun, vor der ungleich höheren Orientierungsqualität der neuen Ausbildungsperspektive, nicht einmal mehr erwähnenswert. So bleibt es offen, ob sie diese beendet oder vorzeitig abgebrochen hat.

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Weber nunmehr mit einer biografischen Sinnsuche. Die Art und Weise, wie Frau Weber in der Folge ‚biografischen Sinn‘ für sich definieren wird, wird an anderer Stelle noch deutlicher werden, aber auch in oben zitierter Passage deutet sich bereits an, dass es im Kern darum geht, Menschen zu helfen. Während die Mediengestaltung ihr sinnentleert vorkommt („wer will das eigentlich wissen“), bringt sie den helfenden Beruf der „Pfleger und Pflegerin“ ihre Wertschätzung entgegen. Eine in der Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken vor dem Hintergrund von akuten Desintegrationserfahrungen begonnene Dynamisierung des habituellen Gefüges setzt sich hier also in Form der Auseinandersetzungen um die beiden Ausbildungen fort und wird so weiter vorangetrieben. Im Bemühen, der neu entstandenen Orientierung Ausdruck zu verleihen, macht Frau Weber neue Erfahrungen, in deren Zuge die Orientierung konkretisiert wird und zugleich an biografischer Bedeutsamkeit gewinnt, sodass hier von einer Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, individuellen Praxis gesprochen werden kann. Frau Webers neue biografische Bedeutsamkeit entsteht im Kontext einer individuell gelagerten Suche nach biografischem Sinn in der beruflichen Dimension. Als sie schließlich einen Ausbildungsplatz zur Krankenschwester bekommt, findet Frau Weber dies „total cool“ (Z. 428). Im Rahmen des nun folgenden institutionellen Anschlusses macht sie weitere, neue Erfahrungen, die dazu beitragen, die hohe Orientierungsqualität, die sie der beruflichen Tätigkeit in pflegerischen Berufen nun beimisst, weiter zu bestätigen. So macht sie in diesem Kontext z. B. neue Erfahrungen, die ihrer bisherigen biografisch aufgebauten Selbstwahrnehmung, „blöd“ (Z. 557) zu sein, entgegenstehen (Z. 428 ff.): „das warn drei super Jahre die Ausbildung ich fand das total geil. ich war so (.) ich glaub zum ersten Mal überhaupt, das ich so die Schule so genossen hab. und ich war so lern- so lernbegierig eigentlich so und hatte da den Effekt tatsächlich auch weil wirs vorher von Mathe hatten (.) und Physik und Chemie, dass ich (.) zum ersten Mal den Effekt hatte, der da vorne erzählt ein ich verstehs. es war so wir hatten nen ganz tollen Apotheker der hat mir tatsächlich Chemie nahe gebracht. diese ganzen ganz @kannst dich noch an die Chemietafeln erinnern@. diese ganzen Zei::chen und so //@jaja@// und so () was und dann oben noch Zeichen dran und plus und minus ich hab ey nie was verstanden //@(.)@// und total geil weil ich war dann so stolz auf mich, weil ichs endlich begriffen hab und auch in Physik Sachen begriffen und es war herrlich. und ähm außerdem brauchte man in der Ausbildung auch oft den Dreisatz @(.)@ //@(.)@// @den den ich ja schon immer gut konnte@“.

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Frau Weber erlebt in der Ausbildung nun, dass sie sehr wohl schulisches Wissen aufnehmen und anwenden und das schulische Lernen sogar genießen kann. Bei der Beschreibung ihrer Ausbildungszeit spart sie nicht mit Superlativen, sie findet ihre Lernerfolge „herrlich“. Der Überschwang, der hier zum Ausdruck kommt, hängt damit zusammen, dass – wie im ersten Exkurs gesehen – der schulische Erfolg für sie eine neue biografische Erfahrungsqualität bereithält. „[Z]um ersten Mal“ versteht sie den schulischen Unterrichtsstoff gut und entwickelt ein Zutrauen in die eigene Lernfähigkeit. Zur neuen biografischen Bedeutsamkeit der Fokussierung der beruflichen Dimension kommt hier also die neue Erfahrung hinzu, „stolz“ auf sich selbst und die eigenen Erfolge beim Wissenserwerb zu sein. Im Kontext dieser neuen Erfahrungen des positiven Selbstvertrauens rücken sogar zuvor in Vergessenheit geratene schulische Erfolgserlebnisse wieder in Frau Webers Bewusstsein, so z. B., dass sie den „Dreisatz […] ja schon immer gut“ gekonnt habe. Die im Kontext ihrer neuen Orientierung an einer biografischen Sinnverwirklichung in der beruflichen Dimension entstandene Praxis ermöglicht es Frau weber, ihr biografisch aufgebautes Selbst- und Weltverhältnis, schulische Lerninhalte nicht (gut) bewältigen zu können, zu überwinden und in der Folge einen ‚Stolz‘ auf die eigene Lernfähigkeit zu entwickeln. Während das in der Jugend ausgebildete lernbezogene Selbstbild mit Beschränkungen einherging, weil es dazu führte, dass Frau Weber sich Herausforderungen nicht stellte, so ermöglicht ihr diese neue Perspektive auf sich selbst hingegen eine Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeiten. Es bestätigt sich hier also, was ich oben bereits angedeutet hatte, nämlich, dass sich Frau Webers neue Orientierung und Praxis auch auf weitere Erfahrungsdimensionen erstreckt, die ihr habituelles Gefüge insgesamt betreffen und dieses weiter dynamisieren.

6.2.1.3 Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten Im Krankenhaus steht Frau Weber selbstverständlich in vielfältiger Weise im Kontakt mit anderen Menschen, Patient*innen wie Kolleg*innen. Doch dokumentieren sich in diesem Kontext keinerlei Vergemeinschaftungen oder kollektive Orientierungen, weshalb die neue Praxis dennoch als individuell gelagert gelten kann. Auch die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten, die an die Entwicklung der neuen biografischen Bedeutsamkeiten in der neuen Praxis anschließt, gestaltet sich bei Frau Weber also überwiegend individuell. Dies bedeutet aber nicht, dass Frau Webers neue Praxis jenseits von Sozialität stattfindet. Hinsichtlich der Qualität ihrer Arbeit erhält sie durchaus soziale und institutionelle Bestätigung – und damit indirekt auch eine soziale Bestätigung ihrer neuen Orientierung –, z. B. dadurch,

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dass sie nach der Ausbildungszeit trotz der geringen Anzahl verfügbarer Arbeitsplätze vom Krankenhaus „übernommen“ (Z. 440) wird. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Anja Weber seit nunmehr sieben Jahren in ihrem neuen Beruf „Psychoschwester“ (Z. 462) – in einer Fachrichtung, der sie zugeteilt wurde, mit der sie sich mittlerweile aber voll und ganz identifiziert; diese sei ‚schon ihrs‘ (vgl. Z. 463). Damit bricht sie, am Rande vermerkt, übrigens mit einem weiteren Selbstbild, nämlich mit jenem, es „fünf Jahre […] auch noch nirgends ausgehalten“ (Z. 300) zu haben.26 Es zeigt sich in dieser Phase also eine soziale Bestätigung, Fortführung und Intensivierung der im adulten Bildungsprozess neu eingeführten Handlungspraxis und eine Verstetigung der neuen Orientierung, biografischen Sinn (auch) in der beruflichen Dimension zu suchen – und sich selbst zudem die hierzu nötigen Fähigkeiten zuzutrauen. Die im Kontext einer Entfremdung von der sozialen Bewegung sowie vielfältigen, akut destabilisierenden Desintegrationserfahrungen begonnene Dynamisierung des Habitus setzt sich so stetig fort. Dass der neu entstandenen Orientierung dabei ein dimensionsübergreifender Charakter zukommt, deutete sich bereits anhand von Frau Webers veränderten, lernbezogenen Selbstbild an. Ich möchte dies im Folgenden an einem weiteren Beispiel zeigen, das zudem kritische Reflexionen der vormals eigenen Orientierungen beinhaltet, anhand derer sich eine Reinterpretation der eigenen Biografie bereits andeutet. Konkret handelt es hier um Frau Webers – ebenfalls individuell gelagerte – ­reflexive Auseinandersetzung mit der Handlungspraxis anderer Menschen und Organisationen, von der sie im Gespräch am Ende des Interviews berichtet. Sie gibt an, sich vorstellen zu können, im Rahmen der „Gesundheitsprogramm[e]“ (Z. 690) von internationalen Hilfsorganisationen tätig zu werden, deren konkret mess- bzw. spürbare Hilfe sie positiv hervorhebt.27 Auch für ein soziales „­Eine-Frau-Projekt“ (Z. 713) für Frauen, das eine „Schweizerin“ (Z. 713) ins Leben gerufen hat, drückt sie ihre ‚Bewunderung‘ aus. Dieses habe (Z. 717 ff.): „im Prinzip eine wahnsinnige Erfolgsgeschichte geschrieben; das Projekt hat tatsächlich jetzt so und so viele Plätze und tralala, und //mhm// wo ich nur sagen kann, also wenn ik das sehe, dann finde ich das total bewundernswert was die macht, ja

26Darüber

hinaus übernimmt Frau Weber auch im privaten Bereich eine pflegende Aufgabe. Nach dem Tod ihres Vaters zieht sie nach Aschaffenburg, um ihre kranke Mutter zu pflegen. (Diese Information habe ich nicht aus dem Interview, weshalb sie hier nur in einer Fußnote vermerkt sei.) 27Dies wird weiter unten im Abschnitt zur Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie (Abschn. 6.2.1.4) noch einmal zum Thema werden.

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gleichzeitig mit diesem Hintergrund was sie auch für ein Leben nicht leben kann, //mhm// um das zu machen, ne, also so, welche- welche: ahm ahm ange- ange- ah Annehmlichkeiten sie nicht hat, um das zu leben, um im Prinzip ihr- ihr ahm (wie sagt man’s), ich hab also ihren- ihren- ihren Traum oder ihr- ihr- ihr- ihr Ding so auch zu leben //mhm// und- und ahm, ja, n- wenn du jetzt eine Demo siehst, ist ja erstmal, klar denke ich, auch Mensch, die haben wenigstens den Arsch vom Sofa gehoben oder so na, hab ich jetzt dann wieder nicht, aber so wirklich eine Bewunderung oder ein Respekt verschafft‘s mir nicht, oder bri- oder bring ich denen nicht ah gegenüber auf ne, //mhm// und, aber so eben an dieses Tun oder auch wenn ich die mit den Booten an den Walfangschiffen sehe oder so, das ist schon was, wo ich denke wow, //mhm// echt abgefahren, so was zu machen; oder auch banale Aufklärungsarbeit, aber halt mehr als nur zu sagen, das ist scheiße, na, //ja// sondern einfach zu sagen, das ist scheiße und ich guck, dass da vielleicht eine kleine Verbesserung stattfinden kann so na, und (2)“.

Ähnlich wie sie damals im Krankenhaus die Tätigkeit der Pfleger*innen bewunderte, so erscheint ihr auch der Einsatz der Frau aus der Schweiz als „total bewundernswert“. Frau Weber bringt hier eine regelrechte Hochachtung zum Ausdruck, bei der es im Kern darum geht, dass die besagte Frau zugunsten eines höheren Ziels, eines sozialen „Projekt[s]“, auf eigene „Annehmlichkeiten“ verzichtet. Dieses Projekt, das eine „Erfolgsgeschichte“ schreibt, also vielen Frauen einen „Zufluchtsort“ (Z. 715) bietet, erscheint hier als positiver Gegenhorizont zur Praxis des Demonstrierens, die Frau Weber, wie wir bereits wissen, über viele Jahre ausgiebig betrieben hatte und die bei ihr heute keine „Bewunderung oder […] Respekt“ mehr weckt. Hatte Frau Webers Rückzug aus der autonomen Bewegung u. a. mit einer Distanzierung von den Ausdrucksformen der sozialen Bewegung begonnen, so wird diese hier nun durch einen inhaltlichen Aspekt ergänzt: „auch banale Aufklärungsarbeit“ begreift sie heutzutage als besser bzw. sei diese ihres Erachtens „mehr [wert; S. T.] als nur zu sagen, das ist scheiße“. Die bloße Zurschaustellung der eigenen Negation des Status quo lehnt sie hingegen deshalb ab, weil sie keine „Verbesserung“ herbeiführt. Auch diese reflexiven Auseinandersetzungen mit der Tätigkeit anderer und mit dem potenziellen kollektiven Anschluss an eine Hilfsorganisation stellen also eine Fortsetzung der orientierungsmäßigen Abkehr von ihrem im Zuge der Einfindung in das autonome Bewegungsmilieu ausgebildeten Habitus der politisierten Negation dar. Dass bei ihr eine Verlagerung dessen, wo sie das eigene Engagement für sinnvoll erachtet, auf den – pflegerisch-helfenden – beruflichen Bereich stattgefunden hat, wurde bereits deutlich. Es dokumentiert sich nun zudem, dass die neue, biografisch bedeutsame Orientierung breiter angelegt ist und beispielsweise auch einen Einsatz gegen „Walfang“ mit einbezieht, wenn dieser darauf ausgerichtet ist, die Praxis des Walfangs nicht nur zu kritisieren, sondern konkret

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zu behindern. Frau Webers neue Orientierung ist also zu konkretisieren als der Einsatz für die konkrete Verbesserung von (so empfundenen) Missständen, auch wenn dies eigene Opfer fordert. Im Gegensatz zur vormals handlungsleitenden politisierten Negation bewegt sich diese neue Orientierung weitestgehend jenseits eines exklusiv politischen Impetus, wenngleich dies nicht gleichbedeutend mit einer gänzlichen Entpolitisierung ihrer Orientierung ist. Die von Frau Weber fokussierten Themen der Gesundheitsförderung und Entwicklungszusammenarbeit stehen durchaus in einem politischen Kontext, nur beruft sie sich nun auf ein nicht im engeren Sinne politisches moralisches Prinzip, unter dem die beruflich gerahmte Hilfe im pflegerischen Beruf ebenso bedeutend werden kann wie politische Protestaktionen, wenn sie denn nur zu einer positiven Veränderung eines Missstandes beitragen.28 Es konnte gezeigt werden, welch umfassende Qualität die neue Orientierung erlangt hat und dass sie zudem ein neues Selbstbild und die Erweiterung von Handlungsfähigkeit mit sich bringt, sodass sich hier deutlich eine Transformation von Frau Webers habituellem Gefüge abzeichnet, deren Ergebnis ein ‚helfender‘, an der konkreten Verbesserung von Missständen orientierter Habitus ist. Zweiter Exkurs zu im adulten Bildungsprozess relevanten, latenten Erfahrungshintergründen aus Frau Webers Kindheit und Jugend

Der sich im Kontext ihres adulten Bildungsprozesses entwickelnde ‚helfende‘ bzw. an einer konkreten Verbesserung von Missständen orientierte Habitus korrespondiert u. a. auch mit Erfahrungshintergründen aus Frau Webers Lebensgeschichte, die so weit zurückliegen, dass sie sie nicht selbst aktiv erinnern kann, sondern hier auf familiäre Erzählungen zurückgreift. Es handelt sich hierbei um allererste biografische Erfahrungen, die Anja Weber auf dieser Welt als neugeborenes Baby machte und die sie selbst bereits zu Beginn ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung als „biografisch (1) ziemlich wichtig“ einstuft (Z. 15 ff.):29

28Die

neue Bedeutung einer real spürbaren Veränderung könnte man mit Mannheim auch als eine Distanzierung von der (totalen) Ideologie verstehen, in deren Zuge nun stattdessen die Überprüfung der (mehr oder weniger politischen) Orientierung an der Erfahrungsbasis wichtig wird (vgl. z. B. Mannheim 1995, S. 53 ff. und Abschn. 4.1 in der vorliegenden Arbeit). 29Wie bereits im ersten Exkurs angemerkt, wird auch anhand dieser Reflexionen eine weitreichende Reinterpretation der eigenen Biografie deutlich, doch soll es um diese im Folgenden nicht vorrangig gehen.

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„auf jeden Fall habe ich (2) gestern im Gespräch auch rausgefunden, dass es biografisch (1) ziemlich wichtig ist, dass ich erstens direkt nach der Geburt zwei Wochen in die Kinderklinik kam, und 1968 war das so, dass deine Mutter dich dann zweimal am Tag besuchen durfte //mhm// äh und ähm (3) und dass ich @(.)@ das lustig weil ich da gestern tatsächlich von hatte und dass ich als Kind (1) am Anfang nachts immer äh ins Wohnzimmer geschoben wurde @(.)@ @weil ich laut meiner@ Mutter immer Hunger hatte //@(.)@// @und sie konnte mich ja nicht (.) immer füttern.@“

Auf der Säuglingsstation sei sie mit nur kurzen Besuchszeiten der Mutter „direkt nach der Geburt zwei Wochen“ alleine im Krankenhaus und auch nach der Zeit im Krankenhaus nachts von den Eltern getrennt gewesen, da sie „ins Wohnzimmer geschoben“ wurde, wenn sie zu viel und zu lange schrie. Diese Umstände, wie sie sich „laut“ ihrer „Mutter“ zugetragen hätten, reflektiert Frau Weber angesichts ihrer im Anschluss an diese Passage geäußerten Theorie, dass „Kinder im ersten Lebensjahr Todesängste verspüren“, wenn sie „schreien und niemand kommt“ (Z. 25 f.), als mangelhafte Fürsorge und stuft die Erfahrungen als existenziell bedrohlich ein. Nicht zuletzt daran, dass diese Schilderung am Beginn und somit an zentraler Stelle des Interviews steht und Frau Weber zudem angibt, gerade „gestern“ über dieses Thema gesprochen zu haben, zeichnet sich eine intensive, reflexive Auseinandersetzung mit diesen frühkindlichen Erfahrungen ab, die ihrerseits darauf verweist, dass Frau Weber dem Wissen um diese ersten Wochen ihres Lebens und dem hier angesprochenen Thema der (fehlenden) Fürsorge und pflegerischen Zuwendung eine hohe biografische Bedeutung beimisst. In dem Kontext fällt nun auf, dass Frau Weber selbst im Zuge ihres adulten Bildungsprozesses einen Beruf wählt, bei dem die pflegerische Zuwendung und konkrete Hilfestellung für andere zentral ist und dies – so wurde bereits deutlich – für sie in hohem Maße orientierungsrelevant ist. Es liegt hier also der Schluss nahe, dass Frau Weber hinsichtlich dessen, was für sie heutzutage als „sinnvoll“ gilt, an eine emotionale – retrospektiv als fürsorgliches Manko identifizierte – Qualität aus der Kindheit anknüpft und diesbezüglich eine biografisch entstandene Sensibilität für die Thematik von Fürsorge und Hilfestellung aufweist, die im Bildungsprozess zur Grundlage ihrer heutigen berufsbiografischen Planung und darüber hinaus zur einer der maßgeblichen biografisch relevanten Orientierung wird.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

401

6.2.1.4 Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie Es zeigt sich im biografischen Interview mit Frau Weber ein Bemühen um biografische Kohärenz, das sich in weit zurückblickenden, biografischen Reflexionen ausdrückt. Wie im zweiten Exkurs zu den biografischen Hintergründen ihres adulten Bildungsprozesses soeben deutlich geworden ist, geht Frau Weber mit ihren biografischen Reinterpretationen sogar bis in ihre früheste Kindheit zurück. Dies muss allerdings nicht bedeuten, dass sie selbst einen Bezug zwischen diesen Erfahrungen und dem, was ich hier als ihren transformierten, an Hilfe für andere bzw. der Verbesserung von Missständen orientierten Habitus betiteln möchte, herstellt. Wohl aber dokumentiert sich darin, dass sie über das Thema der Fürsorge und pflegerischer Zuwendung, das für ihren neuen Beruf zentral ist, auch in Bezug auf ihre eigene Biografie bewusst nachgedacht hat. Darüber hinaus nimmt Frau Weber Reinterpretationen der über lange Jahre selbst praktizierten politischen Praxis im Kontext der autonomen Bewegung vor, wie an anderer Stelle bereits anklang. Den Sinn, den Frau Weber ihrer einstigen politischen Ausdrucksform (und zu einem gewissen Grad auch den Inhalten) beimaß, reflektiert und kritisiert sie aus heutiger Sicht. Im Gespräch nach dem eigentlichen Interview vergleicht sie ihre ehemalige eigene politische Handlungspraxis im Kontext der autonomen Bewegung mit den bereits erwähnten internationalen Programmen zur Gesundheitsförderung (Z. 689 ff.):30 „letztendlich die machen ja, also die erreichen ja tatsächlich was; wenn ich jetzt in so ein Gesundheitsprogramm gehen würde, na, //mhm// und sagen würde, o.k., ik gehe jetzt, keine Ahnung, in Sudan oder, weißt ja nicht, und machst eine Impfkampagne mit oder so na und, da kann ich dann sagen, ja, da haben wir noch auch was erreicht, na, //mhm// haben da so und so viele Kids einfach gerettet oder Aufklärungsarbeit, n- na, (.) m- wir wa- dachten halt immer wahnsinnig wichtig, wichtig, aber so wichtig war’s ja irgendwo nicht; //ja// oder zumindest halt nicht so wahnsinnig effektiv, und ich glaube, (dass- dass) was verpönt war, oder (dass das) verpönt war, das könnte man ja eher dann auch diskutieren, na, oder sagen hey, hallo, aber na, das ist doch was Effektives und was ist die Alternative, so ne;“

Einem sozialen Engagement in der gesundheitsbezogenen Entwicklungshilfe spricht Frau Weber die Qualität zu, etwas zu „erreichen“, wohingegen die autonome Bewegung, hier als „wir“ betitelt, aus ihrer heutigen Sicht „nicht so

30Der

Beginn dieser Unterhaltung fehlt, weil ich das Aufnahmegerät erst mitten Gespräch noch einmal einge-schaltet habe.

402

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

­ ahnsinnig effektiv“ und – entgegen der damaligen (kollektiven) Wahrnehmung – w zudem nicht „wichtig“ gewesen sei. Wie zuvor bereits anhand ihrer Gegenüberstellung des Demonstrierens auf der einen Seite und eines – konkrete Hilfestellung bietenden – sozialen Projekts auf der anderen Seite gesehen, legt Frau Weber den Fokus nun auf den „tatsächlich[en]“ Erfolg einer Handlung. Auch wenn sie sich (bislang) nicht selbst als ‚Krankenschwester ohne Grenzen’ engagiert, besteht der Sinn des sozialen wie politischen Engagements für sie aus heutiger Sicht darin, ganz konkret z. B. „so und so viele Kids einfach gerettet“ zu haben „oder Aufklärungsarbeit“ zu leisten. Hier dokumentiert sich noch einmal, was sich auch in der vorigen Passage schon andeutete, nämlich, dass Frau Weber hier – auch in reflexiver Form – in deutliche Distanz zu ihrem früheren Habitus der politisierten Negation geht. In der Frage „was […] die Alternative“ (zum konkreten Wirken der Ärzte ohne Grenzen) sei, steckt auch eine Kritik an der eigenen, damaligen Praxis, zwar Missstände angeprangert, aber keine Problemlösungen geliefert zu haben. Es zeigt sich hier, dass sich Frau Weber mit diesen damaligen politischen Überzeugungen kritisch auseinandergesetzt und ihre Orientierung bezüglich der Zuschreibung von politisch-sozialem Sinn gewandelt hat. Dass Frau Weber nicht nur ihre ehemalige politische Praxis, sondern auch die eigene Lernbiografie einer Neubewertung unterzieht, war anhand ihrer Ausführungen zur Ausbildungszeit bereits deutlich geworden, weshalb ich dies hier nur noch einmal kurz anreißen werde. Frau Weber gibt an, erst im Kontext „dieser Krankenpflegeausbildung“ (Z. 599 f.) in der Lage gewesen zu sein, ihr geringes, lernbezogenes Selbstvertrauen, das sie hier als „eine alte Psychogeschichte“ (Z. 614) kennzeichnet, dann „doch noch ab[zu]legen“ (ebd.) und zu verstehen, dass sie gar „nicht so blöd“ (Z. 615) sei. Während sie auch „heute noch gerne mit diesem Spruch kokettiere, ich hab halt kein Abitur“ (Z. 615 f.), zweifelt sie mittlerweile nicht mehr daran, dass ihr dies unter anderen Bedingungen möglich gewesen wäre. So gibt sie an: „[I]ch weiß heute, dass ich das hätte auch schaffen können durchaus ne,“ (Z. 617 f.). Es wird hier deutlich, dass Anja Weber im Zuge ihres adulten Bildungsprozesses nicht nur ihren Habitus einer politisierten Negation hin zu einem an der konkreten Verbesserungen von Missständen orientierten Habitus transformiert hat, sondern dass sich damit auch ihre Perspektive auf die eigenen Fähigkeiten verändert hat, womit eine Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit einhergeht; sieht sie sich nun doch in der Lage, bestimmte Herausforderungen auf dem Wege zur Umsetzung ihrer ‚Träume‘ (vgl. Z. 392 u. 724) zu meistern.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

403

6.2.2 Der adulte Bildungsprozess von Bettina Kubitschek: Von einem bewegungsinternen Einebnen von Differenzen zur Praxis des allseitigen Differenzierens Im Folgenden möchte ich anhand der lebensgeschichtlichen Erzählung von Frau Kubitschek einen Prozess vorstellen, der demjenigen von Frau Weber in vielerlei Hinsicht ähnelt. Auch Frau Kubitschek entwickelt im Kontext von neuerlicher, milieubezogener Desintegration eine Distanz zur sozialen Bewegung der Autonomen, in der sie sich zuvor über Jahre hinweg bewegt hatte. Im Zuge dessen bildet auch sie eine neue Orientierung aus und schlägt in der Folge eine individuelle Praxis ein. Dieser Prozess, der letztlich als Bildungsprozess im Rahmen eines Rückzugs aus der sozialen Bewegung gelten kann, weist dennoch Merkmale auf, die ihn als Zwischen-Fall zwischen Frau Webers Bildungsprozess im Kontext des Rückzugs vom Engagement und Herrn Büchners und Frau Bachs Bildungsprozessen im Kontext des fortgeführten Engagement qualifizieren, so viel möchte ich hier vorwegnehmen. Zwar zieht sich Frau Kubitschek de facto von der sozialen Protestbewegung zurück und legt fortan eine neue, weitgehend individuell gelagerte Handlungspraxis an den Tag, diese besteht aber u. a. auch darin, dass sie nach passenden, kollektiven Anschlüssen im politisierten Kontext sucht. Frau Kubitscheks individuell gelagerte neue Handlungspraxis erscheint in diesem Sinne also aus der Not geboren und wird von ihr dementsprechend auch als Manko empfunden, wie in der Darstellung ihres Prozessverlaufs noch zu sehen sein wird. In ihrem adoleszenten Bildungsprozess hatte auch Frau Kubitschek einen ‚Protestlerinnen-Habitus‘ der politisierten Negation ausgebildet. Wie in Abschn. 5.3 bereits herausgearbeitet, war für diesen Habitus, der sich im Kontext ihrer kontrakulturell-oppositionellen Peer-group am Gymnasium sowie der späteren Partizipationen an den Praktiken der Friedens- und der Frauenbewegung herauskristallisiert hatte, ein Modus der Vergemeinschaftung zentral, bei dem gruppen- bzw. bewegungsintern Differenzen toleriert bzw. weitgehend ignoriert wurden. Wir erinnern uns, dass Frau Kubitschek ihre damalige Peergroup als „sehr gemischt“ (Z. 60) und zugleich „sehr offen“ (Z. 58) beschrieben hatte. Die Differenzen zu einem Gruppen- bzw. Bewegungsäußeren, das aufgrund seiner ‚konservativen‘, eben diese sozialen Differenzen befürwortenden Gesinnung abgelehnt wurde, wurden hingegen umso mehr betont – man hatte „Gegner“ (Z. 55). Das linksautonome Bewegungsmilieu, an das sie im Zuge ihres Umzugs von Süddeutschland nach Hamburg problemlos Anschluss findet, erfährt Frau Kubitschek hingegen als von starken Gruppennormen geprägt, es habe dort „ohne

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6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Ende Regeln und äh ohne Ende Vorschriften unausgesprochene und Hierarchien“ (Z. 214 f.) gegeben, etwas, das „man sich schlicht und ergreifend in soner schwäbischen Kleinstadt [wie ihrem Herkunftsort; S. T.] überhaupt nicht leisten“ (Z. 62 ff.) hätte können. Da ihr diese Normierung missfällt, zieht sie sich in Hamburg in die „zweite Liga“ (Z. 227) der „dörflichen Strukturen“ (Z. 228) ihres Stadtteils zurück – und dort insbesondere in den feministischen Teil der autonomen Bewegung. Frau Kubitschek verzichtet also auf einen Platz in der ‚ersten Liga‘ – offenbar ein sozialer Raum des Bewegungsmilieus, in dem die einzelnen Akteur*innen eine gewisse milieuinterne Bedeutung erlangen konnten –, um sich so den als zu eng empfundenen Normen zu entziehen und ihren gewohnten Modus Operandi der Vergemeinschaftung fortführen zu können. In dieser Nische der Bewegung sind die milieuinternen Differenzen wieder überschaubar bzw. sie kann sich ihnen so weit entziehen, dass sie sie wie gewohnt ignorieren kann. Von diesem Rückzugsort aus kann sie sich in der Folge dennoch mit der gesamten autonomen Bewegung identifizieren, wie sich im Interview an mehreren Stellen dokumentiert, so z. B. anhand der unten angeführten Passage, in der die Rede von einem „Wir-Gefühl“ ist. Frau Kubitschek lebt so über viele Jahre als Teil der Hamburger autonomen Bewegung, bis Veränderungen in diesem Milieu den Anstoß zu einem weiteren Bildungsprozess im Erwachsenenalter geben, wie im Folgenden rekonstruiert werden soll.

6.2.2.1 Die Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken vor dem Hintergrund von akuten Desintegrationserfahrungen Nachdem es eine ganze Zeit lang sehr „leicht“ gewesen sei, im Bewegungsmilieu „lustorientie::rt und trotzdem engag:iert so vor sich hinzuleben“ (Z. 334), habe sich die Stimmung irgendwann verändert. Frau Kubitschek rekapituliert den Beginn dieser Entwicklung auf das Jahr „neunzehnhundertsiebenundneunzig“ (Z. 308) und beschreibt die nun einsetzenden Veränderungen folgendermaßen (Z. 409 ff.): „[D]es kippte aber damals schon son bisschen zumindest ähm von diesem also was man also ich hatte ja auch immer son Wir-Gefühl. ich hatte da wo ich groß geworden bin sowieso son Wir-Gefühl und dann in Hamburg ging das ja auch relativ schnell. und dann fing dat schon an mit diesem ganzen na es gab dann diese äh äh ganzen (2) Rave und Technogeschichten. was sone große Individualisierung mit sich gebracht hat, das war für mich schon sone (1) sone ein Einschnitt. (1) also auch an Wertigkeiten. und auch auf einmal also was dann von vielen dann als positiv empfunden wurde. alles nicht mehr so ernst nehmen. weil gerade Leute die sich ganz

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stark in genau den Strukturen bewegt haben, die ich sowieso abgelehnt hab, für die war das glaube ich total wohltuend. dass es auf einmal sone Stimmung gab. ey nimmt mal alles nicht so ernst. ey lass mal bisschen Party machen. ich fands total ätzend. ich fands total ätzend, weil ich hab mich vielen von diesen Regeln sowieso nie unterworfen.“

Als Ausgangspunkt konstatiert Frau Kubitschek hier ein „Wir-Gefühl“, welches sie sowohl in ihrem Herkunftsort als auch „in Hamburg“ im Kontext der autonomen Bewegung verspürt habe. Dem gegenüber stellt sie einen im Milieu mit dem Einzug der „Techno- und Ravegeschichten“ einsetzenden Prozess, den sie als „Individualisierung“ analysiert. Gerade diejenigen Aktivist*innen, die sich zuvor in stark restriktiven „Strukturen bewegt“ hatten, hätten nun propagiert, die zuvor praktizierten Normen „nicht mehr so ernst [zu] nehmen“. Diese Veränderungen, die Frau Kubitschek zufolge insbesondere jene Teile des Bewegungsmilieus betreffen, von denen sie sich – wie oben bereits gesehen – ohnehin ferngehalten hatte, empfindet sie als „total ätzend“.31 Im Umkehrschluss dokumentiert sich hierin, dass Frau Kubitschek durchaus einige Dinge „ernst nehmen“ möchte und die neue Zentralität von „Party-Machen“ und dem Tragen von „Markenklamotten“ (Z. 361) (letzteres erwähnt sie im Anschluss an die oben zitierte Passage) als Angriff auf ihre eigenen, zuvor kollektiv geteilten „Wertigkeiten“ sieht.32 Es dokumentiert sich hier, dass der von ihr beschriebene Wandel für sie persönlich eine Zäsur darstellt, die ihre Perspektive auf die bisherige Gemeinschaft infrage stellt. Angesichts dessen, dass sie diese neue, kollektive Praxis als individualisierend (und implizit wohl auch entpolitisierend) wahrnimmt, lehnt sie den Wandel ab, der in Teile ihres Milieus Einzug hält. Im Anschluss an die oben zitierte Passage stellt sie die Theorie auf, das autonome Milieu habe damals einen „Paradigmenwechsel“ vollzogen. Sie geht dabei sogar so weit, die Protagonisten, die einen solchen „Befreiungsschlag“ nötig gehabt hätten, aus der zuvor empfundenen Gemeinschaft retrospektiv auszuschließen: Diese hätten mit dem von ihr empfundenen „Wir vielleicht auch gar nicht so viel zu tun“ gehabt. In letzterem dokumentiert sich zweierlei: Erstens findet das „Wir“ hier für Frau Kubitschek

31Hier

dokumentiert sich indirekt, dass sich das „Wir-Gefühl“ auch auf jene Teile der Bewegung bezogen hatte, die sie gemieden hatte, und, dass es durchaus zahlreiche Überschneidungen von Aktivist*innen, die in beiden Teilen agierten, gegeben haben muss. 32Letztere können hier nur als das Gegenteil dessen bestimmt werden, was Frau Kubitschek brandmarkt, also: dem Spaß („Partys“) nicht uneingeschränkten Vorrang einzuräumen und keine Markenkleidung zu tragen respektive antikapitalistisch/konsumkritisch zu sein.

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ein Ende, zweitens nimmt Frau Kubitschek auch aus heutiger Perspektive noch in positiver Art und Weise Bezug auf das damalige Gefühl von Gemeinschaft – was allerdings nicht bedeutet, dass sie weiterhin hinter dem Modus Operandi dieser Vergemeinschaftung steht, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. Durch die beschriebenen Veränderungen des Milieus geht Frau Kubitscheks ohnehin schon störanfälliger und nur durch ihr Ausweichen auf den feministischen Teil und hier insbesondere die Frauen-/Lesben-Nische der Bewegung funktionierender Modus Operandi der Einebnung von Differenzen nach innen nicht mehr auf, stört sie sich doch zu sehr an den neu entstehenden, kollektiven Orientierungen von Teilen des Milieus. Diese Erosion der Grenze zwischen einem ‚Milieuinneren‘ und einem ‚Außen‘ des Rests der Gesellschaft, in deren Verlauf Werte ins Milieu Einzug halten, von denen sich die autonomen Aktivist*innen bisher abgegrenzt hatten, setzt sich Frau Kubitscheks Schilderung zufolge im Milieu weiter fort. Im Kontext ihrer Distanz zu diesen Veränderungen ändert sie auch ihre eigene Handlungspraxis (Z. 463 ff.): „das war dann so der Zeitpunkt ähm (2) wo ich glaube ich auch son bisschen in meine erste innere Migration ge@gangen bin.@ also so es gab bis dahin nie en Bruch für mich also so in meiner Aktivität. ich war äh es war ganz klar, das ich äh bei (2) vielen Demos immer war zu vielen Aktionen immer gefahren bin. Vollversammlungen zu Themen, die mir wichtig waren aufgesucht habe, und also so (2) vielleicht wurde das dann mit der Berufstätigkeit en bisschen weniger. weil aber tatsächlich auch weniger stattgefunden hat. und dann setzte so für mich Ende der Neunziger nen totaler Bruch ein. ich konnte mit so Leuten die vehement das Alte dann noch mal so fast schon marxistisch oder eigentlich ehrlich gesagt fast schon stalinistisch da hochgehalten hab, das ging gar nicht. mit den konnte ich ja vorher schon nicht, //ja// und mit all denen die jetzt alles so ey lasst uns doch auch mal Spaß haben. und äh so das ging auch überhaupt nicht. ich fand das war total nen totales Rollback was so Rollenverhalten angeht. //mhm// ich fand äh die Modeentwicklung total schräg, ich fand äh was so an Klamotten und so dann auf einmal wieder äh ähm schick war auch und so dieser Mädchenlook. uä::::hh also das war so für mich ganz sch- sch- äh schräg. (2)“

Mit dem Hochhalten des „Alte[n]“, das in Teilen der Bewegung nun eingesetzt und ihrer Wahrnehmung nach „fast schon stalinistisch[e]“ Züge getragen habe, kann Frau Kubitschek nicht mitgehen. Sie kann sich jedoch, wie bereits gesehen, auch nicht mit der Gegenentwicklung identifizieren, die ihrer Wahrnehmung nach jegliche politischen Ansprüche über Bord warf und die sie als „Beliebigkeit“ (Z. 385) kritisiert. Nicht nur die Bewegung, wie sie sie kannte, ist hier in Auflösung begriffen, vor dem Hintergrund ihrer orientierungsbezogenen Distanz zu den beschriebenen Entwicklungen bleibt auch ihre eigene politische „Aktivität“ davon nicht unberührt. Während diese bis dato ungebrochen gewesen sei, habe

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

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sie sich nun zu einem gewissen Grad zurückgezogen; Frau Kubitschek nennt dies ihre „erste innere Migration“.33 Es ist also festzuhalten, dass Teile von Frau Kubitscheks bisherigen Handlungsvollzügen hier zum Stoppen kommen, sie zieht sich (innerlich) zurück. In dieser Passage wird zudem ein weiterer Aspekt der neuen Praxis und damit einhergehender Orientierungen deutlich, auf dem ihre Ablehnung beruht: Es ist nicht zuletzt das von ihr so bezeichnete „Rollback“ der Geschlechterperformanz, mit dem sie sich nicht anfreunden will. Um nachvollziehen zu können, welche biografische Bedeutung das Thema der genderbezogenen Differenz für Frau Kubitschek hat, scheint mir an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zu ihrem diesbezüglichen Erfahrungshintergrund sinnvoll. Exkurs zu den Erfahrungshintergründen von Frau Kubitscheks Kindheit und Jugend

Die Besonderung von Frau Kubitscheks Herkunftsfamilie im eigenen Arbeitermilieu, wo sie aufgrund der nicht in traditionelle Geschlechterrollen gegliederten Arbeitsteilung der Eltern auffiel, hatte bereits in Abschn. 5.2 Erwähnung gefunden. Doch ist es nicht nur ihre Mutter, die sich durch ihr Verhalten mit den Männern gleichstellte, auch die junge Bettina Kubitschek möchte mit den Jungen, mit denen sie gerne ihre Freizeit verbringt, ‚gleich sein‘. Es kommt jedoch der Zeitpunkt, an dem sie sich als Mädchen von den Jungen „auf einmal“ exkludiert fühlt (Z. 682 ff.): „dann hab ich mich. mh war ich aber auch nie so:n Berufsmädchen. also ich war auch eher so äh en Raufbold, und wild, und ähm bin dann natürlich auch an bestimmten Punkten dann da auch oft konfrontiert worden mit so was. bist du n Junge oder ein Mädchen. //echt?// ja natürlich. //mhm.// und also so ich glaube es sind so ganz viele verschiedene Sachen. oder so dann ab nem gewissen Alter wo die Jungs auf einmal nicht mehr mit mir gespielt haben, oder dann son anderen Blick auf mich entwickelt haben. was mir auch super unangenehm war. //mhm// wollte ich überhaupt nicht. das fand ich total scheiße. hast nen halbes vorher noch irgendwie die wildesten Sachen zusammen gemacht. und auf einmal gibt’s Bemerkungen darüber, wie du als Mädchen aussiehst und so. da kann ich mich noch sehr genau an alles erinnern. //mhm// glaub schon, dass das für mich sehr prägend war. ich fand das äh unangenehm alles. also so ne, und nicht in Ordnung. //mhm// (3)“.

33Die

Formulierung lässt vermuten, dass noch weitere solcher Rückzugsphasen folgen sollten. Frau Kubitschek verweist hier vermutlich auf ihren stetigen Versuch, doch noch Passung zu Teilen der Bewegung herzustellen, der – wie noch zu sehen sein wird – sie zumeist nur weitere Distanz verspüren lässt.

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Frau Kubitschek erinnert es als „unangenehm“, von den Spielkameraden plötzlich als Mädchen und damit als different wahrgenommen worden zu sein. Zwar wird sie nun für die Jungen als Mädchen interessant, andererseits findet hierüber aber auch ein Ausschluss statt, weil sie als Mädchen nicht mehr gleichermaßen Zugang zur Welt der Jungen hat wie bisher. Konnte sie zuvor „die wildesten Sachen“ mit den Jungen machen, so nehmen diese sie nun hinsichtlich ihres Äußeren als Mädchen und deshalb different wahr. Ihren Spaß am „Raufbold“-Dasein kann sie nun nicht mehr mit den Jungen gemeinsam ausleben. Es zeigt sich, dass sich Bettina Kubitschek aufgrund ihrer sozialen Rolle als Mädchen exkludiert fühlt und ihre eigentlichen Interessen (z. B. am Raufen) nun nicht mehr zählen, also keine Binnendifferenzierung zwischen den verschiedenen Mädchen mehr stattfindet. Sie lehnte es ab, als „Berufsmädchen“ auf ihr Mädchensein festgelegt zu werden. Die von den Jungen aufgemachte Differenz möchte sie am liebsten wieder einebnen. Es kann hier eine biografische Sensibilität für pauschale, genderrollenbezogene Differenzlinien, mit denen sie nichts Positives verbindet, konstatiert werden. Diese korrespondiert mit Frau Kubitscheks genereller Problematisierung der Herstellung und Aufrechterhaltung von sozialer Ungleichheit, die wiederum eine biografische Verbindung zur doppelten Sonderstellung der jungen Bettina Kubitschek in ihrer Kindheit – als Arbeiterkind am Gymnasium und als Gymnasiastin in ihrer ausschließlich von Arbeiter*innen bewohnten ­Siedlung – aufweist (Dies hatte ich in Abschn. 5.2 bereits herausgearbeitet.). Wie oben bereits deutlich geworden ist, halten eben diese, nicht binnendifferenzierenden gesellschaftlichen Differenzlinien der genderbezogenen Einteilungen – anhand des „Mädchenlook[s]“ (Z. 478) und des (andernorts erwähnten) männlichen „Mackertum[s]“ (Z. 550) – und der sozial(-ökonomischen) Differenzlinien – anhand von „bestimmte[r] Klamotten“ (Z. 377), für die man „ne bestimmte Kohle“ (ebd.) braucht –, nun Einzug ins das autonome Bewegungsmilieu. Hatte sich Frau Kubitschek in diesem Milieu angesichts der kollektiven Negierung der genannten gesellschaftlichen Differenzlinien doch weitgehend ‚sicher‘ geglaubt,34 so holen diese sie nun quasi ein.

