Bewährungsproben einer Nation: Die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland. Mit einem Vorwort von Volker Rühe [1 ed.] 9783428535705, 9783428135707

Warum entsenden wir Soldaten in die Welt? Ist das in unserem Interesse? Ist es rechtlich und moralisch zu rechtfertigen?

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Bewährungsproben einer Nation: Die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland. Mit einem Vorwort von Volker Rühe [1 ed.]
 9783428535705, 9783428135707

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Christoph Schwegmann (Hrsg.)

Bewährungsproben einer Nation Die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland

Duncker & Humblot

Mit einem Vorwort von Volker Rühe

Bewährungsproben einer Nation

Bewährungsproben einer Nation Die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland

Herausgegeben von Christoph Schwegmann

Mit einem Vorwort von Volker Rühe

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Dieser Band ist auf Vermittlung von Sebastian Fischer-Jung / POLITHEK zustandegekommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbilder: Sitzung des 16. Deutschen Bundestages: Beratung und Beschlussfassung über die Fortsetzung des Einsatzes deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe  © Deutscher Bundestag / Anke Jacob Bundeswehrsoldat der Isaf-Einsatzgruppe bei Faisabad, nördlich von Kabul (20. September 2008) © Reuters / Fabrizio Bensch Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L 101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13570-7 (Print) ISBN 978-3-428-53570-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83570-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort: Sicherheitspolitik und Auslandseinsätze Von Volker Rühe Der erste Kampfeinsatz deutscher Streitkräfte ist mir noch gut in Erinnerung. Piloten des Jagdbomber-Geschwaders 32 hatten im Sommer 1995 den Auftrag, mit ihren Tornados Teile der bosnisch-serbischen Luftabwehr auszuschalten, um so den anderen Nato-Flugzeugen die Durchsetzung des vom UnoSicherheitsrat verhängten Flugverbots zu erleichtern. Es war ein gefährlicher Einsatz, denn unsere Maschinen hätten durch die Luftabwehr abgeschossen werden können. In den Jahren zuvor hatte die Bundeswehr bereits mit ihrer Marine und als Teil der Nato-Awacs Besatzungen an der Durchsetzung des internationalen Waffenembargos gegen die Staaten des ehemaligen Jugoslawien und der Kontrolle des Flugverbots über Bosnien-Herzegowina teilgenommen. Dagegen hatte nicht nur die Opposition, sondern sogar die Regierungspartei FDP geklagt. Es war für mich auch persönlich eine große Erleichterung, als das Bundesverfassungsgericht im Juni 1994 die Legalität dieser Einsätze feststellte. Endlich war die deutsche Bündnisfähigkeit auch rechtlich gesichert und juristische Zweifel am Bundeswehreinsatz waren beseitigt. Letzteres war vor allem für die eingesetzten Soldaten von höchster Bedeutung. Politisch besteht bei Bundesregierung und Bundestag anscheinend bis heute eine Unsicherheit fort. Die Fragen lauten: Was darf Deutschland militärisch leisten und was möchte es eigentlich leisten dürfen? Ich selbst orientierte mich bei dieser Fragestellung bereits zu Beginn der 90er Jahre an drei Grundprinzipien deutscher Sicherheitspolitik, die aus meiner Sicht noch heute gültig sind: Erstens, Deutschland besitzt eine Mitverantwortung für Frieden und Stabilität, die sich aus seinen nationalen Werten und Inte­

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ressen, seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung vor allem in und für Europa und aus den Lehren unserer Geschichte ergibt. Zweitens, Deutschland agiert nur im Rahmen des Völkerrechts und gemeinsam mit Partnern. Drittens, für den Einsatz militärischer Gewalt benötigt die Regierung eine breite Rückendeckung in Parlament und Bevölkerung – die bei einem Land, das bis 1990 allein auf die Landes- und Bündnisverteidigung fixiert war, nur in behutsamen Schritten gewonnen werden konnte. Diese Prinzipien erscheinen selbstverständlich. Entscheidend sind jedoch die Konsequenzen, die aus ihrer Umsetzung gezogen werden. Das demokratische Deutschland verdankt seinen europäischen und nordamerikanischen Verbündeten in der Nato nichts weniger als seine Freiheit. Ohne die Solidarität während der BerlinKrise 1958 und über die ganze Zeit des Kalten Krieges hätte sich die Bundesrepublik kaum gegen die sowjetische Bedrohung behaupten können. 1990 hätte es vermutlich keine deutsche Wiedervereinigung in freiheitlicher Selbstbestimmung gegeben. Die eigene Leistung der Bundesrepublik war während dieser Jahrzehnte nicht auf seinen Verteidigungsbeitrag beschränkt. Von herausragendem Wert war vor allem das große Vertrauen, das unser Land als freiheitlicher demokratischer Staat in Europa und weltweit gewinnen konnte. Dies betraf nicht nur den politischen Westen. Als ich beispielsweise Mitte der 80er Jahre als stellvertretender Vorsitzender der CDU / CSU-Fraktion nach Polen reiste, um mit Vertretern der Solidarność zu sprechen, offenbarten sich diese als große Befürworter einer deutschen Wiedervereinigung. Sie waren überzeugt, ein vereintes Deutschland könne nur ein demokratisches Deutschland sein. Die DDR wirkte geographisch zudem wie ein Riegel, der Polen den Zugang zur demokratischen Welt verwehrte. Die Demokratiebewegung in Polen – dem Land, das unter der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg so gelitten hatte – sah in der Bundesrepublik Deutschland einen Partner, an dessen politische Standfestigkeit gegenüber Moskau und Ost-Berlin sie viele Hoffnungen  knüpfte. Dieses Zutrauen wurde nur durch die völkerrechtlich offenen Grenzfragen getrübt. Viele Polen fürchteten, im Falle einer deutschen Wiedervereinigung würde die Westgrenze



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­ olens wieder in Frage gestellt. Um diesen Ängsten entgegen P zu wirken, forderte ich im Deutschen Bundestag bereits 1985 – als die Zeitenwende von 1989 noch unvorstellbar erschien –, dass auch im Falle einer Wiedervereinigung der WarschauerVertrag und damit die Oder-Neiße-Grenze Bestand haben müsse. Die ursprünglich vor allem in der Union umstrittene Forderung wurde dann 1990 mit der Unterzeichnung der DeutschPolnischen Grenzverträge umgesetzt. Dass sich das Vertrauen in unser Land auch auf den Einsatz der Bundeswehr erstreckte, offenbarte sich zum Beginn der 90er Jahre, als vor allem unsere westlichen Partner Deutschland auch zur militärischen Unterstützung von Operationen unter dem Mandat der Vereinten Nationen aufforderten. Bereits im Mai 1992, lediglich sechs Wochen nach meinem Amtsantritt als Verteidigungsminister, entschloss ich mich alles zu tun, um Deutschland eine Beteiligung an der VN-Friedensmission in Kambodscha zu ermög­ lichen, mit welcher der Übergang vom Bürgerkrieg zu einem ­demokratischen Staat gestaltet wurde. Die CDU-geführte Bundesregierung hatte sich bis dahin nicht zugetraut, der Bitte des Uno-Generalsekretärs Butros Butros-Ghali zu entsprechen. Für diesen Schritt benötigte ich jedoch eine breite politische Basis. Deshalb wandte ich mich zunächst an den Fraktionsvorsitzenden der oppositionellen Sozialdemokraten, Hans-Ulrich Klose. Dieser versprach seine Unterstützung, die er unmittelbar und noch in meinem Beisein in einem Telefonat mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden Björn Engholm absicherte. Damit war eine breite parlamentarische Mehrheit garantiert, ohne die eine Entsendung von 150 Sanitätssoldaten für den Betrieb eines Krankenhauses nicht möglich gewesen wäre. Anschließend folgten die ersten militärischen Einsätze in Somalia und jene auf dem Balkan. Dort ergab sich nach dem Friedensvertrag von Dayton die Frage, ob deutsche Soldaten als Teil der Nato-geführten internationalen Schutztruppe in einem Land stationiert werden dürften, in dem die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs Kriegsverbrechen begangen hatte. Diese Frage nahm ich sehr ernst. Allerdings bin ich bis heute der Auffassung, dass nicht allein der Einsatz mi-

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litärischer Mittel moralisch begründet werden muss, sondern auch die Verweigerung militärischer Hilfe einer Rechtfertigung bedarf. Eine Auffassung, die in meiner Amtszeit durch die Massaker in Srebrenica und den Genozid in Ruanda bestätigt wurde. In beiden Fällen hat die Staatengemeinschaft lebensbedrohten Menschen ihren militärischen Schutz verweigert und dadurch Schuld auf sich geladen. Bei der Entsendung deutscher Stabilisierungstruppen nach Bosnien-Herzegowina galt es zudem deutlich zu machen, dass sich die Bundeswehr in keiner Traditionslinie zur Wehrmacht befindet. Die Bundeswehr ist die Armee eines demokratischen Rechtsstaates, der ganz bewusst seine Lehren aus der deutschen Vergangenheit gezogen hat. Schließlich suchte die Bundesregierung direkte Gespräche mit allen drei ehemaligen Kriegsparteien vor Ort. Diese bestätigten, dass die deutschen Bedenken unbegründet waren. Wenn wir künftig wieder einmal gefragt werden, ob wir in einer Region mit unseren Soldaten zu Frieden und Stabilität beitragen können, sollte deswegen nicht der erste Reflex ein Blick in unsere Geschichtsbücher sein, sondern eine Abwägung unserer Interessen und die Sondierung der Zustimmung in der  Region. Dies gilt zum Beispiel für den Nahen Osten, ­dessen Instabilität immer wieder nach Europa ausstrahlt. ­Sollten wir dort im Falle einer Friedenslösung zwischen Is­ rael  und Pa­lästina zur dauerhaften Stabilisierung auch mit Hilfe der  Bundeswehr beitragen können und dies von allen Parteien gewünscht werden, so sollten wir dieses Anliegen ernsthaft ­prüfen. In allen Bundeswehreinsätzen unter meiner politischen Führung ging es auch um die Wahrung und Nutzung unserer strategischen Handlungsfähigkeit. Damals wie heute ist dafür entscheidend, dass Deutschland seine Sicherheitspolitik und mögliche Beteiligungen an militärischen Einsätzen prinzipiell in die Politik der atlantischen und europäischen Nationen einbettet. Deshalb war es schlichtweg falsch, dass sich Deutschland im März 2011 im Weltsicherheitsrat bei der Verabschiedung der VN-Resolution 1973 – wohlgemerkt bei Zustimmung der USA, Frankreichs,



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Großbritanniens und Portugals – enthalten hat. Es war ein Bruch mit den bewährten und wichtigsten Traditionslinien deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Richtig wäre gewesen, wenn Deutschland dieser Resolution, die das unmittelbare Ziel hatte, ein Massaker des Gaddafi-Regimes an den Aufständischen zu verhindern, zugestimmt hätte und sich anschließend als Teil der Nato-Awacs Missionen und mit der Marine an den Über­ wachungsmaßnahmen der Nato beteiligt hätte. Die Bundesregierung wiederholte und verstärkte mit ihrem Handeln ihren Sündenfall vom Jahresanfang. Damals hatte sie den vorüber­gehenden Abzug deutscher Soldaten aus den integrierten Awacs-Verbänden der Nato beschlossen, die für die Koordinierung des Luftraums über Afghanistan eingesetzt werden. Die Awacs-Maschinen, in deren Nato-Verband Deutschland 30 Prozent des Personals und den Kommandeur stellt, konnten in der Folge nur mühsam und mit erheblichen Lasten für unsere Partner betrieben werden. Mit dieser Verweigerung der Bündnissolidarität wird es unserem Land künftig sehr schwer fallen, andere Staaten für gemeinsame Projekte im Rahmen europäischer Lösungen zu begeistern. Welcher Staat wird seine Bürger überzeugen können, sich politisch und mit gemeinsamen militärischen Fähigkeiten von uns abhängig zu machen, wenn Deutschland sich der Nutzung von gemeinsam finanzierten und betriebenen Systemen bereits bei jenen Einsätzen verweigert, die es selbst mitentschieden hat? Die Bundesregierung wird hart daran arbeiten müssen, das zerstörte Vertrauen neu zu gewinnen. Multinationale europäische Lösungen sind dringend notwendig, um die sicherheitspolitische und militärische Handlungsfähigkeit Europas zu sichern. Nur wenn die Europäer ihre Kräfte bündeln, können sie in Zeiten sinkender Verteidigungsetats und teilweise drastischer Reduzierungen der Streitkräfteumfänge – nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Staaten der Allianz  – ein wirksames und glaubwürdiges Abschreckungs- und Interventionspotential erhalten. Dabei sind realistische Vorhaben und keine Träumereien gefragt. Die Vorstellung von einer europäischen Armee in einem europäischen Bundesstaat mit einer europäischen Regierung ist in einer EU mit 27 Mitgliedern

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utopisch. Ein militärischer Verbund mit komplementären militärischen Strukturen liegt dagegen im Bereich des Möglichen. Pooling und Sharing, also die Nutzung gemeinsamer Fähigkeiten und eine Arbeits- und Aufgabenteilung bei der europäischen Verteidigung, sind dafür die seit langem bekannten Rezepte. Die Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, gegenseitige Abhängigkeiten einzugehen, ohne dabei nationale Entscheidungsspielräume völlig aufzugeben. In Zeiten, in denen Frankreich und Großbritannien ernsthafte Überlegungen über die gemeinsame Nutzung eines Flugzeugträgers anstellen, darf Deutschland nicht abseits stehen, sondern muss eigene mutige Vorschläge einbringen. Deutschland hat oft bewiesen, wie gut es in der Lage ist, in Nato und EU konsensfähige Positionen zu erarbeiten und im Verbund mit andern zu führen. Es besitzt dafür die ökonomische Stärke, die richtige Größe und die gewachsene politische Stellung, es ist ebenso erprobter Partner Nordamerikas wie Verfechter einer vertieften europäischen Integration, und Deutschland war stets ein glaubwürdiger Vermittler zwischen kleinen und großen sowie neuen und alten Mitgliedstaaten. Gerade wenn kleinere Länder auf Fähigkeiten verzichten und zum Beispiel – wie es die Balten seit Jahren vorleben – ihren Luftraum durch andere Staaten schützen lassen, können sie ihre Mittel in andere wichtige Fähigkeiten investieren und einen Mehrwert für die Partner erbringen. Warum sollten wir solche Modelle also nicht ausweiten und an einem gemeinsamen Kommando zur Luftraumüberwachung arbeiten, in dem beispielsweise Deutschland und Polen auch die Gebiete Ungarns und Tschechiens ab­decken? Ähn­ liches ließe sich bei der Marine denken, bei der Deutschland gemeinsam mit Skandinaviern, Balten, Polen und Briten agieren könnte – um nur einige Beispiele zu nennen. Ein Verharren in nationalen Planungen führt nur dazu, dass die Europäer gemeinsam immer weniger leisten können. Neue und richtige Initiativen zur Stärkung europäischer militärischer ­Fähigkeiten, wie die von Deutschland und Schweden beförderte Gent-Initiative für eine abgestimmte Rüstungsplanung der ­Europäer, wurden zwar in den letzten Monaten auf den Weg gebracht, aber sie bringen Europa noch nicht entscheidend weiter.



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Von uns Deutschen erfordert solch eine Politik die Bereitschaft, sich in allen militärischen Fragen den Standards anzunähern, die auch bei unseren Verbündeten gelten. Für mich waren dabei stets Frankreich und Großbritannien jene Länder, mit denen sich Deutschland vergleichen sollte. In der innenpolitischen Debatte mögen deutsche Vorbehalte bei der Einsatzführung als Ausdruck nationaler Souveränität gelten. Im Rahmen von völkerrechtlich abgesicherten, einstimmig beschlossenen und gemeinsam ausgeplanten Bündnisoperationen wirken sie oftmals unsolidarisch und auch moralisch fragwürdig. Als mich mein Inspekteur der Luftwaffe 1993 bat, den Abwurf von Hilfsgütern über dem belagerten Sarajewo abzubrechen, da unsere Transall-Maschinen beschossen würden, fragte ich, ob unsere Alliierten ebenfalls ihre Flüge einstellten. Da dies jedoch nicht der Fall war, befahl ich, die Bundeswehr habe zur Versorgung der notleidenden Menschen dasselbe Risiko zu tragen wie unsere Verbündeten. Als später die Deutsch-Französische Brigade für den Stabilisierungseinsatz in Bosnien eingesetzt wurde, achtete ich entsprechend darauf, dass beide Nationen identische Einsatzregeln bekamen. In Afghanistan dagegen haben sowohl die rot-grüne, als auch die schwarz-rote Bundesregierung sträflich versäumt, den Afghanistaneinsatz frühzeitig als Beteiligung an einer kriegsähnlichen Mission zu deklarieren, obwohl andere Teile der International Security and Assistance Force (ISAF), vor allem Briten, Kanadier, Amerikaner und Holländer, im Süden und Osten umfangreiche Gefechte durchführten. Es offenbarte mangelndes Verständnis vom Wesen einer Militärallianz, dass beide Bundesregierungen gegenüber der eigenen Bevölkerung den Eindruck erweckten, die Gefechte der Verbündeten im Süden und Osten stünden mit der von Deutschland im Norden des Landes betriebenen Operationsführung im Stile einer bewaffneten Entwicklungshilfe nur in losem Zusammenhang. Tatsächlich besaß auch Deutschland bereits mit dem Zeitpunkt, als die Nato 2004 die Gesamtverantwortung für die Isaf übernahm, eine politische Mitverantwortung für alle Teile des Landes. Einige Politiker, wie Karl-Theodor zu Guttenberg oder Hans-Ulrich Klose, haben auf diese Zusammenhänge frühzeitig hingewiesen und bereits vor einigen Jahren eine zu-

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mindest begrenzte Beteiligung der Bundeswehr in Südafghanistan gefordert. Zu den unverständlichen Entscheidungen gehört auch, warum es der Bundeswehr politisch nie gestattet wurde, ebenfalls im Süden gemeinsam mit den Niederländern – die sich mit dem Deutsch-Niederländischen Korps in Münster so eng an Deutschland gebunden haben, wie kein anderes Land – zu wirken. Des Weiteren war es in jeder Hinsicht inkonsequent, dass der Bundestag der Luftwaffe die Luftnahunterstützung deutscher Soldaten in Afghanistan untersagte, während Kommandeure der Bundeswehr in Gefechten regelmäßig die Unterstützung meist amerikanischer Flugzeuge anfordern mussten. Als sich die Bundesregierung endlich der Einschätzung anschloss, Deutschland befinde sich in Afghanistan in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt, so unternahm sie dies deshalb, weil sich die Kämpfe bereits auf den Norden verlagert hatten und die deutschen Soldaten dringend Rechtssicherheit für ihr militärisches Handeln benötigten. Dennoch bleibt es ein wichtiger Verdienst Karl-Theodor zu Guttenbergs, dass er die Situation der Bundeswehr im Norden Afghanistans gleich zu Beginn seiner kurzen Amtszeit so beschrieb, wie sie von den Soldaten und der Öffentlichkeit empfunden wird: als Krieg. Nachdem das ursprüngliche Ziel, die Vernichtung und Vertreibung der Al Qaida, längst erreicht ist, muss sich die Nato zurückziehen. Dies darf natürlich nicht überstürzt geschehen, da die militärische Kontrolle erhalten werden muss, bis die afghanischen Sicherheitskräfte die Aufgaben der Isaf übernehmen können. Dies geschieht nun Schritt für Schritt bis 2014. Es war allerdings eine sehr späte Einsicht, der wir diese echte Abzugsperspektive verdanken. Denn erst als Deutschland und die USA Isaf im vergangenen Jahr endlich signifikant verstärkten – und die Bundeswehr schwere Waffensysteme wie die Panzerhaubitze 2000 einsetzen durfte –, konnte sie gemeinsam mit der afghanischen Armee und Polizei weite Teile Nordafghanistans unter Kontrolle bringen. Grundsätzlich sind aus Afghanistan folgende Lehren zu ziehen: Erstens, wenn wir die Bundeswehr in Auslandseinsätze entsenden, müssen die Ziele klar formuliert sein. Den Auftrag erst von



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der Terrorismus- zur Talibanbekämpfung und dann zum Staatsaufbau stetig zu erweitern, führte zur Überforderung der militärischen und zivilen Kräfte und war ursächlich für den schwindenden Rückhalt in der Bevölkerung. Zweitens, wenn wir Ziele definieren, müssen wir auch bereit sein, all die militärischen Kräfte und zivilen Ressourcen bereitzustellen, die für ihre erfolgreiche Durchsetzung erforderlich sind. Drittens, wenn wir im Bündnis und auf der Basis gemeinsamer Entscheidungen und Regeln handeln, bedeutet dies, wir müssen auch bereit sein, das gleiche Risiko zu tragen und in voller gegenseitiger Solidarität zu handeln. Dies bedeutet: Keine deutschen Sonderrollen und dass man einen Einsatz so gemeinsam beendet, wie man ihn begonnen hat. In diesem Zusammenhang muss eine Fehlentwicklung angesprochen werden, die bei der Beteiligung des Deutschen Bundestages an Einsatzentscheidungen zu beobachten ist: Die Parlamentarier verlassen zu oft die Ebene ihrer politisch-strategischen Zuständigkeit und mischen sich in operative Fragen der Regierung und sogar der militärischen Führung ein. Der Bundestag sollte aber in erster Linie über die Begründung von Einsätzen diskutieren und Eckpunkte festlegen, innerhalb derer die Bundesregierung und die militärische Führung frei entscheiden darf. Diese Vorgaben müssen den völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Rahmen abstecken und sehr deutlich die Ziele und den Auftrag der deutschen Streitkräfte definieren. Eine Einmischung in operative Fragen jedoch sollte eine Regierung nicht akzeptieren. Sie muss selbst entscheiden dürfen, wie sie den Auftrag des Parlaments bestmöglich umsetzen und die Ziele des Einsatzes erreichen kann und darf darin auch nicht durch zu enge Mandatsobergrenzen behindert werden. Das Parlament muss die Politik der Exekutive kontrollieren, nicht bestimmen. Nur so kann eine Regierung auch für falsche Entscheidungen und mangelnden Erfolg verantwortlich gemacht werden. Ein Parlament, das sich in operative Belange einmischt, begibt sich dagegen in politische Mithaftung für die Umsetzung eines Einsatzbeschlusses. Damit kritisiere ich nicht die Parlamentsbeteiligung per se. Im Gegenteil, die Beteiligung des Bundestages an Entscheidun-

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gen über den Einsatz der Streitkräfte ist eine Stärke, keine Schwäche des deutschen Systems. Ich war immer der Meinung, dass es einer Regierung eher erschwert als erleichtert werden müsse, Truppen einzusetzen. Auf diese Weise sind Fehlentscheidungen zu vermeiden, die zu Zerstörung, Tod und Verwundung führen können. Die Mitberatung des Bundestages zwingt eine Regierung dazu, Einsätze besonders gut zu begründen und offen zu diskutieren. Dabei beschränkt sich die parlamentarische Befassung nicht auf die jährliche Mandatsdiskussion. Einsätze, die großen wie die kleinen, bleiben fortwährend Gegenstand von Unterrichtung, Beratung und Diskussion im Parlament. Als ehemaliger Minister und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags kann ich betonen, dass solche Beratungen meist auf eine konstruktive und sachkundige Weise durchgeführt werden und in den wenigsten Fällen, wie bei der Debatte um den Irak-Krieg 2003, hitzig und allein entlang von Parteilinien diskutiert wird. Die fortwährende Parlamentsbeteiligung ist in einer repräsentativen Demokratie aber auch deswegen richtig, weil die Abgeordneten permanent in die Lage versetzt werden müssen, ihren Wählern Rechenschaft über die von ihnen beschlossenen Einsätze abzulegen. Ich habe mich deshalb, wie wohl die meisten meiner Amtsnachfolger auch, stets bemüht, das Parlament so weit wie möglich über alle Aspekte der Auslandseinsätze zu informieren. Es bedarf keines Blickes in eine Glaskugel, um vorauszusagen, dass sich die Bundeswehr im 21.  Jahrhundert noch an vielen Einsätzen beteiligen wird. Der Zustand der Welt, mit ihren Krisen, Konflikten und potentiellen Bedrohungen, macht dies ebenso wahrscheinlich wie unsere eigenen Interessen, unsere Mitverantwortung für den Frieden und die Sicherheit Europas sowie unser Bekenntnis zu einer Weltordnung, die von Normen, Regeln und universalen Menschenrechten getragen wird. Fest steht ebenso, dass auch die kommenden Einsätze jeweils sehr spezifisch sein werden, mit eigenen Ursachen und Anforderungen an die internationale Gemeinschaft und an uns. Zu einer Herausforderung wird aber auch, wie wir uns als Nation zu jenen unter uns verhalten, die im Auslandseinsatz als



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Soldatinnen und Soldaten für unsere Sicherheit einstehen. Wir sollten ihnen Respekt und Anerkennung zollen und uns kümmern. Dies ist keine Aufgabe der Bundeswehr und der Parlamentarier allein. Denn Soldaten der Bundeswehr dienen ihrem Land, nicht ihrer Regierung. Wenn zivile Mittel ausgeschöpft sind, können Auslandseinsätze der Bundeswehr hilfreiche Instrumente einer strategischen Sicherheitspolitik sein, die dem langfristigen Wohl Deutschlands verpflichtet ist. Nur so ist der Einsatz deutscher Soldaten außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung überhaupt zu rechtfertigen. Diese Zusammenhänge schlüssig zu erklären und konsequente Entscheidungen zu vertreten, ist eine der schwierigsten, aber auch wichtigsten Aufgaben der Politik. Politiker müssen der Versuchung widerstehen, kurzfristige politische Überlegungen strategischen Fragen überzuordnen. Ansonsten verlieren sie langfristig an Gestaltungsmöglichkeit und schaden ihrem Land. Wenn sie aber strategisch und vorausschauend agieren, gewinnen sie Handlungsspielräume und die Möglichkeit, die internationale Politik im deutschen Sinne mitzugestalten.

Inhalt Einführung: Auslandseinsätze als Bewährungsproben einer Nation Von Christoph Schwegmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Warum Auslandseinsätze? In was für einer Welt leben wir? Sicherheitspolitische Folgerungen aus einer globalisierten Welt Von Michael Rühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Die Rolle Deutschlands in der Welt Von Ulrich Weisser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Werte und Interessen deutscher Sicherheitspolitik Von Ralf Fücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Deutschland wird gebraucht Von Avi Primor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Was Militär leisten kann: Die Bundeswehr als Instrument der Sicherheitspolitik Von Bastian Giegerich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Ein Land tut sich schwer: Bundeswehr-Einsätze seit 1991 Von Robert von Rimscha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 II. Der Weg in den Einsatz Zur ethischen Legitimierbarkeit von militärischen Einsätzen Von Stephan Ackermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Zu den Rechtsgrundlagen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr Von Claus Kreß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Militärische Einsätze und zivile Missionen – wie in Nato und EU entschieden wird Von Heinrich Brauß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Regierung beschließt einen Einsatz – ein Blick in die Zusammenarbeit der Ministerien Von Christian Heldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

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Inhalt

Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die CDU/CSU Von Andreas Schockenhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die SPD Von Niels Annen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die FDP Von Elke Hoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die LINKE Von Paul Schäfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Bündnis 90 / Die Grünen Von Winfried Nachtwei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Medien, die Politik und der Krieg Von Mathis Feldhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 III. Der Einsatz Im Einsatz mit Partnern Von Jörg Vollmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Im Felde – die Sicht des Soldaten Von Christian Freuding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Entwicklungszusammenarbeit unter Kriegsbedingungen Von Alexander Skiba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Akürzungsverzeichnis AA ABC ALTHEA ANA ANP ARD ARTEMIS

ASEAN AU AWACS BBC BMI BMVg BMZ BND BVerfGE CDU COIN

COM COP CSU DED

Auswärtiges Amt American Broadcasting Corporation / Amerikanische Rundfunkgesellschaft Operation der EU in Bosnien-Herzegovina Afghan National Army / Afghanische Armee Afghan National Police / Afghanische Polizei Allgemeiner Rundfunk Deutschland Maritime Operation der EU zur Bekämpfung der Piraterie und zum Schutz von VN-Hilfskonvois am Horn von Afrika Association of South East Asian Nations / Verband der Südostasiatischen Nationen African Union / Afrikanische Union Airborne Warning and Control Systems / Luftgestütztes Luftraumaufklärungs und -Überwachungssystem British Broadcasting Corporation / Britische Rundfunkgesellschaft Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Verteidigung Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen­ arbeit und Entwicklung Bundesnachrichtendienst Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Christlich Demokratische Union Deutschlands Counterinsurgency / Militärischer Fachbegriff für Aufstandsbekämpfung (mit militärischen und zivilen Mitteln) Commander / Kommandeur Combat Outpost / Feldposten Christlich-Soziale Union in Bayern Deutscher Entwicklungsdienst

XX EU EUFOR EUFOR RD   CONGO EUPOL FDP FOB G7 / 8 G 20 GIZ GO GTZ HQ ICRC IEB ISAF KFOR KfW KSK MES NATO NGO OLG OSZE PAO PAT

Akürzungsverzeichnis Europäische Union European Force / militärischer Einsatzverband der EU EUFOR Mission in der Demokratischen Republik Kongo EU Polizeimission Freie Demokratische Partei Forward Operating Base / Vorgeschobene Operationsbasis Gruppe der sieben führenden Industriestaaten /  Gruppe der sieben führenden Industriestaaten und Russland Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit Governmental Organisation / Regierungsorganisation Gesellschaft für technische Zusammenarbeit Headquarters / Hauptquartier International Committee of the Red Cross / Interna­ tionales Komitee vom Roten Kreuz Interkultureller Einsatzberater International Stabilisation and Assistance Force /  Internationale Stabilisierungs- und Unterstützungstruppe für Afghanistan Kosovo Force / Stabilisierungsverband der Nato im Kosovo Kreditanstalt für Wiederaufbau Kommando Spezialkräfte Masar-e-Scharif North Atlantic Treaty Organisation / Nordatlantische Vertragsorganisation Non-Governmental Organisation / Nicht-Regierungsorganisation Oberlandesgericht Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Public Affairs Officer / Offizier für Öffentlichkeits­ arbeit Provincial Advisory Team / Regionales Beratungs­ team

PIZ PRT PSK PTBS QRF RC NORTH RMO ROE SFOR SPD SWP UNICEF UNO UNOSOM USA VN WTO ZIF

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Presse- und Informationszentrum Provincial Reconstruction Team / Regionales Wie­der­aufbauteam Sicherheitspolitisches Komitee der EU Posttraumatische Belastungsstörung Quick Reaction Force / Schnelle Einsatztruppe Regional Command North / Regionalkommando Nord Risk Management Office / Risiko Management Büro (bzw. System für zivile Helfer in Afghanistan) Rules of Engagement / (militärische) Einsatzregeln Stabilisation Force / Stabilisierungsverband der Nato in Bosnien-Herzegovina Sozialdemokratische Partei Deutschlands Stiftung Wissenschaft und Politik United Nations International Children’s Emergency Fund / Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen United Nations Organisation / Organisation der Vereinten Nationen United Nations Mission in Somalia / VN-Mission in Somalia 1993 United States of America / Vereinigte Staaten von Amerika Vereinte Nationen World Trade Organisation / Welthandelsorganisation Zentrum für Internationale Friedenseinsätze

Einleitung: Auslandseinsätze als Bewährungsproben einer Nation Von Christoph Schwegmann Dass die Jahre des Kalten Krieges keineswegs friedlicher waren als die jetzige Phase globaler Unsicherheit, ist heute fast vergessen. Tatsächlich standen sich bis zum Fall der Berliner Mauer zwei hoch- und vor allem atomar gerüstete Machtblöcke in der Mitte des geteilten Deutschlands gegenüber. Die Bundesrepublik wäre im Kriegsfall verpflichtet gewesen, bis zu 1,3 Millionen Soldaten gegen einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Verbündeten einzusetzen. Dies waren keineswegs abstrakte Planungen: In der „Nuklearen Planungsgruppe“ der Nato saßen Generale und Admirale der Allianz über Landkarten und diskutierten, wohin im Falle eines sowjetischen Angriffs die atomaren Marschflugkörper der Nato gelenkt werden müssten. Die Ziele lagen in der Nähe von Moskau, Warschau oder Magdeburg. In den Hauptquartieren des Warschauer Pakts fanden vergleichbare Planungen statt, für London, Brüssel oder Köln. Vermutlich war es dieser Krieg in den Köpfen, der allen soviel Angst einjagte, dass er schließlich doch nicht stattfand. Jede Seite glaubte der anderen, dass sie zu einem atomaren Gegenschlag bereit und fähig wäre. Und auch die Menschen in allen Teilen der Welt fürchteten die gegenseitige Zerstörungsbereitschaft der Supermächte. Wem es aufgrund seiner jüngeren Geburt an persönlicher Erinnerung an jene Zeit mangelt, der lausche noch einmal der erfolgreichen Popballade Russians des britischen Musikers Sting, mit der er noch 1985 Angst und Friedenssehnsucht der westlichen Jugend Ausdruck verlieh. In welcher Welt wir heute, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, leben und welchen Gefahren und Bedrohungen wir

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gegenüberstehen, eröffnet uns Michael Rühle in seiner Lagebeschreibung über die blühenden „Konfliktlandschaften“ unserer Tage. Sie offenbart, wie fundamental sich die gegenwärtigen Konflikt- und Bedrohungsmuster von den historischen Erfahrungen der zwischenstaatlichen Kriege in Europa unterscheiden. Zudem stellt der Autor eine Frage, deren Beantwortung weit über dieses Buch hinausreicht. Nämlich, inwiefern die deutsche Gesellschaft und ihre politischen Eliten bereits auf die Herausforderungen dieser neuen Gefahrenwelt mit ihren nicht-staatlichen Akteuren, neuen Großmächten und weltweit verfügbaren Technologien vorbereitet sind. Unser Land trifft aber nicht ohne Richtung auf die Bedingungen dieser sich schnell verändernden Welt: Werte und Interessen sind die Wegweiser, an denen sich Deutschland orientiert. Über die Werte deutscher Politik werden wir Deutsche uns relativ schnell einig. Zu ihnen gehören die universalen Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit, also jene Vorstellungen von einer wünschenswerten gesellschaft­ lichen Ordnung, die wir in Deutschland selbst und bei unseren Partnern in EU und Nato verwirklicht sehen und die bei uns einen besonderen Schutz durch das Grundgesetz genießt. Doch was sind eigentlich deutsche Interessen? Vergleicht man die Erörterungen der Autoren dieses Buches, so wird deutlich, dass sich das verbreitete Unbehagen gegenüber diesem Begriff schnell verflüchtigt, wenn man feststellt, dass sich das deutsche Interesse auf den Schutz der realen und normativen Werte eines Staates fokussiert. Es geht um das Überleben unseres Gemeinwesens in selbstbestimmter Freiheit und Sicherheit und den Erhalt des Wohlstands und des Lebensstandards seiner Bürger. Aus diesen Interessen ergibt sich der originäre Verteidigungsauftrag des Staates, weswegen es im soldatischen Eid der Bundeswehr explizit heißt: „Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ Auch die Europäische Union und die Nato, ehedem als Ins­ trumente der Interessenpolitik ihrer Mitglieder geschaffen, werden heutzutage als eigenständige schützenswerte Güter wahrge-



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nommen und damit unseren originären Interessen gleichgestellt. Der Grund ist: Die EU wird heute so intensiv mit dem Frieden in Europa und dem ökonomischen Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg assoziiert, dass zum Beispiel ihre Politik der institutionellen Vertiefung, die regionale Erweiterung und ihre Nachbarschaftspolitik kaum noch als einzelne Mittel zur Verwirklichung deutscher Interessen diskutiert werden. Stattdessen wird eine weitgehende Kongruenz angenommen: Was die Sicherheit und den Wohlstand der EU als Ganzes stärkt, stärkt auch Deutschland; was sie schwächt, schwächt auch uns. Ähnlich verhält es sich mit der Nato, die aufgrund ihrer erfolgreichen Verteidigung Westeuropas und ihrer Verdienste für die Ausweitung des Friedens- und Stabilitätsraums in Europa auch heute noch als ein Friedensgarant betrachtet wird, der für Deutschlands Sicherheit von überragender Bedeutung ist. Wie im Aufsatz Ulrich Weissers deutlich wird, sind es diese engen Zusammenhänge zwischen dem Überleben und Wohlergehen eines Staates einerseits und Institutionen sowie Entwicklungen und Zuständen in der Welt andererseits, die dazu führen, dass Instrumente deutscher Politik, wie Nato und EU, oder Ziele, wie der ungehinderte Zugang zu Ressourcen und der freie Welthandel, zu Synonymen deutscher Interessen geworden sind. Ralf Fücks unterstreicht in seiner Betrachtung, dass sich Inte­ressen und Werte in der Sicherheitspolitik nicht notwendigerweise wiedersprechen müssen. Dennoch besteht bei Entscheidungen über militärische Auslandseinsätze ein potentieller Konflikt zwischen den beiden Kategorien, der in vielen konkreten Einsatzentscheidungen Kompromisse erfordert. So mancher Le­ser mag sich hierbei an die Libyen-Krise im März 2011 erinnert fühlen: Obgleich sowohl die Befürworter als auch die Gegner eines militärischen Eingreifens in Nato und EU ihre Positionen vor allem ethisch begründeten, fielen die Einsatzentscheidungen von Land zu Land unterschiedlich aus. Robert von Rimscha zeichnet in seinem Beitrag nach, wie vergleichbare Diskurse in Deutschland während entscheidender politischer Wegmarken verliefen und wie gerade auch normative Argumente zu tragenden Begründungspfeilern von Auslandseinsätzen wurden.

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Dabei ist der Anspruch, den die Autoren in diesem Buch und sicher auch die überwiegende Mehrheit der Bundesbürger an Auslandseinsätze der Bundeswehr anlegen, klar definiert: Sie müssen sowohl sachlich als auch moralisch-ethisch zu rechtfertigen sein. Selbst radikale Pazifisten teilen diese Ansicht – sie verneinen freilich, dass solche Rechtfertigungsgründe überhaupt zu finden sind. Weniger absolut argumentiert Bischof Stephan Ackermann in seinem Essay. Ein militärischer Einsatz sei wegen des grundsätzlichen Friedensgebots zwar ethisch nur in Ausnahmefällen zu rechtfertigen. Die völker- und verfassungsrechtlich legitimierten Institutionen wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und der Deutsche Bundestag seien allerdings geeignet, solche auch friedensethisch tragfähigen Ausnahmen auf eine verantwortungsvolle Weise zu beschließen. Die Tauglichkeit des gültigen internationalen und nationalen Gesetzesrahmens für solche Fälle beleuchtet Claus Kreß, der zu der Schlussfolgerung gelangt, dass trotz der Entwicklungen, die das internationale Völker- und das deutsche Verfassungs- und Strafrecht in den letzten zwei Jahrzehnten durchlaufen haben, erheblicher rechtlicher Regelbedarf für militärische Auslands­ einsätze der Bundeswehr bestehen bleibt. Die aktuellen und ehemaligen Parlamentarier des Deutschen Bundestages beschäftigt das Spannungsfeld zwischen Interessen und Werten auf besondere Weise. Denn wie Andreas Schockenhoff, Niels Annen, Elke Hoff, Paul Schäfer und Winfried Nachtwei in diesem Band betonen, ist es das Parlament selbst, welches auf Grundlage des Parlamentsbeteiligungsgesetzes über militärische Auslandseinsätze entscheidet. Als Volksvertreter müssen die Abgeordneten diese Entscheidungen zudem unmittelbar gegenüber ihren Wählern rechtfertigen. Damit sind Regierung und Parlament gemeinsam dafür verantwortlich, den Sinn und den Zweck eines Einsatzes zu erklären und für den Rückhalt in der Bevölkerung zu werben. Politik und Militär werten es gleichermaßen als eine Errungenschaft unserer kurzen Tradition von Auslandsmis­ sionen, dass alle Bundeswehreinsätze ausnahmslos mit einer breiten parlamentarischen Mehrheit beschlossen wurden. Verhältnisse wie in anderen Ländern, bei denen ein Regierungschef sei-



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ne Soldaten ohne oder nur mit einer knappen Mehrheit des Parlaments in einen Kampfeinsatz schickt, sind bei uns unwahrscheinlich. Entwicklungen in unseren Partnerstaaten haben allerdings auch gezeigt, wie sehr ein starker Widerstand in der Bevölkerung die außenpolitische Handlungsfähigkeit einer Regierung dramatisch einschränken kann. So zerbrach im Februar 2010 die Regierung in den Niederlanden über die in der dortigen Öffentlichkeit ebenfalls heftig umstrittene Stationierungspolitik in Afghanistan. Ein Abzug der niederländischen Streitkräfte aus Südafghanistan war die Folge. Gerade dieses Beispiel unterstreicht: Die Akzeptanz politischer Entscheidungen ist von zweierlei Legitimität abhängig. Die eine Legitimität betrifft das rechtmäßige Zustandekommen politischer Beschlüsse, die zweite bezieht sich auf die Akzeptanz der erreichten Ergebnisse. Im politischen Alltag ist zu beobachten, dass manche grundlegende Entscheidung auch deswegen nicht überzeugend in Angriff genommen wird, weil die möglicherweise zu erwartenden Erfolge weit in der Zukunft liegen. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind aber keine politischen Projekte, die eine Regierung von sich aus auf ihre Agenda setzt. Wenn Soldaten in gefährliche Missionen entsendet werden, liegt stets eine dringende Notwendigkeit vor, beispielsweise eine Bedrohung des internationalen Friedens oder der Sicherheit Deutschlands und seiner Partner. Um so mehr müssen die Verantwortlichen den Bürgern jene Konzepte und Strategien plausibel machen, von deren Erfolgsaussichten Politiker und Militärs überzeugt sind. Das ist zumal dann ein schwieriges Geschäft, wenn die Ressourcen – wie ausreichende Truppenkontingente, finanzielle Hilfen, Polizeikräfte und vieles mehr – zur Umsetzung der Pläne noch nicht vorhanden sind. Erschwerend kommt hinzu, dass zwangsläufig andere staatliche und nicht-staatliche Akteure beteiligt sind, auf deren Verhalten Deutschland geringen oder keinen direkten Einfluss besitzt. Zu diesen Akteuren gehört nicht zuletzt der militärische Gegner. Damit wird eine weitere Kernfrage angesprochen: Wie kann ein gerechtfertigter Einsatz auch erfolgreich geführt werden? Die meisten Autoren dieses Bandes sind sich einig: Nur weni-

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gen der gegenwärtigen und künftigen sicherheitspolitischen Herausforderungen kann sinnvoll militärisch begegnet werden – und auch diesen nicht allein militärisch. Paul Schäfer bezweifelt sogar, dass das Militär überhaupt einen Beitrag zur Lösung der gegenwärtigen Herausforderungen leisten sollte. Bereits bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus in Folge der Anschläge vom 11. September 2011 haben Deutschland und seine Verbündeten die Erfahrung gemacht, dass konkrete militärische Einsätze nur Elemente eines ganzen Bündels von Anstrengungen sind, das vom Dialog der Kulturen und Maßnahmen gegen weltweite Terrorfinanzierung bis hin zu diplomatischen Druck auf einzelne Staaten einen breiten Mix an Instrumenten beinhaltet. Die Frage, was militärische Gewalt eigentlich bewirken kann, ist deshalb eine, die am Anfang jeder Entscheidung über einen Auslandseinsatz zu stehen hat. Bastian Giegerich geht dieser Frage nach und zeigt, dass militärische Einsätze durchaus einen Platz in einer von Werten und Interessen geleiteten Sicherheitspolitik haben können, soweit sie Teil einer übergeordneten und durchdachten politischen Strategie sind. Avi Primor zeigt zudem am konkreten Beispiel einer künftigen Friedens­ lösung im Nahen Osten auf, in welcher Phase ein Einsatz auch deutscher Soldaten einen wichtigen Beitrag für Frieden und Stabilität in der Region leisten könnte. Die prinzipiell beschränkte Wirkungsmöglichkeit militärischer Gewalt wird in diesem Band von Politikern wie Offizieren gleichermaßen anerkannt. Zukunftsweisend ist aber vor allem die große Ernsthaftigkeit, mit der heute ein vernetzter Ansatz aus zivilen und militärischen Instrumenten bei der Umsetzung unserer politisch-strategischen Ziele verfolgt wird. Trotz offenbar unvermeidlichem nationalen und internationalen Kompetenzgerangel, den unterschiedlichen Erfolgshorizonten, die sich Militär und Entwicklungshilfe setzen, und trotz grundsätzlich knapper Ressourcen steigt die Zahl der Akteure, die sich einer gemeinsamen Strategie verpflichtet fühlen, stetig. Dies ist sicherlich eine der wesentlichen Lehren aus den Einsätzen der vergangenen Jahre. Die zunehmende Vielfalt der Akteure im Krisen- und Konfliktmanagement schafft in vielen Fällen überhaupt erst die



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Voraussetzung für eine wirksame Politik. Gleichzeitig verursacht sie einen Koordinierungsbedarf, dessen Steuerung und Bewältigung zu einer eigenständigen Herausforderung geworden ist. Dies zeigen die Beiträge jener Autoren, die in Berlin, in Brüssel und im Einsatzland daran arbeiten, dass viele Nationen, multinationale Organisationen, Ministerien und Ämter eine gemeinsame Politik verfolgen. Christian Heldt berichtet von den deutlichen Fortschritten, die die Bundesregierung und ihre Ministerien bei der Umsetzung eines vernetzten und ressort­ gemeinsamen Ansatzes für die Auslandseinsätze erzielt haben. Dabei erkennt er, ohne die bleibenden Herausforderungen zu verschweigen, ein wachsendes Verständnis, welches Soldaten, Diplomaten und Entwicklungsexperten für die Arbeit des jeweils andern gewinnen. Heinrich Brauß erläutert die ernormen sicherheitspolitischen Möglichkeiten, die sich Deutschland und seine Partner vor allem mit der Europäischen Union und der Nato geschaffen haben. In der Tat: Ob zivile humanitäre Operationen bei Naturkatastrophen, ob Polizei- und Justizmissionen zur Unterstützung des Staatsaufbaus in jungen Demokratien oder moderne militärische Kriegsführung zu Lande, zu Wasser und in der Luft, immer bieten diese Organisationen Deutschland ein breites Instrumentarium – vorausgesetzt, es gibt eine solide rechtliche Grundlage, und die Partner verständigen sich auf ein gemeinsames Vorgehen. Letzteres zu vereinbaren ist bei Organisationen, die wie Nato und EU 28 beziehungsweise 27 Mitglieder mit eigenen nationalen Vorstellungen und Befindlichkeiten haben, allerdings ein mühsames Unterfangen – wie zuletzt die Beratungen über Libyen zeigten. Die Komplexität des Krisenmanagements nimmt noch zu, wenn man weitere Akteure in den Blick nimmt. Für Einsätze wie in Afghanistan wird nicht allein die Nato benötigt, sondern auch die EU, die Uno und andere zivile staatliche und nichtstaatliche Akteure, die für das Training von Polizei und Justiz, die Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe, den Verwaltungsaufbau oder weitere Aufgaben zuständig sind. In dieser Aufzählung sind die zahlreichen afghanischen Ministerien und Offiziellen auf gesamtstaatlicher wie regionaler und lokaler Ebene nicht einmal inbegriffen. Es ist nachvollziehbar, dass der Koordinie-

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rungsbedarf solcher gemeinsamer Anstrengungen enorm ist und die Effizienz der Hilfe, gemessen am Aufwand, zu wünschen übrig lässt. Aber man darf die hohe politische Legitimität nicht übersehen, die die Präsenz so vieler Organisationen und Staaten auch der militärischen Mission in Afghanistan verleiht. So ist der Isaf-Einsatz der Bundeswehr nicht nur von den Vereinten Nationen mandatiert; fast die halbe Welt unterstützt die Ziele dieses Einsatzes auch ganz konkret mit Ressourcen und eigenem Personal – im Frühjahr 2011 waren allein 47 Nationen mit Soldaten am Einsatz beteiligt. Von der schwierigen Aufgabe, unsere nationalen Vorstellungen unter diesen Bedingungen eines multinationalen und zivil-militärischen Einsatzes umzusetzen, berichten Jörg Vollmer und Alexander Skiba. Die Soldaten und Soldatinnen wissen, was von ihnen bei der Erfüllung ihres Auftrages erwartet wird: Ob Helfer, Vermittler oder Kämpfer in jeder ihrer Rollen müssen sie ihr Land im besten Sinne würdig vertreten. Der Erfahrungsbericht von Christian Freuding zeugt von der Bereitschaft der Bundeswehr, sich an diesem Maßstab messen zu lassen. Aber auch die Bürger sollten sich stets bewusst sein, was ein Einsatz der Bundeswehr bedeutet. Der Soldat, der Staatsbürger in Uniform, bleibt auch im Einsatz Mitbürger unseres Landes. Er erfüllt seine Aufgabe für die Gesellschaft. Im Extremfall eines Gefechtes kämpft, tötet, leidet und stirbt er an unser Statt. In wenigen politischen Systemen wird diese Vertreterrolle so deutlich wie in der Bundesrepublik Deutschland. Gerade weil die Bundeswehr von Parlament und Verfassungsgericht als Parlamentsarmee betrachtet wird, ergibt sich eine direkte Verantwortungskette zwischen Bürger und Soldat. Die ins Ausland entsandten Soldatinnen und Soldaten sind politisch voll legitimiert, sie sind auch völkerrechtlich Repräsentanten unseres Landes und sie tragen deutsche Hoheitszeichen. Deswegen sollte es der Gesellschaft ein Anliegen sein, die Einsätze der Bundeswehr zum Erfolg zu führen und die Soldaten in ihrem schweren Dienst zu unterstützen – dies schließt die Fürsorge für die Familien mit ein. Viele Soldaten betonen im persönlichen Gespräch und in Interviews mit den Medien, man möge ihren Einsatz achten und



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wertschätzen, selbst wenn man einen konkreten Einsatz nicht für sinnvoll halte. Kritisiert wird auch, dass vermeintlichen Skandalen in der öffentlichen Berichterstattung mehr Aufmerksamkeit gewidmet werde als den Erfolgen und dem täglichen Mühsal der Truppe. Mathis Feldhoff geht dieser Frage nach und beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Medien, Politik und Militär. Er fordert diese drei Akteure zu einer Kultur der Offenheit und des Vertrauens auf, damit den Medien eine kritische, aber faire Berichterstattung über die Einsätze ermöglicht wird. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben einen Anspruch darauf, dass ihr Einsatz dem Wohlergehen ihres Landes und dem internationalen Frieden dient und dass sie nur dann ihr Leben riskieren müssen, wenn dies die Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger erfordert. Die Soldaten dienen mit jenem Vertrauen, dem der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt anlässlich des feierlichen Gelöbnisses am 20. Juli 2008 mit folgenden Worten Ausdruck verlieh: „Ihr müßt wissen: Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber Ihr könnt Euch darauf verlassen: Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen. Denn die Würde und das Recht des einzelnen Menschen sind das oberste Gebot – nicht nur für die Regierenden, sondern für uns alle.“ Auslandseinsätze, das wird in jedem Kapitel dieses Buches deutlich, sind Bewährungsproben einer Nation. Deutschland stellt sich ihnen seit bald zwanzig Jahren mit erheblichem Erfolg, einigem Selbstzweifel und doch mit Mut zur Verantwortung. Dies wird insbesondere auch im Ausland anerkannt. Viele Deutsche sind gleichwohl vom Sinn und Zweck einiger Einsätze nicht überzeugt. Insbesondere der Bundeswehrmission in Afghanistan, versagen die Menschen mehr und mehr ihre Unterstützung. Dieses Buch will den Bürgern eine weitreichende Erklärung darüber anbieten, wie Auslandseinsätze zustande kommen, welche Rahmenbedingungen und Überlegungen dabei eine Rolle spielen und wie politische Prozesse am Ende zur Entsendung der Bundeswehr führen. Für diesen Zweck wurden Autoren

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gewonnen, die glaubwürdig und authentisch aus ihren jeweiligen Fachexpertisen heraus über einzelne Aspekte der Bundeswehreinsätze berichten können. Dabei ist es mitnichten das Ziel, für militärische Auslandseinsätze zu werben. Die Absicht ist, transparent und verständlich zu machen, warum und wie Deutschland seine Soldaten in die Welt entsendet.

I. Warum Auslandseinsätze?

In was für einer Welt leben wir? Sicherheitspolitische Folgerungen aus einer globalisierten Welt Von Michael Rühle* Ob die Worte des ehemaligen polnischen Außenministers Adam Rotfeld Gehör finden werden, ist ungewiss. Mit seiner ebenso kurzen wie prägnanten Aussage: „Für die Nato ist Afghanistan eine Aufgabe, kein Test“1 stellte er sich der weitverbreiteten Tendenz entgegen, den Afghanistaneinsatz zur Schicksalsfrage für das Bündnis hochzustilisieren. Angesichts der schlechten Nachrichten, die nahezu täglich aus dem Land am Hindukusch kommen, hat sich in der internationalen Politik ein Pessimismus hinsichtlich der Erfolgschancen von Auslandseinsätzen ausgebreitet, der inzwischen weit über die Atlantische Allianz hinausgeht. Dass sich das westliche Gesellschaftsmodell nicht nahtlos auf außerwestliche Regionen übertragen lässt, wusste man auch schon vor dem Afghanistaneinsatz. Dass sich jedoch der Versuch, wenigstens ein Mindestmaß an Sicherheit und Stabilität für das von mehreren Jahrzehnten Krieg und Bürgerkrieg gezeichnete Land zu schaffen, als so mühsam und gefährlich herausstellen würde, überraschte viele. In der deutschen Gesellschaft ist es trotz der Schwierigkeiten in Afghanistan eher ruhig geblieben. Doch mit der Einsicht in die Notwendigkeit von Auslandseinsätzen hat dies kaum etwas zu tun. Die Ruhe ist vielmehr Ausdruck der Tatsache, dass „harte“ Sicherheitspolitik aus dem Problembewusstsein der * Der Verfasser gibt ausschließlich seine persönliche Meinung ­ ieder. w   1  Adam Daniel Rotfeld, in Gesprächen der Expertengruppe zum neuen Strategischen Konzept der NATO, 2010.

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deutschen Bevölkerung weitgehend verschwunden ist. Auf die Frage nach der Wichtigkeit politischer Probleme kommt bei spontaner, offener Nennung die Außen- und Sicherheitspolitik im Allgemeinen und der Krieg in Afghanistan im Besonderen überhaupt nicht vor. Seit dem Ende des Kalten Krieges messen die westlichen Gesellschaften der Sicherheitspolitik und dem Militärischen einen immer geringeren Stellenwert zu. Eine Ausnahme bilden allein die USA, die gegenwärtig zwei Kriege verantwortlich führen und nachweisbar im Zentrum des islamistischen Terrors stehen. Das Unbehagen an Auslandseinsätzen äußert sich gleichwohl. So scheint etwa die deutsche Debatte um die Zukunft der Nato mitunter vom Wunsch geprägt, das Bündnis möge sich nach seiner traumatischen Afghanistan-Erfahrung wieder auf seine europäischen Ursprünge besinnen und sich künftig von idealistisch-anspruchsvollen Stabilisierungseinsätzen fernhalten. Dies umso mehr, als die Rückkehr des klassischen zwischenstaatlichen Krieges nicht ausgeschlossen werden könne und folglich die traditionelle Landesverteidigung nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden dürfe. Dass diese Argumentation in manchen Teilen von Politik und Gesellschaft – aber auch in den Streitkräften – verfängt, überrascht nicht, suggeriert sie doch die Rückkehr zu einer weniger aktivistischen und damit auch risikoärmeren Sicherheitspolitik, die allen Beteiligten weniger Belastungen aufbürdet. Doch diese Hoffnungen werden sich nicht erfüllen. Die globalen sicherheitspolitischen Entwicklungen der kommenden Jahre lassen eine weitgehend passive Politik nicht mehr zu. Im Gegenteil. Zwar sind Auslandseinsätze auch künftig nur ein Element in einem sich zunehmend verbreiternden Sicherheitsansatz, doch an ihrer prinzipiellen Notwendigkeit wird sich nichts ändern. Wie ein Blick auf die wichtigsten Konfliktfaktoren der kommenden Jahre zeigt, gibt es zahlreiche Gründe, die eher für eine Zunahme von Auslandseinsätzen sprechen. Einer der auffälligsten Trends der vergangenen Jahre ist der Verfall der Staatsmacht in vielen Ländern der Welt. Dieses Phänomen der „gescheiterten Staaten“ (failed states) hat insbe-



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sondere deshalb große sicherheitspolitische Bedeutung erlangt, weil diese Regionen als Ausbildungs- und Rückzugsraum für Terroristen und Piraten sowie als Umschlagplatz für den Schmuggel von Menschen und Drogen dienen. Einer der größten Profiteure dieser Entwicklung bleibt der internationale Terrorismus. Auch wenn die von manchen befürchtete islamistische Radikalisierung der muslimischen Welt nicht eintreffen wird, bleibt der islamistische Terror ein Dauerproblem. Denn der diesem Terror zugrunde liegende Fundamentalismus ist Ausdruck einer Modernisierungskrise in der islamischen Welt. Er ist großenteils eine Gegenreaktion auf die Verwestlichung von Politik und Kultur in den islamischen Staaten bei gleichzeitiger Marginalisierung der Religion. Mit der Fortsetzung dieser Entwicklungen bleibt auch das Motiv für den fundamentalistischen Terrorismus – ein Terrorismus, der im Gegensatz zum „klassischen“ politischen Terrorismus keine kalkulierten Begrenzungen der Gewalt mehr kennt und inzwischen auch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen religiös rechtfertigt. Aus der Schlüsselrolle, die „gescheiterte Staaten“ für diese Entwicklungen spielen, folgt, dass für die Sicherheit Europas und Deutschlands failed states auf absehbare Zeit eine größere Herausforderung sein werden als aggressive Staaten. Dies ändert zwar nichts an der Tatsache, dass sich durch den rasanten Aufstieg Chinas und Indiens neue Konflikte insbesondere in Asien ergeben könnten, doch zumindest kurz- und mittelfristig werden die „Absteiger“ der internationalen Politik eine größere sicherheitspolitische Herausforderung sein als die Aufsteiger. Ein weiteres Strukturmerkmal der Konfliktlandschaft des frühen 21.  Jahrhunderts ist der asymmetrische Krieg. Dies gilt nicht nur für die militärische Strategie, die den westlichen Streitkräften eine Konfliktform aufzwingt, auf die sie bislang nur unzureichend vorbereitet sind; sie gilt vor allem auch für die unterschiedliche Zeitperspektive der Kontrahenten. Da die westlichen Gesellschaften eine militärische Intervention in ein Krisengebiet nur über einen begrenzten Zeitraum aufrechterhalten können, sind sie auf rasche Erfolge bei Stabilisierung und Wiederaufbau angewiesen. Die Aufständischen vor Ort stehen

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nicht unter einem vergleichbaren Zeitdruck und können die Intervention „aussitzen“. Hinzu kommt, dass sich terroristische und andere bewaffnete Gruppen nicht an die Verhaltensnormen des klassischen Kriegsvölkerrechts gebunden fühlen. Für den Westen hingegen, dessen Selbstverständnis verlangt, sich weiterhin an diese Regeln zu halten, entsteht so ein taktischer Nachteil, den er – wie die Beispiele Guantanamo Bay und Wiki­ leaks zeigen – hinnehmen muss, will er nicht seine eigene moralische Autorität aufs Spiel setzen. Ein weiterer Trend der kommenden Jahre dürfe die Zunahme von Staaten mit Massenvernichtungswaffen, insbesondere biologischen und nuklearen Waffen, sein. Damit steigt auch die Chance für nichtstaatliche Akteure, in den Besitz dieser Mittel zu gelangen. Das Szenario, auf das es sich in den nächsten 20  Jahren einzustellen gilt, ist daher wenig ermutigend: Terroristen im Besitz von genug radioaktivem Material zum Bau von „schmutzigen Bomben“. Dazu rund zwei Dutzend offizielle und vor allem inoffizielle Nuklearstaaten, die sich dicht an der Schwelle des Nuklearwaffenbesitzes mit einer „virtuellen“ Nuklearfähigkeit zufrieden geben – vorerst jedenfalls. Neue sicherheitspolitische Herausforderungen ergeben sich auch aus anderen technologischen Entwicklungen. Angriffe gegen die elektronische Infrastruktur eines Landes („Cyberangriffe“) haben bereits vielfach stattgefunden, sowohl isoliert als auch zur Unterstützung militärischer Interventionen. Was diese Entwicklungen verbindet ist nicht nur die Tatsache, dass mit einem vergleichsweise bescheidenen Aufwand eine enorme Wirkung erzielt werden kann. Anders als Nuklearwaffen, die eine umfassende staatliche Infrastruktur erfordern, ist ein Großteil dieser neuen Technologien auch von nicht-staatlichen Akteuren beherrschbar, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes erhöht. Dies umso mehr, als es sich um quasi anonyme, nicht unmittelbar militärische Angriffe handelt, und damit eine Antwort des Opfers politisch wie militärisch erschwert wird. Ob das von manchen Experten prophezeite Szenario des Krieges um Rohstoffe Wirklichkeit werden wird, ist gegenwärtig völlig offen. Fest steht jedoch, dass energie- und rohstoffpo-



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litische Überlegungen die internationale Sicherheitspolitik zunehmend bestimmen werden. Die politisch fragwürdigen Ergebnisse dieser Entwicklung zeichnen sich bereits auf vielfältige Weise ab: ob bei der chinesischen Energiepolitik auf dem afrikanischen Kontinent oder bei den Versuchen Russlands, die Staaten des postsowjetischen Raumes über deren Energieabhängigkeit wieder politisch enger an sich zu binden. Eine neue Dimension dieser Entwicklung zeigte sich im Herbst 2010, als China nach einem Territorialdisput mit Japan einen Lieferstopp von „seltenen Erden“ (rare earths) verhängte, von denen es etwa 90 Prozent der bislang bekannten Vorkommen besitzt. Diese „Ökonomisierung“ der internationalen Politik, der sich kaum ein Staat entziehen kann, macht auch vor der Sicherheitspolitik nicht halt. Die Weigerung Chinas, „harte“ Sanktionen gegen seinen Energielieferanten Iran und dessen Nuklearprogramm zuzulassen, deutet bereits an, wie das Prinzip der nuklearen Nichtverbreitung durch energiepolitische Prioritäten ausgehöhlt wird. Zwar dürfte der Konkurrenzkampf um Energie auch künftig eher mit marktwirtschaftlichen als mit militärischen Mitteln ausgetragen werden, doch sind militärische Auseinandersetzungen um Rohstoffe denkbar. Denn dort, wo es um die Verteilung endlicher Ressourcen geht, vor allem in den ärmeren Regionen der Welt, gerät die klassische, auf Kompromisse ausgerichtete Diplomatie an ihre Grenzen: Ein Ölfund in einer von zwei Staaten beanspruchten Region; ein Staudammprojekt in einer wasserarmen Region, das einem Nachbarland die ohnehin knappe Wasserzufuhr weiter beschränkt – solche Szenarien sind nicht nur vorstellbar, sondern sogar wahrscheinlich. Verstärkt werden manche dieser Entwicklungen durch den Klimawandel. Die Erwärmung der Erde hat zahlreiche ökologische Folgen, die in einigen Teilen der Welt zu einer Zunahme von Konflikten führen könnten. Zwar ist der Klimawandel ein globales Phänomen, doch seine schwersten Auswirkungen wird er gerade in den Regionen haben, die ohnehin bereits geographisch benachteiligt sind und daher keine Möglichkeit haben, sich gegen seine Folgen zu wappnen. Die Versteppung einiger Regionen und

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die durch den Anstieg des Meeresspiegels verursachte Unbewohnbarkeit küstennaher Gebiete könnten einen Migrationsdruck erzeugen, dem manche Nachbarstaaten nicht gewachsen wären. Das vorhersehbare Ergebnis: zwischenstaatliche Kriege, vor allem aber humanitäre Katastrophen, zu deren Linderung der Einsatz von Streitkräften unausweichlich sein wird. Die Folgerungen dieser Entwicklungen für die internationale Sicherheitspolitik sind vielfältig. Unstreitig ist, dass sich der Regelungsbedarf erhöhen wird. Die Entwicklung des Völkerrechts, die der Staaten­gemeinschaft ein immer breiteres Handlungsspektrum bis hin zu „humanitären Interventionen“ erlaubt, reflektiert diese Tatsache bereits. Doch damit nicht genug. Es müssen auch Rechtsnormen für völlig neue Problemfelder gefunden werden – vom durch den Klimawandel ermöglichten Zugriff auf Ressourcen in der Arktis bis zur zivilen und militärischen Nutzung des „cyberspace“. Hält die Regelungsfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft mit dem Regelungsbedarf nicht Schritt, so droht eine Vielzahl neuer Konfliktfelder. Alle hier beschriebenen Entwicklungen weisen in dieselbe Richtung: Sicherheitspolitik, die im Kalten Krieg weithin mit Abschreckung – der Nicht-Benutzung von Gewalt – gleichgesetzt wurde, verändert sich zunehmend zu einer aktiven Politik, die den Einsatz militärischer und anderer Mittel verlangt. Der Versuch, durch eine militärische Intervention in einem „failed state“ die Grundlage für einen politischen und wirtschaftlichen Neuanfang zu schaffen und damit terroristischen und anderen Gefahren den Nährboden zu entziehen, ist ebenso Teil einer solchen Politik wie der Versuch, durch das Aufbringen von mit Zentrifugen beladenen Schiffen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu verhindern. Der defensiv-reaktive Ansatz, der im Kalten Krieg politisch opportun und militärisch angemessen war, entspricht längst nicht mehr den Erfordernissen einer globalisierten Welt. Deutsche Sicherheitspolitik ist aus gutem Grund stets multilaterale Sicherheitspolitik. Die Einbindung in das System der Vereinten Nationen im Allgemeinen, in EU und Nato im Besonderen, hat einen zentralen Stellenwert für die deutsche Politik.



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Institutionen bedeuten nicht nur gebündelte politische, wirtschaftliche und militärische Kräfte; sie schaffen auch Transparenz und Vertrauen zwischen ihren Mitgliedern. Zudem erhöhen sie die Legitimität kollektiven Handelns – ein unschätzbarer Vorteil gerade bei der Sicherheitspolitik. Die Erfolge der EU und der Nato bei der Vertiefung und Erweiterung Europas zu einem gemeinsamen, demokratisch verfassten Wirtschafts- und Sicherheitsraum sind Beispiele für die Logik einer auf Institutionen gestützten Politik. Die EU und die Nato, ehedem Geschöpfe der Nachkriegszeit, haben sich geographisch wie funktional stets an die Anforderungen einer sich wandelnden Sicherheitslandschaft angepasst. Darüber hinaus dürfte die im Rahmen dieser Organisationen erreichte politische, wirtschaftliche und militärische Integrationsdichte zwischen gleichgesinnten, demokratisch verfassten Staaten auf absehbarer Zeit von keiner anderen Staatengruppierung erreicht werden. Zwar deutet der Übergang von den Staaten der G-7 / 8 zu jenen der G-20 bereits an, dass bestimmte „globale“ Abstimmungs- und Steuerungsaufgaben künftig in anderen Foren wahrgenommen werden, doch sicherheitspolitisch bleiben US-zentrierte Koalitionen, allen voran die Nato, auf absehbare Zeit ohne Konkurrenz. Dies umso mehr, als die Vereinten Nationen durch die von vielen geforderte Aufnahme von Staaten wie Indien oder Brasilien in einen erweiterten Sicherheitsrat zwar an Legitimität gewinnen, damit zugleich jedoch an Handlungs- und damit Steuerungsfähigkeit verlieren könnten. Völlig offen ist hingegen, ob sich die sicherheitspolitische Erfolgsgeschichte von EU und Nato linear fortschreiben lässt. Denn in dem Maße, in dem die Globalisierung neue sicherheitspolitische Prioritäten schafft, werden klassische multinationale Sicherheitskonzeptionen entwertet und wird der Zusammenhalt von Bündnissen auf eine schwere Probe gestellt. Eine neue, von Fragen der Energiesicherheit bis zur nuklearen Proliferation geprägte Sicherheitslandschaft wird neue Formen der Bündnissolidarität jenseits der klassischen kollektiven Selbstverteidigung erfordern. So ist die Versorgung eines von der Gaszufuhr

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abgeschnittenen Nato- oder EU-Partners nicht durch militärische Vergeltung gegen den Verursacher sicherzustellen. Und auch der Zusammenbruch der nationalen Infrastruktur eines Nato- oder EU-Mitglieds durch einen gut orchestrierten Cyberangriff wird nicht zwangsläufig mit traditionellen militärischen Mitteln beantwortet werden. Aber selbst dort, wo Verbündete gemeinsam militärisch handeln, wird man dem Solidaritätsaspekt künftig mehr Beachtung schenken müssen. So hat der Afghanistan-Einsatz deutliche Unterschiede in der Bedrohungswahrnehmung, der Risikobereitschaft, und in den verfassungspolitischen Wirklichkeiten der Bündnisstaaten offenbart. In einigen Mitgliedstaaten schränken parlamentarische Vorbehalte den Handlungsspielraum der Regierungen ein, weshalb der Einsatz der Streitkräfte mancher Verbündeten daher nur mit nationalen Beschränkungen (caveats) erfolgt. Ebenso hat sich gezeigt, dass Fragen nach der größtmöglichen militärisch-operativen Wirksamkeit des Einsatzes zugunsten der Vermeidung von innenpolitisch schwer zu rechtfertigenden Verlusten in den Hintergrund treten. Mit anderen Worten: selbst dort, wo jenseits der Territorialverteidigung gemeinsam gehandelt wird, gilt die Bündnissolidarität möglicherweise nur noch abgestuft. Schon aus diesem Grund bleibt die „Koalition der Willigen“ eine alternative Organisationsform sicherheitspolitischen Handelns. Ihre Flexibilität ist eine unmittelbare Konsequenz aus unterschiedlicher Betroffenheit und dementsprechend unterschiedlicher Risikobereitschaft. Die Bedeutung von permanenten Militärbündnissen wie der Nato (und einer zum militärischen Akteur heranwachsenden EU) wird dadurch kaum geschmälert  – ihre politische und militärische „Durchhaltefähigkeit“ ist nun einmal weitaus größer als die von zeitlich begrenzten ad hoc Koalitionen. Der Trend zu einer „variablen Geometrie“, also zum Handeln in wechselnden Staatengruppen, ist gleichwohl unaufhaltsam. Denn der in manchen neuen Szenarien notwendig werdende rasche, manchmal vielleicht sogar präventive Einsatz militärischer Macht bedeutet nicht nur eine Herausforderung für die trägen Entscheidungsprozesse innerhalb von



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Bündnissen und internationalen Organisationen, sondern vor allem auch für nationale Parlamentsvorbehalte. Auch die Bündnisfähigkeit bemisst sich im Zeitalter von Terrorismus und Proliferation nach anderen Kriterien als noch im Kalten Krieg. Angesichts der politisch wie militärisch kon­ troversen Antworten auf die Bedrohung durch Terrorismus und Massenvernichtungswaffen ist der militärische Beitrag, den ein Staat auf dem Papier zu leisten vermag, nicht mehr der alleinige Maßstab für seinen Einfluss. Weitaus bedeutsamer dürfte am Ende die politische Bereitschaft sein, eine potentiell kontroverse und risikoreiche Politik mitzutragen. In der Irak-Debatte hat sich bereits eine neue Bündnishierarchie abgezeichnet, in der nicht in erster Linie nach militärischen Fähigkeiten, sondern unerbittlich nach politischer Solidarität unterschieden wird. Eine weitere Herausforderung für multinationale Sicherheitspolitik in Zeiten der Globalisierung ist die eingeschränkte Bedeutung militärischer Instrumente. Die neuen Herausforderungen sind nicht ausschließlich militärischer Natur – und Militärbündnisse sind folglich nicht mehr in der Lage, ihnen umfassend zu begegnen. Der Wiederaufbau gescheiterter Staaten oder die Lieferung humanitärer Hilfsgüter nach einer Naturkatastrophe verlangen vielmehr die enge Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Akteuren. Aus diesem Grund bleibt die „vernetzte Sicherheit“ – ungeachtet der zahlreichen Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung – zu Recht ein zentraler Leitbegriff für multilaterale Sicherheitspolitik im globalisierten Zeitalter. Die Folgerungen für die deutsche Sicherheitspolitik sind vielfältig. Zuerst und vor allem definiert sich Verteidigungsbereitschaft künftig neu: den verbesserten Schutz der eigenen elektronischen Informationssysteme gegen Cyberangriffe wird man ebenso hinzuzählen müssen wie eine optimierte Zusammenarbeit der Behörden bei der Terrorismusbekämpfung oder neue Maßnahmen zum Schutz kritischer Energie-Infrastruktur. Militärisch bemisst sich Verteidigungsfähigkeit weniger in der Fähigkeit zur Abwehr einer großangelegten Invasion als vielmehr durch die Fähigkeit zum Engagement in langdauernden Stabilisierungsmissionen wie auch in Kampfeinsätzen. Dass sich diese

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veränderte Schwerpunktsetzung auch in der Rüstungspolitik niederschlagen muss, versteht sich von selbst. Natürlich bedeutet das Entstehen neuer, nicht-traditioneller Bedrohungen nicht zugleich das Ende zwischenstaatlicher Kriege. VN-mandatierte militärische Erzwingungsaktionen wie im Irak 1991, humanitäre Interventionen oder Einsätze als Folge kollektiver Beistandsverpflichtungen wie nach den Terroranschlägen von „9 / 11“ bleiben plausible Szenarien, für die militärisch vorgesorgt werden muss. Doch die Wahrscheinlichkeit einer großen militärischen Auseinandersetzung in Europa ist zu gering geworden, um sie noch zum Referenzpunkt der deutschen Sicherheitspolitik zu machen. Die Bundeswehr muss folglich den Weg zur Einsatzarmee konsequent weitergehen. Weitreichende Folgerungen ergeben sich schließlich auch für die deutsche Gesellschaft. Das Leben mit den vielfältigen Risiken einer globalisierten Welt wird zur ständigen Herausforderung – nicht zuletzt angesichts der Notwendigkeit, eine funktionierende Balance zwischen innerer Sicherheit und persönlicher Freiheit herzustellen. Doch dies ist nur eine Seite des Problems. Die außen- und sicherheitspolitische Dimension ist nicht weniger bedeutsam. Zuerst und vor allem müssen die Erwartungen an das, was Sicherheits- und Militärpolitik künftig zu leisten imstande sind, heruntergeschraubt werden. Die moralisch kontrovers diskutierte, aber de facto nahezu perfekte Sicherheit des nuklearen Gleichgewichts im Kalten Krieg ist nicht mehr reproduzierbar. An die Stelle der passiven Abschreckung mit hoher Erfolgsgarantie treten militärische Einsätze von teilweise umstrittener völkerrechtlicher Legitimität, von ungewisser Dauer, mit unkalkulierbaren finanziellen Kosten und mit ebenso ungewisser Erfolgsaussicht. Diese Missionen trotz ihrer geographischen Distanz und ihres scheinbar diffusen Charakters gleichwohl als unmittelbar relevant für die eigene nationale Sicherheit zu vermitteln, bleibt die große Herausforderung der kommenden Jahre. Gelingen kann dies nur, wenn Sicherheitspolitik von den Verantwortlichen thematisiert und zugleich offensiv für den als richtig erachteten Weg geworben wird.



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Kurzum, die Bundesrepublik braucht eine sicherheitspolitische Debatte, die sich an der Konfliktlandschaft des 21.  Jahrhunderts orientiert. Dies bedeutet zum einen, dass neue Themen wie Nuklearterrorismus, Proliferation oder Energiesicherheit thematisiert werden können, ohne sofort in den Generalverdacht zu geraten, man suche lediglich einen Vorwand für die Erhöhung der Verteidigungsausgaben oder die Einführung neuer staatlicher Überwachungsmaßnahmen. Es bedeutet aber auch, dass man sich von lieb gewonnenen Illusionen der Vergangenheit verabschiedet. Dazu zählt insbesondere die Hoffnung, deutsche Sicherheitsinteressen ließen sich auch weiterhin nahezu gefahrlos durch die Teilnahme an kollektiver Konfliktnachsorge vertreten. Und dazu zählt auch die Vorstellung, eine Mittelmacht wie Deutschland könne Bündnissolidarität ohne die Bereitschaft zur militärischen Risikoteilung demonstrieren. Um nicht missverstanden zu werden: Die Zielgruppe einer solchen Diskussionskultur ist nicht in erster Linie der „Mann auf der Straße“. Ungeachtet von Meinungsumfragen war und bleibt Sicherheitspolitik eine Domäne der Eliten. Das sicherheitspolitische Bewusstsein muss also vor allem dort geschaffen werden, wo Sicherheitspolitik gemacht bzw. wo darüber entschieden wird – nämlich in den einschlägigen Ministerien und vor allem im Parlament. Dort entscheidet sich die sicherheitspolitische Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Gefragt ist ein sicherheitspolitisches Selbstbewusstsein der deutschen politischen Klasse, das gefestigt genug ist, um wichtige Entscheidungen parteiunabhängig und ohne falsche Rücksicht auf die öffentliche Akzeptanz zu treffen. Aus der einstmals nahezu absoluten Sicherheit ist eine rela­ tive Sicherheit geworden. Für den modernen Staat, der seine Legitimität ja nicht zuletzt daraus herleitet, dass er seine Bürger zu schützen imstande ist, hat dies weitreichende Konsequenzen. Die Regierungen müssen ihrer Bevölkerung einen neuen Gesellschaftsvertrag abringen. Sie müssen eingestehen, ihre Bürger im Zeitalter von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen nicht mehr allumfassend schützen zu können – und brauchen dennoch zugleich von eben diesen Bürgern das Einverständnis, Waffen-

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gewalt umfassender einzusetzen, als dies die überkommenen Vorstellungen von Selbstverteidigung nahe legen. Keine leichte Aufgabe für die deutsche Politik. Doch jeder Versuch, aus der Globalisierung auszusteigen, wird scheitern.

Die Rolle Deutschlands in der Welt Von Ulrich Weisser Wer sich der Frage nähern will, wie sich Deutschland innerhalb des internationalen Systems positionieren sollte, welche Verantwortung unser Land tragen muss und welche Instrumente Deutschland einsetzen kann, um seine Ziele zu erreichen, sollte von deutschen Interessen ausgehen. Denn es ist ebenso natürlich wie zielführend, Interessen zum Maßstab einer Positionsbestimmung zu machen. Es ist deshalb kaum zu verstehen, warum sich unsere Politiker so schwer damit tun, diese Selbstverständlichkeit einzulösen und deutsche Interessen klar und für die Öffentlichkeit verständlich zu definieren und danach zu handeln. Unsere nationalen Interessen sind weder ewig noch heilig, sondern können sich in Inhalt und Rangfolge durchaus verändern, konstituieren sich im demokratischen Meinungsstreit und bilden Konsens ab, den die Gesellschaft als außenpolitisch erstrebenswert ansieht. Deshalb muss eine interessengeleitete deutsche Außenpolitik zuvörderst die rasante Entwicklung der Weltordnung widerspiegeln, die sich in nur zwanzig Jahren von einem System der Blockkonfrontation der Supermächte USA und Sowjetunion und damit einhergehen zwischen Nato und Warschauer Pakt, über eine Übergangsphase einer amerikanisch dominierten unipolaren Welt zu einer multipolaren Welt entwickelt hat. Die politischökonomische Welt wird immer mehr durch multipolare Aktionsmuster gekennzeichnet: Die Atommächte China und Indien mit gemeinsam fast drei Milliarden Menschen und Konsumenten wachsen rasch in eine Weltmachtrolle hinein – wenn auch mit ganz unterschiedlicher Qualität. Russland ist wieder eine Großmacht; die EU etabliert sich als globaler Akteur; regionale Großmächte wie Brasilien oder Südafrika melden sich mit dem Anspruch zu Wort, die Welt mitgestalten zu wollen.

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In diesem neuen globalen Kontext lassen sich deutsche außenpolitische Interessen aus folgenden Prioritäten ableiten: An erster Stelle steht, dass Deutschland sein freiheitlich verfasstes politisches System behaupten will. Wir wollen zweitens eine politisch, ökonomisch und strategisch handlungsfähige EU, da wir nur gemeinsam mit den anderen Europäern Gewicht und Stimme in der Welt behaupten werden. Uns liegt drittens an einer freien Weltwirtschaftsordnung mit geregelten und geschützten Rahmenbedingungen. Deutschland tritt viertens ein für eine von Verteidigung, Dialog und Rüstungskotrolle geprägte Sicherheitsordnung. Und schließlich brauchen wir ebenso eine funktionstüchtige transatlantische Partnerschaft mit den USA wie eine gelebte strategische Partnerschaft mit Russland. Bei all dem müssen wir uns die Freiheit bewahren, selbst außen- und innenpolitische Grundsatzentscheidungen zu treffen – über die Zugehörigkeit zu Allianzen und internationalen Organisationen oder auch über unsere Haltung zur Entwicklung der Europäischen Union. Für deutsche Außenpolitik ist die Verbindung von Werten und Interessen Ziel und Methode, wobei die eigentliche Staatskunst darin besteht, eine belastbare Balance zwischen der gebotenen Verfolgung von Sicherheits- und Wirtschaftinteressen einerseits und unverrückbaren Wertmaßstäben andererseits zu finden und zu exekutieren. Diese Balance ist nur dann nach innen und außen glaubwürdig, wenn Partner, befreundete Staaten und andere mit derselben Elle gemessen werden – den deutschen Interessen. Unsere nationalen Interessen sind nicht mit europäischen Interessen gleich zu setzen. Im Gegenteil: Sie bestimmen die Haltung und das Handeln Deutschlands in allen wichtigen internationalen Organisationen, vor allem in der Europäischen Union und in der Nato. Im Vordergrund deutscher Interessen stehen die Möglichkeiten unserer wirtschaftlichen Entfaltung, das transatlantische Verhältnis und die Beziehungen zu Russland. Dabei bildet die Europäische Union den wichtigsten Handlungsrahmen für deutsche Außenpolitik und eröffnet den einzigen Weg, um in einer Welt mit neuen Machtzentren relevant zu bleiben. Deutschland



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definiert seine Interessen national, kann sie aber häufig nur europäisch durchsetzen. Das deutsche Interesse an einem freien Welthandelssystem ist für die Handelsmacht Deutschland, für die größte Exportnation der Welt ohne eigene größere Rohstoffreserven, vital. Damit einher geht ein spezifischer handelsstaatlicher Politikstil, der immer dann in Schwierigkeiten gerät, wenn die Balance zwischen Werten und Interessen ins Wanken kommt. Die fatale Einladung des Dalai Lama ins Bundeskanzleramt im September 2007 hat diesen Zusammenhang überdeutlich werden lassen. Die Bundeskanzlerin nahm damit eine nachhaltige politische Verstimmung unseres größten asiatischen Handelspartners und wichtigen Verbündeten in globalen Fragen in Kauf, um innenpolitisch punkten zu können. Das einzige Macht-Element, das Deutschland wirklich hat und nutzen kann, ist aber seine Wirtschaftsmacht. Mehr als anderen Staaten muss daher Deutschland an der politischen und ökonomischen Stabilität der Regionen liegen, die für Deutschland als Märkte besondere Bedeutung haben. Die transatlantische Bindung zwischen Europa und Amerika ist für unser Land aus politischen, strategischen und wirtschaftlichen Gründen unersetzlich; denn wir gehören zum Westen, der in einer unruhigen Welt nur gemeinsam überleben kann. Außerdem sind wir so fest ins wirtschaftliche Gefüge des Westens eingebunden, dass sich daraus für uns die größten ökonomischen Möglichkeiten ergeben. Aber nach dem Ende der OstWest-Konfrontation steht Europa und auch Deutschland für die USA nicht mehr strategisch so im Vordergrund; und auch Europa ist nicht mehr so abhängig von den USA. Europa als Ganzes oder einzelne Mitglieder der EU wie Deutschland müssen von Fall zu Fall abwägen zwischen dem Nutzen und Schaden einer Loyalität zu den USA, wenn Amerika einen gefährlichen Weg einschlägt, der nicht im deutschen oder europäischen Interesse ist. Beim Krieg der USA gegen den Irak wurde das überdeutlich. Und auch in der Krise der Weltfinanzmärkte war eine solche Abwägung geboten. Diese Entwicklungen müssen berücksichtigt werden, wenn deutsche Außenpolitik Prioritäten

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setzt. Konkret bedeutet dies, dass transatlantische Zusammenarbeit notwendig und ertragreich sein kann; aber es muss auch Kraft zum Widerspruch da sein, wenn eine amerikanische ­Regierung sich auf einen konfliktträchtigen Kurs begibt, der unseren vitalen Interessen schadet – so wie politische Manöver der US-Regierung gegen Russland zu Lasten europäischer Stabilität. Eine enge Zusammenarbeit mit Russland entspricht unseren vitalen Interessen. Das deutsche Interesse an einer gelebten strategischen Partnerschaft mit Russland besteht unabhängig davon, ob und wann mit Russland auch eine Wertegemeinschaft unseres Maßstabs zu erreichen ist. Für uns muss der Imperativ gelten: Frieden und Stabilität in Europa gibt es nur mit und nicht gegen Russland. Die Deutschen sind zu einer Politik der Versöhnung, des Ausgleichs und der Zusammenarbeit mit Russland verpflichtet – nach allem, was Deutschland im zweiten Weltkrieg in Russland angerichtet hat. Heute erfreut sich unser Land stabiler freundschaftlicher Beziehungen zu Russland. Ein politisch-strategisches und auch ökonomisches Kapital, das in seiner Bedeutung für Europa und die Welt gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Deutschland befindet sich dabei in einer einzigartigen Position. Unsere enge freundschaftliche Bindung an Russland und Polen versetzt uns in die Lage, das Verhältnis zwischen unseren Nachbarn im Osten konstruktiv mit zu gestalten. Russland ist europäische und asiatische Großmacht mit weltweiten Interessen und Möglichkeiten. Deutschland ist Mittelmacht, aber europäische Zentralmacht – zentral in seiner geographischen Lage, zentral in seiner Bedeutung für die wirtschaftliche und politische Entwicklung der EU, aber auch für die Kohäsion der Nato. Daraus resultiert eine besondere Verantwortung, aber auch die Möglichkeit der Einflussnahme auf politische Prozesse. Russland und Deutschland haben nicht nur Verantwortung für eine stabile Friedensordnung im Nahen und Mittleren Osten, sondern auch erhebliche Möglichkeiten entsprechender Einflussnahme. Wenn Moskau vor die Wahl gestellt wird, sich rasch nach europäischen Kriterien in die Weltwirtschaft zu integrieren und Teil des Westens zu werden oder



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seine Zukunft in Asien zu suchen, darf Russland keinesfalls den Eindruck gewinnen, vom Westen weggestoßen zu werden. Deutschland muss alle Kräfte aufbieten, damit Russland mit seinem Energiereichtum und seiner kulturellen Verankerung in Europa nicht in die Arme Chinas getrieben wird. Aus den deutschen Interessen leitet sich für Deutschland die sicherheitspolitische Zielsetzung ab, Konflikte in Europa und an seiner Peripherie zu verhüten, aber auch Sicherheit in und für Europa in einer Friedensordnung zu wahren, die durch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft gekennzeichnet ist. Dabei lässt sich Deutschland von vitalen Sicherheitsinteressen leiten – dem Schutz Deutschlands und seiner Staatsbürger vor äußerer und innerer Gefahr; der Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Kriegen, die Deutschlands Unversehrtheit und Stabilität beeinträchtigen können; einer Bündnisbindung an nukleare Mächte und weltweit aktionsfähige Seemächte, da Deutschland seine Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen nicht allein behaupten kann; der Entwicklung der EU zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion; der Aufrechterhaltung des freien Welthandels mit ungehindertem Zugang zu Märkten und Energie und der Fortsetzung der rüstungskontrollpolitischen Prozesse. Die Durchsetzung deutscher Interessen erfordert einen ständigen Abgleich zwischen den interessengeleiteten Zielen einerseits und den Chancen und Risiken andererseits. Deutsche Sicherheitsinteressen sehen sich heute mit einer Lage konfrontiert, die von Unsicherheiten ungekannten Ausmaßes geprägt ist – durch demographische Entwicklungen, durch Migration, Klimawandel und schwindende Energiereserven, durch labile Strukturen von Staaten und Institutionen und durch die Schattenseiten der Globalisierung – mit internationalem Terrorismus, organisierter Kriminalität und asymmetrischen Bedrohungen und nicht zuletzt von Piraterie. Angesichts unserer Abhängigkeit vom Export und Import unserer Güter sind freie Seeverbindungslinien für den Welthandel aber von elementarer Bedeutung. Damit ergibt sich, dass der Schutz der Handelsschifffahrt ebenso zur wichtigen Aufgabe wird wie der Schutz des

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allgemeinen Seeverkehrs vom Ausgangsort bis zum Zielhafen. Deutschland ist auf Grund seiner Interessen, seiner internationalen Verflechtungen und Verpflichtungen vom gesamten Risikospektrum betroffen. Es ist daher im deutschen Interesse, breit angelegte Risikovorsorge weder eurozentrisch noch rein militärstrategisch zu begreifen. Deutschland ist gut beraten, seine Außen- und Sicherheitspolitik und damit den Prozess der Verflechtung europäischer Interessen und Möglichkeiten einschließlich Russlands in weiterem Kontext zu sehen: eine enge Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland, die auch Amerika einschließt, ist in der Konstellation einer multipolaren Welt die notwendige Voraussetzung, eine Balance zur politisch-ökonomisch-strategischen Dynamik der großen asiatischen Mächte zu finden. Dieser Ansatz ist zugleich die notwendige Antwort auf die prekäre Lage des Westens; denn der Kampf gegen Terrorismus und radikalen Islamismus ist nicht gewonnen; die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen ist nicht unter Kontrolle. Die gefährlichsten und bedrohlichsten Risiken – radikaler Islamismus und Terrorismus – sind im Erweiterten Nahen Osten konzentriert und damit vor unserer Haustür. In einem Umkreis von 3000 km um Teheran liegen sechzig Prozent der Weltenergiereserven und zugleich die gefährlichsten Konfliktpotentiale der Welt. Die Dreierkonstellation Russland, EU, Amerika wird uns am ehesten Sicherheit geben und hat die Möglichkeit, unsere Energieversorgung zu gewährleisten Sie darf allerdings die Glaubwürdigkeit ihrer politischen und militärischen Stärke nicht erodieren lassen. Dazu gehört auch, die mentalen Defizite zu beseitigen, die einer interessengerechten Positionierung Deutschlands in der Welt entgegen stehen. Ein Mentalitätswandel scheint auch notwendig zu sein, wenn wir uns über die Rolle Russlands in Europa und der Welt klar werden wollen. Anti-russische Reflexe allein reichen nicht aus. Es gibt einen besonders erschreckenden Kompetenzverlust für sicherheitspolitische Problemstellungen. Über die großen strategischen Fragen unserer Zeit wird in Deutschland so gut wie nicht diskutiert. Berlin zeigt weder Meinungsführerschaft noch gehen von dort Impulse auf die internationale



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Debatte aus. Aus dem Geflecht der Gründe hierfür ragt einer heraus: Deutschland ist zu einer realistischen Bedrohungswahrnehmung kaum in der Lage, weil es die größte Bedrohung nach 1945 in sich selbst sah. Dieses Denken in Schuldkomplexen verstellte über lange Zeit den Blick auf die Gefahren, die in der raschen Veränderung des internationalen Systems lauern, aber auch für neue Chancen, die sich daraus womöglich gerade für Deutschland ergeben. Auf Grund seiner wirtschaftlichen Stärke und der sich daraus eigentlich ergebenden politischen Macht besitzt Deutschland eine natürliche Schlüsselrolle für die Entwicklung der EU und ihrer Positionierung in der Welt, aber auch für die Fähigkeit Europas, Zukunftsaufgaben zu lösen. Deutschland fällt damit die Chance zu, als gestaltende Kraft für Frieden und Fortschritt in Europa Führung zu übernehmen und sich gerade damit seiner Verantwortung zu stellen. Deutschland führt aber nicht und nimmt diese Chancen nicht hinreichend wahr, was schon bei der Besetzung internationaler Spitzenpositionen offenkundig wird; gemessen an seinem Gewicht ist Deutschland schwach vertreten: Präsident des Europäischen Rates: ein Belgier, Präsident der Europäischen Kommission: ein Portugiese, Hohe Vertreterin für Außenbeziehungen der Europäischen Union: eine Britin, Präsident der Europäischen Zentralbank: ein Franzose, Chef des Internationalen Währungsfonds: ein Franzose, Präsident der Weltbank: ein Amerikaner, Nato-Generalsekretär: ein Däne und dies, obwohl die Allianz beim letzten Wechsel nach einem deutschen Generalsekretär gerufen und Deutschland mit dem im Bündnis hoch angesehenen ehemaligen Verteidigungsminister Volker Rühe einen mehr als glaubwürdigen Kandidaten hatte. Die amerikanische Regierung hatte sogar einen förmlichen Vorstoß in diese Richtung bei der Bundesregierung gemacht. Es ist jedoch naiv zu glauben, dass sich Deutschland ohne qualifizierte Politiker in Spitzen­ positionen durchsetzen könnte. Das beste Beispiel für das Gegenteil ist die aus deutscher Sicht überaus erfolgreiche und international vielfach gewürdigte Rolle vom Manfred Wörner als Nato-Generalsekretär in der Zeit der Neuordnung Europas nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation.

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Wie interessengerechter Einfluss sich auf die Positionierung Deutschlands in der Welt auswirkt, lässt sich an drei Beispielen konkretisieren, wenn dieser Ansatz auf aktuelle Krisen projiziert wird. Zentralasien hat alle Ingredienzien für Krisen und Konflikte: immense Energievorräte, vielfache ethnische Gegensätze, korrupte Regime, islamische Fundamentalisten und ölbestimmte Gegensätze der Weltmächte. Wer die Lunte an dieses Pulverfass legt, kann nur verlieren. Die noch bis vor kurzem populäre Idee, Georgien rasch in die Allianz aufzunehmen, bedeutet nichts anderes. Russland hat sich strikt gegen die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die Nato gewandt. Dem steht gegenüber, dass diese darauf pocht, dass jeder Staat in Europa dem Bündnis seiner Wahl beitreten kann. Deutschland hätte sich in dieser Frage von Anfang an eindeutiger positionieren müssen; denn es ist nicht in unserem Interesse, dass die Beziehungen zwischen der Allianz und Russland belastet werden durch die Frage einer Nato-Mitgliedschaft Georgiens. Stattdessen wurde auf dem Nato-Gipfel am 4. April 2008 in Bukarest die sehr konkrete Mitgliedschaftsperspektive Georgiens und der Ukraine politisch bestätigt, aber gleichzeitig dadurch relativiert, dass man keine Termine für einen Beitritt ins Auge fasste. Dass Georgien seine Ambitionen durch schlechte Regierungsführung in der Folge selbst zunichte macht und die Ukraine nach den Präsidentschaftswahlen 2009 den Wunsch nach einer Nato-Mitgliedschaft von sich aus zurückstellt, war damals noch nicht absehbar. Wenn der Iran seine Raketen in den nächsten Jahren mit nuklearen Sprengköpfen bestücken würde, ergäbe sich eine existenzielle Bedrohung für Israel und womöglich auch für Europa. Die strategische Gesamtlage im erweiterten Nahen Osten würde sich signifikant verändern. Deshalb soll dem Iran der Zugang zu Nuklearwaffen verwehrt werden. Es gilt, dafür eine politische Lösung zu finden. Deutschland positioniert sich mit Blick auf den Iran fast ausschließlich unter den Aspekten Transparenz und Verbot des Nuklearprogramms. Es ist weder eine breit angelegte Iran-Politik erkennbar noch der Versuch, die strategischen Motive für die iranischen nuklearen Ambitionen



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zu ergründen, obwohl nur so die durchaus nachvollziehbare Beurteilung der iranischen Sicherheitslage durch die Regierung in Teheran zu verstehen ist: Iran fühlt sich eingekreist und sieht sich bedroht durch unberechenbare Nuklearmächte und wachsende Instabilität in seiner Nachbarschaft. Daraus müsste sich ergeben: Eine Lösung der Krise muss allen Seiten etwas geben  – der Region und der Welt die Aufgabe der persischen Nuklearoption und dem Iran Sicherheit in einem bedrohlichen Umfeld. Sicherheit vor dem Iran verlangt auch Sicherheit für den Iran. Das Konzept heißt Dialog, Einhegung und Abschreckung. Abschreckend wirkt aber nur, was auch einsetzbar ist. Washingtons militärische Optionen entsprechen nicht diesem Kriterium und verdecken die Tatsache: Die Iran-Problematik ist nicht militärisch lösbar. Ein Gesicht wahrender Ausweg aus dieser Sackgasse mag für Teheran die Teilnahme Irans an einer groß angelegten Friedenskonferenz für den Nahen Osten sein. Deutschland müsste sich entsprechend positionieren. Dies auch deshalb, weil es in Afghanistan nur durch die Mitwirkung des Iran Stabilität geben wird. So selbstverständlich es ist, sich an Sanktionen der Vereinten Nationen zu halten so klar muss aber auch sein: Wir dürfen uns vor allem nicht durch die USA erpressen lassen und nicht willfährig zeigen, keinen Handel mit dem Iran zu treiben. Im Nahost-Konflikt ist die Lage kompliziert, weil alles mit allem zusammen hängt. Israel geht es vor allem um Sicherheit. Für Israel bedeutet Sicherheit nichts anderes als Existenzsicherung auf einem Territorium, auf das Israelis und Palästinenser einen historisch legitimierten Anspruch geltend machen. Den Palästinensern geht es um einen eigenen lebensfähigen Staat. Syrien will die Golanhöhen zurück haben; das Land will sich aus der politischen und wirtschaftlichen Isolation befreien, weil es sonst seine schwierige innere Lage nicht meistern kann. Syrien hat bisher die Hisbollah im Libanon und die Hamas instrumentalisiert, um Druck auf Israel auszuüben. Wenn dafür der Grund entfällt, entfällt auch das Motiv Syriens, die Hisbollah weiter zu stützen, denn religiöse Motive gibt es in Damaskus nicht. Der Schlüssel für diesen politisch-strategischen Ansatz

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liegt mithin in Damaskus. Deutschland hat sich aber nicht so positioniert, dass dort planmäßig ein starker Hebel angesetzt wird – durch bilaterale Aktivitäten und durch Einfluss auf die EU. Die Frage, wie sich Deutschland in der Welkt positionieren sollte, muss täglich neu beantwortet werden. Dabei sind aktuelle und längerfristige Entwicklungen ebenso einzubeziehen wie Konstanten und nachvollziehbare Kriterien. Von Bedeutung ist jedoch, dass unsere Verbündeten, Partner und Freunde in der Welt, aber auch Staaten, die nicht zu diesem Kreis gehören und womöglich eine uns nicht genehme Politik verfolgen, zu jeder Zeit wissen, wie Deutschland sich positioniert hat. Entschiedene Klarheit ist der Schlüssel zum Frieden und Erfolg.