34In

ihrer Jugendgruppe am Gymnasium konnte Bettina Kubitschek ihre Milieudifferenz mit anderen vergemeinschaften. Sie schufen sich hier einen Raum, in dem interne Differenzen toleriert wurden, während – oder weil – nach außen eine scharfe Abgrenzung zum ‚Mainstream‘ stattfand. Aus dieser Dynamik einer kontrakulturellen Praxis, die sie alsbald an eine soziale Bewegung anschlossen, entspann sich Bettina Kubitscheks adoleszenter Bildungsprozess (siehe ausführlich Abschn. 5.3).

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Mit diesem ‚Rollback‘ korrespondiert zudem, dass gerade in den feministischen Teilen des Bewegungsmilieus, die Frau Kubitschek besonders wichtig sind, „ganz viel auseinandergebrochen“ sei (Z.479 ff.): „und ähm (.) das war auch die Zeit wo man wo- wo- ich find gerade in Frauenzusammenhängen ist auch ganz viel auseinandergebrochen. das warn dann die Zeiten wo auf einmal dann diese Achte März Demos immer kleiner und kleiner und kleiner wurden, (2) wo es auch zum Beispiel dann diese ganzen ersten Mai Geschichten auch wo es dann auf einmal winzige Frauenlesbenblöcke nur noch gab. also es war so ganz also auch zahlenmäßig, zahlenmäßig überall sichtbar. und äh aber ich habs ja an mir auch gemerkt, es gab also ich hab dann das erste mal auch gemerkt irgendwie gibt’s für mich kein (.) Zuhause mehr. so richtig mehr. also n politisches Zuhause.“

Frau Kubitschek ist hier nicht nur mit einer generellen Auflösungstendenz des autonomen Milieus konfrontiert, sondern gerade auch in den „Frauenzusammenhängen“, zu denen sie sich insbesondere zugehörig fühlt, findet ein Schwund statt, der langsam „überall sichtbar“ wird. Sah es bis hierhin so aus, als hätte sich nur Frau Kubitscheks Milieu verändert, während ihre eigenen Orientierungen unverändert geblieben sind, so deutet sich am Ende der hier zitierten Passage auch vage eine Veränderung von Frau Kubitschek selbst an, nimmt sie doch auch an sich selbst eine Veränderung wahr, der sie mit der Aussage „aber ich habs ja an mir auch gemerkt“ Ausdruck verleiht. Diese Gemengelage vielfältiger Veränderungen insgesamt lassen bei ihr ein Gefühl des Verlusts ihres „politische[n] Zuhause[s]“ entstehen. Es kann hier also auch bei Frau Kubitschek eine akute, neuerliche Erfahrung von Desintegration konstatiert werden, die – auch wenn sie nicht in gleichem Maße die verschiedenen Dimensionen des Lebens umfasst wie bei Frau Weber – durchaus einen destabilisierenden Charakter aufweist, stört sie Frau Kubitscheks routinierte Handlungsvollzüge doch empfindlich. Auch Frau Kubitscheks Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken entsteht also vor dem Hintergrund von akuten Desintegrationserfahrungen, wie dies schon bei Frau Weber zu sehen war. Die Erfahrung von Desintegration resultiert auch bei Frau Kubitschek, neben der genannten Veränderungen des Bewegungsmilieus, aus einer eigenen, orientierungsbedingten Distanz, die sie nun selbst zur eigenen, jahrelang betriebenen politischen Praxis verspürt: Sie kann sich „zu bestimmten Parolen nicht mehr hinstellen“. Auf die Aufforderung der Interviewerin, „genauer“ zu erzählen, worauf sich diese Aussage bezieht, führt Frau Kubitschek aus (Z. 845 ff.):

410

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

„in den 80er-Jahren war ja ganz vie::::l doch geprägt auch von na, denk ich noch von ner sehr undifferenzierten ähm (.) Mo::ral sag ich mal oder oder Vorstellung und auch dementsprechend warn ja dann die Parolen. Und so schlimme Dinge wie SS SA::: (wie so=hm) SEK oder so ich mein so was käme einfach nicht mehr über meine Lippen so was kam dann auch in den () 90ern nicht @mehr über meine@ Lippen, //mhm// (ehrlich gesagt)“.

In der Bewegung seien „in den 80er-Jahren“ Sachverhalte ideologisch vereinfacht präsentiert worden, wie sie hier am Beispiel der Gleichsetzung des „SEK“ mit den Kampftruppen „SS“ und „SA“ im Nationalsozialismus verdeutlicht. Frau Kubitschek, die diese und vergleichbare Positionen vorher durchaus vertreten hatte – denn sonst würde die Formulierung, es sei ihr dann „nicht mehr über […; die] Lippen“ (Kursivsetzung S.T.) gekommen, keinen Sinn ergeben – kann dies spätestens ab den „90ern“ nicht mehr mittragen. Zu den entsprechenden Parolen geht sie auf strikte Distanz, empfindet sie sogar als „schlimm“. Zwar reflektiert sie im Anschluss an die hier zitierte Passage die „Radikalität“ (Z. 779), wie sie sich in o. g. Parole widerspiegelt, als „nachvollziehbar“ (Z. 780) und sogar „von Nöten“ (Z. 782) für eine bestimmte Phase der westdeutschen Geschichte, doch wird anhand dieser Zuordnung zu einer zeitgeschichtlichen, nun abgeschlossenen Phase nur umso deutlicher, dass für Frau Kubitschek selbst die Gültigkeit dieser „undifferenzierten“ Politik damals ein Ende fand. Während sie sich darüber freut, dass in der heutigen „Zeit“ im Allgemeinen viele um „Differenzierung bemüht“ seien, moniert sie weiter, dass dies leider nicht die Politik der ‚Linksradikalen‘ beträfe (Z. 858 ff.): „ich finde jetzt ist sone Zeit (und eigentlich) schon seit den 90ern wo man sich Gott sei Dank in vielen Bereichen um mehr Differenzierung bemüht, //mhm// und in vielen, in vielen Bereichen ähm von Antifas oder sich äh auf irgendne Weise als linksradikal definierenden Menschen findet diese Differenzierung aber kein Spiel auf der Straße. Das das trifft es vielleicht am ehesten ne, ich kann (.) nich (.) mehr (.) die Bullen (.) als alle, Polizisten, (.) in einen Topf packen, und ich- ich kann keine:: Vergleiche mit dem nationalsozialistischen Regime herstellen, wo’s vollkommen daneben is und ich- ne, also diese diese ich kann nicht undifferenziert ne Gewalt legitimieren; (.) wie dis ganz lange stimmig schien, also so war dis gemeint. (1) // mhm ok.// ne, oder auch son bestimmter äh ich finde ja auch bestimmte, (.) () über diese ganze Solidarität, und dann hoch die internationale Solidarität und dann wird sich solidarisiert mit ((atmet ein)) mit irgendwelchen:: Staaten von denen man im Grunde genommen nich viel weiß, die aber zum Beispiel offen anti@semitisch sind also so diese- diese feinen Zwischentöne die man, lange auch nicht berücksichtigen konnte für nen bestimmten Ausdruck finde ich mittlerweile sind (zwingend) zu berücksichtigen.“

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

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Es dokumentiert sich in dieser wie in der vorangegangenen Passage eine orientierungsbezogene Distanzierung von ihrer bisherigen Praxis im Kontext der sozialen Protestbewegung, die Ende der 1990er-Jahre einsetzt. Das Schlüsselwort in diesem Kontext heißt „Differenzierung“ – i. S. v. Komplexität zulassen –, die sie in ehemals selbst vertretenen politischen Positionen der Bewegung nun vermisst. Aus ihrer heutigen Sicht reflektiert und führt Frau Kubitschek hier aus, was sich damals bereits als orientierungsmäßige Abkehr von der bisher vertretenen politisierten Negation andeutete.35 Statt der generalisierten, politisierten Negation z. B. von „Bullen“, ist Bettina Kubitschek nun bemüht, ein differenzierteres Bild dieser Gruppe zu zeichnen und nicht „alle, Polizisten, (.) in einen Topf“ zu werfen – und gesteht somit auch ihren ehemaligen ‚Gegner*innen‘ das zu, was sie als Mädchen einforderte, nämlich nicht auf eine soziale Rolle festgelegt zu werden. Mit der hier einsetzenden Ablehnung einer generalisierten, politisierten Negation geht zugleich auch eine Ablehnung pauschaler, politischer Affirmationen einher. So lehnt sie nun beispielsweise die „undifferenziert[e]“ (Kursivsetzung S.T.) ‚Legitimierung‘ von „Gewalt“ oder einen generellen Positivbezug auf „internationale Solidarität“, der nicht differenziert betrachtet, welche Art von Politik man auf diese Art unterstützt, ab. Frau Kubitschek wendet sich hier also gegen ideologische Verkürzungen, es geht ihr nun darum, die „feinen Zwischentöne“ wahrzunehmen. Hier zeichnet sich eine neue Orientierung ab, für die die Anerkennung von Komplexität zentral ist und die statt einer pauschalen Differenzziehung eine differenzierte Betrachtung einfordert.36 Mit dem alten Modus der

35Die

Schilderung zu dieser Thematik, insbesondere in der zweiten Passage, ist stark von Reflexionen (also Frau Kubitscheks Perspektive aus der Erzählzeit) überformt. Ich habe diese Passage hier dennoch zurate gezogen, weil sich hier der Inhalt ihrer neuen Orientierung, die sich zu diesem Zeitpunkt langsam herauszubilden beginnt, dokumentiert. Aus dem Gesamtkontext des Interviews wird deutlich, dass derartige, sich distanzierende Reflexionen bei Frau Kubitschek in den 1990er-Jahren ihren Anfang hatten. 36Was ich schon für Frau Webers neue Orientierung angemerkt hatte, gilt für Frau Kubitschek allemal: Auch sie distanziert sich hier von einer mit Mannheim (1980, S. 77) als „Funktion[…] des Gemeinschaftsstromes“ zu bezeichnenden Orientierung, bei der die „Ideen“ „als Funktionalität einer gewissen Lage einer inneren und äußeren Konstellation des Gemeinschaftsschicksals“ (ebd., S. 88) begriffen werden und „das Individuum in der Richtung irgendeiner Kollektivität“ ‚transzendiert‘ wird (Mannheim 1995, S. 56). Die Loslösung von einer solchen ‚totalen Ideologie‘ im Sinne Mannheims steht hingegen im Zeichen der differenzierten Betrachtung, d. h. des (wieder stärkeren) Einbezugs der zugrunde liegenden Erfahrungen (vgl. hierzu auch Abschn. 4.1.2.4).

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­ ergemeinschaftung, wie sie ihn im Bewegungsmilieu lange Zeit umgesetzt V hatte (der aber durch die Veränderungen des Milieus für sie in Bezug auf dieses Milieu ohnehin obsolet geworden war), korrespondiert dies nicht mehr: Weder kann sie mit der Orientierung an ‚Zwischentönen‘ weiterhin Differenzen in einem ‚Bewegungsinneren‘ einebnen, noch die Differenzen nach außen hochhalten. Zusammenfassend kann für diese Phase konstatiert werden, dass die Offenheit für neue Praktiken und Orientierungen vor dem Hintergrund von akuten Desintegrationserfahrungen mit einer Distanzierung von der kollektiven Praxis des eigenen Milieus einhergeht, wie wir es auch bei Frau Weber gesehen haben. Frau Kubitschek distanziert sich hier inhaltlich von einer in diesem Milieu herrschenden mangelhaften Komplexität der politischen Analyse. Die im Milieu vorherrschende, undifferenzierte Radikalität – auch, was die Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen angeht –, ist für sie nicht mehr stimmig; ebenso wenig wie sie ihren Modus der Vereinheitlichung nach innen angesichts der massiven, sich im Bewegungsmilieu auftuenden Differenzen weiter aufrecht erhalten kann und will. Einerseits deutet sich bei ihr also das Entstehen einer neuen Orientierung an, andererseits kommen ihre routinierten Handlungsvollzüge durch eine nicht selbst intendierte, äußerliche Veränderung – der Entstehung milieubezogener Auflösungstendenzen sowie neuer, von ihr nicht geteilter kollektiver Orientierungen in diesem Milieu – ins Stocken.37 So zeigt sich bei Frau Kubitschek, wie bereits bei den drei anderen Fällen adulter Bildungsprozesse gesehen, in dieser ersten Phase des Bildungsprozesses eine Dynamisierung ihres habituellen Gefüges, bei der alte Orientierungen und Handlungsvollzüge zum Stoppen kommen, ohne dass hier schon deutlich würde, von welcher Handlungspraxis diese abgelöst werden.

6.2.2.2 Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, individuellen Praxis Die oben zitierte Wortwahl der ‚inneren Migration‘ hatte bereits auf eine Veränderung von Frau Kubitscheks Handlungspraxis hingedeutet. Doch Frau Kubitschek findet in der Folge auch eine Handlungspraxis jenseits ihrer ehemaligen

37Am

Rande bemerkt konstatiert auch Frau Kubitschek, wie dies schon Frau Weber für die autonome Bewegung Berlins getan hatte, eine Altersthematik bzw. die Bedeutung von generationellen Unterschieden zu den „deutlich jünger[en]“ (Z. 449) Aktivistinnen der sich umformierenden Hamburger Frauenszene.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

413

kollektiven Einbindung in die autonome Bewegung, die ihr über einen solchen inneren Rückzug hinaus die Möglichkeit (politischer) Handlungsfähigkeit bietet. So bezeichnet sie ihre neue Tätigkeit „in der flexiblen Jugendhilfe“ (Z. 417) selbst als eine „Verlagerung“ ihrer politischen Handlungspraxis „in den beruflichen Bereich“ (Z. 435). Hier arbeitet sie nun mit „Treberkindern“ (ebd.), eine Arbeit, die sie „als politisch“ ‚begreift‘ (Z. 415) und in die sie angesichts der fehlenden Anschlüsse im politischen Milieu (Z. 422–434) „viel dann da rein äh gelegt [hat] an Energie also ne dann haste halt für Wohnungen (.) äh äh und für Geld für für so Jugendliche dich eingesetzt. //mhm// und es warn alles ich hatte muss ich auch echt sagen Glück. das hat sich da ja teilweise auch total geändert. […] mittlerweile kommen ja die flex- in die flexible Jugendhilfe nur noch Leute die eigentlich in die therapeutische Jugendhilfe müssten, weil sie echt nen Schaden haben. //okay// und des war damals eben noch nicht. und ähm (1) da da war viel möglich. auch sich zu engagieren also auch Mietverträge zu erstreiten mit den Wohnungsbaugesellschaften, oder gegen Räumungen äh dich einzu-. also so es gab sone Verlagerung in diesen äh äh in den beruflichen Bereich“.

In ihrem beruflichen Einsatz für die Rechte und Lebensverhältnisse obdachloser Jugendlicher findet Frau Kubitschek eine Möglichkeit, sich sozial und mit durchaus politischem Impetus zu engagieren. In diesem Bereich der Jugendhilfe sei damals „viel möglich“ gewesen. Frau Kubitschek macht hier deutlich, dass sie in dieser beruflichen Praxis eine politische Handlungsfähigkeit erfährt, die ihr zuletzt im Kontext der Bewegung versagt gewesen war. Sie kann hier „Mietverträge […] erstreiten“ und sich „gegen Räumungen“ einsetzen – eine Praxis, die sie aus ihrer Zeit im „halb besetzten Haus“ (Z. 318) und ihren Aktivitäten im Kontext der Hausbesetzer*innen-Bewegung gut kennt. Es zeigt sich in diesem beruflichen Engagement gegen soziale Ungleichheit also eine gewisse Kontinuität von Frau Kubitscheks politischen Orientierungen. Dennoch ist die Handlungspraxis, politische Gestaltungsmöglichkeiten im beruflichen Bereich zu suchen, für Frau Kubitschek neu und hält dementsprechend auch neue Erfahrungen für sie bereit. Von Vorteil ist – vor dem Hintergrund der oben genannten Problematiken im Bewegungsmilieu – in dieser professionellen Praxis nun, dass sie nicht (derart) mit ihren privaten Handlungsvollzügen vermischt und zudem nicht von den oben geschilderten Konfliktlinien betroffen ist. Sie entgeht hier also einigen Problemen und kann Teilen ihrer politischen Orientierung dennoch weiterhin Ausdruck verleihen. Das Neue an dieser Handlungspraxis ist für Frau Kubitschek aber, dass sie in der Hauptsache individuell gelagert und nicht an ein Kollektiv angebunden ist. Sicherlich kooperiert Frau Kubitschek im Rahmen der beruflichen Tätigkeit auch mit Arbeitskolleg*innen,

414

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doch bildet sich kein konjunktiver Erfahrungsraum heraus. Dies zeigte sich bereits in der Rede vom fehlenden „politische[n] Zuhause“ (Z. 488), das es für sie seit dieser Zeit (und bis heute) nicht mehr gibt. Die Abwesenheit eines konjunktiven Erfahrungsraumes bestätigt sich nicht zuletzt auch darin, dass Frau Kubitschek weiterhin nach kollektiven Anschlüssen sucht. Neben der beruflichen Tätigkeit versucht sie den Kontakt zur stark geschrumpften, aber durchaus noch existenten und „engagiert[en]“ Frauenbewegung aufrechtzuerhalten, deren ‚Wegbruch‘ (vgl. Z. 438) aus ihrem Leben sie als „starken Verlust“ (Z. 439) empfindet. Sie besucht in diesem Kontext weiterhin Demonstrationen, doch findet sie sich hierin nicht mehr wieder (Z. 446 ff.): „und ich war aber dann auch und ich kann mir ehrlich gesagt nicht genau sagen äh (.) wo da dann die Distanz entstanden ist also so ich war dann aber. es es gibt ja nach wie vor ne sehr engagierte Frauenszene auch wenn sie klein ist. wobei ich sagen muss die ist auch sehr jung, //mhm// die ist deutlich jünger als ich. (2) und äh da finde ich mich nicht mehr. //mhm// und äh (4) und es ist aber auch ich ich find aber auch meine Form darin nicht mehr. ich hab das Gefühl dass sich viele Sachen für mich auch nicht mehr (2) also auch diese ganze äh äh Art zu demonstrieren oder Sachen auf die Straße zu tragen. es hat sich irgendwie nen bisschen tot gelaufen und ich bedauer das ei- ei- auf ne Art und Weise total. weil man ja dauernd also ich hab ganz oft das Bedürfnis eigentlich (2) @mein Protest auf die Straße zu tragen@ // mhm// aber ich weiß ehrlich gesagt nicht äh so richtig welche Form (2) die richtig ist.“

In ihren Reflexionen, „wo“ es mit der „Distanz“ los ging – die, so viel wird hier deutlich, bis in die Gegenwart anhält – verweist Frau Kubitschek abermals auf die bereits erwähnte Altersthematik. Doch geht es hier um mehr als nur Altersunterschiede, Bettina Kubitschek spürt eine Distanz zur „Art zu demonstrieren“ der jüngeren Frauen, was wiederum nicht gleichbedeutend damit ist, dass sie Demonstrieren an sich ablehnt; im Gegenteil: Sie hegt durchaus selbst weiterhin den Wunsch, ihren „Protest auf die Straße“ zu tragen. Es geht bei ihrer Distanz also nicht um das Demonstrieren an sich, sondern um die Art und Weise des Demonstrierens der anderen Frauen, die Frau Kubitschek missfällt. Zwar wird an dieser Stelle nicht deutlich, was genau ihr hier nicht zusagt, vor dem Hintergrund ihrer sonstigen Ausführungen liegt es aber nahe, dass es sich auch hier um mangelnde Differenziertheit handelt. Frau Kubitschek fasst die (neue) Erfahrung eines Distanzempfindens, die sie nun im Kontext einer lange selbst praktizierten, politischen Ausdrucksform macht, als Suche nach der eigenen „Form“.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

415

Dass sie diese ‚Form‘, die sie nicht mehr finden kann, vor allem darüber bestimmt, differenzierte Abwägungen vorzunehmen, wird an ihren Ausführungen zum Besuch einer Demonstration der autonomen Bewegung deutlich (Z. 474 ff.): „es ist mir inhaltlich nach wie vor total wichtig. aber ich kann mich zu bestimmten Parolen nicht mehr hinstellen ((leidend gesprochen)) //mhm// und und äh (.) ich kann auch son bestimmtes Mackertum einfach nicht ertragen und es gibt aber nicht den Rahmen in den ich dann stattdessen äh treten kann. um dann Abstand zu haben. das geht irgendwie alles nicht. also ich bin (.) mh (2) ich stehe bereit nach wie @ vor, also so.@ und ich bin aber wirklich (.) ähm (1) seit mittlerweile doch vielen Jahren auf der Suche, und hätte nicht gedacht, dass es das so schw- dass es mal so schwer werden äh könnte für mich son Ansatzpunkt zu finden“.

Obwohl Frau Kubitschek noch eine inhaltliche Nähe zu einigen Positionen der Bewegung verspürt – hier am Beispiel einer Solidaritätsbekundung für „MumiaAbu-Jamal“ (Z. 473) konstatiert –, besteht die Distanz „zu bestimmten P ­ arolen“ und einer von ihr abgelehnten Geschlechterperformanz („Mackertum“) weiter fort. Es dokumentiert sich in dieser Schilderung zudem, was sich Frau Kubitschek eigentlich wünscht: Sie sucht nach einem „Ansatzpunkt“ für einen ­„Rahmen“, in den sie „treten kann“, „um dann Abstand zu haben“. Es geht hier also darum, einerseits nicht in der Menge (undifferenzierter Positionen) unterzugehen und sich andererseits dennoch für diejenigen Inhalte einzusetzen, die sie mit den Aktivist*innen teilt. Für diese Agenda den passenden „Ansatzpunkt“ zu finden, gelingt ihr nicht mehr – und es wird deutlich, dass dieser Umstand, der nunmehr seit „vielen Jahren“ anhält, sich bis zum heutigen Zeitpunkt durchzieht. Ihre neue, an einer differenzierten Betrachtungsweise von politischen und sozialen Zusammenhängen ausgerichtete Orientierung, macht es Frau Kubitschek also schwer, mit ihr in Passung stehende, kollektive Anschlüsse zu finden. Es zeigt sich hier, dass ihre neue Handlungspraxis (zumindest teilweise) in der Suche, nach einer passenden „Form“ des Engagements besteht, in der sie ihre neue Orientierung an einer differenzierten Betrachtung realisieren kann. Somit bleibt ihre neue Handlungspraxis eine individuelle, nicht kollektivierbare, auch wenn sie im Kern darin besteht, einen neuen, kollektiven Anschluss zu suchen. Die neuen Erfahrungen, die Frau Kubitschek in dieser Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, individuellen Praxis macht, bestehen also vor allem darin, ihre neue Orientierung an differenzierter Komplexität, die nunmehr eine hohe biografische Bedeutsamkeit erlangt hat, eben nicht an einen kollektiven Rahmen anbinden zu können. Es gelingt ihr jedoch einige ihrer politischen Vorstellungen in einer individuell gelagerten, beruflichen Praxis umzusetzen, wenngleich ihr hierbei der

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Aspekt der Vergemeinschaftung fehlt und zudem nicht alle Themen abgedeckt sind, die ihr wichtig sind. In diesem Punkt unterscheidet sich Frau Kubitschek maßgeblich von Frau Weber, die in der neuen, individuellen Praxis ihre neue Orientierung adäquat umgesetzt sieht.38 Auf der Ebene des Habitus ist eine deutliche Dynamisierung zu konstatieren. Die neue Orientierung einer differenzierten Betrachtung komplexer Zusammenhänge erhält eine derart hohe Bedeutsamkeit, dass sie andere Handlungsvollzüge blockiert. So hat die Orientierung an Vergemeinschaftung für Frau Kubitschek weiterhin eine hohe Orientierungsqualität, doch findet Frau Kubitschek keinen sozialen Anschluss, der für beide Orientierungen stimmig ist und bleibt so letztlich bei ihrer individuellen Praxis. Gerade darin, dass sie hier – trotz der Probleme, einen neuen Anschluss zu finden – an der neuen Orientierung festhält, bestätigt sich deren hohe Orientierungsrelevanz. Für ihr dynamisiertes habituelles Gefüge können nun diese beiden genannten Orientierungen als biografisch bedeutsam gelten.

6.2.2.3 Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten Auch bei Frau Kubitschek ist eine Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten zu konstatieren. Beruflich kann sie weiterhin an ihre politischen Orientierungen anschließen. Mittlerweile arbeitet sie „im Antidiskriminierungsbereich und im Demokratiepädagogikbereich“ (Z. 490), wo sie versucht, ihre politischen Anliegen (Z. 491 ff.): „auch in verschiedene Instanzen zu tragen, aber es ist ganz klar mein professioneller Bereich. //ja// und in mein privaten Bereich (.) ist außer so individua::l äh politisches Engagement, sprich man geht auf ne Veranstaltung oder zu nem äh Zeitzeugengespräch oder auf gewisse äh äh Demos. (3) aber so relativ zusammenhangslos, // mhm// (.) ist eigentlich nicht relativ viel geblieben.

Frau Kubitschek hat hier einen weiteren Kontext gefunden, in dem sie einigen ihrer politischen Grundsätze Ausdruck verleihen kann und in dem ihr durchaus eine gewisse politische Gestaltungsmacht zukommt, kann sie doch „verschiedene Instanzen“ mit den Themen ‚Antidiskriminierung‘ und ‚Demokratiepädagogik‘

38Auch

Frau Weber sympathisiert, wie bereits gesehen, zwar durchaus weiterhin mit dem Gedanken, sich einer politischen Organisation anzuschließen, dies ist aber für sie nicht vorrangig und ihr Fokus liegt deutlicher auf der individuell gelagerten Handlungspraxis.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

417

beschäftigen.39 Doch Frau Kubitschek selbst misst dieser individuell gelagerten, beruflichen Handlungspraxis vor dem Hintergrund dessen, dass sie mit ihrem ‚privaten politisches Engagement‘ weiterhin nicht zufrieden ist, nur begrenzte Bedeutung bei. Es fehlt ihr weiterhin eine kollektive Anbindung, mit der auch ihre ‚privaten‘ Handlungsvollzüge verbunden sind, sie nimmt ihre individuell gelagerte politische Praxis als „zusammenhangslos“ wahr. Doch findet die Fortführung der neuen Orientierung nicht gänzlich jenseits von Kollektivität statt. Es tauchen durchaus neue Optionen auf, für die Frau Kubitschek sich interessiert. So stößt sie über den „musikalischen Bereich“ (Z. 591) auf eine feministische Strömung, die sich maßgeblich über Medien wie Zeitschriften und Diskussionsforen „im Internet“ zu formieren scheint und in der sie lang vermisste „Ansatzpunkte“ für sich entdeckt (Z. 515 ff.): „also ich hab das Gefühl es gibt da so Ansatzpunkte ne sind zwar auch die meisten zehn Jahre jünger als ich aber es sind doch auch durchaus auch @Damen dabei die mal nen paar Jahre älter sind. und auch in meinem Alter@ und äh das gefällt mir sehr gut. es ist aber wirklich muss es ist n Diskurs der ganz viel übers Internet läuft. //echt?// der über über so äh is äh so was wie Fanzines, was dann aber eben auch im Internet abläuft, also wo ich auch richtig merke huch, (.) ne das ist mir, (.) da da fällts mir schwer nen Zugang zu finden, //mhm// und es gefällt mir aber gut. muss ich echt sagen, das finde ich gut. //mhm// und da ist so so am ehesten glaube ich mein nen Ansatzpunkt für mich momentan.“

Obwohl viele der Frauen „zehn Jahre jünger“ sind und es zudem nicht ihrer gewohnten Kommunikationsform entspricht, sich mit anderen online über Themen zu verständigen (und ihr dies eher schwer fällt), gelingt es ihr dennoch. Die Internetkommunikation vergleicht sie mit „Fanzines“ und findet über diesen Vergleich zu etwas Bekanntem einen „Zugang“ zu den genutzten Medien. Sie gibt an, „da“ „so am ehesten […] nen Ansatzpunkt“ für sich gefunden zu haben. Sie hat hier also einen Kontext mit Themen gefunden – die sie kurz darauf als „CleanClothes-Campaign-Geschichten und diese Food-Watch-Sachen“ (Z. 534 f.) konkretisiert –, an die sie andocken kann, ohne dass in diesem Zusammenhang für sie das Thema einer mangelnden Differenziertheit aufkommt. Der hier entdeckte, kollektive Anschluss weist also eine weitgehende Passung zu Frau Kubitscheks

39Wie

schon in Bezug auf die berufliche Tätigkeit mit den ‚Treberkindern‘, erwähnt sie auch hier keine Formen sozialer Bestätigung. Alleine der Umstand, dass sie diese Arbeitsstelle(n) – auch über längere Zeiträume hinweg – bekleidet, zeugt n. E. aber bereits von einer gewissen sozialen Bestätigung.

418

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

transformierten habituellen Gefüge auf – könnte man meinen. Gleichzeitig scheint aber auch dies noch nicht zu genügen, schränkt sie die Passung doch mit dem Zusatz, dass sie hier „am ehesten“ einen „Ansatzpunkt“ sehe, wieder ein – eventuell angesichts der Virtualität des Kontakts im Internet, der ihre keinen konjunktiven Erfahrungsraum mit einer kollektiven Handlungspraxis, die auch ihre alltäglichen Handlungsvollzüge umfasst, bieten kann, wie dies im alles umfassenden autonomen Bewegungsmilieu der Fall war. Auch die kurz vor dieser Passage gewählte Formulierung, in der sie lediglich von „zarte[n]“ feministi:sche[n] […] Pflänzchen“ (Z. 590) sprach, lässt darauf schließen, dass sie hier Potential (für Wachstum) sieht, aber dieser Anschluss noch nicht in vollem Maße erfüllt, was sie sich wünscht – entweder, weil er zu klein oder nicht umfassend genug ist, oder, weil sie auch hier inhaltlich nicht vorbehaltslos andocken kann; dies kann nur gemutmaßt werden. So erfüllt auch dieser kollektive Anschluss in einem politisierten Kontext offenbar nicht (alles), was sich Frau Kubitschek von ihm erhofft, wie sich auch in den vielen, bereits vorgestellten, im Präsens formulierten Reflexionen ihrer politischen ‚Ratlosigkeit‘ (vgl. Z. 472) dokumentierte.40 Es kann hier also ein teilweises Finden (im Beruf und in dem o. g. feministischen Anschluss im Internet) bei einem gleichzeitigem Fortbestehen der Suche nach kollektiven Anschlüssen für die neue, biografisch bedeutsame Orientierung konstatiert werden. Die Handlungspraxis, die Frau Kubitschek hier fortführt, besteht also in einem individuell gelagerten, beruflichen Engagement, in dem sie einigen ihrer politischen Orientierungen – konkret: dem Einsatz gegen soziale Ungleichheit – Ausdruck verleihen kann, bei einer gleichzeitigen – seit Jahren verstetigten – Suche nach neuen politischen Anschlüssen, in denen sie sowohl ihre neue biografische Bedeutsamkeit einer Differenzierung als auch die weiterhin biografisch bedeutsame Orientierung der kollektiven Einbindung verbinden kann. Frau Kubitscheks Suche ist also nicht bloß Ausdruck einer Dynamisierung des Habitus – wie sich dies am Beginn von Frau Bachs adulten Bildungsprozess sowie bei den meisten jugendlichen Bildungsprozessen zeigte –, sondern ihre Suche hat verstetigten Charakter und ist deshalb Teil ihres transformierten Habitus; eines Habitus der auf Dauer gestellten Suche nach kollektiven Anschlüssen, die den eigenen, veränderten Ansprüchen an eine differenzierte Betrachtung der Komplexität politischer und sozialer Verhältnisse stand hält, wenn man so will.

40Auf

die Rolle ihrer vielen Reflexionen werde ich im Abschnitt zur Reinterpretation der eigenen Biografie (Abschn. 6.2.2.4) noch genauer eingehen.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

419

Frau Kubitscheks transformierter Habitus fußt auf zwei Orientierungen, denen eine hohe biografische Bedeutsamkeit zukommt, der Orientierung an differenzierender Komplexität und der Orientierung an einer Suche nach Vergemeinschaftung. Während erstere neu hinzugekommen ist und sogleich eine hohe Orientierungsrelevanz erhalten hat, besteht die Bedeutung von Gemeinschaft weiter fort. So kann von zwei Dimensionen des Habitus gesprochen werden, die beide konstitutiv für ihren transformierten Habitus sind.41 Diese widersprechen sich nicht grundsätzlich, doch scheint es für Frau Kubitschek schwierig, eine Handlungspraxis zu finden, mit der beide Dimensionen in Passung stehen. Oder anders gesagt: Für den an differenzierter Komplexität und zugleich an konjunktiver Vergemeinschaftung orientierten Habitus findet Frau Kubitschek bislang keine entsprechende, kollektive Handlungspraxis im politisierten Kontext – bzw. nur Ansätze für eine solche. Dies mag daran liegen, dass Frau Kubitschek nach einer solchen Passung für ihren transformierten Habitus in einem ähnlichen sozialen Kontext – eigentlich in derselben Bewegung oder anderen Teilen derselben Bewegung – sucht, in dem überhaupt der Anstoß zur Transformation gegeben wurde.

6.2.2.4 Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie Auch bei Frau Kubitschek findet sich eine Vielzahl biografischer Reflexionen, an denen sich dokumentiert, dass sie die eigene Biografie reflexiv bearbeitet und reinterpretiert hat. So setzt sie beispielsweise ihre berufliche Tätigkeit der „Bildungsarbeit“ in ein direktes Verhältnis zu ihrer eigenen Biografie (Z. 483 ff.): „und ich bin ja jobmäßig jetzt in der Bildungsarbeit gelandet. ich denk ich bin nicht (.) umsonst jetzt wieder in dem Bereich gelandet wo mein Arbeitsschwerpunkt ist Partizipation und Sprachförderung also ganz klar ein Fokus auf äh Familien mit Migrationshintergrund oder aus äh sozial äh (.) schwachen Verhältnissen, das hat sowohl was mit meiner Biografie eben wieder zu tun als auch mit meinen ­Überzeugungen.“

Frau Kubitschek konstatiert hier einen Zusammenhang zwischen den eigenen biografischen Erfahrungen und ihrer Arbeit mit „Familien mit Migrationshintergrund“ und aus „sozial […] schwachen Verhältnissen“. Diese berufliche

41Da

ich nicht davon ausgehe, dass im Bildungsprozess alles neu ist, sondern durchaus auch Kontinuitäten bestehen (vgl. Abschn. 3.2.3.2), betrachte ich ihren Habitus dennoch als transformiert.

420

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

­ usrichtung begreift sie nicht als Zufall („nicht (.) umsonst“), bestehe hier doch A ein Anknüpfungspunkt zu ihrer eigenen „Biografie“. Bei diesen handelt es sich sicherlich um die Gemeinsamkeit, dass für sie als Arbeiterkind bereits in der Kindheit soziale Differenz zum Thema wurde und ihre „Partizipation“ am Gymnasium alles andere als selbstverständlich war (vgl. hierzu den Exkurs zu den Erfahrungshintergründen ihres adulten Bildungsprozesses in diesem Kapitel und ausführlicher Abschn. 5.2), genauso wie auch ihre Klientel überproportional hoch von sozialer und bildungsbezogener Ungleichheit negativ betroffen ist. Wie sich bereits an etlichen, teils schon zitierten Passagen des Interviews gezeigt hatte, reflektiert Frau Kubitschek auch hier also die biografische Einbettung ihrer (beruflichen) Handlungen. In einer anderen Passage reflektiert sie zudem die biografische Verbindung, die zu denjenigen Themen besteht, mit denen sie sich ‚privat‘ im Zuge ihres neuen, feministischen Anschlusses im Internet beschäftigt (Z. 532 ff.): „vielleicht ist es auch das wo ich am am meisten herkomme und (5) mhm jetzt auch wieder mit mit diesen ganzen äh politischen Verhältnissen, es ist ja auch so dieses äh- diese ganzen Clean-Clothes-Campaign-Geschichten und diese Food-WatchSachen, da das sind ja ganz oft Frauen (.) äh Betriebe äh in ne das sind viel mehr Frauen in Sweatshops äh weltweit und und äh also da da (.) hat man ja dauernd auch wieder diesen Bezug und ich hab das Gefühl mei- meine Power ist echt begrenzt. und dann ist es mir näher mich da zu engagieren //mhm// und und den Bogen auch zu finden. //ja// ne so vielleicht.“

Angesichts der „begrenzt[en]“ eigenen „Power“ – die, wie sie an anderer Stelle erläutert, aus ihren knappen Zeitressourcen als Mutter und Arbeitnehmerin resultiert (vgl. Z. 556 ff.) – bevorzuge sie jene Themen, zu denen sie einen (persönlichen) „Bezug“ herstellen kann. Die hier genannten Themen, die „oft Frauen“ in „Betriebe[n]“ – d. h. deren Arbeits- und Lebensbedingungen – betreffen, sind Frau Kubitschek „näher“ als andere. Sie reflektiert diese als ihrem originären Interesse bzw. dem Ursprung ihrer politischen Orientierungen (‚wo sie herkommt‘) am nächsten. In dem neuen, feministischen Anschluss und seinen Themen könne sie einen „Bogen“ „finden“ respektive den biografischen „Bogen“ zu ihren eigenen Erfahrungshintergründen spannen. Es dokumentiert sich hier, wie schon bei etlichen anderen Interviewten gesehen, auch bei Frau Kubitschek eine Reflexion der biografischen Triebfedern für das eigene Engagement.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

421

Solche Reflexionen der biografischen Anschlusslinien sind jedoch nicht die einzigen Reflexionen, die sich im Interview mit Frau Kubitschek finden lassen. Ganz im Gegenteil, es fällt auf, dass Frau Kubitscheks lebensgeschichtliche Schilderung insbesondere ab dem Zeitpunkt der Desintegrationserfahrungen im Erwachsenenalter, des Beginn ihres adulten Bildungsprozesses also, von Reflexionen geradezu durchdrungen ist. Wie in der Darstellung des Prozesses bereits angemerkt, ließen sich kaum Passagen finden, in denen Frau Kubitschek die damaligen Ereignisse erzählt, ohne diese aus ihrer heutigen Perspektive zugleich zu reflektieren. Angesichts der Ausbildung eines Habitus, für den die differenzierte Betrachtung von Zusammenhängen zentral ist, verwundert dieser reflexive Erzählmodus nicht; zumal hier – trotz der teils umfangreichen Reflexionen – weiterhin die Erzählung im Vordergrund steht.42 Der von Reflexionen durchdrungene Erzählmodus kann also sicherlich als Bestätigung des Habitus der differenzierten Betrachtung von komplexen Zusammenhängen und Frau Kubitscheks Habitus somit als transformiert gelten. Doch gibt sie in ihren Reflexionen – trotz der konstatierten biografischen Anschlussmöglichkeiten, die sie in dem soeben erwähnten, feministischen Anschluss gefunden zu haben meint – auch weiterhin einer Unzufriedenheit mit der eigenen (politischen) Handlungspraxis Ausdruck. Im neuen feministischen Anschluss kann sie zwar ‚Ansatzpunkte‘ für beide biografisch bedeutsamen Orientierungen (Differenzierung und Vergemeinschaftung) finden, doch verändert dies ihre Reflexionen der eigenen Praxis als fortwährende „Suche“ (Z. 481), die mitunter sogar dazu führt, dass sie sich „schon seit etlichen Jahrn“ „ratlos“ (Z. 472) fühlt, nicht – oder nur punktuell. Dass der neue feministische Anschluss sich nicht (umfassend) in ihren Reflexionen niederschlägt, sondern die Suche nach Vergemeinschaftung weiterhin als prekäre Dimension präsentiert wird, zeugt davon, dass diese eine Dimension ihres Habitus, die ich als Orientierung an Konjunktion und Vergemeinschaftung fasse, weiterhin unbefriedigt bleibt. Hierin liegt eine Besonderheit von Frau Kubitscheks Bildungsprozess bzw. wirft dieser Umstand die Frage auf, ob der Bildungsprozess als abgeschlossen gelten kann oder ob konstatiert werden muss, dass er ins Stocken geraten ist.

42Eine

im Vordergrund stehende Reflexion, bei der eine kohärente Erzählung in dem Sinne gar nicht existent ist, hätte hingegen ein Zeichen für einen weiter andauernden, destabilisierten Charakter des Prozesses dargestellt. (Zur dokumentarischen Interpretation der verschiedenen Textsorten in narrativen Interviews siehe Abschn. 4.2.1.2 und 4.2.2.2).

422

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Ich möchte die soeben aufgeworfene Frage nach der Abgeschlossenheit des hier diskutierten Bildungsprozesses sogleich folgendermaßen beantworten: Sofern Zufriedenheit nicht als Kriterium für Bildung festgelegt wird, liegt bei Frau Kubitschek m. E. auch im Erwachsenenalter ein Bildungsprozess vor, der – bis zum Zeitpunkt des Interviews – alle Kriterien eines im Rahmen des Rückzugs aus einer sozialen Bewegung stattfindenden Bildungsprozesses aufweist und in dessen Zuge eine neue, biografisch bedeutsame Orientierung entstanden ist, für die – wenn man in Betracht zieht, dass hier prägende Aspekte von Frau Kubitscheks biografischen Hintergrunderfahrungen tangiert sind – durchaus konstatiert werden kann, dass sie grundlegende Dimensionen des Habitus betrifft und diesen transformiert hat; was sich zudem in Frau Kubitscheks biografischen Reflexionen dokumentiert. Allerdings zeigt sich auch, dass Frau Kubitschek für eine andere, biografisch bedeutsame Orientierung bzw. für eine andere Dimension ihres Habitus, die bereits vor dem Bildungsprozess bestanden hat, im Zuge des Bildungsprozesses keine zufriedenstellende Handlungspraxis gefunden hat. Dies tut dem Bildungsprozess m. E. keinen Abbruch, sondern verweist lediglich auf eine fehlende Passung des transformierten Habitus und seines sozialen Kontexts. Daraus, dass Frau Kubitschek für diese Orientierung an einer konjunktiven Vergemeinschaftung nur ‚Ansätze‘ einer Handlungspraxis findet, resultiert in gewisser Hinsicht eine größere Unbestimmtheit in Bezug auf die Frage, wie sich der Prozess im Weiteren entwickeln wird, als bei den anderen Akteuren und Akteurinnen. Zwar ist die Zukünftigkeit für keine der Lebensgeschichten zu bestimmen und die folgende Überlegung deshalb nur Spekulation, doch möchte ich sie trotzdem anstellen. Angesichts der teils widersprüchlichen Reflexionen, die zwar eine Habitustransformation bestätigen, zugleich aber auch darauf verweisen, dass der transformierte Habitus nicht in voller Passung zu einer sozialen Praxis steht, kann eine größere Offenheit in Bezug auf den weiteren Prozessverlauf angenommen werden. Davon ausgehend, dass in einer anderen Dimension des mehrdimensionalen Habitus stets das Negationspotential für weitere Bildungsprozesse liegt, kann die – nicht befriedigte – Dimension des Wunschs nach Vergemeinschaftung als Negationspotential für den transformierten Habitus in seiner jetzigen, transformierten Form gelten. Folglich wäre eine größere Unbestimmtheit zu konstatieren als bei den anderen Bildungsprozessen, die auch als weiter fortbestehende Dynamisierung des Habitus bezeichnet werden kann.

6.2  Bildung im Rückzug vom Engagement

423

6.2.3 Zusammenfassung der Phasen adulter Bildungsprozesse im Rückzug vom Engagement Anhand der Lebensgeschichten von Frau Weber und Frau Kubitschek konnten zwei adulte Bildungsprozesse vorgestellt werden, die sich im Kontext eines Rückzugs vom Engagement in der autonomen Bewegung vollzogen. Der Beginn dieser beiden Bildungsgeschichten weist etliche Gemeinsamkeiten auf. Beide Frauen, die sich wie Herr Büchner und Frau Bach auch dem Milieu der autonomen Bewegung zurechneten, sind in diesem Kontext mit neuerlichen ­ Desintegrationserfahrungen konfrontiert und zugleich verspüren beide – wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung – eine Distanz zu den Inhalten und ­Ausdrucksformen der Bewegung. Frau Weber reagiert mit einem Rückzug in den beruflichen Bereich, womit ihr adulter Bildungsprozess beginnt, in dessen Zuge sie ihren Habitus einer politisierten Negation transformiert und einen ‚helfenden‘, d. h. an der konkreten Verbesserung von Missständen orientierten Habitus ausbildet. Auch Frau Kubitschek zieht sich aus der Bewegung zurück und betätigt sich von da ab stärker im beruflichen Bereich. Und auch sie transformiert im Zuge des so einsetzenden adulten Bildungsprozesses ihren Habitus der politisierten Negation, der stark auch von einer Praxis des Einebnens von bewegungsinternen Differenzen geprägt war, hin zu einem Habitus, für den Komplexität und eine differenzierte Betrachtung zentral sind. Im Unterschied zu Frau Weber hat aber die Suche nach Möglichkeiten der Vergemeinschaftung im politisierten Kontext weiterhin einen großen Stellenwert für sie, ihr Rückzug aus dem Engagement ist also letztlich nicht gewollt, was zu einer Unzufriedenheit führt.43 Anstatt die bei Frau Weber und Frau Kubitschek rekonstruierten Bildungsphasen noch einmal gesondert zusammenzufassen, möchte ich im Folgenden sogleich in den Vergleich gehen und die Phasen dieser, sich im Rahmen eines Rückzugs aus dem Engagement vollziehenden Bildungsprozesse, den Phasen derjenigen Bildungsprozesse, die im Rahmen eines fortgesetzten Engagements stattfinden, gegenüberstellen.

43Dahin

gehend, dass Frau Kubitschek zwar einen Bildungsprozess im Rahmen eines Rückzugs aus dem Engagement durchläuft, sie diesen Rückzug aber wiederum gerne rückgängig machen würde, habe ich Frau Kubitscheks Bildungsprozess eingangs auch als Zwischen-Fall zwischen den beiden hier vorgestellten Ausprägungen von adulten Bildungsprozessen im Kontext von sozialen Bewegungen gekennzeichnet – wenngleich die individuelle Handlungspraxis und die Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten jenseits einer Bewegung hier überwiegen.

424

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

6.3 Bildung im Engagement und Bildung im Rückzug vom Engagement – Differenzierungen und Gemeinsamkeiten der Phasen adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen Trotz der unterschiedlichen ‚Ausrichtungen‘ der Prozesse hinsichtlich der Frage, ob eine Wegbewegung vom Engagement oder aber ein Verweilen in den sozialen Bewegungen stattfindet, weisen die hier dargestellten adulten Bildungsprozesse unter der Perspektive auf ihren phasenhaften Verlauf dennoch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Im Folgenden möchte ich in Form einer übergreifenden Phasentypik die Gemeinsamkeiten adulter Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen vorstellen. Die spezifischen Ausprägungen der Bildungsprozesse im Engagement (vgl. Abschn. 6.1) und im Rückzug vom Engagement (vgl. Abschn. 6.2) fließen in diese übergreifende Typik als Binnendifferenzierungen ein. Angesichts dessen, dass sie jeweils nur auf zwei Fällen basieren, sind sie in ihrer Aussagekraft sicherlich begrenzt, können aber doch als erste Ansätze in Richtung der Typisierung verschiedener Prozessverläufe gelten.

6.3.1 Die Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken Die Bildungsprozesse im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Bewegungen beginnen fall-übergreifend mit einer Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken. Angesichts eines gesellschaftlichen Ereignisses, das ihn moralisch empört, legt Herr Büchner eine Offenheit für neue, kollektive Zusammenschlüsse und für die unmittelbare Veränderung seiner routinierten Handlungspraxis an den Tag. Bei Frau Bach entsteht die Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken vor dem Hintergrund einer inhaltlichen Distanzierung von den Protestbewegungen, an denen sie bis dahin partizipiert hatte, sowie im Zusammenhang mit ihrem lesbischen Coming-out. Auch bei Frau Weber und Frau Kubitschek steht die Offenheit im Kontext einer Distanzierung von der sozialen Protestbewegung, in der sie sich über Jahre hinweg beide bewegt hatten. Es kristallisiert sich so – bei manchen noch sehr vage, bei anderen schon deutlicher – das Entstehen neuer Orientierungen heraus, sodass bei allen vier Akteuren und Akteurinnen von einem ersten Schritt in Richtung der Dynamisierung ihrer Habitus gesprochen werden kann. Alle vier Fälle von Bildung im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Protestbewegungen eint zudem, dass ihre Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken zwar nicht in dem Sinne als bestimmt oder zielgerichtet zu bezeichnen ist, als

6.3  Bildung im Engagement und Bildung im Rückzug vom Engagement …

425

dass die Sich-Bildenden am Anfang des Bildungsprozesses schon antizipieren könnten, wie der weitere Prozessverlauf sein wird, sie jedoch auch nicht in dem Maße unbestimmt sind, wie ich es in Abschn. 5.3 für die jugendlichen Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen rekonstruiert habe.44 Anders als bei den Jugendlichen dokumentieren sich bei den Erwachsenen deutlichere, affirmative Zielvorstellungen: So steht bei Frau Bach die „Richtung Feminismus“ (Z. 123) fest, Frau Weber „will jetzt einen Beruf haben“ (Z. 657) und Frau Kubitschek will Sachverhalte differenzierter betrachten. Und selbst Herrn Büchners aktionistischer Beginn des Bildungsprozesses ist nicht nur durch die Negation der rechtsgerichteten Angreifer*innen, sondern ebenso in affirmativer Weise durch den Wert des Eintretens für andere Menschen bestimmt.

6.3.1.1 Binnendifferenzierung: Zur Rolle von Kollektivität und Politizität sowie destabilisierender Erfahrungen Unterschiede bestehen in dieser ersten Phase der adulten Bildungsprozesse allerdings dahin gehend, dass die Offenheit, die sich bei Frau Bach und Herrn Büchner zeigt, weiterhin deutlich auf einen kollektiven Anschluss im politisierten Kontext gerichtet ist, während dies bei Frau Kubitschek (die später einen solchen Anschluss wieder suchen wird) zumindest an dieser Stelle des Bildungsprozesses nicht ganz so deutlich ist und sich Frau Webers Offenheit sogar explizit auf die berufliche Dimension richtet, womit eine deutliche Abkehr von ihren politischen, im kollektiven Kontext der Hausbesetzer*innen und Autonomen ausgebildeten Orientierungen, einhergeht. Diese beiden Bildungsprozesse im Rahmen eines Rückzugs aus dem Engagement weisen hingegen akute Desintegrationserfahrungen auf, d.  h. milieubezogene Auflösungserscheinungen durch generationelle und andere Umstrukturierungen des Bewegungsmilieus und orientierungsbezogene Marginalisierungen bzw. Loslösungen von ihren bisherigen kollektiven Einbindungen, die den unmittelbaren Hintergrund ihrer Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken bilden. Insbesondere bei Frau Weber, in etwas abgeschwächter Form trifft dies aber auch auf Frau Kubitschek zu, sind die Auflösungserscheinungen derart vielfältig und betreffen m ­ ehrere Erfahrungsdimensionen, sodass die Destabilisierung, die aufgrund der Desintegration erfahren wird, als akut bezeichnet werden kann, weil hier diverse Handlungsvollzüge unmittelbar ein Ende finden.

44Für

einen ausführlichen Vergleich zu den Phasen der Bildungsprozesse im Jugendalter siehe Kap. 8.

426

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Erfahrungen von Desintegration und Marginalisierung spielen bei den Bildungsprozessen im Rahmen eines fortgesetzten Bewegungsengagement zwar durchaus auch eine Rolle, allerdings stellen diese nicht den unmittelbaren, akuten Kontext der einsetzenden Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken dar, sondern vielmehr ihren bereits länger zurückliegenden, latenten (biografischen) Hintergrund. So kann bei Herrn Büchner angesichts seiner Marginalisierung in der DDR und seiner Ausreise nach West-Berlin als biografischer Erfahrungshintergrund des Bildungsprozesses durchaus eine gewisse soziale Desintegration konstatiert werden, an die der spätere Bildungsprozess auch anknüpft, doch beginnt dieser erst viele Jahre nach seiner Ankunft in West-Berlin bzw. kurz darauf Hamburg (wo Herr Büchner im Übrigen sozial gut integriert ist), stellt also keinen unmittelbaren (virulenten) Kontext seiner Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken dar. Auch bei Frau Bach könnte in ihrer Distanzierung von der Bewegung sicherlich eine gewisse Erfahrung von Desintegration liegen, allerdings setzt sie ihr Engagement in reduzierter Form über Jahre hinweg fort – es gibt hier also keinen radikalen Bruch mit diesen Handlungsvollzügen – und so erscheint auch bei ihr die Loslösung von den sozialen Bewegungen mehr als latenter Hintergrund denn als unmittelbarer, akuter Kontext für den Beginn des Bildungsprozesses. Ebenso verhält es sich mit der Thematik ihrer sexuellen Orientierung: Diese weist, wie im Exkurs zum biografischen Erfahrungshintergrund gesehen, zweifelsohne ein biografisch-destabilisierendes Potential auf, doch ist dies als latenter Hintergrund des Bildungsprozesses (wenn man so will als eine Habitusdimension) bereits seit ihrer Jugend vorhanden und erscheint nicht als akutes Moment von Destabilisierung.45

6.3.2 Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen Praxis Der Offenheit für Neues folgt in allen vier Bildungsprozessen eine Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen Praxis. Im Kontext einer neuen Handlungspraxis machen die

45Auch

Frau Weber und Frau Kubitschek weisen übrigens solche latenten (z. B. Desintegrations-)Erfahrungen auf, die allerdings erst in der nächsten Phase des Bildungsprozesses an Bedeutung für den Prozess erlangen.

6.3  Bildung im Engagement und Bildung im Rückzug vom Engagement …

427

Akteur*innen neue Erfahrungen, in deren Zuge die neue Orientierung, die sich zuvor bereits angedeutet hat, nun Form annimmt. In allen Fällen erlangt diese quasi unmittelbar eine hohe biografische Bedeutsamkeit und Orientierungsqualität, sodass die mit der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken begonnene Dynamisierung des Habitus weiter voranschreitet. Die hohe biografische Bedeutsamkeit der neuen Orientierung lässt sich dabei bei Frau Weber, Frau Kubitschek und Frau Bach – zumindest in Ansätzen – vor dem biografischen Erfahrungshintergrund aus ihrer Kindheit und Jugend verstehen, während bei Herrn Büchner eine Anknüpfung des Bildungsprozesses an Erfahrungen aus seiner jungen Erwachsenenzeit zu konstatieren ist. Im Kontext dieser teils einige, zumeist aber zahlreiche Jahre zurückliegenden biografischen Erfahrungen hatten die Akteur*innen eine biografische Sensibilität für eine Thematik ausgebildet – bei Frau Bach wohnt dieser Thematik zudem eine sehr existenzielle Dimension bei –, die im adulten Bildungsprozess nun in der einen oder anderen Form aktualisiert wird, weshalb ich hier von für den adulten Bildungsprozess relevanten, latenten Erfahrungshintergründen spreche. So bieten sich im Bildungsprozess nun Möglichkeiten der Integration einer bisher ausgegrenzten Erfahrungsdimension in die eigene Biografie, der Überschreitung eines hemmenden Selbstbildes oder auch der Verwandlung eigener, negativ erinnerter Erfahrungen in eine Ressource für die eigene Handlungspraxis.

6.3.2.1 Binnendifferenzierung: Zur Kollektivität vs. Individualität und zur politischen Kontextuierung der neuen Praxis Binnendifferenzieren lässt sich diese Phase des Bildungsprozesses folgendermaßen: Bei denjenigen, die sich im Zuge der Fortsetzung ihres Engagements in einer sozialen Bewegung bilden, erhalten die neuen Orientierungen ihre hohe biografische Bedeutsamkeit durch Erfahrungen, die die Akteur*innen in einer neuen, kollektiven Praxis im politisierten Kontext machen. Bei Frau Bach ist es das ‚Lesbische Netzwerk‘, in dessen Rahmen sie die neue Erfahrung der Kollektivierung und Politisierung des Themas weiblicher Homosexualität macht und neue biografische Bedeutsamkeiten entwickelt. Bei Herrn Büchner hingegen sind es die Erfahrungen, die er im kollektiven Einsatz in einen politisierten Kontext macht (im Einsatz gegen die Übergriffe von Rechtsradikalen), in deren Kontext seine neue Orientierung biografisch immer bedeutsamer wird. Dahingegen handelt es sich bei der relevanten neuen Praxis, in deren Zuge sie neuen Erfahrungen machen, bei den beiden Frauen, die sich aus der sozialen Protestbewegung zurückziehen, um eine individuelle. Frau Weber setzt sich mit ihrer beruflichen Ausbildung auseinander und findet dort – über Umwege – eine Handlungspraxis,

428

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

in deren Kontext die neue Orientierung weiter ausdifferenziert und biografisch orientierungsrelevant wird. Frau Kubitschek macht die neue Erfahrung, im Beruf als Einzelperson politische Handlungsmöglichkeiten ergreifen zu können, und verfolgt zudem eine individuelle Suche nach weiteren kollektiven Anschlüssen im politisierten Kontext, die sowohl mit ihrer neu ausgebildeten, biografisch hoch bedeutsamen Orientierung des differenzierten Betrachtens als auch mit der weiterhin orientierungsrelevanten Suche nach Vergemeinschaftung in Passung zu bringen sind. Während sich Frau Kubitscheks Praxis dabei also durchaus weiterhin in einem politisierten Kontext bewegt, diese angesichts dessen, dass hier Vergemeinschaftung zwar beabsichtigt, aber nicht erfolgreich ist, aber weitestgehend individuell gelagert ist, ist Frau Webers neue Praxis nicht nur ebenfalls individueller Art, sondern entbehrt (an dieser Stelle des Prozesses) auch jeglicher politischer Kontextuierung.

6.3.3 Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten Es schließt sich nun eine Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten an, in der sich bei allen vier Akteur*innen die hohe biografische Bedeutsamkeit der neuen Orientierung bestätigt und diese eine Intensivierung, weitere Ausdifferenzierung sowie soziale Bestätigung erfährt. Herr Büchner knüpft einen politischen und zugleich freundschaftlichen Kontakt zu einem Überlebenden des Holocausts, mit dem er intensive Auseinandersetzungen führt. In diesem Kontext sowie weiterhin auch im Kontext der ‚Antifa‘ findet er eine handlungspraktische Umsetzung für seine neue, biografisch bedeutsame Orientierung und differenziert diese weiter aus. Auch Frau Bach engagiert sich in dieser Phase weiter rege im Kontext der Frauen-/Lesbenbewegung und gibt der neuen Orientierungsqualität auch in weiteren Kontexten Ausdruck, u. a. indem sie sich dem demokratischen Prozess mit politischen Kontrahentinnen stellt und hier als Lesbe und Feministin auftritt. Auch Frau Weber und Frau Kubitschek führen ihre individuell gelagerte, berufliche Praxis bzw. Frau Kubitschek auch die Suche nach kollektiven Anschlüssen, in denen sie mit allen Dimensionen ihres Habitus in Passung stehen kann, fort. Frau Weber denkt nun zudem auch wieder über Möglichkeiten nach, wie sie ihr berufliches Engagement noch stärker in einen politisch anschließbaren Kontext einbetten könnte. Bei allen Sich-Bildenden bestätigt sich, dass die neue Orientierung umfassende biografische Bedeutung erlangt hat und mehrere Dimensionen des

6.3  Bildung im Engagement und Bildung im Rückzug vom Engagement …

429

Habitus betrifft. So gibt Herr Büchner an, mit seiner Person für ‚Antifa‘ ‚bindend zu stehen‘, und verbindet zudem sogar seine Reisen mit politischen Absichten. Frau Bach verlagert ihr gesamtes Privatleben ins Bewegungsmilieu. Frau Weber begreift sich zufrieden als „Psychoschwester“ und bei Frau Kubitschek wird gerade dadurch, dass sie trotz der Probleme, einen neuen Anschluss zu finden, an der neuen Orientierung festhält, deren hohe Orientierungsrelevanz bestätigt. Es dokumentiert sich so bei allen vier Akteur*innen eine Transformation ihrer ­Habitus.

6.3.3.1 Binnendifferenzierung: Zu den Formen sozialer Bestätigung In dieser Phase lassen sich dann auch in allen Bildungsgeschichten Formen sozialer Bestätigung der neuen Orientierungen finden, wobei sich diese bei Frau Kubitschek nicht direkt dokumentieren, sondern ich daraus, dass sie über längere Zeit als Sozialarbeiterin arbeitet, schließe, dass hier zumindest indirekt in Form des weiterbestehenden oder verlängerten Arbeitsvertrags eine positive soziale bzw. institutionelle Bestätigung vorliegt. Bei Frau Weber zeigt sich eine positiv verstärkende soziale und institutionelle Bestätigung darin, dass das Krankenhaus, in dem sie die Ausbildung gemacht hat, sie übernimmt, obwohl nur wenige Arbeitsplätze zu vergeben sind. Im Unterschied zu den adulten Bildungsprozessen von Frau Bach und Herrn Büchner finden sich bei den beiden Frauen, deren Handlungspraxis eher individuell gelagert ist, aber keine Bestätigungen konjunktiver Art, da sie ihre neue, biografisch bedeutsame Orientierung nicht vergemeinschaftet haben und sich in ihren Erzählungen kein konjunktiver Erfahrungsraum dokumentiert. Allerdings wünscht sich Frau Kubitschek eben diese Art von konjunktiver sozialer Bestätigung weiterhin, findet aber keinen sozialen Anschluss, der ihr dies geben könnte. Herr Büchner hingegen findet eine solche positiv verstärkende soziale Bestätigung z. B. im bereits erwähnten Kontakt zu einem Überlebenden des Holocausts, der ihm als Vorbild dient. Und auch Frau Bach kann im Rahmen des Vereins ‚Lesbisches Netzwerk‘ weiterhin konjunktive soziale Bestätigung finden. Bei den Bildungsprozessen im Zuge des Rückzugs aus dem Engagement in einer sozialen Bewegung sind keine Formen negativ verstärkender sozialer Bestätigung zu rekonstruieren, wohingegen eine solche Form der sozialen Bestätigung – durch politische Gegner*innen – in den beiden adulten Bildungsprozessen im Rahmen der Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen eine Rolle spielt. Wie wir aus Herrn Büchners Schilderungen der ‚Antifa‘-Praxis wissen, sind hier Form der Konfrontation mit rechten Gruppen durchaus üblich, sodass auch eine negativ verstärkende soziale Bestätigung, in deren Zuge eine

430

6  Empirische Rekonstruktionen der Phasen adulter Bildungsprozesse …

Ablehnung anderer die neue Orientierung sogar noch verstärkt, angenommen werden kann. Frau Bach findet im Kontext des demokratischen Gremiums, in dem sie mit politischen Kontrahentinnen streitet, eine negativ verstärkende Bestätigung für ihre neue, biografisch relevante Orientierung – und dieser Gegenwind der Opponentinnen schweißt zudem sie und ihre Mitstreiterinnen vom ‚Lesbischen Netzwerk‘ wieder mehr zusammen, was die konjunktive Bestätigung wiederum verstärkt. Es bleibt zu konstatieren, dass die Formen sozialer Bestätigung im kollektiven, politisierten Engagement vielfältiger und zahlreicher sind als in der überwiegend individuell gelagerten Handlungspraxis.46

6.3.4 Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie Die adulten Bildungsprozesse finden ihr vorläufiges Ende in einer Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie. Ausgangspunkt dieser biografischen Reflexionen ist die im Zuge des adulten Bildungsprozesses neu gewonnene Perspektive, in der sich der transformierte Habitus ausdrückt. Herr Büchner reinterpretiert die eigene Biografie vor dem Hintergrund seines transformierten Habitus der radikalen Verteidigung der Menschlichkeit anderer. In diesem Zuge interpretiert er auch die Rollen seiner Eltern in seiner Erziehung neu und macht damit deutlich, dass der Wert der Menschlichkeit, mit dem er seine Mutter verbindet, für ihn nun handlungsleitend ist. Frau Bach interpretiert vor dem Hintergrund ihres transformierten Habitus einer politisierten Positivsetzung der Erfahrungsdimension des Frau- und Lesbisch-Seins die Erfahrungen, die sie im Kontext der Frauen-/Lesbenbewegung gemacht hat, als ‚Heilungsprozess‘. Damit einher geht ein veränderter Blick auf das eigene Geworden-Sein und so kann sie nicht nur die eigene Biografie, sondern auch sich selbst in einem neuen Licht sehen. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in der pflegerischen Tätigkeit, in deren Kontext sie einen ‚helfenden‘, an der konkreten Verbesserung von Missständen

46Etwas

überspitzt formuliert wird an dem Thema der sozialen Bestätigung die Crux von Frau Kubitscheks Bildungsprozess noch einmal besonders deutlich: Einerseits sucht sie weiterhin nach konjunktiver sozialer Bestätigung in einem Kollektiv, die sie u. a. aber genau deshalb nicht findet, weil sie eine negativ verstärkende soziale Bestätigung eines solchen Kollektivs, die sich häufig aus der Gegnerschaft zu anderen gesellschaftlichen Gruppen oder einzelnen Akteur*innen, die dem Kollektiv eben nicht angehören, ergibt, hingegen ablehnt.

Literatur

431

o­rientierten Habitus ausbildete, reflektiert Frau Weber ihre eigenen frühkindlichen Erfahrungen und deren Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Aus der Perspektive des transformierten Habitus erscheint nicht nur ihre eigene Kindheit, sondern auch ihre ehemalige politische Praxis defizitär, worin sich eine neue biografische Sinngebung Frau Webers dokumentiert. Während bei diesen drei Akteur*innen die Reinterpretationen der eigenen Biografie geradezu als mustergültig gelten können, stellen Frau Kubitschek biografische Reflexionen einen Sonderfall dar. Einerseits wird an den zahlreichen Reflexionen, die sich im Interview mit Frau Kubitschek finden, deutlich, dass sie ihren Habitus transformiert hat und sie ihre eigene, ehemalige politische Handlungspraxis vor diesem Hintergrund in kritischer Art und Weise reinterpretiert. Zugleich wird an den teils widersprüchlichen Reflexionen auch deutlich, dass Frau Kubitschek für eine (andere) biografisch bedeutsame Orientierung keine zufriedenstellende Handlungspraxis gefunden hat. Aus diesem Umstand habe ich den Schluss gezogen, dass Frau Kubitschek für ihren transformierten Habitus (noch) keine umfassende Passung zu einer sozialen Praxis gefunden hat und somit – trotz des Vorliegens eines Bildungsprozesses – in gewisser Weise eine weiterhin bestehende Dynamisierung des Habitus angenommen werden kann; was sich letztlich aber nicht überprüfen lässt, da hierzu ein Blick in die Zukunft nötig wäre.

Literatur Haunss, S. (2013). Die Autonomen – eine soziale Bewegung zwischen radikaler Gesellschaftskritik und Subjektivismus. In. R. Schultens & M. Glaser (Hrsg.). ‚Linke‘ Militanz im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen (S. 26–46). Halle: Brandung Leipzig. Mannheim, K. (1980). Strukturen des Denkens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Mannheim, K. (1995). Ideologie und Utopie. Frankfurt/M.: Klostermann. Nohl, A.-M., Rosenberg, F. v., & Thomsen, S. (2015a). Bildung und Lernen im biographischen Kontext. Empirische Typisierungen und pragmatistisch-praxistheoretische Reflexionen. Wiesbaden: Springer VS. Schuhmacher, N. (2013). Sich wehren, etwas machen – Antifa-Gruppen und -Szenen als Einstiegs- und Lernfeld im Prozess der Politisierung. In. R. Schultens & M. Glaser (Hrsg.). ‚Linke’ Militanz im Jugendalter. Befunde zu einem umstrittenen Phänomen (S. 47–70). Halle: Brandung Leipzig.

7

Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen – Erkundungen zwischen Empirie und Theorie

Auch weitestgehend formalen Bildungsansätzen wie demjenigen der transformativen Bildungstheorie wohnt eine – oftmals implizite – Normativität inne, denn auch diese kommen ganz ohne ethisch-normative Festlegungen nicht aus.1 Soziale Protestbewegungen, in deren Kontext sich die im Rahmen der vorliegenden Arbeit rekonstruieren Bildungsprozesse vollziehen, berühren ihrerseits in besonderem Maße Fragen von Normativität, Fragen der (politischen) Ethik. Denn das, was im Kontext sozialer Bewegungen zum Gegenstand von Bildung wird, steht in besonderem Maße mit politischen Fragestellungen, Werten, Normen und Geltungsansprüchen in Verbindung (vgl. Abschn. 3.1). In der rekonstruktiven Sozialforschung hingegen gilt es, sich normativer Beurteilungen des faktischen Gehalts des Erlebens der Akteur*innen und ihrer Orientierungen weitgehend zu enthalten, oder, wie es in der Sprache der Dokumentarischen Methode heißt: den Geltungscharakter einzuklammern (vgl. Bohnsack 2003, S. 64 ff. und Abschn. 4.1.2). So entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Forschungsmethodologie und -methodik auf der einen und erforschtem Feld auf der anderen Seite, das es auszuloten gilt. Letzteres trifft insbesondere zu, wenn man, wie ich es in diesem erkundenden Kapitel zu einem gewissen Grad vorhabe, das für die dokumentarische Forschungspraxis leitende Prinzip der Einklammerung des Geltungscharakters nicht nur auf die Äußerungen der Interviewten, sondern auch auf die Prämissen der eigenen, wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung – hier: den zugrunde gelegten Bildungsbegriff – anwendet.

1Dies

habe ich in Kap. 3 an verschiedenen Ansätzen der transformativen Bildungstheorie sowie an dem Ansatz des ‚Transformative Learning‘ dezidiert herausgearbeitet.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_7

433

434

7  Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen …

Im Zuge der Diskussion von Normativität im erziehungswissenschaftlichen Forschungsprozess (Abschn. 7.1) entwickele ich in diesem Kapitel die Idee eines explorativen Pendelns zwischen dem empirischen Material und verschiedenen theoretischen Perspektiven. Anhand der Falldarstellung zweier Bildungsprozesse (Abschn. 7.2) werde ich Fragen aufwerfen, deren Antworten in der Konfrontation der Empirie mit verschiedenen Interpunktionsweisen von Bildung gesucht werden. Die Prozesse sollen so anhand unterschiedlicher Bildungsdefinitionen kritisiert bzw. anhand der Möglichkeiten und Grenzen, die die jeweiligen theoretischen Vorannahmen der Bildungsansätze bieten, klarer eingeordnet werden. Im Zuge dieses explorativen Vorgehens möchte ich dann auch die verschiedenen Versuche einer ethischen Fundierung von Bildung miteinander in Beziehung setzen sowie die Spezifik von Bildung in sozialen Bewegungen weiter erhellen.2 Erkundend vorzugehen bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass verschiedene Ansätze herangezogen werden, ohne dass deren grundlagentheoretische Hintergründe in der Darstellung Berücksichtigung finden können oder ein Anspruch auf Vollständigkeit im Hinblick auf die behandelten Ansätze erhoben wird. Anhand der in diesem Kapitel aufgeworfenen Fragen möchte ich unter anderem auch Ansätze für ein Weiterdenken (über diese Arbeit hinaus) aufzeigen und die Möglichkeiten und Grenzen der eigenen Arbeit deutlich machen. Dies zu rekapitulieren wird Gegenstand des abschließenden Teils des vorliegenden Kapitels sein (Abschn. 7.3).

7.1 Zur Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen Das Thema ‚Normativität‘ ist im Forschungsprozess der Dokumentarischen Methode und anderer sinnrekonstruktiver Verfahren stets präsent, jedoch geht es hierbei in der Regel um das Aufzeigen des Eigensinns der normativen Ordnungen, die in der Praxis der Akteur*innen eines Feldes zu finden sind bzw. dieser zugrunde liegen, nicht aber darum, zu diesen Ordnungen selbst Stellung zu beziehen. Gerade ein qualitativ-rekonstruktiver Ansatz bietet also Zugang zu den normativ konnotierten Selbst- und Weltverhältnissen von Akteur*innen in sozialen Protestbewegungen (und anderswo). Zur Erfassung dessen, wie die einzelnen oder auch kollektiven Akteur*innen ihre (Protest-)Handlungen mit Sinn füllen,

2Dies

kann im Rahmen dieses Kapitels jedoch nur ansatzweise anhand der zwei genannten Bildungsfälle geschehen.

7.1  Zur Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen

435

wie neuer – praktischer – Sinn im Zuge des Engagements in sozialen Protestbewegungen entsteht und/oder tradierter Sinn transformiert wird, ist eine sich normativ zurückhaltende Forschungsmethodik in gewisser Hinsicht sogar die Bedingung (vgl. Kap. 2). Denn diese tritt vor allem an, den Modus Operandi der Sinnerzeugung zu rekonstruieren und nicht so sehr, den von den Akteur*innen erzeugten Sinn selbst zu bewerten (vgl. Kap. 4). Doch der erzeugte Sinn wird dadurch nicht hinfällig. Eine Typisierung der im Feld vorhandenen Orientierungen – wie sie für die von mir genutzte Dokumentarische Methode wichtig ist – (ent)steht immer auch unter einem thematischen Fokus. Das (erziehungs-)wissenschaftliche Interesse an einem Gegenstandsbereich beinhaltet eben auch ein wissenschaftliches ‚Wollen‘. So wird trotz der forschungsleitenden Prinzipien des „methodisch kontrollierten Fremdverstehens“ (Bohnsack 2003, S. 21) – zu denen nicht zuletzt die bereits erwähnte Einklammerung des Geltungscharakters zählt – nicht behauptet, rekonstruktive Sozialforschung sei rein deskriptiv. Im Gegenteil: Theoretische Konzepte fließen immer in den Forschungsprozess ein und stehen in zahlreichen Arbeiten der rekonstruktiven Sozialforschung in einem produktiven Wechselverhältnis zur Empirie (vgl. Marotzki 1990; Koller 1999; Nohl 2006; Lüders 2007; Rosenberg 2011; Rose 2012; Nohl et al. 2015 u. a. – um hier nur einige Arbeiten aus der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung zu nennen, in deren Kontext sich die vorliegende Arbeit verortet). Es klingt fast so, als würde er vom Ideal einer normfreien Forschung ausgehen, wenn Hans-Rüdiger Müller (2013, S. 43) in seinen Überlegungen „Zur Normativität im erziehungswissenschaftlichen Forschungsprozess“ die Gefahr einer ‚Selbsttäuschung‘ sieht: „wenn wir meinen, uns in normativer Neutralität den Gegenständen des erziehungswissenschaftlichen Interesses zuwenden zu können, während in unserem faktischen Forschungshandeln und unserer Interpretation der Forschungsergebnisse normative Orientierungen unbemerkt ihren Einfluss ausüben.“ (ebd., S. 40)

Größtenteils unbemerkt und unintendiert habe sich, so Müller (2013) weiter, über die Methodik sowie die „gegenstandsbezogenen Hintergrundannahmen“ (ebd., S. 39) „Normativität in die methodischen Zugänge ein[ge]nistet“ (ebd., S. 41). Indem man den Aspekt der „Sinnstruktur“ erfasst, habe der/die Forschende noch lange nicht „die immanente Normativität des Dokuments“ (ebd., S. 47) verstanden, so Müller weiter, denn diese begründe sich nicht zuletzt auch aus denjenigen Bezügen zu pädagogischer Theorie und Praxis, aus der sich die „pädagogische[n] Aufmerksamkeit auf dieses Dokument“ (ebd., S. 47 f.) speise. Dass Müller seine Kritik vorrangig auf die Dokumentarische Methode bezieht,

436

7  Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen …

ist mir insofern unverständlich, als in der dokumentarischen Forschungspraxis die „Standortgebundenheit“ des Wissens (auch der Forschenden) in den methodologischen Überlegungen reflektiert und methodisch, etwa durch die komparative Analyse, aufgefangen wird. Des Weiteren findet, wie bereits erwähnt, die Verbindung von Theorie und Empirie im Rahmen der Dokumentarischen Methode systematische Berücksichtigung – und zwar nicht erst ex post als Anbindung der Forschungsergebnisse an die pädagogische Theorie (deren Art und Weise Müller kritisiert), sondern ebenfalls in Form grundlagentheoretischer und methodologischer Vorabkategorien. Bereits am Anfang der Forschung stehen Theorien, mit denen „der Gegenstand konstruiert wird“, sowie auch „theoretische Prämissen“, die „den Methoden zugrunde liegen, mit denen der theoretisch konstruierte Gegenstand empirisch beobachtet wird“ (Dörner und Schäffer 2012, S. 16). Bohnsack verweist diesbezüglich auf die „Paradigmenabhängigkeit der […] Forschung“ (Bohnsack 2005, S. 71).3 Eine Auswertung des empirischen Materials unter bildungstheoretischen Gesichtspunkten, wie sie in der vorliegenden Arbeit vorgenommen wurde, stellt meines Erachtens also genau die von Müller geforderte „Überschreitung des bloß rekonstruierten Sinns in Richtung des pädagogischen […] Theoriediskurses“ (ebd.) dar. Die Rede von Bildung, gleich welcher Ausgestaltung, trägt eine von den Forschenden gewählte wissenschaftliche Aufmerksamkeit und somit – wenn man so will – normative Maßstäbe an die Empirie heran. Dabei beziehe ich mich hier nicht auf Konzepte normativer Pädagogik, sondern spreche vielmehr die implizite Normativität an, die dem Bildungsbegriff bereits dadurch inhärent ist, dass Bildung ‚sein soll‘ – wie dies nicht nur Hans-Christoph Koller (vgl. 1999, S. 154) konstatiert. Wenn Müller (2013, S. 48) seine Forderung nach einer ‚pädagogischen Überschreitung‘ jedoch dahin gehend konkretisiert, dass es darum gehen müsse, „zwischen dem Diskurs des Textes und dem Diskurs der Interpreten ein Feld von Denkbewegungen zu ermöglichen, das primär weder der Bestätigung bzw. Durchsetzung der Position der Interpreten noch der Position des Textes dient, sondern […] eine Differenzierung und Klärung normativer Fragen erlaubt“,

3Am

Rande bemerkt verkennt Müller mit seinen zahlreichen Bezügen auf Pädagogik zudem, dass Bohnsacks Arbeiten soziologisch verortet sind. Da meine eigene Arbeit jedoch erziehungswissenschaftlich verortet ist und ich mit der Dokumentarischen Methode arbeite, fühle ich mich von Müllers Kritik angesprochen.

7.1  Zur Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen

437

so scheint er auch hier wieder von einem theorielosen Ausgangspunkt der Forschung auszugehen. Ich möchte Müller in diesem Punkt also widersprechen, jedoch halte ich seinen Gedanken des Changierens zwischen verschiedenen normativen Horizonten für vielversprechend und werde diesen, wenn auch in veränderter Form, im Folgenden aufgreifen. Statt zwischen den ‚Positionen‘ der Interpretierenden und des empirischen Dokuments zu wechseln, halte ich eine andere Art von „Denkbewegung“ (ebd.) für sinnvoll: Nicht die normativen Horizonte der Forschenden, die im Rahmen der dokumentarischen Interpretation durch die komparative Analyse verschiedener Fälle ohnehin eine Relativierung erfahren, sollten mit der Empirie konfrontiert werden. Vielmehr scheint mir ein Pendeln zwischen der – komparativ rekonstruierten – Empirie und den verschiedenen Ausgestaltungen der auf die Empirie gerichteten ‚wissenschaftlichen Aufmerksamkeit‘ – also im Falle der vorliegenden Arbeit: der je spezifischen bildungstheoretischen Perspektive – vielversprechend. Die Perspektive auf Bildung fügt den immanenten Normativitäten von Methodologie und erforschtem Gegenstandsbereich eine ganz eigene Normativität hinzu. Jedoch kann sie angesichts der von Lüders (2007, S. 110) konstatierten „unhintergehbare[n] Normativität“ von Bildung und der daraus resultierenden – von von Rosenberg (2011, S. 89) so gefassten – „Nicht-Einholbarkeit“ ihrer „Aufgabenhaftigkeit“ nur in heuristischer Weise bestimmt werden. Daran anschließend – und ganz im Sinne von Marotzki (2006, S. 134), der „die Frage des sinnvollen Aufeinanderbeziehens“ von Theorie und Empirie „am klarsten dadurch bearbeitbar“ sieht, dass „Theoreme in der Forschungspraxis als Heuristiken verstanden werden, um Daten zu interpretieren“ – werde ich im Folgenden die empirischen Analysen von zwei Bildungsprozessen vorstellen und diese sodann – in einer Formulierung von Fuchs, Jehle und Krause (2013, S. 13 f.) gefasst – „einer reflexiven […] Prüfung der Normativität“ unterziehen. Meine eigene Interpretation möchte ich dabei (die Heuristik der Forschung betonend) als kontingent kennzeichnen. Die beiden Bildungsfälle habe ich ausgewählt, weil ich sie als Grenzfälle meines Samples betrachte: Bei ihnen sind zwar Habitustransformationen zu rekonstruieren (wie in Kap. 5 und 6 dargelegt), inwiefern sie die ethisch-normativen Festlegungen anderer Ansätze aus dem Forschungszweig der transformativen Bildungstheorie erfüllen, ist jedoch teilweise fraglich.4 Auf dem Wege einer

4Auch

wenn – aus der Perspektive anderer Ausgestaltungen des transformativen Bildungsbegriffs als jener der Habitustransformation – hier und da die Frage danach aufkommen wird, ob von Bildung die Rede sein sollte oder nicht, werde ich die Prozesse im Folgenden durchgängig als Bildungsprozesse bezeichnen.

438

7  Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen …

erkundenden Konfrontation der beiden empirischen Beispiele mit den genannten ethisch-normativen Annahmen der Bildungstheorie erhoffe ich mir nicht nur, die impliziten „Vorstellungen über Gelingen und Misslingen der erforschten pädagogischen Prozesse“, die – folgt man Fuchs, Jehle und Krause (ebd., S. 10) –, „nur durch den Bezug auf einen externen normativen Horizont Geltung beanspruchen und Anerkennung finden“ können, deutlich(er) hervortreten zu lassen, sondern zudem etwaige Besonderheiten von Bildung im Kontext sozialer Protestbewegungen weiter zu ergründen.

7.2 Zwei empirische Bildungsfälle – verschiedene transformationstheoretische Perspektiven Im Folgenden sollen nun noch einmal die Lebensgeschichten Sandra Bachs und Peter Waldorfers beleuchtet werden, deren Bildungsprozesse ich bereits an anderer Stelle vorgestellt habe. Im Falle Frau Bachs möchte ich nun mit einer etwas anderen Perspektive auf ihren bereits in Abschn. 6.1 vorgestellten Bildungsprozess, den sie im Erwachsenenalter im Kontext des Anschlusses an die Frauen-/ Lesbenbewegung durchlaufen hat, blicken. Im Falle von Herrn Waldorfer, bei dem nach seinem Bildungsprozess im Jugend- und jungen Erwachsenenalter im Kontext seines Anschlusses an die 1968er-Bewegung keine weitere Transformation zu verzeichnen ist, soll hingegen dieser – bereits in Abschn. 5.2 vorgestellte – jugendliche Bildungsprozess noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Beide Bildungsfälle habe ich ausgewählt, weil sie meines Erachtens Fragen aufwerfen, die über das im Fokus der Phasentypiken stehende ‚Wie‘ des Transformationsprozesses5 hinausgehend auch das ‚Was‘ der Orientierungen in den Blick treten lassen.

7.2.1 „Ich bin lesbisch, ich will frauenbezogen leben“ – Sandra Bachs Bildung zum Habitus der politisierten Positivsetzung und Generalisierung einer Erfahrungsdimension Zunächst möchte ich auf die biografische Entwicklung von Frau Bach eingehen, wie sie sich nach ihrem ersten, in der Jugend bzw. dem jungen Erwachsenenalter

5Vgl.

hierzu in theoretischer Hinsicht Kap. 4 und in empirischer Hinsicht Kap. 5 und 6.