Werte und Interessen deutscher Sicherheitspolitik Von Ralf Fücks Über Werte und Interessen als Leitlinien deutscher Sicherheitspolitik zu sprechen heißt, über die Welt nachzudenken, mit der wir uns ins Verhältnis setzen müssen. „Deutsche Interessen“ sind weder unwandelbar noch ergeben sie sich aus der bloßen Selbstbetrachtung. Vielmehr geht es um unser Verhältnis zur internationalen Gemeinschaft, also zur näheren und ferneren Staatenwelt. Wenn sich die Weltordnung ändert, müssen auch die Leitlinien deutscher Außen- und Sicherheitspolitik neu justiert werden. Es scheint unendlich lange her, seit der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama Anfang der 90er Jahre die berühmte These vom „Ende der Geschichte“ verkündete: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts sei das Zeitalter antagonistischer Konflikte in der internationalen Politik vorbei; die Prinzipien des Liberalismus hätten gesiegt und die Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft werde zum universalen Modell. Tatsächlich kamen die BalkanKriege, der Genozid in Ruanda und die Terror-Attacken auf New York und Washington. Es folgten der Afghanistan-Krieg und die Invasion im Irak, der wirtschaftliche und politische Aufstieg der Schwellenländer und die Rückkehr Chinas auf die weltpolitische Bühne, gefolgt von weiteren Staaten wie Indien und Brasilien, die ebenfalls Mitsprache in der internationalen Politik einfordern. Auch Russland hat sich keineswegs auf einen irreversiblen Pfad in Richtung Demokratie und Partnerschaft mit dem Westen begeben. Zu den erklärten Zielen des Kreml gehört die Rück-

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gewinnung einer russischen Einflusszone in der „näheren Nachbarschaft“. Der Georgien-Krieg war auch eine Botschaft an die USA, dass „mit Russland wieder zu rechnen ist“ (Präsident Medwedew), und er war ein Warnsignal gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken, es mit ihrer Unabhängigkeit nicht zu weit zu treiben. Parallel dazu ist im Inland trotz aller Reformrhetorik Medwedews eine Abkehr vom autoritären System nicht zu erkennen. Das Aufbrechen der ebenso repressiven wie sklerotischen Herrschaftsverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten ist das jüngste Anzeichen, dass wir uns mitten in einer historischen Umbruchphase befinden, in der die politische Landkarte neu geschrieben wird. Es gibt begründete Hoffnung, dass dieser Wandel zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führen wird. Verbürgt ist das nicht. Die Europäische Union muss ihre Nachbarschafts­politik neu ausrichten, um die ökonomische und politische Modernisierung südlich des Mittelmeers zu befördern. Vor allem aber muss sie den politischen Willen entwickeln, eine strategische Rolle in ihrer Nachbarschaft zu spielen, statt sich weiterhin hinter den Vereinigten Staaten zu verstecken. Denn mit dem „Ende der Geschichte“ ist auch die These vom neuen „amerikanischen Zeitalter“ ins Altpapier gewandert, noch bevor diese neue Ära der Weltpolitik so richtig begonnen hatte. Zwar bleiben die USA noch für längere Zeit die indispensable power, die unverzichtbare Macht, die als einzige eine globale Ordnungsrolle spielen kann. Aber ihre politische, militärische und moralische Autorität ist vor allem durch ihr Irak-Abenteuer geschwächt. Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik und die Schuldenkrise der öffentlichen Hand verstärken das Bild einer erodierenden Weltmacht. Auch die transatlantische Allianz, lange eine scheinbar unverrückbare Konstante der deutschen Politik, hat mit dem Ende des Kalten Krieges ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt. Zwar wäre eine Abkehr vom transatlantischen Bündnis zugunsten einer „Achse Paris-Berlin-Moskau“, wie sie zu Beginn des Jahrtausends von Bundeskanzler Gerhard Schröder angestrebt wurde, ein strategischer Irrweg. Aber Europa bleibt gefordert, künftig mehr sicherheitspolitische Verantwor-



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tung für den eigenen Kontinent und die unmittelbare Nachbarschaft zu übernehmen, während die USA sich stärker dem pazifischen Raum zuwenden. Ob ein Nato-Beitritt Russlands in den Bereich des Möglichen rückt, hängt mindestens so sehr am künftigen Kurs des großen östlichen Nachbarn wie an der Bereitschaft des Westens. Die Europäische Union ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die im Lissabon-Vertrag festgezurrten politischen Strukturen sind heute bereits überholt. Es waren vor allem zwei Ereignisse, die den Mangel an Handlungsfähigkeit nach innen und außen schonungslos offengelegt haben: die von der europäischen Peripherie ins Zentrum wandernde Schuldenkrise und die Freiheitsbestrebungen der arabischen Völker. Auf beides war die europäische Gemeinschaft nicht vorbereitet. Und noch ist nicht entschieden, ob diese doppelte Erfahrung europäischer Unzulänglichkeit zu einem Integrationsschub führen wird, der die EU nach innen konsolidiert und ihre außenpolitische Aktionsfähigkeit verbessert. Dabei droht eine stärkere Vergemeinschaftung europäischer Politik in Konflikt mit einer aktiven Erweiterungspolitik nach Osten zu treten. Die Frage einer künftigen Mitgliedschaft der Türkei, die Beitrittsperspektiven der Staaten des westlichen Balkans, die europäische Perspektive der Ukraine, Georgiens und Armeniens müssen dringend geklärt werden, wenn die EU ein Stabilitätsanker in bewegten Zeiten sein will. Europa kann nicht darauf setzen, dass sich die Welt auch ohne sein Zutun in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft entwickeln wird. Zwar werden die Technologien, Kommunikationsmedien, Lebensstile und Managementmethoden des Westens weltweit adaptiert. Aber Demokratie und Menschenrechte sind keineswegs unumstritten – nicht einmal in unserer eigenen Hemisphäre. Während in diesen Tagen in der arabischen Welt der Wind der Freiheit weht, festigen sich in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion autoritäre Machtverhältnisse. Chinas Kombination von Turbokapitalismus und zentralisierter Herrschaft ist für viele Machteliten eine attraktive Alternative zur westlichen Demokratie. Zu den Spannungen zwischen unter-

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schiedlichen Gesellschaftssystemen kommt das Kräftemessen zwischen neuen und alten Mächten. Und mit dem Klimawandel kündigt sich ein neuer Chaosfaktor an, dessen Folgen im Verein mit der Verknappung strategischer Rohstoffe zu erheblichen Verwerfungen in der internationalen Arena führen kann. Wir gehen also unruhigen Zeiten entgegen. Die alte Weltordnung ist unwiderruflich vergangen, die neue hat sich noch nicht herauskristallisiert. In der akademischen und politischen Debatte konkurrieren heute gegensätzliche Entwürfe für die künftige internationale Ordnung. Man kann sie grob in drei verschiedene Gruppen unterteilen: Erstens das Konzept einer „multipolaren Ordnung“, die auf einem prekären Gleichgewicht rivalisierender Mächte beruht, die wechselnde Bündnisse mit- und gegeneinander schließen. In der Regel werden die USA, China, Russland, die EU und Indien zu den künftigen Großmächten gezählt. Ein weiterer Kandidat ist Brasilien, und auch die Türkei träumt von einer hegemonialen Rolle. Eine solche Ordnung wäre ausgesprochen anfällig für Konflikte um Einflußsphären und Ressourcen, flankiert von einem neuen Wettrüsten. Es ist die klassische Konstellation, vergleichbar jener, die zum ersten Weltkrieg geführt hat. Einen Gegenentwurf bildet das Konzept eines „effektiven Multilateralismus“. Es erkennt den machtpolitischen Pluralismus des 21. Jahrhunderts an, versucht aber den Rückfall in eine Situation rivalisierender Großmächte zu vermeiden. Im Zentrum dieses Konzepts steht der Ausbau multilateraler Institutionen, Regelwerke und Kooperationen. Statt ihre Einflusssphären gegeneinander abzugrenzen, sollen die Staaten eine Dynamik konstruktiver Interdependenz eingehen. Eine reformierte Uno und Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) sind tragende Säulen in diesem Konzept, ebenso ein alle relevante Staaten einbeziehendes Klimaschutz-Regime. Regionale Integrationsmodelle wie die EU ergänzen die globalen Kooperationsregime. Ein drittes Modell, das vor allem im Umkreis der amerikanischen „Neocons“ gehandelt wurde, definiert den Konflikt zwischen Demokratien und autoritären Staaten zur neuen Zentral­



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achse der Weltpolitik und propagiert eine erweiterte politischmilitärische „Allianz der Demokratien“.1 Es setzt das bipolare Denken des Kalten Kriegs fort, wirft sehr verschiedene Regime jeweils in den einen oder anderen Topf und riskiert eine neue Blockbildung, die auf die Frage „wer besiegt wen“ hinausläuft. In der außenpolitischen Praxis wird keines dieser Modelle in Reinform zum Zuge kommen. Sie werden sich überlappen und in wechselnden Mischformen auftreten. Es ist aber von weitreichender Bedeutung für die Konfliktdynamik der nächsten Jahrzehnte, welches dieser Konzepte sich sozusagen als Basismodell durchsetzt, und es ist kein Geheimnis, dass die Grünen einen multilateralen und integrativen Ansatz vertreten. Damit existiert freilich noch kein Patentrezept für die akuten außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen: Wie können wir eine neue Frontbildung zwischen Russland und dem Westen verhindern und zugleich die Integration der ehemaligen Sowjetrepubliken in die demokratische Gemeinschaft des Westens befördern? Kann das iranische Nuklearprogramm gestoppt und der Iran in ein regionales Sicherheitssystem eingebunden werden? Wie kann Afghanistan politisch gefestigt und Pakistan vor einem Zerfall des Staates bewahrt werden? Gelingt eine nachhaltige Stabilisierung des Irak? Was kann die EU tun, um einen dauerhaften Nahost-Frieden zu befördern und die demokratische Transformation der arabischen Welt zu unterstützen? Wie kann die Proliferation von Massenvernichtungswaffen verhindert und die Abrüstungspolitik neu belebt werden? Können sich Industrie- und Entwicklungsländer auf verbindliche Vereinbarungen zur Stabilisierung des Erdklimas und ein faires Ressourcenmanagement verständigen? Angesichts dieser Herausforderungen braucht Europa ein hohes Maß außenpolitischer Handlungsfähigkeit. Das verlangt nicht nur nach einer Stärkung der außen- und sicherheitspolitischen Instrumente, wie sie im Lissabon-Vertrag vorgesehen sind, sondern nach einer „sicherheitspolitischen Kultur“, wie sie zumindest für die Bundesrepublik noch ungewohnt ist. Die 1  Die

Neoconservatives (Abkürzung Neocons).

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deutsche Politik war und ist immer noch stark binnenorientiert, um es milde zu sagen. Seit dem Fall der Mauer ist Deutschland aber in eine neue Rolle gerückt. Jetzt ist mehr an europäischer und internationaler Verantwortung gefordert, und das heißt auch: eine intensivere außenpolitische Debatte und ein geschärfter Sinn für die Weltpolitik. Dafür ist es elementar, eine klare Vorstellung von den Inte­ ressen und Werten zu entwickeln, die das außen- und sicherheitspolitische Handeln der Bundesrepublik und Europas leiten sollen. In der deutschen Debatte werden Werte und Interessen gern als Gegensätze gefasst. Für Verfechter einer wertorientierten Außenpolitik gelten Interessen häufig als niedere Motive; für Befürworter einer interessegeleiteten Politik sind Werte ein schönes Ideal, das leider für Realpolitik nicht taugt. Beide Interpretationen sind einseitig und greifen zu kurz. Was die Interessen eines Landes sind, ist nicht ein für allemal durch geographische Lage und ökonomische Bedürfnisse vorgegeben. Das nationale Interesse steht nicht a priori fest, sondern schält sich erst im Prozess der politischen Auseinandersetzung heraus, in die auch die Wertvorstellungen einer Gesellschaft eingehen. Ohne Klarheit über die Leitwerte deutscher Politik können Interessen nicht bestimmt werden, und nur wenn Werte als Teil wohl verstandener Interessen begriffen werden, taugen sie zu mehr als folgenlosen Sonntagsreden. Dabei geht es nicht um einen feststehenden Katalog von Prinzipien, die nur noch auf konkrete außenpolitische Fälle anzuwenden wären, sondern um einen Orientierungsrahmen für komplexe Entscheidungen, bei denen zwischen „richtig“ und „falsch“ gerungen werden muss. Das gilt auch für die europäische Einigung, die parteiübergreifend als deutsche Staatsraison gesehen wird. Aktuell steht auf dem Prüfstand, wie weit die Solidarität mit finanziell ins Trudeln geratenen Staaten reicht, wie weit also die Bundesrepublik in die Haftung für Griechenland, Irland und Portugal geht. Hier zeigt sich, dass Solidarität und Interesse unauflöslich miteinander verwoben sind. Die Frage lautet, wie weit es im deutschen Eigeninteresse liegt, überschuldeten Mitgliedsstaaten unter die Arme zu greifen, um ein Auseinanderbrechen der Euro-



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Zone zu verhindern. Dabei geht es nicht nur um die Interessen der Exportindustrie, die auf zahlungsfähige Kunden angewiesen ist, sowie die von deutschen Banken aufgehäuften Staatsanleihen von Pleitekandidaten. Zum ökonomischen Interesse, eine Desintegration des Euroraums zu vermeiden, kommt das politische Risiko, dass eine Eskalation der Schuldenkrise das gesamte Projekt der europäischen Integration zurückwerfen könnte. Da Deutschland seine Interessen angesichts der neuen Kräfteverhältnisse in der Welt aber nur im europäischen Verbund erfolgreich vertreten kann, wäre eine Erosion der Europäischen Union fatal. Es ist deshalb folgerichtig, dass die Bundesregierung – wenn auch unter Zögern und Zaudern – faktisch eine Garantie übernommen hat, die Zahlungsfähigkeit der Krisenstaaten sicherzustellen. Die damit verbundenen harschen Auflagen zur Konsolidierung der Haushalte sollen verhindern, dass das Haftungsrisiko ins Uferlose wächst. Im Ergebnis übernimmt Deutschland mehr europäische Verantwortung – mit dem Nebeneffekt, dass Europa sich der deutschen Stabilitätskultur anpassen muss. Am Ende dieser Reaktionskette wird eine verstärkte finanzpolitische Integration Europas stehen, also ein weiterer Schritt auf dem Weg der Übertragung nationaler Souveränität auf europäische Institutionen. Deutsche Europapolitik, das ist ein vollendetes Paradox: Preisgabe nationaler Souveränität im nationalen Interesse. Wie weit und unter welchen Bedingungen das erfolgen soll, wird Gegenstand politischer Auseinandersetzungen bleiben. Auflösen wird sich der Dualismus zwischen Nationalstaaten und Europäischen Institutionen noch auf lange Zeit nicht. Ein Ankerpunkt für normative Interessenpolitik ist das Völkerrecht. Die Bundesrepublik und Europa haben als Zivilmächte ein hochgradiges Interesse, dass das Völkerrecht nicht durch das Recht des Stärkeren ersetzt wird. Eine internationale Ordnung, die auf den Prinzipien des Völkerrechts beruht, reduziert nicht nur die Gefahr zwischenstaatlicher Kriege. Sie dient auch den Interessen eines außenwirtschaftlich exponierten Landes, das auf Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit, freien Verkehr von Gütern und Informationen angewiesen ist. So gedeiht Korrup­tion in autokratischen Regimen sehr viel besser als in rechtsstaatlichen Verhält-

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nissen. Auch die Freiheit der Meere ist ein öffentliches Gut, das zu schützen ist wie der Gewaltverzicht im zwischenstaatlichen Verkehr oder die Genfer Flüchtlingskonvention. Hier wie dort geht es um Völkerrecht, das der Willkür im internationalen Raum Grenzen setzt. Auch die Menschenrechte haben ihre Bedeutung über die innerstaatliche Sphäre hinaus. Demokratien führen in der Regel keine Kriege gegeneinander, und ein ziviler Staat wird sich auch in internationalen Angelegenheiten eher zivil verhalten. Wer aber gegenüber anderen die Geltung des Völkerrechts reklamiert, darf sich nicht selbst darüber hinwegsetzen. Glaubwürdigkeit ist eine harte Münze in der globalen Politik, die nicht verspielt werden darf. Das mussten die USA bitter erfahren, als die von Präsident Bush jr. verkündete „Freiheitsagenda“ (freedom agenda) durch massive Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen wie Guantanamo und Abu Ghraib und den Pakt mit autoritären Machthabern diskreditiert wurde. Aber auch die europäische Außenpolitik misst mit zweierlei Maß. Erinnert sei nur an die guten Beziehungen zu Mubarak und seinen nordafrikanischen Amtskollegen oder die Russland-Politik von Gerhard Schröder, bei der die Themen Menschenrechte und Demokratie von einem unverblümten Primat der wirtschaftlichen Zusammenarbeit verdrängt wurden. Dabei ging die Spekulation nicht auf, dass wachsende wirtschaftliche Verflechtung auch demokratische Reformen nach sich ziehen würde. Umgekehrt erweist sich fehlende Rechtssicherheit und Freiheit als Bremse für ökonomische Modernisierung. Die bedingungslose Zusammenarbeit mit autoritären Regimen zu kritisieren, bedeutet nicht einem moralischen Rigorismus das Wort zu reden. Wenn die Bundesregierung (oder die EU) die Beziehungen zu allen undemokratischen Regierungen abbrechen sollte, würden wir uns weitgehend aus der internationalen Politik verabschieden. Aber es macht einen großen Unterschied, ob Menschenrechtsverletzungen beim Namen genannt oder unter den Teppich gekehrt werden, ob finanzielle Hilfen an rechtsstaatliche Standards geknüpft oder lediglich als Türöffner für heimische Firmen vergeben werden. Wer Mubarak gestern noch als „guten Freund“ willkommen hieß, bekommt ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn sich die Bevölkerung heute gegen ein



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kleptokratisches und repressives System auflehnt. Keine Frage: auch die Bewahrung regionaler Stabilität ist ein legitimes Interesse. Aber im Nahen und Mittleren Osten wird exemplarisch deutlich, dass Polizeistaaten keine dauerhafte Stabilität gewährleisten können. Auch die „Entspannungspolitik“ gegenüber der Sowjetunion war eine Gratwanderung zwischen einem notwendigen Mindestmaß an Kooperation und der Legitimation von Unrechtsherrschaft im Namen der Stabilität. Für die Glaubwürdigkeit westlicher Politik war und ist es elementar, dass die Differenz zu autoritären Staaten sichtbar bleibt und die demokratischen Kräfte in aller Welt unterstützt werden. Das Eintreten für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ist kein naiver Idealismus, sondern weitsichtige Realpolitik. Diese Lektion, die jetzt allenthalben aus der Erschütterung der ancien regimes im Nahen Osten gezogen wird, gilt heute auch für Russland. Man darf gespannt sein, ob diese Parallele auch von den Regierungen in Berlin und Paris so gesehen wird. Auslandseinsätze der Bundeswehr dürfen keine Fortsetzung nationaler Macht- und Ressourcenpolitik mit militärischen Mitteln sein. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob eine auf das Völkerrecht gegründete internationale Friedensordnung notfalls auch militärisch verteidigt werden muss. Genau das regelt die Charta der Vereinten Nationen. Das Völkerrecht wäre zahnlos, wenn es nicht mit der Ultima Ratio militärischer Gewalt ausgestattet wäre, um massiven Menschenrechtsverletzungen und einer Bedrohung der internationalen Sicherheit entgegenzutreten. Weil für eine demokratische Außenpolitik militärische Auslandseinsätze nie nur aus nationalen Interessen abzuleiten sind, sondern immer einer völkerrechtlichen Legitimation bedürfen, war und bleibt die Beteiligung am Luftkrieg gegen Serbien zur Verhinderung eines drohenden Genozids im Kosovo ein politischer Grenzfall. Einerseits war der Westen vor dem Hintergrund der bosnischen Erfahrung, wo Hunderttausende getötet und Millionen Menschen vertrieben worden waren, zum Schutz der Bevölkerung verpflichtet.2 Es war moralisch und politisch rich2  In Folge der Balkankriege und der Erfahrung mit dem Völkermord in Ruanda hat die Uno die Völkerrechtsnorm der Verpflichtung zum

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tig, den serbischen Truppen in den Arm zu fallen. Gleichzeitig fehlte es aufgrund der russischen Blockade an einem eindeutigen Mandat des VN-Sicherheitsrats. Man kann die Nato-Luftangriffe gegen Serbien als Notwehrhandlung zum Schutz der kosovarischen Zivilbevölkerung verteidigen, aber es bleibt ein völkerrechtlicher Makel. Anders liegen die Dinge in Afghanistan. Hier entzündet sich der politische Streit nicht an der völkerrechtlichen Legitimation des Bundeswehreinsatzes, sondern an den Zielen, Erfolgsaussichten, Dauer und Kosten einer Militärmission, die auch nach zehn Jahren noch weit von Frieden, Sicherheit und Menschenrechten im Land entfernt ist. Gerade das Beispiel Afghanistan hat gezeigt, dass die Legitimation eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr durch die Vereinten Nationen allein nicht ausreicht, um auf Dauer Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen. Jede Regierung, die deutsche Soldaten ins Ausland schickt, wird auch erklären müssen, was dieser Einsatz mit den Interessen Deutschlands und Europas zu tun hat. Und sie wird eine Strategie präsentieren müssen, die in einem überschaubaren Zeitraum Aussicht auf Erfolg bietet. Andernfalls erodiert die politische Unterstützung im Inland, ohne die ein Auslandseinsatz der „Parlamentsarmee“ Bundeswehr nicht bestehen kann. Außen- und Sicherheitspolitik wird sich immer im Spannungsfeld von Werten und Interessen bewegen. Ziel einer demokratischen Außenpolitik muss es sein, beide möglichst in Einklang zu bringen, statt sie gegeneinander auszuspielen. In der Praxis geht es um permanente Abwägungsprozesse, die Gegenstand öffentlicher Erörterung sein müssen. Insofern kann es gerade nicht darum gehen, die Außenpolitik aus dem politischen Streit möglichst herauszuhalten und einem kleinen Expertenzirkel zu überantworten. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: erst aus der öffentlichen Auseinandersetzung kann sich herauskristallisieren, welche auswärtige Politik dem Interesse unseres Landes am besten dient. Schutz wehrloser Bevölkerung (responsibility to protect) in ihr Regelwerk eingeführt. Siehe auch den Beitrag von Claus Kreß in diesem Buch.

Deutschland wird gebraucht Von Avi Primor Sicherheit und Verteidigung eines Landes sind Domänen ­ ationaler Politik. Selbst wenn Staaten in vielfältige und vern lässliche Bündnisstrukturen eingebunden sind, lassen sie sich nicht von außen vorschreiben, ob und wofür sie die Sicherheit ihres Landes und das Leben ihrer Soldaten riskieren. Als ehemaliger israelischer Diplomat habe ich allerdings die Erfahrung gemacht, dass der Blick von außen gelegentlich recht erfrischend sein kann. Er animiert dazu, eigene historisch gewachsene Denk- und Erklärungsmuster auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. Aus israelischer Perspektive, und bei weitem nicht nur aus dieser, wird Deutschlands außen- und sicherheitspolitische Rolle sehr geschätzt. Das hohe Ansehen der Bundesrepublik wurde erst jüngst bestätigt, als sie zum wiederholten Male zum nichtständigen Mitglied im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt wurde. Für die meisten Israelis ist Deutschland heute ein Land mit einer westlichen liberalen und welt­offenen Gesellschaft. Es besitzt verantwortungsvolle Eliten, die zweifelsohne ihre Lehren aus der deutschen Geschichte gezogen haben. Israel hat in der Bundesrepublik seit Konrad Adenauer einen wichtigen Partner, der unsere Sicherheitsbedürfnisse in einem schwierigen regionalen Umfeld versteht. Als funktionierende Demokratie im Nahen Osten begrüßen wir zudem, dass die ökonomische Großmacht Deutschland seit 1992 in vielfacher Weise gemeinsam mit seinen Partnern in Nato und EU auch militärische Verantwortung in VN-mandatierten Missionen übernommen hat. Deutschland handelt heute so, wie man es von einem Land seiner Größe und Bedeutung erwartet.

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Als Nachbar Europas und Handelspartner Deutschlands und der EU war man sehr erleichtert, dass die Kriege und Konflikte im ehemaligen Jugoslawien nach einem Jahrzehnt heftigen Blutvergießens zu Beginn dieses Jahrtausends endlich eingedämmt wurden. Ein Übergreifen der Konflikte auf weitere Länder des Balkans und eine weitere Destabilisierung von Teilen Südosteuropas hätte politische und ökonomische Wellen geschlagen, die auch im Nahen Osten spürbar gewesen wären. Daran, dass solch eine Entwicklung verhindert wurde, hatte Deutschland, bei aller militärischer Zurückhaltung zu Beginn der neunziger Jahre, einen großen politischen wie militärischen Anteil. Als direkt betroffener Staat profitiert Israel bis heute ganz unmittelbar und mit Dankbarkeit davon, dass sich Deutschlands Marine nach dem zweiten Libanonkrieg seit September 2006 in führender Rolle an der Uno-geführten Unifil-Mission vor der Küste des Libanon beteiligt. Mit der Überwachung des Seeverkehrs vor der Levante durch Marineverbände der Unifil konnte verhindert werden, dass die Israel feindliche Hisbollah im Südlibanon auch von See aus weiter mit Waffen und Nachschub beliefert wird und erneut die Kraft gewinnt, Israel zu terrorisieren. Als sich 2006 die Frage erhob, ob einer internationalen Truppe zur Befriedung des Südlibanon auch Heereskräfte der Bundeswehr angehören sollten, entfachte dieses Thema in Deutschland eine heftige Debatte. Man fragte sich, ob man es sich leisten könne, deutsche Soldaten entlang der Landgrenze mit Israel zu stationieren. Es könnte doch aus Versehen zu Vorfällen kommen, die zu Gefechten zwischen deutschen und israelischen Soldaten führen könnten. Eine solche Diskussion gab es in Israel nicht. Es gab sie nicht, weil man die Bundeswehrsoldaten auf gleicher Ebene mit französischen und anderen westlichen Soldaten einer Friedenstruppe gestellt hat. Als eine Demokratie, deren Bevölkerung seit Jahrzehnten unter Terrorismus zu leiden hat, empfinden wir eine enge Verbundenheit mit den Nationen, die selbst Opfer des Terrorismus geworden sind, zum Beispiel in New York, in Madrid und in London. Deswegen haben wir von Beginn an Verständnis für



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Amerika und seine Verbündeten in der Nato gehabt, die nach dem 11.  September 2011 zügig beschlossen, den Terror in Afghanistan zu bekämpfen. Also dort, wo er in Teilen geplant und vorbereitet wurde. Dabei gilt es hervorzuheben, dass Fundamentalismus und Weltterrorismus unabhängig vom Nahostkonflikt existieren. Die Al-Qaida-Bewegung hat ihre uns heute bekannte Form erst nach dem ersten Golfkrieg von 1991 angenommen. Bis dahin war die Bewegung vor allem dafür bekannt, dass sie in Afghanistan mit westlicher Hilfe den Kommunismus bekämpfte. Erst nach 1991 richtete sie sich gegen den Westen, gegen die westliche Zivilisation und vor allem gegen Amerika. Die Welt ist sich dessen erst nach den Anschlägen auf die New Yorker Twin Towers wirklich bewusst geworden, obwohl AlQaida-Angriffe gegen den Westen schon vorher bekannt waren. Im Laufe der zehn Jahre, in denen die Al-Qaida ihren ideologischen und terroristischen Krieg vorangetrieben hat, hat sie sich so gut wie überhaupt nicht mit dem Nahostkonflikt beschäftigt. Es gab kaum Al-Qaida-Propaganda gegen Israel, auch keine Propaganda zugunsten der Palästinenser und nicht einmal zugunsten der Befreiung der heiligen Stätten des Islam in Jerusalem. Für diese weltweite fundamentalistische, terroristische Bewegung war der Nahostkonflikt eine Nebensächlichkeit, ein Problem, das sich von alleine lösen würde, sobald das Hauptziel der Bewegung, die Zerstörung der westlichen Zivilisation, erreicht sein würde. Deutschland genießt bei uns vor allem deswegen großes Vertrauen, weil es eine funktionierende und erprobte Demokratie ist. Dies ist kein unerhebliches Charakteristikum in einer Welt, in der die meisten Länder von echter Demokratie noch weit entfernt sind. Und so manche Staaten, die vermeintlich große Fortschritte erzielt und ein scheinbar demokratisches System implementiert haben, sind keine Demokratien im westlichen Sinne. Eine Welt, in der nur demokratische Länder westlichen Stils existieren und in der es ewigen Frieden gibt, da Demokratien nach unserer geschichtlichen Erfahrung keine Kriege gegeneinander führen, bleibt vorerst eine schöne Vision. Wir werden also auch künftig Streitkräfte für die Verteidigung unse-

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rer Freiheit und Sicherheit benötigen. Um so mehr, da die Anwendung von Waffengewalt nicht nur von uns entschieden wird, sondern auch von potenziellen Gegnern. Die Abschreckung mag direkte militärische Konfrontationen verhindern, wenn wir aber angegrifffen werden, müssen wir uns verteidigen können. Die Frage ist allerdings, was „Verteidigung“ heute genau bedeutet. Wenn wir noch bis vor zwei Jahrzehnten unter der Verteidigung des Westens verstanden, die gefürchtete mögliche Aggression seitens der Sowjetunion einzudämmen, so gibt es heute keine staatliche Macht, die den Westen im klassischen Sinne des Wortes zu überfallen droht. Die Gefahr für Wohl­ ergehen und Leben der Bürger Deutschlands, Europas oder der USA lauert heutzutage oft weit von den nationalen Grenzen entfernt, beispeilsweise in Form von terroristischen Netzwerken und deren Ausbildungslagern. Deswegen stellt sich die Frage, ob eine solche Gefahr überhaupt beseitigt werden kann, ohne Streitkräfte an die Orte zu entsenden, an denen sich die Drahtzieher verschanzen und die Bedrohung entsteht. Erst wenn man diese Frage verneint kann man zu der Frage kommen, in welcher konkreten Art und Weise man für diesen Zweck die Streitkräfte in Anspruch nehmen kann, welche Strategie und Taktik anzuwenden ist und welche Dimensionen ein möglicher Einsatz haben kann und soll. Soldaten in Schützengräben, wie wir sie etwa aus der Zeit der großen Kriege kennen, sind dagegen selten geworden. Die meisten Einsätze westlicher Streitkräfte sind Stabilisierungseinsätze, bei denen Kampf nur eine von vielen Aufgaben darstellt. Daneben nehmen die Aufgaben der Streitkräfte im HightechBereich stetig zu. Wenn die Nato bei ihrer Tagung in Lissabon im November 2010 die Gefahr eines möglichen Raketenangriffs auf den Westen bekräftigte, so hat dies zur Konsequenz, dass wir technologische Mittel zu ihrer Abwehr entwickeln und konstruieren müssen, die letztlich nur von Streitkräften bedient werden können. Jedermann weiß, von welcher Gefahr gesprochen wird, obwohl man es nicht ausdrücklich ausspricht. Es handelt sich um Raketen, die der Iran möglicherweise mit Atomwaffen bestückt. Raketen, die er auch an nichtstaatliche



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Organisationen liefern könnte. Selbst wenn es glücklicherweise keine Bereitschaft dazu gibt, einen Präventivkrieg gegen den Iran zu führen und die diplomatischen und vermutlich auch die geheimdienstlichen Bemühungen andauern, eine atomare Bewaffnung des Landes abzuwenden, liegt die letzte Verantwortung für den Schutz vor einer iranischen Bedrohung in den Händen der Streitkräfte. Nur wenige Länder sind aus eigener Kraft in der Lage, Frieden und Sicherheit zu garantieren. Deshalb schließen sie Bündnisse wie die Nato, um eine Verteidigungsallianz gegen ihre Gegner zu schmieden. Oder aber sie benötigen, wie das vom Irak überfallene Kuweit 1990 internationale militärische Unterstützung, um seine Sicherheit und Freiheit wieder herzustellen oder zu sichern. In Israel sind wir sogar in einer besonderen Situation: Unsere Streitkräfte können zwar unsere Sicherheit garantieren, sie können aber keinen Frieden mit unseren Nachbarn schaffen. Dafür benötigen wir ebenfalls die Hilfe der internationalen Staatengemeinschaft. Und auch Deutschland wird gebraucht. Präsident Obama, die deutsche Bundesregierung wie auch manch andere westliche Regierung pochen wiederholt und zunehmend darauf, dass Frieden im Nahen Osten im besonderen und dringenden Interesse Europas wie auch Amerikas liegt. Und tatsächlich ist Frieden in Nahost ein Interesse des Westens und nicht nur das der unmittelbar in den Konflikt involvierten Nationen. In den Turbulenzen im Nahen und Mittleren Osten liegen zum Teil die Ursachen, die illegale Zuwanderer in den Westen treiben. Der Westen kann die illegale Zuwanderung vor Ort noch so sehr bekämpfen und begrenzen und illegale Zuwanderer ausweisen. Er wird das Problem nicht überwinden können, so lange er die Ursachen der illegalen Zuwanderung nicht beseitigt. Überdies schüren die Konflikte im Nahen und Mittleren Osten den Weltterrorismus, wenngleich sie ihn nicht hervorgebracht haben. Es wird heute keinem westlichen Politiker oder Militär in den Sinn kommen, die britische Taktik des 19.  Jahrhunderts, die sogenannte Kanonenboot-Politik (gunboat policy), anzuwenden,

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um den Nahostkonflikt zu lösen. Man wird keine westlichen Truppen in den Nahen Osten entsenden, um dort eine Regelung zu erzwingen. Dennoch wird man Streitkräfte benötigen, um eine künftige politische Friedenslösung militärisch abzusichern und diese so erst zu ermöglichen. Der Nahostkonflikt, der Jahrzehnte lang prinzipiell nicht l­ ösbar war, könnte heute – trotz versagender Regierungen vor Ort – beigelegt werden. So lange die Mehrheit der Palästinenser und der Bevölkerung der arabischen Länder die Beseitigung Israels nicht nur für wünschenswert, sondern auch für durchaus machbar hielten, hatten sie keinen Grund, mit dem verhassten, zum Verschwinden verdammten Feind Frieden zu schließen. Sie konnten mit ihm vorübergehende technische Arrangements aushandeln und haben dies auch getan. „Frieden“ aber blieb für sie ein leeres Wort. Ähnliches geschah auf israelischer Seite. Solange die Mehrheit der Israelis seit 1967 davon überzeugt und fest entschieden war, auf das Westjordanland nicht zu verzichten, so lange sie dieses Gebiet nur als das biblische und historische Erbe des jüdischen Volkes betrachten wollten und nicht als Heimat der Palästinenser, gab es wiederum für sie keinen Ansatzpunkt für Friedensverhandlungen mit den Palästinensern. Wo aber soll der Palästinenserstaat entstehen, wenn nicht im Westjordanland? In den letzten Jahren kam es in der öffentlichen Meinung auf beiden Seiten zu einer Wende, die in Ägypten bereits Ende der 70er Jahre stattgefunden hat. Lange Zeit blieb Ägypten mit seiner reformierten Meinung isoliert. Heute aber gibt es in der arabischen Welt allgemein, einschließlich der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland, eine neue Einstellung gegenüber Israel. Allmählich ist man zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Staat Israel nicht aus dem Nahen Osten „weggefegt“ werden kann. Und dass man sich bedauerlicherweise damit abfinden muss, mit einem Staat Israel im Nahen Osten zu leben. Andererseits ist die Mehrheit der Israelis zu der Erkenntnis gekommen, dass wenn auch – ihrem Glauben nach – das Westjordanland historisch ihnen gehört, sich dort eine andere Bevölkerung befindet, über die sie nicht weiter herrschen dürfen oder



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können. Also sind sie bereit und halten es sogar für wünschenswert, sich von dem Westjordanland zu trennen und unter Umständen dort die Entstehung eines Palästinenserstaates zu ermöglichen. Zwar gibt es auf beiden Seiten beachtliche, hoch motivierte und gefährliche Minderheiten, die sich dem widersetzen und zu den Waffen greifen würden, um eine Lösung zu verhindern. Wenn aber die Mehrheit fest entschieden ist, kann auch eine militante Minderheit kein Hindernis für die Beilegung des Konflikts sein. Das ist aber heute leider nicht der Fall. Der Grund dafür, dass selbst die Reife der Bevölkerung zu einem vernünftigen Kompromiss, der den Frieden ermöglichen würde, an der festgefahrenen Situation nichts ändert, liegt darin, dass trotz aller Friedensentwürfe ein Element bzw. das Hauptelement für eine Regelung immer noch unbeachtet geblieben ist. Für die israelische Bevölkerung besteht die Gefahr, dass in dem im Rahmen eines Friedensvertrags geräumten Westjordanland eine gefährliche Situation ähnlich der im Gazastreifen entsteht. Sollte die Hamas auch im Westjordanland die Macht an sich reißen, würden ihre Raketen alle Nervenzentren des Staates Israel treffen können. Im Gegensatz zur ägyptischen Regierung Ende der 70er Jahre und später zur Regierung Jordaniens stehen der palästinen­ sischen Regierung in Ramallah keinerlei Mittel zur Verfügung, die Sicherheit zu gewährleisten. Auch nicht ihre eigene Sicherheit. Um die Mehrheit auf beiden Seiten von der Umsetzbarkeit einer vernünftigen Lösung zu überzeugen, eine Mehrheit, die die extremistischen Minderheiten auf beiden Seiten eindämmen könnte, müsste man ein Mittel finden, das für beide Seiten die Sicherheit nach dem Friedensschluss glaubwürdig garantieren kann. Ein solches Mittel kann nur die internationale Gemeinschaft liefern. Würden die Amerikaner bereit sein, vorübergehend eine kleine Truppe in das nach einem Friedensschluss geräumte Westjordanland zu entsenden, eine kampfbereite Truppe, die mit der Gewährleistung beziehungsweise Erzwingung der Sicherheit beauftragt sein würde, so würde das für alle eine akzeptable Regelung sein. Ein solches Angebot werden die Amerikaner

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aber aus innenpolitischen Gründen heraus nicht unterbreiten, obwohl der Frieden im Nahen Osten laut Obama ein amerikanisches Inte­resse ist. Wenn die Amerikaner eine solche Verantwortung nicht übernehmen wollen, kann diese nur von den Europäern geschultert werden. Hier wäre dann auch Deutschland gefragt. Sollte – wie die Europäer ständig wiederholen – der Frieden im Nahen Osten ein dringendes und zentrales europäisches Interesse sein, gibt es etwas, das von den Europäern getan werden kann, um dieses Interesse zu gewährleisten. Eine kleine, von Europäern geführte, internationale Truppe könnte das gewünschte Ziel erreichen. Das Gebiet des Westjordanlandes umfasst mit 5.500 Quadratkilometern nicht mehr als die zweifache Fläche des Saarlandes. Die palästinensische Regierung wie auch die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung würden leidenschaftlich mit einer solchen internationalen Truppe zusammenarbeiten. Eine solche Truppe würde auch der palästinensischen Regierung ermöglichen, sich zu entfalten und ihre Streitkräfte zu entwickeln, so dass sie allmählich selbst die Verantwortung für die Sicherheit übernehmen könnte. Unter gegebenen Umständen sollte und könnte eine solche Truppe mit den israelischen Streitkräften und Geheimdiensten zusammenarbeiten, was wiederum die israelische Bevölkerung davon überzeugen würde, dass sie die glaubwürdige Antwort auf ihre Sicherheitssorgen ist. Es ist klar, dass die Bundeswehr eine solche Aufgabe nicht alleine übernehmen könnte. Und dabei geht es nicht um die deutsche Vergangenheit. Die Bundesrepublik ist heute als echte, ehrliche, normale parlamentarische Demokratie auch in Israel anerkannt und akzeptiert. Dennoch kann und soll die Bundeswehr nicht alleine die Verantwortung für das Westjordanland übernehmen, wie sie überhaupt weltweit keine Alleingänge unternehmen sollte. Zunächst ist Deutschland heute ein unentbehrlicher Bestandteil der Europäischen Union. Das bedeutet, dass Deutschland eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union anstreben sollte. Nur so werden auch die Interessen Deutschlands weltweit geschützt werden. Darüber hinaus sollte die Europäische Union selbst auch keine unabhän-



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gige internationale Inititative ergreifen, sondern eine solche zumindest mit den Vereinigten Staaten koordinieren. Aber eine führende Rolle in Friedensinitiativen sollte die Bundesregierung mit Hilfe der Bundeswehr schon übernehmen. Das Gewicht der Bundesregierung ist heute so groß, dass jegliche Initiative der Europäischen Union nur unter Führung Deutschlands und Frankreichs stattfinden kann. Die internationale Truppe, die 2006 in den Südlibanon entsandt wurde, hätte auch ohne die Bundeswehr entstehen können. Doch die Franzosen, die das größte Interesse am Libanon haben, waren diejenigen, die die Beteiligung der Bundeswehr als Bedingung für ihren eigenen Einsatz gestellt haben. Es ist also in jedem Fall so, dass die deutsche Politk einen wesentlichen Einfluss auf den Friedensprozess im Nahen Osten nehmen und damit das deutsche und europäische Interesse fördern kann.

Was Militär leisten kann: Die Bundeswehr als Instrument der Sicherheitspolitik Von Bastian Giegerich Die Bundeswehr wird heute durch zwei Aspekte ihrer Aufgaben charakterisiert. Sie ist eine Armee im Einsatz und sie ist ein Instrument vernetzter Sicherheit. Allgemein gesprochen handelt es sich bei beiden Dimensionen um historisch verwurzelte Zwecke von Streitkräften. Sie finden sich bei dem antiken Geschichtsschreiber Thukydides ebenso wie beim preußischen Militärtheoretiker Carl von Clausewitz im 19.  Jahrhundert. Letzterer verdankt seine neuerliche Bekanntheit einer Feststellung, die einige Aktualität besitzt: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Das bedeutet, militärische Gewalt ist keineswegs ein Ersatz für Politik, sondern sie ist deren Zielen untergeordnet und somit „ein wahres politisches Instrument.“1 Eine Beschreibung, die sich ohne weiteres auf die aktuellen Einsätze der Bundeswehr übertragen lässt. Deutsche Soldaten finden sich in einer über die letzten zwei Dekaden stetig gewachsenen Bandbreite von Auslandseinsätzen wieder. Dabei müssen sie auch das Zusammenwirken mit nichtmilitärischen Akteuren und anderen Instrumenten der nationalen Sicherheitsvorsorge bewerkstelligen, um den gegenwärtigen Sicherheitsbedrohungen und Risiken begegnen zu können. Diese Entwicklungen werden nur in groben Zügen in der Gesellschaft wahrgenommen. Bevölkerungsbefragungen zeigen regelmäßig, dass Detailwissen über Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht 1  Beide Zitate: Carl von Clausewitz (2009): Vom Kriege. Reinbek, 17.  Auflage, S.  22. Vgl. Thukydides: Der Peleponesische Krieg (verschiedene Ausgaben).

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weit verbreitet ist. So wussten 45 Prozent der Befragten in der Bevölkerungsbefragung 2009 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr „nichts konkretes“ über den Isaf-Einsatz in Afghanistan, ein Wert der für den KFOR-Einsatz im Kosovo noch auf 62 Prozent stieg. Demgegenüber waren nur 7 Prozent (Isaf) beziehungsweise 3 Prozent (KFOR) der Meinung, dass ihnen „alle wesentlichen Fakten bekannt“ waren.2 Folglich ist das Verständnis dessen, was das Instrument Militär im Einsatz leisten soll und kann, welche Rolle und welchen Nutzen es hat, und wie es sich zu zivilen Instrumenten verhält, bei den Bürgern in der Regel nicht ausgeprägt. Ein weiterer Grund für das geringe Verständnis von Bundeswehreinsätzen mag sein, dass die lange Phase des Kalten Krieges für Deutschland eine eher untypische Periode im Hinblick auf das Instrument Militär bedeutete. Das Glück, weder an Entkolonialisierungskriegen, noch an Kriegen wie jenen in ­Korea oder Vietnam beteiligt gewesen zu sein, entfremdete die Deutschen von der Vorstellung, dass politische Ziele, die über die reine Territorialverteidigung hinausreichen, mit dem Einsatz des Militärs erreicht werden könnten. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges verschärften vielfach die Skepsis, dass sich Militäreinsätze überhaupt rechtlich und moralisch legitimieren ließen. Die Verteidigungsstellungen der Blockkonfrontation waren dem Bürger zwar durch Übungen und regelmäßigem Testalarm der Sirenen an Schulen und Rathäusern bewusst, sie wurden aber nicht mit begrenzten politischen Zielen in Verbindung gebracht, sondern mit dem physischen und staatlichen Überleben. Es liegt auf der Hand, dass die geringe Kenntnis der Bundesbürger zu falschen Erwartungen darüber führen kann, was ein Einsatz der Bundeswehr zu bewirken vermag. Das 2006 veröffentlichte Weißbuch zur deutschen Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr, das maßgebliche Grundlagendokument der deutschen Sicherheitspolitik, nennt sechs wesentliche Auf2  Thomas Bulmahn (2010): Sicherheits- und Verteidigungspolitisches Meinungsklima in Deutschland: Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung Oktober / November 2009, Kurzbericht. Strausberg, S.  34.



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gaben, die von den Streitkräften zu erfüllen sind.3 Zuvorderst steht der Beitrag zur Konfliktprävention und zum internationalen Krisenmanagement inklusive dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Daran schließen sich die Unterstützung von Alliierten im Rahmen der Bündnisverteidigung der Nato und der Schutz des deutschen Territoriums sowie der Bevölkerung an. Des Weiteren soll die Bundeswehr in der Lage sein, die weltweite Rettung und Evakuierung deutscher Staatsbürger im Bedarfsfall in nationaler Verantwortung durchzuführen. Die Streitkräfte sollen überdies durch Partnerschaften und Kooperationsinitiativen mit anderen Armeen zu sicherheitspolitischer Transparenz und vertrauensbildenden Maßnahmen beitragen. Und schließlich ist die Bundeswehr außerdem beauftragt, im Katastrophenfall zivile Einrichtungen im Inland zu unterstützen. Diese Kernaufgaben erfordern die technische, personelle und strukturelle Ausrichtung der Bundeswehr auf Konfliktpräven­ tion und internationales Krisenmanagement; Begriffe, die oftmals unter dem Schlüsselsatz „vom Einsatz her denken“ zusammengefasst werden.4 Eine konventionelle Bedrohung Deutschlands oder der Allianz in den kommenden zehn Jahren schätzen sowohl die Bundesregierung als auch die Nato als eher unwahrscheinlich ein.5 Wie aber setzt das Militär diese Kernaufgaben im Krisenund Konfliktmanagement um? Systematisch lassen sich vier grundlegende Funktionen des Militärs unterscheiden.6 Streitkräfte können, erstens, die allgemeine Situationen in Krisenge3  Siehe: Bundesministerium der Verteidigung (2006): Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, Kapitel 3.2. 4  So zum Beispiel der Titel des Abschlußberichts der Bundeswehr Strukturkommission. Strukturkommission der Bundeswehr (2010): Vom Einsatz her denken. Konzentration, Flexibilität, Effizienz. Berlin. 5  Siehe: Generalinspekteur der Bundeswehr (2010): Bericht des Generalinspekteurs der Bundeswehr zum Prüfauftrag aus der Kabinettsklausur vom 7. Juni 2010. Berlin, S.  18. 6  Vgl. Rupert Smith (2005): The Utility of Force: The Art of War in the Modern World. London, S. 320–321. Smith unterscheidet zwischen ameliorate, contain, coerce / deter und destroy.

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bieten verbessern, zum Beispiel durch die Lieferung von humanitären Hilfsmitteln, dem Aufbau von Infrastruktur oder durch Unterstützung von Ausbildungsmaßnahmen lokaler Sicherheitskräfte. Zweitens kann das Militär eine Krisensituation eindämmen beziehungsweise kontrollieren. Hierunter würde die Überwachung von Sanktionen, Embargos oder die Einrichtung von Schutzzonen für die Zivilbevölkerung in Krisengebieten fallen. Die Durchsetzung solcher Maßnahmen schließt den Einsatz von Waffengewalt ein. Drittens können Streitkräfte Zwangsmaßnahmen durchführen und Konfliktparteien abschrecken. Dies bedeutet, dass der Gebrauch beziehungsweise die Androhung militärischer Gewalt in diesem Fall dazu dienen soll, die Intentionen wenigstens einer Konfliktpartei zu beeinflussen. Schließlich können Streitkräfte durch Kampfeinsatz gegnerische Kräfte zerstören. Wichtig ist der fundamentale und bleibende Unterschied zwischen dem militärischen und allen anderen Instrumenten, die der deutschen Sicherheitspolitik zur Verfügung stehen: Der Wesenskern militärischer Gewalt ist es zu zerstören und zu töten. Selbstverständlich können Rolle und Nutzen der Bundeswehr im Einsatz nicht auf diesen Wesenskern reduziert werden, aber im Extremfall ist diese Eigenschaft entscheidend. Noch vor einigen Jahren resümierte der britische Historiker Michael Howard, bei Einsätzen westlicher Streitkräfte handle es sich eigentlich um „internationale Polizeiaktionen zur Verteidigung globaler Sicherheit gegen gewaltsame Versuche von Übeltätern diese zu stören und zu zerstören.“7 Das Militär habe sich heute immer weiter von klassischen Aufgaben der Abschreckung und Kriegsführung zur territorialen Verteidigung entfernt.8 Klassische Landes- und Bündnisverteidigung finde nicht 7  Michael Howard (2006): A Long War?, in: Survival 48(4), 7–14 (hier S. 9, Übersetzung des Verfassers). 8  Siehe: Charles C. Moskos / John A. Williams / David R. Segal (2000): Armed Forces after the Cold War, in: Dies. (Hrsg.): The Postmodern Military: Armed Forces After the Cold War. Oxford, S.  1–13; Klaus Naumann (2008): Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen. Hamburg, S.  21.



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mehr statt, an ihre Stelle seien neue Missionen, oftmals legitimiert durch internationale Organisationen und durchgeführt von multinationalen Verbänden, getreten. Wenn das Militär solche Missionen dennoch als Krieg bezeichne, so sei das aus operativen Gründen verständlich, de facto handele es sich aber um die militärische Unterstützung ziviler Kräfte. Diese Perspektiven sind uns aus Deutschland wohl bekannt. Bereits im Weißbuch 2006 heißt es dazu: „Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung unterscheiden sich hinsichtlich Intensität und Komplexität nicht von Einsätzen zur Verteidigung von Bündnispartnern“.9 Diese Erkenntnis wird nun von Regierungsmitgliedern mit Bezug auf den deutschen Einsatz in Afghanistan auch gegenüber der Öffentlichkeit zunehmend klarer kommuniziert. Der ehemalige Bundesminister der Verteidigung, KarlTheodor zu Guttenberg, stellte beispielsweise klar, er spreche „bewusst von kriegsähnlichen Zuständen und vom Krieg“, da dies der Realität im Einsatz in Afghanistan entspräche.10 Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bei einem AfghanistanBesuch zu Soldaten des deutschen Kontingents, „wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat.“11 Freilich bleibt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen einem Krieg zur Landesverteidigung einerseits und internationalen Konfliktprävention beziehungsweise Krisenmanagement andererseits bestehen. Im Verteidigungsfall geht es sehr direkt um das vitale Interesse eines Staates, bei Auslands­ einsätzen in der Regel nicht. Wenn das Militär für Konfliktpräventions- und Krisenmanagementaufgaben eingesetzt wird, dann 9  Bundesministerium

der Verteidigung (2006: 67, Online Ausgabe). Freiherr zu Guttenberg (2010): Rede des ehemaligen Bundesministers der Verteidigung, Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, anlässlich der Bundeswehrtagung am 22.  November 2010 in Dresden. 11  Welt Online (2010): Angela Merkel spricht von „Krieg“ in Afghanistan, 18.  Dezember, http: /  / www.welt.de / politik / deutschland / artic le11703545 /  A ngela-Merkel-spricht-von-Krieg-in-Afghanistan.html (21.12.10). 10  Karl-Theodor

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kann es sich um optionale Einsätze handeln. Verkürzt gesagt: Da es in solchen Fällen nicht darum geht, eine existentielle Bedrohung für Deutschland oder einen der Nato-Partner abzuwehren, kann der Einsatz auch unterbleiben, ohne dass dies unmittelbar dramatische Folgen für die Sicherheit Deutschlands hätte. In der englischsprachigen Literatur werden derartige Einsätze als selbst gewählte Kriege (wars of choice) bezeichnet, denen notwendige Kriege (wars of necessity) gegenüberstehen. Wenn Kriege oder auch nur bewaffnete Einsätze aber weder aufgezwungen werden, also nicht existentiell notwendig sind, stellen sich für die Politik entscheidende Fragen: Wie viel Militär will ich für solch einen Einsatz einsetzen? Und sind dieser Aufwand und die Gefahren für das Leben und die Gesundheit der entsendeten Soldaten gerechtfertigt? Je nach dem, wie sich dieser Frage genähert wird, können gedankliche Kurzschlüsse entstehen. Schon Clausewitz hat darauf hingewiesen, dass ein eingeschränkter politischer Zweck eines militärischen Einsatzes auch zu begrenzten militärischen Anstrengungen führt.12 Das Dilemma liegt jedoch darin, dass ein Einsatz zur Verfolgung eines klar definierten politischen Ziels, unter Umständen nicht mit begrenzten Mitteln (auch militärischen) erfolgreich und effektiv geführt werden kann. Schließlich muss sich der Einsatz der nötigen Instrumente sowohl nach den eigenen Zielen als auch den Absichten sowie den militärischen und nicht-militärischen Mitteln des Widersachers richten.13 Nur wer die Handlungsmöglichkeiten der Gegner in seine Planungen einbezieht, handelt überhaupt strategisch. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Im Zentrum der Strategie von der Nato-geführten und durch die Vereinten Nationen mandatierten Isaf in Afghanistan steht der Schutz der lokalen Bevölkerung sowie die Übergabe der Verantwortung für die öffentliche Sicherheit an afghanische Sicherheitskräfte. Zudem herrscht die Überzeugung, dass entwicklungspolitische, aber auch kulturelle und politische Projekte nur in einem stabilen Umfeld angegan12  Carl von Clausewitz (2009): Vom Kriege. Reinbek, 17. Auflage, S.  17. 13  Clausewitz (2009: 14, 207).



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gen werden können. Um dieses Konzept umzusetzen, müssen die militärischen Anstrengungen umfangreich genug sein, um es auch wirksam anwenden zu können. Dabei sind von vornherein die möglichen Reaktionsformen des Gegners einzubeziehen. In anderen Worten: die Isaf muss stark genug sein, um Sicherheit und Stabilität auch gegen den bewaffneten Widerstand gegnerischer Kräfte aufrecht zu erhalten und so Bedingungen zu schaffen, in denen zivile Hilfe möglich wird. Gegenwärtige sicherheitspolitische Herausforderungen, wie der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, internationale Stabilisierungseinsätze oder die Piraterie, verlangen das Zusammenwirken von militärischen und nicht-militärischen Instrumenten und die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Zur Umsetzung seiner heutigen Aufgaben ist das Militär auf Partner angewiesen und es ist selbst ein Partner. Genauso wenig wie ein Staat heute effektive Sicherheitsvorsorge alleine betreiben kann, kann ein einzelnes Instrument – weder Militär, noch Diplomatie oder Entwicklungszusammen­ arbeit – alleine Sicherheit und Stabilität herbeiführen. Diese ­Einsicht wurde im Weißbuch von 2006 mit dem Begriff der vernetzten Sicherheit verankert.14 Diese Grundüberzeugung wird, wenngleich unter anderen Begrifflichkeiten und mit anderem Ursprung auch von Partnernationen sowie in der EU geteilt. In der Allianz firmiert der Begriff als comprehen­sive approach.15 In der sicherheitspolitischen Diskussion in Deutschland wird im Zusammenhang mit dem Begriff der vernetzten Sicherheit gerne der Vorrang für zivile Maßnahmen, also eine grundlegende Präferenz für nicht-militärische Instrumente der Sicherheitspolitik, betont. Eine solche Haltung übersieht jedoch, dass das Militär Fähigkeiten zur Verfügung stellen kann, die gerade unter dem Zeitdruck und den Gefahren einer Krisen- und Konflikt­situation entweder nur schwer oder gar nicht durch andere Akteure bereitgestellt werden können. Und abgesehen davon, dass in einigen 14  Bundesministerium der Verteidigung (2006: 25­–27, Online Ausgabe). 15  Siehe: Nato (ohne Datum): A Comprehensive Approach, http: /  /  www.nato.int / cps / en / natolive / topics_51633.htm.

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Konfliktsituationen nur Streitkräfte in der Lage sind, Gewalt einzuhegen und somit den Einsatz anderer Instrumente erst zu ermöglichen, bietet das Militär auch stehende Planungs- und Logistikkapazitäten, die es schnell zur Wirkung bringen kann. Streitkräfte können über den gesamten Zyklus eines gewaltsamen Konflikts hinweg eine aktive Rolle im Rahmen der vernetzten Sicherheit spielen. So können zum Beispiel Aufklärungsmittel wie Drohnen oder Satelliten der Krisenfrüherkennung dienen, und die präventive Entsendung von militärischen Beratern und Ausbildern kann dazu beitragen, dass lokale Sicherheitskräfte in Krisenregionen besser in der Lage sind, auf eine sich verschlechternde Sicherheitslage zu reagieren. Auch medizinisches Personal kann in präventiven Funktionen eingesetzt werden. Unter Umständen kommt dem Militär bereits durch schiere Präsenz eine präventive oder abschreckende Funktion in einem Krisengebiet zu, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Überwachung beschlossener Sanktionen. Ist eine akute Krisensituation eingetreten, kann das Militär dazu genutzt werden, die streitenden Konfliktparteien zu trennen, eine Pufferfunktion einzunehmen, oder einen Waffenstillstand zu überwachen. Unter diese Form der Konfliktbeherrschung würde aber auch der Einsatz von Waffengewalt zur Erzwingung eines Waffenstillstandes fallen. Dabei geht Friedenserzwingung in der Regel einher mit dem Versuch, ein sicheres Umfeld für den Einsatz ziviler Mittel, die Lieferung von humanitären Hilfsgütern oder Flüchtlingsbewegungen herzustellen. Darüber hinaus kommen dem Militär auch während der Konfliktnachsorge besondere Aufgaben zu. So kann der Einsatz der Bundeswehr dazu dienen, die Entwaffnung und Demobilisierung von Konfliktparteien zu unterstützen oder die öffentliche Sicherheit durch Ausbildung lokaler Kräfte und die Herausbildung von lokalen Kapazitäten zu stärken. Des Weiteren können Bundeswehreinheiten beim (Wieder-)Aufbau von Infrastruktur oder bei der Sicherung derselben wichtige Dienste leisten. Spiegelbildlich zum Vorrang des Zivilen wird der Einsatz des militärischen Instruments oft als Ultima Ratio, also als letztes einzusetzendes Mittel – wenn alle anderen Optionen erschöpft



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sind – bezeichnet. Wenn damit eine zeitliche Abfolge gemeint ist, dann greift diese Bezeichnung zu kurz, denn hier werden die präventiven Aspekte militärischer Gewalt übersehen. Sie suggeriert aber darüber hinaus auch, dass es einen geordneten Übergang zwischen militärischen und nicht-militärischen Instrumenten gäbe. Somit wäre der Einsatz der Streitkräfte eine Alternative zu anderen Mitteln, die womöglich eine mit anderen Methoden nicht zu erreichende Lösung herbeiführen kann.16 Derartige Vereinfachungen verdecken, dass der Einsatz des Militärs nur ein Teil des Spektrums der verfügbaren Instrumente ist, dass diese nicht immer in einer graduell eskalierenden Sequenz angewandt werden können, und dass zwischen ihnen keine von vorneherein festgelegte Hierarchie besteht. Vielmehr sind die unterschiedlichen Mittel der Sicherheitsvorsorge wechselseitig voneinander abhängig, und welches betont werden sollte, ist wiederum abhängig von der Krisen- und Konflikt­ situation vor Ort, beziehungsweise ob es sich um eine Phase der Konfliktprävention, der Konfliktbeherrschung oder der Konfliktnachsorge handelt. Als Herausforderung stellt sich in diesem Zusammenhang oftmals dar, dass viele zivile Akteure, die für den Gesamterfolg eines Einsatzes ebenfalls notwendig sind, mitunter eine gewisse Distanz zu militärischen Kräften halten wollen, um im Rahmen ihrer jeweiligen Aufgaben handlungsfähig zu bleiben. Gerade nicht-staatliche humanitäre Hilfsorganisationen erwehren sich so einer auch nur scheinbaren Vereinnahmung durch Streitkräfte, da die demonstrative Unparteilichkeit Grundlage ihrer Arbeit ist. Die Militärs suchen deshalb regelmäßig den Verdacht zu vermeiden, sie würden eine aktive Führungsrolle im Zusammenspiel mit den unterschiedlichen zivilen Akteuren anstreben. Dabei geht es bei der vernetzten Sicherheit oder dem comprehensive approach nicht um eine Hierarchisierung von zivilen und militärischen Instrumenten, sondern darum, Synergien zwischen ihnen auszumachen und zu nutzen. Im Idealfall kann ein ressortübergreifendes Lagebild erstellt werden, welches dann die Aktivitäten der einzelnen Akteure im Sinne eines geteilten 16  Siehe

auch Smith (2005: 310).

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Verständnisses für Situation und Ziele anleitet. Durch eine gemeinsam, also zivil-militärisch, durchgeführte Bewertung von Einsätzen können Lernprozesse angestoßen werden, die wiederum die Planungsgrundlagen der Zukunft verbessern helfen. Auch eine aktuelle Studie, welche die Friedensbemühungen der internationalen Gemeinschaft in Krisengebieten untersucht, weist klar darauf hin, dass ein sicheres Umfeld, stabile Regierungsstrukturen und der Zugang der Bevölkerung zu grundlegenden Dienstleistungen die Kernaufgaben der internationalen Gemeinschaft sein müssen.17 Ein Zusammenwirken der verschiedenen, zivilen und militärischen Instrumente in einem vernetzten Ansatz ist deshalb von großer Bedeutung. Für die Einsätze der Bundeswehr gilt es also, fünf wesent­ liche Faktoren im Blick zu behalten. Erstens können Streitkräfte in allen Phasen eines Konfliktes einen Beitrag leisten. Zweitens: Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Militär und anderen Instrumenten bleibt die Fähigkeit der Streitkräfte zum Kampfeinsatz. Dieses Merkmal verleiht Streitkräften zwar einen einzigartigen Charakter, lässt aber die außerordentlich breite Fächerung ihrer Fähigkeiten und Aufgabengebiete unberührt. Drittens führt oftmals erst der Einsatz militärischer Gewalt eine Situationsänderung herbei, die dann den Einsatz anderer Instrumente zuläßt. Das Instrument Militär ist also ein elementarer und unverzichtbarer Bestandteil nationaler und multinationaler Sicherheitsvorsorge, wie sie insbesondere durch Auslandseinsätze zum Ausdruck kommt. Jedoch werden, viertens, Streitkräfte auch in absehbarer Zukunft nicht in der Lage sein, moderne sicherheitspolitische Probleme im Alleingang zu lösen. Das Zusammenwirken militärischer und nichtmilitärischer Instrumente ist somit essenziell. Entscheidend für den Erfolg und den Nutzen militärischer Gewalt ist jedoch fünftens, dass möglichst vor einem Einsatz definiert wird, welche politischen Ziele erreicht werden sollen und welchen Beitrag das Militär dazu leisten soll. 17  Mats

95.

Berdal (2009): Building Peace After War. London, S.  94–

Ein Land tut sich schwer: Bundeswehr-Einsätze seit 1991 Von Robert von Rimscha*1 Was geostrategische Verschiebungen und die Zunahme an Zentrifugalkräften angeht, hat sich die Welt seit dem Mauerfall 1989 wohl stärker verändert als innerhalb der festgefrorenen Zeit von 1945 bis 1989. Zunächst galt der Kollaps des Kommunismus als Chance, eine gewaltige Friedensdividende einzufahren. Das Wettrüsten könnte enden, Stellvertreterkriege in der Dritten Welt hatten ihre ideologische Basis verloren, Atomwaffen für viele Bürger ihren Schrecken, Kooperation würde an die Stelle von Konfrontation treten. Es schien die Gelegenheit zu geben, alle Gesellschaften hin zu freiheitlicher, pluralistischer, marktwirtschaftlicher Demokratie zu führen. Und zum Frieden. Für Deutschland und Europa waren es die Balkankriege, die auf schockierende Weise verdeutlichten, dass das Archaische nicht nur fortbestand, sondern in nächster Nähe toben konnte. Für die USA war es ein paar Jahre später der 11.  September, der drastisch vor Augen führte, dass asymmetrische Bedrohungen, islamistischer Fundamentalismus und internationaler Terrorismus Gefahren waren, die nicht minder schwer wogen als die Furcht vor der Sowjetunion. Rückblickend kann man den Zerfall Jugoslawiens und die Bedrohung durch Al-Qaida als zwei Vorboten dessen werten, was die Schattenseiten der Globalisierung ausmacht. Militante Renationalisierung mit ethnischem Partikularismus und radikaler, transnationaler Protest gegen die westlich-säkulare Kultur *  Der Autor gibt hier seine persönlichen Wertungen wieder, nicht die des Auswärtigen Amtes.

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sind Ausprägungen jener Unübersichtlichkeit, die die Globalisierung schafft. Deren Hauptrichtung ist freilich eine andere, eine, die in den Aufstieg neuer Mächte mündet, die Gewichte von der transatlantischen Gemeinschaft weg hin nach Asien und nach Süden verschiebt, die in atemberaubender Geschwindigkeit neue, meist bessere Lebensverhältnisse für hunderte Mil­ lionen Menschen bedeutet, die eine völlig neue Dimension von internationaler Vernetzung schafft. Es ist diese unebene Landschaft aus Hoffnungen und Bedrohungen, in der die Bundeswehr seit nun bald zwanzig Jahren mit Auslandseinsätzen ihren Beitrag zur Prävention und zur Stabilisierung zu leisten versucht. Streitkräfte, die jahrzehntelang dafür geübt hatten, aber nie wirklich einen sowjetischen Panzer bekämpfen mussten, hatten sich mit ziemlich wenig Übung auf sehr reale Szenarien einzustellen, die schwerer kalkulierbar waren als ein Angriff der Roten Armee. Die Mission in Somalia 1993 / 1994 war der erste Bundeswehr-Auslandseinsatz, der ins Bewusstsein einer breiten deutschen Öffentlichkeit rückte. Es ging um die Beendigung einer Hungerkatastrophe und um die Errichtung von Strukturen in einem Land, in dem an Staatlichkeit kaum mehr etwas vorhanden war. Aufgabe der deutschen Soldaten war die logistische Vorbereitung und Unterstützung des Einsatzes einer indischen Einheit, die in der Provinzstadt Belet Huen nördlich Mogadischus für Ruhe und Ordnung sorgen sollte. Die Bundeswehr half beim Brunnenbau, sie stattete örtliche Krankenhäuser aus, verbesserte die Verkehrsinfrastruktur, engagierte sich im Bildungssektor und bei der Aussöhnung zwischen den lokalen Klanführern, die in einen basisdemokratischen Prozess des Staatsaufbaus münden sollte. Vorstellungen vom deutschen Soldaten als „Entwicklungshelfer in Uniform“, als „Technisches Hilfswerk mit Gewehr“ oder „GTZ mit Blauhelm“ entstanden.1 Das indische Truppenkontingent kam nie. Die US-Regierung konnte den Einsatz innenpolitisch nicht mehr durchhalten, 1  Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), Ende 2010 überführt in die GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit).



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nachdem die geschändete Leiche eines US-Soldaten durch die Straßen von Mogadischu geschleift wurde. Die Bevölkerung im Westen rieb sich die Augen: Man kam als Helfer und wurde massakriert? Sah so der Dank für den humanitären Einsatz aus? Ein Grundproblem, das bis heute Auslandseinsätze begleitet, wurde bereits in Somalia überdeutlich. Der Öffentlichkeit gegenüber konnte eine Mission nur begründet werden, wenn sie von einem übergeordneten Motiv, einem sogenannten großen Narrativ begleitet wurde – im Falle Somalias der Kampf gegen Hunger und Massensterben. Gleichzeitig war die konkrete operative Aufgabe eine kleinteilige, eben die Unterstützung des letztlich nie ankommenden indischen Kontingents. Die Brüchigkeit einer rein humanitären Argumentation wurde bereits in Somalia offenkundig. Gut fünfzehn Jahre später versuchten vor allem von der Uno mandatierte Soldaten der Afrikanischen Union, zur Stabilisierung einer somalischen Übergangsregierung mit beschränktem Herrschaftsraum beizutragen. Deutschland half bei der Ausbildung von somalischen Soldaten in Uganda. Der Konflikt wurde afrikanisiert, gleichzeitig verschob sich der Begründungszusammenhang. Heute geht es weniger um die Linderung von Hunger als um die Eindämmung des Vormarsches von Al-Schabbach, einer islamistischen Miliz, die in den Ruinen somalischer Staatlichkeit einen Rückzugsraum für Al-Qaida schafft. Und es geht um die Eindämmung der Piraterie vor den Küsten Somalias, wobei die dort operierenden Marineverbände der Europäischen Union und der Nato erstmals und produktiv mit China und Indien zusammenarbeiten. Diese Veränderungen sind ein Teil der Lehre, die aus den frühen Einsätzen gezogen wurde: Regionalisierung, trilaterale Ansätze unter Einbeziehung von Nachbarn, Einbindung von weiteren großen Stakeholdern. Nach dem Abzug der Bundeswehr wurde der Einsatz in Somalia weder als Fiasko noch als Erfolg verbucht, sondern als lehrreiche Erfahrung. Eine breite öffentliche Debatte über Lektionen blieb auch deswegen aus, weil mit den Balkankriegen unmittelbar neue, räumlich nähere Herausforderungen folgten.

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Die Frühphase der Bundeswehr-Auslandseinsätze umfasst neben der Somalia-Mission die Minenräumaktion im Persischen Golf 1991 und die Entsendung eines Feldlazaretts für Kambodscha 1992. Auch der Einsatz von Polizisten in Namibia folgte dem Prinzip, dass Deutschland ein Signal seiner internationalen Verantwortungsbereitschaft setzte, sich aber militärisch zurückhielt: Noch waren Kampfeinsätze „out of area“, also jenseits des Bündnisgebietes, undenkbar. Um Klarheit zu erlangen, welche Rolle der Streitkräfte überhaupt mit dem Grundgesetz im Einklang steht, wurde immer wieder das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit Fragen der Zulässigkeit von Einsätzen befasst, von der Adria-Überwachung des Jugoslawien-Embargos bis zur Nutzung der Nato-Aufklärungsflugzeuge Awacs (Air­ borne Warning and Control Systems) in der Türkei während des Irak-Krieges 2003. Das Bundesverfassungsgericht folgte zwei Linien: Erstens sind Auslandseinsätze außerhalb des Nato-Gebiets grundsätzlich als Teilnahme an einem System kollektiver Sicherheit zulässig, abhängig sind sie zweitens einzelfallbezogen von einer Zustimmung des Deutschen Bundestages. Dieser ausdrückliche und im Laufe der Jahre noch gestärkte Parlamentsvorbehalt ist heute das hervorstechendste Merkmal deutscher Entscheidungsfindung bei Auslandseinsätzen und wird von Partnern nicht immer als das verstanden, was er sein soll: weder Schwächung der Exekutive noch Minderung deutscher Verantwortungsbereitschaft, sondern Antwort auf die deutsche Geschichte im Versuch, über das Votum der Volksvertreter eine breite Basis der Unterstützung für Einsätze zu schaffen. Karlsruhe hat vermutete Verbote und Widersprüche ausgeräumt und neue Grenzen deutscher Außenwirkung gezogen. Die gewünschte Verankerung von Einsätzen in der Bevölkerung gelang bestenfalls zum Teil. Die Bundeswehr als Institution und der Beruf des Soldaten mögen heute in breiteren Teilen der Bevölkerung akzeptiert sein als in den 70er oder 80er Jahren – konkrete Auslandseinsätze sind es deswegen noch lange nicht. Eine bedeutsame innenpolitische Klärung der militärischen Rolle Deutschlands erfolgte, als Rot-Grün in den ersten Amts-



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monaten 1998 / 1999 zu entscheiden hatte, ob Deutschland sich an der militärischen Intervention gegen Serbien zur Beendigung der Massenvertreibungen im Kosovo beteiligen sollte. Das Ja der Regierung Schröder / Fischer bedeutete gesellschaftlich, dass ein Teil der politischen Linken sich widerstrebend versöhnte mit einem Realismus in der Außen- und Sicherheitspolitik, der als ultima ratio auch militärische Zwangsmaßnahmen bis hin zum Krieg beinhaltete. Hierin liegt bis heute der Unterschied zwischen verantwortungsethischen Positionen innerhalb von SPD und Grünen einerseits und einem vermeintlich gesinnungsethischen Nein innerhalb der Partei „Die Linke“ andererseits. Zur Begründung der Balkan-Missionen, vor allem aber zur Rechtfertigung der deutschen Beteiligung am Kosovo-Einsatz, wurden Assoziationen aus der deutschen Geschichte bemüht. Rot-Grün warb um Zustimmung zu den Einsätzen, indem diese als notwendige Maßnahmen zur Verhinderung eines neuen Holocaust dargestellt wurden. Verteidigungsminister Rudolf Scharpings Verweis auf einen angeblichen serbischen „Hufeisenplan“, eine Blaupause zur Vertreibung aller Albaner aus dem Kosovo, gehört ebenso in diesen Kontext wie die Parallelisierung von Srebrenica und Auschwitz durch Außenminister Joschka Fischer. Im Kern hatte es nach 1945 immer zwei nicht deckungsgleiche Lektionen aus der nationalsozialistischen Tyrannei gegeben: „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“. Ein Krieg, der zur Verhinderung eines Völkermords in Europa geführt werden sollte, musste diese beiden Gebote notwendigerweise in Konflikt miteinander bringen. Teile der rot-grünen Führung betonten nun das Primat der Vermeidung eines Völkermords und sahen den Bundeswehreinsatz als Instrument hierfür: Zur Unterbindung eines Genozids war Krieg denkbar. Für viele politisch Linksstehende war dies nichts weniger als ein Kulturbruch. Diese konstruierte moralische Fallhöhe der Einsatzbegründung ist in mindestens zweierlei Hinsicht problematisch. Zum einen stellt sich die Frage nach Vergleichbarkeit und Relativierung. Daneben ist die Aufgabe, eine neue Shoah zu verhindern, der ethisch wohl unhinterfragbarste aller Begründungszusammenhänge. Dass die internationale Gemeinschaft kurz zuvor bei

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der Unterbindung des Genozids in Ruanda (und Europa lange in Bosnien) versagt hatte, trug in den Augen vieler indes zur Überzeugungskraft des Arguments bei: Einen weiteren Sündenfall sollte es nicht geben. Auf der gleichen Linie außenpolitischer Bündnisfähigkeit und sicherheitspolitischer Teilhabe lag unmittelbar nach dem 11.  September 2001 das Argumentationsmuster der Regierung, als Schröder die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA als Maxime benannte. Im Parlament verband der Kanzler aber die Zustimmung zur Al-Qaida-Bekämpfung mit der Vertrauensfrage, um eine eigene Mehrheit zu erzwingen. Innenpolitische Machtfragen sickerten in außenpolitische Entscheidungen ein. Ein Teil des internationalen Vertrauens und des verantwortungsethischen Kapitals, das Deutschland sich durch die Mitwirkung an den Balkan-Einsätzen und an der Terrorbekämpfung Operation Enduring Freedom sowie am Afghanistan-Einsatz erwarb, verspielte Rot-Grün im Umgang mit der Irak-Krise. Bis heute streiten sich George W. Bush und Gerhard Schröder, ob der eine den anderen belogen hat oder nicht. Es geht um die Frage, ob der deutsche den amerikanischen Regierungschef wissen ließ, es sei nicht mit Protest zu rechnen, wenn gegen Saddam Hussein nur rasch gehandelt werde. Bush behauptet es so, Schröder widerspricht. Unstrittig ist, dass jenseits der inhaltlichen Vorab-Festlegung, Deutschland werde sich auf keinen Fall – auch nicht bei UNO-Mandatierung – an dem Krieg beteiligen, eine massive innenpolitische Funktionalisierung dieses Nicht-Einsatzes im Kontext der Bundestagswahlen 2002 erfolgte. Sein Ausruf „für Abenteuer stehen wir nicht zur Verfügung“ sollte Schröders Wiederwahl sichern. Bei der Verlängerung des Afghanistan-Mandats im Januar 2011 stimmten nur zwei Bundestags-Fraktionen geschlossen ab, die FDP für und die Linke gegen das Mandat. Am zerrissensten zeigten sich die Grünen. Die Union stimmte nahezu einstimmig, die SPD mit deutlicher Mehrheit für das Mandat. Während sich im parlamentarischen Raum also ein breiter, parteiübergreifender Konsens der politischen Mitte etabliert hat, der Bündnisfähigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Einzelfallprüfung kom-



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biniert, ist die gesellschaftliche Diskussion widersprüchlicher und insgesamt kritischer. Zwei Fragestellungen prägen sowohl die öffentliche wie die politische Debatte. Die Nachhaltigkeit eines Einsatzes und die Unabdingbarkeit, dass gerade deutsche Soldatinnen und Soldaten sich beteiligen, werden immer wieder thematisiert. So lehnte die FDP die Wahlabsicherung im Kongo ab, weil das Mandat mit seiner Beschränkung auf vier Monate im zweiten Halbjahr 2006 zwar sehr klar umrissen war, aber eben deswegen kaum Aussicht auf einen langfristigen Erfolg gegeben schien. Historische Argumente, die bereits bei den BalkanMissionen eine erhebliche Rolle gespielt hatten, wurden erneut breit diskutiert, als zu entscheiden war, ob sich Deutschland am Einsatz vor der Küste Libanons zur Unterbindung von Waffenschmuggel beteiligt. Zugespitzt lautete die Abwägung: Wie verträgt sich das Ziel, zugunsten Israels einen Beitrag für die Sicherheit leisten zu wollen, mit dem Risiko, dass ausgerechnet deutsche und ­israelische Soldaten in Konflikt miteinander geraten könnten? Kann Deutschland in Nahost neutral auftreten? Seit Ende 2001 stellt für Deutschland vor allem Afghanistan die Frage, ob der Staatsaufbau und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts über ethnische Volksgruppen und Stämme hinweg möglich ist. Der erste Nato-Bündnisfall, unzweideutig von den Vereinten Nationen mandatiert, mag völkerrechtlich ein klarerer Fall als der Kosovo-Einsatz sein, politisch und moralisch war er es nur zu Beginn. Dass nach dem 11. September der Ausbildungsplatz der Täter, die Geburtsstätte des jihadistischen Terrors und der Rückzugsraum von Al-Qaida bekämpft werden musste, war Konsens. Kein Konsens bestand hingegen schon nach wenigen Wochen, als die Taliban-Herrschaft in Kabul durch die Alliierten und die Nordallianz beendet war, über die Begründung des weiteren Einsatzes.2 2  Vgl. Die Rolle der Bundeswehr in der deutschen Außen- und ­ icherheitspolitik, 146. Bergedorfer Protokoll, edition Körber-Stiftung, S 2010.

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Politisch und medial wurde die Wahrnehmung der Afghanistan-Mission schon von 2002 an durch den heraufziehenden Irak-Krieg überlagert. Mit der schrittweisen Übergabe der Verantwortung für den Irak an irakische Einrichtungen, mit dem Rückzug der US-Truppen von Euphrat und Tigris und mit dem Erstarken der Aufständischen in Afghanistan verschoben sich die Lage vor Ort und das Bild nach draußen. Die Öffentlichkeit nahm die Begründungen für den Afghanistan-Einsatz als Zickzack wahr. Die Zerstörung von Al-Qaida-Strukturen, die Bekämpfung der Taliban, das Fassen von Osama bin Laden – darum schien es in der ersten Phase zu gehen. Dann schien Humanitäres und Gesellschaftliches zu dominieren: Krankenhäuser und Brunnen, Straßen und Mädchenschulen. Die militärische Sicherheitskomponente diente allenfalls zur Stützung dieses Ansatzes, so schien es. Doch mit der Verschlechterung der militärischen Lage verschoben sich seit 2007 die Argumentationsmuster in Richtung eines Minimums an selbsttragender Sicherheit als Ziel. Das Jahr 2010 brachte insofern einen deutlichen Fortschritt, als die Allianz der in Afghanistan engagierten Staaten sich bei Konferenzen in London und in Kabul sowie beim Nato-Gipfel in Lissabon auf eine einheitliche Strategie und auf gemeinsame Parameter erreichbaren Erfolgs einigen konnte. Im Zentrum des Engagements steht ein umfassender Sicherheitsbegriff, der zu­ allererst von politischen Lösungen ausgeht und sowohl die ­innerafghanische Aussöhnung als auch die regionale Einbettung des Konflikts betont. Überdies ist die Afghanisierung der Verantwortung beschlossen. Die Bundeswehr hat eine klare AbzugsPerspektive. Umgekehrt ist der Regierung Karsai seit 2010 wohl klarer als je zuvor, dass sie nicht aus der Pflicht entlassen ist. Die innerdeutsche Afghanistan-Debatte ist von der Diskus­ sion geprägt worden, ob die Vokabel „Krieg“ angemessen ist. Von den Assoziationen, die „Krieg“ gerade bei älteren Deutschen auslöst, ist kaum etwas übertragbar. Kein Land hat ein anderes überfallen oder schlägt nun zurück; es stehen sich nicht uniformierte Armeen gegenüber; es gibt keinen Vernichtungs-



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krieg gegen Zivilbevölkerungen; eine Mehrheit der Afghanen betont nach wie vor, den Einsatz als hilfreich und eine Rückkehr der Taliban als unerwünscht zu betrachten. Übertragbar ist aber die Erfahrung der Kämpfenden vor Ort. So ist es inzwischen Gemeingut, dass völkerrechtlich von einem „bewaffneten nicht-internationalen Konflikt“ auszugehen ist, dass die erlebte Wirklichkeit der Soldatinnen und Soldaten vor Ort aber „Krieg“ heißt. Bis zum Jahreswechsel 2010 / 2011 waren in Afghanistan knapp 50 Bundeswehrangehörige getötet worden. Für viele Bundesbürger steht dies zuvörderst für die neue Realität, in der Deutschland seit 1989 / 90 lebt. Die bisherigen Auslandseinsätze werfen, was mediales Bild, öffentliche Akzeptanz und politische Darstellung anbelangt, eine Reihe von strukturellen Fragen auf. Es ist ein breiter politischer Konsens in der Bundesrepublik, dass das Entsenden von Soldatinnen und Soldaten nicht das erstbeste und naheliegendste Werkzeug sein darf, sondern ultima ratio sein sollte. Diese sinnvolle Prämisse verträgt sich indes nur schwer mit der positiven Erfahrung aus dem Mazedonien-Einsatz, wo bewusst in einer Frühphase sich abzeichnender Konflikte, also im Grunde präventiv, ausländische Streitkräfte zum Einsatz kamen. Auch der Kongo-Einsatz hat wenig mit ultima ratio zu tun. Hieraus folgt, dass ultima ratio nicht strikt zeitlich definiert werden sollte, sondern funktional. Der „letzte Ratschluss“, wie ultima ratio übersetzbar ist, gehorcht politischen Zielen, nicht Terminkalendern. Altkanzler Helmut Schmidts massive Kritik am AfghanistanEinsatz legt den Finger in eine weitere offene Wunde. Die deutsche Gesellschaft hat bislang nicht geklärt, wie sie ihren Interessensraum – thematisch wie geografisch – definiert. Das Argument „dort haben wir nichts verloren!“ ist ein gewichtiges, vor allem, wenn Soldatinnen und Soldaten ihr Leben einsetzen. Eine Blaupause von abgestuften Interessenssphären, die a priori festlegt, wo deutsche Interessen notfalls militärisch zu verteidigen wären und wo nicht, ist sicher realitätsfern. Konkrete Politik beschäftigt sich mit konkreten Problemen, die eben nicht am Reißbrett vorherzusagen sind. Dennoch ist offensichtlich, dass es in der Bun-

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desrepublik keinen Konsens über schützenswerte Interessen und eine notfalls militärische Absicherung dieser Interessen gibt. Dies hat vor allem die heftige Debatte vom Frühjahr 2010 über die Äußerungen Horst Köhlers gezeigt. Seine Einschätzung, die Bundeswehr müsse notfalls auch wirtschaftliche Interessen Deutschlands verteidigen, führte damals zu breitem medialem Protest. Der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg vertrat später dieselbe These, diesmal blieb die Empörung aus. Die Debatten über Auslandseinsätze sind also nicht frei von Paradoxien. Im Streit über die Köhler-Äußerungen wurde behauptet, Deutschland definiere zu klassisch, zu sehr in Kategorien des modernen Nationalstaats, was seine Interessen seien. Ähnlich laufen Muster der Deutschland-Kritik in der Schuldenkrise einiger Euro-Staaten. Gleichzeitig war das dominante Muster US-amerikanischer Kritik an der deutschen Politik lange, sie sei insgesamt zu wenig modern und zu sehr verliebt in postmodernistische, romantische Begrifflichkeiten von „Zivilmacht“ oder soft power und Konsenssuche. Zu fordernd oder zu zurückhaltend – beides wird Deutschland zuweilen vorgeworfen. Wir würden zu nationalistisch oder zu ent-nationalisiert agieren – beides wird behauptet. Eine verantwortliche Kultur der militärischen Zurückhaltung ist eine ebenso logische wie überzeugende Folgerung aus dem unfassbaren Schrecken, den Deutsche, solche in Uniform und solche in Zivil, in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts über Europa und die Welt gebracht haben. Unmittelbar nach 1989 / 1990 gab es zuweilen den Vorwurf, Deutschland instrumentalisiere seine Geschichte und nutze sie, um faktische Drückebergerei zu kaschieren. Solche Reden sind verstummt. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht und der schwierigen Finanzlage kommen neue Parameter für Auslandseinsätze hinzu. Mehr denn je wird sich künftig die Frage stellen, wo die Möglichkeiten und Grenzen europäischer Zusammenarbeit, bei der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und in anderen Politikfeldern, genau liegen. Sparzwänge können zusammenschweißen. Hier dürfte die deutsche Öffentlichkeit



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bereiter sein, multinationale Pfade zu beschreiten, als manch andere Nation in Europa mit ungebrochenerer Militärgeschichte. Mit Prinzipien wie der Inneren Führung und dem Staatsbürger in Uniform hat die Bundeswehr Haltungen verinnerlicht, die gerade in komplexen Situationen wie Auslandseinsätzen in kulturell fremdem Terrain nützlich sein können. Hier verfügt die Bundeswehr über kulturelle Errungenschaften, die sie sich auf jeden Fall bewahren sollte. Es dürfte kein Zufall sein, dass ausgerechnet US-Verteidigungsminister Gates mehrfach eine „Ent-Militarisierung“ der amerikanischen Außenpolitik gefordert und das State Department mit dem Quadrennial Diplomacy and Development Review3 ein Strategiekonzept vorgelegt hat, das deutsche Zivilmacht-Konzepte aufgreift. Außenminister Westerwelle hat die Dimension der Beharrlichkeit und der Geduld betont, die sichtbaren Erfolgen von Bundeswehreinsätzen vorausgeht, universelle Werte betont, aber zugleich Realismus angemahnt: „Wer ehrlich ist, wird … konstatieren, dass unsere Möglichkeiten, Länder wie Afghanistan, Jemen, Somalia oder Haiti zu stabilisieren, begrenzt, ja von Misserfolg bedroht sind. Eine Bilanz aller von westlichen Staaten geführten Einsätze mit dem Ziel, zu politischer Stabilität beizutragen und dazu auch eigene Werte und Staatsvorstellungen zu exportieren, dürfte sehr gemischt ausfallen. Schnell wird dabei deutlich, dass es keine Patentrezepte geben kann, die für alle Problemlagen passen, sondern individuelle Lösungsansätze gesucht werden müssen, die Geschichte und Kultur eines Landes ebenso mit in den Blick nehmen wie die konkreten Entstehungsbedingungen der zugrunde liegenden Konflikte.“4 3  Leading Through Civilian Power, First Quadrennial Diplomacy and Development Review, US Department of State und USAID (Hg.), Washington 2010. 4  Westerwelle, Dr. Guido, Vorwort des Bundesaußenministers, in: Einsatz für den Frieden. Sicherheit und Entwicklung in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Hg. Sandschneider et alt., DGAP-Jahrbuch Nr.  28, Oldenbourg 2010.

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Diese Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen von extern angeschobenem, demokratischem Staatsaufbau stellen sich seit Anfang 2011 – für die allermeisten völlig unerwartet – in Europas direkter südlicher Nachbarschaft. Dass gegenüber Tunesien und Ägypten die politischen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Aspekte eines umfassenden Stabilisierungs- und Sicherheitsbegriffs betont wurden, reflektiert die oben skizzierten, Demut anmahnenden Erfahrungen. Ob es eine Rolle für das Militärische gibt, wurde im Fall Libyen diskutiert. Da ein Despot seinem eigenen Volk den Krieg erklärte, stellte sich die Frage, die in den 90er Jahren in das Konzept responsability to protect gegossen wurde: Die Souveränität eines Landes und seines Machthabers endet an der Schwelle, wo grundlegende Menschenrechte in massiver Weise verletzt werden. Nach 20 Jahren Auslandseinsätzen hat auch die Bundeswehr noch keine magische Formel für Erfolg gefunden. Sie hat aber ein enormes Maß an Erfahrungen gesammelt. Diese Erfahrungen in den strategischen Dialog mit unseren Partnern einzuspeisen, ist heute mehr denn je angezeigt. Denn auch in den Einsätzen erweist sich, ob es den Westen als wesentlichen Gestaltungsfaktor in der Welt von morgen gibt.

II. Der Weg in den Einsatz

Zur ethischen Legitimierbarkeit von militärischen Einsätzen Von Stephan Ackermann Die Frage nach der ethischen Legitimierbarkeit von militärischen Einsätzen löst in der Kirche Unbehagen aus. Die Erfahrungen mit manchen problematischen Erscheinungen der kirchlichen Legitimation von Gewaltanwendung – sei es in den Kreuzzügen, seien es die Waffensegnungen und Kriegspredigten während des I. und teilweise des II.  Weltkriegs – haben aus guten Gründen ein hohes Maß an Zurückhaltung wachsen lassen. Die Zeit der falschen Eindeutigkeiten, in denen die Macht Gottes fraglos in den Dienst der eigenen Sache sowie der Steigerung soldatischer Opferbereitschaft und Durchhaltefähigkeit gestellt wurde, ist vorbei. Es gibt keine ungebrochen gute Gewaltanwendung. Weder einen „gerechten“ noch einen „heiligen“ Krieg hat es je gegeben. Gewalt selbst im Dienste guter Zwecke bleibt ein Übel. Die Kirche erinnert sich der einschlägigen Irrtümer in ihren Reihen mit Scham und peinlicher Berührung. Sie fühlt sich den Opfern dieser Irrtümer verpflichtet. Auch gesellschaftlich trägt die Erinnerung an Kriegsbegeisterung, Opfer und Katastrophen sowie missverstandenen Patriotismus und deren Folgen zu einem zurückhaltenden Umgang mit militärischen Mitteln bei. Militäreinsätze können ethisch nur als ultima ratio, als Ausnahme, nicht als Regel gedacht werden. Das Ziel muss sein, die Anwendung von Gewaltmitteln weitestgehend obsolet zu machen. Das richtige Bewusstsein für den besonderen gesellschaftlichen Begründungsbedarf, für das Nichtselbstverständliche von Militäreinsätzen findet seinen Niederschlag in Deutschland nicht zuletzt darin, dass Auslandseinsätze der Mandatierung durch den Deutschen Bundestag bedürfen. Dies ist eine wichtige Errungenschaft.