7.2  Zwei empirische Bildungsfälle – verschiedene …

439

durchlaufenen Bildungsprozess (vgl. Abschn. 5.3) darstellt. Ich werde im Folgenden nicht, wie in Kap. 5 und 6 bereits geschehen, auf die Phasen dieses Bildungsprozesses eingehen, sondern stärker auf die inhaltliche Qualifizierung ihrer neuen Erfahrungen und der in diesem Zuge neu ausgebildeten Orientierungen bzw. des transformierten Habitus abzielen. War Sandra Bach in ihrer Jugend und im jungen Erwachsenenalter hinsichtlich der Teilnahme an sozialen Bewegungen, die sich mit ihrem im adoleszenten Bildungsprozess ausgebildeten Habitus der politisierten Negation verbinden ließen, thematisch relativ ‚breit aufgestellt‘, so hält sie nach einer längeren Pause ausschließlich Ausschau nach feministischen Anschlüssen. Ich möchte hier noch einmal den Beginn dieses Prozesses rekapitulieren und zu diesem Zwecke eine (bereits in Kap. 6 zitierte) Passage anführen, in der Frau Bach die genannte Entwicklung beschreibt und reflektiert (Z. 122–129): „[W]enn ich mich in Richtung Feminismus oder frauenbezogener Arbeit (.) orientiert hab, (.) und versucht hab solche Themen einzubringen in (.) in die Friedensarbeit, in die Umweltarbeit, die Antifaarbeit, (.) gabs da immer n Punkt da war Schluss. (.) da hats die Jungs nich mehr interessiert. (.) da warn andere Dinge wichtiger, (1) und ähm (1) bei mir hats dafür dazu gefü:hrt, (.) dass sich mein Interesse dann verlagert hat. (.) dass ich irgendwann gesagt habe (.) m- mein Hauptinteresse wird sich (.) in Zukunft ähm auf die frauen- feministische Arbeit konzentriern, und ich lass (.) Frieden und Umwelt (.) und die Nazis, (.) mal den andern. (.) sollen sich darum kümmern. (2)“

Frau Bach wendet sich hier von Themenbereichen ab, für die sie sich zuvor engagiert hatte, ohne sich jedoch inhaltlich von ihnen zu distanzieren. Die ‚Verlagerung‘ wird lediglich mit einer Prioritätensetzung, eines neuen „Interesse[s]“, begründet, wodurch die Themen, die zuvor einen Teil ihrer politischen Praxis im Kontext sozialer Bewegungen bildeten, nicht obsolet werden, wohl aber von nun an getrost „den anderen“ überlassen werden können. Angesichts dieser ‚Verlagerung‘ ist zunächst, oberflächlich betrachtet, keine umfassende Habitustransformation zu vermuten; jedenfalls keine, die vor dem Hintergrund der Negation des Bestehenden stattfindet (wie wir dies nicht nur bei Frau Bachs Bildungsprozess im Jugendalter, sondern bei allen jugendlichen Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen gesehen hatten; vgl. hierzu Kap. 5). Doch markiert, wie in Kap. 6 bereits deutlich wurde, ihre im Zitat angesprochene politische Neuausrichtung durchaus den Anfang eines zweiten Bildungsprozesses, an dessen Ende Frau Bach ihre Selbst- und Weltverhältnisse neu thematisieren und interpretieren wird, was wiederum auf die Transformation ihres Habitus verweist.

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7  Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen …

Der Beginn dieses Prozesses steht im Zusammenhang mit ihrem homosexuellen Coming-out, das der Suche nach feministischen Anschlüssen, in denen sie ihre sexuelle Orientierung kollektivieren kann, vorausgeht. So ‚stößt‘ Frau Bach im Zuge dieser Suche auf das „Lesbische Netzwerk“ und fährt für eine erste, unverbindliche Teilnahme zu dessen Jahresversammlung. Nachdem sie die Frauen und ihre Aktivitäten kennengelernt hat, tritt sie dem Verein unmittelbar bei und übernimmt dort zügig Verantwortung. Hier realisiert sich seitdem ihre „Traumvorstellung von politischer @Arbeit@“ (Z. 205). In Form von regelmäßigen „Thinktank[s]“ (Z. 177) schaffen sich die Frauen einen Rahmen, der politische Auseinandersetzungen in vertraulicher Atmosphäre ermöglicht. Ihre Form der Politik besteht aber nicht nur aus einem solchen, kollektiven Selbstbezug. Sie organisieren zudem Protestveranstaltungen, mit denen sie sich an die Öffentlichkeit richten, und bringen sich in demokratische Gremien wie den „Landesfrauenrat“ (Z. 339) ein, in dem Frauen aus den „ganzen politischen Parteien […] Kirchen, von den katholischen evangelischen bis zu den Methodistinnen Baptistinnen […] Hausfrauenbund […] Landfrauen“ usw. „sitzen“ (Z. 343 ff.). Dort hat es Frau Bach mit Frauen zu tun, die sie in ihren ‚Antifa‘-Zeiten als politische ‚Gegnerinnen‘ begriffen hätte und mit denen eine Zusammenarbeit nicht infrage gekommen wäre. Zwar hat sie auch hier Freude daran, den „relativ konservative[n] Verein“ (Z. 342 f.) ‚aufzumischen‘, wie sie es selbst formuliert, dennoch begibt sie sich in die Auseinandersetzung mit diesen Frauen, die politisch (und vermutlich auch habituell) Ähnlichkeiten zu ihrem bislang strikt abgelehnten „konservativ[en]“ (Z. 34) Herkunftsmilieu aufweisen. Diese Öffnung für breitere Ausschnitte von Welt, wie ich dies hier fassen möchte, stellt zugleich eine neue Qualität in Frau Bachs Biografie dar – und ist einer von mehreren Aspekten, anhand derer ich in Kap. 6 die Transformation ihres Habitus nachgezeichnet habe. Während sie in der Kindheit und Jugend gelernt hatte, diejenigen Aspekte ihres Selbst, die von der antizipierten Norm abwichen, zurückzustellen bzw. diese gar nicht erst weiter auszubilden, so dokumentiert sich bei ihr nun ein Modus Operandi des Sichtbarwerdens mit ihrer ‚Andersartigkeit‘ – und dies nicht nur im konjunktiven Erfahrungsraum des eigenen Bewegungsmilieus. Die provokative Partizipation im an sich pluralistischen, aber ihrer Einschätzung nach doch stark konservativ geprägten Landesfrauenrat – in dem es aufgrund der klaren Minderheitsposition von Frau Bach und ihren Mitstreiterinnen ohnehin nicht um eine Durchsetzung eigener politischer Geltungsansprüche gehen kann –, steht vor allem im Zeichen eines Sichtbarwerdens der eigenen Inhalte sowie ihrer Existenz als lesbische Frauen mit ihrer spezifischen ‚Lebensweise‘. Interpretiert man dies vor dem Hintergrund von Frau Bachs in Kap. 5 dargelegter biografischer

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Erfahrung aus der Kindheit, von ‚Autoritäten‘ (insbesondere dem Vater) mit den eigenen Bedürfnissen nicht wahrgenommen worden zu sein, so kann man hinter der politischen Sichtbarwerdung die persönliche Dimension – von der Frau Bach generell nur spärlich etwas preisgibt – zumindest erahnen. Das Verständnis ihrer eigenen Biografie in einem größeren, politisch-historischen Zusammenhang ermöglicht es ihr also, nicht nur ihr Selbst- und Weltverhältnis – das ich hier verstehe als eine auf den Habitus bezogene, ihn aber reflektierende und explizierende persönliche Identität –, sondern ihren Modus Operandi des Seins in der Welt zu transformieren – womit ich auf den Habitus referiere. Die Partizipation in diesem Gremium ist Frau Bach, so möchte ich argumentieren, nur vor dem identitätsversichernden Hintergrund der kollektiven Politisierung der Erfahrungsdimensionen des Frauseins und des Lesbisch-Seins möglich.6 Die in der feministischen Bewegung gewonnene Erkenntnis, nicht „die einzige“ (interpretierend ergänzt werden kann hier: lesbische Frau) „auf der Welt; [zu sein; S.T.] der das so geht“ (Z. 424), hat für Frau Bach eine durchschlagende Bedeutung. Sie schreibt ihrem Anschluss an die feministische Bewegung sogar die Bedeutung eines „Heilungsprozesses“ (Z. 423) zu – womit sie die Verarbeitung der traumatischen Erfahrung des Suizids ihrer besten Freundin, in die sie in ihrer Jugend verliebt war, anspricht.7 Die Wortwahl der ‚Heilung‘ verweist auf tief greifende Dimensionen der Biografie, die nicht lediglich (relativ oberflächliche) Meinungsänderungen, sondern die grundlegende Dimension des Habitus betreffen.8 Frau Bach findet im ‚Lesbischen Netzwerk‘ jedoch nicht nur Möglichkeiten der Integration dieser traumatischen Erfahrung in die eigene

6Zwar

ist das Frausein ohne ein Lesbischsein möglich, aber nicht umgekehrt, sodass ich im Folgenden die beiden Erfahrungsdimensionen im Falle Frau Bachs als eine Erfahrungsdimension fasse. 7Zu diesem biografischen Erfahrungshintergrund Frau Bachs, der aus ihrer Jugend herrührt, siehe ausführlich den Exkurs in Abschn. 6.1. 8Ein Problem der Interpretation des Interviews mit Frau Bach besteht, wie bereits angedeutet, darin, dass vorreflexive, auf Routinen verweisende Aspekte ihrer Praxis sich – eventuell aufgrund von Frau Bachs reflexionsreicher Fokussierung der politischen Dimension ihrer Biografie – im Material nur randständig dokumentieren. (Zum Zusammenhang zwischen den verschiedenen Textsorten und der Rekonstruktion von Erfahrungen bei der dokumentarischen Interpretation von narrativen Interviews siehe Abschn. 4.2.1.2 und 4.2.2.2) Doch auch wenn Frau Bach größtenteils ihre politische Biografie berichtet und andere Erfahrungsdimensionen weitgehend außen vor lässt, so wird in der Rede vom ‚Heilungsprozess‘ doch deutlich, dass hier verschiedene Dimensionen ihres Habitus und nicht nur ihr denkendes Selbst tangiert sind.

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Lebensgeschichte, sondern auch der Überwindung des damit verbundenen, potenziellen Stigmas, wie ich im Folgenden ausführen möchte. Im Bewegungskontext bildet Frau Bach nicht nur das neue, Halt gebende Selbst- und Weltverhältnis aus, sondern erhält auch konjunktive, d. h. auf gemeinsamen Orientierungen und einem konjunktiven Erfahrungsraum beruhende soziale Bestätigung – für sich als Person sowie für ihr politisches Engagement. Sie findet im Verein einen Beruf als Hauptamtliche und eine feste Beziehung und tut sich im Kontext der Bewegung gemeinsam mit ihrer Lebenspartnerin als Regisseurin eines Theaterstücks hervor, das ihr zu einer gewissen Prominenz im lokalen Bewegungsmilieu verhilft. Und sogar eine ärztliche Betreuung im Umgang mit einem chronischen Rückenleiden ergibt sich durch die sozialen Netzwerke, in die sie im Kontext der Frauen-/Lesbenbewegung eingebunden ist. Der Verein und der breitere Bewegungskontext (über-)formen nun also geradezu alle Bereiche des Lebens von Frau Bach. Die hier erfahrende soziale Einbindung und die ihr im Rahmen der politischen Bewegung zuteilwerdende konjunktive soziale Bestätigung als Frau, die ihr Frau- und Lesbischsein in positiver Hinsicht betont und politisiert, bringen für sie eine deutliche soziale Stabilisierung ihres Selbst in der Welt mit sich. Man kann m. E. so weit gehen, zu konstatieren, dass Frau Bach durch die im Kontext der feministischen Bewegung gemachte neue Erfahrung der Kollektivierung und Politisierung ihrer sexuellen Orientierung einer Stigmatisierung der eigenen Person entkommt; im Unterschied zu vorher geschieht dies nun aber nicht mehr, indem sie diese gewichtige Dimension ihrer Selbst abspaltet, sondern, indem sie letztere positiv besetzt, kollektiviert und politisiert. Das ehemals Abgespaltene und Ausgegrenzte ihrer Biografie wird hier also zur Ressource von Bildung.9 Zu diesem Resultat des Bildungsprozesses, das ich – mit der Perspektive auf Frau Bachs Habitus und wie bereits in Kap. 6 herausgearbeitet – als transformierten Habitus einer politisierten Positivsetzung der Erfahrungsdimension des Frau- und Lesbisch-Seins bezeichne, möchte ich abschließend eine Frage aufwerfen und mit dieser zugleich die Erkundung der Normativität von Bildung anhand der empirischen Bildungsfälle einläuten: Während ich Frau Bachs

9Zur

systematischen Ausarbeitung der Rolle von Ressourcen für den Bildungsprozess siehe Nohl (2011) sowie Nohl et al. (2015, S. 29 ff.). Zur Bedeutung spezieller biografischer Erfahrungen, an die in den späteren Bildungsprozessen angeknüpft wird, siehe in der vorliegenden Arbeit das Kapitel zu den biografischen Hintergründen der Bildungsprozesse in der Jugend (Abschn. 5.2) und, in Bezug auf die Bildungsprozesse im Erwachsenenalter, die jeweiligen Exkurse zu den für diese Bildungsprozesse relevanten biografischen Erfahrungshintergründen (in Abschn. 6.1 und 6.2).

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Engagement im pluralistisch verfassten Landesfrauenrat in meinen obigen Ausführungen als eine Öffnung für einen breiteren Ausschnitt von Welt interpretiert habe – was ich durchaus für zutreffend halte –, kann man denselben Aspekt aber auch aus einer anderen Perspektive betrachten. So scheint es, als könne Frau Bach sich für dieses plural verfasste Gremium vor allem deshalb öffnen, weil sie hier das Frausein als übergreifendes und einendes Merkmal aller Beteiligten – ungeachtet der anderen Unterschiedlichkeiten – betrachtet. Sie streicht die Gemeinsamkeit des Frauseins der ansonsten weltanschaulich stark widerstreitenden Parteien heraus und erreicht so eine Angleichung der sonst so unterschiedlichen Delegierten. Frau Bach geht dabei sogar so weit, den „Landesfrauenrat“ als „einzige[n] Ort an dem Frauen Politik machen können und wos auch (.) wenigstens zum Teil gehört wird“ (Z. 341 f.) zu bezeichnen. Es dokumentiert sich hier, dass sie ihre Politisierung des Frauseins anderen politischen Unterschieden vorlagert. Zudem setzt sie das Frausein prinzipiell mit dem Zustand des Nicht-„gehört“-Werdens respektive der Benachteiligung gleich. Die politisierte Orientierung scheint, angesichts einer sich hier dokumentierenden Generalisierung und (generellen) Positivsetzung des Frauseins, also Züge eines vereinheitlichenden Prinzips anzunehmen. Gemeint ist hiermit nicht die Feststellung, dass Frau Bach Diskriminierung von Frauen anprangert, sondern dass hier eine pauschale Gleichsetzung der Lebenssituation aller Frauen im Sinne eines von Mannheim (1995, S. 54) so bezeichneten „Kollektivsubjekt[s]“ anklingt, wenn Frau Bach die Aussage trifft, Frauen würden außerhalb einer Gemeinschaft, die nur aus Frauen besteht, nirgends gehört. In dieser Perspektive werden eventuelle andersartige Erfahrungen (auch anderer Frauen), die in diversen Gremien tagtäglich Politik machen, ausgeblendet, was Frau Bachs neuer Orientierung – nun wieder im Mannheimschen Sinne – durchaus Ansätze einer ‚totalen Ideologie‘ (vgl. Mannheim 1995, S. 70 ff. und Abschn. 4.1.2.4) verleiht. Es stellt sich mir also abschließend die Frage, ob Frau Bachs Kollektivierung und Politisierung der Erfahrungsdimension der weiblichen Homosexualität dahin gehend, dass sie andere Erfahrungsdimensionen dem Frausein in einer generalisierenden Art und Weise unterordnet, mit einer vereinheitlichenden Perspektive auf Selbst und Welt einhergeht und inwiefern dies mit den ethischen Grundannahmen verschiedener transformativer Bildungsansätze – die, wie ich in Kap. 3 herausgearbeitet habe, alle in der einen oder anderen Weise auf eine Steigerung abzielen – in Einklang zu bringen wäre. Bevor diese und andere Fragen anhand der erkundenden Konfrontation mit verschiedenen Lesarten der transformativen Bildungstheorie und des Transformative Learning ausgelotet werden, möchte ich jedoch zunächst einen zweiten Bildungsprozess vorstellen, bei dem sich – unter anderen Vorzeichen – ähnliche Fragen ergeben.

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7.2.2 „Ich möcht morgens nich vorm Spiegel stehn und wer bin ich heute“ – Peter Waldorfers Bildung zum Habitus der Generalisierung von politisierter Authentizität und Machtkritik Den jugendlichen Bildungsprozess von Herrn Waldorfer, der hinsichtlich seines phasenhaften Verlaufs in Abschn. 5.3 bereits dargestellt wurde, möchte ich an dieser Stelle ein zweites Mal in den Blick nehmen. Während im Kap. 5, dem zentralen Anliegen der vorliegenden Arbeit entsprechend, der Fokus darauf lag, aufzuzeigen, dass sich sein Habitus transformiert hat –, soll es im Folgenden stärker um dessen inhaltliche Qualität – die ausgeprägte Politisierung der eigenen Biografie, die auch bei ihm durchaus Züge eines soeben in Bezug auf Frau Bachs transformierten Habitus angesprochenen ‚totalen Ideologiebegriffs‘ (vgl. Mannheim 1995) annimmt – und um die Frage nach den diesbezüglichen bildungstheoretischen Implikationen gehen. Der jugendliche Peter Waldorfer wird von seinem Vater, den er als „autoritär“ (etwa in Z. 64) betitelt, von der Schule genommen und zu einer Lehre als Automechaniker gedrängt. Im Anschluss an diese folgt seine Verpflichtung bei der Bundeswehr, hinter der er ebenso wenig steht. Am Ort der Stationierung legt Peter Waldorfer, nun knapp 20 Jahre alt, eine unbestimmte Offenheit für das Studierendenmilieu der späten 60er-Jahre an den Tag, zu dem er über gemeinsames Musizieren Zugang bekommt. In diesem für ihn anregenden neuen Milieu fühlt er sich authentisch und entwickelt im Zuge des Kontakts zu den Studierenden neue biografische Perspektiven. So beschließt er, einen höheren Bildungsabschluss anzustreben, wenngleich dies den Erwartungen seines Elternhauses zuwiderläuft. Er holt in der Folge erst die „Mittlere Reife nach“ (Z. 109), um anschließend auch noch das „Abendgymnasium“ (Z. 114) zu besuchen. Mit einigen der Mitschüler*innen aus dem Abendgymnasium geht er „im Mai 1968“ (Z. 135) aus Protest gegen die „Notstandsgesetze“ (Z. 126) zu seiner ersten Demonstration und setzt sich im Anschluss intensiv mit dem Gesetzesvorhaben und seinen Folgen auseinander. Der junge Peter Waldorfer begreift sich fortan als Teil dieser Bewegung, in der Antibürgerlichkeit und Antiautoritarismus zentrale Werte darstellen. Aus einer politisierten Perspektive heraus fühlt er sich hier in seiner Abkehr von den familiär tradierten, ‚autoritären‘ Strukturen bestärkt. Die im Kontext der Bewegung in Gang gesetzte Beschäftigung mit „Politik […] und Geschichte“ (Z. 121) erklärt er fortan nicht nur zu seinem zentralen, schulischen Interesse, sondern findet zudem im Kontext der sozialen Bewegung eine gesellschaftspolitische Praxis, die mit dem schulischen Wissenserwerb Hand in

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Hand geht: „[M]an war nicht nur […] im Geschichtsunterricht, sondern man […] erlebte die Geschichte mit, und man machte sogar selber mit“ (Z. 151). Herr Waldorfer erfährt sich im Kontext der Bewegung als politisch handlungsfähig und eine Orientierung an gesteigertem Wissenserwerb, die sich im studentisch-musischen Milieu zu entwickeln begann und die ihn ans Gymnasium brachte, bekommt auf diesem Wege eine persönliche Bedeutsamkeit, die über die Entwicklung individueller berufsbiografischer Perspektiven hinausgeht: Er begreift sie nun zudem als Teil seines politischen Hineinwirkens in die Gesellschaft. Die neue Orientierung an Wissenserwerb verbindet sich im Zuge der Proteste also mit einer politisierten Praxis, die wiederum ganz im Zeichen der für Peter Waldorfer biografisch relevanten Thematik einer (nun politisierten) Ablehnung von ‚Autoritäten‘ bzw. machtvoller Hierarchien steht. So entwickelt er vom Elternhaus differente Orientierungen, die seinen Habitus dahin gehend transformieren, dass er sich vom Tradierten in doppelter Hinsicht abwendet: Nicht nur lehnt er die vorgegebenen (berufsbiografischen) Lebenslaufbahnen ab, sondern auch die in seiner Herkunftsfamilie tradierten Formen zwischenmenschlicher Beziehungen. Beides interpretiert er im Verlauf des adoleszenten Bildungsprozesses für sich in politisierter Hinsicht neu. Er bildet in diesem Zuge eine regelrecht ‚durchpolitisierte‘ Perspektive auf seine eigene Biografie aus. Diese neue, politisierte Orientierung und respektive den sich hieraus allmählich entwickelnden transformierten Habitus möchte ich im Folgenden, einschließlich der relevanten biografischen Hintergründe, noch etwas genauer beleuchten und in diesem Zuge zudem bildungstheoretische Fragen, die dieser Bildungsprozess aus der Perspektive auf ethisch-normative Grundannahmen aufwirft, anhand der Empirie herausarbeiten. Bereits am Anfang des narrativen Interviews mit Herrn Waldorfer finden sich Reflexionen in Bezug auf seine frühe Kindheit, in denen sich die soeben erwähnte Politisierung der eigenen Biografie dokumentiert; so z. B. in der Passage zur Rückkehr seines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft. Diese erinnert er als den Beginn eines kollektiven „Drama[s]“, wie es sich in vielen Nachkriegsfamilien abgespielt habe (Z. 14–31): „der Vater war äh noch im Krieg und in ner belgischen Gefangenschaft, und kam dann eines Tages zurück, (.) schon 1945 noch, (.) und (1) äh ja dann ging das Drama los. was was diese Kriegsjahrgänge (dort) haben und zwar die Mütter die meistens (.) ich sag das deshalb weil die Kinder das wahrsch- inti- intuitiv wahrscheinlich mitkriegen dann ja? und äh wahrscheinlich auch nicht unbedeutend ist für ihre spätere Lebensgeschichte irgendwie was sie da mitkriegen. dass nämlich (.) die Väter damals nach Hause gekommen sind, und (.) nicht glauben wollten wie diese (.) äh Mütter diese jungen Frauen die sie da geheiratet hatten, ähh den ganzen Laden

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geschmissen haben. mit den Kindern und mit den und so weiter ne? das heißt also sie mussten erst einmal gucken dass=se äh ihre Rolle wieder kriegen ne? ihre (.) die Macht quasi übernehmen nachdem die erste Machterweiterung Machtergreifung da schiefgegangen war, (.) politisch ne? wollten sie wenigstens zu Hause dann die Macht haben. und das war unheimlich schwierig und dadurch gabs in ganz vielen Familien damals, äh einfach Krach und Krieg ne? (.) und (.) naja das äh (.) war dann in den Nachbarschaften war das dann hat man das auch miterlebt, es war ständig Geschrei und so weiter und dann ähm (.) warn da diese=äh Besatzungsmächte die Franzosen, (.) die ham dann äh den Deutschen gesagt wos lang geht, ne? auch da war dann wieder Krieg und Krach und so weiter;“

Inwiefern „der Vater“10 im Zuge seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft konkret Unfrieden in die Familie brachte, kann anhand dieser Passage nicht erschlossen bzw. über Herrn Waldorfers abstrahierende, von Theoretisierungen durchzogene Beschreibung zum Zustand der ‚Nachkriegsfamilien im Allgemeinen‘ nur erahnt werden. Er beschreibt letzteren unter dem Aspekt einer durch die Abwesenheit der Väter entstandenen Rollenproblematik und hebt das (zeitgeschichtlich-generationell) Typische der eigenen Erfahrungen hervor, die er mit anderen Nachkriegskindern teile. Seine Kindheitserlebnisse (und der Modus Operandi ihrer Erinnerung) dokumentieren sich so als in einen kollektiven, zeitgenössischen Kontext eingebettet. Mit der Theorie, solche elterlichen Machtkämpfe hätten Auswirkungen auf die Kinder, die dies „intuitiv […] mitkriegen“, verweist Herr Waldorfer zudem darauf, dass er den genannten Erlebnissen Konsequenzen für das weitere Leben dieser Kinder respektive sich selbst beimisst. Es zeigt sich hier eine retrospektive Reflexion der eigenen Biografie und Familiengeschichte, die, am Rande bemerkt, hinsichtlich der Thematisierung der innerdeutschen Fluchtgeschichte seiner Familie in den ersten Sätzen des Interviews (direkt vor dem oben zitierten Abschnitt) sogar über den Zeitpunkt seiner eigenen Geburt hinausgeht. Die eigene familiäre Erfahrung von Gewalt11 bettet Herr Waldorfer nicht nur kollektiv ein, sondern abstrahiert sie zudem auch

10Die

sich in der Formulierung „der Vater“ andeutende Distanz im Verhältnis zu diesem bestätigt sich an zahlreichen weiteren Stellen des Interviews. 11Auch wenn er in der hier zitierten Passage nur in abstrahierter Form Gewalterfahrungen in der eigenen Familie andeutet, dokumentiert sich an zwei späteren Stellen des Interviews, dass er diese durchaus selbst erfahren hat. So erzählt er, dass die häusliche Gewalt des Vaters vor allem gegen die Mutter und die Schwester gerichtet gewesen sei (vgl. 620 ff.) und erwähnt ganz zum Ende des Interviews (eher nebenbei) auch eigene Gewalterfahrungen: „bei so ner Kindheit ne? wo man immer nur geprügelt wurde und immer nur des eigene (.) kleinen Kindern muss der Willen gebrochen werden, des war ein Standardsatz ne?“ (Z. 904 ff.).

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dahin gehend, dass er eine Parallele zwischen den Familiengeschichten (im Kleinen) und der politischen „Machtergreifung“ (im Großen) zieht: Nachdem letztere gescheitert sei, habe zumindest die Macht in der Familie, die in Abwesenheit der Männer auf die Frauen übergegangen sei, zurückgefordert werden müssen. Das als konfliktreich empfundene soziale Umfeld stellt Herr Waldorfer also konsequent in den Kontext der ebenso konfliktreichen Makrobedingungen der damaligen politischen Verhältnisse: „Krieg und Krach“ seien überall gewesen. Es dokumentiert sich hier nicht nur, dass Herr Waldorfer die eigenen Kindheitserlebnisse als kollektiv und zeitgeschichtlich einbettet erfahren hat, sondern auch deren retrospektive Politisierung. Neben der Politisierung der eigenen biografischen Erfahrungen zeigt sich in der oben zitierten Passage auch eine Kindheitserfahrung (derer es im Interview zahlreiche homologe gibt), die ich als biografischen Hintergrund der sich im Laufe des Bildungsprozesses entwickelnden politisierten Orientierung an ‚Authentizität‘ und der damit einhergehenden Ablehnung von ‚Autoritäten‘ bzw. deren Gleichsetzung mit illegitimer Macht(-ausübung) interpretiere. Die Rückeroberung der „Macht“ durch die Väter begreift Herr Waldorfer – insbesondere hinsichtlich ihrer Gewalttätigkeit – als illegitime Einmischung in familiäre Strukturen, die zuvor ohne die Väter funktioniert haben. Die Thematik der als illegitim begriffenen Macht- und Zwangsausübung findet sich auch in seinen schulischen Erfahrungen und dem sich daraus entwickelten Verhältnis zum schulischen Wissenserwerb wieder: In der Volksschule erlebt Peter Waldorfer gewaltvolle Disziplinierungsmaßnahmen, welche – seiner Erfahrung (und daraus abgeleiteten Theorie) zufolge – damals selbstverständlich zur Schule gehörten, sowie zur damaligen „Welt“ (Z. 56) im Allgemeinen, die „im Grunde genommen [noch] voller Gewalt“ (Z. 57) gewesen sei. Auch im Elternhaus sei das Lernen unter „Druck“ (Z. 72) forciert worden. Herr Waldorfer stellt hier eine Theorie zum Zusammenhang von einer „autoritären Beziehung“ (Z. 62) und schulischem Misserfolg auf. Demzufolge brächte ein autoritärer Erziehungsstil fremdbestimmtes Lernen hervor, welches wiederum zum Scheitern in der Schule führe. Mit der Schilderung seines schulischen Wissenserwerbs als durch den väterlichen Druck gerahmt erklärt Herr Waldorfer sein Scheitern am Gymnasium.12 In den Fokus der Betrachtung möchte ich jedoch weniger Herrn Waldorfers eigene Theorie rücken (oder diese gar bewerten) als vielmehr auf den Modus Operandi seiner Narration schauen, der eine abermalige Verknüpfung von

12Und

sein späterer Erfolg am Abendgymnasium, nachdem er sich vom Druck des Vaters freigemacht hat, gibt ihm hier durchaus Recht.

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p­ olitischen Makrostrukturen auf der einen und familiären Mikrostrukturen auf der anderen Seite aufzeigt. Diese beiden Pole werden vermittels der politischen Orientierungen seines zu NS-Zeiten der „SA“ (Z. 65) zugehörigen Vaters und dessen Ansicht, dass „einer führen muss. (.) sowohl im Staat wie in der Familie“ (Z. 65 f.), zusammengebracht. Als kleinste Einheit des Staates sei die Familie vom Familienoberhaupt ‚geführt‘ und Peter Waldorfer „fremdbestimmt“ (Z. 67) worden. Als impliziter Gegenhorizont schwingt hier die Idee mit, der Vater hätte seine leitende Stellung in der Familie stattdessen nutzen sollen, um dem Sohn einen eigenständigen respektive an dessen eigenen Interessen und Bedürfnissen ausgerichteten Zugang zum Lernen nahezubringen. So kann die ‚Autorität‘, wie Peter Waldorfer sie versteht – und anprangert –, konkretisiert werden als eine einseitige Machtausübung, die nicht hinsichtlich der spezifischen Bedürfnisse und zugunsten des oder der Unterlegenen bzw. Schutzbefohlenen ausgelegt wird. Die fürsorgliche Seite, die ‚Autorität‘ durchaus auch haben kann, taucht hier also lediglich als nicht ausformulierter, impliziter Gegenhorizont auf (und würde von Herrn Waldorfer begrifflich vermutlich auch nicht als ‚Autorität‘ gefasst werden, da er diese – so dokumentiert sich an zahlreichen Passagen – in generalisierter Form ablehnt und mit Unrecht und Unterdrückung gleichsetzt). Wie weit Peter Waldorfers Ablehnung von ‚Autoritäten‘ in der Folge geht, zeigt sich u. a. daran, dass er Autoritätspersonen (oder solche, die es ihrer Position nach sein könnten) sogar dann ablehnt, wenn diese ihn unterstützen wollen. Die Sympathiebekundung seines Geschichtslehrers, der ihm mitteilte, dass ihm Peter Waldorfers Engagement in der Protestbewegung „sehr imponieren“ (Z. 159) würde, weist er z. B. als „Doppelmoral“ (Z. 161) zurück, weil sich der Lehrer nur unter vier Augen geäußert habe und kein persönliches Risiko eingegangen sei.13 Dieses Verhalten lässt den Lehrer nicht glaubhaft – weil nicht authentisch – erscheinen. Peter Waldorfer lehnt ihn in der Folge fast ebenso ab wie diejenigen, gegen die sich der Protest der sozialen Bewegung richtet. Er geht sogar so weit, diese Unterhaltung als „Ureindruck“ (Z. 163) zu bezeichnen, aus dem er den Schluss zog: „[S]o einer will ich nicht werden“ (Z. 166). Das Thema ‚Authentizität‘, das Herr Waldorfer bereits in Bezug auf das Milieu der musizierenden Student*innen (das ihm ermöglichte, ‚er selbst‘ zu sein) thematisierte, taucht hier also in anderer Form wieder auf. Während es sich in seiner Kindheit und Jugend

13So

reflektiert er in dieser Passage auch, warum der Lehrer nicht öffentlich mit der Protestbewegung sympathisierte. Dass er dies nicht tat, stellt Herrn Waldorfer zufolge eine Form von „Existenzsicherung“ dar, in einer Position, „wo man’s gar nichts nötig hat. (.) er als Beamter und so weiter ne?“ (Z. 161 ff.).

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dahin gehend präsentierte, dass er (seine eigene) ‚Authentizität‘ als unvereinbar mit dem, was sein Vater von ihm wollte, erfuhr – denn unter der Autorität seines Vaters ging es nicht um Peter Waldorfers Wünsche, sondern um diejenigen des Vaters –, so hat er die Protestbewegung nun für sich als Ort entdeckt, an dem die Ablehnung hierarchischer Strukturen, in denen Menschen Autorität über andere Menschen erlangen, eine politische Perspektive erhält und er zudem sich selbst mit seinen biografischen Themen verwirklicht sieht. Die politisierte Ablehnung von ‚Autoritäten‘ geht also einher mit der Vorstellung einer Verwirklichung der eigenen ‚Authentizität‘. Für den Protest Anerkennung von einer Autoritätsperson zu bekommen (die ihrerseits nicht als ‚authentisch‘ erfahren wird), lässt vor dem Hintergrund dieser neuen biografischen Orientierung entweder den Protest oder aber – wie Herr Waldorfer es letztlich rahmt – die Autoritätsperson falsch erscheinen. Peter Waldorfer lehnt nicht nur das als unaufrichtig empfundene Verhalten des Lehrers ab, sondern wird sich auch später, dann selbst Lehrer an einem Kolleg für Erwachsene, strikt gegen die eigene Verbeamtung verwehren. Weder möchte er zu einer „Beamtenschaft“ (Z. 414) gehören, die „ohne dass sie‘s nötig hat, vorauseilenden Gehorsam äh an den Tag legt“ (Z. 415), noch das „autoritäre Gehabe“ (Z. 414) seiner Kolleg*innen teilen. So mündet die Orientierung an selbstbestimmter ‚Authentizität‘, die mit einer Ablehnung von ‚Autoritäten‘ einhergeht, auch in ein entsprechendes berufliches Selbstverständnis, in dem er weder ‚Autoritäten‘ unterstellt sein, noch sich selbst als eine solche verstehen will. Seine Ablehnung der Verbeamtung begründet er – ein Gespräch wiedergebend – damit (Z. 441–446), „dass ich nicht der geeignete Mensch bin für so etwas, und meine Unabhängigkeit haben will. ja aber sie verliern doch so viel Geld monatlich, 800 Mark, und dann sag ich (.) das (.) leist ich mir noch. ich möcht morgens nich vorm Spiegel stehn und wer bin ich heute. bin ich der (.) mäßigende Beamte, sich mäßigende, oder bin ich der der ich sein will. (.) nun gut. auf die Art hatt ich dann (.) relativ freie Bahn eben, mit den Schülern an dem Kolleg, mit den (Kollegiaten) dort, das zu machen was ich wollte,“

Herr Waldorfer geht hier sogar so weit, die Verbeamtung mit einem Verlust der eigenen (politischen) Identität gleichzusetzen. Seine kategorische Gegnerschaft zu ‚Autoritäten‘ sieht er an der Schule nur dann verwirklicht, wenn er es vermeidet, die Rolle eines Beamten – respektive eines in staatlichem Auftrag Tätigen – anzunehmen. Nur so hält er es für möglich, die Inhalte zu unterrichten, die er selbst für richtig erachtet.

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In der oben geschilderten Art und Weise der Auslegung seines Berufs als explizit nicht verbeamteter Lehrer für Erwachsene gehen die Themen seines Lebens gut auf. Die Politisierung von ‚Authentizität‘, die Ablehnung von Hierarchien und die damit einhergehende Orientierung an ‚selbstbestimmter‘, machtkritischer Wissensaneignung – alles Themen, die auf seinen eigenen biografischen Erfahrungen aufbauen, so dürfte deutlich geworden sein – ermöglichen es ihm, sich in stringenter Art und Weise als ‚authentisch‘ und wirkmächtig in der Welt zu erfahren. Der vormals (potenziell) prekäre – im Sinne von erschütternde – Charakter seiner biografischen Erfahrungen wird so, ganz ähnlich wie dies auch für Frau Bach konstatiert werden konnte, im Zuge des Bildungsprozesses zur richtungsweisenden und sogar stabilisierenden biografischen Ressource.14 Der hier skizzierte Habitus der Generalisierung von politisierter ‚Authentizität‘ und Machtkritik, der sich im Zuge des adoleszenten Bildungsprozesses herausgebildet hat, bleibt in seinen Grundzügen bis zum Zeitpunkt des Interviews bestehen. Er ermöglicht Herrn Waldorfer eine Steigerung seiner Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit in der Welt und bringt auf diese Wese biografische Stabilität. Jedoch birgt er auch Grenzen (der Selbst- und Weltinterpretation), die ich im Folgenden näher beleuchten möchte. In der ablehnenden Haltung gegenüber ‚Autorität(en)‘ klammert Herr Waldorfer nicht nur, wie bereits herausgearbeitet, deren fürsorgliche Seite aus, sondern übersieht zudem, dass ihm in seiner Rolle als Lehrer auch selbst eine geistig-moralische ‚Autorität‘ zu eigen ist bzw. war, mit der er seinerseits seinen Schüler*innen die eigenen Werte nahelegt(e). „Rückmeldung[en]“ (Z. 449), die er über soziale Netzwerke bis heute von ehemaligen Schüler*innen erhält, empfindet Herr Waldorfer als Bestätigung seines Kurses, sich nicht verbeamten – d. h. in seiner Interpretation: sich nicht vereinnahmen – lassen zu haben. An diesem Feedback würde deutlich (Z. 450–452), „dass das [respektive seine Art des Unterrichts; S.T.] manche doch äh veranlasst hat eben nich BWL zu studiern sondern in irgendne andere Richtung zu gehn. die gesellschaftlich (.) vielleicht n bisschen (.) äh wichtiger ist“.

14Herr

Waldorfer selbst fasst diesen Zusammenhang zwischen der politischen Ausrichtung und den biografischen Erfahrungen an anderer Stelle folgendermaßen: Er kritisiert ein „aufgeklatschte[s], (.) aufgesetzte[s], politisches Engagement“ und setzt diesem stattdessen die Vorstellung eines Engagements entgegen, das „fest gebunden is an der eigenen ähm äh (.) Prägung“ (Z. 648 ff.).

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Herr Waldorfer setzt hier die Standards – ethische Normen –, wie ‚das richtige Leben‘ seines Erachtens zu gestalten sei. Zwar drängt er dies, anders als sein Vater, seinen Schüler*innen nicht auf, stellt aber auch nicht infrage, ob die eigenen Werte (z. B. „BWL“ für unwichtig zu halten) denn für seine Schüler*innen auch automatisch die passenden – ‚authentischen‘ – sind. Die eigene ‚Autorität‘ im Schüler-Lehrer-Verhältnis nimmt er als eine solche nicht wahr. Auch Erlebnisse aus anderen Lebensbereichen und Lebensphasen – die auf die Grenze dessen hinweisen (könnten), was er im Rahmen seiner Orientierungen zu erklären vermag –, ‚bügelt‘ Herr Waldorfer alsbald glatt, indem er beteuert, ‚das Richtige‘ (vgl. Z. 993 ff.) getan zu haben. Dies dokumentiert sich beispielsweise an seinen Reflexionen der vermeintlichen Effekte des (vormals) alltagsumfassenden politischen Anspruchs im Hausprojekt, in dem er seit ca. 30 Jahren lebt. An der zeitgleich mit dem Mittagessen stattfindenden Friedensgruppe hätten die damaligen Kinder des Hauses quasi notgedrungen teilnehmen müssen (Z. 379–393): „und das war auch wieder interessant, weil (.) die Kinder offensichtlich dann äh so ne Art äh Allergie gekriegt haben, gegen Politik, (.) und (.) äh (.) niemand von diesen Kindern, (.) irgendwo heute aktiv in irgendner Gruppe oder irgendner Bezug irgendwo mitarbeitet ne? (.) sind äh auf ihre Art Individualisten geworden, aber hellwach ne? //hmhm// (.) […] die ham dann (alle) auch ganz brav studiert, Germanistik oder äh die eine hat Goldschmiedin gelernt, der andere is Philosoph geworden, und so weiter. aber alle so, (.) nicht mehr in gesellschaftlich orientierten äh wahrnehmbaren Bereich (.) so. ne? () und ich (.) denke schon dass es vielen Wohngemeinschaften damals so (.) gegangen is, dass sie ihre Kinder verschreckt ham mit dieser äh (.) ständig äh den Löffel und das politische Wort im Mund führen beim Mittagessen ne? (1) naja. aber nichts desto trotz war des (.) denk ich richtig was wir da gemacht haben ne? (denn) (.) es gibt nichts Gutes außer man tut es. ne?“

Herr Waldorfer konstatiert hier, dass die mittlerweile erwachsenen „Kinder“ heutzutage auf „Politik“ ‚allergisch‘ reagierten. Dies sieht er in der permanenten Konfrontation mit den politischen Reden der erwachsenen Hausbewohner*innen begründet. Ihre Entwicklung kennzeichnet er als ‚individualistisch‘ und kontrastiert dies mit ihrem „[H]ellwach“-Sein – in seinen Augen ein Widerspruch. Angesichts dessen, dass eines dieser ‚Kinder‘ heute Philosoph ist, muss Herr Waldorfer die Feststellung, die ‚Kinder‘ seien „nicht mehr in gesellschaftlich orientierten“ Bereichen vertreten, zugleich dahin gehend präzisieren, dass er sich hier auf den gesellschaftlich „wahrnehmbaren Bereich“ (Kursivsetzung S.T.) beziehe. Es scheint so, als sei Herr Waldorfer nicht ganz entschieden, wie er die Entwicklung der Nachfolgegeneration einzuschätzen hat. Zwar haben sie sich nicht

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so entwickelt, wie er es für politisch richtig halten würde, doch kann er dies nicht mit ihnen fehlenden, analytischen Fähigkeiten – und deshalb eigentlich gar nicht – erklären. So dokumentiert sich hier – wie auch schon in Bezug auf die Entwicklung seiner ehemaligen Schüler*innen – eine Diskrepanz zwischen seinem antiautoritären Anspruch und seinen eigenen – letztlich auch durchaus mit Autorität ausgestatteten und vorgetragenen – Normen. Die ehemaligen Kinder des Hausprojekts verfolgen – vermutlich durchaus in ‚authentischer‘ Art und Weise – ihre Lebenswege, verbinden dies aber (teils explizit) nicht mit einer Politisierung des eigenen Lebens und Wirkens. Herr Waldorfer stößt hier auf ein Thema, an dem sich seine Orientierung(en) als brüchig zeigen könnten, da dies seine eigene Vorstellung der Erreichung von Handlungsfähigkeit, Selbstwirksamkeit und ‚Authentizität‘ durch Politisierung gewissermaßen ins Leere laufen lässt.15 Zudem scheint die eigene politisierte Praxis die Entpolitisierung der Folgegeneration (mit-)verschuldet zu haben. Einen hier schwach aufscheinenden Zweifel an der eigenen, über Jahrzehnte praktizierten Gruppenpraxis und den dahinterliegenden kollektiven Orientierungen relativiert Herr Waldorfer jedoch alsbald wieder mit der Erzählkoda: „[E]s gibt nichts Gutes außer man tut es“. So behilft er sich hier – wie auch an mehreren, anderen Stellen des Interviews – mit politisch oder aktionistisch konnotierten Sprüchen oder Liederzeilen zur Behebung eines Dilemmas.16 Mit derartigen Formulierungen schafft Herr Waldorfer Eindeutigkeit in Bezug auf potenziell widerstreitende Themen.