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Aber es ist eine Errungenschaft, die sich in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit den konkreten Problemen internationaler Politik je neu bewähren muss. Denn die richtige Reaktion der Zurückhaltung und das daraus erwachsene Unbehagen im Umgang mit militärischen Mitteln dürfen nicht dazu führen, den praktisch-politischen Herausforderungen auszuweichen, die sich aus real vorfindlichen Gewaltsituationen ergeben. Verantwort­ licher Umgang mit Gewaltmitteln im Allgemeinen und dem Einsatz militärischer Mittel im Besonderen bedarf der kontinuierlichen Reflektion über die Grenzen der Legitimität ihres Einsatzes. Vor diesem Hintergrund betrachte ich mit großer Sorge in unserer Gesellschaft die Tendenz, Gewaltprobleme zu verdrängen. Diese Verdrängung kann durch Nichtwahrnehmung oder durch vorschnelles Delegieren an Zuständige oder Schuldige geschehen. Verdrängung mag vielleicht kurzfristig zur Beruhigung und zum Wohlbefinden der Bürger beitragen. Sie wird aber der Tiefe des Problems und der erforderlichen Verantwortung nicht gerecht. Vielmehr stellt Verdrängung selbst einen Teil des Problems dar. Wer der Herausforderung „Gewalt“ nicht in die Augen schaut, wird ihr unterliegen. Dies gilt in besonderer Weise für den Einsatz militärischer Mittel. Die Auseinandersetzung um die ethische Legitimität von Militäreinsätzen hat der unaufhebbar ambivalenten Wirkung von Gewaltanwendung Rechnung zu tragen. Es ist das Ringen um die Frage, ob und wie man mit Mitteln der Gewalt zur Überwindung von Gewaltsituationen in den Beziehungen der Gesellschaften, Gruppen und Individuen beitragen kann. Es ist die Frage danach, wie wir gesellschaftliche Ordnungen oder zumindest die Voraussetzungen für gesellschaftliche Ordnungen schaffen können, die in ihrer Entwicklung an der Verwirklichung der Menschenrechte und der Eindämmung von Gewalt Maß nehmen. Diese Fragen können, wie unschwer erkennbar ist, nur in einem größeren politischen Kontext angemessen angegangen werden. Die ethische Legitimierbarkeit von Militäreinsätzen hängt daher wesentlich an der konsequenten Einbindung von militärischen Mitteln in ein politisches Konzept, das auf nachhaltige Gewaltüberwindung zielt. Ohne ein realistisches, an den



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Perspektiven des Gerechten Friedens ausgerichtetes Konzept sind Militäreinsätze ethisch nicht zu verantworten. Zu diesem Realismus gehört auch – ein im Übrigen bei den Soldaten sehr klares – Bewusstsein für die Begrenztheit militärischer Mittel. Die Legitimität von Militäreinsätzen entscheidet sich an ihrer kurz- bis langfristigen Funktion in Prozessen der Gewaltüberwindung bzw. Gewaltabwehr. Angesichts der je eigenen Konflikt- und Problemkonstellation kann es daher auch keine generelle Legitimität geben. Gefragt ist vielmehr die verantwortliche Abwägung im Einzelfall. Auch bei sorgfältigster Planung, die den verlässlichen Aufbau einer verträglichen gesellschaftlichen Ordnung sowie die perspektivische Reduktion der militärischen Mittel von vorneherein konzeptionell einliest, sind gesellschaftliche Entwicklungen nur sehr begrenzt vorhersehbar. Die Legitimität von Militäreinsätzen bleibt daher immer fragil. Die damit verbundene Angst vor Legitimationsverlust ist sicherlich einer der Gründe, warum auch die Politik in Deutschland den kontinuierlichen öffentlichen Diskurs zum Einsatz in Afghanistan weitgehend gemieden hat. Solcherart Vermeidungsstrategien mögen kurzfristig funktionieren. Mittel- und langfristig untergraben sie den gesellschaftlichen Rückhalt von Militäreinsätzen, mit gegebenenfalls unverantwortlichen Folgen, im genannten Fall für die Menschen in Afghanistan sowie die deutschen Soldaten. Wer den Einsatz von Militär in Betracht zieht, muss dafür Sorge tragen, dass er der damit gegenüber der Bevölkerung des Einsatzlandes sowie den eigenen Soldaten eingegangenen Verantwortung gerecht wird. So schwierig und bisweilen hinderlich dies sein mag: eine kontinuierliche öffentliche Debatte über Zielsetzungen, Erfolge und Misserfolge des politischen und militärischen Einsatzkonzepts gehört unverzichtbar dazu. Seitens der politisch Verantwortlichen gilt es, mittels einer kritischen und transparenten Evaluierung der Einsätze wichtige Voraussetzungen für diesen Diskurs zu schaffen. Andernfalls wird ein anwachsendes, gelegentlich diffuses gesellschaftliches Unbehagen die erforderliche politische Durchhaltefähigkeit untergraben. Die gesellschaftliche Verständigung über Ziele, Mittel und Kontexte unserer Außenpolitik schafft erst den Rahmen,

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innerhalb dessen eine sachgerechte Auseinandersetzung über militärische Mittel geführt werden kann. Jeder Versuch, eine ethische Bewertung militärischer Einsätze ohne die Klärung vorstehender Fragen vorzunehmen, greift zu kurz und steht in Gefahr, Gewalthandeln unangemessen zu legitimieren und letztlich Gewalt zu perpetuieren. Aus ethischer Perspektive geht es in diesen Diskussionen sowohl um die Klärung der leitenden Vorstellungen und Zielsetzungen als auch um eine dem Ernst der Dinge angemessene Sorgfalt der Vorbereitung. Diese Klärung des äußeren politischen Rahmens und der gesamtpolitischen Zielsetzung wäre in der klassischen Terminologie der Bellum-justum-Lehre als intentio recta, als die rechte Absicht zu bezeichnen. Zu den ethischen Postulaten, die aus den Erfahrungen mit den Schwierigkeiten der Gewalteindämmung gewonnen worden sind, gehört auch, dass der Einsatz von Gewalt nur dann in Betracht gezogen werden darf, wenn alle anderen Mittel keine Aussicht mehr auf Erfolg versprechen. Gewaltprävention hat Priorität. Diese gilt es, mit großer Anstrengung zu fördern und zu entwickeln. Versäumnisse in der zivilen Konfliktbearbeitung vor dem Ausbruch von Gewalt schwächen die Legitimität des Einsatzes von militärischen Gewaltmitteln zu einem späteren Zeitpunkt. Die Legitimierbarkeit von militärischen Einsätzen setzt die Beschlussfassung durch legitime Autoritäten voraus. Internationale Einsätze haben daher auf der Grundlage von Beschlüssen der Vereinten Nationen sowie des Deutschen Bundestags zu stehen. Angesichts der nach wie vor unbefriedigenden Verhältnisse in den Vereinten Nationen ist damit zu rechnen, dass die dortigen Beschlüsse zu Militäreinsätzen auch in Zukunft keineswegs immer entlang ethischer Kriterien fallen. Es wäre aber ein Irrtum, daraus zu folgern, dass den einschlägigen Beschlüssen der Vereinten Nationen im ethischen Sinne keine legitimatorische Bedeutung zukäme und man leichthin auf sie verzichten könnte. Das Ziel des Aufbaus einer wirksamen internationalen Rechtsordnung, die sich an den Menschenrechten ausrichtet, verbietet geradezu Vorgehensweisen, die die bestehenden, zugestanden suboptimalen, internationalen Strukturen schwächen. Den auftre-



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tenden Zielkonflikten gilt es, mit größtmöglicher Sorgfalt zu begegnen. Kommt man zu dem Schluss, dass der Einsatz militärischer Gewaltmittel in einem speziellen Fall geboten ist, so ist dafür Sorge zu tragen, dass dieser Einsatz zielführend und verhältnismäßig ist. Eine begründete Erfolgsaussicht ist dabei unabdingbar. Darüber hinaus ist die Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten geboten. Auch wenn in Situationen asymmetrischer Kriegsführung diese Unterscheidung bisweilen extrem schwierig und mit einer erhöhten eigenen Verwundbarkeit verbunden ist, so ist das ethische Postulat im Sinne weitestgehender Gewalteindämmung doch unverzichtbar. Gerade am Beispiel der Schwierigkeiten mit der Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten wird deutlich, wie schnell Gewaltsituationen eine Dynamik der schuldhaften Verstrickung entwickeln. Diese Dynamik ist aller Erfahrung nach kaum zu verhindern. Sie ist allerdings unter gewissen Voraussetzungen zumindest einzudämmen. Neben den genannten Kriterien in der gesamtkonzeptionellen Ausrichtung des Einsatzes kommt es vor allem auf die Soldaten selbst an. Sie tragen im Rahmen des ihnen von ihren Regierungen oder Parlamenten gegebenen Mandats die Verantwortung sowie einen Großteil des Risikos des Einsatzes. Angesichts der immensen Auswirkungen, die militärisches Handeln haben kann, sowie der oftmals keineswegs eindeutigen Handlungssituationen gehört die ethische Bildung der Soldaten unverzichtbar zum Selbstverständnis der Soldaten. Es geht um die Entwicklung jener ethischen Unterscheidungsfähigkeit, die eine verantwortliche Handlungsfähigkeit auch unter extremen Bedingungen fördert, sie vielleicht sogar erst ermöglicht. Das Bundeswehr-Konzept der Inneren Führung, das die Führungskultur der Bundeswehr eng an die Ansprüche des Grundgesetzes bindet und den Soldaten als Staatsbürger in Uniform charakterisiert, versucht dies seit Jahrzehnten mit beachtlichen Erfolgen.1 Die deutschen Bischöfe haben die Innere Führung zuletzt in ihrer Erklärung „Soldaten als Diener des Friedens 1  www.innerefuehrung.bundeswehr.de.

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(2005)“ noch einmal ausdrücklich befürwortet und gestützt. Es zeichnet die Kultur der Inneren Führung aus, dass sie bemüht ist, einen Freiheitsraum zu schaffen, in dem eine dem menschlichen Maß entsprechende Auseinandersetzung mit friedensethischen Fragen möglich wird. Sie tut dies gestützt durch die äußere rechtliche Ordnung sowie mittels einer auf ethische Bildung und Einübung beruhenden Stärkung von Haltungen, die dem sittlichen Ernst der Anwendung von militärischen Gewaltmitteln angemessen sind. Allerdings haben wir deutschen Bischöfe wiederholt mit Sorge festgestellt, dass das Konzept der Inneren Führung von verschiedenen Seiten her unter bedenklichen Druck gerät. Insbesondere die zunehmende Bedeutung der Auslandseinsätze, die damit verbundenen Anforderungen an die Interoperabilität in multinationalen Einsätzen oder Verbänden sowie die Ressourcenknappheit in den Streitkräften bringen, um nur einige der relevanten Faktoren zu nennen, die Gefahr einer Nivellierung des Konzepts der Inneren Führung mit sich. Diesen Gefahren ist aktiv zu begegnen. Das Konzept der Inneren Führung ist auf die neuen Herausforderungen hin weiterzuentwickeln. Die Stärkung der ethischen Bildung, die die Soldaten und Soldatinnen darin unterstützt, verantwortliche ethische Urteile zu fällen, ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt eine Frage der gebotenen Sorgfalt im Umgang mit den Soldaten und Soldatinnen. Für vertretbare ethische Urteile ist es unerlässlich, die Voraussetzungen und Auswirkungen des eigenen Handelns abzuschätzen. Es gilt, ein Verständnis für die je charakteristischen Strukturen, Problemstellungen, Dynamiken, Versuchungen und Entscheidungsdilemmata zu entwickeln sowie die entsprechenden Haltungen einzuüben und zu verinnerlichen. Das Bewusstsein von der tragischen Grundstruktur der Gewaltanwendung – auch im Dienste der Nothilfe oder Verteidigung – ist dabei ein unabdingbarer Bestandteil eines ethisch reflektierten und vertretbaren Umgangs mit Gewaltmitteln. Es ist zugleich Voraussetzung dafür, dass die Streitkräfte produktiv zu einer auf Gewaltüberwindung zielenden Friedens- und Sicherheitspolitik beitragen können. Die Streitkräfte können diese



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Frage nicht unter Verweis auf den Primat der Politik allein an diese zurückgeben. Sie sind selbst gefordert, in der Art ihrer Organisation und ihres Vorgehens dem angesprochenen sittlichen Ernst Rechnung zu tragen. Es wäre aber ein – angesichts des spürbaren gesellschaftlichen Unbehagens, sich der Auseinandersetzung mit den Erfordernissen und Grenzen des Einsatzes militärischer Mittel zu stellen, naheliegender – Irrtum und eine gefährliche Engführung, die Frage nach der ethischen Legitimität der Einsätze nur an die Streitkräfte zu richten. Zuvörderst sind Politik und Gesellschaft gefordert, in verantwortlicher Weise, unter Einbeziehung der zivilen wie militärischen Erfahrungen aus den verschiedenen Einsätzen, die Frage des ethisch Gebotenen sowie der ethischen Grenzen in den jeweiligen Kontexten zu klären. Was sich abstrakt so einleuchtend anhört, gestaltet sich in der politischen Wirklichkeit allerdings nicht selten außerordentlich schwierig. Die Abwägungsprozesse, die einem profunden ethischen Urteil vorauszugehen haben, bedürfen einer gut gesicherten Informationslage. Diese ist aber, wie wir seit dem Irak-Krieg 1991 wiederholt feststellen mussten, keineswegs immer gegeben. Mehr noch: Die ethische Urteilsbildung hat in konkreten Konfliktkonstellationen nicht nur unter oftmals beachtlichem politischen Zeit- und Handlungsdruck, sondern auch unter den Bedingungen partiell gesteuerter Information stattzufinden. Nachvollziehbarerweise erzeugt diese Erfahrung Misstrauen und befördert Tendenzen zur undifferenzierten Ablehnung militärischer Einsätze. Ein verantwortlicher Umgang mit dieser Situation erfordert neben dem erwähnten grundsätzlich orientierenden Diskurs die Herstellung von weitest möglicher Transparenz hinsichtlich des Verlaufs der Einsätze. Die oben erwähnte umfassende öffentliche Evaluierung der Einsätze ist nicht zuletzt erforderlich, um gesellschaftliche Lernprozesse zu fördern. Die Bereitschaft, Fehler einzugestehen, auch wenn dies politisch nicht zuletzt angesichts der zu verantwortenden Opfer schwierig bleiben wird, und aus diesen Fehlern zu lernen, gehört unverzichtbar zu einem verantwortlichen Umgang mit militärischen Einsätzen. Ein solcher Diskurs würde den Primat des Politi-

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schen in einer für Demokratien angemessenen Weise ins Recht setzen. Ein im umfassenden Sinne verantwortlicher Umgang mit dem Einsatz militärischer Mittel kann als Voraussetzung für deren Legitimierbarkeit gelten. Eine solche Verantwortlichkeit sind wir den Soldaten und Soldatinnen ebenso schuldig wie jenen, zu deren Schutz die militärischen Mittel eingesetzt werden sollen. Angesichts der bleibenden Ambivalenz militärischer Mittel kann es keine ethische Beruhigung geben. Wenn wir diese Situation annehmen, haben wir einen ersten Schritt zur Gewaltüberwindung getan, indem wir der eigenen Gewöhnung an Gewaltmittel entgegenwirken. Auf dieser Grundlage lässt sich eine realistische und verantwortliche Perspektive entwickeln, die Orientierung bieten kann.

Zu den Rechtsgrundlagen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr Von Claus Kreß „Grundgesetz und Völkerrecht bilden die Grundlage für alle Einsätze deutscher Streitkräfte. Beachtung und Durchsetzung des Rechts sind unverzichtbare Komponenten internationaler Friedenspolitik. Humanitäres Völkerrecht und die für die Einsätze festgelegten Regeln über die Anwendung militärischer Gewalt (Rules of Engagement, ROE) sind in den deutschen Streitkräften integrales Element des Führungs­ prozesses.“1

Bis zur Zeitenwende 1989 / 1990 hätte dieses Bekenntnis zur Rechtstreue beim Einsatz militärischer Gewalt im Ausland weitestgehend folgenlos abgegeben werden können. Denn Auslands­ einsätze bundesdeutscher Streitkräfte gab es nicht. Inzwischen ist die Bundeswehr „weltweit im Einsatz“.2 Zugleich haben die den „Krieg“3 betreffenden Normen des internationalen Rechts4 dadurch an Gewicht gewonnen, dass sich die Staaten zunehmend ihrer sogar strafrechtlichen Durchsetzung zuwenden. Kriegsverbrecher werden seit den 1990er Jahren vermehrt vor nationalen oder internationalen Strafgerichtshöfen verfolgt5, und 1  Bundesministerium der Verteidigung, Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, S.  56. 2  Bundesministerium der Verteidigung, Fn.  1, S.  70. 3  Der Begriff „Krieg“ hat im internationalen Recht nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch an Bedeutung verloren. An seine Stelle ist jedenfalls weitestgehend der Begriff „internationaler bewaffneter Konflikt“ getreten. 4  In Deutschland ist der Begriff „Völkerrecht“ gebräuchlicher; er wird im Folgenden zumeist verwandt. 5  Zur Entwicklung des Völkerstrafrechts und zu der deutschen ­Rolle hierbei näher Kreß, Claus, Juristen Zeitung 2006, S.  981.

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das für einen Angriffskrieg verantwortliche staatliche Führungspersonal wird aller Voraussicht nach in nicht ferner Zukunft vor dem Weltstrafgerichtshof in Den Haag zur Rechenschaft gezogen werden können6. Heute genügt es also nicht mehr, die Bindung des Einsatzes deutscher Streitkräfte an das internationale und an das deutsche Recht abstrakt zu beteuern. Stattdessen ist es notwendig geworden, sich diesem Recht im Einzelnen zuzuwenden. Im Zuge der jüngeren deutschen Staatspraxis ist dabei wiederholt deutlich geworden, dass es schwierig sein kann, das für die deutschen Entscheidungsträger und Soldaten maßgebliche Recht in allen Punkten genau und verlässlich zu bestimmen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es bei den Bundeswehreinsätzen durchgängig nicht um Landes- und Bündnisverteidigung klassischen Zuschnitts ging und geht, deren Rechtsgrundlagen jedenfalls im Kern gesichert sind. Stattdessen galt für die Auslandseinsätze der beiden letzten Jahrzehnte, was der Bundeswehr im Weißbuch 2006 auch für die nähere Zukunft prophezeit wird: „Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus sind auf absehbare Zeit ihre wahrscheinlicheren Aufgaben.“7 Insoweit ist es zunächst nicht immer leicht zu sagen, ob militärische Gewalt zum Einsatz kommen darf. Denn das internationale Friedenssicherungsrecht – das moderne ius contra bellum8 – besitzt seit dem Inkrafttreten der Satzung der Vereinten Nationen eine Grauzone9, deren Umfang im Licht neuerer Entwicklungen eher noch zugenommen hat. Auch über die Beantwortung der für die Soldaten besonders brisanten Frage, wie 6  Kreß, Claus / von Holtzendorff, Leonie, Vereinte Nationen, 2010, S.  260. 7  Bundesministerium der Verteidigung, Fn.  1, S.  54. 8  Wörtliche Übersetzung dieses lateinischen Begriffs: „Recht gegen den Krieg“. 9  Hierzu näher Kreß, Claus, Gewaltverteidigungsrecht und Selbstverteidigungsrecht nach der Satzung der Vereinten Nationen in Fällen staatlicher Verwicklung in Gewaltakte Privater, 1995, S.  169  ff.



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beziehungsweise in welchem Umfang militärische Gewalt angewandt werden darf, lässt sich vor allem jenseits des klassischen Verteidigungskrieges mitunter trefflich streiten. Denn im Völkerrecht der bewaffneten Konflikte10 – dem modernen ius in bello11 – stellen sich schwierige und zum Teil neuartige Fragen vor allem dort, wo Staaten und nicht-staatliche Kämpfer im „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“12 aufeinander treffen. Im 19. Jahrhundert herrschte die Vorstellung, die Staaten hätten das souveräne Recht zum Krieg – man sprach von einem ius ad bellum13. Erst der Briand-Kellogg-Pakt von 1928 brachte ein vertragliches Verbot des Angriffskriegs, doch blieb das neue ius contra bellum mit vielfältigen Unsicherheiten befrachtet. Unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs wurde das Kriegs- durch ein Gewaltverbot ersetzt und an prominenter Stelle in die Satzung der Vereinten Nationen – den bis heute wichtigsten völkerrechtlichen Vertrag – eingeführt.14 Die zwei zentralen Ausnahmen von diesem modernen ius contra bellum sind die Gewaltanwendung auf der Grundlage eines Mandats des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen15 und der Gewalteinsatz zur Verteidigung16. Im Bereich der ersten Ausnahme hat sich seit der „Operation Wüstensturm“ zur Befreiung Kuwaits (1990 / 91) vieles geklärt. Inzwischen ist die Befugnis des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen nicht mehr ernsthaft umstritten, Mitgliedstaaten in Ermangelung eigener „Weltstreitkräfte“ zum Einsatz militärischer Gewalt gegen solche Staaten zu ermächtigen, die den 10  Hierzulande wird insoweit überwiegend vom „Humanitären Völkerrecht“ gesprochen. Doch hat diese Bezeichnung etwas Beschöni­ gendes. 11  Wörtliche Übersetzung etwa: Recht im Kriege. 12  Das moderne Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts ist aus dem des Bürgerkriegs hervorgegangen. 13  Wörtliche Übersetzung etwa: Recht zum Kriege. 14  Vgl. Art.  2 Nr.  4 Satzung der Vereinten Nationen. 15  Vgl. Art.  42 i. V. m. Art.  39 Satzung der Vereinten Nationen. 16  Vgl. Art.  51 Satzung der Vereinten Nationen.

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Weltfrieden bedrohen. Bemerkenswert ist, dass sich im Übrigen ein Konsens darüber herausgebildet hat, dass auch die Terrorisierung der eigenen Bevölkerung, so wie wir sie zu Beginn des Jahres 2011 in Libyen erneut erleben müssen, als Bedrohung des internationalen Friedens eingestuft werden kann.17 Doch hat die neuere Praxis zur Gewaltanwendung unter dem Dach der Vereinten Nationen auch Zweifelsfragen zu Inhalt und Grenzen internationaler Mandate hervorgebracht. Diese kulminierten 2003 bei der rechtlichen Bewertung des Gewalteinsatzes gegen den Irak Saddam Husseins. Hier machte die US-geführte „Koalition der Willigen“ geltend, über ein Mandat des Sicherheitsrats zu verfügen. Diesem Rechtsstandpunkt wird überwiegend und mit Recht widersprochen. Doch lässt sich ein eindeutiges Urteil nicht formulieren, weil die Diplomaten die maßgeblichen Resolutionen gegen den Irak „mit beträchtlichem Geschick“ nach beiden Seiten interpretationsoffen formulierten. Die Bundesregierung hat sich zu der Streitfrage bis heute nicht festgelegt. Ein Grund hierfür liegt auf der Hand. Sie hat der Kriegskoalition trotz ihrer dezidierten politischen Absage an den Gewalteinsatz unter anderem durch die Gewährung von Überflugrechten tatsächlich geholfen.18 Grundsätzlicher als dieser Streit über die Existenz und Reichweite eines Mandats des Sicherheitsrats ist der völkerrechtliche Streit über den Umfang des Rechts zur Selbstverteidigung als der zweiten zentralen Ausnahme vom Gewaltverbot. Man kann die Satzung der Vereinten Nationen so verstehen, dass die Gewaltanwendung zur Verteidigung nur erlaubt ist, um einen bewaffneten Angriff eines anderen Staats, sei es auf das eigene Staatsgebiet, sei es auf das Gebiet eines dritten Staats, abzuwehren. Die Beschränkung unilateraler Gewalteinwendung auf ein derart eng verstandenes „Recht zur individuellen und kol17  Frowein, Jochen Abr. / Krisch, Nico, in: Simma, Bruno (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, 2.  Aufl., 2002, Art.  42 Rn.  20  ff. bzw. Art.  39 Rn.  18; speziell zu Libyen siehe Resolution 1970 (2011); S / RES / 1970 (2011) 26.2.2011. 18  Zu alldem Kreß, Claus, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 115 (2003), S.  294.



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lektiven Selbstverteidigung“ mutet den Staaten allerdings einen ausgesprochen weitgehenden Verzicht auf den gewaltsamen Schutz vitaler eigener Rechtspositionen zu. Denn hiernach wäre es ausgeschlossen, einem ersichtlich unmittelbar bevorstehenden bewaffneten Angriff zuvorzukommen, selbst wenn die vorbeugende Verteidigung das einzige Mittel wäre, einem solchen Angriff wirksam zu begegnen. Nicht möglich wäre ferner die Verteidigung gegen einen massiven grenzüberschreitenden nicht-staatlichen bewaffneten Angriff. Ein solcher mag etwa von einem „gescheiterten Staat“ aus durchgeführt werden. Schließlich wäre es unter allen Umständen verboten, eigene Staatsangehörige, die im Ausland in akute Lebensgefahr geraten, ohne dass der Aufenthaltsstaat ihnen zu Hilfe käme, unter Einsatz von Gewalt zu evakuieren, sofern der Aufenthaltsstaat einem solchen Gewalteinsatz widerspricht. Eine solche Beschränkung des Notrechts zum Einsatz von Gewalt geht deutlich über das Maß des Gewaltverzichts hinaus, das die meisten Staaten ihren Bürgern zumuten, obgleich sich die Bürger von „ihrer“ Staatsgewalt typischerweise verlässlicheren Schutz erhoffen dürfen als die Staaten vom Weltsicherheitsrat. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Praxis der meisten Staaten der soeben vorgestellten engen Lesart des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts nicht entspricht. Für Deutschland gilt seit geraumer Zeit nichts anderes. 1997 evakuierte die Bundeswehr akut lebensgefährdete eigene Staatsangehörige aus dem im Chaos versinkenden Albanien, ohne dass die Bundesregierung zur Rechtfertigung dieses Gewalteinsatzes entscheidend auf die Zustimmung Albaniens abgestellt hätte.19 An der Antiterroroperation Enduring Freedom in Afghanistan beteiligte man sich 2001 und danach mit der Rechtsüberzeugung, „dass auch nicht-staatliche Akteure einen ‚bewaffneten Angriff‘ gegen einen Staat führen können, gegen die dem angegriffenen Staat das […] Selbstverteidigungsrecht zusteht“.20 2010 schließlich stimmte man dem Strategischen Konzept 19  BT-Drs. 13 / 7233, 18.3.1997; näher hierzu Kreß, Claus, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 57 (1997), S. 329. 20  BT-Drs. 16 / 7122, 13.11.1997, S.  6 (Antwort auf Frage 20).

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„­ Active Engagement, Modern Defence“ der Nato zu, in dem die Bereitschaft bekräftigt wird, sich bereits gegen jede drohende Aggression („any threat of aggression“) zu verteidigen.21 Der an der Fletcher School of Law and Diplomacy lehrende US-amerikanische Völkerrechtler Michael J. Glennon hat die Diskrepanz zwischen der rigoros engen Lesart des Selbstverteidigungsrechts und weiten Teilen der Staatenpraxis zum Anlass genommen, das Gewaltverbot insgesamt in Frage zu stellen: „Die Charta der Vereinten Nationen ist außer Gebrauch gekommen, abgelöst von einer Praxis, die sich mit den hehren Idealen dieses Dokuments so gar nicht mehr verträgt. Die vielen Versuche der Staaten, das Verbrechen der Aggression zu definieren, hat eine atavistische Gewalt zunichte gemacht. Die unbarmherzige Realität: Es gibt unter den Staaten keinen Konsens darüber, wann der Gebrauch von Gewalt angemessen ist.“22 Diese Diagnose ist verfehlt, und sie wird soweit ersichtlich von keinem Staat der Welt geteilt. Doch zeigt die sicher nicht vereinzelte Position Glennons die Gefahr für die Steuerungskraft des Friedenssicherungsrechts auf, die entstehen müsste, wenn man ungeachtet der beschriebenen Staatenpraxis auf dem rigoros eng konzipierten Selbstverteidigungsrecht beharren wollte. Richtig ist demgegenüber eine realistische Konzeption völkerrechtlich erlaubter Verteidigung. Bei dieser wird die Geltung der Fundamentalnorm des Gewaltverbots nicht leichtfertig in Abrede gestellt. Gleichzeitig ist aber anzuerkennen, dass der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der Satzung der Vereinten Nationen im Zusammenspiel mit der rechtlich bedeutsamen späteren Staatenpraxis den Staaten ein weitergehendes Recht zur Verteidigung belässt, als es nach der rigoros engen Auslegung der Fall sein soll. Jeweils in eng definierten Grenzen sind die vorbeugende Verteidigung, die Verteidigung gegen massive transnationale terroristische Gewalt sowie die Verteidigung ei21  Active Engagement, Modern Defence. Strategic Concept fort he Defence and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organization, Adopted by Heads of State and Government in Lisbon, http: /  / www.nato.int / cps / en / natolive / official_texts_68580.htm, Nr.  4  a). 22  Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.6.2003, S.  7.



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gener Staatsangehöriger bei akuter Lebensgefahr im Ausland völkerrechtlich gut begründbar.23 Auch bei dieser realistischen Deutung des Selbstverteidigungsrechts bleibt freilich die heikle Frage, ob der hinter dem Kosovo-Einsatz der Nato-Staaten (1999) stehende Rechtsanspruch begründet ist, zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Fall einer politischen Blockade des Sicherheitsrats auch ohne dessen Erlaubnis einen bewaffneten Rettungseinsatz durchführen zu dürfen. Dieser Anspruch – daran lässt sich nicht deuteln – ist mit Text und Entstehungsgeschichte der Satzung der Vereinten Nationen unvereinbar. Indessen ist auch dieser völkerrechtliche Vertrag nicht in Stein gemeißelt, sondern der Änderung durch die Praxis der Staaten zugänglich. Die jüngere Praxis weist in die Richtung einer solchen Änderung. Denn der mit einer humanitären Zielsetzung begründete Gewalteinsatz der Staaten der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft in Liberia (1990) ist international ebenso hingenommen worden wie die Einrichtung der Flugverbotszonen zum Schutz von akut bedrohten Teilen der irakischen Bevölkerung nach der Befreiung Kuwaits (1991) durch die USA und Großbritannien. Schließlich ist der Versuch, den Kosovo-Einsatz zu verurteilen, im Weltsicherheitsrat mit einer deutlichen Mehrheit zurückgewiesen worden. Die in Rede stehende Änderung entspräche ferner der völkerrechtlichen Grundtendenz, das Gewicht fundamentaler Menschenrechte gegenüber dem staatlichen Souveränitätsinteresse zu stärken.24 Dennoch gibt es bei den Staaten weiterhin in nennenswertem Umfang Zurückhaltung gegenüber einer Festlegung auf einen neuen, eng begrenzten Erlaubnistatbestand der bewaffneten humanitären Intervention. Dementsprechend findet sich zu diesem Thema auch in der viel zitierten Passage des Abschlussdokuments des Weltgipfels von 2005 zu 23  Abgewogen zu sämtlichen Konstellationen der jüngst verstorbene und weltweit hoch anerkannte US-amerikanische Völkerrechtler Franck, Thomas, Recourse to Force, 2002, S.  64  ff., 96, 107  ff., und passim. 24  Zu alldem näher Kreß, Claus, Neue Juristische Wochenschrift, 1999, S.  3077  ff.

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der auf die internationale Gemeinschaft übergegangenen Verantwortung, „Zivilbevölkerungen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu schützen25, nichts Greifbares.26 Die bewaffnete humanitäre Intervention ohne ein Mandat der Vereinten Nationen bleibt deshalb einstweilen die schwierigste Streitfrage des Friedenssicherungsrechts.27 Schwierigkeiten bereitet auch das in hohem Maße interpretationsoffene deutsche Verfassungsrecht, das bei Entscheidungen über deutsche Auslandseinsätze zusätzlich zum Völkerrecht zu beachten ist. 1994 hat das Bundesverfassungsgericht in einer verfassungspolitisch befriedend wirkenden Entscheidung den Weg dafür gebahnt, dass die Bundeswehr unter dem Dach nicht nur der Vereinten Nationen, sondern auch der Nato im Ausland tätig werden darf, sofern der Bundestag dem zustimmt.28 Zwar blieb demgegenüber die Frage ausdrücklich unentschieden, in welchem Umfang Deutschland außerhalb dieser beiden vom Gericht so genannten „Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ völkerrechtskonforme Auslandseinsätze durchführen kann. Doch bot bereits dieses Urteil Ansatzpunkte für eine restriktive Antwort auf diese Frage.29 Eine ebensolche Antwort findet sich nun im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabonner Vertrag. Denn dort heißt es: „Der Auslandseinsatz der Streitkräfte ist außer im Verteidigungsfall nur in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit erlaubt […].“30 25  UN

Doc. A / 60 / L.1, 20.9.1995, Nr.  139. in diesem Sinn Schaller, Christian, Die völkerrechtliche Dimension der „Responsibility to Protect“, SWP-Aktuell 46, Juni 2008, S.  6. 27  Siehe einerseits Hilpold, Peter, European Journal of International Law 12 (2001), S. 437; und andererseits Greenwood, Christopher, Finnish Year Book of International Law 10 (2000), 141. 28  BVerfGE 90, 286. 29  Hierzu seinerzeit näher Kreß, Claus, International and Comparative Law Quaterly 44 (1995), S.  419  ff.; zu einem weiteren möglichen Ansatzpunkt nach BVerfGE 104. 151 (208) siehe näher Röben, Volker, Außenverfassungsrecht, 2007, S.  290  f. 30  BVerfGE 123, 267, 360. 26  Zutr.



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Unter dem Verteidigungsfall versteht das Grundgesetz, „dass das Bundesgebiet angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht [Hervorh. von mir]“.31 Es muss angenommen werden, dass sich der zitierte Satz auf diesen verfassungsrechtlichen Begriff des Verteidigungsfalls bezieht. Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts hat damit weit reichende Konsequenzen. Denn die Bundeswehr darf hiernach außerhalb des Dachs des Weltsicherheitsrats bzw. der Nato nicht eingesetzt werden, um akut lebensbedrohte Deutsche im Ausland gewaltsam zu evakuieren, um auf der Hohen See gegen Piraten vorzugehen und um einen anderen Staat gegen einen bewaffneten Angriff zu verteidigen.32 Ob der Begriff des Verteidigungsfalls  einen grenzübergreifenden Terrorangriff von der Art des 11.  September 2001 erfasst, ist immerhin zweifelhaft, so dass die verfassungsrechtliche Zulässigkeit deutscher Selbstverteidigung in einem solchen Fall gegenwärtig mit einem gewichtigen Fragezeichen versehen ist. Man fragt sich, wie ein so weit reichender Satz ohne zwingenden Grund und ohne den Ansatz einer Begründung Eingang in ein Grundsatzurteil des hohen Gerichts finden konnte.33 Bereits im Gefolge der „postheroischen“34 Luftkriegsführung der Nato-Staaten im Kosovo-Einsatz ist deutlich geworden, dass auch die Gegenwartsfragen des Völkerrechts des bewaffneten Konflikts für Deutschland den spröden Charme des rein Theoretischen eingebüßt haben.35 Brennend aktuell ist das moderne 31  Vgl. 32  So

Art.  115 a Abs. 1 Satz 1 GG. bereits Gramm, Christof, Deutsches Verwaltungsblatt 2009,

S.  1480. 33  Ähnlich verwundert bereits Wiefelspütz, Dieter, Die Öffentliche Verwaltung 2010, S.  75  ff. 34  Zum Begriff „postheorisch“ näher Münkler, Herfried, Der Wandel des Krieges, 2006, S.  310. 35  Der seinerzeitige Untersuchungsbericht, der in keinem Fall Anlass zu strafrechtlichen Ermittlungen feststellte, ist für die NATO recht glimpflich ausgefallen; Final Report to the Prosecutor by The Committee Established to Review the NATO Bombing Campaign Against the Federal Republic of Yugoslavia; www.un.org / icty / pressreal / nato061300. htm.

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ius in bello hierzulande, seitdem deutsche Soldaten, die in Afghanistan auf der Grundlage eines Mandats der Vereinten Nationen und zusätzlich mit Zustimmung der international anerkannten Regierung Afghanistans für die International Security Assistance Force (Isaf) tätig sind, einen Luftangriff anforderten, in dessen Folge nach allem, was wir wissen, nicht nur mindestens zwei namentlich bekannte Führer der Taliban, sondern auch eine im Einzelnen ungewisse Zahl Unbeteiligter getötet wurden. Erst unter dem Eindruck der öffentlichen Debatte, die der „Fall Kundus“ ausgelöst hat, hat sich die Bundesregierung dazu durchgerungen, vor dem Bundestag zu erklären, dass sich Deutschland in Afghanistan in einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“ befindet.36 Die undankbare Aufgabe, die Konsequenzen dieser Feststellung auszubuchstabieren, oblag dem Generalbundesanwalt in dem Ermittlungsverfahren gegen die im „Fall Kundus“ beschuldigten deutschen Soldaten. Nicht die politisch Verantwortlichen, sondern die Karlsruher Juristen klärten die deutsche Öffentlichkeit über zwei Grunddaten des Rechts der bewaffneten Konflikte auf, die auch im „Fall Kundus“ Geltung beanspruchten. Zum einen untersagt es das Völkerrecht nicht, Kämpfer der Gegenseite auch gezielt anzugreifen, zum Zweiten ist der Angriff auf ein militärisches Ziel nicht bereits deshalb verboten, weil abzusehen ist, dass er zivile Begleitschäden nach sich ziehen wird.37 Die Grundsatzentscheidung der Generalbundesanwaltschaft im „Fall Kundus“ hat zentrale Rechtsfragen geklärt. Der hiermit für die deutschen Soldaten erzielte Gewinn an Rechtssicherheit ist beträchtlich. Doch zahlreiche Grenzfragen des Völkerrechts des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts, die für deutsche Soldaten zukünftig Bedeutung erlangen könnten, bleiben 36  Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17 / 22, S.  1896  f. (Der Bundesminister des Auswärtigen). 37  Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, Vermerk vom 16.4.2010, 3BJs 6 / 10-4, offene Version, S. 41 ff.; einen gegen die Entscheidung des Generalbundesanwalts gerichteten Antrag nach § 172 Abs. 2 Satz 1 Strafprozessordnung hat das OLG Düsseldorf mit Beschluss vom 16.2.2011 als unzulässig verworfen; III-5 StS 6 / 10; dem Verf. liegt der Beschluss vor.



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Gegenstand der Diskussion.38 Im Kern geht es darum, ob die Härte des Kampfführungsrechts, also die Möglichkeit der gezielten und dauerhaften Bekämpfung der Streitkräfte der Gegenseite unter Inkaufnahme nicht unverhältnismäßiger ziviler Begleitschäden, in gewissem Umfang beschränkt werden kann. Überlegenswert erscheint zum einen, den räumlichen Anwendungsbereich dieses Kampfführungsrechts auf ein realistisch bestimmtes Gefechtsfeld zu beschränken. Einen anderen Weg zu demselben Ziel weist der in der Sache übereinstimmende Vorschlag des israelischen Obersten Gerichtshofs39 sowie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz40, das Recht zur – auch gezielten – Tötung für den Fall zu versagen, in dem eine Festnahme des Gegners ohne unzumutbare Eigengefahr möglich ist. Insbesondere dieser Weg ist zukunftsträchtig41, rührt aber an die nächste Unsicherheit des geltenden Rechts. Will man (gezielten) Tötungen von gegnerischen Kämpfern im bewaffneten Konflikt zugunsten von Festnahmen wirksame rechtliche Grenzen setzen, so bedarf es eines robusten Regimes der Inhaftierung gegnerischer Kräfte zu nicht strafrechtlichen, sondern schlicht präventiven Zwecken. Gerade hier jedoch klafft im Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts eine Lücke, die nicht zuletzt Angehörigen eines multinationalen Verbandes wie der Isaf, die auf der Seite einer ausländischen Regierung in einem Bürgerkrieg beteiligt sind, zu schaffen macht.42 38  Zu einiger dieser Fragen Kreß, Claus, Journal of Conflict & Security Law 15 (2010), S.  253  ff. 39  The Supreme Court of Israel sitting as the High Court of Justice, Urteil v. 11.12.2005, The Public Committee against Torture in Israel et al v The Government of Israel et al HCJ 769 / 02; http: /  / elyon1.court. gov.il / files_eng / 02 / 690 / 007 / a34 / 02007690.a34.pdf; Nr.  40. 40  ICRC, Interpretative Guidance on the Notion of Direct Partici­ pation in Hostilities under International Humanitarian Law, 2009, S. 77 ff. 41  Kreß, Claus / Nolte, Georg, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.12.2009, S.  9. 42  Hierzu etwa Oeter, Stefan, Die Anwendung von militärischer Gewalt im Rahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr außerhalb von bewaffneten Konflikten, in: Weingärtner, Dieter (Hrsg.), Die Bundeswehr als Armee im Einsatz, 2010, S.  63  ff.

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Zu diesen Grenzfragen gesellt sich die ungeklärte Frage nach dem Zusammenspiel des völkerrechtlichen Kampfführungsrechts mit den Grundrechten des Grundgesetzes. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz stellt sich diese Frage zugespitzt im Hinblick auf die Garantie der Menschenwürde. Denn das Gericht hat den Abschuss eines entführten Flugzeugs als Verletzung der Menschenwürde der an Bord befindlichen Entführungsopfer eingestuft.43 Zwar hat das Gericht seine Entscheidung ausdrücklich auf „Streitkräfteeinsätze nichtkriegerischer Art“ beschränkt.44 Doch wird es dem Bundesverfassungsgericht nicht leicht fallen zu begründen, warum sein anspruchsvolles Menschenwürdekonzept der Inkaufnahme ziviler Begleitschäden im bewaffneten Konflikt nicht entgegenstehen soll.45 Stünde es entgegen, so wäre die Möglichkeit deutscher Streitkräfte, sich einer gegnerischen Kampfführung wirksam zu erwehren, die vor dem Einsatz mensch­licher Schutzschilde nicht zurückschreckt, empfindlich reduziert.46 Welche rechtspolitischen Konsequenzen ergeben sich aus dieser gedrängten und deshalb auf einige Kernpunkte beschränkten Bestandsaufnahme zu Völker-, Verfassungs- und Strafrecht? Vor allem an die Bundesregierung richtet sich die völkerrechtspolitische Empfehlung, ihr inzwischen Konturen annehmendes, realistisches Selbstverteidigungskonzept auf der diplomatischen Ebene deutlich zu artikulieren. Dies ist umso wichtiger, als der Internationale Gerichtshof insoweit bis heute eine klare Position vermissen lässt.47 Eine solche Haltung wird der deutschen Völ43  BVerfGE

115, 118, 151  ff. 115, 118, 157. 45  Zimmermann, Andreas / Geiß, Robin, Der Staat 46 (2007), S.  377  ff., insbes. S.  389  ff. 46  Nolte, Georg, The Bundesverfassungsgericht on the German ­Aerial Security Law: A Sonderweg from the perspective of International Law?, in: Tomuschat, Christian / Lagrange, Evelyn / Oeter, Stefan (Hrsg.), The Right to Life, 2010, S.  86. 47  Zu Recht kritisch zur bisherigen Judikatur des Internationalen Gerichtshofs zum Friedenssicherungsrecht Green, James A, The International Court of Justice and Self-Defence in International Law, 2009, passim. 44  BVerfGE



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kerrechtspolitik zugleich die Autorität verschaffen, US-amerikanischen Übertreibungen in Gestalt ausufernder Präventivkriegsansprüche gegenüber sogenannten „Schurkenstaaten“48 und buchstäblich exorbitanter Ansprüche auf die Durchführung von tödlichen Drohneneinsätzen gegen mutmaßliche Terroristen49 beharrlich entgegenzutreten. Auch an der laufenden Debatte über die Grenzfragen des Rechts der nicht-internationalen Konflikte sollte sich Deutschland weiterhin intensiv beteiligen und für eine vernünftige Balance zwischen den Kampfführungsbefugnissen der Streitkräfte und dem Schutz Unbeteiligter werben. In diesem Zusammenhang darf eine realistische völkerrechtliche Regelung zur vorbeugenden Inhaftierung gegnerischer Kämpfer nicht tabuisiert werden. Bei alldem wird darauf zu achten sein, dass der ­zentrale völkerrechtliche Begriff des bewaffneten Konflikts nicht aus einer – in diesem Fall kontraproduktiven – humanitären Gesinnung heraus trivialisiert wird. Wer im Hinblick auf die Schutzstandards dieses Rechtsgebiets für einen immer weiter gezogenen Anwendungsbereich des „Humanitären Völkerrechts“ plädiert, muss wissen, dass er damit gleichzeitig Gefahr läuft, den Staaten in immer weiter gehendem Umfang die Berufung auf die einschneidenden Bekämpfungsbefugnisse zu eröffnen, die allein das Recht der bewaffneten Konflikte gewährt.50 Da davon auszugehen ist, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Lissabonner Vertrag tatsächlich gemeint hat, was es nebenbei zum Wehrverfassungsrecht bemerkt hat, ist dessen Reform unumgänglich geworden. Denn Deutschland darf nicht durch das Grundgesetz daran gehindert sein, die Bundeswehr – wie im Fall der Operation Pegasus in Libyen Anfang 2011 geschehen – zur Rettung akut lebensbedrohter eigener Staatsangehöriger zum Einsatz zu bringen, solange sich die Vereinten Na48  Hierzu ablehnend Kreß, Claus, Kursbuch 155 (Neue Rechtsordnungen), S.  66  ff. 49  Hierzu ablehnend Kreß, Claus, Journal of Conflict & Security Law 15 (2010), S.  250  ff. 50  Wegweisend insow. Kretzmer, David, Israel Law Review 42 (2009), S.  8.

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tionen und die Nato noch nicht zu dieser Frage geäußert haben.51 Die Änderung des Grundgesetzes sollte allerdings keinen national-introvertierten Weg beschreiten und Auslandseinsätze der Bundeswehr auf die Verteidigung deutscher Interessen beschränken.52 Stattdessen sollten die vier außen- und sicherheitspolitisch ernst zu nehmenden Bundestagsfraktionen den Mut aufbringen, sich auf den Vorschlag von Dieter Wiefelspütz zu verständigen, völkerrechtlich zulässigen Auslandseinsätzen keinen verfassungsrechtlichen Riegel vorzuschieben.53 Das bedeutet ganz bestimmt nicht, dass Deutschland jeder Aufforderung Folge leisten sollte, einen solidarischen militärischen Beitrag zur Wiederherstellung oder Sicherung des internationalen Friedens zu leisten. Ebenso wenig heißt es, dass Deutschland in Zukunft verstärkt unilaterale Militäreinsätze durchführen sollte. Doch sollte die Entscheidung über völkerrechtlich erlaubte Auslandseinsätze nicht vom Grundgesetz vorgegeben sein, sondern politisch diskutiert und begründet werden. Der deutschen Politik ist die erforderliche Urteilskraft 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso zuzutrauen wie der deutschen Bevölkerung. Wie Georg Nolte in einem gedankenreichen Beitrag aufgezeigt hat, spricht darüber hinaus viel dafür, dass das Bundesverfassungsgericht mit der anspruchsvoll-rigorosen Menschenwürdekonzeption seines Luftsicherheitsurteils nach internationalem Maßstab einen Sonderweg eingeschlagen hat.54 Das Gericht ist 51  Bis zum Abschluss des Manuskripts ist mir keine völker- und verfassungsrechtliche Einordnung dieses Rettungseinsatzes durch die Bundesregierung bekannt geworden. Libyen hat der Evakuierung soweit ersichtlich nicht ausdrücklich zugestimmt. Die sich hiernach aufdrängenden Rechtsfragen an die Bundesregierung finden sich in den Nummern 11, 15 bis 20, der Kleinen Anfrage „Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte in Libyen“; BT 17 / 5002 v. 9.3.2011. 52  So indessen bereits für das geltende Recht Depenheuer, Otto, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Losebl., 1958  ff., Lfg. 53, 2008, Art.  87 a, Rn.  59. 53  Wiefelspütz, Dieter, Die Öffentliche Verwaltung 2010, S.  80; ders., Reform der Wehrverfassung, 2008, S.  106  ff. 54  Nolte, Georg, The Bundesverfassungsgericht on the German ­Aerial Security Law: A Sonderweg from the perspective of Internatio-



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deshalb gut beraten, bei sich bietender Gelegenheit darüber nachzudenken, ob der Menschenwürdebegriff stärker als bisher im Licht völkerrechtlicher Standards ausgefüllt werden kann, dies gerade auch, um sicher nicht beabsichtigte Friktionen bei deutschen Kampfeinsätzen auszuschließen.55 Im Bereich des materiellen Strafrechts hat sich die Rechtssicherheit für die deutschen Soldaten im Auslandseinsatz dank der Klarstellungen des Generalbundsanwalts spürbar verbessert. Damit dürfte auch die Bereitschaft der Soldaten wachsen, die rechtsstaatliche Normalität eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens zu ertragen, sofern Anlass zu der Prüfung besteht, ob die Grenzen ihrer Eingriffsbefugnisse eingehalten worden sind. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz etwa notwendiger strafprozessualer Ermittlungen ist die Gewähr, dass diese zügig und sachkundig durchgeführt werden – im Fall eines bewaffneten Konflikts am besten durch den Generalbundesanwalt, und auch im Übrigen am besten durch eine zentralisierte Strafverfolgungsinstanz.56 Last but not least haben die Soldaten ein Recht darauf, dass ihnen bei Auslandseinsätzen die Eingriffsbefugnisse gewährt werden, die sie zu einer ordnungsgemäßen Erfüllung ihres Auftrags benötigen.57 Dieser Einsicht hat die deutsche Politik beim Isaf-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan eine Zeitlang zuwidergehandelt. Dabei hat sich die beschwichtigende Vokabel des „Stabilisierungseinsatzes“ zu Lasten der Soldaten in zu eng gefassten Einsatzregeln (rules of engagement) niedergeschlagen. Möglicherweise wurde nicht einmal die für einen Kampfeinsatz beste Ausrüstung (unter Einschluss modernster Aufklärungsund Zielbestimmungstechnik zur Minimierung ziviler Begleitnal Law?, in: Tomuschat, Christian / Lagrange, Evelyn / Oeter, Stefan (Hrsg.), The Right to Life, 2010, S.  83  ff. 55  Nolte, Georg, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 67 (2008), S.  137. 56  Frister, Helmut / Korte, Marcus / Kreß, Claus, Juristen Zeitung 2010, 18. 57  Frister, Helmut / Korte, Marcus / Kreß, Claus, Juristen Zeitung 2010, 18.

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schäden58) zur Verfügung gestellt. Die wichtigste Lehre aus dem deutschen Engagement in Afghanistan lautet, dass ein Auslandseinsatz nicht zu verantworten ist, wenn es der Politik an der Kraft fehlt, der Bevölkerung dessen wahren Charakter und die hieraus resultierenden rechtlichen Konsequenzen ehrlich darzulegen.

58  Vgl. insoweit bereits die Frage bei Kreß, Claus / Nolte, Georg, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.12.2009, S.  9.