15Am

Rande bemerkt deckt sich Herr Waldorfers Habitus hier mit dem, was Reichardt (2014, S. 60) für das linksalternative Milieu der 1970er und 80er-Jahre als typisch konstatiert. Demzufolge sei der Begriff der Authentizität für dieses Milieu zentraler Dreh- und Angelpunkt des Politikverständnisses gewesen, der die vorherrschenden „Konfigurationen des Selbst [thematisiert] und […] über Autonomie und Selbstbestimmung hinaus[weist]“ (ebd., S. 60). Damit sei einhergegangen, dass Menschen, die nicht dem eigenen Milieu angehörten, „die Chance zur Authentizität“ (ebd.) abgesprochen worden sei, „zum ‚wirklichen Leben‘ seien die ‚Anderen‘ unfähig – zu sehr würde die konventionelle Mehrheitsgesellschaft von der medialen Inszenierung und von dem sozialen Rollenspiel des Kapitalismus gesteuert.“ (ebd.) Es stellt sich mir zwar die Frage, ob dies wirklich in so übergreifender Form für ein ganzes Milieu gelten kann, ungeachtet dessen, trifft die Analyse auf den sich bei Herrn Waldorfer dokumentierenden Habitus jedoch durchaus zu. 16Derartige Parolen zu zitieren, um seinen Standpunkt zu untermauern, stellt in seiner Erzählung ein Muster dar, das sich durch das gesamte Interview zieht. So begründet er z. B. seinen Entschluss, sich im Studium – trotz der Befürchtung einer Vereinnahmung – wieder einer politischen (K-)Gruppe anzuschließen mit der Liedzeile „allein machen sie dich ein“ (Z. 188). An anderen Stellen des Interviews bekräftigt er seine eigene Position z. B. mit Sprüchen wie „wer sich nich wehrt, lebt verkehrt“ (Z. 654) oder „nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“ (Z. 704).

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Ein Bestreben, Eindeutigkeit herzustellen, zeigt sich auch an anderen Stellen des Interviews. So dokumentiert sich in den Schilderungen seines politischen Engagements ein generelles Eintreten für (etwaige) Benachteiligte und gegen (vermeintlich) Machthabende. Wer die Benachteiligten und wer die Machthabenden sind, folgt dabei einem generalisierenden Prinzip der Einteilung in ‚oben‘ und ‚unten‘. In Bezug auf von ihm kritisierte „Private Public Partnerships“ (Z. 538) z. B. sieht er die „Konzerne, Professoren“ (Z. 534) auf der einen Seite, weil sie kurzfristige Vorteile witterten, wohingegen ‚Attac‘ „auf der Seite der Bevölkerung, der Steuerzahler“ (Z. 536) gegen die Privatisierungen von Besitz der öffentlichen Hand stünde. Diese Aufteilung der Interessensgruppen in eine verallgemeinerte, als machtvoll identifizierte Elite (der eine abzulehnende Autorität beigemessen wird) auf der einen Seite und ‚die Bevölkerung‘ auf der anderen Seite, welche als Gesamtheit der Elite entgegen zu stehen scheint, spricht Gruppen wie den genannten „Professoren“ pauschal eine mögliche kritische Haltung (und, streng genommen, die Zugehörigkeit zur Bevölkerung) ab. Ähnlich wie bei Frau Bach ist es auch bei Herrn Waldorfer nicht unbedingt die neue Orientierung (hier: die Orientierung einer politisierten ‚Authentizität‘ und Machtablehnung) selbst, in der eine Tendenz zur ‚totalen Ideologie‘ nach Mannheim (vgl. z. B. 1995, S. 70 ff. und Abschn. 4.1.2.4) liegt, sondern ihre Eigenschaft, zum alles erklärenden Prinzip erhoben zu werden. Die politisierte Orientierung setzt Herr Waldorfer derart absolut, dass keine Irritationen durch (potenziell) Neues mehr aufkommen können. Ein solcher, vereinheitlichender Modus Operandi der Selbst- und Weltinterpretation bietet orientierende Funktion, die auch über potenzielle Widersprüchlichkeiten hinaus bestehen bleibt. Herr Waldorfer hat so einen sich selbst sichernden Habitus ausgeprägt, der, wenn man so will, seine eigene Trägheit in gewisser Weise selbst – über das ‚normale‘ Maß des ‚Hysteresis-Effekts‘ (vgl. Bourdieu 1997 und Abschn. 4.1.3.) hinaus – aktiv herstellt, indem ihm ein vereinheitlichendes Prinzip der Selbst- und Weltinterpretation Stabilität verschafft und sichert.

7.2.3 Interpretationssache? Gedankenspiele zwischen Empirie und Theorie Bei Frau Bach habe ich die Frage aufgeworfen, ob ihr Modus Operandi der Priorisierung einer Erfahrungsdimension nicht zugleich mit der Ausklammerung von (potenziellen) Erfahrungen, die sich in anderen Dimensionen abspielen (könnten), einherginge und sie ihre Perspektive auf Selbst und Welt dahin gehend engführe. Bei Herrn Waldorfer ist es keine einzelne Erfahrungsdimension, die priorisiert

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wird, sondern eine politisierte Orientierung, die zum vereinheitlichenden Prinzip wird, mit dem das Selbst und die Welt erfahren und interpretiert werden.17 So ist beiden Fällen – als Ergebnis von Bildung – ein Habitus gemein, der eine Tendenz zur generalisierenden Betrachtung von Selbst und Welt und – damit verbunden – zumindest in Teilen auch zur Loslösung von der Erfahrungsbasis aufweist – wenngleich dieser, paradoxer Weise, in Anknüpfung an eigene biografische Erfahrungen entsteht. Während der Bildungsbegriff, den ich in dieser Arbeit verwende und mit dem Bildung als Habitustransformation definiert wird, nicht danach fragt, welcher Art der transformierte Habitus ist, könnte die sich in den beiden hier vorgestellten empirischen Bildungsfällen abzeichnende relative Engführung auf einen vereinheitlichenden Modus Operandi der Selbst- und Weltinterpretation aus dem Blickwinkel anderer Ansätze transformativer Bildung mit ihren ethischen Grundlegungen zum ‚Bildungsproblem‘ werden. Dies möchte ich im Folgenden anhand der beiden empirischen Fälle von Bildung konkreter ergründen und zu diesem Zwecke transformationstheoretische Grundannahmen einiger in Abschn. 3.2 ausführlich dargestellter Bildungsansätze – von Winfried Marotzki (1990), Arnd-Michael Nohl (2006), Hans-Christoph Koller (1999) und Jenny Lüders (2007) – und des pädagogischen Ansatzes des Transformative Learning von Jack Mezirow (1978a u. b) hinzuziehen. Winfried Marotzki, der ‚Vater‘ der deutschsprachigen transformativen Bildungstheorie, setzt in seinem reflexionstheoretischen Bildungsansatz die Steigerung der Handlungsfähigkeit und – noch umfassender – eine generelle Steigerung des „Komplexitätsniveau[s] von Selbst- und Weltreferenz“ (Marotzki 1990, S. 159) als zentrale Kriterien für Bildung an. In einer immer komplexer werdenden Welt würden Negation und Freiheit zentrale Voraussetzungen für die Überwindung des Rahmens von „Welt- und Selbstauslegung“, wie er Bildung fasst. Durch die „Herstellung von Distanz“ (d. h. zum sozialisatorisch Erworbenen) würde ein Mehr an Subjektivität ermöglicht, worin Marotzki eine Bedingung der „reflexionsmäßigen Aneignung“ (ebd., S. 105) und damit des „Überschreiten[s] der eigenen Vergangenheit im Namen der Zukunft“ (ebd., S. 137) sieht.18 Im Falle Frau Bachs ist eine solche Form der „Biographisierung“ (ebd., S. 102), wie Marotzki diesen Prozess auch fasst, fraglos gegeben. Denn die ‚Überschreitung der eigenen Vergangenheit‘ hat Sandra Bach vollzogen, indem sie sich von den

17In

Nohl et al. (2015, S. 198 ff.) haben wir diesen Modus, bei dem Selbst und Welt unter einem einheitlichen (Kausal-)Prinzip interpretiert werden – aus einem lerntheoretischen Blickwinkel – als „Lernorientierung der Kausalisierung“ gefasst. 18Vgl. zum Bildungsansatz Marotzkis ausführlich Abschn. 3.2.1.

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tradierten Begrenzungen des ihr vorgegebenen Selbst- und Weltverhältnisses gelöst und so ihren ‚subjektbezogenen Freiheitsgrad‘ gesteigert hat. Und auch im Falle Herrn Waldorfers kann die Frage nach einer Steigerung der subjektbezogenen – (auch) durch Reflexion erreichten – Freiheit bejaht werden. Dies dokumentiert sich u. a. an einer Passage, in der Herr Waldorfer berichtet, wie die Jungen in seiner Kindheit von ihren „Vätern“ ein bestimmtes Geschlechterrollenbild vermittelt bekommen hätten, aus dem hervorging, dass Frauen zu ihrem eigenen Schutze früh verheiratet werden müssten, „weil man ja [aus eigener Erfahrung] weiß wie schlecht die Männer sind“ (Z. 621 f.). Botschaften dieser Art hätten sich in den Jungen ‚angelagert‘, bis sie ihnen irgendwann reflexiv zugänglich und für Peter Waldorfer zum Anlass wurden, darüber nachzudenken, ob er selbst „so sein“, d. h. diesem Männerbild entsprechen wolle. Herr Waldorfer betont hier den bewussten, reflexiven Teil seiner Abkehr von den tradierten Mustern seines Elternhauses und Herkunftsmilieus. Die Frage nach dem eigenen ‚So-sein-Wollen‘ (und die sich im Interview dokumentierende Abkehr vom tradierten Männerbild) können quasi als Beispiel par excellence für die von Marotzki fokussierte, ‚reflektierende Überschreitung des Tradierten hin zu einer anderen Zukunft‘ gelten. Die Realisierung von Marotzkis weiterem Kriterium, der Steigerung des Komplexitätsniveaus, möchte ich hingegen in Bezug auf beide hier besprochenen Bildungsfälle mit einem Fragezeichen versehen. Ich habe bereits herausgearbeitet, dass Herrn Waldorfers neue, politisierte Orientierung, die seinem transformierten Habitus zugrunde liegt, von ihm derart zentral gesetzt wird, dass sie andere (mögliche) Interpretationen und Wahrnehmungen von Selbst und Welt überlagert und auf diese Art und Weise – so kann man dies m. E. interpretieren – Komplexität reduziert. Dennoch – und hier wird es paradox – beinhaltet der (Bildungs-)Prozess, der ihn dorthin geleitet, auch eine gesteigerte Auseinandersetzung mit Selbst und Welt, lassen sich Dokumente der reflexiven Auseinandersetzung mit seinen eigenen biografischen Hintergründen bei Herrn Waldorfer doch im gesamten Interview finden. Ein ähnlich paradoxes Verhältnis von ‚Engführung‘ und ‚Öffnung‘ ist auch für den Prozess von Frau Bach zu konstatieren. Das Resultat ihres Bildungsprozesses besteht im Kern in der Priorisierung, Generalisierung und politisierten Kollektivierung einer Erfahrungsdimension. Auch dies hat also durchaus etwas Komplexitätsreduzierendes, besteht hier doch Bildung (jedenfalls zum Teil) darin, dass eine Erfahrungsdimension zum zentralen Inhalt des Selbst- und Weltverhältnisses gemacht wird und andere Erfahrungsdimensionen – durchaus bewusst – hintangestellt werden. Während der Begriff der Engführung auf die Begrenzung des Habitus und des ihn reflektierenden und explizierenden

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Selbst- und Weltverhältnisses verweist, könnte mit dem Blick auf eine ‚Einspurung‘ (in eine qualifizierende ‚Richtung‘ der Selbst- und Weltinterpretation) stärker der orientierungsgebende Aspekt des Prozesses hervorgehoben werden. Auch bei Frau Bach ist die Engführung respektive Einspurung in eine qualifizierende ‚Richtung‘ der Orientierung, die ihr Selbst- und Weltverhältnis erfährt, ja zugleich auf der Grundlage einer breiteren Auseinandersetzung mit Selbst und Welt entstanden, wie sich in ihren Reflexionen zum eigenen Gewordensein dokumentiert. Die zunächst offenbleibende Frage lautet also: Können die Einspurung auf eine Erfahrungsdimension und die damit einhergehende Engführung des Modus Operandi der Selbst- und Weltinterpretation zugleich vor dem Hintergrund einer gesteigerten Komplexität des Selbst- und Weltverständnisses entstehen? Und was genau versteht man eigentlich unter einer solchen Steigerung des Komplexitätsniveaus? In den praxeologisch ausgerichteten Ansätzen, zu denen auch der von mir verwendete Ansatz von Bildung als Habitustransformation zählt, besteht der Steigerungsgedanke übergreifend in einer Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Jedoch muss dies als Steigerung der relativen Freiheit gegenüber der tradierten Struktur präzisiert werden, womit sich ein entscheidender Unterschied zu Marotzkis Ansatz ergibt (vgl. Abschn. 3.2). So fokussiert auch Arnd-Michael Nohl (2006) mit seinem pragmatistisch-wissenssoziologischen Ansatz in formaler Weise die Erweiterung der Handlungsfähigkeit gegenüber der tradierten Struktur und geht dabei aber – anders als Marotzki – nicht davon aus, dass dies vorwiegend durch Reflexion erreicht wird. Im Bildungsprozess sieht Nohl vor allem die Hervorbringung eines in der vorgängigen Erfahrung angelegten, aber bislang nicht verwirklichten biografischen Sinns, der dann zum Katalysator einer Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen wird (vgl. ebd., S. 112 ff. und Abschn. 3.2.3.1 in dieser Arbeit). Auch dies kann in beiden Bildungsfällen rekonstruiert werden und als Sichtbarwerdung mit den eigenen Positionen, was in beiden Fällen eng mit den eigenen biografischen Erfahrungen und dem eigenen (existenziellen) Sein verknüpft ist, gefasst werden. Geht es bei Frau Bach hierbei stärker (jedoch nicht nur) um die sexuelle Orientierung, so liegt der Fokus bei Herr Waldorfer eher auf den Erlebnissen von Zwang und Gewalt, die seine Kindheit und Jugend prägten und die eine Bedrohung für das Selbst und die so empfundene ‚eigene Authentizität‘ darstellten. Allerdings knüpft Nohl – im Anschluss an John Dewey – zudem eine These immanenter Normativität an, der zufolge ein Bildungsprozess gewährleisten „muss, […] dass Selbst und Welt sich erneut zu transformieren vermögen“ (ebd., S. 116 f.) Es stellt sich mit diesem Kriterium, das – wie bereits in Abschn. 3.2 herausgearbeitet – eine dogmatische Engführung von Selbst- und ­Weltverhältnis

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ausschlösse, die Frage, wie es bei Frau Bachs und Herrn Waldorfers transformierten „Lebensorientierungen“ (ebd., S. 11) um die Offenheit für weitere Transformationen steht, die Nohl für essenziell für den Bildungsprozess hält. Anhand dieser ethischen Konkretisierung, die letztendlich eine Auf-Dauer-Stellung des Kriteriums der Komplexitätssteigerung bedeutet, spräche die für Frau Bachs Prozess konstatierte Einspurung auf eine Erfahrungsdimension eher gegen eine (abermalige) Transformation, da die hierfür nötige Offenheit für neue Erfahrungen (und deren potenzielle Andersartigkeit) hierbei als Voraussetzung gelten kann. Zumindest ein Teil von (Selbst und) Welt wird von Frau Bach im Zuge des Prozesses ja zugunsten eines anderen ausgeklammert. Paradoxer Weise, so möchte ich auch in ihrem Falle argumentieren, erscheint jedoch genau durch die Fokussierung einer Erfahrungsdimension bei Frau Bach eine Stabilisierung des Selbst einzutreten, die wiederum als Voraussetzung für die Öffnung auf anderer Ebene gelten kann, nämlich für die Partizipation am demokratischen Prozess. Denn, auch wenn sie im Landesfrauenrat überwiegend daran orientiert zu sein scheint, die kollektive Position ihres Vereins zur Aufführung zu bringen und zu verteidigen, so weist Sandra Bach mit ihrer Frage, „wie kann ich mich da einbringen“ und „die eigene Position trotzdem […] behalten“ (Z. 134), doch auch implizit darauf hin, dass in der Auseinandersetzung mit Menschen anderer politischer Couleur zumindest potenziell auch immer die [aus ihrer Sicht] Gefahr – respektive Möglichkeit – steckt, von deren Praxis verändert zu werden. So kann zwar nicht antizipiert werden, dass weitere Transformation stattfinden wird – was aber ohnehin als zukünftige Voraussage nicht möglich ist –, jedoch wäre es zu kurz gegriffen, dies völlig auszuschließen und Frau Bachs Prozess(ergebnis) schlicht als ‚Engführung‘ von Selbst und Welt zu bezeichnen, begibt sie sich nun doch immerhin in soziale Räume, in denen sie mit anderen Orientierungen konfrontiert wird und so wenigstens potenziell Anlässe für weitere Transformationen entstehen (könnten). Ihre Offenheit für andere Teile von Welt scheint, was ihre Handlungspraxis angeht, nach dem Bildungsprozess aus dieser Perspektive also sogar größer als zuvor. (Die Offenheit ist bei Nohl ja nicht als reflexive, bewusste Offenheit konzipiert ist, sondern muss sich lediglich in der Praxis, d. h. im praktischen Handeln, erweisen.) Wie stark die sich selbst stabilisierende Tendenz von Frau Bachs transformierten Habitus zukünftig ist und ob dieser Habitus weitere Transformationen zuließe, lässt sich aber letztlich nicht klären. Ähnlich wie im hier beschriebenen adulten Bildungsprozess von Frau Bach stellt sich unter dieser Perspektive auf Bildung auch bei Herrn Waldorfer die Frage, ob sein in der Jugend transformierter Habitus eine Komplexitätssteigerung von Selbst und Welt – im von Nohl beschriebenen Sinne einer Öffnung für weitere Bildung – mit sich bringt oder aber diese verhindert. Denn auch bei Herrn

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Waldorfer ist eine Art Einspurung des Habitus bzw. der auf ihn bezogenen und ihn explizierenden Selbst- und Weltinterpretation in eine spezifische, qualifizierende Richtung zu konstatieren. Wie oben dargelegt, tendiert Peter Waldorfer dazu, Welt und Selbst auf ein vereinheitlichendes Prinzip zurückzuführen, doch steht zugleich außer Frage, dass ihm sein transformierter Habitus, mit dem er eigene prekäre biografische Erfahrungen in orientierungsgebende Stärken umgewandelt hat, zahlreiche Möglichkeiten zur Steigerung seiner Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit in der Welt an die Hand gegeben hat. Nicht nur eröffnet er ihm weitergehende berufsbiografische Perspektiven, auch brachte er ihn in einen (Bewegungs-)Kontext – bzw. entstand in diesem –, wo er sich eine politisierte Praxis aneignet, die handlungspraktische wie theoretische Auseinandersetzungen mit Selbst und Welt und die Deutung der eigenen Biografie in übergeordneten politisch-historischen Zusammenhängen umfasst. So gehen mit dem neuen Habitus vielfältige Formen der politischen Einmischung und des Mitmischens wie auch die Verwirklichung von als ‚authentisch‘ wahrgenommenen, d. h. an seinen Werten und seiner biografischen Erfahrung ansetzenden Idealen, Zielen etc. einher – und zudem eine intensive soziale Einbindung (u. a. im Hausprojekt). Ähnlich wie in Bezug auf den Bildungsprozess Frau Bachs möchte ich hier die These in den Raum stellen, dass eine derartige Handlungs- und Bezugsfelderweiterung, wie sie bei Herrn Waldorfer der Fall ist, durchaus Anlass zu vielfältigem Wissenserwerb und neuen Erfahrungen gibt. Die Frage, ob dies auch die Möglichkeit zu weiterer Transformation von Selbst und Welt bereitet, ist nicht abschließend zu klären, wenngleich das vereinheitlichende Prinzip, nach dem die Welt durch Herrn Waldorfer überwiegend interpretiert wird, dies als nicht besonders wahrscheinlich erscheinen lässt. Auch mit Hans-Christoph Kollers (1999) diskurstheoretischem Ansatz wären weder Frau Bachs noch Herr Waldorfers Prozess eindeutig als Bildung zu identifizieren. Die bildungstheoretische Einsatzstelle liegt bei Koller darin, dass es in der Postmoderne keine Metaerzählungen mit allgemeinem Geltungsanspruch mehr gäbe und verschiedene Diskursarten nicht ineinander überführbar seien, ohne einer Diskursart „Unrecht zu[zu]fügen“ (ebd., S. 39). Vielmehr stünden die Diskursarten im unauflöslichen Widerstreit zueinander, weshalb die „Anerkennung, Offenhaltung und Ermöglichung des Widerstreits“ (ebd., S. 154) ins Zentrum von Bildung rücken müsse. Angesichts ihrer Priorisierung einer ‚Diskursart‘ gegenüber anderen, so möchte ich Frau Bachs Fokussierung des Frau- und Lesbischseins hier interpretieren, scheint mir ihr Bildungsprozess dem Kriterium der Offenhaltung des Widerstreits nicht zu entsprechen, dominiert die Politisierung von Geschlecht und sexueller Orientierung doch andere Lesarten von Selbst und Welt. Die Art und Weise der Auseinandersetzung (im Landesfrauenrat) scheint einerseits darauf

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a­ usgerichtet, die eigene Diskursart zu behaupten, gleichzeitig wird die Parallelität der verschiedenen Diskursarten jedoch akzeptiert, der – gesellschaftliche – Widerstreit insofern ermöglicht. Eine Offenhaltung des Widerstreits, der auch die Infragestellung oder zumindest Relativierung der eigenen Diskursart implizieren würde, scheint mir in der Darstellung von Frau Bach zwar nicht unmöglich, aber eher nicht angelegt. Dies gestaltet sich bei Herrn Waldorfer ganz ähnlich: Er differenziert im Rahmen von Protestveranstaltungen, Diskussionen und Ähnlichem die eigene, im Bildungsprozess erworbene Diskursart eher aus, als dass er andere Diskursarten in ihrer Andersartigkeit und Unüberführbarkeit in die eigene Diskursart anerkennen und den Widerstreit – im von Koller gemeinten Sinne, dass die eigene Ordnung davon berührt wird – offenhalten würde. Das Bildungskonzept von Koller fordert, wie auch jenes von Nohl und Marotzki, eine Offenheit für die komplexen Erfahrungsansprüche der Welt. Mit diesem Kriterium dokumentiert sich in den Bildungsprozessen Frau Bachs und Herrn Waldorfers zumindest ein paradoxer Zusammenhang zwischen ‚Offenheit‘ und ‚Engführung‘, weil bei beiden die Auseinandersetzung mit anderen Diskursarten – respektive (Lebens-) Orientierungen oder Selbst- und Weltverhältnissen – vom Standpunkt der Priorisierung einer Diskursart aus betrieben wird. Der Offenheit für widerstreitende Diskursarten werden durch die Fokussierung auf ein vereinheitlichendes Prinzip von Selbst- und Weltinterpretation Grenzen gesteckt. Als ein weiteres Kriterium für Bildung fokussiert Koller aber – und andere diskurstheoretisch ausgerichtete Ansätze der transformativen Bildungstheorie tun dies mit ihm bzw. sogar ungleich stärker (vgl. Lüders 2007; Rose 2012 sowie Abschn. 3.2.3 in der vorliegenden Arbeit) – die Steigung von diskursiver Machtkritik. So wird bei Koller der Ausdruck eines (zuvor) ‚Nicht-Sagbaren‘ zum Bildungsziel. Wird das Nicht-Sagbare sagbar, impliziert dies zugleich die Infragestellung der vorangegangenen Ordnung und damit einhergehender Machtverhältnisse. In Herrn Waldorfers Biografie findet die in der Kindheit und Jugend höchstens vorsprachlich mitschwingende Negation des Tradierten im Bildungsprozess einen sprachlichen Ausdruck. Sie wird so explizierbar und zum Ausgangspunkt der Kritik der Verhältnisse. Auch auf Frau Bachs biografische Entwicklung trifft dieses Kriterium zu, findet doch das Lesbische, das zuvor „in der […] vorherrschenden Diskursart nicht artikuliert werden“ (Koller 2015, S. 150) konnte, nun einen kollektiven Ausdruck. Zwar ist es nicht eine originär neue Diskursart, die Frau Bach im Kontext der Frauen-Lesben-Bewegung (er-)findet, doch stellt diese für Frau Bach selbst durchaus ‚das Neue‘, zuvor nicht artikulierbar Gewesene ihrer biografischen Erfahrung dar. Es entstehen so für Frau Bach und Herrn Waldorfer im Bildungsprozess neue Diskursarten

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(­respektive neue biografische Ordnungen und Perspektiven), mit der sie bisher unverbundene biografische Aspekte in einem neuen Zusammenhang formulieren können. Dadurch, dass dieser Zusammenhang nun artikulierbar wird, was er in der vorherrschenden Diskursart nicht war, macht er die eigene Biografie an einen anderen, politisch-historischen Zusammenhang anschließbar und bekommt Machtverhältnisse in den Blick. Während die Prozesse von Frau Bach und Herrn Waldorfer also dieses zweite, auf die innovative Dimension verweisende (vgl. Abschn. 3.2.3.1) Kriterium von Kollers Bildungsansatz erfüllen, stellen sie die so neu entstandene Diskursart jedoch tendenziell über andere Diskursarten, was – wie oben bereits ausgeführt – das erst genannte Kriterium der ‚Offenhaltung des Widerstreits‘ fraglich werden lässt. Ähnlich, wie ich bezüglich der von Nohl geforderten Offenheit für erneute Transformationen argumentierte, sehe ich auch hier einen paradoxen Zusammenhang: Während Frau Bach und Herr Waldorfer vieles, was einer anderen Diskursart entspringt, negieren, ignorieren oder in ihre neue Diskursart einebnen, ist andererseits gerade durch diese neue Diskursart – also Perspektive – die Voraussetzung dafür gegeben, dass sie die Komplexität ihrer Handlungspraxis steigern.19 Während die Steigerungsmaxime transformativer Bildung zumeist stark auf das Individuum bezogen bleibt und der Gesellschaft höchstens eine sekundäre Bedeutung zugemessen wird, zeigten sich bei Kollers Verweis auf Machtverhältnisse Ansätze für eine gesellschaftsanalytische Bezogenheit von Bildung, die auch Anschlüsse an machttheoretische Fragestellungen erlaubt. Jenny Lüders (2007) legt in ihrer Ausgestaltung des transformativen Bildungsbegriffs eine noch strukturiertere machttheoretische Perspektive an. Mit der Fundierung von Bildung in einer sich auf Foucault stützenden, diskurstheoretischen und machtkritischen Begrifflichkeit, begreift Lüders „Bildung als ein Veränderungsgeschehen, das sich gegen […] Formen der Unterwerfung richtet“ (ebd., S. 126). Ins Blickfeld geraten mit der Foucaultschen Perspektive, die sich gegen eine Dichotomisierung von (selbstbestimmter) Freiheit und (fremdbestimmter) U ­ nterdrückung richtet,

19Man

könnte in dem paradox anmutenden Verhältnis von ‚Öffnung‘ und ‚Engführung‘ auch einen Verweis auf eine zeitliche Dynamik der Prozesse sehen. So kann es im Zuge der Bildungsprozesse – gerade in den Zwischenphasen, in denen der tradierte Habitus nicht mehr greift, der neue, transformierte aber auch noch nicht zur vollen Entfaltung gekommen ist – eine Komplexitätssteigerung vorliegen, die aber in späteren Habitualisierungen der neuen Handlungspraxis und Konsolidierungen des transformierten Habitus teils nicht in diesem Maße aufrechterhalten werden kann und auf die in einigen Fällen, wie bei Frau Bach und Herrn Waldorfer, auch ‚Immunisierungen‘, d. h. selbstsichernde Einspurungen mit sich bringen können.

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vor allem subtile Unterwerfungsformen der Selbstführung, deren „Verstrickung in Machtpraktiken“ (ebd., S. 125) es zu prüfen gelte. So kennzeichnet Lüders Bildung dann auch als „praktisch-strategisches Grenzexperiment“ (ebd., S. 126), das die kritische Verschiebung der Grenzen des eigenen Seins zum Ziel hat. Im Zuge eines solchen Bildungsprozesses würden „die eigene Anerkennbarkeit riskiert“ (ebd.) und durch die experimentelle, produktive Grenzverschiebung neue (Macht-)Relationen hervorgebracht. Im Bildungsprozess sollten, so Lüders (2007, S. 258), „Möglichkeiten eines Verhaltens zu […] [der eigenen; S.T.] Seinsungewissheit entworfen werden, die nicht mittels einer Identifizierung und Selbstvergewisserung auf eine Abwehr dieser Selbstdifferenz zielen. ‚Bildung‘ bedeutet demzufolge […] eine Haltung, die sich dem Anderen und Fremden aussetzt“.

Zwar könnte man die beiden hier besprochenen Bildungsprozesse als Verschiebung der (machtvollen) Konstellationen von Anerkennungsstrukturen sehen, ein seinsverunsicherndes Element, wie es Lüders fordert, ist hier allerdings nicht zu sehen. Im Gegenteil: Während Lüders ein Grenzexperiment vor Augen hat, in dem es darum geht, aus der relativen Seinsgewissheit den machtkritischen Schritt in die Seinsungewissheit zu wagen, sehe ich bei beiden hier besprochenen Prozessen die Entwicklung eher in umgekehrter Richtung. Insbesondere bei Frau Bach, aber durchaus auch bei Herrn Waldorfer, steht am Ausgangspunkt von Bildung eine Seinsungewissheit, die im Zuge von Bildung in eine relative Seinsgewissheit transformiert wird. Beiden Prozessen wohnt so ein seinsstabilisierendes, selbstvergewisserndes Moment inne, was Lüders explizit als für den Bildungsprozess nicht gewollt kennzeichnet. Doch auch Lüders selbst vermag – aufgrund des ambivalenten Charakters von Macht bei Foucault – mit ihrem bildungstheoretischen Instrumentarium bei den empirischen Beispielen „nicht mit Gewissheit zu unterscheiden […], ob es sich bei den genannten Wandlungen um Formen der Selbstvergewisserung oder um Momente des Entzugs aus Festschreibungen handelt“ (Lüders 2007, S. 252).20 Den Umstand, dass Lüders – wie auch ich dies mit meinen hier getätigten Auseinandersetzungen zeige – nicht mit Sicherheit zwischen Bildung und ‚Nicht-Bildung‘ unterscheiden kann, möchte ich zum Anlass nehmen, um die Frage nach der Relationalität von Bildung zu ihrem jeweiligen Ausgangspunkt

20Vielleicht

würde es einen Weg aus diesem Dilemma weisen, wenn man die anfängliche Seinsungewissheit als ein Übergangsphänomen ansähe, das Teil des Bildungsprozesses ist, aber nicht auf Dauer aufrechterhalten werden kann?

462

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aufzuwerfen. Könnte Bildung – anders als Lüders dies formuliert – nicht sowohl in der Schaffung von Seinsungewissheit (bei einem Ausgangspunkt relativer Seinsgewissheit) als auch in der Schaffung von Seinsgewissheit (bei einem Ausgangspunkt relativer Seinsungewissheit) liegen?21 Mit einer solchen Perspektive, die die spezifische Ausgangslage von Bildung einbezieht, würde nicht nur den sozialen Strukturen, unter deren Einfluss ein Habitus transformiert wird, Rechnung getragen, sondern zudem die sozialen Ausgangsbedingungen des ‚prätransformierten‘ Habitus in die Analyse mit einbezogen (wie dies in der vorliegenden Arbeit mit dem Einbezug biografischer Erfahrungshintergründe ansatzweise, aber nicht in umfassender Form geschehen ist). Gerade, weil soziale Bewegungen politisch sind und die in ihrem Kontext stattfindenden Prozesse immer auch auf kollektive Strukturen bezogen sind, möchte ich nun abschließend noch einen pädagogischen Ansatz zurate ziehen, der seinen Ursprung in einer Untersuchung zu biografischen Prozessen im Kontext der Frauenbewegung hat und so den Fokus auf die Gesellschaftlichkeit bzw. auf die politische Relevanz der Prozesse quasi schon in die Wiege gelegt bekommen hat. Der US-amerikanische Ansatz des Transformative Learning, den Jack Mezirow (1978a u. b) begründet hat, rückt die sich an universalistischen Prinzipien orientierende Steigerung von Möglichkeiten der Selbst- und Weltinterpretation ins Zentrum. Im Unterschied zu Marotzki, Nohl, Koller und Lüders, die ihre Normativitäten aus theoretisch-philosophischen Auseinandersetzungen ableiten, gibt Mezirow seinem Ansatz dabei eine gesellschaftskritische Normativität. Transformative Learning soll nicht nur ein kritisches Bewusstsein fördern, sondern auch zur ‚Befreiung von Unterdrückung‘ führen. Die transformierte Perspektive – Mezirow (1978a) nennt das Transformative Learning auch ‚Perspective Transformation‘ – soll auf der kritischen Reflexion der eigenen Interpretationen basieren Auf diese Weise würde eine Form der ‚Reife‘ erreicht, die „meaning

21Habitustheoretisch

gefasst wäre unter der Seinsgewissheit eine weitgehende Passung des Habitus mit den sozialen Räumen, mit denen er konfrontiert ist, zu verstehen, während die Seinsungewissheit auf einen prekären bzw. prekär gewordenen Habitus verweisen würde. Mit Blick auf die Frage nach der Art und Weise der politischen Orientierungen im Rahmen sozialer Bewegungen ließe sich hier eine Verknüpfung zu der Unterscheidung in sogenannte ‚Stellvertreterpolitik‘ (mit dem Ausgangspunkt eines Habitus, der stabil zum sozialen Raum passt und keinen Veränderungsdruck verspürt) und ‚Identitätspolitik‘ (mit dem Ausgangspunkt eines Habitus, der keine Passung (mehr) herstellen kann bzw. keine gesellschaftliche Anerkennung erfährt) denken. Dies sei hier aber lediglich als Idee vermerkt, die es andernorts näher zu ergründen gilt, weil dies den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen würde.

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p­ erspectives“ hervorbringe, „that are progressively more inclusive, discriminating and more integrative of experience” (ebd., S. 106).22 Mezirow spielt so die relative Engführung, die eine Einspurung in eine (politisierte) ‚Richtung‘ der Selbst- und Weltinterpretation – ein kritisches ‚Wählerisch-Sein‘ – mit sich bringt, nicht gegen die Erweiterung von Selbst und Welt – den Einbezug vielfältiger Erfahrungsdimensionen – aus. Vielmehr verlange die Öffnung im Sinne universalistischer Werte zugleich eine Engführung im Sinne des Ausschlusses ‚unterdrückender‘ Perspektiven.23 Demzufolge würde das Konzept des Transformative Learning die aufgeworfene Frage im Falle Frau Bachs und Herr Waldorfers also dahin gehend beantworten, dass die relative Engführung von Selbst und Welt, die mit der Politisierung von Identität bzw. der Fokussierung einer politisierten Orientierung einhergeht, gleichermaßen eine Voraussetzung für die gesellschaftskritische Aufgabe der Unterbindung von ‚Unterdrückung‘ (respektive Steigerung von ‚Emanzipation‘) und für die Ermöglichung Transformativen ‚Lernens‘ sein kann. Zwar kann Mezirow damit keine Antwort auf das von Lüders (2007, S. 252) formulierte Dilemma der Schwierigkeit, zwischen Prozessen zu unterscheiden, die Festschreibungen stützen und solchen, die sich diesen entziehen, geben, wohl aber macht Mezirow darauf aufmerksam, dass dies Prozesse der Fokussierung einer Erfahrungsdimension oder einer Interpretationsart von Selbst und Welt durchaus mit Steigerungen des Weltbezugs (in eine machtkritische Richtung) einhergehen können. So nimmt Frau Bach eine (identitätsbezogene) Festschreibung vor, die der Selbstvergewisserung dient und zugleich eine vorherige Ordnung und die ihr innewohnende Machtrelation in ihre Schranken weist und in diesem gesteckten Rahmen mehr ‚Welt‘ ins Selbst aufnimmt als zuvor. Herr Waldorfer zurrt sein Selbstbild ebenfalls auf eine Identität als ‚Kämpfer gegen Unterdrückung und für Selbstbestimmung‘ fest, gewinnt auf diese Weise aber eine kritische Perspektive auf sein eigenes Gewordensein und kann dies in gesellschaftspolitische Zusammenhänge einordnen und in der Folge auf dieser Grundlage vielfältige Weltbezüge herstellen und sich gesellschaftspolitisch einbringen. Während der Fokus auf die Steigerung der Komplexität der individuellen Selbst- und Weltverhältnisse Bildung im Falle Frau Bachs und Herrn Waldorfers aus einigen Perspektiven der transformativen Bildungstheorie

22‚Discriminating‘

ist hier als ‚kritisches Auswählen‘ zu verstehen. etwas anderer Form findet sich der Gedanke der Pluralität, die prinzipiell alle Positionen gleich wertet, jedoch sich selbst als höchstes Prinzip sehen muss, auch bei der von Koller (1999) betonten ‚Offenhaltung des Widerstreits‘ wieder (vgl. Abschn. 3.2.2.1).

23In

464

7  Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen …

t­eilweise fraglich werden lässt, ließ sich mit diesem stärker gesellschaftskritisch orientierten Ansatz ein Prozess von Transformative Learning also klarer bejahen.

7.3 Ansätze für ein Weiterdenken Angesichts zweier Bildungsprozesse aus dem Kontext sozialer (Protest-) Bewegungen, in denen sich ein Habitus ausbildete, der – je nach Perspektive – als Einspurung in eine Richtung der Selbst- und Weltinterpretation oder aber als Grundlage für eine weitere Steigerung der Komplexität von Selbst- und Weltverhältnissen interpretierbar ist, schien es zur Erfassung dieser paradoxen Struktur sinnvoll, die Kontingenz des eigenen Bildungsansatzes deutlich zu machen und die Fälle aus verschiedenen Perspektiven zu interpretieren. Der jeweilige Fokus der Bildungsansätze enthält implizite wie explizite Vorannahmen, die das ‚Ergebnis‘ – d. h. die Bewertung, ob es sich um Bildung handelt – beeinflussen.24 Das Vorhaben dieses als Erkundung gekennzeichneten Kapitels war es, die durch von Rosenberg (2011) als ethisch nicht einholbar gekennzeichnete Aufgabenhaftigkeit von Bildung (vgl. ebd., S. 89) anhand der Konfrontation von empirischem Material mit verschiedenen ethisch-normativen Vorannahmen zumindest ein Stück weit ‚einzuholen‘. Dieses ‚Programm‘ habe ich hier im Sinne dessen, mehr Transparenz in die Zusammenhänge von Forschungsmethodik und -methodologie, bildungstheoretischen Festlegungen, empirischen Bildungsprozessen und dem jeweiligen Gegenstandsbereich zu bringen, verfolgt. Es ging mir dabei nicht darum, eine eigene Lösung für das Problem der Aufgabenhaftigkeit von Bildung zu präsentieren, vielmehr sollte durch eine intensive, fragende Auseinandersetzung die Perspektive erweitert werden und im besten Fall mehr Überblick über o. g. Zusammenhänge geschaffen werden. Während die Ansätze transformativer Bildungstheorie einerseits betonten, dass die Aufgabenhaftigkeit von Bildung nicht oder nur relational aus dem Kontext der Biografie bestimmt werden kann, und, wie Nohl (2006, S. 116) dies formuliert, Bildung „kein Ziel“ außer sich selbst haben kann, werden andererseits aber doch Bildungskriterien aufgestellt, die meist über eine rein ‚formale‘ Definition der Form des Prozesses hinausgehen oder, wie bei Nohl, eben dieser Form ein ethisches Kriterium – der Öffnung für weitere Transformation – einschreiben (vgl. hierzu Kap. 3). An den beiden hier vorgestellten empirischen

24Dies

hatte ich auf theoretischer Ebene bereits ausführlich im Kap. 3 aufgezeigt.

7.3  Ansätze für ein Weiterdenken

465

Beispielen zeigt sich m. E. ein bildungstheoretisches Dilemma, oder – wenn man so will – eine paradoxale Struktur zwischen dem, was für die Individualbiografie als Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten gelten kann, und der – in unterschiedlichen Ausgestaltungen vorgebrachten – formal-ethischen Forderung transformativer Bildungsansätze nach einer Steigerung des Vorhandenseins von ‚Welt‘ im einzelnen Akteur oder Subjekt. Das eine – so hat es sich an den in diesem Kapitel diskutierten Fällen dokumentiert – muss nicht notwendiger Weise das andere mit sich bringen bzw. ist auch hier die Beantwortung dessen, was denn z. B. eine Komplexitätssteigerung genau bezeichnet, nicht eindeutig. Was für die Biografien von Herrn Waldorfer und Frau Bach produktiv stabilisierend wirkt, muss nicht gleichzeitig eine erhöhte Öffnung des Selbst für die vielfältigen Aspekte von Welt mit sich bringen, sondern kann sogar in Gestalt einer Abschottung von gewissen Erfahrungsansprüchen der Welt, einer Engführung also, bestehen. Ich möchte nicht so weit gehen, die Politisierung von Orientierungen hierfür generell als ursächlich zu sehen – in diesem Falle müsste dies auf alle im Kontext dieser Arbeit untersuchten Biografien zutreffen, da in allen die Politisierung im Kontext sozialer Protestbewegungen für den Bildungsprozess eine Rolle spielt. Vielmehr ist es in den beiden vorgestellten Fällen so, dass die Politisierung Züge einer Überformung von Selbst und Weltverhältnis mit sich bringt und so Ansätze einer vereinheitlichenden, ‚total-ideologischen‘ (vgl. Mannheim 1995, S. 70 ff.) Selbst- und Weltinterpretation aufweist. Mit diesem vereinheitlichenden Prinzip sichern die beiden in gewisser Hinsicht ihren Habitus bzw. sichert sich der transformierte Habitus selbst seine Stabilität, indem er Neues seiner „Novität beraubt“, wie dies Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015, S. 198) fassen.25 Das Ergebnis dieser Bildungsprozesse bei Frau Bach und Herrn Waldorfer, das ich als einen sich selbst absichernden Habitus bezeichnet habe, lässt eine erneute, an den (ersten) Bildungsprozess anschließende Transformationen von Selbst und Welt wenig wahrscheinlich erscheinen (vgl. hierzu in Bezug auf einen Teil desselben Samples auch Nohl et al. 2015, S. 198 ff.). Und auch die mit Kollers Perspektive anvisierte Anerkennung, Offenhaltung und Ermöglichung des Widerstreits scheint so nicht erfüllt. Hingegen konnte – aufbauend auf einem Gedanken von Lüders, diesem aber zugleich auch in gewisser Weise widersprechend – die

25In

der vorliegenden Arbeit habe ich die Prozessverläufe der Habitustransformationen typisiert, nicht die verschiedenen Habitus selbst oder ihre formalen Spezifika wie die hier angedachte Eigenschaft der ‚Selbstsicherung‘. So kann ich auch keine Aussage darüber treffen, ob die hier besprochenen Habitus und ihre Spezifika als typisch gelten können.

466

7  Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen …

­ ufmerksamkeit auf die Relationalität von Bildung im Verhältnis zu ihrem A Ausgangspunkt gelenkt werden. Zwar setzt Lüders (2007, S. 258) die „Seinsungewissheit“ als Kriterium für Bildung an und schließt es explizit aus, in Formen der Selbstvergewisserung Bildung zu sehen (vgl. ebd.). Doch könnte m. E. mit einer Perspektive, die – je nach biografischen Hintergründen – auch in der Schaffung von ‚Seinsgewissheit‘ Bildung für möglich hält und Bildung in diesem Sinne als relational konzipiert, nicht nur den sozialen Strukturen, unter deren Einfluss ein Habitus transformiert wird, Rechnung getragen werden, sondern zudem die sozialen Ausgangsbedingungen des ‚prätransformierten‘ Habitus in die Analyse miteinbezogen werden. Das im Zuge der Untersuchung von Prozessen im Kontext einer sozialen Bewegung entstandene pädagogische Konzept des Transformative Learning bietet eine Möglichkeit, die (kritische) ‚Einspurung‘ der Erweiterung des Selbst- und Weltverhältnisses nicht prinzipiell entgegenzustellen. Darüber hinaus kann hiermit erstere sogar als Voraussetzung für letztere gedacht werden, wenn die ‚Engführung‘ nämlich den Ausschluss diskriminierender Anteile von Welt beinhaltet und so die Erweiterung in einem an universalen Werten orientierten Selbst- und Weltverhältnis besteht. Die Theorie des Transformative Learning (und ggf. andere Ansätze, z. B. aus der politischen Bildung) kann (könnten) also hilfreich sein, um Habitustransformationen wie jene Frau Bachs und Herrn Waldorfers in ihre politisierten Entstehungskontexte einzuordnen und vor dem Hintergrund von Normen, die diesem Gegenstandsbereich von Bildung stärker Rechnung zollen, zu bewerten.26 Bei allen hier aufgeworfenen Ideen und Fragen sollte am Ende dieses Kapitels deutlich geworden sein, dass der Bildungsdefinition der Stellenwert eines gewichtigen, verbindenden Elements zwischen der Analyseeinstellung und Rekonstruktionsleistung der Forschung und der immanenten Normativität des Feldes zukommt. Die Transparenz von ethischen Grundlegungen von Bildung (und Transformative Learning) kann dabei die Möglichkeiten und Grenzen des jeweiligen Ansatzes offenlegen und zudem den Blick für etwaige Spezifika der Prozesse im jeweiligen Gegenstandsbereich schärfen.

26Die

hier begonnene erkundende Kritik der Bildungsprozesse mit den verschiedenen Normativitäten der transformativen Bildungs- und ‚Learning‘-Ansätze konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter ausgebaut werden. In Anschlussarbeiten würde ich aber den Einbezug von Ansätzen der politischen Bildung für sinnvoll erachten, weil mit ihnen die Politizität der Prozesse noch dezidierter in den Blick käme.

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7  Normativität in der Erforschung von Bildungsprozessen …

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8

Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse und Anschlüsse an den Forschungsstand

In der vorliegenden Untersuchung habe ich den phasenhaften Verlauf biografischer Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen empirisch rekonstruiert. In theoretischer und methodologischer Hinsicht verorte ich die vorliegende Studie in der (praxeologischen) Wissenssoziologie Karl Mannheims (1964, 1980) und Ralf Bohnsacks (2003a, b, 2006b) und ziehe zur Grundlegung meines in der Tradition der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung (Marotzki 1990; Koller 1999; Nohl 2006b; Lüders 2007; Rosenberg 2011; Rose 2012 u. v. m.) stehenden Bildungsverständnisses – mit dem ich Bildung als Habitustransformation (vgl. u. a. Koller 2002a, 2009; Rieger-Ladich 2005; Wigger 2006; Geimer 2010b; Rosenberg 2011, 2016; El-Mafaalani 2012; Maschke 2013; Kramer et al. 2013; Kramer 2013; Niestradt und Ricken 2014; Nohl et al. 2015a) verstehe – Bourdieus Habitustheorie hinzu. Verschiedene Ausgestaltungen des transformativen Bildungsbegriffs habe ich nicht nur bildungs-, sondern auch normativitätstheoretisch diskutiert – und damit die u. a. von Rieger-Ladich (2014, S. 23) vorgebrachte Aufforderung, „über Grenzen eines formalen Bildungsbegriffs nachzudenken“, ernst genommen.1 Mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2003a; Nohl 2006a) und dem narrativen Interview (Schütze 1981, 1983) fand ich einen rekonstruktiven Zugang zu den Lebensgeschichten und Habitus(-transformationen) meiner Interviewpartner*innen, den ich nach den Regeln des „theoretical sampling“ (Glaser und Strauss 1969) als ein Hand-­inHand-Gehen von ersten Auswertungen und einer gezielten Suche nach passenden Vergleichsfällen für weitere Erhebungen gestaltete. Dies korrespondiert mit

1Auf

meine diesbezüglichen Schlüsse werde ich im weiteren Verlauf dieser Abschlussdiskussion meiner Untersuchung noch eingehen (siehe Abschn. 8.4).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5_8

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

dem Auswertungsverfahren im Rahmen der Dokumentarischen Methode, bei dem die komparative Analyse der Interviews dem Prinzip die Suche nach „minimalen und maximalen Kontrasten“ (vgl. z. B. Nentwig-Gesemann 2013, S. 297) folgt und so schließlich den Weg in Richtung einer Typenbildung – im Falle der vorliegenden Studie: einer Typisierung der Phasen von Bildungsprozessen –weist. Letztere habe ich in Anlehnung an von Rosenbergs (2012) Überlegungen zu einer prozessanalytischen Typenbildung als Prozessanalyse von Habitustransformationsverläufen in methodischer Hinsicht reflektiert (siehe zur Methodik und Methodologie Kap. 4). Auf der Grundlage von sieben Interviews ließen sich auf dem beschriebenen Wege sieben Bildungsprozesse im Jugendalter und – anhand derselben Lebensgeschichten – vier spätere Bildungsprozesse im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Protestbewegungen rekonstruieren (siehe Kap. 5 und 6). In diesem, das vorliegende Buch abschließenden Kapitel sollen nun die wesentlichen Befunde meiner Studie – thematisch in fünf Unterkapitel gebündelt – zusammenfassend dargelegt werden. Ich beginne mit drei Abschnitten, die sich in chronologischer Reihenfolge an dem biografischen Kontakt meiner Interviewpartner*innen zu sozialen Bewegungen orientieren: dem biografischen Vorlauf und Beginn des Engagements (Abschn. 8.1), der Fortsetzung des Engagements (Abschn. 8.2) und schließlich dessen Neuausrichtung oder Beendigung (Abschn. 8.3). Diese Aufteilung ermöglicht es mir, die beiden zentralen empirischen Ergebnisse meiner Studie – die Typiken zum phasenhaften Verlauf der Bildungsprozesse im Jugendalter (im Zuge des Beginns des Engagements in sozialen Bewegungen) sowie jener Bildungsprozesse, die sich im Erwachsenenalter (als Neuausrichtung im Kontext von oder aber als Rückzug aus sozialen Protestbewegungen gestalten) –, mit Ergebnissen der Bewegungsforschung zusammenzubringen. Im Anschluss an die Darstellung der beiden Phasentypiken und deren Diskussion vor dem Hintergrund des Forschungsstandes folgt ein vier­ tes Unterkapitel, in dem ich Fragen, die das ‚Resultat‘ von Bildung – die transformierten Habitus – betreffen, diskutiere und noch einmal ethisch-normativen Fragen an die Bildungstheorie (Abschn. 8.4) aufgreife, um schließlich in einem letzten Schritt einen Ausblick auf anschließende Forschungsfragen (Abschn. 8.5) zu geben. Eine der Ausgangsfragen meiner Untersuchung, nämlich ob Bildung in sozialen Protestbewegungen eine besondere Form annimmt bzw. ob sie sich unter anderen Bedingungen und in anderer Gestalt vollzieht als Bildung in anderen Kontexten, lässt sich nur im Vergleich der von mir rekonstruierten Bildungsprozesse zu solchen, die sich in anderen Kontexten zutragen, beantworten. Den phasenhaften Ablauf von Bildungsprozessen haben bereits vor mir Nohl (2006b) und Rosenberg (2011) und – mit mir gemeinsam – Nohl, von Rosenberg und

8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

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Thomsen (2015a) rekonstruiert. In letztgenannter Studie, die neben dem Gegenstandsbereich der ‚kulturellen Pluralität‘ (vgl. Rosenberg 2016) auch jenen meines Samples der sozialen Bewegungen umfasste, griffen wir darüber hinaus auch auf die Empirie der soeben erwähnten Vorarbeiten zurück, sodass wir schließlich die typisierten Bildungsphasen von acht Fallgruppen – wovon die Bildungsprozesse im Jugendalter und im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Bewegungen jeweils eine Fallgruppe bildeten –2 miteinander verglichen und zu einer übergreifenden Phasentypik zusammenführten. Insbesondere für diese übergreifende Phasentypik von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) kann aufgrund des breiten Datenpools ein hohes Generalisierungsniveau konstatiert werden. In etwas abgeschwächter Form gilt dies auch für die einzelnen, fallgruppenbezogenen Phasentypiken, zeigten sich diese – also auch die hier präsentierten Phasentypiken meiner Untersuchung – im Kern doch gegenstandsbereichsübergreifend und über unterschiedliche Dimensionen (Geschlecht, Schulabschluss, Alter) hinweg miteinander kompatibel. Aspekte, die nicht in allen Bildungsprozessen in derselben Ausprägung zu finden waren, flossen in die übergreifende Typik von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) als Binnendifferenzierungen ein. In der weiteren Ausarbeitung der Phasentypiken für meine eigene Untersuchung habe ich solche Besonderheiten wieder zentral(er) gestellt, was neue Sichten auf die Phasen und Verläufe der Bildungsprozesse in sozialen Bewegungen mit sich brachte, der in hohem Maße generalisierten Typik des gemeinsamen, umfassenderen Forschungsprojekts jedoch nicht widerspricht. Im Folgenden gilt es nun, bei aller Übereinstimmung (auch) diese Unterschiede in den Blick zu nehmen. Während dieser sampleübergreifende Vergleich gegenstandsbezogene Besonderheiten der Prozesse im Kontext sozialer Bewegungen zu Tage treten lässt, wird der Vergleich der beiden Typiken meines Samples, d. h. der Prozessverläufe der Jugendlichen und der Erwachsenen im Kontext sozialer Bewegungen, lebensalterbezogene Spezifika der Bildungsprozesse aufzeigen.

2Bei den übrigen sechs Fallgruppen von Bildungsprozessen handelt es sich um verschiedene Altersgruppen aus verschiedensten Kontexten: Drei Fallgruppen stellen die Jugendlichen aus Nohls (2006b) Studie, die sich im Zuge ihrer z. Β. tänzerischen Aktionismen bilden, die erwachsenen Existenzgründer*innen in der Lebensmitte und die Senior*innen im Internet aus derselben Studie dar. Zwei weitere Fallgruppen setzen sich aus den bei von Rosenberg (2011) rekonstruierten Wandlungen und Transformationen des Habitus (junger) Erwachsener zusammen, die sechste Fallgruppe stellen die bereits erwähnten Interviews mit Menschen aus dem Kontext von ‚kultureller Pluralität‘ im jungen bis mittleren Erwachsenenalter.

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

8.1 Biografischer Vorlauf und Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen Ein gängiges Thema in der Bewegungsforschung ist die Frage danach, wie aus einzelnen Akteur*innen kollektive Akteur*innen sozialer Bewegungen werden (siehe Kap. 2). Wenngleich die traditionelle Bewegungsforschung einzelne Akteur*innen und ihre Biografien über weite Strecken ignorierte, so tauchen sie doch zumindest unter dem Thema der Möglichkeit ihrer ‚Rekrutierung‘ für das Engagement in sozialen Bewegungen immer wieder auf (beginnend mit McCarthy und Zald 1977). Allerdings wurde die Gewinnung einzelner Akteur*innen für die Ziele der sozialen Bewegung in Zalds und McCarthys Ressourcenmobilisierungsansatz maßgeblich als rationaler Akt einer KostenNutzen-Abwägung betrachtet und auch im Forschungsansatz der ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ erscheint der Beginn des Engagement zuvorderst als rationale Antwort auf strukturelle Bedingungen und nur am Rande durch „kulturell-persönliche, mehr nach innen gerichtete Interessen“ (Hellmann 1998b, S. 15) geprägt (siehe hierzu Abschn. 2.2). Studien der emotionssoziologischen Bewegungsforschung (vgl. z. B. Jasper 1997; Flam 2005; Benski 2011 und Abschn. 2.3.1.2 in der vorliegenden Studie) konzipieren den Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen im Unterschied zur traditionellen Bewegungsforschung hingegen als Prozess, in dem nicht nur rationale, sondern auch und vor allem vorreflexive Aspekte – hier als Emotionen gefasst – von Bedeutung sind. Den Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen fassen z. B. Benski und Langman (vgl. 2013, S. 534) unter dem Aspekt der Entledigung des emotionalen Bandes, das die Akteur*innen an ein System binde. Ihre Annahme, dass die Außerkraftsetzung bisheriger Regeln und Normen eine emotionale Transformation ermögliche, teilt auch Yang (2000a), der in einer sozialen Bewegung einen ‚liminalen‘ sozialen Raum (vgl. ebd., S. 383) sieht, in dem eine zeiträumliche Trennung vom bisherigen Leben Möglichkeiten emotionaler Transformation eröffne. Flam (1993, S. 85) kritisierte bereits früh, die Bewegungsforschung würde oftmals „‚vergessen‘“ oder „als gegeben betrachten“, dass Akteur*innen mit „bereits bestehenden individuellen und kollektiven Identitäten“ auf eine Bewegung treffen und diese den Protest dann z. B. behinderten oder radikalisierten (vgl. ebd.). Auch Miethe (vgl. 1999, z. B. S. 46) macht aus biografietheoretischer Perspektive die Bedeutung des biografischen Ausgangspunkts des Engagements deutlich. Selbst etwas erstaunt darüber, „[a]uf welche Ebenen sich politisches Handeln erstreckt“ (ebd., S. 13), verdeutlicht sie die Bedeutung biografischer Erfahrungen im politischen Engagement – hier gemeint sind Erfahrungen mit den Angehörigen anderer Generationen, in denen zeithistorische Kontexte über ihre eigentliche

8.1  Biografischer Vorlauf und Beginn des Engagements in sozialen …

473

Aktualität hinaus eine Wirkung entfalten. In ihrer Reflexion des Verlaufs ihrer eigenen Forschungsaktivität zu Frauen aus der DDR-Opposition gibt Miethe an, selbst anfangs nicht erwartet zu haben, „dass diese Arbeit sich mit den intergenerationellen Folgen des Nationalsozialismus beschäftigen würde“ (ebd.). Davon, dass Akteur*innen sozialer Bewegungen ihre biografischen Erfahrungshintergründe nicht nur ‚im Gepäck‘ haben, sondern an diese in der einen oder anderen Form im Protest anschließen, gehen erziehungswissenschaftliche und biografietheoretische Ansätze der Bewegungsforschung aus (siehe Abschn. 3.2). Dies lässt sich anhand der Lebensgeschichten meiner Interviewpartner*innen bestätigen. Meine empirischen Rekonstruktionen können zudem deutlich zeigen, dass der Beginn des Engagements – zumindest im frühen Jugendalter von ca. 13 bis 16 Jahren, in dem alle sieben Interviewten den Zugang zu sozialen Bewegungen fanden – nicht durch rational-reflexive Entscheidungen geprägt ist. Aber auch bei den Bildungsprozessen der Erwachsenen, die sich im Zuge einer Neuausrichtung ihres Engagements im Rahmen sozialer Bewegungen oder aber in der Abkehr vom Engagement in sozialen Bewegungen vollziehen, stehen keinesfalls die rationalen Aspekte im Vordergrund. Die Akteur*innen, gleich welchen Lebensalters, legen vielmehr zunächst einmal eine a-rationale, zuvorderst durch die vorreflexive Handlungspraxis geprägte Offenheit für Neues an den Tag, die in allen Fällen der Bildungsprozesse im Jugendalter und mit einer Ausnahme auch in den Bildungsfällen im Erwachsenenalter vor dem Hintergrund „sozialer Lockerungen“ (Nohl et al. 2015a, S. 41) entsteht, wie ich im nun ausführlicher darstellen werde.

8.1.1 Biografische Erfahrungshintergründe der Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen In den Erzählungen aus der Kindheit und Jugend finden sich biografische Erfahrungen, an die die Akteur*innen meines Samples sowohl im adoleszenten als auch im adulten Bildungsprozess (wieder) anknüpfen (siehe Abschn. 5.2). Während bei den Bildungsprozessen im Jugendalter als biografische Erfahrungshintergründe vor allem zwei thematische Komplexe, sowohl in ihrer gelungenen Variante als auch in ihrer prekären Form, fallübergreifend ins Auge springen – soziale Einbindung im Sinne eines sozialen Zugehörigkeitsgefühls sowie der Grad an (relativer) Freiheit bzw. Selbstbestimmung –, so sind diese in den adulten Bildungsprozessen zwar weiterhin Thema, hinzu kommen aber andere Themenkomplexe oder thematische Schwerpunkte wie Authentizität und (gesellschaftliche) Solidarität.

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

In den Erzählungen aus der Kindheit und Jugend meiner Interviewpartner*innen sind fallübergreifend Momente von sozialer Desintegration, Marginalisierung und/oder Exklusion im Vorlauf der adoleszenten Bildungsprozesse zu rekonstruieren. Diese Erfahrungen werden von den Interviewten rückblickend nicht nur überwiegend negativ konnotiert, sie haben auch eine unmittelbare, ‚akute‘ Bedeutung für den Beginn der Bildungsprozesse, wirken sie doch destabilisierend und schaffen „soziale Lockerungen“ vom Herkunftsmilieu, die „die Betroffenen frei [machen] für das Neue, das nunmehr in ihr Leben eintritt“ (Nohl et al. 2015a, S. 41).3 Dem gegenüber stehen, nicht in allen, doch immerhin in vier von sechs Interviews, in denen Schilderungen zur Kindheit vorliegen, aber auch positiv konnotierte biografische Erfahrungen von sozialer Einbindung, die sie in anderen Kontexten oder zu anderen Zeitpunkten ihrer Kindheit und Jugend gemacht haben. An diese können die jungen Akteur*innen in den Bildungsprozessen dergestalt anknüpfen, dass sie in deren Zuge soziale Anschlüsse und Praktiken finden, in denen Homologien zu den positiv erinnerten biografischen Erfahrungen zu konstatieren sind. Der Themenkomplex der ‚Freiheit‘ bzw. ‚Selbstbestimmung‘ kommt ebenfalls sowohl in negativ konnotierter Art und Weise – als Erfahrungen einseitig machtvoller und wenig fürsorglicher Autorität – als auch in Form von Erinnerungen an das Gefühl einer kindlichen Freiheit in der Peergroup, auf das sich die Betroffenen in positiver Weise beziehen, zum Tragen. In zwei Fällen, in denen weder positiv konnotierte Erfahrungen einer kindlichen ‚Freiheit‘ noch Beispiele gelungener sozialer Einbindung rekonstruiert werden konnten, treten derartige Erfahrungen schließlich mit dem Beginn der Bildungsprozesse ins Leben der Sich-Bildenden. In allen anderen Lebensgeschichten ist zu rekonstruieren, wie die Akteur*innen in der kollektiven Praxis, an die sie sich alsbald im Zuge ihres jugendlichen Bildungsprozesses anschließen oder die sie in diesem Rahmen gemeinsam mit anderen ausbilden, sowohl an die positiv konnotierten Erfahrungsgehalte anknüpfen können als auch an die negativ konnotierten. Letztere finden in Form einer biografischen Sensibilisierung für die negativ erlebte Thematik – als deren Ablehnung – Eingang in die Bildungsprozesse; konkret: als Sensibilisierung für soziale Ungleichheit, für eine fremdbestimmte (auch räumliche) Begrenzung der eigenen Möglichkeiten oder – in mehreren Fällen – für die Gräueltaten im Nationalsozialismus. Letztgenannte Sensibilisierung ist 3Die

Unterscheidung in ‚akut‘ und ‚latent‘ destabilisierende biografische Hintergründe habe ich erst in Kap. 6 in Bezug auf die Erfahrungshintergründe, an die in den adulten Bildungsprozessen angeschlossen wird, eingeführt, sie lässt sich aber ebenso auf die biografischen Hintergründe der Bildungsprozesse im Jugendalter anwenden.

8.1  Biografischer Vorlauf und Beginn des Engagements in sozialen …

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­ aßgeblich mitgeprägt von der ‚Nicht-Auseinandersetzung‘ mit dem Thema m im Herkunftsmilieu. Die grobe Richtung der neuen, im Bildungsprozess ausgebildeten Orientierungen, wird also sowohl von diejenigen Erfahrungen, von denen die Akteur*innen sich distanzieren, als auch von dem, worauf sie sich in positiver Weise beziehen, gewiesen. Beides kann das bilden, was Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 264) als eine „gewisse Sensibilität für das Metier, in dem sich später der Bildungsprozess entfalten wird“, bezeichnen. Zwar tragen sich die von mir rekonstruierten Bildungsprozesse im Erwachsenenalter in denselben Lebensgeschichten zu wie jene im Jugendalter, doch sind es zum Teil andere biografische Erfahrungshintergründe aus der Kindheit, die in den adulten Bildungsprozessen relevant werden (siehe Exkurse im Abschn. 6). Der Umstand, dass in manchen Biografien im Bildungsprozess im Erwachsenenalter nun Erfahrungen aus der Kindheit zentral werden, die im adoleszenten Bildungsprozess keine oder nur eine randständige Rolle gespielt hatten, verweist auf die Mehrdimensionalität des Habitus und deren Bedeutung für Bildungsprozesse und stützt Nohls (2006b) Analyse eines ‚Wieder-Aufsteigens‘ von in der Biografie bzw. im Habitus bereits angelegten Erfahrungen, die bislang jedoch keinen (relevanten) Eingang in die Handlungspraxis gefunden hatten. In diesem Sinne wohnt dem Habitus selbst also stets das (Negations-)Potential für seine erneuerte Transformation inne. Im Vorlauf der adulten Bildungsprozesse spielen auch wieder vielfältige milieubezogene Desintegrationserscheinungen, die sich diesmal auf das Bewegungsmilieu beziehen, eine Rolle für den Beginn der neuerlichen Bildung. Insbesondere bei jenen, die sich im Laufe des adulten Bildungsprozesses aus der sozialen Bewegung zurückziehen, steht am Beginn des Prozesses das Ende diverser Handlungsvollzüge aus dem Bewegungskontext, wovon gleich mehrere Erfahrungsdimensionen betroffen sind. So entstehen auch hier wieder ‚soziale Lockerungen‘ als unmittelbarer Hintergrund der Offenheit der beiden Akteurinnen für neue Anschlüsse und Praktiken. Zudem erhalten latente Erfahrungshintergründe aus der Kindheit (und in einem Fall auch dem jungen Erwachsenenalter), die im Vorlauf der Bildungsprozesse nicht als akut destabilisierend gelten mussten, jedoch in der Biografie über eine längere Dauer hinweg ‚mitschwangen‘, in den adulten Bildungsprozessen (neue) Relevanz. Hierbei geht es um Themen der Authentizität und des Selbstwerts – konkret: das Recht und Selbstverständnis, lesbisch zu sein, sowie die Korrektur eines negativen, lernbezogenen Selbstbildes – oder aber, ähnlich wie in den jugendlichen Bildungsprozessen, um biografische Sensibilitäten für wertbezogene Thematiken, die auf der Grundlage negativ konnotierter Erfahrungen entstanden sind. Letztere lassen sich konkretisieren als Sensibilisierungen für das Thema der Solidarität – in negativer Abgrenzung vom

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

als ‚opportunistisch‘ gekennzeichneten Verhalten im Herkunftsmilieu, aber auch vom nichtfürsorglichen Verhalten im Herkunfts- und Bewegungsmilieu) – sowie als eine (Ausweitung der) Sensibilisierung für soziale Ungleichheit und pauschale Differenzlinienziehungen – in Abgrenzung von der distinguierenden Praxis im Herkunfts- und Bewegungsmilieu. So lassen sich in meinen empirischen Ausarbeitungen zahlreiche Zusammenhänge zwischen den biografischen Vorerfahrungen der Akteur*innen, ihrem Anschluss an soziale Bewegungen und den in diesem Kontext sich vollziehenden Bildungsprozessen aufzeigen. Während Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) die Ressourcen von Bildung in ihrem Zusammenspiel in systematischabstrahierter Form herausgearbeitet haben4, kann ich hingegen anhand konkreter Themenkomplexe das Potential nicht unmittelbar politischer Erfahrungshintergründe für die Ausbildung politischer Orientierungen aufzeigen, ähnlich wie dies Morvarid Dehnavi (2013) für die Kontexte der „Familie“, „Schule“ oder „Peer-group“ (ebd., S. 350) getan hat. In den biografischen Erfahrungshintergründen sind die politischen Praktiken und die damit verbundenen Orientierungen, die sich im Zuge der Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegung entfalten, fundiert, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar politisch konnotiert sind (vgl. hierzu auch Nohl 2009). Es wohnt ihnen doch – so kann man mit Blick auf die biografischen Erfahrungshintergründe der Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen konstatieren – immer auch ein Potential für eine Politizität inne. Der Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen und der Beginn von Bildung, die sich in diesem Kontext vollzieht, treffen also auf biografische Vorerfahrungen, die für das Verständnis der Prozesse von Bedeutung sind. Mit dem Beginn des Bildungsprozesses ist aber in vielen Fällen adoleszenter Bildung nicht unmittelbar auch schon der Beginn des Engagements in sozialen Bewegungen bezeichnet. Der Vorlauf des Engagements in sozialen Bewegungen und sein schlussendlicher Beginn erstrecken sich hingegen über die ersten drei Phasen der adoleszenten Bildungsprozesse, wie im Folgenden deutlich werden wird.5 4Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) haben die biografischen Erfahrungshintergründe von Bildungsprozessen dahin gehend systematisch betrachtet, dass sie sie unter der Perspektive auf ihre Funktion als „Ressourcen von Bildung“ (ebd., S. 74) rekonstruiert haben (vgl. auch Nohl 2011; Nohl und Rosenberg 2012) und dabei das Zusammenspiel der verschiedenen biografischen „Erfahrungskomplexe“ (Nohl et al. 2015a, S. 263) – die sie als „Gegenmatrix“ (ebd.) und als „Positiv“ (ebd., S. 264) kennzeichnen und die „erst in ihrer Überlagerung zu Bildungsressourcen werden“ (ebd., S. 82) – herausgearbeitet. 5Bei den adulten Bildungsprozessen meines Samples gibt es einen solchen Vorlauf des Bewegungsengagements nicht, da die Sich-Bildenden am Ausgangspunkt des Prozesses ja bereits Teil einer sozialen Bewegung sind.

8.1  Biografischer Vorlauf und Beginn des Engagements in sozialen …

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8.1.2 Die ersten drei Phasen adoleszenter Bildungsprozesse im Kontext des Vorlaufs und Beginns des Engagements in sozialen Bewegungen Mit den ersten drei Phasen des adoleszenten Bildungsprozesses lässt sich zugleich die Einfindung in eine soziale Bewegung beschreiben – wie ich den Prozess angesichts dessen, dass es sich hier zu großen Teilen um ein „Finden ohne bewußtes Suchen“ (Schäffer 1996, S. 103) handelt, in Anlehnung an die von Schäffer untersuchten „stilistischen Einfindungsprozesse“ (ebd.) bezeichne. Die Jugendlichen legen hier zunächst einmal eine unbestimmte Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation (siehe hierzu ausführlich Abschn. 5.3.1) an den Tag und zielen dabei in den meisten Fällen noch nicht unmittelbar auf die Partizipation an einer sozialen Bewegung ab. Erst in der Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis (siehe Abschn. 5.3.2) beginnen mehrere Akteur*innen, ihre neue Praxis und Orientierung als ‚politisch‘ zu erfahren und im größeren Rahmen einer sozialen Bewegungen zu verorten; ein Schritt, den spätestens in der Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis (siehe Abschn. 5.3.3) schließlich alle jugendlichen Akteur*innen vollziehen. Die Phase der unbestimmten Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation Am Beginn der Bildungsprozesse, die sich im Zuge der adoleszenten Einfindung in eine soziale Bewegung zutragen, steht in allen sieben Lebensgeschichten eine Offenheit für neue, Anschlüsse und Praktiken, die sich konkretisieren lässt als eine unbestimmte und in der Negation gelagerte Offenheit für kollektive Anschlüsse oder Praxisformen. Auf die verschiedenen spezifizierenden Aspekte möchte ich im Folgenden ausführlicher eingehen. Als unbestimmt und im Kontext von Negation gelagert kann die Offenheit der jugendlichen Akteur*innen meines Samples dahin gehend gelten, dass sich ihre Offenheit lediglich über eine Ablehnung des im Elternhaus und Herkunftsmilieu Tradierten, von gesellschaftlichen Normen und/oder der Normen derjenigen Milieus, mit denen sie durch Umzüge oder Schulwechsel konfrontiert werden, bestimmen lässt, die Jugendlichen aber an diesem Punkt des Prozesses noch

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keine klaren oder gar reflektierten Ziele verfolgen. Auch Nohl, von ­Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 8) konstatieren für den Beginn der Bildungsprozesse den ‚Aufbau‘ eines „Negationspotentials“ – ein Begriff, den sie in Anlehnung an Marotzki verwenden, für den Negation ein zentrales Moment von Bildungsprozessen ist und der dabei sogar so weit geht, „Subjektivität […] überhaupt nur über das Vermögen, negieren zu können, zu verstehen“ (Marotzki 1990, S. 193). Nohl, von Rosenberg und Thomsen arbeiten Negation hier empirisch als allgemeinen Bestandteil aller von ihnen ausgewerteten Bildungsprozesse heraus, betonen jedoch, dass am Anfang von Bildung lediglich ein „Negationspotential“ (Nohl et al. 2015b, S. 3; Kursivsetzung S. T.) bestehe, die Negation also noch nicht umfassend genug sei, um hier bereits von vollendeter Bildung zu sprechen. Während aber in ihrer übergreifenden Phasentypik das Negationspotential bereits in der Hinwendung zu etwas Neuem gesehen wird – quasi als handlungspraktische Negierung des vorher Dagewesenen –, muss für die Art und Weise des Negationspotentials, wie es in den adoleszenten Bildungsprozessen meines Samples eine Rolle spielt, eine Besonderheit markiert werden, die sich als „Inversion“ (Nohl et al. 2015a, S. 191) bezeichnen lässt.6 Im Unterschied zu Bildungsprozessen, die sich in anderen Metiers vollziehen (vgl. ebd. und Nohl 2006b), weist die Offenheit der von mir untersuchten Akteur*innen für neue Anschlüsse trotz ihrer relativen Unbestimmtheit doch zumindest in eine Richtung, nämlich in jene ‚inversive‘, dem Tradierten diametral entgegenstehende. Hier wird eine Spezifik der Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen deutlich – die jedoch, so wird sich an späterer Stelle noch zeigen, lediglich die Bildungsprozesse der Jugendlichen betrifft. Eine derartige Spezifik der biografischen Prozesse von Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen im Kontext sozialer Bewegungen deutet sich auch in einer Arbeit an, die zwar nicht mit dem Bildungsbegriff arbeitet, die u. a. aber ebenfalls biografische Diskontinuitäten

6Die

‚Inversion‘ stellt eine spezifische Form der Negation dar, die sich als radikale Ablehnung des Tradierten bzw. des im Milieu Dominanten präsentiert, „bei der das Tradierte umgekehrt – in sein Gegenteil verkehrt – wird“ (Nohl et al. 2015a, S. 191). Die Autoren und die Autorin fassen die „Inversion“, den lerntheoretischen Einbettungen der Studie entsprechend, als „Lernorientierung“, d. h. als eine habitualisierte Art und Weise, sich einem Lerngegenstand zu nähern (vgl. ebd., S. 163 ff.), die in einigen Fällen letztlich den Bildungsprozess (mit-) ermöglicht und ihm eine spezifische Richtung gibt. Diese ist typisch für ‚meine‘ Fallgruppe, die Jugendlichen im Kontext sozialer Bewegungen, sie wurde vereinzelt aber auch anhand von Bildungsfällen aus anderen Fallgruppen herausgearbeitet.

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(der Handlungsorientierungen) in den Blick nimmt: Dehnavi (2013) konstatiert in ihrer Studie, mit der sie „biographische Wege zum Studentinnenprotest von ‚1968‘ und zur Neuen Frauenbewegung“ in den Blick nimmt, für diejenigen Lebensgeschichten, bei denen die Politisierung an der Universität im Kontext der Bewegung der 68er mit einer biografischen Diskontinuität einhergeht, bereits für die voruniversitäre Lebensphase – den Vorlauf des Engagements in der sozialen Bewegung also – eine Distanzierung „von der erlebten politisch-relevanten Alltagspraxis der Eltern“ (ebd., S. 261). Dies bezeichnet Dehnavi als einen – ihrer Wortwahl zufolge durchaus radikal anmutenden – „Bruch“ (ebd., S. 273) mit den vorigen sozialen Einbindungen. Die Offenheit der Jugendlichen aus meinem Sample der sozialen Bewegungen ist aber nicht nur unbestimmter Art und weist in Richtung einer Negation, sie bezieht sich zudem ausschließlich und in allen Fällen auf kollektive Kontexte. Dies trifft auch auf die Jugendlichen aus Nohls (2006b) Studie zu, für die eine „unstrukturierte Kollektivität“ in „jugendlichen Aktionismen“ (ebd., S. 172) als typisch gelten kann. In den anderen Fallgruppen aus dem übergreifenden Sample von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 35 ff.) beginnt der Bildungsprozess hingegen als individuell gerahmter Prozess, in dessen Zuge die Akteur*innen sich in „individuellen Handlungsvollzügen“ (ebd., S. 36) mit neuen Praktiken auseinandersetzen.7 Anhand des Vergleichs der verschiedenen Fallgruppen kann hier ein lebensaltersbezogener Unterschied konstatiert werden, da die Phase, mit der der Bildungsprozess beginnt, „insbesondere dort kollektiv strukturiert“ ist, „wo es sich […] um Bildungsprozesse in der Adoleszenz handelt“ (ebd., S. 37). Es ist in Bezug auf mein Sample also hinsichtlich der kollektiven Ausrichtung dieser ersten Phase der Bildungsprozesse einerseits ein jugendspezifisches Moment zu konstatieren. Andererseits überlappt dieses jugendspezifische Moment mit der gegenstandsbezogenen Spezifik der sozialen Bewegungen, insofern sich auch in den beiden adulten Bildungsprozessen im

7Zwar

treffen Befragte, die anderen Fallgruppen zuzuordnen sind (so z. B. die religiösen Konvertiten aus der Fallgruppe der kulturellen Pluralität) auch auf kollektive Zusammenhänge, jedoch werden sie dort als Novizen behandelt und es kommt zu keinem kollektiven Aktionismus, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass diese Personen postadoleszente, junge Erwachsene sind. Eine wichtige Ausnahme, auf deren Relevanz ich noch zu sprechen kommen werde, stellen die zwei bereits erwähnten Erwachsenen aus ‚meinem‘ Sample dar, deren adulte Bildungsprozesse sich im Rahmen einer Fortsetzung ihres Engagements in sozialen Bewegungen vollziehen.

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Zuge der Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen eine kollektive Strukturierung des Prozessbeginns rekonstruieren lässt.8 Vor dem theoretischen Hintergrund von Bildung als Habitustransformation (siehe Abschn. 3.2.3.2) habe ich die Phase der unbestimmten Offenheit für neue, kollektive Anschlüsse und Praktiken im Kontext von Negation, mit der der Bildungsprozess beginnt, als eine Lockerung bzw. Dynamisierung des habituellen Gefüges der jungen Akteur*innen interpretiert. Die bis zu diesem Zeitpunkt auf der Grundlage von tradiertem Wissen aufgebauten Habitus der jungen Akteur*innen geraten an diesem Startpunkt von Bildung in Bewegung und es entstehen erste ‚Freiräume‘ in der Struktur des Habitus, die den Weg für neue Erfahrungen bereiten, ohne dass zu diesem Zeitpunkt schon klar wäre, wie diese genau aussehen werden.9 Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis Die Offenheit für neue soziale Anschlüsse bringt die jungen Akteur*innen in neue soziale Kontexte, in denen es zur Fortsetzung der Dynamisierung ihrer Habitus kommt. Der Anschluss an eine Gruppe bzw. der Zusammenschluss zu einer Gruppe gestaltet sich in zahlreichen Lebensgeschichten noch keineswegs als gezielter und unmittelbarer Anschluss an eine soziale Bewegung. Im Gegenteil, die Jugendlichen partizipieren nun zwar entweder in erkundender Art und Weise an der kollektiven Praxis jener Gruppen, denen sie sich angeschlossen haben, oder aber es formiert sich eine neue Gruppe und Gruppenpraxis über ihre gemeinsame, experimentelle und oftmals aktionistische Handelspraxis neu; weder die neuen Orientierungen noch die neue Praxis können dabei aber in allen Fällen schon als ‚politisch‘ gelten bzw. werden von vielen Akteur*innen (noch) nicht so erfahren. Der Begriff des „Aktionismus“, wie er im Kontext einer Jugendstudie entwickelt wurde (vgl. Bohnsack et al. 1995), bezeichnet kollektive Handlungen, die „situationsorientiert, diskontinuierlich“ und „eigendynamisch“ (Gaffer und Liell 2013, S. 210) strukturiert sind, also ein Handeln darstellen, das der P ­ lanung

8Dies

sei hier nur schon angemerkt, ich werde darauf an späterer Stelle, wenn ich die Bildungsprozesse im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Bewegungen diskutiere, noch einmal eingehen. 9Letzteres ist der Grund, warum die erste Phase des Bildungsprozesses von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 34) unter dem Namen „Phase des nichtdeterminierenden Beginns“ (ebd.) gefasst wird.