Militärische Einsätze und zivile Missionen – wie in Nato und EU entschieden wird Von Heinrich Brauß Im November 2010 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der Nordatlantischen Allianz das neue Strategische Konzept der Nato. Es beschreibt, was Europäer und Nordamerikaner gemeinsam tun wollen, um ihre Sicherheit zu wahren und zu gestalten. Die Europäische Union (EU) verfügt seit Dezember 2003 über ihre Europäische Sicherheitsstrategie, ergänzt im Dezember 2008. Es verwundert nicht, dass die sicherheitspolitische Lagebeurteilung von Nato und EU weitgehend zu den gleichen Schlüssen kommt, zumal die meisten europäischen Staaten Mitglieder beider Organisationen sind. Wir leben in einer vernetzen, immer enger zusammenrückenden Welt voller neuer Möglichkeiten, aber auch voller neuer Risiken und Gefahren. Neu aufstrebende, ehrgeizige Mächte wie China verändern die internationale Mächtegeometrie und wetteifern mit uns um immer knappere natürliche Ressourcen. Es gibt Gefahren, die keine Grenzen kennen: Terrorismus, organisierte Kriminalität und Massenmigration, die gescheiterten Staaten und instabilen Regionen entstammen; Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und ballistischen Raketen; zunehmende Bedrohung der Informationssysteme; wachsende Risiken für die Energieversorgung und die sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels. Die Antworten auf diese Herausforderungen von EU und Nato liegen auf der gleichen Linie, in Kurzform: Wir müssen Krisen und Gefahren da begegnen, wo sie entstehen. Wir müssen möglichst die politischen Ursachen angehen. Wir müssen dies rechtzeitig, mit den richtigen Mitteln und gemeinsam mit Partnern tun. So halten wir Gefahren von Europa fern. Kri-

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senbewältigung in entfernten Regionen bedeutet also Sicherheit daheim. Dies alles klingt gewiss überzeugend in der Theorie. Die Praxis ist weit schwieriger. Wann und wie kommen 27 EUMitgliedsstaaten beziehungsweise 28 Nato-Verbündete zu gemeinsamen Entscheidungen, ihre Soldaten oder Polizisten in gefährliche Einsätze in aller Welt zu schicken, wenn ihre Gesellschaften daheim grundsätzlich in Frieden leben? Erste Antwort: Es gibt keine Blaupause und kein Schema. Jeder Fall ist anders. Keine Krise gleicht der anderen. Jede verlangt eine eigene Betrachtung und ein spezifisches Vorgehen. Aber es gibt einige Grundsätze und Konstanten. Vorrang hat immer die Suche nach einer politischen Lösung. Der Einsatz von Streitkräften ist für jede Nation von großer Sensitivität. Sie sind Ausdruck des Gewaltmonopols des souveränen Staates. Ihr Einsatz gilt, in Demokratien zumal, grundsätzlich als Ultima Ratio. Daher entscheiden darüber ausschließlich die nationalen Regierungen und Parlamente. In EU und Nato verlangt er den Konsens der Mitgliedsstaaten. Der Zwang zur Einstimmigkeit hat weitreichende Implikationen. Die Interessen und spezifischen Belange aller Mitgliedsstaaten müssen angemessene Berücksichtigung finden. Formal zählen die Stimme Albaniens oder Zyperns genauso viel wie die der USA oder Deutschlands. Unions- und Bündnisentscheidungen sind daher per se Kompromissentscheidungen, auch wenn es um den Einsatz von Streitkräften geht. Es muss einen für alle überzeugenden Grund geben, der erklärt werden kann und die Unterstützung der Mehrheit der Volksvertreter und der Öffentlichkeit findet. Und er muss – für demokratische Rechtsstaaten unabdingbar – im Einklang mit dem Völkerrecht stehen. Für den Fall eines militärischen Angriffs auf einen Bündnispartner steht dies außer Frage. Als am 11.  September 2001 das World Trade Center in New York angegriffen wurde, löste die Nato erstmals in ihrer Geschichte den sogenannten Bündnisfall aus, nach nur kurzer Beratung. Solidarität im Falle eines militärischen Einsatzes zur kollektiven Verteidigung eines Verbündeten nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrags gilt als politisch sakrosankt, weil er den Wesenskern eines Verteidigungs-



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bündnisses ausmacht. Für das Engagement mit Streitkräften jenseits der unmittelbaren Verteidigung bedarf es aber nicht nur überzeugender sicherheitspolitscher Gründe, sondern oftmals auch starker Impulse von außen: der Mobilisierung der öffentlichen Meinung, der gefühlten Verbindung und Nähe zum Ort der Krise, des Interesses der Medien und der Betroffenheit der eigenen Bevölkerung. Drei Beispiele: Gegenüber dem Krieg in Bosnien 1994 hinderten alte Loyalitäten gegenüber Serbien, politische Besorgnisse um den tatsächlichen Einsatz militärischer Gewalt in Europa nach Ende des Kalten Krieges oder rechtliche Vorbehalte die Europäer lange an einer geschlossenen und entschlossenen Haltung. Die Nato intervenierte erst, als das Töten unter den Augen der Weltöffentlichkeit unerträgliche Ausmaße angenommen hatte, der Flüchtlingsstrom die Aufnahmefähigkeit vieler Nachbarländer zu sprengen drohte und die Amerikaner die Führung übernahmen. Der Luftkrieg gegen Serbien im Jahr 1999, der Miloševićs brutales Vorgehen gegen die Bevölkerung des Kosovo beenden sollte, begann erst nach einer langen, quälenden und erfolglosen Suche nach politischen Alternativen. Es war die Macht der Bilder, die tagaus tagein über die Bildschirme in Europa flimmerten, die zur Einsicht führten, dass Schrecken und Willkür gewaltsam unterbunden werden mussten. Und schließlich: Die Entscheidung zum Einmarsch in Afghanistan folgte dem weltweiten Schock über den Terrorangriff auf New York. Ein brutales Regime, das den Terroristen Unterschlupf und eine Operationsbasis für ihre Anschläge gewährt hatte, musste ausgeschaltet werden. Heute muss verhindert werden, dass es wieder die Oberhand gewinnt. Weitere gewichtige politische und strategische Faktoren, die Entscheidungen für Einsätze beeinflussen, kommen hinzu: Die EU will mehr und mehr Verantwortung für Europas Sicherheit übernehmen. Sie will sich dabei auch als Friedensfaktor und Modell für zivil-militärische Krisenbewältigung weltweit ins Spiel bringen. Mit den Vereinten Nationen (VN) ist sie in enger Partnerschaft verbunden. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU dient erklärtermaßen auch der Unterstützung der VN. Einige Beispiele: Mit der militärischen

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Operation Althea in Bosnien übernahm die EU Ende 2004 dort die Verantwortung von der Allianz. Die Nato unterstützt sie heute noch mit Führungskapazitäten. Die EU wollte zeigen, dass sie im europäischen Haus selbst eine militärische Stabilisierungsoperation führen kann. Die zivil-militärische Beobachtermission in der Provinz Aceh auf Sumatra im Jahre 2005 / 2006 war ein großer, in Deutschland wenig bekannter Erfolg für die EU. Nur die EU genoss das Vertrauen der indonesischen Regierung und der Rebellenbewegung dort, Frieden und Versöhnung zu vermitteln. Erstmals seit Dekaden bestand eine realistische Chance zu wirklichem Frieden auf der Halbinsel; erstmals beteiligten sich Staaten der Asean (Association of Southeast Asian Nations) an einer Friedensmission und arbeiteten mit der EU zusammen, und erstmals trat die EU in Asien als Sicherheitsakteur auf. Einer solchen Aufgabe und politischen Chance konnte sich niemand in der EU entziehen. Die EU-Operation in der Demokratischen Republik Kongo (EUFOR RD CONGO) im Jahre 2006 half, dort die nationalen Wahlen abzusichern. Nach Jahrzehnten eines blutigen Bürgerkrieges sollte ein neuer Anfang gemacht werden. Die Vereinten Nationen baten die EU ausdrücklich um Unterstützung. Die EU konnte zugleich den Nachweis erbringen, eine begrenzte, aber anspruchsvolle Operation über eine strategische Entfernung autonom, also ohne Unterstützung der Nato planen und führen zu können. Alle diese Beispiele zeigen, wie komplex die Überlegungen sind, die zu Entscheidungen über militärische Interventionen führen und wie vielfältig die Gründe. Militärische Gewalt kann stabilisierend, aber auch eskalierend wirken. Streitkräfte können – und müssen oft – die Voraussetzungen für politische Lösungen schaffen, können diese aber nicht ersetzen. Auch der vorbeugende Einsatz zur Konfliktverhinderung signalisiert die Bereitschaft zur Gewaltanwendung, sollte sie notwendig sein. Streitkräfte sind ein Mittel der Machtprojektion, sie können die Gewichte in der betroffenen Region verschieben und auch die Gegenwehr von Mächten hervorrufen, die nur mittelbar betroffen sind. Dies alles will eingehend abgewogen sein. Man braucht also ein umfassendes politisches Konzept, eine durchdachte Strategie, die geeigneten Instrumente und die Gewissheit,



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dass man die Operation unter akzeptablen Risiken führen und zu politisch annehmbaren Bedingungen in einem vernünftigen Zeitrahmen beenden kann, schon bevor man einen Einsatz beginnt. Hätten die Amerikaner solch eine Analyse angestellt, bevor sie in den Irak einmarschierten, hätten sie den Krieg womöglich nicht begonnen oder ihn anders geführt. Hätte die Allianz einen solchen Plan für Afghanistan von Anfang an gehabt, wären wir heute womöglich schon weiter. Nun fallen Krisen nicht vom Himmel. Sie entwickeln sich über längere Zeit. Bevor Nato oder EU eine Intervention erwägen, muss viel geschehen. Meist geht dem eine längere Diskussion in den Mitgliedsstaaten und zwischen deren Regierungen voraus, vielfach auch in den nationalen und internationalen Medien. Die Spitzenfunktionäre von Nato oder EU, der NatoGeneralsekretär oder die Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, sind in diese Konsultationen einbezogen. Ist ein bestimmtes Momentum erreicht, spitzt sich eine Krise zu oder wollen mehrere Nationen aktiv werden, kommt das Thema offiziell auf die Tagesordnung. Die Initiative dazu geht dann meist von den besonders einflussreichen, engagierten oder auch besonders betroffenen Nationen aus. Im Bündnis sind dies vor allem die Vereinigten Staaten. Sie verfügen über ein unvergleichliches Gewicht und Potential, sie stellen die meisten Streitkräfte, vor allem die strategischen Hochwertfähigkeiten, an denen es den Europäern mangelt (Aufklärung, strategischer Transport, Hubschrauber, Spezialkräfte), und sie sind weltweit engagiert. Die USA sind die Führungsnation der Nato. Das ist mühsam, wenn sie für europäisches Empfinden zu forsch vorgehen oder zu viel auf einmal wollen. Aber im Grunde sind alle froh, wenn einer den Takt angibt, dem man – mal widerstrebend, mal bereitwillig – folgt, besonders wenn die Verbündeten wirklich konsultiert werden. In der EU gibt es eine solche Führungsnation nicht. Das „Dreiergespann“ Deutschland, Frankreich, Großbritannien kann, wenn man sich einig ist und klug vorgeht, die Dinge voranbringen. In wichtigen Fragen sind die Auffassungen der Europäer aber noch sehr unterschiedlich, gerade auch darüber, wo und

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wie sich die EU mit Truppen engagieren soll. Afrika ist dafür ein Beispiel. Die Lage auf unserm Nachbarkontinent spielt für die Stabilität Europas eine wesentliche Rolle. Viele Risiken und Gefahren treten dort gebündelt und sich wechselseitig verstärkend auf. Diejenigen Nationen, die Afrika historisch und politisch verbunden sind – Belgier Franzosen, Briten und Portugiesen – forcieren ein verstärktes Engagement der EU dort, auch mit Streitkräften. Spanien und Italien unterstützen sie darin. Uns Deutschen, die wir gewohnt sind, in Sicherheitsfragen eher nach Osten als nach Süden zu schauen und mit unserer Vergangenheit in Afrika gebrochen haben, fällt die Zustimmung zu einem solchen Engagement schwer. Eine Entscheidung für einen Einsatz gibt es aber nur, wenn ein hinreichendes Interesse für alle definiert ist. Entsprechend langwierig sind die Verhandlungen in den Gremien. Jeglicher Planungs- und Entscheidungsprozess ist davon geprägt, dass die Nationen über jeden wichtigen Schritt die politische Kontrolle behalten. Oberste Beratungs- und Entscheidungsinstanz in der Nato ist der Nordatlantikrat, dem der Generalsekretär vorsitzt. Angesichts der Breite und Vielfalt der politischen und wirtschaftlichen Themen, mit denen sich der Rat der Europäischen Union befasst, hat dieser die „politische Kontrolle und das strategische Weisungsrecht“ für alle Fragen, die mit zivilen und militärischen Einsätzen verbunden sind, an das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) delegiert. Nordatlantikrat und PSK werden durch internationale Stäbe und eine Reihe von Ausschüssen unterstützt, die die notwendigen Analysen und Entscheidungsvorlagen liefern. Vielfach werden wesentliche Schritte durch die wichtigsten Hauptstädte im direkten Kontakt miteinander oder die Delegierten vor Ort in informellen Treffen „vorgekocht“ und dann in die Gremien eingebracht, was dort die Entscheidungsbildung erleichtert und verkürzt. Schwierige Kompromisse werden in vertraulichen Runden der Hauptbetroffenen ausgehandelt. Das Wechselspiel vor und hinter den Kulissen gehört zum Alltag der Entscheidungsbildung in Nato und EU. Deutschland gehört aufgrund seiner Lage, seiner Wirtschaftskraft und seiner relativen militärischen Stärke in beiden Organisationen zu den großen Nationen. Wir können in den Konsultationen eine gewichtige Rolle



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spielen und die Prozesse in unserem Sinne beeinflussen, wenn wir uns rechtzeitig und konstruktiv einbringen, in den verschiedenen Gremien mit einer Stimme sprechen, aktiv zu Kompromissen beitragen und bereit sind, uns substantiell an gemeinsamen Operationen zu beteiligen. Die Arbeit in den politischen und militärischen Gremien mündet in eine Spirale von Konsensentscheidungen von unten nach oben – zunächst in allen beteiligten Ausschüssen, dann im Rat, gefolgt von der Zustimmung der Minister oder sogar der Staatsund Regierungschefs. Die entsprechenden Entscheidungen gewinnen zwar mit jeder Stufe an politischem Gewicht, aber dieses Verfahren ist mühsam und zeitaufwendig. Es wird jedoch vor allem von den kleineren Nationen unerbittlich verteidigt, weil diese glauben, nur so Kontrolle und Mitsprache zu behalten. Eine besondere Rolle kommt den Militärausschüssen von Nato oder EU zu. Sie sind jeweils zugleich die oberste militärische Instanz in ihren Organisationen und bestehen aus den Generalstabschefs der Nationen oder deren Ständigen Militärischen Vertretern. Der kollektive militärische Ratschlag der Generalstabschefs über die Durchführbarkeit und Risiken einer Operation ist von entscheidender Bedeutung. Keine Regierung kann sich erlauben, gegen das Votum aller Generalstabschefs der Mitgliedsstaaten zu handeln. Sie brauchen deren Rückhalt zuhause, wenn es um Gesundheit und Leben ihrer Soldaten geht. Die militärische Planung, die Analyse der benötigten Kräfte, der Risiken und Alternativen ist Sache der internationalen militärischen Stäbe und Oberkommandos. Das Produkt, der militärische Operationsplan, wird im Detail politisch geprüft und gebilligt. Ob und wann eine Operation tatsächlich beginnt, erfordert eine eigene politische Entscheidung auf Ratsebene. Sie erfolgt nur dann, wenn der zuständige internationale militärische Oberbefehlshaber feststellt, dass er über die benötigten Kräfte verfügt und mit ihnen den ihm von der Politik gegebenen Auftrag erfüllen kann. Nun verfügen aber weder die Nato noch die EU über eigene Streitkräfte. Diese müssen von den Nationen von Fall zu Fall bereitgestellt werden. Dem dienen Truppenstellerkonferenzen. Die benötigten Truppen und Fähig-

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keiten nach Umfang und Qualität zusammenzubekommen, ist eine große, wiederkehrende und stets sehr mühselige Herausforderung. Oft vergehen darüber Wochen. Bei der EU kommt ein wichtiger Faktor hinzu: Die Mehrheit ihrer Missionen ist ziviler Natur – Polizeieinsätze, Beratung und Hilfe zum Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen, Beobachtermissionen und Ausbildungshilfe zur Grenzkontrolle. Militärische Einsätze sind ein Teil des erweiterten, politischen Ansatzes der EU zur Krisenbewältigung und waren bisher nach Auftrag, Größe, Risiko und Dauer begrenzt. Gleichwohl erfordern zivile Missionen die gleiche verantwortliche Vorbereitung und Durchführung wie militärische Operationen. Polizeimissionen im Sudan, in Afghanistan oder in Gaza, eine Beobachtermission in Georgien oder in Sumatra sind in ihrer politischen Bedeutung nicht zu unterschätzen. Die Anforderungen an Planung, Führung, Ausrüstung, Versorgung und Schutz für die eingesetzten Männer und Frauen sind ähnlich hoch wie die für militärische Einsätze. In der EU befasst sich damit eigens der Ausschuss für Ziviles Krisenmanagement. Geführt werden zivile Missionen durch einen Civilian Operation Commander. Polizisten, Rechtsund Verwaltungsexperten werden aber überall gebraucht, sie müssen sich freiwillig für Auslandseinsätze melden, sie sind teuer, und der Bedarf steigt ständig. Entsprechend schwierig fällt es der EU die benötigten zivilen Kräfte einzuwerben. Erst in der Bereitstellung der benötigten Streitkräfte oder zivilen Kontingente durch die Nationen erweist sich die Ernsthaftigkeit des gemeinsamen Entschlusses der Regierungen, die Kraft des Konsenses, die praktische Solidarität der Bündnispartner und deren Bereitschaft, Lasten und Risiken wirklich angemessen zu teilen. Die Entscheidungen fallen aber nicht nur in den internationalen Konferenzen. Parallel zu den Planungen in Nato und EU diskutieren die Parlamente daheim. Besonders für Deutschland ist die Zustimmung des Deutschen Bundestages eine Voraussetzung für die Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Einsätzen. In der Parallelität von internationalen Entscheidungsprozessen und nationalen Genehmigungsverfahren liegt eine beträchtliche Spannung. Nationale Repräsentanten



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tragen primär für das nationale Wohl Verantwortung. Internationale Vertreter müssen sich um das Gesamtinteresse aller Mitgliedsstaaten bemühen. Historische Erfahrungen, politische Überzeugungen, innenpolitische Konstellationen, konstitutionelle Bedingungen und moralische Bewertungen sind unter den Nationen verschieden, und dies tritt besonders zutage, wenn es um den Gebrauch militärischer Gewalt geht. Wer an die Gefallenen und Verwundeten in Afghanistan denkt und die Berichte der Männer und Frauen im Einsatz liest, der versteht, dass Volksvertreter sich die Entscheidung niemals einfach machen dürfen. Sie tragen die politische Verantwortung. Die internationalen Repräsentanten wiederum haben die Pflicht, die konsequente Umsetzung gemeinsamer politischer Entscheidungen aller Bündnispartner zu forcieren. Wenn Ziel und Bedingungen eines Einsatzes innenpolitisch umstritten sind, können die Entscheidungen in Brüssel sehr erschwert und verzögert werden. Dann ist vorausschauende Information und vertrauensvolle Konsultation gefragt, zwischen den nationalen und internationalen zivilen und militärischen Stäben und ebenso zwischen Regierung und Parlament. Man muss unterschiedliche Positionen akzeptieren, die Gründe nachvollziehen und gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung kommen wollen. International wird aber nicht verstanden, wenn innenpolitisches Taktieren die wesentliche Triebfeder für die Haltung zu gemeinsamen Sicherheitsfragen zu sein scheint. Dies schadet dem Ansehen des Landes und der Autorität seiner Führung und kann im äußersten Fall gefährliche politische und militärische Auswirkungen haben. Andererseits hat die Bereitstellung von Truppen in der Verfügung eines internationalen Befehlshabers ihre sachlichen Grenzen. Jeder Staat bestimmt, wofür seine Soldaten eingesetzt werden können und wozu nicht und wann er sie zur Verfügung stellt. Das bemisst sich an den politischen Auflagen, militärischen Möglichkeiten und rechtlichen Grenzen in jedem Mitgliedsstaat. Die internationalen Kommandeure können nicht erwarten, dass sie auf Knopfdruck bekommen, was gerade gebraucht wird. Bis zu einem gewissen Maße ist dies normal in einem Bündnis souverä-

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ner Rechtsstaaten. Von den „Großen“ wird mehr erwartet, weil sie über mehr Ressourcen und höherwertige Fähigkeiten verfügen. Eine große Hilfe sind die Beiträge der Partnernationen. Zum Einsatz in Afghanistan tragen zwanzig Partnernationen in zum Teil beträchtlicher Weise bei, von Schweden bis Australien. Darin zeigt sich der Erfolg des über zwei Jahrzehnte entwickelten, breiten Kooperationskonzepts der Allianz. Auch an Einsätzen der EU nehmen andere Nationen teil. Allerdings haben dort „Drittstaaten“ ein vergleichsweise begrenztes Recht auf Information und Konsultation. Die Kommandeure müssen aus allem, was die Nationen bereitstellen, eine Operation konstruieren, mit der sich der Auftrag erfüllen lässt. Im Allgemeinen kommen sie damit zurecht, wenn die nationalen Einsatzvorbehalte (caveats) rechtzeitig bekannt sind und nicht überhand nehmen. Der Kräftebedarf wird im Verlauf einer Operation ständig überprüft und an die Lage angepasst. Die Kommandeure benötigen dabei hinreichende Handlungsfreiheit und die Gewissheit, dass die Nationen engagiert bleiben und beständig ihre zugesagten Kräfte erneuern. Zieht sich eine Operation in die Länge, weil die politische Lösung nicht vorankommt, erhöhen sich die Verluste oder schwindet die politische Unterstützung daheim, dann neigt manche Regierung dazu, ihren Beitrag zu reduzieren. Geschieht dies einseitig und unabgestimmt, untergräbt dies den Erfolg der Mission und die Solidarität unter Bündnispartnern. Besonders der Afghanistan-Einsatz hat uns erneut vor Augen geführt, dass Streitkräfte allein keinen Frieden stiften können. Nahezu jede militärische Operation muss in eine breite zivile Anstrengung münden oder von Anfang an in sie eingebettet sein. Umgekehrt braucht ziviler Aufbau in Krisenregionen meist militärische Unterstützung und Schutz. In diesem ganzheitlichen Ansatz, dem Comprehensive Approach, ist die EU der Nato grundsätzlich überlegen. Sie verfügt über eine Palette an Instrumenten, die der Nato fehlen, für effektives Krisenmanagement aber unerlässlich sind: Diplomatie, wirtschaftliche Unterstützung, humanitäre und Entwicklungshilfe, Polizei und Streitkräfte. Die Allianz wiederum besitzt ein unübertroffenes militäri-



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sches Potential und sichert den Europäern die Unterstützung Nordamerikas. Damit sie selbst einige zivile Aufgaben übernehmen kann, wenn sie muss, erhalten ihre militärischen Hauptquartiere jetzt eine Komponente aus zivilen Experten. An einer engen Zusammenarbeit zwischen Nato und EU aber, die sich im Grunde ideal ergänzen, führt kein Weg vorbei. Wollen die ­Europäer aber Partner der USA auf Augenhöhe werden, müssen sie die nötigen Fähigkeiten ausbilden, die sie wirklich partnerschaftsfähig machen. Dies sind nun einmal ausreichende expeditionsfähige militärische Kräfte, vor allem solche, die für gemeinsame Einsätze dringlich und auch für die Amerikaner wichtig sind. Das alte Bündnisprinzip der Unteilbarkeit von Sicherheit und Solidarität der Verbündeten gilt auch im modernen Krisenmanagement. Alle teilen die Risiken und tragen die Lasten fair, jeder nach seinen Möglichkeiten. Jede Regierung muss den Willen haben und ihn auch einlösen, ihre Bevölkerung davon überzeugen. Diese Prinzipien halten die Allianz zusammen. Sie gelten auch für die Gemeinsame Sicherheitsund Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Sie müssen einen entscheidenden Stellenwert für nationale sicherheitspolitische Entscheidungen behalten.

Die Regierung beschließt einen Einsatz – ein Blick in die Zusammenarbeit der Ministerien Von Christian Heldt* „Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die nur in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung. Sicherheit kann daher weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden. Erforderlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetzten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusstsein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist.“1

Diese Beschreibung einer „vernetzten Sicherheitspolitik“ im Weißbuch 2006 ist inzwischen zum Leitmotiv der Zusammenarbeit zwischen Zivilisten und Militärs in Deutschland geworden. Bei allen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass eine Regierung alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente zur Konfliktbewältigung gemäß ihrer spezifischen Wirkungsmöglichkeiten im Konfliktmanagement einsetzen muss, um bei der Vermeidung und Bewältigung von Konflikten erfolgreich zu sein. Die Wirkung dieses Instrumentenmixes, zu dem zusätzlich internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die Nato und EU ihre Instrumente beitragen, wird um so stärker, je besser es gelingt, die einzelnen Mechanismen auf eine gegenseitig stärkende Weise zu bündeln. Dabei kann, dies gilt es in *  Der Autor gibt hier allein 1  Das „Weißbuch 2006 zur

seine persönlichen Auffassungen wieder. Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ – so der volle Titel – ist das höchstrangige sicherheitspolitische Strategiepapier der Bundesregierung. Vgl. www. bmvg.de /  f ileserving /  P ortalFiles /  C 1256EF40036B05B /  W 26UYEPT 431INFODE / WB_2006_dt_mB.pdf.

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aller Nüchternheit festzustellen, auch die Androhung oder gar Anwendung militärischer Gewalt ein Beitrag zum Erfolg sein. Die eigentliche Herausforderung für eine Regierung besteht allerdings darin, diese Erkenntnisse und die im Weißbuch formulierten Vorgaben in effizientes staatliches Handeln zu überführen. Wie müssen die verschiedenen Akteure der Legislative, Exekutive, Judikative und Zivilgesellschaft zusammenwirken, um ihren neuen und gemeinsamen Aufgaben für die deutsche Sicherheit gerecht zu werden? Wie kann man Abstimmung, vor allem aber Transparenz und Kommunikation zwischen den Handelnden, insbesondere zwischen den Regierungsressorts sicherstellen, um einem gesamtstaatlichen und vernetzten Ansatz gerecht zu werden? Diese Fragen sind besonders drängend, wenn es um eine Abstimmung zu Auslandseinsätzen geht. Hier hat Deutschland bereits seit den ersten Missionen der Bundeswehr Anfang der neunziger Jahre die Erfahrung gemacht, dass die zivile Krisenprävention alleine nicht allen Formen von Konfliktverhütung und Konfliktbewältigung gewachsen ist. Andernfalls hätte es der Entsendung von Soldaten nach Somalia oder nach BosnienHerzegowina nicht bedurft. Ob auf dem Balkan, in Afghanistan oder in anderen Regionen, in denen deutsche Soldaten ihren Dienst verrichten, überall ist es entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft, zu deren Politik Deutschland substantiell beiträgt, zügig und effizient handelt. Abstimmungsprobleme oder Versäumnisse auf ziviler oder militärischer Seite behindern schnelle Erfolge. Im günstigeren Fall verlängert sich dadurch nur die Dauer unserer Auslandsmissionen, im schlimmsten Fall wird die Sicherheit unserer Soldaten und der zivilen Akteure gefährdet und die Missionen scheitern. Die Grundannahmen, unter denen eine deutsche Beteiligung an militärischen Einsätzen politisch erwogen wird, sind heute weitgehend konsensfähig: Nationale Alleingänge sind gesetzlich ausgeschlossen und gesellschaftlich tabu. Dies bedeutet, die Bundeswehr wird nur im Rahmen der VN, der Nato, der EU oder der OSZE zur Friedenssicherung eingesetzt. Sie wird vom Bundestag mandatiert und ist dem internationalen Völkerrecht



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verpflichtet. Des weiteren darf der militärische Einsatz nur das letzte Mittel in einer langen Kette von Instrumentarien sein. Dies bedeutet, dass die wesentlichen zivilen krisenpräventiven Maßnahmen erschöpft sein müssen und nur noch militärische Mittel Fortschritt versprechen. Kommt es schließlich zum militärischen Einsatz, ergibt sich nicht zwangsläufig die Anwendung unmittelbarer Gewalt. Diese muss aber immer möglich sein und angewandt werden können, sonst bedürfte es nicht der Entsendung hierfür ausgebildeter Soldaten. Militärische Einsätze sind also immer nur Teil einer Gesamtlösung. Parallel zum militärischen Anteil bedarf es bei den heutigen Einsatzszenarien der Anwendung der zivilen Instrumentarien. Dies schon allein deswegen, da den militärischen Einsätzen unserer Tage ein ziviles Engagement sowohl vorausgeht, als auch nachfolgt. Ohne die gesamte Bandbreite ziviler Instrumentarien zur langfristigen Friedenssicherung sind die Erfolge militärischer Operationen nicht nachhaltig; das heißt, der Einsatz von Leib und Leben unserer Soldaten könnte letztlich vergebens sein. Die klare Trennung zwischen militärischen und zivilen Mitteln ist für Deutschland und die Bundeswehr eine jüngere Entwicklung. Noch zu Beginn der Balkan-Missionen wurde die Rolle der Bundeswehr gerne als die uniformierter Aufbauhelfer missverstanden. Eine deutliche Abgrenzung der zivilen Aufgaben und Handlungsfelder zwischen der Bundeswehr und den dort ebenfalls aktiven staatlichen und nicht-staatlichen Wiederaufbauhelfern gab es damals noch nicht. Seither haben jedoch alle Akteure und die Verantwortlichen in Politik und Ministerien erheblich dazugelernt. Das deutsche Krisenmanagement wird stetig verbessert. Beispielsweise gibt es heute keine Konkurrenzsituationen mehr zwischen Militärs und zivilen Organisa­ tionen bei der Bereitstellung humanitärer Hilfe. Stattdessen herrscht nun beiderseitiger Respekt vor den jeweiligen fachlichen Fähigkeiten. Zugespitzt formuliert: Der Soldat glaubt nicht mehr, der bessere Entwicklungshelfer zu sein, der Diplomat nicht mehr, der bessere Stratege zu sein, und der Entwicklungshelfer nicht mehr, der bessere Diplomat zu sein. Natürlich ist

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dies erst ein Trend (Ausnahmen gibt es immer und auch weiterhin); aber je höher man in die Hierarchien der einzelnen Ministerien, Organisationen oder militärischen Kommandos vordringt, desto klarer ist das Prinzip erkannt. In der deutschen Praxis musste das neu entstandene Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung, innerhalb eines verfassungsmäßig festgelegten und historisch gewachsenen Systems implementiert werden, in dem unverändert das Ressortprinzip gilt; dies bedeutet die alleinige Zuständigkeit der Ministerien für ihre Politik. Auf Basis der politischen Willenserklärung der Bundesregierung im Weißbuch 2006 waren deshalb Arbeitsabläufe und Mechanismen für das deutsche Krisenmanagement im Ausland zu entwickeln. Ansätze dafür bestanden bereits mit dem „Ressortkreis zivile Krisenprävention“, der im Weißbuch explizit als „Beispiel ressortübergreifender und vernetzter Sicherheitsvorsorge“ hervorgehoben wurde. Nun wurde auch militärisches Handeln sichtbar in diesen ressortgemeinsamen Ansatz integriert. Um diese umfangreiche Koordination zwischen den beteiligten Ressorts umzusetzen, gibt es zwischen Auswärtigem Amt, Verteidigungsministerium, Entwicklungs- und Innenministerium von der wöchentlichen Abstimmung der zuständigen Referatsleiter bis hinauf zu einer ungefähr alle sechs Wochen tagenden Staatssekretärsrunde dieser vier Ministerien regelmäßige Termine, in denen alle laufenden Fragen abgestimmt und entschieden werden. Hinzu kommen eine Vielzahl von informellen Treffen in jeweils wechselnder Zusammensetzung, auch mit weiteren Partnern, wie zum Beispiel Nichtregierungsorganisationen. Das Ergebnis ist im Idealfall ein gut abgestimmtes Handeln aller Teile der Bundesregierung. Ein Ziel, das jedoch nicht immer auf Anhieb erreicht wird. Jedes Ministerium hat sein unverwechselbares Profil und legt Wert auf entsprechende Sichtbarkeit seiner Arbeit. Kritisch wird es oft dann, wenn es um Koordinierung im Sinne von Abstimmung geht und wenn einzelne Akteure sich dabei in ihrem Aktionsradius eingeschränkt fühlen. Gelegentlich gerät dann das gemeinsame Ziel der Bundesregierung aus dem Fokus und das, was Deutschland und seine Part-



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ner in Afghanistan, auf dem Balkan oder wo immer wir im Krisenmanagement aktiv sind, erreichen wollen. Die intensive parlamentarische Kontrolle der Bundeswehr, wie sie in der Beteiligung des Bundestages und dem Begriff der „Parlamentsarmee“ zum Ausdruck kommt, macht es erforderlich, dass jedem Auslandseinsatz der Bundeswehr eine klare, abgestimmte und transparente Planung vorausgeht und diese Transparenz für die gesamte Dauer der Missionen fortbesteht. Dies ist auch deshalb notwendig, da nicht nur die Politiker, sondern auch die Bürger und Wähler die in Deutschlands Namen geführten Einsätze verstehen müssen. Den Parlamentariern des Bundestages, die über ein Mandat abstimmen, müssen die Ziele militärischer Einsätze bekannt sein und sie müssen nachvollziehen können, dass die Politik der Bundesregierung und ihre zivilen wie militärischen Mittel und Wege geeignet sind, diese Ziele zu erreichen. Deswegen ist die Erklärung und Vermittlung der Einsätze eine der großen Herausforderungen an alle Ressorts – freilich neben der dann folgenden Implementierung deutscher Politik in den Einsatzgebieten und der Mitgestaltung der internationalen Lösungsansätze in den VN, der Nato und der EU. Diesem Handlungsbedarf hat sich das Verteidigungsministerium am deutlichsten gestellt: Dessen Gesamtstrukturen und Entscheidungswege waren noch vor Kurzem in hohem Maße an den Erfordernissen des klassischen Ost-West-Konfliktes ausgerichtet, vor allem mit einer zu großen Zahl von militärischen Entscheidungsträgern und Stäben, die Zuständigkeiten für Einsätze besaßen. Die Vielfalt der Verantwortung entsprach aber nicht mehr den Erfordernissen schnellen und kohärenten Handelns für die heutigen Herausforderungen der Auslandseinsätze. Ein wichtiger organisatorischer Schritt war deshalb die Einrichtung des Einsatzführungsstabes im Juni 20082. Mit Hilfe dieses Stabes sollte ein Agieren quasi aus einer Hand bei intensivster Vernetzung und Abstimmung mit allen für die 2  Nicht zu verwechseln mit dem Einsatzführungskommando in Potsdam, einem dem BMVg nachgeordneten operativen Kommando.

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Auslandseinsätze relevanten Akteuren möglich werden. Für diesen Zweck wurde dem im „Bendlerblock“, dem Berliner Dienstsitz des Verteidigungsministeriums, angesiedelten Stab, die Integration von Mitarbeitern anderer Ressorts in seinem Leitungsbereich ermöglicht. Mit einem Diplomaten des Auswärtigen Amtes als politischem Berater des militärischen Leiters des Einsatzführungs­stabes sowie einem hochrangigen Entwicklungsexperten des Bundesministeriums für Wirtschaft­liche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und einem Sicherheitsexperten der Bundespolizei als Vertreter des Bundesministeriums des Innern (BMI) wurde die Expertise aller für die Auslandseinsätze wesentlichen Akteure der Bundesregierung eingebunden. Damit trägt die Bundeswehr auch strukturell dazu bei, dass die Konflikte, mit denen sie konfrontiert wird, schon im eigenen Haus nicht allein militärisch betrachtet werden. Der Einsatzführungsstab verfügt aber nicht nur über eine einmalige Konzentration von zivilen und militärischen Experten verschiedener Ministerien. Dieser eigentlich militärische Stab besitzt auch einen stellvertretenden zivilen Leiter und einen recht hohen Anteil zivilen Personals, das beispielsweise für Fragen des Einsatzrechts zuständig ist. Diese gemischte Struktur widerlegte nach meiner persönlichen Erfahrung manche Vermutung, die Bundeswehr versuche, mit dem Einsatzführungsstab in die Domänen der zivilen Akteure hineinzuregieren. Es ist zu hoffen, dass diese bewährten Stärken des Einsatzführungsstabes bei der anstehenden Umorganisation des Verteidigungsministeriums in ihrer Konzentration und Professionalität erhalten werden. In Bezug auf den Afghanistan-Einsatz findet der Einsatzführungsstab am ehesten im Arbeitsstab Afghanistan-Pakistan im Auswärtigen Amt ein Äquivalent in anderen Bundesministerien. Dieser verfolgt eine vergleichbar ganzheitliche Ausrichtung – aber einschließlich eines breiten regionalen Ansatzes, der ­Pakistan einbezieht, um so der Vielzahl der Handlungsfelder und Akteure dieses komplexesten deutschen Auslandseinsatzes gerecht zu werden. So formuliert beim Afghanistaneinsatz das Auswärtige Amt federführend für die Bundesregierung die übergeordnete politische Zielsetzung, zu der Verteidigungs-, Ent­



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wicklungs- und Innenministerium aus ihren jeweiligen Kompetenzbereichen heraus beitragen. Dabei gilt es, auf Basis einer zivilen und militärischen Lageanalyse den richtigen Mix an deutschen Handlungsoptionen zu formulieren. Dieser enthält Aufbauprojekte, Ausbildungsmaßnahmen für die Polizei und Armee, den zunehmenden Einsatz dieser Sicherheitskräfte – teilweise an der Seite deutscher Soldaten, Expertise für den Aufbau staatlicher Strukturen und die Korruptionsbekämpfung, Wirtschaftsförderung und regionale Entwicklungsprojekte sowie Maßnahmen, welche die Gefährdung durch Terrorismus und bewaffnete Rebellen vermindern können. Die zunächst auf der ministeriellen Arbeitsebene erarbeiteten Pläne werden in der Bundesregierung finalisiert und dem Bundestag zur Diskussion vorgetragen. Zusätzlich werden sie auch, wie das Afghanistankonzept der Bundesregierung, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zudem dienen diese Konzepte als Grundlage für die Formulierung der Mandatstexte, die Auswärtiges Amt und Verteidigungsministerium durch ihre Minister dem Bundestag vorlegen, nachdem sie im Kabinett beschlossen wurden. Natürlich fließen in die Entscheidungen der Bundesregierung regelmäßig auch Erkenntnisse und Erfahrungen ein, die nicht aus dem Regierungsbereich stammen. Diese Beiträge aus dem Kreis zivilgesellschaftlicher Akteure und der Wissenschaft werden ebenfalls sehr bewusst aufgenommen. Diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren eine sehr positive Dynamik entwickelt, die über den bereits erwähnten Ressortkreis zivile Krisenprävention hinausgeht. Insbesondere seitens Verteidigungsministerium und Bundeswehr wird sehr aktiv die Kommunikation mit Nichtregierungsorganisationen gesucht, vor allem um Missverständnissen vorzubeugen. Das Erklären und Kommunizieren zwischen Militär und zivilen Helfern hat mittlerweile eine Qualitätsstufe erreicht, die sich deutlich von der wechselseitigen Unkenntnis, bisweilen Ignoranz abhebt, wie sie noch vor zehn bis fünfzehn Jahren bestand. Die informellen Dialogforen tragen zu einer Streitkultur bei, die Unterschiede respektiert und ideologischen Aspekten die Schärfe nimmt. Bereits der in Nichtregierungskreisen zunächst sehr kritisch betrachtete Begriff der vernetzten Sicherheit wird differenzierter bewertet, und

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seine Umsetzung wird zum Teil und mit Blick auf vereinzelte Ressortegoismen sogar aktiv eingefordert. Wie schnell militärstrategische Begrifflichkeiten aber immer wieder Unruhe beziehungsweise Ablehnung auslösen können, hat im vergangenen Jahr der ins Deutsche letztlich unübersetzbare Begriff der counterinsurgency gezeigt3, dessen Übernahme in den militärischen Sprachgebrauch der Bundeswehr für Beunruhigung bei manchen zivilen Experten sorgte, die fälschlich eine stärkere Gewichtung militärischer Gewalt beim deutschen Vorgehen in Afghanistan befürchteten. Insgesamt hat sich aber eine bessere Trennschärfe zwischen der sogenannten zivil-militärischen Zusammenarbeit (Kleinstprojekte zur unmittelbaren Absicherung der militärischen Einheiten im Einsatz) und der zivilen Aufbau- oder Wiederaufbauhilfe eingestellt und bewährt. Für die zivilen Komponenten in Auslandseinsätzen sind auf Regierungsseite in der Regel das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zuständig. In gemeinsamer Abstimmung planen sie Stabilisierungs- und Wiederaufbauprojekte vor Ort und führen sie auch durch. Konkret umgesetzt werden sie vor Ort unter anderem durch die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Pa­ rallel dazu werden Projekte auch von deutschen Nichtregierungsorganisationen und großen multilateralen Akteuren aus deutschen öffentlichen Mitteln finanziert. Viele dieser Projekte können aber nur in befriedeten oder gesicherten Gegenden umgesetzt werden. Sie benötigen also militärischen oder polizeilichen Schutz, der entweder durch die Sicherheitskräfte des Gastlandes oder, falls diese wie im Falle Afghanistans dazu nicht in der Lage sind, durch die Bundes3  Der Strategie des counterinsurgency (militärische Abkürzung COIN) ist in ihrer vom US-Militär verfolgten Variante nicht auf die militärische Widerstandsbekämpfung beschränkt. Vielmehr stellt sie einen gesamtheitlichen Stabilisierungsansatz dar, der zivile Instrumente gleichberechtigt mit einbezieht, beispielsweise Wiederaufbau, Hilfsprojekte und die enge Zusammenarbeit mit der afghanischen Regierung und Bevölkerung.



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wehr gestellt werden kann. Da jedoch Wiederaufbau- und Entwicklungsprojekte langfristige Aufgaben sind, während die Entsendung des Militärs lediglich für begrenzte Zeit und zur Stabilisierung erfolgen soll, ist es unbedingt notwendig, parallel zu den militärischen Sicherungsaufgaben und Entwicklungsprojekten auch den Aufbau selbsttragender lokaler Sicherheitsstrukturen, vor allem von Militär und Polizei, voranzutreiben. In Afghanistan fällt der Bundeswehr dadurch eine doppelte Rolle zu: Sie muss einerseits Schutz gewährleisten, was durchaus das aktive Vorgehen gegen gegnerische Kräfte einschließt, und sie muss in ihrem Verantwortungsbereich die Ausbildung der afghanischen Armee sowie von Teilen der Polizei übernehmen. Große Bereiche der Polizeiausbildung und der Aufbau lokaler Polizeistrukturen liegen allerdings bei Vertretern deutscher Landespolizeien, die, geleitet und koordiniert durch das Bundesministerium des Inneren, und als Teil der Polizeimission der Europäischen Union (EUPol) ebenfalls in Afghanistan präsent sind. Dies zeigt, auch gemeinsame Planung und ein enges Zusammenwirken zwischen Bundeswehr und Polizei, sowohl in den Ministerien als auch im Einsatzland, ist für den gemein­ samen Erfolg unerlässlich. Eine Maxime bei Auslandseinsätzen lautet, einen militärischen Einsatz in Dauer, Quantität und Qualität nur so lange durchführen, wie er zur Erreichung unserer übergeordneten politischen Ziele unabdingbar ist. Kein Soldat drängt darauf, länger als unbedingt notwendig Leib und Leben im Auftrag seiner Regierung zu riskieren. Dies gilt bis in die höchsten vorgesetzten Ebenen, wo die Fürsorgepflicht sehr ernst genommen wird und jeder Verlust an Leib und Leben tiefe Betroffenheit auslöst. Daraus leitet sich der Anspruch ab, so umsichtig und umfassend wie nur irgend möglich jede Etappe eines Auslandseinsatzes zu planen und vorzubereiten. Teilweise stoßen die Planungen an Grenzen, wenn die Realitäten des Einsatzes im Gastland in anderen Kulturkreisen anderer Weltregionen sich anders entwickeln, als unsere eigenen Annahmen es vermuten ließen. Aber im Grundsatz bleibt die Vernetzung als Ausdruck gemeinsamer Verantwortung für Planung und Durchführung das zentrale gemeinsame Anliegen.

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Immer wieder wird bei einer Einsatzplanung Neuland betreten, auch was die Vorbereitung im Ressortkreis anbelangt. Zum ersten Mal seit 200 Jahren direkt mit Piraterie konfrontiert, mussten in Europa und im beteiligten Deutschland für die EUMission Atalanta Antworten auf eine Vielzahl ungelöster Fragen gefunden werden. Wie sollte man einer asymmetrischen Bedrohung durch organisierte kriminelle Banden auf hoher See im Indischen Ozean begegnen, wo es hierfür noch keine Erfahrungsgrundlagen gab? Die Bundesregierung, vor allem Auswärtiges Amt, Verteidigungs-, Innen- und Justizministerium mussten wochenlang tüfteln, um Einsatzregeln für die deutsche Marine zu formulieren, die rechtsstaatliche Grundsätze und effektives Handeln im Bündnisrahmen gegenüber Piraten ermöglichten. Wenige Außenstehende machen sich einen Begriff davon, wie eng das Gefüge der Mandatsvorschriften ist, innerhalb dessen Kommandanten deutscher Marineeinheiten operieren müssen. Im konkreten Augenblick des Einsatzes gegen Piraten müssen sie einen ganzen Aktenordner an Regeln beherrschen, um rechtssicher agieren zu können. Im Falle eines „in-flagranti“-Angriffs mutmaßlicher Piraten greift ein komplexer Mechanismus an EU- und nationalen Regeln, die umfangreiche Abstimmungen zwischen den genannten Ministerien und der Justiz auslösen können. Angesichts desolater staatlicher Strukturen und fehlender Rechtsstaatlichkeit in Somalia baut die EU und andere internationale Akteure im Sinne einer vernetzten Sicherheitspolitik flankierende Maßnahmen in der Region auf, so im Bereich eigenständiger Kapazitäten des Küstenschutzes oder Strafvollzugswesens. Dabei wird allen ein langer Atem abverlangt, denn die Herausforderung Piraterie ist letztlich nur in kontinuierlicher Stärkung regionaler Stabilität sowie eigener lokaler und regionaler Sicherheitsstrukturen zu bewältigen. Die vernetzte Sicherheit ist kein Konzept für Interventionen. Es ist eine kontinuierlich anzuwendende Methode, um Sicherheitsrisiken für unser Land vorzubeugen oder sie abzuwehren, wenn sie uns auch von fern der Heimat bedrohen. Ein Handeln in den Kategorien vernetzter Sicherheit ist deshalb auch fortzusetzen, wenn die unmittelbaren militärischen Aufgaben abneh-



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men, wie dies bei den mitunter fast in Vergessenheit geratenen Balkaneinsätzen der Fall ist. Sowohl in Bosnien-Herzegowina wie auch im Kosovo hat die militärische Komponente ihren Zweck so gut wie erfüllt. Fast unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit, ist das Ziel des sicheren und stabilen Umfelds aus militärischer Sicht erreicht. Schon seit langem haben internationale Organisationen und nicht zuletzt die Staaten selbst Funktionen übernommen, die ehedem von dem Soldaten der Eufor und KFOR wahrgenommen wurden. Deren Aufgabe ist es nun, die Nachhaltigkeit des wiedergewonnenen Friedens auf dem Balkan sicherzustellen. Interessanterweise wird gerade von den zivilen Helfern immer wieder laut über einen Verbleib der internationalen Truppen nachgedacht, während die militärischen Planer nach Erfüllung ihres Kernauftrags zum Abzug drängen. Kaum ein Soldat und erst recht kein militärischer Führer hat ein Interesse daran, länger als militärisch notwendig im Ausland stationiert zu bleiben. Für die Bundeswehrführung und das Verteidigungsministerium drängt zusätzlich der immense Kostenund Ressourcenaufwand, der mit allen Missionen verbunden ist. In der Gesamtschau zeigt sich: Vernetzte Sicherheit ist nicht allein die gebotene Strategie, mit der Deutschland seine eigenen Sicherheitsinteressen wahrt und möglichen Konflikten und Bedrohungen frühzeitig vorzubeugen sucht. Sondern sie ist auch das richtige und einzig gebotene Konzept für die Wiederherstellung von Stabilität, Sicherheit und funktionierenden Regierungsund Wirtschaftsstrukturen im Einsatzgebiet. Dies gilt es weiter zu trainieren und in Hinsicht auf eine noch professionellere, sachgerechtere und pragmatischere Zusammenarbeit zwischen allen Ministerien und weiteren Akteuren fortzuentwickeln. Ein Streit zwischen Experten der Ministerien, wessen Handeln normativ besser sei, ist nicht fruchtbar. Entscheidend ist, dass alle Beteiligten zielgerichtet daran arbeiten, dass Deutschland seine Aufgaben bestmöglichst und mit der gebotenen Nachhaltigkeit für das Einsatzgebiet bewältigen kann.

Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die CDU / CSU Von Andreas Schockenhoff Entscheidungen über Auslandseinsätze sind niemals Routine. Dies ist meine Erfahrung zu einem Zeitpunkt, da die Abgeordneten des Deutschen Bundestages annähernd neunzig Mal über die Entsendung von Bundeswehrsoldaten entschieden haben. Die Parlamentsbeteiligung wurde notwendig, nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12.  Juli 1994 festgestellt hat, dass das Grundgesetz die Bundesregierung verpflichte, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die konstitutive Zustimmung des Bundestages einzuholen. Seitdem können nur Bundesregierung und Bundestag zusammen über den Einsatz von Bundeswehrsoldaten bestimmen; dafür stellt die Bundesregierung einen Antrag an das Parlament. Für die Mandatierung ist eine einfache Mehrheit ausreichend, wünschenswert jedoch ist eine möglichst breite Zustimmung, die auch in den meisten Fällen gewonnen wurde. Dies ist nicht selbstverständlich, denn kein Auslandseinsatz gleicht dem andern. Ein jeder hat seine eigene Begründung und seine spezifischen Ziele: Bei der Antiterror-Operation Enduring Freedom (OEF) ging es in einem Einsatzraum, der ursprünglich Teile des Mittelmeerraums, der Arabischen Halbinsel und Afghanistan umfaßte, um die Vorbeugung weiterer Anschläge durch die aktive Bekämpfung, Abschreckung und Beobachtung terroristischer Gruppen. Mit dem Isaf-Einsatz unterstützt die Bundeswehr die afghanische Regierung im Kampf gegen die Taliban und andere Aufständische mit dem Ziel, das Land nachhaltig zu stabilisieren. Die EU-geführte Anti-Piraten-Operation Atalanta schützt die Seewege vor der Küste Somalias. Und als Teil der Mission Essential Harvest in Mazedonien konnte die

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Bundeswehr im Herbst 2001 eine Eskalation des ethnischen Konfliktes zwischen albanischer und slawischer Bevölkerung vermeiden helfen, indem nach Vermittlung von Nato und EU freiwillig abgegebene Waffen albanischer Milizen eingesammelt und zerstört wurden. Würde man diese Liste um die übrigen Einsätze ergänzen, würden weitere spezifische Aufgaben für unsere Soldaten erkennbar. Aufgrund dieser sehr unterschiedlichen Anforderungsprofile für die Bundeswehr besteht am Beginn jedes Einsatzes oder bei der Verlängerung laufender Operationen ein erheblicher Informationsbedarf. Das Parlament muss sich umfassend über die politischen, völkerrechtlichen und militärischen Rahmenbedingungen informieren und beraten. Lange bevor der Bundestag endgültig entscheidet, diskutieren deshalb die Fachpolitiker der Fraktionen mit Vertretern der Regierung und der Ministerien und mit Experten aus der Wissenschaft über die Notwendigkeit und die Erfolgsaussichten eines militärischen Engagements. Diese Komplexität wird durch die hohe Frequenz parlamentarischer Entscheidungen noch verstärkt. In Hochzeiten, wie zwischen dem 16.  Oktober 1998 und dem 11.  Juni 1999, musste der Bundestag innerhalb von acht Monaten allein mit Blick auf den Kosovo über fünf verschiedene Einsätze entscheiden – von den Luftangriffen gegen das heutige Serbien bis hin zur Kosovo-Stabilisierungsmission KFOR. Diese Beispiele zeigen, mit welch unterschiedlichen und schwierigen Fragen sich jeder einzelne Abgeordnete befassen muss, um eine Entscheidung treffen zu können, die er vor seinem Gewissen, vor den Soldaten, Polizisten, Entwicklungshelfern und Diplomaten, die ins Einsatzgebiet entsendet werden und ihr Leben riskieren, und vor seinen Wählern verantworten kann. Für meine eigene Entscheidung lege ich folgende Kriterien zu Grunde: 1. Unsere deutschen Interessen, 2. den Rechtsrahmen, 3. ob ein militärischer Einsatz alternativlos ist und 4.  welchen Beitrag der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen eines zivil-militärischen Ansatzes überhaupt leisten kann. Am Anfang einer parlamentarischen Befassung steht die Frage: Welches ist das gravierende deutsche Interesse, einem An-



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trag der Bundesregierung für die Entsendung deutscher Soldaten in einen – möglicherweise sehr gefährlichen – Einsatz zuzustimmen? Allgemein gesagt ist es unser Interesse, den Gefahren für Sicherheit und Freiheit unseres Landes bereits dort zu begegnen, wo sie entstehen. Es wäre unklug, wenn sich Deutschland erst dann verteidigte, wenn uns die Gefahren mit ihrer vollen Wucht in der Heimat überwältigen. Über „deutsche Interessen“ zu sprechen, galt lange Zeit als Tabu, obwohl jede Bundesregierung sehr wohl deutsche Interessen konsequent verfolgt hat. Erst in jüngerer Zeit wird diese Diskussion offener und sachlicher geführt, und das ist notwendig. Denn nicht jeder Militäreinsatz lässt sich für jedermann nachvollziehbar mit der Notwendigkeit der Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung für die Sicherheit der Bürger Deutschlands begründen, wie dies beim Anti-Terroreinsatz OEF und beim Isaf-Einsatz in Afghanistan möglich ist. Die Terrorangriffe von New York, Washington, Madrid und London hatten ihren Ursprung in den Ausbildungslagern von Al-Qaida und den Taliban in Afghanistan. Einige der dort ausgebildeten Terroristen haben inzwischen auch in Deutschland verheerende Anschläge geplant, wie es der Fall der Sauerland-Gruppe gezeigt hat, und sie planen weitere. Auch ist die Notwendigkeit eines Auslandseinsatzes nicht immer so offensichtlich wie im Fall von Bosnien und Kosovo, wo vor unserer Haustür Völkermord beziehungsweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden und Hunderttausende von Bosniern und Kosovo-Albanern nach Deutschland flüchteten, um ihr Leben zu retten. Ihnen wieder die Rückkehr in eine sichere Heimat zu ermöglichen, die Lage dort zu stabilisieren und auf dieser Grundlage den Aufbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen, wirtschaftliche Entwicklung und eine Aussöhnung zwischen den Ethnien zu ermöglichen, damit künftig ein solcher Konflikt vermieden werden kann – das war und ist das Interesse an den verschiedenen Bundeswehr-Einsätzen auf dem westlichen Balkan. Denn eine erneute Destabilisierung der Region würde erhebliche Auswirkungen für die Sicherheit Deutschlands haben.

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Deutsches Interesse ist es auch, als ein großes und wichtiges Mitglied der Vereinten Nationen die Fähigkeiten der Uno und ihrer regionalen Organisationen zur Krisenbewältigung zu stärken. Dem dienten verschiedene Missionen in Afrika. So hatten die Bundeswehr und ihre EU-Partner bei ihrem Einsatz im Sommer 2006 in der Demokratischen Republik Kongo die Aufgabe, in Unterstützung der VN-Friedenstruppen bei den ersten freien Wahlen für ein sicheres Umfeld zu sorgen. Erfolgreiche Wahlen wurden als Voraussetzung für eine weitere Stabilisierung des Landes angesehen. Das deutsche Interesse an der Mission lag über die Unterstützung der VN hinaus in der Bedeutung eines stabilen Kongo. Das Land ist wegen seiner Größe einer der zentralen Staaten Afrikas, seine Entwicklung beeinflusst die zahlreichen unmittelbaren Nachbarn und strahlt weit ins südliche Afrika aus. Innere Stabilität ist zudem Voraussetzung dafür, dass der Kongo nicht zu einem Rückzugsgebiet für transnational agierende terroristische Gruppen und Kriminelle und damit eine Gefahr für Deutschland wird. Es ist zu befürchten, dass sich – auch als Folge des Klimawandels – die Konflikte in Afrika um die Verteilung von Wasser, Land, Nahrung und die Bewältigung von Flüchtlings- und Migrationsströmen erheblich ausweiten werden, mit Folgen, die sich bis nach Deutschland auswirken können. Deshalb liegt es in unserem Interesse, dass Regionalorganisationen wie die Afrikanische Union in die Lage versetzt werden, im Sinne der „Ownership“ selbst Krisenbewältigung und Friedensmissionen erfolgreich durchführen zu können: „Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“. Dafür ist noch viel – auch militärische – Unterstützung nötig. Das bedeutet allerdings keinesfalls, dass sich Europa zwangsläufig in jedem Konflikt in Afrika engagieren muss; es wird eher mehr Fälle geben, bei denen zu Recht ein europäisches Engagement verneint wird, weil europäische Interessen nicht wesentlich berührt sind. Schließlich gibt es für Auslandseinsätze auch wirtschaftliche und Versorgungsinteressen. Die Beteiligung der Bundesmarine am EU-geführten Atalanta-Einsatz gegen die Piraterie vor der Küste Somalias ist ein Beispiel. Auch die Sicherung der Ener-



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gieversorgung kann, so hat es meine Fraktion in ihrer „Sicherheitsstrategie für Deutschland“ vom Mai 2008 formuliert, den Einsatz militärischer Mittel notwendig machen zur Sicherung von anfälligen Seehandelswegen oder von Infrastruktur wie Häfen, Pipelines, Förderanlagen. Dem internationalen Einsatz militärischer Gewalt sind im Völkerrecht zurecht enge Grenzen gesetzt. Das deutsche Selbstverständnis sowie von uns unterzeichnete internationale Abkommen verlangen zudem, dass wir uns an dieses Recht halten. Für jeden Auslandseinsatz sollte deswegen nach Möglichkeit vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein Mandat erteilt werden. Ein solches macht deutlich, dass die Völkergemeinschaft diesen Militäreinsatz zur Wahrung oder Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit für zwingend erforderlich hält. Fast allen Bundeswehr-Einsätzen lag oder liegt ein solches Mandat zu Grunde. Dieses muss klar formuliert sein – insbesondere hinsichtlich der militärischen Ziele und einheitlicher Kommandostrukturen. Das ist eine wichtige Lehre aus dem verfehlten Einsatz unter Führung der Vereinten Nationen (VN) in Somalia 1993 (UNOSOM): Parallel zum VN-Kommando gab es ein eigenes Kommando der USA, woraus sich eine Vielfalt der Befehlsstränge ergab, die schließlich zum Scheitern der Friedensmission beitrug. Auch waren die Vereinten Nationen seinerzeit überfordert, eine solche Operation zu leiten. Konsequenterweise müssen Bundeswehreinsätze unter einem Nato- oder EU-Kommando erfolgen, außer sie sind von geringer Intensität und Tragweite. Es gibt aber auch die Notwendigkeit, Auslandseinsätze ohne VN-Mandat durchzuführen. Der Lufteinsatz im Kosovo-Krieg Ende 1998 war ein Beispiel. Da sich der Sicherheitsrat nicht auf ein Mandat einigen konnte, die Verbrechen des MiloševićRegimes gegen die Menschlichkeit aber weiter zunahmen und gehandelt werden musste, waren die Ziele und Grundsätze der VNCharta die Berufungsgrundlage. Ein weiteres Beispiel war der Anti-Terrorismus-Einsatz im Rahmen der Operation Enduring Freedom, der nach den Terrorangriffen vom 11. September 2001 auf den Bündnispartner USA auf der Grundlage von Artikel 51

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der VN-Charta erfolgte; dieser Artikel gibt das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung mit militärischen Mitteln auch ohne VN-Mandat. Für die Zukunft ist nicht völlig auszuschließen, dass erneut in einer vergleichbaren Situation ein Bundeswehr-Einsatz ohne VN-Mandat notwendig werden könnte. Deutsches Interesse und die rechtliche Legitimität allein sind noch keine ausreichende Begründung dafür, Soldaten in einen Einsatz zu entsenden und sie Gefahren für Leib und Leben auszusetzen. Deswegen spielt die Analyse eine große Rolle, ob alle nicht-militärischen Maßnahmen zur Konfliktbewältigung (z. B. Vermittlung, Schiedsspruch, Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs, gewaltlose Zwangsmaßnahmen wie Wirtschaftssanktionen oder geheimdienstliche Mittel) als offenkundig aussichtslos erscheinen oder sich bereits erwiesen haben. Ein Bundeswehr-Einsatz kann immer nur Ultima Ratio sein. Die dann als notwendig erachteten militärischen Maßnahmen müssen begründet Aussicht haben, militärische Gewaltanwendung entweder wirksam zu verhindern oder nach ihrem Ausbruch schnellstmöglich zu beenden. Wie schwierig eine solche Abschätzung ist, zeigt beispielhaft der Afghanistan-Einsatz, weshalb jedes Mandat regelmäßig überprüft, eventuell angepasst und dabei erforderlichenfalls – wie 2010 für den Isaf-Einsatz geschehen – ein Strategiewechsel vorgenommen werden muss. So wünschenswert es ist, ein festes Datum für ein Ende des Einsatzes zu haben, wird das bei den meisten Missionen nicht möglich sein, außer sie sind auf Grund begrenzter Aufträge (z. B. Waffeneinsammeln in Mazedonien, Stabilisierung während des Wahlprozesses im Kongo) zeitlich fest zu umreißen. Wenn wir heute das Ziel der afghanischen Regierung unterstützen, bis 2014 schrittweise die Verantwortung für die Sicherheit zu übernehmen, dann ist dies kein endgültiges Abzugsdatum. Die internationale Gemeinschaft strebt eine Übergabe in Verantwortung bis zu diesem Datum an durch die verstärkte Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte, das gezieltere Vorgehen gegen die Taliban, mit einer besseren Koordinierung und Schwerpunktsetzung beim Wiederaufbau. Als Folge davon wird nach Möglichkeit 2011 mit einem Abzug begonnen werden können. Aber Übergabe in Ver-



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antwortung heißt, dass der Isaf-Einsatz beendet werden kann, wenn die Lage in Afghanistan so sicher ist, dass von dort keine Gefährdung mehr für unser Land ausgeht. Weitere, besonders wichtige Maßstäbe für meine Entscheidung über Auslandseinsätze sind, was kann die Bundeswehr von ihren Kapazitäten und Fähigkeiten her leisten, wie können die Risiken des Einsatzes für unsere Soldaten begrenzt werden, sind Ausbildung und Ausrüstung optimal und die Einsatzregeln so gestaltet, dass die Soldaten ihren Auftrag effizient und erforderlichenfalls robust durchführen können. Hier sind wir Abgeordneten auf den Sachverstand der militärischen Führung angewiesen. Wir müssen vor der Erteilung eines Mandats und fortlaufend während des Einsatzes ihre Konzepte und Empfehlungen kritisch hinterfragen, Ungereimtheiten aufklären lassen; und wir können uns durch Besuche im Einsatzgebiet ein eigenes Bild über die Lage machen und damit Kontrolle ausüben sowie auf dieser Grundlage unsere Bewertung des Mandats und des Einsatzes vornehmen. Wir Abgeordneten sind keine Feldherren, die Verantwortung für die militärischen Fragen trägt allein die militärische Führung und politisch der Bundesminister der Verteidigung. Ein militärischer Einsatz ist ebenfalls nicht zu verantworten, wenn nicht eine ausreichend durchdachte Vorstellung für einen vernetzten Ansatz der Krisenbewältigung vorliegt. Dieser muss neben den militärischen Maßnahmen vorrangig zivile, also poli­ tische, diplomatische, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Mittel einschließen. In Afghanistan ist Deutschland in seinem Verantwortungsbereich dafür mit den so genannten Regionalen Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams, PRT) beispielhaft vorangegangen. Inzwischen wird dieser Ansatz von der Nato und ihren Mitgliedstaaten weitestgehend akzeptiert. Die Lehre aus den bisherigen Operationen lautet: Von Beginn an muss soweit wie möglich eine ressortübergreifende Konfliktbewältigung sichergestellt sein. Zudem müssen andere relevante Organisationen – insbesondere die EU mit ihrem umfassenden zivilen Instrumentarium – frühestmöglich einbezogen werden. Schon aus Ressourcengründen ist größtmögliche Komplementarität und Arbeitsteilung mit anderen internationalen Akteuren geboten.

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Zu jedem dieser Punkte muss es überzeugende Antworten geben, damit ich einem Antrag der Bundesregierung zustimmen kann. Dazu gehört auch, dass der Antrag präzise formuliert sein muss. Dies war in den ersten Jahren der rot-grünen Bundesregierung wiederholt nicht der Fall, sodass Nachbesserungen mit Hilfe von Protokollnotizen erforderlich wurden. Da ein von der Regierung eingebrachter Antrag vom Parlament nicht verändert, sondern nur angenommen oder abgelehnt werden kann, musste Außenminister Fischer die Nachbesserungen durch Erklärungen vornehmen, die er in den Beratungen des Auswärtigen Ausschusses zu Protokoll gab. So waren beim ersten OEF-Mandat auf Verlangen meiner Fraktion Präzisierungen zu fünf der zehn Mandatsziffern erforderlich1. Zum Isaf-Mandat musste der Außenminister 2003 die wichtige Klarstellung nachliefern, dass die Drogenbekämpfung nicht im Mandat enthalten ist.2 Und schon im Juni 2000 hatte die CDU / CSU durch eine Protokollnotiz erreicht, dass der Bundestag sich auf Antrag einer Fraktion alle zwölf Monate mit dem Kosovo-Einsatz befassen kann. Die rotgrüne Bundesregierung wollte hingegen mit einer unbefristeten Mandatierung vermeiden, sich jedes Jahr erneut in Nament­ licher Abstimmung zu diesem Friedenseinsatz bekennen zu müssen. Der Union ging es dagegen um die Wahrung der Rechte des Bundestages: durch eine jährliche Befassung ist die Balance zwischen den Rechten des Parlaments zur Mandatserteilung und den Rechten der Regierung hinsichtlich seiner Ausführung besser gewahrt, als wenn der Bundestag nur ein einziges Mal über ein unbefristetes Mandat befindet. Tatsächlich hat sich der Bundestag jährlich konstitutiv mit dem KFOR-Einsatz befasst und dabei zugleich über die politische Lage auf dem Westlichen Balkan debattiert. Schon als Lehre aus dieser ersten Protokollnotiz und um peinliche Nachbesserungen zu vermeiden, wäre die damalige Bundesregierung gut beraten gewesen, ihrer Bringschuld gerecht zu werden und noch vor einem Kabinettsbeschluss die führenden Außenpolitiker des Bundestages zu konsultieren. 1  Bundestagsdrucksache 2  Bundestagsdrucksache

14 / 7447. 15 / 1806.



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Immer wichtiger wird die Aufgabe, die Notwendigkeit von Auslandseinsätzen zu vermitteln. Dies gilt insbesondere für Einsätze mit hoher Intensität und bei denen Fortschritte nur schwer erkennbar sind, was schnell zu falschen Behauptungen wie „Nichts ist gut in Afghanistan“ (Bischöfin Käßmann) führt. Mit Blick beispielsweise auf den Afghanistan-Einsatz erfordert das, eine fundierte Information für einen überzeugenden Dialog mit dem Bürger zur Verfügung zu stellen, eine möglichst geschlossene Position meiner Fraktion zum Afghanistan-Einsatz zu erreichen und dafür die Meinungsbildung innerhalb der Fraktion zu prägen sowie gegenüber der Bundesregierung kontinuierlich die Umsetzung der Strategie der „Übergabe in Verantwortung“ anhand von konkreten Zielvorgaben zu überprüfen und so mitzugestalten, dass möglichst bald die Grundlagen für den Beginn eines Abzugs der Streitkräfte geschaffen sind. Dafür wurde unter meiner Leitung ein aus rund zwanzig mit Afghanistan befassten Fachkollegen aus der CDU / CSU-Fraktion zusammengesetzter Afghanistan-Arbeitskreis gebildet, der mindestens einmal pro Monat berät. Auf diese Weise können wir die Afghanistanpolitik der Bundesregierung über die Arbeit in den Arbeitsgruppen und Ausschüssen hinaus vertiefend und kritischkonstruktiv begleiten. Zugleich soll mit meiner Informationsschrift „Einsatz in Afghanistan – Fragen und Antworten“, die viermal im Jahr aktualisiert wird, den Abgeordneten meiner Fraktion eine eigene Informations- und Argumentationsgrundlage geboten werden. Die Vielfältigkeit und Komplexität der Einsätze und die enorme Verantwortung für unser Land und für Seele, Leib und Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, die mit ihr einhergeht, sind eine große Herausforderung für die Abgeordneten aller Fraktionen. Wir Politiker wissen, eine einfache Ablehnung nach dem Motto „Nichts ist gut in Afghanistan“ wäre ebenso unverantwortlich wie ein bedenkenloses Abnicken von Einsatzbeschlüssen, die uns eine Regierung vorlegt. Wir Abgeordneten sind die gewählten Repräsentanten des Volkes. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Beides verpflichtet.

Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die SPD Von Niels Annen Der Gemeindesaal der Christuskirche in Hamburg-Eimsbüttel war gut gefüllt. In der ersten Reihe saßen, für alle durch die Uniform deutlich sichtbar, Angehörige der Bundeswehr. Nach dem Ende meines Vortrags über die deutsche Afghanistan-Politik und einer Reihe von Wortbeiträgen aus dem Publikum meldete sich ein Soldat zu Wort und beklagte die mangelnde Ausstattung der Truppe mit gepanzerten Mannschaftsfahrzeugen. Ein Kamerad ergänzte, dass die Bundeswehr nicht ausreichend auf die Behandlung von traumatisierten Soldaten vorbereitet sei. In den vier Jahren meiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag – ich vertrat die SPD im Auswärtigen Ausschuss – gehörten solche Debatten zu meinem Arbeitsalltag. Auf den vielen Veranstaltungen, die ich zum Thema Afghanistan in meinem Wahlkreis in Hamburg, aber darüber hinaus auch in einigen anderen Teilen Deutschlands abgehalten habe, wurden fast immer fundamentale Fragen der Politik angesprochen. Ist es verantwortbar, junge Menschen, Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, Polizeibeamte, Diplomaten und Entwicklungshelfer in eine Region zu entsenden, in der sie ihren Dienst möglicherweise mit dem Leben bezahlen müssen? Heute bin ich nicht mehr Mitglied des Bundestages. Rückblickend kann ich jedoch sagen, für mich waren diese Diskussionen mit meinen Wählerinnen und Wählern der wichtigste Teil meiner Arbeit als Außenpolitiker. Das Thema Afghanistan hat mich von Beginn meines bundespolitischen Engagements an begleitet. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder nach den Terroranschlägen in New York und Washington die Beteiligung Deutschlands am Krieg gegen die

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Taliban verkündete, war ich Bundesvorsitzender der Jusos. Für die SPD insgesamt, aber besonders für die Jusos waren dies schwierige Wochen, denn es blieb der Partei keine Zeit, um die neue Politik ihres Kanzlers zu diskutieren. Nachdem sich die kritischen Stimmen innerhalb der SPD häuften, verknüpfte der Bundeskanzler die Abstimmung im Bundestag mit der Vertrauensfrage, was zu der paradoxen Situation führte, dass die Abgeordneten aus der Opposition, die mehrheitlich für den Einsatz waren, aus innenpolitischen Gründen mit „Nein“ stimmten, während eine beträchtliche Zahl der zustimmenden Sozialdemokraten eigentlich gegen den Krieg waren, aber die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder nicht gefährden wollten. Für mich persönlich war die Auseinandersetzung mit Afghanistan auch deswegen von besonderer Brisanz, weil ich politisch von einer Organisation, den Jusos, geprägt war, in der eine mehrheitlich antimilitaristische Einstellung vorherrschte; es gab außerdem einige erklärte Pazifisten. Als sich Deutschland am Krieg in Afghanistan beteiligte, verfolgten die Jusos entgegen den Erwartungen vieler eine differenzierte Politik. Als Vorsitzender habe ich damals zwar die Art der Kriegsführung und hier insbesondere den Einsatz von Streumunition kritisiert, den Einsatz in Afghanistan aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt – eine Haltung, die bis heute meiner Überzeugung entspricht. Als ich 2005 als Bundestagsneuling von meiner Partei in den Auswärtigen Ausschuss entsandt wurde, hatte ich mich dann erneut mit dem Thema Afghanistan zu befassen. Die Tatsache, dass ich mich vor Ort über die Situation der Bundeswehr intensiv informiert habe, wurde bei den vielen Diskussionen in meinem Wahlkreis und mit den Mitgliedern meiner Partei zu einem wichtigen Faktor der Glaubwürdigkeit. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Dieser Satz, meist mit einem gewissen Stolz vorgetragen, findet sich so oder in leichter Abwandlung in vielen Politiker-Reden. Doch was bedeutet Parlamentsarmee konkret? Zugegeben: auch nach vier Jahren Zugehörigkeit zum Auswärtigen Ausschuss, dem in Fragen von Auslandseinsätzen federführenden Ausschuss, fällt es mir schwer, diese Frage zu beantworten.



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Dass in Deutschland das Parlament bei Bundeswehreinsätzen das letzte Wort hat, ist in Europa eine Ausnahme. Die Grundlage für die heute geltende Rechtslage findet sich in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Bundesregierung verpflichtet, vor einer Entscheidung über den Einsatz von „bewaffneten deutschen Streitkräften“ die konstitutive Zustimmung des Parlaments einzuholen. Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Gesetzgebungsverfahren, in denen die Abgeordneten nach Debatten in den Ausschüssen und Expertenanhörungen Vorlagen abändern können, bevor sie dem Plenum zur Abstimmung vorgelegt werden, kann der Bundestag einen Beschluss des Bundeskabinetts zur Entsendung von Bundeswehrsoldaten nicht mehr verändern, sondern lediglich einem Einsatz zustimmen oder einen solchen ablehnen. An der Bezeichnung Parlamentsarmee ist also formal nichts auszusetzen, angesichts der parlamentarischen Praxis ist sie jedoch irreführend, denn die Initiative liegt allein bei der Regierung. Der Bundestag könnte demnach auch nicht – selbst wenn das vermutlich eine rein hypothetische Vorstellung ist – von sich aus eine militärische Operation beschließen. Das bedeutet konkret, dass die Details der Truppenverwendung und die politische und rechtliche Begründung eines Einsatzes nicht von den Parlamentariern, sondern von der jeweiligen Bundesregierung formuliert werden. Meiner Erfahrung nach ist der Einfluss des Parlaments in den Wochen am größten, in denen die Regierung über die Formulierung ihres Antrags berät und abschätzen muss, ob ihr Ansinnen im Parlament eine Mehrheit findet. In diesem Zeitfenster kann ein selbstbewusstes Parlament Einfluss auf die Formulierung eines Mandates für die Bundeswehr nehmen und so die Rahmenbedingungen für einen Einsatz maßgeblich mitbestimmen. Das gilt natürlich in erster Linie für die Koalitionsparteien, die die jeweilige Bundesregierung tragen. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass auch die Opposition durchaus ihren Einfluss geltend machen kann, was nicht zuletzt auch damit zusammenhängt, dass bisher jede Bundesregierung großen Wert auf eine breite Unterstützung für die Einsätze der Armee gelegt hat. Informelle Konsultationen

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mit dem Parlament sind für die Bundesregierung ein unerlässliches Instrument, um einen Antrag formulieren zu können, der im Parlament nicht auf Ablehnung stößt. Indes, verpflichtet ist sie nur zur Beratung mit dem zuständigen Ausschuss, nachdem das Kabinett dem Bundestag seinen Antrag bereits zugeleitet hat. Es wäre daher durchaus eine Überlegung wert, ob man nicht das Parlamentsbeteiligungsgesetz dahin gehend verändern sollte, dass die bisher informell stattfindenden Diskussionen durch eine Art erste und zweite Lesung im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages formalisiert werden könnten. Die endgültige Formulierung des Mandatstextes würde, auch um den Anforderungen des Verfassungsgerichtes zu entsprechen, bei der Bundesregierung verbleiben, aber die Mitglieder des Parlaments wären besser eingebunden. Die vielleicht wichtigste Voraussetzung, um als Abgeordneter seine Arbeit effektiv verrichten zu können, ist der umfassende Zugang zu Informationen. Der Skandal um die von WikiLeaks veröffentlichten Berichte aus Afghanistan hat einmal mehr aufgezeigt wie schwer es ist, an Informationen zu gelangen. In diesem Sinne kommt auch das Prinzip der Parlamentsarmee rasch an seine Grenzen. Abgeordnete aus allen Parteien haben sich wiederholt über die unzureichende Informationspolitik der Regierung beklagt. Mein eigener Versuch, mich vom Bundesministerium der Verteidigung über den damals noch laufenden Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Antiterrorismus Operation Eduring Freedom (OEF) unterrichten zu lassen, stieß dort auf taube Ohren, die Beantwortung meiner Anfragen wurde verzögert und unterblieb schließlich in Gänze. Die unregelmäßigen Unterrichtungen des Ausschusses durch den Bundesnachrichtendienst (BND) oder zuständige Offiziere der Bundeswehr endeten selten mit einem höheren Kenntnisstand als sie eine Google-Recherche zutage gefördert hätte. Natürlich ist es nicht die Aufgabe von Abgeordneten, sich gewissermaßen selbst auf den Feldherrenhügel zu stellen und operative Entscheidungen zu treffen. Dafür verfügen die meisten Abgeordneten weder über die ausreichenden Kenntnisse noch würde dies der Rolle des Parlamentes entsprechen. Aber



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wenn sich die Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses über die Einsatzregeln eines von ihnen selbst beschlossenen Einsatzes nur in der Geheimschutzstelle des Bundestages informieren können und ihnen Informationen vorenthalten werden, ist dies problematisch. Sicher, die Weitergabe von sensiblen Informationen aus Krisengebieten ist immer mit dem Risiko der Weiterverbreitung verbunden, gerade wenn das Leben von Soldaten dadurch in Gefahr geraten kann. Aber das exzessive Geheimstempeln von Dokumenten schürt das Misstrauen zwischen Regierung und Parlament. Es sollte einem zu denken geben, dass manche Informationen über den Einsatz der Bundeswehr leichter über Kollegen aus anderen Parlamenten zu erhalten sind als über die eigene Regierung, zumal die Wählerinnen und Wähler von ihren Abgeordneten zu Recht erwarten, kompetent Auskunft über Einsätze der Bundeswehr zu bekommen. Da man also als Abgeordneter nur begrenzten Zugriff auf die Informationen hat, ist man gut beraten, sich seine eigenen Quellen zu erschließen. So habe ich während meiner Mitgliedschaft im Bundestag stets Wert darauf gelegt, mich über die Lage in den deutschen Einsatzgebieten vor Ort zu informieren. Aus diesem Grund bin ich 2007 direkt nach dem Ende des Krieges zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon gewesen und habe dreimal Afghanistan besucht. Als ich 2006 zum ersten Mal nach Afghanistan flog, wurde ich am Flughafen von einem Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einem weißen Jeep in Empfang genommen. Auf der Kühlerhaube prangte ein Aufkleber mit der deutschen Fahne, und durch sein rotfarbenes Nummernschild war das Fahrzeug als Wagen einer zivilen Hilfsorganisation gekennzeichnet. Bei meinem zweiten Besuch wartete dasselbe Fahrzeug auf mich, aber von dem schwarz-rot-goldenen Aufkleber fehlte jede Spur. Es sei nicht mehr sonderlich ratsam, sich so offen als Ausländer zu erkennen zu geben, wurde mir erklärt. Als ich im Sommer 2009 zum bisher letzten Besuch in Afghanistan eintraf, wurde ich mit einem verbeulten blauen Toyota-Corolla abgeholt, der ein afghanisches Kennzeichen hatte, um im dichten Verkehr von Kabul möglichst wenig aufzufallen.

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Ich habe diese Anekdote häufig erzählt, wenn ich gefragt worden bin, wie es in Afghanistan vorangeht. Natürlich ist mir bewusst, dass die Situation differenzierter betrachtet werden muss und es in wichtigen Bereichen Fortschritte gab, aber im Kern lässt sich nicht bestreiten, dass sich die Lage am Hindukush in zentralen Bereichen verschlechtert hat. Für Abgeordnete, die sich über die Lage in Afghanistan informieren wollen, haben die zunehmenden Angriffe auf Isaf-Soldaten und Vertreter der internationalen Gemeinschaft vor allem zur Konsequenz gehabt, dass sie sich kaum noch frei im Land bewegen können, weil die Maßnahmen zu ihrem Schutz immer weiter ausgedehnt werden mussten. Viele Delegationen haben aus diesem Grund bei ihren Reisen meist nur das streng gesicherte Regierungsviertel in Kabul und die deutschen Feldlager im Norden zu Gesicht bekommen. Mir war es daher wichtig, einen möglichst umfassenden Eindruck von der Situation in Afghanistan zu bekommen. Zwei meiner drei Aufenthalte in Afghanistan wurden maßgeblich von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisiert, die bereits 2002 ein Büro in Kabul eröffnete. Der Verzicht auf die obligatorischen Sicherheitsvorkehrungen, die bei einem durch die Bundeswehr organisierten Besuch unerlässlich sind, ermöglichte mir direkte Eindrücke vom Leben in Kabul. Bedauerlicherweise stehen heute gerade solche Organisationen, die sich für mehr Demokratie, Menschen- und vor allem Frauenrechte einsetzen, besonders unter Druck. Nähe zu den Isaf-Truppen ist für viele Organisationen inzwischen zu einem ernsthaften Problem geworden. Umso wichtiger war es für mich, die Kontakte zu Organi­ sationen der Zivilgesellschaft, mit denen die Stiftung zusammenarbeitet, zu nutzen. Aus diesen Gesprächen habe ich viele konkrete Hinweise für meine parlamentarische Arbeit, zum Beispiel auf effiziente Verwendung von Hilfsgeldern, mitgenommen. Besonders erinnere ich mich an meine Zusammentreffen mit jungen Afghaninnen und Afghanen, die an einem young leaders-Programm der Friedrich-Ebert-Stiftung teilnahmen und mir von ihren Alltagsschwierigkeiten, der Korruption und den familiären Vorbehalten berichteten, mit denen insbesondere die jungen Frauen zu kämpfen hatten.



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Bei den Diskussionen in Deutschland habe ich häufig von diesen Begegnungen berichtet. Begegnungen, die mich in der Überzeugung bestärkt haben, dass ein überhasteter Abzug vom Hindukush diejenigen verraten würde, die sich im Vertrauen auf das Versprechen des Westens, für Stabilität zu sorgen, zum Teil unter höchsten Risken für Leib und Leben für ihr Land eingesetzt haben. Entgegen der landläufigen Meinung, die Politik beschäftige sich zu wenig mit der Lage in Afghanistan, habe ich, zumindest was meine Partei, die SPD, betrifft einen anderen Eindruck. Wir Sozialdemokraten, zum Beispiel, haben uns früh entschieden, das Thema Afghanistan innerhalb der Partei und in der Öffentlichkeit breit zu erörtern und haben sogar auf dem Hamburger Bundesparteitag an prominenter Stelle über die Lage am Hindukusch debattiert. Gerade wegen der meist kritischen Grundhaltung der SPD-Mitglieder und Anhänger, hat sich die Partei von Anfang des Einsatzes bis heute auf allen Ebenen intensiv mit der Afghanistan-Politik befasst. Das gilt auch für die Fraktion, die mit der so genannten „Afghanistan Task Force“ Experten aus verschiedenen Ausschüssen zusammenbrachte und regelmäßig Bericht erstattete. Ich bin überzeugt davon, dass es ohne diese (bis heute andauernde) Debatte und Berichterstattung der SPD nicht gelungen wäre, sich auf eine gemeinsame Linie zu verständigen. Die Tatsache, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist, führt dazu, dass sich auch die Abgeordneten mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr auseinandersetzen müssen, die sich in ihrem parlamentarischen Alltag normalerweise nicht mit Außenpolitik befassen. Mit Fragen wie der nach der Ausstattung der Bundeswehr, wie sie mir seinerzeit bei jener Veranstaltung in Eimsbüttel gestellt wurden, werden heute fast alle Mitglieder des Bundestages konfrontiert. Und nicht selten sind es Parlamentarier, die eine Politik in der Öffentlichkeit vertreten müssen, auf die sie in der Praxis weit weniger Einfluss ausüben können, als es die Öffentlichkeit unterstellt. Diese Diskrepanz ist den Betroffenen in der Regel wohl bewusst, und sie prägt daher auch die Arbeit in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages.

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Trotz der Mängel in der Ausgestaltung der parlamentarischen Kontrolle von Auslandseinsätzen der Bundeswehr sollte hier kein falscher Eindruck entstehen. Das Prinzip der Parlamentsarmee sollte gestärkt werden, schon allein weil es dazu führt, dass die Öffentlichkeit durch ihre parlamentarischen Vertreterinnen und Vertreter an der Entscheidung, die Bundeswehr im Ausland einzusetzen, beteiligt wird. Um diese Kontrolle wirkungsvoll ausüben zu können, bedarf es eines größeren Selbstbewusstseins des Parlaments. Die Beteiligung des Deutschen Bundestages, aber auch die in der Bundeswehr verankerten Prinzipien des Staatsbürgers in Uniform und der Inneren Führung haben sich unter schwierigsten Bedingungen bewährt. Die Tatsache, dass sich Deutschland mit dem Einsatz am Hindukusch, aber auch mit anderen Auslandseinsätzen der Bundeswehr schwer getan hat und weiterhin schwer tut, ist im Ausland zunächst belächelt und später verstärkt kritisiert worden. Es ist nicht zu leugnen, dass aufgrund der Kultur der Zurückhaltung insbesondere in Afghanistan auch eine Reihe von Fehlern gemacht worden sind. So hat die Selbstbeschränkung bei Kampfeinsätzen nicht nur zu Irritationen bei den Verbündeten geführt, sondern sicher auch zur Zuspitzung der Sicherheitslage in Kundus beigetragen. Es wird eine der Herausforderungen für die Bundeswehr und das für ihre Einsätze verantwortliche Parlament sein, eine Einsatzphilosophie zu entwickeln, die den Soldatinnen und Soldaten Klarheit für ihren Auftrag verschafft, ohne dabei die Kultur der Zurückhaltung grundsätzlich in Frage zu stellen.

Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die FDP Von Elke Hoff Das Ziel deutscher Sicherheitspolitik ist es, die Sicherheit und den Wohlstand unseres Landes durch einen verantwortlichen Umgang mit den zur Verfügung stehenden sicherheitspolitischen Instrumenten zu schützen und zu erhalten. Dazu gehört seit einigen Jahren auch die Teilnahme der Bundeswehr an multinationalen Einsätzen zur Konfliktprävention und Krisenbewältigung. Unsere Streitkräfte leisten dabei in enger Zusammenarbeit mit den Armeen anderer Nationen einen Beitrag zur Erhaltung oder zur Wiederherstellung eines stabilen Umfeldes in einer Region von nationalem Interesse auf der Grundlage von völkerrechtlich legitimierten Mandaten durch den VN-Sicherheitsrat. In diesem internationalen Rahmen muss sich Deutschland als verlässlicher und berechenbarer Partner erweisen, der in seiner Außen- und Sicherheitspolitik einer klaren Ausrichtung folgt. Das bedeutet auch, dass im Falle eines Wechsels in der Regierung die Verantwortung für die Teilnahme an Auslandseinsätzen nicht neuen parteipolitischen Einzelinteressen oder einer fundamentalen Oppositionspolitik leichtfertig geopfert werden darf, sondern dass es eine verlässliche Kontinuität bei der außenpolitischen Interessenwahrung und -durchsetzung unseres Landes geben muss. Vor diesem Hintergrund ist auch das Streben nach einem breiten parlamentarischen Konsens in Fragen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik und in Mandatsfragen wichtig und notwendig. Einen plötzlichen Wechsel der nationalen Position, verbunden mit einem unvorbereiteten und überstürzten Ausstieg aus einem internationalen Mandat, kann

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sich eine auf Multilateralität und Interessenausgleich ausgerichtete Nation wie Deutschland kaum leisten. Der Vertrauensverlust bei den Partnern und der damit verbundene außenpolitische Schaden wären zu groß. Es wird jedoch auch deutlich, dass militärisch und finanziell breit angelegte und auf Jahre hin ausgerichtete internationale Stabilisierungseinsätze – wie es zur Zeit auf dem Balkan oder in Afghanistan der Fall ist – nicht die zentralen zukünftigen Einsätze der Streitkräfte sein können, da weder wir selbst noch unsere Partner in Nato und EU dazu finanziell und strukturell dauerhaft in der Lage sind. Dennoch müssen wir uns auch in Zukunft an Einsätzen im Rahmen der internationalen Krisenvorsorge, Krisenverhütung und Krisenbewältigung beteiligen, wenn es unsere eigenen nationalen Interessen erfordern sollten. Dabei werden für zukünftige militärische Stabilisierungseinsätze hochmobile und flexibel einsetzbare Spezialkräfte, Strategische Aufklärung, Nachrichtendienste sowie eine enge Verzahnung mit zivilen Regierungs- (GOs) und Nicht-Regierungsorganisa­ tionen (NGOs) mehr als bisher eine wichtige Rolle spielen müssen, damit zumindest die militärische Präsenz zugunsten eines breiten zivilen Stabilisierungsansatzes im Einsatzgebiet zeitnah beendet werden kann. Jeder neue Einsatz unserer Streitkräfte muss natürlich unverändert der Zustimmung und der Kontrolle des Deutschen Bundestages im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes unterliegen. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass gerade in diesem Bereich die parlamentarische Kontrolle beispielsweise vor übereilten Entscheidungen oder Überforderungen der Bundeswehr bei der Höhe der Einsatzkontingente schützt beziehungsweise der parlamentarische Druck bei Ausrüstung und Ausbildung von Soldaten eine schnellere Reaktion der Regierung und der Bürokratie auf vorhandene Missstände zur Folge hat. Die Bundeswehr hat sich mittlerweile als Parlamentsarmee fest in unserer Gesellschaft etabliert. Neben der jeweiligen Mandatierung der Einsätze entscheidet auch das Parlament nach Artikel 87a des Grundgesetzes über Umfang und Struktur der Streitkräfte durch die Verabschiedung des Haushalts. Hinzu



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kommt die Institution des Wehrbeauftragten als Hilfsorgan des Parlamentes, der über die Wahrung der Rechte des „Staatsbürgers in Uniform“ wacht. Nie zuvor in der Geschichte waren deutsche Streitkräfte so tief in der Zivilgesellschaft über eine umfassende parlamentarische Kontrolle verankert. Damit steht jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages politisch auch in einer hohen Verantwortung, wenn sie den Einsätzen und dem Haushalt ihre Zustimmung erteilen. Diese Zustimmung bedarf einer möglichst breiten parlamentarischen Mehrheit und sollte nicht nur die alleinige Angelegenheit der jeweiligen Fachpolitiker der Fraktionen sein. Jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete muss wissen, welche Konsequenzen für die Soldatinnen und Soldaten mit der Zustimmung zu einem Auslandseinsatz verbunden sind, da er neben den betroffenen Soldatinnen und Soldaten auch in seinem Wahlkreis den Bürgerinnen und Bürgern Rede und Antwort stehen und für den Rückhalt in der Bevölkerung für die beschlossenen Einsätze werben muss. Dieser Rückhalt ist für unsere Soldatinnen und Soldaten unabdingbar, da sie im Auftrag unseres Landes täglich ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren. Sie müssen wissen, welchem politischen Ziel ihr Einsatz dient, wofür sie kämpfen und welchen Beitrag sie dabei zu leisten haben. Die Bevölkerung hingegen muss wissen, was unsere Soldaten im Einsatz tun, warum sie es tun und in welchem kulturellen und politischen Umfeld sie dort ihren Auftrag erfüllen. Diese Voraussetzungen zu definieren, zu kontrollieren und darzulegen ist originäre Aufgabe der Politik, sowohl der Regierung als auch der Mitglieder des Deutschen Bundestages. Da sich in Deutschland aber nur wenige gerne mit Sicherheitspolitik beschäftigen oder einen unmittelbaren Einblick in die Besonderheiten militärischer und ziviler Einsätze haben, kommt den Fachpolitikern in den Fraktionen dennoch eine besondere Rolle zu. Ihnen obliegt es, sich mit der Thematik auf allen fachlichen Ebenen intensiv zu befassen, sie inhaltlich aufzubereiten, zu erklären und Empfehlungen auszuarbeiten, die im parlamentarischen Prozess in den Fraktionen, den Aus-

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schüssen und in der parlamentarischen Abstimmung dann Bestand haben. Wichtig für eine ausgewogene Entscheidung ist dabei auch der Rat von Experten aus dem militärischen und aus dem zivilen Bereich, die bei der Vorbereitung der Mandate ihre Fachexpertise in den zuständigen Gremien vortragen können. Ebenso ist der offene und ehrliche Vortrag der Regierung über die Lage in den Einsatzgebieten wesentlich für die Entscheidungsfindung des Parlaments. Häufig genug gibt es hier jedoch ärgerliche Defizite, die einerseits einem gegenseitigen Misstrauen und andererseits nachvollziehbaren Rücksichtnahmen auf den laufenden Einsatz geschuldet sind. Gerade in asymmetrischen Szenarien ohne einen klaren Gegner können Informationen über die Schwächen der eigenen Truppen einen taktischen oder strategischen Vorteil für diesen Gegner bedeuten. Sensible Informationen, die zur Unzeit an die Medien und damit auch dem Gegner zur Kenntnis gelangen, können häufig eine Gefahr für die Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz bilden. Allerdings darf diese Zurückhaltung nicht generell eine Schönfärbung der Lage vor Ort gegenüber Bevölkerung und Parlament zur Folge haben, da auch die Parlamentarier Verantwortung für eine gute Ausrüstung und Ausbildung der Soldaten und für die richtige politische Strategie für den Einsatz haben. Informationen über Mängel, die sich eben nur aus der Einsatzerfahrung vor Ort ergeben können, müssen den zuständigen Politikern bekannt gemacht werden, damit für eine rasche Abhilfe gesorgt werden kann. Dies ist eine schwierige Gratwanderung und jeder einzelne Abgeordnete muss eigenverantwortlich gegeneinander abwägen, was wichtiger für unsere Soldaten im Einsatz ist, die öffentliche Darstellung oder ein Wirken auf nichtöffentlicher Bühne. Ich selbst bin seit über fünf Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages und seither auch Mitglied im Verteidigungsausschuss. In diesen Zeitraum fielen die jährlichen Abstimmungen über die zahlreichen Auslandseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan, auf dem Balkan, im Libanon, am Horn von Afrika sowie im Sudan. Die intensivste Befassung erfolgt dabei aus



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nachvollziehbaren Gründen mit dem aktuell schwierigsten und umfassendsten Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Die Vorbereitung und die Beratung über das Afghanistan-Mandat besitzt eine besondere Qualität, da angesichts der Entwicklung im Einsatzgebiet und angesichts der zunehmend kritischen Haltung in der eigenen Bevölkerung die Schaffung eines größtmöglichen politischen Konsenses immer wichtiger, aber auch immer schwieriger wird. Jeder Einsatz der Bundeswehr im Ausland ist im Vorfeld e­ iner Mandatserteilung individuell zu bewerten. Die Fragen, die hierbei diskutiert und beantwortet werden müssen, erstrecken sich über die Nachvollziehbarkeit und Validität der Ziele des Einsatzes, die Erfüllbarkeit des Auftrages sowie über das Vorliegen eines stimmigen, ressortübergreifenden Mittel- und Kräfteansatzes im Rahmen des Mandates. Im Mandat selbst muss dann die Entscheidung über den benötigten Kräfteumfang, das genaue Einsatzgebiet sowie die Dauer des Einsatzes getroffen werden. Weiterhin muss die Bundesregierung gegenüber dem Parlament darlegen können, ob die benötigte Ausrüstung zur Verfügung steht, die vorbereitende Ausbildung ausreichend ist, eine angemessene Einsatznachbereitung stattfindet, den im Einsatz verwundeten und traumatisierten Soldaten geholfen wird und welche finanziellen Mittel sie für den Einsatz der Bundeswehr benötigt. Damit der Abgeordnete sich eine unabhängige Meinung bzw. ein eigenständiges Urteil bilden kann, sind die regelmäßigen Besuche in den Einsatzgebieten und in den Heimatstandorten sowie die zahlreichen Gespräche mit den Soldaten vor Ort eine wichtige Grundlage für die eigene Entscheidungsfindung und Bewertung. Auch die intensive Befassung mit den jeweiligen Einsatzländern spielt in der Mandatsvorbereitung eine wichtige Rolle. Je nach den kulturellen und geografischen Bedingungen des Einsatzlandes ist es einfacher bzw. schwieriger, für die Bürgerinnen und Bürger einen verständlichen und plausiblen Bezug zu unseren eigenen nationalen Interessen herzustellen. Auch der Umfang der erforderlichen Kräfte und Mittel ist im Einzelfall durchaus unterschiedlich zu bewerten und muss so-

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wohl den Soldaten als auch den Bürgern vermittelt werden. So ist der ganzheitliche Ansatz beim Isaf-Mandat in Afghanistan ein anderer als bei dem in erster Linie auf die Sicherung der humanitären Hilfslieferungen für Somalia und der Seehandelswege ausgerichteten Atalanta-Mandat der Deutschen Marine, da hier ein ganzheitlicher Ansatz zur Piraterie-Bekämpfung unter den derzeitigen politischen Rahmenbedingungen in Somalia nur sehr begrenzt umgesetzt werden kann. Aus all dem ergibt sich, dass Informationen über die tatsächliche Lage vor Ort eines der wichtigsten Entscheidungskriterien für das Parlament sind. Deshalb ist es unabdingbar, dass die Fachpolitiker im Verteidigungsausschuss uneingeschränkten Zu­ gang zu den Einsatzgebieten der Bundeswehr haben. Es ist für die Entscheidungsfindung wichtig, sich konstant ein möglichst umfassendes und jeweils aktuelles Bild über die Einsätze, über die Bedürfnisse unserer Soldaten, über die politischen Rahmenbedingungen im Einsatzland und über die Stimmung in der dortigen Bevölkerung, die immer wieder die Leidtragenden von bewaffneten Auseinandersetzungen sind, zu machen. Im Falle des Afghanistaneinsatzes besuche ich regelmäßig landesweit das gesamte Nato-Einsatzgebiet und auch die für die Lösung des Konfliktes entscheidenden Nachbarstaaten Pakistan und Iran. Als Sicherheitspolitikerin habe ich natürlich den großen Vorteil, schneller Zugang zu den jeweiligen politischen und militärischen Akteuren in der Region zu erhalten als andere Entscheidungsträger. Dadurch kann ich mir das notwendige eigenständige Urteil, unabhängig von den Medien- oder den offiziellen Berichten der Regierung, bilden. Bisher war ich mehr als ein Dutzend Mal in der Region und führte dabei viele Gespräche mit afghanischen, pakistanischen und iranischen Politikern sowie mit Verantwortlichen auf regionaler und lokaler Ebene, mit Vertretern der afghanischen Sicherheitskräfte, des pakistanischen Militärs, der Nachrichtendienste und natürlich auch mit den Verantwortlichen der internationalen zivilen Gemeinschaft. Beispielsweise konnte ich mir im hart umkämpften Süden und Osten Afghanistans auf Einladung unserer amerikanischen Verbündeten ein umfassendes Bild über die dortige Ausbildung



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der afghanischen Sicherheitskräfte bis hinunter auf die Ebene der vorgeschobenen Posten (FOB1, COP2) bei den Isaf-Streitkräften machen. Bei einem Besuch der französischen Armee konnte ich unmittelbar den Einsatz der neuen französischen Unterstützungshubschrauber Tiger in einer laufenden Kampfoperation beobachten und mit den französischen Soldaten vor Ort über die Rahmenbedingungen und Erfahrungen ihres Einsatzes mit diesem neuen Waffensystem sprechen. Dies sind äußerst wertvolle Informationen, wenn ich die deutschen Ansätze der Partnering-Ausbildung für die afghanischen Sicherheitskräfte im Norden, die vorbereitende Ausbildung in Deutschland oder auch die Probleme bei der Einsetzbarkeit des deutschen Unterstützungshubschraubers Tiger beurteilen muss. Während meiner Besuche im deutschen Einsatzgebiet im Norden Afghanistans führe ich mit unseren deutschen Soldaten aller Dienstgradgruppen zahlreiche Gespräche, die für die eigene Lagebeurteilung vor Ort wichtig sind. Diese intensive und sehr konkrete Beschäftigung mit den Mandaten der Bundeswehr bildet für mich die wesentliche Grundlage für meinen Dialog mit der Bevölkerung und meinem Abstimmungsverhalten als Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Da militärische Einsätze nur ein zeitlich begrenztes politisches Mittel sein können, ist es ebenso wichtig, dass das internationale und nationale Engagement einer gemeinsam abgestimmten politischen Strategie für einen Abzug von Streitkräften folgen muss. Die Fortschritte werden sich dabei an gemeinsam definierten Zwischenzielen oder Kriterien messen lassen müssen, die eine regelmäßige Evaluierung des Einsatzes durch die Regierung und das Parlament deutlich erleichtern. Beispielsweise konnte es im Falle des Unifil-Mandates im Libanon durch eine intensive parlamentarische Debatte im Deutschen Bundestag und durch eine Neubewertung der bereits erwähnten Faktoren erreicht werden, eine realistische Abzugsperspektive für die deutsche Marine durch eine Änderung des Schwerpunktes in 1  forward 2  combat

operating base / vorgeschobene Operationsbasis. outpost / Feldposten.