8.1  Biografischer Vorlauf und Beginn des Engagements in sozialen …

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und Reflexion entbehrt und teils erst in der Situation selbst neu entsteht. Die hohe Bedeutung kollektiver Aktionismen in Peergroups bei der Orientierungsbildung im Jugendalter wurde in zahlreichen Studien mit der Dokumentarischen Methode rekonstruiert (vgl. z. B. Bohnsack und Nohl 2001; Nohl 2006b; Pfaff 2006; von Rosenberg 2009). Diesen Befund können meine empirischen Ergebnisse bestätigen: Auch die kollektive Handlungspraxis der Jugendlichen meines Samples ist zu großen Teilen von kollektiven Aktionismen geprägt, die sich in dieser Phase der Bildungsprozesse vom experimentellen Drogenkonsum und gemeinsamen Musikhören oder Musizieren, über die Inszenierung von Schlägereien bis hin zu bereits stärker politisch verorteten Protestaktionen und Demonstrationsbesuchen erstrecken. Es zeigen sich hierbei sowohl Praktiken körperlicher Konfrontation – wie schon bei den Hooligans (vgl. Bohnsack et al. 1995) –, ästhetische Praktiken – ähnlich derjenigen von Rappern (Weller 2003) und Breakdancern (Nohl 2001, 2006b) – sowie solche, die dem Spektrum der politischen Handlungen zuzuordnen sind, wie Pfaff (2006, S. 223 ff.) sie für Jugendliche aus der Gothic-Punk-Szene im Zuge der aktionistischen Teilnahme an Demonstrationen rekonstruiert hat. In diesen kollektiven Aktionismen bilden sich neue konjunktive Erfahrungsräume, in denen weitgehende habituelle Übereinstimmung hergestellt (vgl. Bohnsack 1997, S. 10) bzw. in der für den Beginn des Bildungsprozesses bestimmenden kollektiven Negation gefunden wird. In der Vergemeinschaftung ihrer (negationsreichen) Distinktionsbemühungen und in der Suche nach Freiheiten jenseits bestimmter Normen liegt in dieser Phase dann auch die Gemeinsamkeit der Praxis der jungen Akteur*innen. Ihre neue Praxis erstreckt sich von adoleszenten ‚Kontrakulturen‘ bis hin zu einer explizit politisch-oppositionell positionierten Gruppenpraxis. Während mit Kontrakultur in Anlehnung an Yinger (1982) die Konflikthaftigkeit der Praxis der Jugendlichen zum gesellschaftlichen ‚Mainstream‘ bezeichnet ist, ohne dass sie von den betreffenden jugendlichen Akteur*innen aber bereits explizit als politisch gekennzeichnet wird, findet die explizit(er) politisierte Praxis der anderen Jugendlichen bereits im Rahmen sozialer Protestbewegungen oder ihnen nahestehenden politischen Organisationen statt und wird von ihnen als ‚politisch‘ begriffen. Alle hier beschriebenen Gruppen haben eine überschaubare Größe, die den Akteur*innen eine gemeinsame Interaktion und Handlungspraxis auf der Basis von Face-to-Face-Beziehungen ermöglicht. Die Grenze zwischen ­jugendkulturellen Anschlüssen und (explizit) politischen Anschlüssen gestaltet sich in vielen Fällen fließend. Aber auch die kollektive Praxis derjenigen Jugendlichen, die diese bislang (noch) nicht politisch rahmen, entbehrt – wie dies auch Nicolle Pfaff (2006)

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konstatiert – nicht notwendiger Weise einer gewissen Politizität. Pfaff arbeitet in ihrer Studie, in der sie die Ergebnisse eines standardisierten Jugendsurveys und mit der Dokumentarischen Methode ausgewerteter Gruppendiskussionen (mit Jugendlichen aus Gothic-Punk- und Hip-Hop-Gruppen) trianguliert, heraus, dass „für einen erheblichen Teil der Jugendlichen die Orientierung an sowie die Rezeption und Ästhetik eines jugendkulturellen Stils entlang politischer Konfliktlinien verläuft“ (ebd., S. 281). Für fast die Hälfte der Jugendlichen sei im Jugendsurvey eine „Verschränkung von ästhetischen und politischen Praxen in der Jugendkultur“ festgestellt worden. Mittels ihrer ästhetischen Praxis wie z. B. „Kleidungsstil und Musikgeschmack“ würden die Jugendlichen, so Pfaff (ebd., S. 284), „über kollektive Aktionismen und Selbststilisierungen Positionen zu gesellschaftlichen Problemen“ (ebd.) einnehmen. Auch wenn hier in den wenigsten Fällen eine explizite Nähe zur institutionalisierten Politik vorlag, so stellten die jugendkulturellen Vergemeinschaftungen – einem weit gefassten Verständnis von Politik zufolge, das auch „die nichtstaatliche soziale Sphäre und deren Mikropolitik“ (ebd., S. 289) berücksichtigt – dennoch „politische Akteure“ (ebd., S. 285) dar, weil ihre Praktiken eine „spezifische Form jugendlicher Gesellschaftskritik und jugendlichen Protests“ (ebd., S. 296) ausdrückten. Obwohl die noch jugendkulturell gerahmte, oftmals experimentelle Praxis auch vieler Jugendlicher meines Samples also bereits entlang basaler politischer Konfliktlinien verläuft, ist davon auszugehen, dass an dieser Stelle des Prozesses „die Bedeutung dessen, was hier exploriert wird, den Akteuren noch nicht klar ist“ (Nohl et al. 2015a, S. 22). Die jungen Akteur*innen, deren Bildungsprozesse sich – bei manchen früher, bei anderen später – im Rahmen eines Engagements in sozialen Bewegungen vollziehen (werden), partizipieren in dieser Phase ihrer Bildungsprozesse an einer neuen Praxis, ohne anfangs bereits vollumfänglich deren konjunktives Wissen zu teilen. Oder sie wirken an der Entstehung einer neuen Praxis mit, ohne dass sie selbst schon genau wüssten, wohin sich diese entwickeln wird. Ähnlich wie in einigen der Bürgerinitiativen, die Naumann (2008, S. 353) untersucht hat, entsteht auch bei den von mir interviewten Akteur*innen in der kollektiven Praxis „etwas Neues“, das „niemand zuvor geplant hatte“. Diese Phase hat also erkundend-experimentellen Charakter, was auch Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 48) mit der Bezeichnung dieser zweiten Phase des Bildungsprozesses als „Phase der experimentellen, ungerichteten Erkundung“ (ebd., S. 48) betonen. Ich habe hingegen den Aspekt der E ­ ntstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten in den Namen der zweiten Phase der Bildungsprozesse aufgenommen, um auf diese Weise hervorzuheben, dass in dieser Phase die neue Handlungspraxis – trotz ihres erkundend-experimentellen Charakters –, bereits neue Orientierungsqualitäten für die jugendlichen Akteur*innen im

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­ ontext sozialer Bewegungen bereithält. In allen jugendlichen Bildungsprozessen K meines Samples dokumentiert sich, dass in der vergemeinschafteten Negation – in einer vorreflexiven, handlungsbasierten Art und Weise – bereits neue Orientierungen entstehen. Die neu gefundenen oder neu entstandenen (und weiterhin im Entstehen begriffenen) Handlungspraktiken ersetzen hier alte Handlungsvollzüge – und mit ihnen verbundene Orientierungen – fast unmittelbar. Der neuen Handlungspraxis kommt also bereits in dieser Phase eine wichtige, aber eben implizite Orientierungsfunktion zu; sie habt alte Orientierungen fast unmittelbar abgelöst und tangiert nun den Habitus. Während das, was ich hier als Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten respektive Orientierungsqualitäten bezeichnet habe, im übergreifenden Sample von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) oftmals erst an späterer Stelle des Bildungsprozesses identifiziert wurde, ist in den Phasenverläufen der von mir rekonstruierten Bildungsprozesse eine Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten unmittelbar mit den ersten Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis verknüpft. Dies widerspricht der fallgruppenübergreifenden Phasentypik jedoch nicht, da die Nohl et al. (2015a, S. 63) diesem binnendifferenzierenden Unterschied dadurch Rechnung getragen haben, dass sie die „Relevanzverschiebung“ an „zwei unterschiedlichen Stellen des Bildungsprozesses“ (ebd.) und zudem „nicht in allen Fällen als eigenständige Phase“ (ebd., S. 22) rekonstruiert haben. Während die neue Handlungspraxis in einigen Fallgruppen zunächst lediglich beiläufigen Charakter aufwies, erfährt sie in anderen, so auch in den von mir rekonstruierten jugendlichen Bildungsprozessen, von Anfang an „eine starke Fokussierung“ (ebd., S. 63). Warum die neue Handlungspraxis im Kontext sozialer Bewegungen besonders dazu geeignet sein scheint, eine neue Orientierungsrelevanz unmittelbar zu Beginn der neuen Vergemeinschaftungen und ihrer Handlungspraktiken zu entfalten, darüber kann nur spekuliert werden. Dies könnte u. a. an der kollektiven Einbindung der Prozesse und dem unmittelbaren Entstehen neuer konjunktiver Erfahrungsräume liegen, in denen die Jugendlichen zahlreiche Formen gegenseitiger, positiv verstärkender sozialer Bestätigung der neuen Orientierung finden (auf die ich gleich noch zu sprechen komme). Zudem könnte das hohe Maß an ‚Negation‘ des Tradierten den Prozess beschleunigen, steht dies doch im Zeichen eines a­ usgeprägten Impulses, sich vom Herkunftsmilieu zu entfernen und eigene Orientierungen auszubilden. Formen sozialer Bestätigung der neu entstehenden Orientierungen und Handlungspraxis finden sich bereits in dieser zweiten Phase der jugendlichen Bildungsprozesse, ziehen sich jedoch – teils in anderer Gestalt – auch durch die folgenden beiden Phasen, weshalb ich den Aspekt der sozialen Bestätigung als

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eine Komponente verschiedener Phasen verstehe. Bei der sozialen Bestätigung, in der, wie Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 22) dies fassen, die „untersuchten Personen das Neue im Lichte der Reaktionen anderer Menschen einzuschätzen und zu bewerten“ suchten, handelt es sich sowohl um Formen konjunktiver sozialer Bestätigung, d. h. von gegenseitiger positiver Bestätigung der neuen Orientierung im konjunktiven Erfahrungsraum der Gruppe von Gleichgesinnten, als auch um negativ gelagerte soziale Reaktionen von Nicht-Gleichgesinnten, die sich angesichts dessen, dass die Jugendlichen sich im Konflikt zu ihnen verorten, jedoch ebenfalls orientierungsbestätigend auswirken. Die soziale Bestätigung erschöpft sich, ähnlich wie auch Nohl (2006b) dies für einige Bildungsprozesse der Jugendlichen seiner Studie herausarbeitet, nicht in einer positiven Reaktion anderer Mitglieder der Gesellschaft. Auch „negative Reaktionen“ (ebd., S. 134) können die Jugendlichen „durchaus als Bestärkung wahrnehmen“ (ebd.). Darauf weisen auch Matuschek et al. (2011, S. 43) in Bezug auf die von ihnen untersuchte Praxis jugendlicher Antifa-Gruppen hin. In der Praxis dieser Bewegung (zu der auch ein Teil meiner Befragten gehört) sehen sie eine enge Verbindung zwischen „Distinktionskämpfen, die mit (politischen) Gegnern geführt“ (ebd.) werden, und der Ausprägung einer kollektiven Identität. Laut Hellmann (1998b, S. 16) bezeichnet eine kollektive Identität in Bezug auf soziale Bewegungen u. a. die Art und Weise „wie sich eine soziale Bewegung ihrer selbst versichert“. Der Aspekt der konjunktiven sozialen Bestätigung, wie ich ihn hier fasse, hängt demnach eng mit dem zusammen, was andere Autoren als kollektive Identität verstehen (zum Überblick siehe z. B. Flesher Forminaya 2010). Jedoch fokussiert er – dem praxeologischen Forschungsansatz meiner Untersuchung entsprechend – die handlungspraktische Seite der kollektiven Selbstversicherung, die nicht unbedingt der (Selbst-)Reflexivität – und auch noch nicht der bereits vollumfänglich explizierten Politisierung – bedarf. Während in Anlehnung an Pfaffs Befunde bereits der nicht explizit politisierten jugendkulturellen Praxis, wie sie in einigen meiner Interviews in dieser zweiten Phase des Bildungsprozesses zu rekonstruieren ist, eine basale Politizität zugesprochen werden kann, stellt sich nun dennoch die Frage, wie der Schritt von diesem impliziten Aufscheinen von Politizität in der (jugendkulturellen) Handlungspraxis zur expliziten Politisierung der neuen, kollektiven Handlungspraxis und Orientierungen letztlich vonstattengeht. In jugendkulturellen Einbindungen sieht Pfaff oftmals den Vorläufer für eine spätere, dezidierter politische ­Orientierung: In jugendkulturellen Kontexten bieten sich ihr zufolge „Chancen zur Auseinandersetzung mit politischen Semantiken und Inhalten“, die „tradiert über den Stil, in den Jugendgruppen zunächst eine thematisch fokussierte Identifikation mit einer Seite“ des (komplexitätsreduzierenden) „Rechts-Links-Schemas“ (Pfaff

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2006, S. 286) ermöglicht, „bevor allmählich diese eigene Positionierung bezogen auf weitere Inhalte ausgedeutet bzw. hinterfragt“ (ebd.) würde. In denjenigen Lebensgeschichten, in denen in der Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen, kollektiven Praxis noch keine explizite politische Positionierung der neuen, kollektiven Handlungspraxis zu rekonstruieren war, ließ sich im Anschluss eine weitere Phase finden, in deren Zuge die eigene Handlungspraxis nun, wie Pfaff dies fasst, politisch ‚ausgedeutet‘, wenngleich noch nicht unbedingt ‚hinterfragt‘ wird. Die Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis Auch bei den Jugendlichen, die ihre neue, jugendkulturelle Praxis anfangs nicht politisiert hatten, bleibt es nicht bei der bloßen jugendkulturellen Vergemeinschaftung. Spätestens jetzt, in der Phase der Politisierung der neuen Orientierung und der jugendkulturellen Gruppenpraxis (siehe Abschn. 5.3.3), werden die in den vorangegangenen Phasen neu entstandene jugendkulturelle Handlungspraxis und Orientierung politisiert (vgl. hierzu auch Thomsen 2010). Es lässt sich nun fallübergreifend eine Verortung im größeren Kontext einer sozialen Bewegung rekonstruieren. Die jugendkulturelle Einbindung, die der expliziten Politisierung vorausgeht, kann in diesen Fällen meines Samples als „Gelegenheitsstruktur“ für Politisierung gelten (vgl. Wiezorek 2007, S. 47). Christine Wiezorek (vgl. ebd., S. 53) hebt diesbezüglich die Bedeutung der Anerkennung der jugendkulturellen Praxis durch Erwachsene hervor: Parteien sowie die Schule könnten eine (z. T. schon in der Jugendkultur begonnene) Politisierung begünstigen, wobei die Schule diese Rolle sowohl im Sinne einer Anerkennung des politischen Interesses (vgl. ebd., S. 52 f.) als auch im Sinne einer Missachtung der „eigenständigen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Gegebenheiten“ (ebd., S. 53) – bei nicht erwünschten jugendkulturell-politischen Ausdrucksformen, z. B. von ‚Skinheads‘ – ausfülle. Zumindest bei einem der drei jugendlichen Bildungsprozesse meines Samples, in denen die jugendkulturelle Praxis bis dato noch nicht politisiert war, lässt sich eine solche Begünstigung der Politisierung ihrer jugendkulturellen Praxis durch Erwachsene bzw. durch die Institution Schule in anerkennender Form rekonstruieren. Ansonsten ist die institutionelle ‚Begünstigung‘ der Politisierung lediglich in ihrer ablehnenden Form – von mir, wie bereits erwähnt, auch als negativ verstärkende Form sozialer Bestätigung gefasst – zu rekonstruieren: im Kontext von (handlungspraktischen wie theoretischen) Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht resp. dem Militär, der Polizei und der Gesetzgebung sowie im Kontext der Auflösung der bisherigen Peergroup. Neben der in dieser Phase übrigens

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auch weiterhin bestehenden konjunktiven (Selbst-)Bestätigung der Jugendlichen ­untereinander, teils in neuen Peergroups, ist es nun also vor allem die – wenn auch unterschiedlich gelagerte – Opposition gegen den Staat und seine Organe, die eine Rolle bei der Politisierung der vormals jugendkulturellen Praxis spielt. Einen ähnlichen Aufschaukelungsprozess beschreibt Böge (2000) anhand des Beispiels einer Gruppe Jugendlicher im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel der 1930er-/40er-Jahre, an deren Beispiel er aufzeigt, wie sich aus vormals ‚unpolitischen‘ jugendkulturellen Vergemeinschaftungen politisierte Zusammenschlüsse entwickeln können. Die von den Jugendlichen nicht als politisch wahrgenommene Praxis des Sich-Treffens auf öffentlichen Plätzen verstieß gegen damalige Vorschriften. Gegen die rabiaten Razzien des mit der Durchsetzung der Verordnung beauftragten „Streifendiensts der HJ“ (Böge 2000, S. 84) – in den Augen der Eimsbütteler Jugendclique eine rivalisierende Jugendgruppe – setzten sie sich gewalttätig zur Wehr und kamen so als politische Gegner ins Fadenkreuz des NS-Regimes. In einem wechselseitigen Prozess von Kriminalisierung seitens der politischen Machthaber und einer Radikalisierung der Jugendlichen ihrerseits wird die ursprünglich von ihnen selbst nicht politisch intendierte und gedeutete Praxis zu einem politischen (bzw. politisch gemachten) Protest. Auch der von mir rekonstruierte Prozess der Politisierung ist immer (auch) als reziproker Prozess in Auseinandersetzung mit den politischen und institutionellen Rahmenbedingungen zu verstehen und weist in seiner Struktur Ähnlichkeiten zu dem von Böge (2000) beschriebenen, wechselseitigen Aufschaukelungsprozess auf, so legen es jedenfalls die drei Beispiele aus meinem Sample nahe, in denen die jugendkulturelle Praxis erst sukzessive im wechselseitigen Prozess mit äußeren Begrenzungen und Konfrontationen an Fahrt aufnimmt.

8.2 Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen und die abschließenden Phasen der adoleszenten Bildungsprozesse Dem Anschluss an soziale Bewegungen folgt oftmals ein langjähriges Engagement. Ein Aspekt, der diesbezüglich von der Bewegungsforschung (siehe Abschn. 2) beleuchtet wird, ist der Einfluss sozialer Beziehungen auf die ­Verstetigung des Engagements in sozialen Bewegungen. So schreibt beispielsweise Yang (vgl. 2000a, S. 381) den sozialen Interaktionen und Beziehungen, die im Kontext des Bewegungsengagements entstehen, die Fähigkeit zu, die

8.2  Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen und die …

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Bindung an eine Bewegung zu vertiefen. Er bestätigt damit die schon früh von McAdam (1989, S. 751 f.) konstatierte hohe Bedeutung der im Zuge des Engagements entstandenen sozialen, wie auch organisationalen Anbindungen für dessen weiteren Verlauf. Einer Bewegungs(sub)kultur misst McAdam eine gewichtige Bedeutung für die biografische Aufdauerstellung des Engagements bei, die – neben dem eigentlichen politischen Aktivismus – auch die Wahl von Lebenspartner*innen aus dem Bewegungskontext (vgl. ebd., S. 755) sowie die Ausrichtung der Erwerbsbiografie an den Themen der sozialen Bewegung und ihrer Organisationen (vgl. ebd., S. 754 f.) umfasst. Naumann (2008) konstatiert für diejenigen politischen Gruppen, deren Zusammenhalt nicht rein „zweckorientiert“ (ebd., S. 342) sei, sondern „stärker auf Wertorientierungen“ (ebd., S. 353) beruhe – was auf die von mir untersuchten Zusammenschlüsse im Kontext sozialer Bewegungen zutrifft – „eine existenziell sinnstiftende und -aktualisierende Bedeutung“ des Engagements. Diese würde anhand „der miteinander gelebten, kollektiven Praxisformen“ deutlich und habe sich in dieser Form im Zuge des (fortlaufenden) Engagements „sukzessive entwickelt”. Andere Autoren fokussieren vor allem Lernprozesse, die im Bewegungsengagement stattfinden. So kann Foley (1999, S. 16 ff.) im Zuge des fortschreitenden Engagements eine intensivierte, inhaltliche Auseinandersetzung mit der umkämpften Thematik feststellen. Angesichts dessen, dass diese Auseinandersetzungen seines Erachtens einen Prozess der Bewusstwerdung über tiefere Zusammenhänge mit sich brächten, stellt er diesbezüglich einen Anschluss an Paolo Freires (1973) Konzept der ‚kritischen Bewusstwerdung‘ und Jack Mezirow (z. B. 1978b; siehe auch Abschn. 3.2.4 in der vorliegenden Arbeit) Perspektiventransformation her (vgl. Foley 1999, S. 39). Die Einsichten der Aktivist*innen bezögen sich u. a. auf die Überwindung von “fear and lack of confidence instilled in them by their socialisation” (ebd., S. 64), vor allem aber stellten sie eine Entmystifizierung von Herrschaftswissen – „expertise and authority“ (ebd., S. 44) – dar. Auch Schuhmacher (2013) sieht – auf die Bewegung der ‚Antifa‘ bezogen – in der (fortgesetzten) Bewegungspraxis bestimmte Lernerfahrungen angelegt: Während das Engagement in der ‚Antifa‘ anfangs u. a. mit sich brächte, „zu ‚lernen‘ […], bestimmte Gewalt-Praxen zumindest als legitim anzuerkennen“ (2013, S. 66), so sei ‚Antifa‘ zugleich auch „ein Feld, auf dem die kritische Reflexion dieser Lernerfahrungen gelernt werden“ könne. Solche „Reflexionen“ des paradoxen Verhältnisses zwischen einer hohen Wertschätzung von „Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit und auch G ­ ewaltfreiheit“ (ebd.) auf der einen Seite und „Gewalthandeln, S ­ tärkedemonstrationen und

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martialischen (oft maskulinistischen) Selbstinszenierungen“ (ebd.) auf der anderen Seite, würden häufig, so Schuhmacher (2013, S. 66), „erst im weiteren Verlauf des Engagements“ in der ‚Antifa‘ stattfinden und teils „zur Reduzierung der mit der Praxis verbundenen Ansprüche oder schlicht zum Ende des Engagements führen“ (ebd.) – mit letzterem, so möchte ich hier vorgreifen, beginnt in zwei Fällen meines Samples schließlich ein weiterer Bildungsprozess. Bevor ich dies jedoch ausführe, werde ich zunächst die Fortsetzung des ­Engagements und deren Rolle im adoleszenten Bildungsprozess meiner ­Interviewpartner*innen eingehender betrachten. Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten Nachdem die jungen Akteur*innen in der neuen, kollektiven Praxis neue, biografische Orientierungen ausgebildet haben und – wenn auch in unterschiedlichen Phasen des Prozesses – schließlich alle ihre Handlungspraxis politisiert und im größeren Kontext einer sozialen Bewegung verortet haben, führen sie diese neue Praxis nicht nur fort, sondern erschließen damit verbunden auch weitere Betätigungsfelder, in denen sie ihre neuen Orientierungen vertiefen. Ganz so wie McAdam (1989) dies für die Aktivist*innen des ‚Freedom Summer‘-Projekts konstatiert hatte, so hat sich auch bei den von mir Interviewten im Rahmen ihrer Einfindung in eine soziale Bewegung eine umfassende Einbindung in den sozialen und kulturellen Kontext einer Bewegung ergeben, der als prädestiniert dafür gelten kann, persönlichen Wandel herbeizuführen – „to reinforce the process of personal change“ (ebd., S. 751). So finden sie in der Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten (siehe Abschn. 5.3.4.) Anschluss an weitere politische Gruppen und Bewegungen, tragen ihre neu entwickelten, politischen Orientierungen aber auch in institutionelle Kontexte, wie z. B. die Schule und die Universität, oder vertiefen sie in reflexiver Art und Weise anhand der Lektüre eines Buches. Während bisher die kollektive – oftmals sogar aktionistische – Handlungspraxis im Vordergrund stand, zeigen sich nun auch Formen theoretisch-reflexiver Auseinandersetzung. Die Bildungsprozesse der Jugendlichen im Kontext sozialer Protestbewegungen umfassen also, trotz der hohen Relevanz der vorreflexiven Handlungspraxis, beide Seiten der von Trumann (2014, S. 146) für den „Lern-Handlungsraums Bürgerinitiative“ herausgearbeiteten Achse ‚Aktion und Reflexion‘ (vgl. ebd.). In den theoretischen Auseinandersetzungen, so z. B. auch der im Zusammenhang zur neuen, politisierten Orientierung stehenden Aufnahme eines Studiums, legen nun einige meiner Interviewpartner*innen auch

8.2  Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen und die …

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individuell ausgeführte Praktiken an den Tag. Diese bleiben jedoch – auf der Ebene der handlungsleitenden Orientierungen – immer in den kollektiven Kontext der politischen Praxis eingebettet, wie Schuhmacher (2013, S. 66) dies z. B. auch für die Praxis der ‚Antifa‘ rekonstruiert hat: Da die ‚Antifa‘-Aktivist*innen ihre Rolle als politische „‚Gegenexperten‘“ definierten, sei es integraler Bestandteil der politischen Praxis im Kontext dieser Bewegung, dass sie „Wissen über ihren ‚Gegenstand‘ besitzen und dieses Wissen immer aktualisieren müssen“ (ebd.). Eine solche, reflexive Ausdifferenzierung der neuen Orientierung – auch im von Foley (1999, S. 44) gefassten Sinne eines ‚entmystifizierend‘ wirkenden Erwerbs von herrschaftskritischem ‚Gegenwissen‘ – ist in dieser Phase also in einigen der von mir rekonstruierten Bildungsprozesse durchaus zu rekonstruieren. Vor allem ist aber in allen sieben Lebensgeschichten die Verstetigung und Bestätigung der neuen Orientierungen durch eine Ausweitung der ‚Orte‘, an denen sie in eine politisierte Handlungspraxis umgesetzt werden, zu sehen. Sie gewinnen auf diesem Wege eine Orientierungsrelevanz, die sich nunmehr über mehrere Dimensionen des Lebens erstreckt, sodass spätestens jetzt von einem transformierten Habitus gesprochen werden kann. Wie ich mit dem Namen dieser Phase bereits deutlich mache, spielen auch hier Formen der sozialen Bestätigung eine Rolle. Nicht nur verschiedenste ‚Orte‘ werden zu ‚Gelegenheitsstrukturen‘ einer Intensivierung und Ausdifferenzierung der neuen, politisierten Orientierungen, es sind hierbei auch weiterhin sowohl positiv gelagerte Formen sozialer Bestätigung als auch solche, die durch ihre negative Verfasstheit paradoxer Weise ebenso zu einer Bestätigung der neuen Orientierungen beitragen, zu rekonstruieren. Zu der sich in vielen Fällen weiterhin dokumentierenden positiv verstärkenden sozialen Bestätigung im konjunktiven Erfahrungsraum der Bewegung – durch gemeinsame Demonstrationsbesuche ebenso wie gemeinsames Wohnen und Feiern –, lassen sich hier vereinzelt auch Formen (positiv gelagerter) institutioneller Bestätigung – seitens der Schule oder einzelner Dozent*innen an der Fachhochschule – aufzeigen. Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie Der transformierte Habitus ermöglicht eine neue Perspektive auf die eigene Biografie, von der aus das eigene Leben in neuem Lichte betrachtet wird (siehe ausführlich zu dieser Phase Abschn. 5.3.5). So findet sich – bei all der Betonung des handlungspraktischen und vorreflexiven Charakters der Prozesse – auch in den Bildungsprozessen der Jugendlichen im Kontext sozialer Bewegungen l­etztlich eine Phase, in der Reflexivität zentral steht und der – handlungspraktisch längst

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

eingenommene – neue „Ort im Raume“ (Mannheim 1980, S. 212; siehe hierzu auch Abschn. 4.1.2) nun auch zur Grundlage der Reinterpretation der eigenen biografischen Erfahrungen wird. Die Akteur*innen prüfen aus der Perspektive ihres transformierten und politisierten Habitus heraus nun z. B. eigene biografische Erfahrungen auf ihre Politizität hin oder, in umgekehrter Richtung, reflektieren ihre Beweggründe für das Engagement in sozialen Bewegungen und dessen biografische Kontingenzen. Im Unterschied zu den Annahmen von Marotzki (1990), für den eine für den Bildungsprozess unablässige Negativität immer mit einer aktiven Entscheidungsleistung, also einer Form von reflexiver Intentionalität einhergeht (vgl. ebd., S. 194 und Abschn. 3.2.1 in dem vorliegenden Buch) – was auch bereits den Beginn der Prozesse umfasst –, steht die Reflexion in den von mir rekonstruierten Prozessen aber nicht an deren Beginn, sondern schließt die Bildungsprozesse ab. Auch Nohl, von Rosenberg und Thomsen rekonstruieren eine solche Phase der reflexiven Vergegenwärtigung am (vorläufigen) Ende der Bildungsprozesse und betonen einen Prozessverlauf, bei der die Handlungspraxis der Reflexion vorausgeht: Mit der „Phase der sozialen Festigung und Reinterpretation der Biographie“ (2015b, S. 9), wie sie diese nennen, zöge schlussendlich das „praktische Moment der Negativität […] auch Reflexionen nach sich“. Erst am Ende der Bildungsprozesse würden, „angestoßen durch die neuen, nunmehr fokussierten Handlungspraktiken auch die eher kognitiven, auf Reflexion und Eigentheorien aufbauenden Komponenten des Habitus transformiert“ (Nohl et al. 2015b, S. 9). Da sich bei vier von sieben Befragten viele Jahre nach ihren Bildungsprozessen im Jugendalter weitere Bildungsprozesse im Erwachsenenalter rekonstruieren ließen, waren auch nur in den drei Lebensgeschichten, in denen keine weitere Bildung zu konstatieren ist, Passagen finden, in denen sich die Reinterpretation der eigenen Biografie dokumentiert. Angesichts dessen, dass die Reinterpretation der eigenen Biografie Ausdruck des im Bildungsprozess neu ausgebildeten Habitus ist, dieser aber in den vier anderen Biografien zu einem späteren Zeitpunkt erneuter Transformationen ausgesetzt war, ist es nur logisch, dass in diesen Interviews keine Reflexionen gefunden wurden, die dem perspektivischen ‚Standort‘ der Befragten nach dem ersten Bildungsprozess und vor dem zweiten Bildungsprozess Ausdruck verleihen. Dies interpretiere ich dergestalt, dass sie vom adulten Bildungsprozess, der sich im Zuge einer Neuausrichtung oder aber einer gänzlichen Beendigung des Engagements in sozialen Bewegungen vollzieht, überlagert bzw. überholt wurden.

8.3  Neuausrichtung oder Beendigung des Engagements in sozialen …

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8.3 Neuausrichtung oder Beendigung des Engagements in sozialen Bewegungen Die Bildungsprozesse im Erwachsenenalter, die ich im Kontext sozialer Protestbewegungen in denselben Lebensgeschichten rekonstruieren konnte, in denen auch die bereits beschriebenen Bildungsprozesse in der Adoleszenz stattgefunden hatten, vollziehen sich, wie erwähnt, entweder im Rahmen einer Neuausrichtung der handlungsleitenden Orientierungen, mit denen das Engagement der Akteur*innen in den sozialen Bewegungen verbunden ist, oder aber sie gestalten sich als Abkehr von der sozialen Bewegung (siehe Kap. 6). Solche Brüche im und mit dem Engagement werden auch in der Bewegungsforschung zum Thema gemacht. Yang (2000a) betrachtet dabei die Effekte, die das Abebben einer Bewegung auf die einzelnen Akteur*innen hat: Sollte eine Bewegung wieder an Bedeutung verlieren oder gar ganz von der Bildfläche verschwinden, so gelte es für die Akteur*innen, in ihre ‚Alltagsroutinen zurückfinden‘, wobei die damit verbundenen Emotionen laut Yang (2000a, S. 384 f.) unterschiedlicher Art sein können: Einige Akteur*innen „may be empowered“, andere „disillusioned“, während wieder andere in ihrem Aktivismus verharrten. Bei denjenigen, sie sich auch ohne die Bewegung weiterhin als politische Aktivist*innen betrachten, ist davon auszugehen, dass sie das ausgebildet haben, was McAdam (vgl. 1989, S. 751 ff.) als ‚Aktivist*innen-Karriere‘ bezeichnet hatte, und sie nun neue ‚Orte‘ der Umsetzung ihrer politischen Orientierungen suchen. Es ist jedoch nicht immer die Bewegung, die ein Ende findet, das die Akteur*innen ‚empowert‘, desillusioniert oder als heimatlose Aktivist*innen zurücklässt, teils sind es auch weiterbestehende und weitgehend unveränderte soziale Bewegungen bzw. politische Gruppen und ihre kollektiven Orientierungen in einem Bewegungskontext, die den Rückzug der Aktivist*innen aus ihrem Engagement bedingen oder sogar forcieren. Schuhmacher (vgl. 2013, S. 66) hat für die ‚Antifa‘-Bewegung auf eine Diskrepanz zwischen egalitären und gewaltfreien Orientierungen und einer performativen, durchaus gewalttätigen Praxis der Selbstinszenierung hingewiesen und in der im Laufe des Engagements sich oftmals vollziehenden Reflexion dieses Paradoxons auch Gründe für das schlussendliche „Ende des Engagements“ (ebd.) einzelner Akteur*innen gesehen. Ein ähnliches Paradoxon konstatiert Bunk (2016, S. 31), wenn er in der Förderung „eines emanzipatorischen Selbst- und Weltverhältnisses“, welche ihm zufolge im Kontext sozialer Bewegungen stattfinde, als möglichen Nebeneffekt eine aus eben dieser neuen Perspektive resultierende „zunehmend[e] kritische Distanz im Konflikt eben auch zu diesem Bildungsraum“ (der Bewegung) selbst konstatiert.

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

Crossley (2003, S. 64) sieht die Entwicklung von „activists (of the game) to criticals (of the latter)“ als Resultat frustrierender Erfahrungen, die den Glauben der Akteur*innen an die „‚illusio‘ of the political game“ (ebd.), wie er dies hier mit Bezug auf Bourdieu bezeichnet, unterminierten. Den vielfältigen, hier aufgezählten Aspekten, die einen Rückzug aus dem Engagement oder eine Neuorientierung im Engagement begünstigen, setzt Paris (2000) entgegen, dass beim politischen Protest eine Auflösung der, wie er es nennt, „permanenten Ablehnungsbindung“ (ebd., S. 52) an eine Bewegung durchaus mit Hürden verbunden sei. So lebe die politische Protestbewegung doch von verbindlichen, Konformitätsdruck ausübenden Strukturen und einem starken Moment der „Selbstfixierung“ (ebd., S. 57), das nicht ohne Weiteres zu lösen sei. Miethe (1999, S. 255) jedoch kann anhand ihrer Studie zu Frauen in der DDR-Opposition an empirischen Beispielen aufzeigen, dass sich auch bei langjährigen Bewegungsmitgliedern im Laufe des Engagements durchaus ihre „Position verändert“. Der kollektive Rahmen der Gruppe erweise sich als relativ träge gegenüber den individuellen, veränderten Rahmungen der einzelnen Akteurinnen der Frauengruppe: Zwar käme es durch einzelne Frauen auch zur thematischen Erweiterung der kollektiven Rahmen, jedoch „nie zu einer Rahmentransformation“ (ebd., S. 255). So zeigt Miethes Analyse des Ineinanders der verschiedenen Ebenen die komplexen Aushandlungsprozesse, die zwischen individuellen und kollektiven Rahmungen einer politischen, an den Kontext einer sozialen Bewegung angebundenen Gruppe zum Tragen kommen und in welcher Art die kollektiven Rahmungen individuelle Entwicklungen dabei bremsen bzw. die Konsequenz des Ausschlusses einzelner Akteurinnen zeitigen können. Ihre Neuorientierung im Engagement führt in den von Miethe herangezogenen, empirischen Fällen für einzelne Aktivistinnen letztlich auch zur – mehr oder minder unfreiwilligen – Beendigung ihres Engagements, dem aber wiederum die Suche nach neuen Anschlüssen folgen könne. Sowohl die Veränderung einzelner Akteur*innen als auch jene der politischen Gruppe, der Bewegung oder umfassenderer gesellschaftlicher Bedingungen können als „Passungsschwierigkeiten“ (Rosenberg 2011, z. B. S. 307) zwischen Habitus und Feld eine (neuerliche) Transformation des Habitus in Gang setzen (siehe hierzu Abschn. 3.2.3.2). In einer der beiden Lebensgeschichten meiner Untersuchung, in denen ein adulter Bildungsprozess im Kontext einer Neuausrichtung im Engagement zu rekonstruieren war, steht vor der Neuausrichtung ein Rückzug von anderen Bewegungsteilen bzw. (Teil-)Bewegungen, ohne dass hier jedoch von einem Ausschluss die Rede sein kann. Im Falle des zweiten, sich im Rahmen der Fortsetzung des Engagements vollziehenden Bildungsprozess, geschieht die Neuausrichtung hingegen im kollektiven Prozess, gemeinsamen mit

8.3  Neuausrichtung oder Beendigung des Engagements in sozialen …

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anderen Mitgliedern des (Bewegungs-)Milieus und vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Ereignisses. Die beiden Frauen, deren Bildungsprozesse durch einen Rückzug vom Engagement (siehe Abschn. 6.2) geprägt sind, distanzieren sich von der Radikalisierung der Bewegung, mit der polarisierende (Selbst-)Fixierungen (vgl. Paris 2000, S. 52) und teils auch gewaltvolle Selbstinszenierungen, wie Schuhmacher (2013, S. 66) sie konstatiert hatte, einhergegangen waren. Jedoch beginnen diese bei Schuhmacher eher reflexiv anmutenden Distanzierungen (ebenso wie die Neuausrichtungen) bei den betreffenden (erwachsenen) Frauen meines Samples nicht als reflexive Prozesse. Angesichts dessen, dass beide Varianten – Bildung im und Bildung im Rückzug vom Engagement – jeweils nur auf zwei Fällen basieren, sind meine Befunde sicherlich in ihrer Aussagekraft begrenzt und sollten von daher eher als erste Aufschlüsse darüber betrachtet werden, in welche Richtung eine Typisierung verschiedener Prozessverläufe der Bildungsprozesse im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Bewegungen gehen könnte. Die rekonstruierte Phasentypik der Bildungsprozesse im Erwachsenenalter möchte ich im Folgenden rekapitulieren und dabei sowohl die sich andeutenden gegenstandsbezogenen (Binnen-)Differenzierungen – der Bildungsprozessverläufe im Rahmen eines Engagements in sozialen Bewegungen (siehe Abschn. 6.1) und im Rahmen des Rückzugs aus den sozialen Bewegungen (siehe Abschn. 6.2) – diskutieren als auch die Erkenntnisse, die aus dem Vergleich zu der bereits besprochenen Bildungsphasentypik der Jugendlichen meiner Studie und der übergreifenden Phasentypik von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) resultieren.10 Die Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken Auch bei den Erwachsenen ist eine Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken zu konstatieren, mit der sich bereits vage das Entstehen neuer Orientierungen ankündigt (siehe Abschn. 6.3.1). Auf die biografischen Erfahrungshintergründe dieser erneuten Dynamisierung des habituellen Gefüges bin ich bereits zu Beginn dieses Kapitels eingegangen. Neuerliche Desintegrationserfahrungen, die sich diesmal auf das Bewegungsmilieu selbst beziehen und nicht auf das Herkunftsmilieu, bilden den – zumeist akuten, aber teils auch latenten – destabilisierenden Hintergrund des Beginns der Bildungsprozesse. Die so

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sich hier abzeichnende Lebensalterspezifik lässt sich dabei als soziogenetische Spezifizierung der Phasentypik kennzeichnen, während die Gegenstandsspezifik der sozialen Bewegungen, wie ich in Abschn. 8.5. noch zusammenfassend darlegen werde, sowohl auf soziogenetische als auch relationale Zusammenhänge verweisen könnte.

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

entstandenen neuerlichen ‚sozialen Lockerungen‘ sind sowohl als Auflösungen der bewegungsbezogenen Infrastruktur – in Sinne eines ‚Abebbens‘ (vgl. Yang 2000a) der Bewegung – zu beschreiben, als auch als eine empfundene Distanz zu politischen Aktionsformen und/oder Orientierungen, die mit dem bisherigen Engagement verbunden waren, wie sie bei Miethe (1999), Schuhmacher (2013) und Bunk (2016) thematisiert wurde. Bei einem Akteur, der sich im Zuge einer Fortsetzung des Engagements in sozialen Bewegungen bildet, kann ein gesellschaftliches Ereignis, das ihn moralisch empört – konkret: rassistische Ausschreitungen gegen Asylbewerber*innen (vgl. Abschn. 6.1.1.) – als akut destabilisierendes Moment am Anfang des Bildungsprozesses gelten. Ein solcher ‚moralischer Schock‘ als Initialfunke für den Beginn des Bewegungsengagements wurde von der emotionssoziologischen Bewegungsforschung bereits für antirassistische Aktivist*innen (Warren 2010), aber auch für Aktivist*innen aus der Tierrechtsbewegung (vgl. Jasper und Poulsen 1995) konstatiert. Die neuerliche Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken, jetzt im Erwachsenenalter, ist jedoch, anders als in denselben Lebensgeschichten im Rahmen ihrer jugendlichen Bildungsprozesse im Kontext sozialer Bewegungen, weder ausschließlich im Kontext der Negation verortet, noch ist die Offenheit in allen Fällen als unbestimmt zu bezeichnen. Zwar kann man die Offenheit für neue Praktiken auch bei den Erwachsenen nicht in dem Sinne als zielgerichtet bezeichnen, als dass die Sich-Bildenden am Anfang des Bildungsprozesses schon antizipieren könnten, wie der weitere Prozessverlauf aussehen wird, doch ist sie auch nicht in dem Maße unbestimmt, wie ich es für die jugendlichen Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen rekonstruiert habe. Anders als bei den Jugendlichen dokumentieren sich bei denselben Akteur*innen im Erwachsenenalter deutlichere Zielvorstellungen, die von den erwachsenen Akteur*innen von Anfang an zudem politisch verortet werden – und dies bezieht sich sowohl auf diejenigen, die im Zuge der Fortsetzung ihres Engagements in sozialen Bewegungen einen weiteren Bildungsprozess durchlaufen als auch jene, die sich aus dem Engagement zurückziehen. Im Unterschied zu den jugendlichen Einfindungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen ist bei denselben Akteur*innen zu diesem späteren Zeitpunkt ihres Lebens – dem jugendlichen Bildungsprozess geschuldet – der Ausgangspunkt der Bildungsprozesse bereits ein politisierter. Allerdings zeigen nun (selbstredend) nur jene von ihnen eine Offenheit für politisierte Kontexte, die ihr Engagement in den sozialen Bewegungen fortsetzen, während sich die Offenheit bei den anderen beiden auf Kontexte außerhalb der sozialen Bewegungen, richtet. Zwar finden sich auch in den adulten Prozessen, sowohl im Engagement als auch im Rückzug von diesem, deutliche Momente von Negation, doch haben

8.3  Neuausrichtung oder Beendigung des Engagements in sozialen …

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diese einen weniger allumfassenden – ‚inversiven‘ (vgl. Nohl et al. 2015a, S. 191 ff.) – Charakter, als dies bei den jugendlichen Bildungsprozessen im Zuge der Einfindung in eine soziale Bewegung übergreifend der Fall war. Zudem scheint bei den Erwachsenen verstärkt auf, um welches – positiv gesetzte – Ziel es den Akteur*innen geht. Sie legen im Gegensatz zu den Jugendlichen eine neue Praxis an den Tag, ohne ihre bisherige Praxis und soziale Einbindung in ihrer Gesamtheit zu negieren. Die negierende, strikte Ablehnung des Tradierten im Sinne der Umkehrung in sein Gegenteil (im Sinne der ‚Inversion‘), die als Triebfeder der jugendlichen Bildungsprozesse gelten konnte, spielt für den Beginn der Bildungsprozesse im Erwachsenenalter im Kontext sozialer Protestbewegungen keine (prominente) Rolle. Anhand des Vergleichs der Prozesse im Jugendalter im Kontext sozialer Bewegungen mit denen im Erwachsenenalter im selben Kontext kann die oben bereits – vor dem Hintergrund des umfassenderen Samples von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) – herausgearbeitete, gegenstandsbezogene Spezifik der (inversiven) Negation – nun als Lebensaltersspezifik (für das Jugendalter) im Kontext sozialer Bewegungen präzisiert werden. Zwar ist der Beginn der Bildungsprozesse bei allen vier Erwachsenen nicht ‚inversiv‘ gelagert wie bei den Jugendlichen, doch gibt es auch übergreifende Gemeinsamkeiten, die über die verschiedenen Lebensalter hinweg bestehen, und zwar zwischen den adulten Bildungsprozessen im Rahmen einer Fortsetzung des Engagements und den Bildungsprozessen der Jugendlichen im Zuge ihrer Einfindung ins Engagement. So richtet sich z. B. die Offenheit in dieser Phase, in der die Bildungsprozesse ihren Anfang nehmen, bei beiden genannten Gruppen auf kollektive Anschlüsse und Praktiken (siehe Abschn. 5.3.1 und 6.1), wohingegen der Beginn der beiden adulten Bildungsprozesse, die sich im Rahmen eines Rückzugs aus dem Engagement vollziehen, durch die Offenheit für eine individuelle neue Praxis charakterisiert ist (siehe Abschn. 6.2). Die kollektive Strukturierung des Beginns von Bildung kann also nicht nur, wie bei Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) konstatiert und oben auch für die Bildungsprozesse im Jugendalter im Kontext sozialer Bewegungen herausgearbeitet, als überwiegend lebensalterspezifische, jugendtypische Ausprägung dieser Phase gelten. Es deutet sich darüber hinaus hier auch eine gegenstandsbezogene Spezifik der Prozesse im Bewegungsengagement an. Die hohe Bedeutung, die der Kollektivität in den Bildungsprozessen der beiden Erwachsenen, die ihr Engagement in sozialen Bewegungen fortsetzen, im Vergleich zu den Bildungsprozessen der anderen Fallgruppen mit Erwachsenen aus anderen Gegenstandsbereichen zukommt, wird auch vonseiten der Bewegungsforschung gestützt. Kollektivität wird hier als integraler Bestandteil von sozialen Bewegungen verstanden – zum Beispiel in Form kollektiven Protesthandelns (vgl. z. B. Rucht und Neidhardt 2007,

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S. 630 f.), aber auch als alltägliche Form einer kollektiv geteilten Handlungspraxis in Bewegungsmilieus (vgl. z. B. Pettenkofer 2010, S. 78; siehe auch Kap. 2 im vorliegenden Buch). Soziale Bewegungen können also, so wird es von der Bewegungsforschung allseits stark gemacht und so deutet es sich auch in meinen empirischen Befunden an, als ‚Orte‘ gelten, in denen kollektiven Einbindungen auch über das Jugendalter hinaus ein hoher Stellenwert zukommt. Die Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen Praxis Am soeben erwähnten Thema ‚Kollektivität vs. Individualität‘ verläuft, entsprechend der hohen Bedeutung von kollektiven Einbindungen für Prozesse im Kontext sozialer Bewegungen, dann auch die Trennungslinie zwischen den verschiedenen Ausprägungen der nun folgenden Phase der Entstehung neuer biografischer Bedeutsamkeiten im Zuge erster Erfahrungen in einer neuen Praxis (vgl. Abschn. 6.3.2). Während es bei den Bildungsprozessen im Engagement kollektiv strukturierte Erfahrungen sind, die der Entstehung neuer biografischer Orientierungsqualitäten Vorschub leisten, sind die relevanten neuen Praktiken beim Rückzug vom Engagement hingegen individuell gelagert. Wie sich bereits in der Phase der Offenheit für neue Anschlüsse und Praktiken andeutete, ist der Kontext der nun gemachten, neuen Erfahrungen bei denen, die ihr Engagement in sozialen Bewegungen fortführen, ein politisierter, wohingegen diejenigen, deren Engagement in sozialen Bewegungen sein Ende findet, ihre Handlungspraxis in nicht explizit politisierte Kontexte verlagern. Im Vergleich zu den Jugendlichen, die sich im Zuge ihrer Einfindung in soziale Bewegungen bilden, ist bei den Bildungsprozessen der Erwachsenen im Rahmen des Engagements eine politische Verortung der Handlungspraxis, wie bereits oben angedeutet, von Anfang an gegeben. Eine extra Phase der Politisierung, wie sie einige Jugendliche meines Samples aufweisen, entfällt aus diesem Grunde. Dies liegt in erster Linie darin begründet, dass die heutigen Erwachsenen ihre Handlungspraxis und Orientierungen bereits als Jugendliche im Zuge der Einfindung in eine soziale Bewegung politisiert haben. Um herauszufinden, ob über diesen, dem Sampling geschuldeten Unterschied hinaus dennoch auch eine Lebensaltersspezifik beteiligt ist, bräuchte es eine Vergleichsgruppe von Erwachsenen, die erst im Erwachsenenalter in Kontakt mit einer sozialen Bewegung gekommen sind und zuvor keine explizit politisierte Orientierung ausgebildet hatten. In der neuen – bei den einen individuell und nicht explizit politisch, bei den anderen kollektiv, politisch gerahmten – Handlungspraxis machen alle vier Erwachsene neue Erfahrungen und bilden in diesem Zuge neue Orientierungen

8.3  Neuausrichtung oder Beendigung des Engagements in sozialen …

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aus bzw. nimmt eine sich in Ansätzen bereits angedeutete Orientierung nun Form an und erlangt unmittelbar hohe biografische Bedeutsamkeit, sodass ich von einem Voranschreiten der Dynamisierung des Habitus spreche. Die Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten Es schließt sich nun auch bei allen Erwachsenen eine Phase der Fortführung der neuen Orientierung und der sozialen Bestätigung in anderen Kontexten (siehe Abschn. 6.3.3) an, in der die biografische Bedeutsamkeit der neuen Orientierung noch intensiviert wird und diese sowohl eine Ausdifferenzierung als auch eine soziale Bestätigung erfährt. Wie bei den Bildungsprozessen im Jugendalter, dokumentiert sich in dieser Phase nun auch bei den Bildungsprozessen der Erwachsenen – sowohl im Engagement als auch im Rückzug aus diesem –, dass die neue Orientierung nunmehr mehrere Dimensionen des Habitus tangiert, sodass von der Transformation ihrer Habitus gesprochen werden kann. Auch in den Prozessen im Erwachsenenalter spielen verschiedene Formen sozialer Bestätigung eine Rolle. In den kollektiv gelagerten Prozessen der beiden Akteur*innen, deren adulter Bildungsprozess sich im Kontext der Fortsetzung des Engagements vollziehen, zeigen sich – wenig überraschend – vielfältigere und zahlreichere Formen sozialer Bestätigung als in der überwiegend individuell gelagerten Handlungspraxis der anderen beiden Erwachsenen, die weniger Formen der Gemeinschaft aufweist. Zwar finden sich auch in den Bildungsprozessen im Zuge des Rückzugs aus einer sozialen Bewegung Formen positiv verstärkender sozialer und institutioneller Bestätigung der individuell eingeschlagenen Handlungspraxis und der damit verbundenen Orientierungen. Im Gegensatz zu den beiden weiterhin im Kontext sozialer Bewegungen Engagierten findet sich bei den beiden Frauen, deren Handlungspraxis nun eher individuell und jenseits der Bewegung gelagert ist, aber keine soziale Bestätigung konjunktiver Art. Bei den Bildungsprozessen im Zuge des Rückzugs aus dem Engagement sind zudem auch keine Formen negativ verstärkender sozialer Bestätigung – eine ablehnende Haltung gegenüber der neuen Praxis und Orientierungen seitens anderer Menschen oder Gruppen – zu rekonstruieren, welche in den beiden adulten Bildungsprozessen im Rahmen der Fortsetzung des Engagements durchaus eine Rolle spielen, wie dies auch für zahlreiche Bildungsprozesse in der Adoleszenz im Kontext sozialer Bewegungen rekonstruiert werden konnte. Zwar konstatieren auch Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a, S. 57) für ihr Sample, das mehrere Fallgruppen umfasst, dass die ‚soziale Bewährung und Spiegelung‘ nicht in allen Fällen in „positiver Form“ verläuft. Die Bildungsfälle, auf die sie sich hier beziehen, beschreiben größtenteils Prozesse in der Jugend und im

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j­ungen Erwachsenenalter (aus verschiedenen Fallgruppen) und der einzige Fall eines Bildungsprozesses im Erwachsenenalter, bei dem sie eine solche negativ gelagerte soziale Bewährung rekonstruieren, stammt aus meinem Sample der ‚sozial Bewegten‘. So scheint eine negative soziale Bewährung in vielen anderen Gegenstandsbereichen lediglich eine Spezifik des Jugendalters darzustellen, während sie im Kontext sozialer Bewegungen für beide untersuchten Lebensalter von Bedeutung ist. Hier ist also vor allem eine Gegenstandsspezifik der sozialen Bewegungen zu konstatieren. Hierbei muss allerdings die geringe empirische Fallzahl der Erwachsenen meines Sample einschränkend erwähnt werden; wenngleich es angesichts dessen, dass es bei sozialen Bewegungen um eine Form relativ verstetigten Protests und somit immer auch darum geht, „Widerspruch oder Kritik zum Ausdruck zu bringen“ (Rucht und Neidhardt 2007, S. 631; vgl. auch Hellmann 1998a, S. 9) und sich somit auch gegen eine gesellschaftliche Ordnung und die Interessen anderer zu stellen, durchaus naheliegend erscheint. Die Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie In den vier Lebensgeschichten, die nach dem ersten Bildungsprozess im Jugendalter im Kontext sozialer Bewegungen einen späteren, zweiten Bildungsprozess durchlaufen haben, finden sich – nachdem diese am Ende des adoleszenten Bildungsprozesses zu vermissen waren – nun aber am Ende des adulten Bildungsprozesses biografische Reflexionen, in denen aus der Perspektive des transformierten Habitus die eigene Biografie und Handlungspraxis neu interpretiert wird (siehe Abschn. 6.3.4). So werden hier vor allem Erfahrungen aus der Kindheit und Jugend hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die eigene Entwicklung neu interpretiert, aber auch – bei jenen, die sich von der Bewegung entfernt haben – die ehemalige eigene politische Handlungspraxis und Orientierung in kritischer Art und Weise beleuchtet. Eine solche Phase der Reinterpretation der eigenen Biografie ist adoleszenten wie adulten Prozessen gemein, ebenso wie sie in jeder der von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) betrachteten acht Fallgruppen am Ende von Bildung rekonstruiert wurde. So ist Reflexion doch ein integraler Bestandteil in allen Bildungsprozessen, wenngleich sie den Bildungsprozess eher abrundet denn initiiert.

8.4 Das ‚Resultat‘ von Bildung – ethisch-normative Fragen an die Bildungstheorie Ich habe in der vorliegenden Studie nicht nur Bildungsprozesse in ihrem phasenhaften Verlauf rekonstruiert, sondern auch die normative Fundierung von transformativen Bildungsprozessen diskutiert (siehe Kap. 3) und diese Thematik zudem im Wechsel von Theorie und Empirie erkundet (siehe Kap. 7).

8.4  Das ‚Resultat‘ von Bildung – ethisch-normative …

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Klafki zufolge birgt der „Inhalt […] in sich den Weg, auf dem er zum Inhalt wurde“, während der „Weg […] notwendigerweise immer schon eine bestimmte Perspektive“ (Klafki 1974, S. 41) vorgebe. Diesen Hinweis darauf, dass ein (pädagogisch relevanter) Prozess nicht unabhängig von den in seinem Rahmen zum Tragen kommenden Inhalten ist und seine Beschaffenheit dabei aber zugleich die Bandbreite der möglichen inhaltlichen Qualifizierungen absteckt (siehe ausführlich hierzu Abschn. 3.1), möchte ich im Folgenden zum Ausgangspunkt meiner Erörterungen nehmen. Hierbei werde ich zunächst die Frage nach der inhaltlichen Qualifizierung der transformierten Habitus meiner Interviewpartner*innen aufzuwerfen, nachdem ich die Bildungsprozesse in dieser Arbeit in der Hauptsache hinsichtlich ihrer formalen Prozessstruktur betrachtetet hatte. Im Anschluss werde ich dann meine Auseinandersetzungen mit der Normativität der Ansätze transformativer Bildungstheorie zusammenfassend darlegen.

8.4.1 Zur inhaltlichen Qualifizierung der transformierten Habitus Auch wenn die Typisierung der verschiedenen Habitusformen nicht das Ziel meiner Studie war, sondern stets der Prozess ihrer Transformation im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, lohnt sich doch ein Blick darauf, welche inhaltliche Qualifizierung die im Kontext sozialer Protestbewegungen ausgebildeten Habitus haben. Diese lässt sich bei der Mehrzahl der für die Phasentypik der adoleszenten Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen (zu großen Teilen aus dem Spektrum der autonomen Bewegung) herangezogenen Befragten am Ende ihrer adoleszenten Bildungsprozesse als Habitus einer politisierten Negation konkretisieren (vgl. hierzu Abschn. 5.3). Der transformierte Habitus formiert sich – wie bereits ausgeführt – fallübergreifend maßgeblich über eine ‚inversive‘ Abgrenzung vom Herkunftsmilieu und/oder von konservativen und ideologisch rechts verorteten Weltbildern, und setzt nicht so sehr das binäre Schema einer Negation überschreitende Werte, was auch PfahlTraughber (2008) in Bezug auf die Bewegung der Autonomen konstatiert. Mit Crossley (2003) begrifflich näher am linksradikalen Bewegungskontext gelagert, könnte man auch von einem ‚radikalen Habitus‘ (ebd., S. 50) sprechen. Den Kern eines solchen sieht Crossley bei vielen Linksradikalen darin, dass er eine „disposition towards further political activism“ (ebd.) darstelle und als Bindeglied zwischen verschiedenen (Teil-)Bewegungen gelten könne, über die sich ihr Engagement meist erstreckt (vgl. hierzu auch Schwarzmeier 2001; Haunss 2013; Schuhmacher 2013) – was auch bei den jugendlichen ­Akteur*innen meines Samples der Fall ist.

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Die transformierten Habitus, die sich im Zuge der adulten Bildungsprozesse in der Fortsetzung des Engagements entfalten, weisen durchaus weiterhin Züge einer deutlichen (teils durchaus weiterhin radikalen) politischen Positionierung auf, sind zugleich aber weniger stark negierend als die Habitus der Jugendlichen (wie schon in der Darstellung der adulten Bildungsprozesse deutlich geworden ist; siehe hierzu auch Abschn. 6.1 und 6.2). Zwar spielt Negation auch in diesen Bildungsprozessen weiterhin eine Rolle, doch wird hier nun (auch) eine Positivsetzung zentral gestellt. Dies trifft auch auf die transformierten Habitus der beiden Frauen zu, die sich im Erwachsenenalter aus den sozialen Bewegungen zurückziehen. Beide sich in diesem Kontext entfaltenden Habitus zeichnen sich durch die inhaltliche Positivsetzung einer Thematik bzw. eines Prinzips aus und unterscheiden sich dahin gehend maßgeblich von der umfassenden politisierten Negation, von der ihr ‚post-transformativer‘ Habitus im Nachgang des jugendlichen Bildungsprozesses geprägt war. Ob der Habitus sich nun aber als politisierte Negation oder als Positivsetzung einer Erfahrungsdimension, eines Themas oder (politischen) Prinzips präsentiert, in beiden diesen Ausprägungen habe ich – anhand eines Falls von Bildung im Jugendalter und eines im Erwachsenenalter – Hinweise darauf finden können, dass sich der ‚post-transformative‘ Habitus in diesen Fällen in der Folge quasi selbst sichert (siehe hierzu Abschn. 7.2 und 7.3).11 Über die inhaltliche Qualifizierung des Habitus hinaus zeigt sich hier also auch die Bedeutung eines eher formalen Spezifikums, das wiederum seinerseits daran beteiligt ist, die inhaltliche Qualifizierung des Habitus (noch stärker) zur Geltung zu bringen. Es wird an den beiden Fällen deutlich, wie ein vormals (potenziell) prekärer biografischer Erfahrungshintergrund (die Gefahr von Stigmatisierung und fehlender sozialer Einbindung und Bestätigung) im Zuge des Bildungsprozesses zur richtungsweisenden und sogar stabilisierenden biografischen Ressource werden kann (siehe hierzu Kap. 7, aber auch Abschn. 5.2 und die Exkurse in Kap. 6). Auch sozialpsychologische Bewegungsforscher*innen konstatieren, dass das E ­ ngagement in sozialen Bewegungen eine identitäre Stabilisierung bzw. die Überwindung von Stigmatisierung begünstigen kann,

11Dies

warf wiederum die Frage nach der erneuten Transformierbarkeit des Habits auf und damit nach Nohl (vgl. 2006b, S. 116 f.), dem die Möglichkeit weiterer Transformationen als Kriterium für Bildung gilt, letztlich auch die Frage danach auf, ob diese Prozesse denn dann als Bildungsprozesse gelten können – eine Frage, die ich weiter unten noch diskutieren werde.

8.4  Das ‚Resultat‘ von Bildung – ethisch-normative …

501

wie dies Yang (2000a, S. 393) für Studierende „from ‚black‘ family backgrounds“ aufzeigt. Kaplan und Liu (2000) zufolge könne das Engagement in einer sozialen Bewegung eine durch biografische Vorerfahrungen ‚beschädigte‘ und/oder ‚stigmatisierte Identität‘ auffangen, wobei der Inhalt der Bewegung sich nicht zwangsläufig als eine Politisierung der stigmatisierten Erfahrungsanteile gestalten müsse (vgl. ebd., S. 233). Auch Bewegungen, bei denen andere Thematiken im Zentrum stehen, trügen zum Anstieg des Selbstwerts der Akteur*innen und somit zur identitären Stabilisierung bei (vgl. ebd.). In den beiden Bildungsfällen meines Samples, auf die ich mich hier beziehe, geht die Selbstsicherung ihrer Habitus in gewisser Weise über das ‚normale‘ Maß des von Bourdieu (1997) – ohnehin als starke Kraft beschriebenen – ‚Hysteresis-Effekts‘, der Trägheit des Habitus (siehe hierzu Abschn. 4.1.3), hinaus, nämlich dahin gehend, dass sich bei beiden Ansätze eines vereinheitlichenden „(Kausal-) Prinzips“ (Nohl et al. 2015a, S. 198) der Selbst- und Weltinterpretation zeigen. Werden potenzielle neue Erfahrungen dadurch, dass alles Fremde und potenziell Irritierende auf ein (Kausal-)Prinzip zurückgeführt wird, ihrer „Novität beraubt“ (ebd.), muss der Habitus sich ihnen nicht aussetzen und kann so seine eigene Stabilität selbst aktiv sicherstellen. Da ein solcher, sich selbst sichernder Habitus, der Neues nicht oder nur stark gefiltert ins Leben der Akteur*innen treten lässt, leicht den Pfad der Erfahrungsbasiertheit verlassen und „politischen Ideologien“ (Mannheim 1980, S. 78) Vorschub leisten kann, stellt sich die Frage, wo die Politisierung der eigenen Orientierungen endet und wo sie hingegen – im Sinne Mannheims (vgl. z. B. 1995, S. 53) – in eine (totale) Ideologisierung mündet (siehe hierzu ausführlich Abschn. 4.1.2.4). Bei letzterer hebt die politische Orientierung von der Erfahrungsbasis ab und bringt ein „Kollektivsubjekt“ (Mannheim 1995, S. 54) hervor, in dessen Rahmen das Individuum die „gemeinschaftlich vollzogenen Erlebnisstrecken, […] ganz explizit nicht als die seinen, sondern als der Gemeinschaft angehörig erlebt“ (Mannheim 1980, S. 78). Solche politischen Ideologien ließen die Einzelnen „nicht nur im eigenen Namen, sondern im Namen aller“ (ebd.) zur jeweiligen Gruppierung Gezählten handeln und denken. In keiner der beiden hier diskutierten Biografien ist eine solche ‚totale Ideologie‘ eindeutig zu rekonstruieren, jedoch sind bei beiden Ansätze eines vereinheitlichenden Prinzips der Selbst- und Weltinterpretation zu entdecken. Die Frage, wie ich solche ‚Engführungen‘ von Selbst und Welt, die zugleich jedoch durchaus Handlungserweiterungen für die einzelnen Akteur*innen bedeuten, bildungstheoretisch einordnen soll, regte mich zu Auseinandersetzungen mit der Normativität des Bildungskonzepts an.

502

8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

8.4.2 Zur Normativität von Bildung vis-a-vis ihrer empirischen Rekonstruktion Jedes Bildungsverständnis – auch jene der transformativen Bildungsansätze – muss theoretische Vorannahmen treffen, mit denen Bildung als solche erkennbar wird. Während andere pädagogische Konzepte – wie etwa das Lernen – als weitgehend wertneutral gelten, wohnt der Rede von Bildung hingegen eine (historisch gewachsene) ethische Funktion inne (siehe Abschn. 3.1). So eint die transformativen Bildungsansätze sowohl die (unterschiedlich explizit vorgebrachte) Grundannahme, dass Bildung eine Steigerung – der Komplexität, der Reflexivität und der subjektbezogenen Freiheit (Marotzki 1990), der diskursiven Vielfalt und Machtkritik (Koller 1999; Lüders 2007; Rose 2012) oder der relativen Freiheit gegenüber der tradierten Struktur (Nohl 2006b; Rosenberg 2011; Nohl et al. 2015a) – hervorbringt, als auch der Fokus auf der formal beschreibbaren, vom Lernen abgrenzbaren Prozessstruktur von Bildung (siehe zu diesen Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Ansätzen transformativer Bildung Abschn. 3.2). Zwar nimmt keiner der maßgeblich ‚formal‘ definierten, transformativen Bildungsansätze ethische Festlegungen vor, die Bildung in den Dienst einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe stellen oder den Bildungsinhalt maßgeblich in der Vermittlung eines bestimmten, ‚objektiven‘ Wissens sehen, doch gibt es vielfältige immanente Bezüge zur gesellschaftlichen Verfasstheit. So besteht die qualifizierende Richtung der ‚Form‘ des Prozesses bei einigen transformativen Bildungsansätzen darin, totalitaristische Tendenzen der ‚Bildungsergebnisse‘ auszuschließen (vgl. Koller 1999, 2015; in impliziter Form auch bei Nohl 2006b) oder Machtverhältnisse relational verschieben zu wollen (vgl. Koller 1999; Lüders 2007; Rose 2012). Und obwohl das praxeologische Verständnis von Bildung als Habitustransformation (vgl. Rosenberg 2011; Nohl et al. 2015a und Abschn. 3.2.3.2 in der vorliegenden Arbeit) in der Reihe der transformativen Bildungsansätze sicherlich zu denen, die ethisch am enthaltsamsten sind, zählt, so entbehrt es keinesfalls einer (wenn auch minimal-)ethischen Grundlegung, da Bildung hier auf eine relative Loslösung von tradierten Habitusdispositionen, d. h. von in der Vergangenheit ausgebildeten Strukturen abzielt. Im Gegensatz zu den anderen genannten Ansätzen transformativer Bildung belassen es von Rosenberg (2011) und Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a) – deren Bildungsbegriff auch ich meiner eigenen Untersuchung zugrundegelegt habe – in ethisch-normativer Hinsicht aber beim soeben genannten Bildungskriterium einer umfassenden Neurelationierung des Habitus und bestimmen für den Bildungsprozesse keinen qualifizierenden Soll-Zustand. Eine solche ethische Zurückhaltung ist unlängst zum Gegenstand von Kritik geworden

8.4  Das ‚Resultat‘ von Bildung – ethisch-normative …

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(siehe Abschn. 3.1), liefe sie doch Gefahr, einer ethischen Beliebigkeit anheimzufallen (vgl. Stojanov 2006; Rieger-Ladich 2014; Sanders 2014; Fuchs 2015). In meinen Auseinandersetzungen mit den verschiedenen normativen Gehalten der Bildungsverständnisse (siehe Abschn. 3.2) habe ich die Möglichkeiten und Grenzen der verschiedenen Formen des Umgangs mit der ethischen Fundierung von Bildung ausgelotet. Das ethische-normative Grundproblem zwischen einer ethischen Unbestimmtheit – die Raum für die Spezifizierung des Bildungsansatzes anhand des empirischen Materials zulässt, dies aber auch in gewissem Maße erforderlich macht, um nicht beliebig zu erscheinen – und einer ethischen Spezifizierung, z. B. anhand einer machtkritischen Fundierung von Bildung – mit der jedoch die mögliche Spannbreite dessen, was als Bildung erfasst werden kann, eingeschränkt wird –, scheint mir am Ende meiner Auseinandersetzungen nicht auflösbar (siehe Abschn. 3.3). Aus diesem Grunde sollte es meines Erachtens darum gehen, die „unhintergehbare Normativität“ (Lüders 2007, S. 110), den Umstand also, dass theoretische Festlegungen, die wiederum oftmals eine implizite Normativität beinhalten, vorgenommen werden müssen, und die „Nicht-Einholbarkeit der Aufgabenhaftigkeit von Bildung“ (Rosenberg 2011, S. 89), die Unmöglichkeit also, eine ethische Grundlegung über alle anderen (möglichen) zu stellen, gleichermaßen im Blick zu behalten und einen ­transparenten Umgang mit den jeweiligen Vorannahmen zu pflegen. Da Ziel und Aufgabe von Bildung also – in einem bildungsphilosophischen Sinne – nicht letztbegründbar zu bestimmen sind, wird dies mit dem Bildungsbegriff der vorliegenden Untersuchung auch gar nicht erst versucht. Stattdessen habe ich die relative ethische Unbestimmtheit des von mir verwendeten Bildungsbegriffs zum Ausgangspunkt eines erkundenden Vorgehens gemacht, bei dem ich zwischen dem empirischen Material und verschiedenen theoretischen Perspektiven in explorativer Absicht pendelte (siehe Kap. 7). Anhand der beiden Bildungsprozesse, in deren Zuge sich die bereits erwähnten sich selbst sichernden Habitus ausbildeten – und die, je nach Perspektive, als Einspurung in eine Richtung der Selbst- und Weltinterpretation oder aber als Grundlage für eine weitere Steigerung der Komplexität von Selbst- und Weltverhältnissen interpretierbar sind –, ließen sich die unterschiedlichen Definitionen der Aufgabenhaftigkeit von Bildung verschiedener transformativer Bildungsansätze (und des pädagogischen Ansatzes des Transformative Learning (vgl. Mezirow 1978a, b) miteinander ‚ins Gespräch‘ bringen. An den empirischen Beispielen konnte das bildungstheoretische Dilemma bzw. die paradoxale Struktur verdeutlicht werden, dass das, was für die Individualbiografie als Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten gelten kann, nicht unbedingt auch eine Steigerung des Vorhandenseins von ‚Welt‘ im einzelnen Akteur oder Subjekt mit sich bringen muss.

504

8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

Während der sich selbst sichernde Habitus als Resultat von Bildung mit denjenigen Ansätzen, die das Kriterium der erneuten Transformationsmöglichkeit (vgl. Nohl 2006b) oder der Komplexitätssteigerung der Selbst- und Weltverhältnisse (vgl. Marotzki 1990) mit Bildungsprozessen verknüpfen, Bildung in den beiden besprochenen Fällen zumindest fraglich werden lässt, ließ sich mit dem stärker gesellschaftlich orientierten Ansatz des Transformative Learning ein solcher transformativer Prozess klarer bejahen (siehe Abschn. 7.2 und 7.3). Dieses pädagogische Konzept, das im Zuge der Untersuchung von Prozessen im Kontext einer sozialen Bewegung entstanden ist, bietet eine Möglichkeit, die (kritisch konnotierte) ‚Engführung‘ von Selbst- und Weltinterpretation der Erweiterung des Selbst- und Weltverhältnisses nicht prinzipiell entgegenzustellen – insbesondere, wenn die ‚Engführung‘ den Ausschluss diskriminierender Anteile von Welt beinhaltet und so die Erweiterung in einem an universalen Werten orientierten Selbst- und Weltverhältnis besteht (vgl. Abschn. 3.2.4). Hier wird deutlich, dass der jeweiligen Bildungsdefinition bzw. Definition des pädagogischen Grundbegriffs ein gewichtiger Platz als verbindendes Element zwischen der Rekonstruktionsleistung der Forschung und der immanenten Normativität der untersuchten, pädagogisch relevanten Prozesse in einem spezifischen sozialen ‚Raum‘ zukommt. Die unterschiedlichen Bewertungen der beiden empirischen Bildungsprozesse durch die verschiedenen transformativen Bildungsansätze und dem Ansatz des Transformative Learning, mit denen ich sie konfrontiert habe, zeigt die Wichtigkeit einer Transparenz der zugrunde gelegten Normativitäten pädagogischer Ansätze auf. Die Theorie des Transformative Learning z. B. könnte hilfreich sein, um Habitustransformationen, die einen sich selbst sichernden Habitus ausbilden, in ihre politisierten Entstehungskontexte einzuordnen und gezielter vor dem Hintergrund von Normen, die diesem Gegenstandsbereich von Bildung stärker Rechnung zollen, zu bewerten. Eine solche Konfrontation der Empirie mit den ‚Normativitäten‘ anderer Ansätze ist jedoch, wie ich bereits andeutete, nur dadurch möglich, dass die von mir rekonstruierten Bildungsprozesse vor der Folie eines Bildungsbegriffs rekonstruiert wurden, der ohne ethische Festlegungen auskommt, die über das Kriterium der Transformation von in der Vergangenheit entstandenen Strukturen des Habitus hinausgehen. So ist auch dieser Blick für das, was sich in der Empirie zeigt, von theoretischen Grundannahmen geprägt, gibt aber der empirischen Breite relativ großen Raum. Auf der Grundlage der in diesem Sinne von mir rekonstruierten Bildungsprozesse konnten die anderen Ansätze der Bildungstheorie meine bisherigen empirischen Ergebnisse konfrontieren und zusätzliche Perspektiven liefern (siehe Abschn. 7.2). Ziel war es dabei nie, eine Lösung für das Spannungsverhältnis zwischen der Aufgabenhaftigkeit

8.5  Ausblick auf anschließende Forschungsfragen

505

von Bildung bei der gleichzeitigen Unmöglichkeit, universell gültige Normen festzulegen, zu finden. Vielmehr ging es darum, mehr Transparenz in Bezug auf die ethische Grundlegung der diskutierten Bildungsansätze zu schaffen und dabei auch den eigenen Ansatz nicht auszusparen.

8.5 Ausblick auf anschließende Forschungsfragen Während ich am Forschungsstand zu biografischen Veränderungsprozessen im Kontext sozialer Protestbewegungen kritisiert hatte, dass die Betrachtung von Biografien einzelner Akteur*innen und ihrer biografischen (Veränderungs-) Prozesse in der Bewegungsforschung nach wie vor randständig ist, und meine Arbeit an diesem Forschungsdesiderat angesetzt habe (siehe Kap. 2), ist mir zugleich bewusst, dass auch die von mir angelegte Perspektive ihrerseits zahlreiche Aspekte unberücksichtigt lässt. Nachdem ich nun die Befunde meiner Studie präsentiert habe, möchte ich zum Abschluss meiner Untersuchung noch einige anschließende Forschungsfragen aufwerfen, mit denen der eine oder andere Aspekt, der in meiner Untersuchung randständig blieb, in anschließenden Forschungsvorhaben beleuchtet werden könnte. In empirischer Hinsicht habe ich mit der vorliegenden Studie eine Prozessanalyse des phasenhaften Verlaufs von Habitustransformationen vorgelegt (siehe zur empirischen Rekonstruktion Kap. 5 und 6). Anhand der Unterschiede zwischen den Prozessverläufen bzw. der Ausprägungen der verschiedenen Phasen der Prozesse von Jugendlichen und Erwachsenen im Kontext sozialer Bewegungen konnte ich Lebensaltersspezifika herausarbeiten. Diese stellen, auf den Erfahrungshintergrund des Lebensalters bezogen, eine soziogenetische Typisierung dar. Gegenstandsspezifische Besonderheiten der Bildungsprozesse in sozialen Bewegungen ließen sich durch die Diskussion meiner empirischen Ergebnisse vor dem Hintergrund der phasenhaften Bildungsverläufe anderer Fallgruppen, deren Bildungsprozesse sich nicht im Kontext sozialer Bewegungen vollzogen, aufzeigen.12 Solche Gegenstandsspezifika scheinen auch an meinem eigenen empirischen Material auf, nämlich anhand der vergleichenden Betrachtung der Prozesse von auf der einen Seite Jugendlichen und Erwachsenen,

12Hierbei

handelte es sich um die Bildungsphasentypiken aus den Studien von Nohl 2006b und von Rosenberg 2011 sowie aus der gemeinsamen Studie von Nohl, von Rosenberg und Thomsen (2015a), in die die genannten Vorarbeiten von Nohl und Rosenberg eingeflossen sind.

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

die sich im Rahmen des Engagements in sozialen Bewegungen vollziehen, und auf der anderen Seite der Prozesse von den beiden Erwachsenen, die sich aus den sozialen Bewegungen zurückziehen. Aufgrund der geringen Fallzahl von nur zwei Erwachsenen aus letztgenannter Gruppe geben die von mir rekonstruierten gegenstandsspezifischen Unterschiede jedoch nur erste Hinweise auf entsprechende Zusammenhänge. Angesichts dessen, dass der Rückzug aus der Bewegung sich bei beiden Frauen im Kontext einer Distanzierung von der spezifischen Form des Habitus, wie sie ihn im Kontext ihrer Einfindung in die soziale Bewegung ausgebildet hatten, vollzieht, werden hier relationale Typisierungen von Habitusform und Prozessverlauf denkbar. Unter dem Gesichtspunkt aber, dass die soziale Bewegung einen spezifischen Erfahrungsraum darstellt, der eine andere Ausprägung der Prozesse erlaubt und bedingt, als andere Erfahrungsräume jenseits von sozialen Bewegungen, könnte hier ebenso ein Hinweis auf soziogenetische Zusammenhänge vorliegen. Dies gilt es, in Anschlussarbeiten, auch anhand der Ausweitung der empirischen Fallzahl, näher zu ergründen. In diesem Zuge könnte dann auch die inhaltliche Qualifizierung der im Bewegungsengagement ausgebildeten bzw. der im Zuge einer Neuorientierung oder Abkehr vom Engagement erneut transformierten Habitus, welche ich nur in Ansätzen geleistet habe, in typisierender Absicht weiterverfolgt werden (siehe Kap. 4, Abschn. 4.2.2.3.3). Ich konnte anhand meines empirischen Materials die hohe Bedeutung von Kollektivität für die Bildungsprozesse im Zuge des Engagements in sozialen Bewegungen aufzeigen (siehe Abschn. 5.3 und 6.1). Die sich in diesem Kontext entfaltenden und transformierenden Habitus noch dezidierter hinsichtlich ihrer kollektiven Verfasstheit und milieuspezifischen Entstehung zu erfassen, wäre aus diesem Grunde für die weitere Forschungsarbeit von Interesse. Anhand des Gruppendiskussionsverfahrens, wie es z. B. Naumann (2008) bei bürgerschaftlichen Initiativen angewendet hat und damit stärker an die Kollektivität der Prozesse in diesen Zusammenschlüssen herangekommen ist, könnte eine solche Erweiterung der Erkenntnisse über die Art und Weise, wie im kollektiven Kontext sozialer Bewegungen konjunktive Orientierungen entstehen und reproduziert werden, erreicht werden. Eine strukturiertere, auf größerer empirischer Basis stehende und zusätzlich auf der Basis von Gruppendiskussionen erarbeitete inhaltliche Typisierung der Habitus würde die Spezifik der sozialen Bewegungen und der sich in ihrem Kontext vollziehenden (Bildung-)Prozesse sicherlich weiter erhellen. Während der Habitusbegriff jedoch „Gesellschaft nur vermittelt und aus der Perspektive einer subjektiven und/oder kollektiven Aneignung in den Blick“ (Rosenberg 2011, S. 89) nimmt, könnte es für anschließende Forschungsarbeiten zudem lohnend sein, auch die zu Bourdieus Habitusbegriff komplementäre

8.5  Ausblick auf anschließende Forschungsfragen

507

­ omponente des ‚Feldes‘ (hier: sozialer Bewegungen) einer näheren Analyse zu K unterziehen. Mit diesem ließe sich der Blick auf die von Bourdieu (1992, S. 111) so gefassten „historisch konstituierte[n] Spielräume mit ihren spezifischen Institutionen und je eigenen Funktionsgesetzen“ lenken. So würde eine strukturiertere Analyse des Feldes sozialer Bewegungen nicht nur einen dezidierteren Zugang zu seinen ‚Spielräumen‘ bereiten, sondern auch die in seinem Rahmen gesetzten Grenzen aufzeigen; ähnlich, wie dies von Rosenberg (2011) mit seinen diskursanalytischen Feldrekonstruktionen und Dehnavi (2013) anhand von zeithistorischen Kontextbeschreibungen unternommen haben. Auch ein systematischer Blick auf die Unterschiede innerhalb des ‚Feldes‘ der sozialen Bewegungen wäre aufschlussreich, wird doch nicht allen sozialen Bewegungen dasselbe Potential für biografische Transformationen zugesprochen – so betrachtet z. B. Yang (2000a) das Potential verschiedener Bewegungen für emotionale Transformationen als abhängig vom Ausmaß ihrer Abkehr von gesellschaftlich vorherrschenden Regeln und Normen (vgl. auch Benski und Langman 2013, z. B. S. 534). Der Vergleich der Prozesse meiner Interviewpartner*innen zu Prozessen von Akteur*innen aus weniger radikalen Bewegungen, könnte weiteren Aufschluss über Zusammenhänge zwischen der ‚Form‘ der Bildungsprozesse, der in ihrem Kontext ausgebildeten Habitus und der spezifischen Inhalte, gesellschaftlichen Positionierung und Bedeutung der jeweiligen sozialen Bewegungen geben. Ebenso wäre ein Vergleich zu sozialen Bewegungen, die am anderen Ende des ‚Rechts-Links-Schemas‘ stehen, sinnvoll, um zu ergründen, ob deren Prozesse eine gänzlich andere Form annehmen bzw. welche Gemeinsamkeiten von Protest zwischen den verschiedenen politischen Lagern bestehen. Angesprochen ist mit dem stärkeren Einbezug des Feldes auch die Thematik von Machtverhältnissen, welche ich in meiner Arbeit nur randständig behandelt habe. Wenngleich eine Fokussierung der Machtthematik, wie ich im Zuge meiner Auseinandersetzungen mit der Normativität des Bildungsbegriffes hervorgehoben hatte, in gewisser Weise den Nachteil einer Engführung des Blicks auf die Empirie mit sich bringen kann, so ermöglicht sie zugleich eine Perspektive, die zu erfassen mir nicht möglich war und die als Ergänzung zum ethisch weniger spezifizierten Blick auf die ‚empirische Breite‘ wünschenswert wäre – gerade angesichts dessen, dass in sozialen Bewegungen nicht zuletzt auch um Kämpfe um die soziale Ordnung geht. Einen weiteren Aspekt, der in meiner Studie aufschien, gelte es in anschließenden Arbeiten systematischer zu ergründen: zeitspezifische Kontingenzen bzw. die Erfahrungsdimension der Generationenzugehörigkeit (Hinweise darauf finden sich im Abschn. 5.3). Mein Sample umfasste – angesichts des Alters

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8  Bildung im Kontext sozialer Bewegungen – Ergebnisse …

der Interviewten zwischen 31 und 65 Jahren – unterschiedliche Generationen und zeithistorische Kontexte. Für eine systematische Rekonstruktion der in diesem Zusammenhang in meiner Empirie aufscheinenden Aspekte – z. B. die umfassende Aufbruchsstimmung der 1968er oder der Einfluss des nationalsozialistischen Erbes auf die Nachfolgegenerationen, wie sich dies für die ­politischen Orientierungen der Frauen aus Miethes (1999) Studie als relevant erwiesen hat – lagen mir nicht genügend Vergleichsfälle gleichen Alters vor. Eine stärkere Berücksichtigung des Alters der Interviewten, sowie der Einbezug auch derjenigen Interviews, die ich mit jungen Erwachsenen Anfang 20 geführt und aus unterschiedlichen Gründen nicht mit einbezogen hatte (siehe hierzu ausführlicher Abschn. 4.2.1.1), schiene für anschließende Forschungsarbeiten lohnenswert, um so an die zeitspezifischen und generationsbezogenen Aspekte heranzukommen. Zu guter Letzt stellt sich noch die Frage nach den Anschlussmöglichkeiten der in meiner Studie gewonnenen Erkenntnisse über die sich selbstläufig, vorrangig in informellen Kontexten entfaltenden Bildungsprozesse an die Theorie und Praxis organisierter Kontexte des Lehrens und Lernens in der außerschulischen Jugendbildung und organisierten Erwachsenenbildung. Dies berührt auch die Frage, wie die Erkenntnisse einer rekonstruktiven Forschung, die pädagogische Prozesse post actu beleuchtet, für die Anforderungen einer anwendungsorientierten pädagogischen Theorie und Praxis, die nach pädagogischen Zielformulierungen verlangt, fruchtbar gemacht werden können, ohne das eine unter das andere zu subsummieren. Dies war nicht Gegenstand meiner Forschung, doch scheint es mir lohnenswert, künftig diesbezüglich nach Antworten zu suchen. So habe ich im Zuge der vorliegenden Forschungsarbeit zwar zahlreiche Themen aufgeworfen – und teils auch sehr intensiv bearbeitet – und doch bleiben am Schluss viele Forschungsdesiderata und (neu aufgekommene) Fragen übrig. Ganz am Ende der vorliegenden Untersuchung möchte ich aus diesem Grunde einen Vergleich zwischen der eigenen ‚Forschungsreise‘ und den in diesem Zuge rekonstruierten transformativen Bildungsprozessen im Kontext sozialer Bewegungen wagen: Es hat sich gezeigt, dass ihre biografischen Transformationen von den Akteur*innen selbst am Beginn der Bildungsprozesse nicht vorhergesehen wurden, jedenfalls nicht in der Art und Weise, in der sie sich letztlich vollzogen haben. In ähnlicher Form trifft dies auch auf den von mir beschrittenen Forschungsprozess zu. Am Anfang standen eher vage, biografisch inspirierte Ideen, die sich über die Beschäftigung mit dem empirischen Material nach und nach zu gezielteren Fragen konkretisierten. Die Sichtung der theoretischen Zugänge brachte wiederum neue Perspektiven und einige (erste)

Literatur

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Antworten, die jedoch ihrerseits neue Fragen an die Empirie aufwarfen und mit ihr konfrontiert wurden. Dieses, von der bildungstheoretisch fundierten Biografieforschung als reflexives Ineinander von Theorie und Empirie gekennzeichnete Forschungsvorgehen (siehe Kap. 3), bringt Forschungsprozesse mit sich, die – ähnlich wie Bildungsprozesse auch – nicht vollends abschließbar sind (Koller 1999, S. 153; Nohl 2006b, S. 116 f. und 210 f.; Lüders 2007, S. 255; Rosenberg 2011, S. 317) und somit lediglich ein vorläufiges Ende haben. In diesem Sinne beende auch ich die hier unternommene ‚Reise‘ nur vorläufig und bin gespannt auf künftige Möglichkeiten der Erkenntnis.

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Anhang

Richtlinien der Transkription (.) Pause bis zu einer Sekunde (2) Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert nein betont nein laut (in Relation zu üblichen Redelautstärke) °nee° sehr leise (in Relation zu üblichen Redelautstärke) . stark sinkende Intonation ; schwach sinkende Intonation ? stark steigende Intonation , schwach steigende Intonation viell- Abbruch eines Wortes oh=nee Wortverschleifung nei::n Dehnung, Häufigkeit vom:entspricht der Länge der Dehnung (doch) Unsicherheit in der Transcription, schwer verständliche Aussage ( ) unverständliche Äußerung, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung ((stöhnt)) Kommentar bzw. Anmerkung zu parasprachlichen, nicht-verbalen oder gesprächsexternen Ereignissen; die Länge der Klammer entspricht im Falle der Kommentierung parasprachlicher Äußerungen (z. B. Stöhnen) etwa der Dauer der Äußerung @nein@ lachend gesprochen @(.)@ kurzes Auflachen @(3)@ 3 Sek. Lachen //mhm// Hörersignal des Interviewers, wenn das //mhm// nicht überlappend ist

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5

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Weiterführende Literatur

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Thomsen, Bildung in Protestbewegungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24199-5

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