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unserem Engagement zu eröffnen. Es geht nun in erster Linie darum, die Eigenbefähigung der libanesischen Marine und die damit verbundene Übernahme der selbständigen Sicherung der libanesischen Seegrenzen zu entwickeln und zu verfestigen. Die Ausgestaltung der Mandate, die abschließenden Diskussionen in den Fraktionen und das Abstimmungsergebnis im Parlament unterstreichen die wichtige und besondere Rolle des Parlamentes in der außen- und sicherheitspolitischen Ausrichtung unseres Landes. Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Regierungsfraktionen des Deutschen Bundestages immer ihrer Verantwortung für eine erfolgreiche Regierungsarbeit stellen müssen, hat im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik auch die Opposition eine besondere Verantwortung, der fast alle Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag bisher überwiegend nachgekommen sind. Die Opposition wird von Seiten der jeweiligen Regierungen immer wieder dazu eingeladen, konstruktiv zu den Inhalten und der Ausrichtung der unterschiedlichen Mandate beizutragen. Es bleibt zu hoffen, dass dies auch in Zukunft gute parlamentarische Praxis sein wird. Aus den vorherigen Ausführungen wird deutlich, dass der häufig erhobene Vorwurf an die Regierungsfraktionen, letztlich nur den Willen der Regierung kritiklos umzusetzen, nicht zutrifft. Es ist zwar richtig, dass sich ein Abgeordneter im Falle einer abweichenden Meinung entscheiden muss, ob er seine persönliche Meinung über das Mehrheitsvotum der Fraktion stellt. Im Falle der Mandate für die Bundeswehr gibt es jedoch keinen Fraktionszwang, da es sich hierbei klar um eine Gewissensentscheidung des Einzelnen handelt. Die Bundeswehr hat als Parlamentsarmee das Recht auf eine intensive Befassung des Bundestages mit den Mandaten. Die Abgeordneten können sich aufgrund der möglichen Konsequenzen der Mandatserteilung ihrer dargestellten Verantwortung nicht entziehen. Insofern kann eine solche Entscheidung bei gefährlichen Mandaten im Grundsatz nur eine Gewissensentscheidung sein, die auf der Grundlage sorgfältiger Information und Diskussion individuell getroffen werden muss und wird.



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Die hier in aller Kürze dargestellten Entscheidungswege und Verfahren sollen einen Einblick in die parlamentarische Arbeit im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben und vor allem deutlich machen, dass die Parlamentarier die Bundeswehr nicht leichtfertig in einen Einsatz schicken und sich der besonderen Verantwortung für eine Parlamentsarmee bewusst sind und sich ihr im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch stellen. Am Ende muss jedoch eines klar sein: Jedem militärischen Einsatz muss eine politische Lösung eines Konfliktes folgen, der Einsatz von Streitkräften kann die politischen Entscheidungen nicht ersetzen, sondern sie lediglich während einer bestimmten Zeitdauer begleiten. Alles andere würde zu falschen Rückschlüssen führen und den Rückhalt in der Bevölkerung für die Streitkräfte auf Dauer beeinträchtigen.

Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Die LINKE Von Paul Schäfer Das Bundesverfassungsgericht hat 1994 geklärt: Der Deutsche Bundestag muss entscheiden, ob Soldatinnen und Soldaten in bewaffnete Einsätze außerhalb des Landes geschickt werden. Spätestens seit dieser Zeit gilt die Bundeswehr als Parlamentsarmee. Aber auch wenn dies eine demokratische Errungenschaft ist, muss sie trotzdem tagtäglich mit Leben gefüllt werden. Das Bundesverfassungsgericht knüpfte damals die deutsche Beteiligung an internationalen Militärmissionen an zwei Voraussetzungen: Deutschland dürfe nur im internationalen Verbund Soldaten schicken, womit das Gericht nationale Alleingänge ausschloss. Und das Parlament muss an den Entscheidungen über bewaffnete Einsätze konstitutiv beteiligt werden. Damit wurde im Grunde den besonders stark ausgeprägten Reserven und Vorbehalten der deutschen Gesellschaft gegenüber einer „militarisierten Außenpolitik“ Rechnung getragen. Im Prinzip wurde der gerade in Zeiten der Globalisierung immer wichtiger werdende Regierungsbereich der Außen- und Sicherheitspolitik der parlamentarischen und öffentlichen Kontrolle ausgesetzt. Die Zeiten der einsamen und intransparenten Kabinettsentscheidungen sind damit eigentlich vorbei. Um die Abgeordneten in die Lage zu versetzen, ihre Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen, müssen sie durch die Regierung möglichst umfassend unterrichtet werden. So sieht es das Gesetz vor. Und parlamentarische Befassung bedeutet zugleich, dass auch die Öffentlichkeit über die Medien an diesen weitreichenden Entscheidungen Anteil nimmt. So weit die Theorie. Die bisherigen Erfahrungen haben dagegen

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gezeigt, dass zwischen den Buchstaben des Gesetzes und der gelebten Wirklichkeit erhebliche Diskrepanzen bestehen können. Als in Deutschland in Sachen „Auslandseinsätze der Bundeswehr“ eine Art Allparteien-Konsens vorherrschte – dies war zwischen 2002 und 2005 der Fall – und danach eine Große Koalition regierte, konnte von parlamentarischer Kontrolle und breiter öffentlicher Debatte keine Rede sein – mit Ausnahme des Irak-Krieges von 2003. Im Mittelpunkt stand nicht die Sinnhaftigkeit und Legitimität der jeweiligen Militärinterventionen, sondern das Bemühen der Regierung, über den Bundestag die größtmögliche Legitimation für ihre Militäreinsätze zu bekommen. Wohin so ein Allparteien-Konsens führt, zeigt die derzeitige Afghanistan-Debatte: Obwohl stabile Mehrheiten der Bevölkerung seit geraumer Zeit die deutsche Beteiligung am Isaf-Einsatz ablehnen und die Forderung nach einem raschen Rückzug der Truppen unterstützen, besteht eine große Diskrepanz zum regelmäßigen Votum des Parlaments. Dass dieser Umstand vor allem den beteiligten Soldatinnen und Soldaten schwer zu schaffen macht, liegt auf der Hand. Ob er sich auf Dauer aufrechterhalten lässt, ist die Frage, die sich den politischen Entscheidungsträgern stellt und erheblichen Druck dahingehend auslöst, den geordneten Rückzug der Bundeswehr-Einheiten so schnell als möglich ins Auge zu fassen. Der Anspruch einer „Bundeswehr als Parlamentsarmee“ kann also nur dann Realität werden, – wenn es eine starke Opposition im Bundestag gibt, die Militäreinsätze auch kritisch hinterfragt, – wenn es selbstbewusste Parlamentarier auch in den Regierungsfraktionen gibt, die in den Ausschüssen und ihren Fraktionen das Recht auf Beteiligung, auf Transparenz und Kontrolle einfordern und – wenn die Medien ihrer öffentlichen Kontrollfunktion nachkommen. Ein großes Plus des Parlamentsbeteiligungsgesetzes ist sicherlich, dass mit dem Bundestag und seinen Ausschüssen die gesellschaftliche Öffentlichkeit beziehungsweise Teile von ihr



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intensiver mit militärischen Auslandseinsätzen befasst sind. Zumindest der Möglichkeit nach. Dies ergibt sich mit einer gewissen logischen Konsequenz aus Paragraph 6 des Gesetzes, der bestimmt, dass der Bundestag kontinuierlich und umfassend durch die Regierung informiert werden muss. Dies ist nur folgerichtig, denn möglichst breite Kenntnis des Sachverhalts ist die Grundlage, um überhaupt gewissenhaft über die Entsendung deutscher Soldatinnen und Soldaten entscheiden zu können. Aber die Entwicklung seit 2002 hat gezeigt, dass solche Informationspflichten, die als eine Bringschuld der jeweiligen Bundesregierungen definiert sind, vom Bundestag immer wieder eingefordert werden müssen. Sicher, die „Lage in den Einsatzgebieten“ ist seitdem regelmäßig der Haupttagesordnungspunkt in den Sitzungen des Ausschusses. Dazu legt die Regierung wöchentlich Berichte zur „Unterrichtung des Parlaments“ vor. Ob aber kritisch nachgefragt und nachgehakt wird, obliegt den Fraktionen und den Abgeordneten. In bestimmten Bereichen existiert immer noch akuter Handlungsbedarf: Als eine Art Black Box muss bis heute die Informationspolitik gegenüber den Einsätzen der Spezialkräfte der Bundeswehr angesehen werden. Über diese wurde und wird nicht in einem vergleichbaren Maße informiert – was angesichts der wachsenden Bedeutung von Spezialoperationen im modernen Krieg und deren Verschränkung mit anderen Truppenteilen, wie gegenwärtig in Afghanistan der Fall, höchst problematisch ist. Eine Anhörung der involvierten Ausschüsse des Bundestages – Recht, Auswärtiges, Verteidigung ergab zwar, dass die Praxis mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz nicht in Einklang zu bringen ist. Die Regierung hat daraufhin allerdings lediglich mit den Fraktionsvorsitzenden verabredet, die Obleute des Auswärtigen- und des Verteidigungsausschusses regelmäßig über diese Einsätze zu unterrichten. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre hat sich dieses Verfahren nicht bewährt. Die Unterrichtung erfolgt in der Regel streng vertraulich bis geheim und nur für einen exklusiven Zirkel. Selbst wenn man legitime Schutzinteressen der beteiligten Soldatengruppen in Rechnung stellt, schränkt eine solch restriktive Praxis Kontrollbefugnisse

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des Parlamentes ein. Der Vorschlag, dass die Regierung halbjährliche Berichte über den Einsatz des Kommandos Spezialkräfte (KSK) an das gesamte Parlament übersenden sollte, ist nicht aufgegriffen worden, er liegt aber weiter auf dem Tisch. Wie notwendig eine Stärkung der parlamentarischen Kontrolle diesbezüglich ist, hat der Luftangriff vom September 2009 gezeigt, bei dem vermutlich mehr als hundert zivile Opfer zu beklagen waren. Eine größere Öffentlichkeit hat erst nach den Bombenabwürfen im September 2009 in Kundus erfahren, dass die Bundeswehr eine vor allem aus Kräften des KSK bestückte, sogenannte Task Force 47 gebildet hat, deren Auftrag alles andere als klar erschien. Waren diese Kräfte nur zu Aufklärungszwecken entsandt worden oder sollten sie zentral auch Verfolgungs- und Tötungsoperationen im Rahmen offensiver Aufstandsbekämpfung durchführen? Inwieweit war diese Task Force 47 an der Entscheidung zum Bombenabwurf mit fatalen Folgen beteiligt? Angesichts der restriktiven Informationspolitik der Bundesregierung konnte der Verteidigungsausschuss nur mit seinem stärksten Instrument, der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. Alleine dieser Umstand zeigt, dass zwischen den Idealvorstellungen des Gesetzes und dem Regierungshandeln doch erhebliche Widersprüche bestehen können. Die Erfahrung mit dem Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss lehrt darüber hinaus, dass auch dieses Sonderrecht eines Fachausschusses an Grenzen stößt: Die Regierung kann mit dem Verweis auf den „Kernbereich der Exekutive“ weiterhin Dinge vorenthalten, die Regierungsfraktionen können mit Mehrheit Verfahren beschließen, die den Untersuchungsauftrag und die Notwendigkeit, Sachverhalte in die Öffentlichkeit zu bringen, konterkarieren. Der entscheidende Punkt bleibt jedoch: Indem die Auslands­ einsätze der Bundeswehr der Zustimmung des Bundestages bedürfen, bedarf es auch der intensiven Debatte über Sinn und Zweck dieser Entsendeentscheidungen. In aller Regel finden solche Debatten auch statt und finden ihrerseits einen Widerhall in den großen Massenmedien. Das ist zunächst einmal sehr positiv zu bewerten. Es entspricht zumindest der Tragweite



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solcher Beschlüsse, bei denen ja nicht zuletzt über Leben und Tod vieler Menschen entschieden wird. Natürlich wird oft von nahezu allen Seiten beklagt, dass diese Debatten und die Parlamentsentscheidungen die Gesellschaft meist nur am Rande berühren würden. Dies ist in der Tat eine Folge moderner Kriegs- oder Militäreinsätze, für die nur noch verhältnismäßig kleine, professionelle HighTech-Truppen nötig sind und die weit entfernt vom eigenen Land stattfinden. Hinzu kommt, dass die Krisenjahre auch das ihre dazu getan haben, dass für die Menschen die Sorge um den Arbeitsplatz und soziale Sicherheiten hierzulande im Vordergrund stand. Aber die große Skepsis in der Bevölkerung über deutsche Militäreinsätze sollte überaus ernst genommen werden. Sie drückt ein sehr gesundes Verhältnis zur deutschen Rolle in der Welt aus. Nach dem deutsche Militärstiefel im vorigen Jahrhundert viel Unheil angerichtet haben, sollten wir uns weiter an der Kultur der (militärischen) Zurückhaltung orientieren, die die alte Bundesrepublik sehr lange ausgezeichnet hat. Auch die mehrheitliche Ablehnung des Afghanistan-Mandats in der Bevölkerung ist Ausdruck einer durchaus berechtigten Erwägung: Wenn es nach so langer Zeit nicht gelungen ist, mit militärischen Mitteln die Lage dort in den Griff zu kriegen, welchen Sinn soll der Verbleib der Soldaten in diesem fernen Land noch haben? Und: Wenn dort sehr, sehr viel schief gelaufen ist, was inzwischen ja kaum noch einer bestreitet, müssten dann nicht endlich Konsequenzen gezogen werden und alternative Handlungsoptionen entwickelt werden? Allzu lange haben sich die politischen Akteure, die immer wieder die Militäreinsätze gebilligt haben (weil es der NatoRaison entsprach, weil die eigene Regierung es beschlossen hatte, weil es ja keine Alternativen gegeben habe usw.usf.), sich die Dinge so zurecht gelegt, dass man nur die Einsätze besser dem Volk erklären müsse. Wenn man diese „Kommunikationsdefizite“ beseitige, werde es schon werden. Das hat sich seit geraumer Zeit als Selbstbetrug herausgestellt. Das Dilemma liegt in der Sache selbst. An dieser Stelle ist der Hinweis auf eine schonungslose und kritische Bilanz der bisherigen Aus-

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landseinsätze angebracht. Mittels einer solchen Überprüfung muss die Frage danach beantwortet werden, für welche Zwecke es gerechtfertigt beziehungsweise unabweisbar ist, Truppen zu entsenden und für welche eben nicht. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Gestaltungseuphorie zu Beginn dieses Jahrzehnts keinen Bestand haben wird und man zu einer äußerst restriktiven Haltung zurückfinden muss. Die Herausforderungen, mit denen die Menschheit ganz überwiegend fertig werden muss, sind ökonomischer, sozialer und politischer (Beispiel: Menschenrechte) Natur. Entwicklungs- und Ressourcenfragen und sich daraus ergebene Konfliktfälle können und müssen mit zivilen Instrumenten und im Rahmen der Vereinten Nationen angegangen werden. Mit Blick auf die ungewisse Zukunft auf nach wie vor hochgerüstete Militärallianzen – wie die Nato oder eine zur Militärunion entwickelte EU – zu setzen, ist eine allzu gefährliche Fehlallokation begrenzter Mittel. Umdenken ist angesagt. Sich diesen Fragen zu stellen, ist die persönliche Verantwortung aller Parlamentarier; es ist aber zugleich die Pflicht des Parlaments gegenüber der Gesellschaft.

Die Parlamentsbeteiligung in Regierung und Opposition: Bündnis 90 / Die Grünen Von Winfried Nachtwei Fundamentalopposition, Regierungsbeteiligung, Versuch von konstruktiver Opposition. Diese Begriffe beschreiben Stationen meiner parlamentarischen Erfahrung mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Von 1994 bis 2009 habe ich als Mitglied des Verteidigungsausschusses, seit 2002 als Obmann von Bündnis 90 / Die Grünen, an der parlamentarischen Kontrolle und Begleitung von Auslandseinsätzen mitgewirkt. Es waren acht Jahre in der Opposition und sieben Jahre in der rot-grünen Koalition. In unsere Mitregierungszeit fielen nicht nur die meisten Einsatzentscheidungen, sondern auch die strittigsten. Vor allem die Entscheidungen zum Kosovo-Luftkrieg 1998 / 1999 und zum Afghanistan-Einsatz 2001 bedeuteten eine enorme innerpartei­ liche Zerreißprobe. Viele langjährige Mitstreiter und Teile der Öffentlichkeit werteten die Zustimmung der Grünen zu diesen Einsätzen als Prinzipienverrat um des Machterhalts willen. Als die West-Grünen 1994 wieder in den Bundestag zurückkehrten und ich erstmalig in den Bundestag gewählt wurde, lehnten wir mehrheitlich Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Geprägt vom linken Antiimperialismus der 70er Jahre und der Massenfriedensbewegung der 80er Jahre sahen vor allem die Westler in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr das Bestreben, Militär zu einem „normalen Mittel“ der Außenpolitik zu machen. Der Vorwurf lautete „Militarisierung der Außenpolitik“. Der Generalverdacht wurde ergänzt durch Kritik an der konkreten Krisenbewältigung: mangelhafte Prävention, Vernachlässigung nichtmilitärischer Optionen, Eskalationsrisiken des Militäreinsatzes.

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In der Auseinandersetzung mit der Realität der Balkan-Kriege verschoben sich dann die Positionen. Das Massaker von Srebrenica 1995 und eine Bosnien-Reise von Fraktions- und Parteispitze im Herbst 1996 beschleunigten den Erfahrungs- und Umorientierungsprozess. In den Vordergrund rückte die menschenrechtliche Schutzverpflichtung und die Wahrnehmung ­eines Militärs, das sich am Völkerrecht und den Vereinten Nationen (VN) orientierte. In den Hintergrund trat ein ideologischunterschiedloses Bild von Militär. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt positionierte sich die Bundestagsfraktion noch in der Opposition im Sommer 1998 positiv zum SFOR-Einsatz der Bundeswehr in Bosnien-Herzegovina. Erst durch Antrag der Bundesregierung kommt ein geplanter Auslandseinsatz der Bundeswehr auf die Tagesordnung des Bundestages. Dem voraus geht ein wochen- bis monatelanger Prozess der politischen Willensbildung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in den Spitzengremien von EU und / oder Nato sowie in der Bundesregierung. In der Vergangenheit waren Bundesregierungen gut beraten, den Bundestag in Gestalt der Außen- und Verteidigungspolitiker der Fraktionen möglichst frühzeitig informell in diesen Prozess einzubeziehen. Umgekehrt haben vor allem die Obleute der Fraktionen in dieser Frühphase noch am ehesten die Möglichkeit, auf die Position der Bundesregierung Einfluss zu nehmen. Hier haben die Koalitionsfraktionen naturgemäß die größten Wirkungsmöglichkeiten. Da wir uns trotz aller Koalitionsloyalität nicht als „Stimme unserer (Minister-)Herren“ Joschka Fischer und Peter Struck und stramme Mehrheitsbeschaffer verstanden, haben wir diese Mitsprachemöglichkeit auch genutzt. Aufgabe der Fraktionen ist auf jeden Fall, mit Hilfe ihrer Fachpolitiker die Absicht eines Auslandseinsatzes im Vorfeld zu diskutieren und zu prüfen. Mit parlamentarischen Anfragen an die Bundesregierung, Briefen an die Minister etc. versuchen vor allem Oppositionsfraktionen, ihre Informationsbasis zu verbreitern und abzusichern. Um die Leistbarkeit und Verantwortbarkeit eines geplanten Einsatzes abschätzen zu können, ist für die Verteidigungspoliti-



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ker der kompetente und offene Rat der militärischen Fachleute von ganz besonderer Bedeutung. Seit 1998 war es für die grüne Fraktion selbstverständlich, neben zivilen Fachleuten auch Generale in die Fraktion zu bitten. Ausgesprochen bewährt hatten sich bei uns in dieser Frühphase fraktionsinterne Beratungspapiere, die wesentliche Informationen zusammenfassen und Schlüsselfragen formulieren. Ich verfasste über dreißig solcher Papiere. Entscheidend war dabei die Einbeziehung von Fachleuten außerhalb des Parlaments. Angesichts zunehmend besserer Vernetzung kamen schon binnen weniger Tage viele kritisch-konstruktive Rückmeldungen von Regionalexperten, erfahrenen Soldaten, Diplomaten, Entwicklungshelfern, Polizisten, Wissenschaftlern, Journalisten. Über Jahre gewachsene Vertrauensverhältnisse garantierten einen ungeschminkten und vertraulichen Meinungsaustausch. Wo es machbar war, kam es auch zu Fact-Finding-Missions einzelner Abgeordneter in ein künftiges Einsatzgebiet. Im Vorfeld der EU-Mission in der Demokratischen Republik Kongo half eine Erkundungsreise von Hans-Christian Ströbele und mir nach Kinshasa sehr, um die politische Situation und die Sicherheitslage dort differenzierter wahrnehmen zu können und nicht überall nur Kindersoldaten und Krokodile zu sehen. Wichtige und zügige Beratungshilfen leisten die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit ihren zeitnahen Studien und Fachgesprächen sowie das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), das den direkten und ressortübergreifenden Austausch mit Missionspraktikern ermöglicht. Nicht bequem, oft strapaziös, aber immer hilfreich für die Prüfung eines Einsatzvorhabens war vor allem der innerparteiliche Streit. Gerade die Konflikte mit grundsätzlichen Einsatzskeptikern übten einen oft heilsamen Legitimationsdruck auf die „Entscheider“ in den Fraktionen aus. In einer so diskus­ sionsfreudigen Partei wie den Grünen konnten hierbei auf Dauer nur die besseren Argumente und die größere Glaubwürdigkeit bestehen. Was sich über die Jahre als Regierungs- und Parlamentspraxis herausgebildet hatte, fixierte und präzisierte das unter mei-

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ner Mitwirkung entstandene „Parlamentsbeteiligungsgesetz“ vom 18.  März 2005. Bewusst war dabei das Spannungsverhältnis zwischen Parlamentsrechten einerseits, dem friedens- und sicherheitspolitischen Bedarf der VN und den Implikationen militärischer Integration andererseits. Parlamentsrechte sollten gewahrt und gestärkt werden. Kleinsteinsätze bei VN-geführten Missionen sollten erleichtert werden. Die deutsche Beteiligung an stehenden integrierten Hauptquartieren (z. B. das strategische Hauptquartier der Nato in Mons / Belgien oder jenes des 1.  Deutsch-Niederländische Korps in Münster) wurden von der Parlamentsbeteiligung ausgenommen. Nicht verankert werden konnte eine Verpflichtung zur Evaluierung von Einsätzen. Unzureichend geregelt blieb die Kontrolle von geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen. Das Parlament kann dem Antrag der Bundesregierung zu e­ inem Auslandseinsatz nur zustimmen oder ihn ablehnen, aber ihn nicht verändern. Allerdings kann der Bundestag den Antrag ergänzen bzw. eingrenzen: zum Beispiel durch eine mit der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuss vereinbarte Protokollnotiz zur Nichtbeteiligung an direkter Drogenbekämpfung in Afghanistan oder durch einen politischen Entschließungsantrag zum Antrag der Bundesregierung, in dem Schritte der politischen Konfliktlösung gefordert werden. Bei der ersten Afghanistan-Entscheidung im November 2001 war ein solcher politischer Begleitantrag für etliche Abgeordnete der Koalition eine unverzichtbare „Krücke“, um den Weg des Regierungsantrags mitgehen zu können. Bei der Entscheidungsfindung kamen in der grünen Fraktion verschiedene Beweggründe und Interessen zusammen. Zuerst ging es neben der völkerrechtlichen Legalität, der unverzichtbaren Voraussetzung, zuerst um die sicherheitspolitische Dringlichkeit des Einsatzes und einer deutschen Beteiligung daran – im Unterschied zu manchen anderen Verbündeten spielen in der bundesdeutschen Debatte um Auslandseinsätze nationale geostrategische und Einflussinteressen keine sonder­ liche Rolle, auch wenn sie häufig von Gegnern der Auslands­ einsätze unterstellt werden.



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Zweitens ging es um die Erfolgschancen, um Umsetzbarkeit und Machbarkeit: Ist der Einsatz das geeignete Mittel? Wieweit ist er eingebettet in ein Konzept politischer Konfliktbearbeitung? Ist er flankiert von zureichenden diplomatischen, polizeilichen und zivilen Fähigkeiten? Wieweit ist der Einsatz überhaupt leistbar? Ist er im Hinblick auf absehbare Risiken gegenüber den eigenen Soldaten und ihren Angehörigen auch verantwortbar? Ist das Mandat klar und erfüllbar? Über die konkrete friedens- und sicherheitspolitische Ebene spielen allgemeine politische und individuelle Erwägungen eine erhebliche Rolle: Solidarität und Glaubwürdigkeit im Bündnis; bei Koalitionsfraktionen die Unterstützung der eigenen Regierung. Bei allen Fraktionen gibt es das Grundinteresse an einem möglichst geschlossenen Abstimmungsverhalten. Ein erhebliches Gewicht hat schließlich die Rücksichtnahme auf die eigenen Wähler. Vor allem im Vorfeld von Listenaufstellungen zu Bundestagswahlen können Rücksichtnahmen auf Mehrheitsmeinungen eine erhebliche Rolle spielen. Um die Entscheidungen über Auslandseinsätze systematischer und nachvollziehbarer zu machen, entwickelten die Grünen im Rahmen ihrer Friedens- und Sicherheitspolitischen Kommission „Grüne Prinzipien für internationales Krisenengagement und Auslandseinsätze“ (2008). Hierbei wird der Ansatz umfassender und vorbeugender Sicherheit so sehr umgesetzt wie bei keinem anderen der bekannten Kriterienkataloge zu Auslandseinsätzen. Grundsätzlicher Konsens der Grünen war und ist, dass Militäreinsätze jenseits der Landes- und Bündnisverteidigung nur legitim sind zur Gewaltverhütung und -eindämmung im Dienste kollektiver Sicherheit und im Rahmen des VN-Systems. Einsätze zur Durchsetzung partikularer Einfluss- und Machtinteressen werden abgelehnt. Die Meinungsbildung zu einem Auslandseinsatz beschränkt sich nicht auf den parlamentarischen Raum. Sie findet gleichzeitig in der Öffentlichkeit über die Medien und – mit unterschied­ licher Intensität – auch in den verschiedenen Parteien statt.

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Angesichts ihrer Herkunft ist es kein Wunder, dass keine Partei so intensiv und andauernd über Auslandseinsätze stritt wie Bündnis 90 / Die Grünen. Manche Kommentatoren meinten, sie hätten es über Jahre „stellvertretend für die Gesellschaft“ getan. Mehrere Sonderparteitage fanden statt, um sich gegenüber anstehenden Einsätzen zu positionieren. Dabei waren führende grüne Politiker bereit, für notwendig erachtete Einsätze auch gegen erhebliche Widerstände und unter hohem Risiko durchzusetzen. Das gelang nur mit Führungsstärke, Überzeugungskraft – und der drohenden Alternative des Koalitionsbruchs. Im Vergleich zu den Entscheidungsprozessen auf internationaler und Regierungsebene steht für die formellen parlamentarischen Beratungen relativ wenig Zeit zur Verfügung. Üblich ist nicht selten eine Zeitspanne von nur zwei Sitzungswochen, also acht bis vierzehn Tagen. Was bei bestimmten Mandatsverlängerungen kein Problem ist, kann im Fall eines neuen und strittigen Auslandseinsatzes die Ausschüsse und insbesondere die Frak­ tionen erheblich unter Zeitdruck setzen. Das aber beschränkt die Gründlichkeit der Beratungen in den Fraktionen, wo ja die Parlamentarier in einer Sitzungswoche zeitgleich auch viele andere Themen bearbeiten müssen. Dieser Zeitdruck ist besonders problematisch, weil Auslands­ einsätze im Unterschied zu vielen anderen Beratungsthemen im Bundestag in hohem Maße als Gewissensentscheidungen gelten, bei denen also in besonderer Weise die Urteilsfähigkeit des einzelnen gefragt ist. Denn bei Auslandseinsätzen geht es um den Einsatz bewaffneter Streitkräfte – und damit um ein be­ sonders teures, riskantes und gegebenenfalls tückisches Mittel staatlicher Politik, konkret um erhebliche Risiken für Leib und Leben der entsandten Soldaten. Das ist auch der Hintergrund dafür, dass sich bisher jede Bundesregierung darum bemühte, für Auslandseinsätze auch möglichst viel Zustimmung aus der Opposition zu gewinnen und sich nicht mit der „natürlichen“ Mehrheit der eigenen Koalition zu begnügen. Diesen besonderen Konsensbedarf – nicht Konsenszwang – sehen auch alle diejenigen Fraktionen des Bundestages, die Auslandseinsätze nicht grundsätzlich ablehnen.



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Bewusst ist, wie wichtig eine große parlamentarische Mehrheit gerade für die in den Einsatz geschickten Soldatinnen und Soldaten und ihre Angehörigen ist. Schon deshalb müssen parteipolitische Interessen hier zurücktreten. Die Abstimmung über Auslandseinsätze erfolgt immer namentlich, so dass im Sitzungsprotokoll für die Öffentlichkeit nachzulesen ist, wie ein Abgeordneter abgestimmt hat. Relativ oft begründen deshalb Einzelne oder Gruppen von Abgeordneten ihr Abstimmungsverhalten in einer persönlichen Erklärung zur Abstimmung. Das Bundesministerium der Verteidigung und das Auswärtige Amt berichten den zuständigen Ausschüssen in verschiedenen Formaten schriftlich und mündlich über die Entwicklung in den Einsatzgebieten. In den Ausschüssen und über parlamentarische Anfragen gibt es laufend intensive Informations- und Beratungsprozesse. Diese Unterrichtungen sind wichtig, aber keineswegs ausreichend. Elementar für die Urteilsfähigkeit des Parlaments sind Besuche verantwortlicher Abgeordneter in den Einsatzgebieten. Sie sind unverzichtbar, um sich ein realitätsnäheres und plastisches Bild von den Bedingungen und der Situation in den Einsatzgebieten zu machen. Natürlich bieten solche Kurzvisiten von wenigen Tagen nur begrenzte Einblicke, erst Recht im großen Pulk einer Ministerreise. Und das Risiko, mittels perfekter Besuchsorganisation etwas „vorgespielt“ zu bekommen, ist unübersehbar. Der Erkenntnisgewinn von Reisen in die Einsatzgebiete kann dennoch erheblich sein, wenn das Besuchs- und Gesprächsprogramm vielseitig ist, wenn man sich vor Ort Zeit nimmt, genau hinhört, hinsieht, fragt, wenn man einen Besuch intensiv nachbereitet und vor allem ein Einsatzgebiet wiederholt besucht. Zur Unterrichtung meiner Fraktion und Partei habe ich dreizehn Reiseberichte zu Afghanistan, neun zum Balkan und drei zur Demokratischen Republik Kongo verfasst. Sie gingen jeweils auch an die deutschen Gesprächspartner in den Einsatzgebieten. Gedacht als Hilfe zum genaueren Hinsehen bei komplexen Krisenregionen fanden die Berichte mit der Zeit immer

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mehr Verbreitung in der Fachöffentlichkeit. Über meine Homepage sind sie allgemein zugänglich1. Mit der Eskalation des Afghanistan-Einsatzes traten immer deutlicher strukturelle Informations- und Kontrolldefizite zu Tage. Zuerst beim Lagebild: Neben der offiziellen Information über aktuelle Ereignisse fehlte es an systematischen Lagebildern der Sicherheitsentwicklung, die Trends, Schwerpunkte und Ursachen hätten deutlich werden lassen. Es gibt keine „zivile Lage“, erst Recht keine „integrierte Lage“, die in Zeiten des viel beschworenen Comprehensive Approach, einem Konzept, das davon ausgeht, dass Sicherheit nur durch das gemeinsame Wirken aller relevanten zivilen und militärischen Mittel und Akteure zu erreichen ist, eigentlich selbstverständlich sein müsste. Um diese Informationslücke etwas zu reduzieren, begann ich 2007 mit der Herausgabe zweier Internet-Periodika: der „Sicherheitslage Afghanistans“ und der „Better News statt Bad News aus Afghanistan“. Über Jahre war das Berichtswesen der Bundesregierung von Beschönigung geprägt. Bei Besuchen vor Ort in Kundus oder Masar-e-Scharif konnten Obleute noch am ehesten ungeschminkte Wahrheiten erfahren. Zum Beispiel vom „Verlust der Initiative“ im Herbst 2008 in Kundus; von der Unmöglichkeit, unter den gegebenen Bedingungen, den Auftrag „sicheres Umfeld“ zu erfüllen. Auf dem Weg nach oben in Berlin gingen diese alarmierenden Nachrichten irgendwo verloren. Nach meiner Wahrnehmung lag der entscheidende Filter auf der Ebene der politischen Führung. Zweitens die Wirksamkeitsbewertung: Über Jahre dominierte bei Auslandseinsätzen der Rechtfertigungsdiskurs, kam die Frage der Wirksamkeit zu kurz. Dabei ist das gerade für junge Soldaten, die Leib und Leben riskieren, die entscheidende Frage: Ohne Erfolgsaussicht macht auch das Notwendige auf Dauer keinen Sinn. Berichte der Bundesregierung begnügten sich in der Vergangenheit in der Regel mit Aktivitätsnachweisen (input) und all1  www.nachtwei.de.



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gemeinen politischen Einschätzungen. Seriöse Wirksamkeitsanalysen kamen schon deshalb nicht zustande, weil keine überprüfbaren Zwischenziele definiert worden waren. Ihren Tiefpunkt erlebte die parlamentarische Kontrolle von Auslands­ einsätzen bei der Anti-Terroroperation Operation Enduring Free­dom (OEF). Hier ließen Bundesregierung und Koalitionsmehrheit über Jahre unsere so zentrale wie einfache Frage nach der Wirksamkeit der Gesamtoperation OEF in Afghanistan unbeantwortet. Erst in allerjüngster Zeit gab es mit dem „Fortschrittsbericht Afghanistan“ der Bundesregierung etwas Bewegung in Richtung seriöser Wirksamkeitsbewertung. Drittens die Umsetzung des comprehensive approach: Militärische Stabilisierungseinsätze sollen ein sicheres Umfeld für den Aufbau schaffen und Zeit „kaufen“ für politische Konfliktlösungen. Begünstigt durch den Parlamentsvorbehalt kreisen die parlamentarischen Debatten und noch mehr die öffentliche Wahrnehmung weit überproportional um die militärische Seite von Krisen­ engagements. Ein krasses Beispiel dafür ist die Hilfe zum Polizeiaufbau in Nachkriegsgebieten: Was unbestritten eine Aufgabe von strategischer Bedeutung ist, wurde vom Bundestag über die Jahre kaum begleitet, geschweige denn gefördert und kontrolliert. Die Parlamentsbeteiligung hat sich grundsätzlich bewährt. Ohne sie wäre die im Vergleich zu 1995 erreichte Konsensbildung in Politik und Gesellschaft zu Auslandseinsätzen nicht möglich gewesen. Gerade für die entsandten Soldaten ist die parlamentarische Legitimation von entscheidender Bedeutung. Dass deutsche Außen- und Sicherheitspolitik trotz der vielen bisherigen Auslandseinsätze vergleichsweise zurückhaltend mit diesem Instrument umgeht, ist nicht unwesentlich der Parlamentsbeteiligung geschuldet. Sie beförderte schon im Vorfeld die deutsche Absage an den Irakkrieg. Die Begrenzung der Auslandseinsätze, die Einsatzausstattung und der bestmögliche Schutz der Soldaten stehen immer wieder im Mittelpunkt der Parlamentsberatungen zu den Auslandseinsätzen. In den letzten Jahren kam der Umgang mit Einsatzfolgen hinzu, vor allem den psychischen Verwundungen von immer

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mehr Soldaten. Über diese wichtigen Fragen kamen aber die strategischen Fragen immer wieder zu kurz. Diese fangen mit der Ehrlichkeit des Mandats und der Klarheit und Erfüllbarkeit des Auftrags an. Hier machte die allgemeine Strategieschwäche deutscher Sicherheitspolitik auch vor dem Bundestag nicht halt. Auch dem Parlament gelang es nicht, die vielfach vermisste breite sicherheits- und friedenspolitische Debatte und Verständigung in Politik und Gesellschaft voranzubringen. Im Gegenteil: Im Kontext des verschärften Afghanistan-Einsatzes geriet der bisherige sicherheitspolitische Konsens immer mehr ins Rutschen. Die Parlamentsbeteiligung braucht keine Beschleunigung von Verfahren, sondern mehr Strategiefähigkeit, Wirksamkeitsorientierung, Ressortgemeinsamkeit und Kommunikationsfähigkeit. Als wesentlicher Teil des Primats der Politik gegenüber den Streitkräften steht der Deutsche Bundestag in der Pflicht, seine Fähigkeiten der Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen zu verbessern – in Verantwortung für deutsche und europäische Sicherheit, in Verantwortung vor allem für die Soldaten, die Bundesregierung und Bundestag in belastende und hoch riskante Einsätze befehlen.

Die Medien, die Politik und der Krieg Von Mathis Feldhoff „Es ist heiß und es ist dreckig in Kundus. Überall wird Staub aufgewirbelt. Sträucher wehen über das Rollfeld. Wie in einem Western aus den 70ern. Das Transportflugzeug vom Typ Transall rollt über die holprige Piste des Flughafens im Norden Afghanistans. Vor knapp zwei Stunden sind wir in Termes in Usbekistan gestartet – auf dem Weg ins Kampfgebiet von Char Darreh. Am Flugzeug begrüßt uns ein Presseoffizier – ein Oberstleutnant. Das erste was wir lernen ist – die Bundeswehr hat eine andere Sprache. Er sei hier der PAO1, wir würden jetzt erstmal ins PRT2 Kundus fahren und uns dort im PIZ3 etwas erfrischen. Anschließend sei eine Einweisung in ROE’s4 durch den COM PRT Kundus5 geplant. Anschließend würden wir mit der Kompanie der QRF6 koppeln. Außerdem könnten wir in zwei Tagen, wenn wir Interesse hätten, nach MES7 fliegen, dort würde der COMISAF8 das HQ North9 besuchen. Der Reporter aus Deutschland versteht nur Bahnhof …“. 1  PAO 2  PRT

– Public Affairs Officer / Presseoffizier. – Provincinal Reconstruction Team / Regionales Wiederauf-

bauteam. 3  PIZ – Presse-Informationszentrum. 4  ROE – Rules of Engagement / Einsatzregeln. 5  COM PRT Kunduz – Commander Provincinal Reconstruction Team / Kommandeur des Feldlagers Kundus. 6  QRF – Quick Reaction Force / Schnelle Eingreiftruppe. 7  MES – Masar-e-Scharif / Standort des deutschen Hauptquartiers in Afghanistan. 8  COMISAF – Commander ISAF / Kommandeur der Internationale Schutztruppe in Afghanistan. 9  HQ North – Headquarters / Hauptquartier der Isaf im Norden ­Afghanistans; deckungsgleich mit dem deutschen Hauptquartier.

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So könnte sie beginnen – die Reportage eines Journalisten, der für seine Tageszeitung das erste Mal ins Kampfgebiet von Kundus fährt. Getrieben von der Neugier, schockiert über die Verständnisprobleme. Zwei Welten treffen aufeinander – Presse und Militär. Zwei Welten, die oft einander nicht verstehen und oft zu wenig unternehmen, um dies zu ändern. Dabei wäre das für beide Seiten dringend notwendig. Es geht um Grundsätzliches. Um ein gegenseitiges Verständnis. Die Begleitung von Auslandseinsätzen durch Journalisten gehört inzwischen zur Einsatzrealität. Dementsprechend müssen sich beide Seiten, Militärs und Medienvertreter, darauf einstellen. Es gilt, die gegenseitigen Anforderungen, Wünsche und Notwendigkeiten von Einsatzbedingungen und Berichterstattung zu respektieren. Auch wenn dies fast unmöglich zu sein scheint. Journalisten wollen durch die intensive Begleitung von militärischen Operationen die Handlungen und den Auftrag der Militärs besser verstehen und beurteilen können. Es ist die Aufgabe von Journalisten, möglichst dicht am Geschehen zu sein, ohne sich mit den Militärs und ihren Handlungen gemein zu machen. Die Militärs sind vor dem Hintergrund unserer demokratischen Grundordnung ihrerseits aufgefordert ihre Missionen zu erklären. Nur so kann es gelingen, bei Politik und Bürgern den notwendigen Respekt und Unterstützung für den Einsatz und die Arbeit der Soldaten zu gewinnen. Zuvorderst müssen jedoch die Politiker offen und transparent mit der Öffentlichkeit kommunizieren, was offenbar nicht immer gelingt. Beim Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr machten Journalisten die Erfahrung, wohin eine politisch-motivierte Argumentationslinie führen kann. Dass die Führung der Bundeswehr und die politische Leitung des Bundesministeriums der Verteidigung vor allem während der letzten großen Koalition einen Sonderweg in der Öffentlichkeitsarbeit beschritt, der in der Allianz einmalig war, lähmte am Ende nicht nur das Verständnis der Öffentlichkeit für den Einsatz. Sie führte sogar zu ernsthaften Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten der eingesetzten Soldaten gegenüber dem Feind. So wurden etwa notwendige Waffensysteme wie die Panzerhaubitze 2000 nicht



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oder erst sehr spät zur Verfügung gestellt, da offenbar befürchtet wurde, diese Waffensysteme würden die Schieflage der politischen Argumentationslinie vollends offenbaren. Über Jahre beschrieb der zuständige Minister und auch die Kanzlerin den Einsatz im Norden Afghanistans als friedensstiftenden Stabilisierungseinsatz. Dass sich die Situation im Einsatzgebiet schon seit Jahren massiv verschlechtert hatte, dass aus dem Wiederaufbaueinsatz der ersten Jahre ein ernsthafter Krieg geworden war, ignorierte die deutsche Politik. In öffentlichen Statements leugnete sie es sogar. Verteidigungsminister Franz-Josef Jung, der von 2005 bis 2009 die Verantwortung trug, argumentierte, Krieg erwecke in der bundesdeutschen Bevölkerung Erinnerungen an die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs. Von solcher Intensität aber könne in Afghanistan nicht die Rede sein.10 Zudem sei mit dem Begriff Krieg eine Aufwertung der gegnerischen Kräfte verbunden, die man keinesfalls als rechtmäßige Kombattanten im Sinne des Völkerrechts betrachten dürfe. Aus dieser Haltung heraus schien es konsequent, Journalisten von möglichen Konflikt- und Kampfsituationen fernzuhalten. Das war natürlich kontraproduktiv, denn das einzige was man damit bewirkte, war die Beschädigung der eigenen Glaubwürdigkeit. Embedded – der amerikanische Begriff für die Mitnahme von Journalisten in Kampfgebiete war für die Bundeswehr ein Unwort. Wie der Krieg in Afghanistan aber tatsächlich aussah, konnten Journalisten im gleichen Zeitraum ohne größere Restriktionen bei fast allen Isaf-Verbündeten beobachten, wenn sie zum Beispiel amerikanische, britische oder niederländische Truppen begleiteten. Im kollektiven Gedächtnis von Medien und Öffentlichkeit setzte sich dadurch der Eindruck fest: Beim AfghanistanEinsatz belügt die deutsche Regierung das eigene Volk. Der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe hat diese Verschwiegenheit über die wahren Einsatzbedingungen in Afghanistan als „Lebenslüge der deutschen Politik“ bezeichnet.11 10  Die

Afghanistan-Lüge, ZDF-Dokumentation, 7. April 2010.

11  Ebenda.

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Die Chancen, die eine transparente Kommunikation der Bundesregierung und den Streitkräften bietet, wurden über Jahre verspielt. Leidtragender war aber nicht nur die deutsche Bevölkerung. Auch die Soldaten, die seit Jahren in den Provinzen von Kundus und Faisabad ihr Leben riskierten, wurden so um den Lohn einer Anerkennung gebracht. Die deutsche Regierung wich wie kaum eine andere Nation, die sich in Afghanistan engagiert, zu Lasten ihrer Soldaten einer innenpolitisch unangenehmen Diskussion aus. Mit dem Amtsantritt des Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg hatte sich diese Form der Öffentlichkeitsarbeit radikal gewandelt. Journalisten wurden nicht nur mit ins Kampfgebiet genommen, sondern der Minister ermunterte seine Soldaten geradezu, ihre Einsatzerfahrungen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. „Erzählen Sie, was sie erlebt haben“, sagte er auf der Wehrpflichtigen-Tagung des Deutschen Bundeswehrverbandes im Frühjahr 2010. Diese Politik des ehemaligen Verteidigungsministers folgte der bis heute richtigen Einsicht, dass der Versuch, eine Scheinwelt des Einsatzes in die Heimat zu vermitteln, gescheitert war. Nur eine radikale Kehrtwende in der öffentlichen Darstellung kann nun noch verhindern, dass der Krieg an der Medienfront endgültig als verloren eingestuft werden muss. Vielfach gehen Militärs und Politik von der Grundannahme aus, Medien wollten ihnen prinzipiell schaden. Deshalb wird eine Zusammenarbeit oft skeptisch gesehen. Viele Militärs können auch von Beispielen und Erfahrungen berichten, in denen Medien „falsch“ berichtet haben. Dies ist aber keine Militär-typische Erfahrung. Auch andere Disziplinen und Berufe haben damit zu kämpfen, dass Medien sie offenbar „immer falsch“ verstehen. Betroffene sollten sich zunächst selbstkritisch fragen, warum Medien nicht richtig berichten. Ausgangspunkt sollte dabei die Transparenz und die Wahrhaftigkeit der eigenen Kommunika­ tion sein. Man darf Journalisten nicht anlügen, um womöglich eine schönere Geschichte in der Zeitung zu lesen. Die Wahrheit



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kommt immer ans Licht. Auch sollte hinterfragt werden, ob man den militärischen Laien, die Journalisten häufig sind, genügend Hilfestellungen gegeben hat. Die Berichterstattung über die Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren nicht nur umfassender geworden, sie erfolgt auch rund um die Uhr. Dies zeigt sich insbesondere an den Beiträgen zu Toten und Verletzen des Afghanistan-Einsatzes. Heute ist es normal, dass Journalisten schon nach kurzer Zeit zum Teil detailliert und in Einzelheiten über kritische Ereignisse informiert sind. Dank Internet und Smartphone können sie fast gleichzeitig Informationen aus dem Einsatzland, aus Partnerstaaten, dem Parlament, der Regierung oder der Bundeswehr erhalten. Heimatredaktionen verlangen diese Einzelheiten, wollen Namen und emotionale Reaktionen. Durch die schnellen OnlineAngebote entsteht im Nachrichtenjournalismus ein zusätzlicher Zwang, immer schneller an die Öffentlichkeit zu gehen. Dabei überschreiten Journalisten auch Grenzen – weil der Druck auf sie wächst. Schlimme Konsequenzen sind die Folge: Am Karfreitag 2010 starben in einem Gefecht zwischen Bundeswehr und Taliban drei deutsche Soldaten. Einer von ihnen war der Hauptgefreite Robert Hartert. Viele Medien bemühten sich damals, den Schmerz und die Trauer der Angehörigen nach diesen tragischen Ereignissen einzufangen und darüber zu berichten. Unzählige Anfragen von Medien hatte die Familie von Robert Hartert abgelehnt. Bis zum November 2010. Zu tief waren die Trauer und der Verlust. Erst ein halbes Jahr nach dem Tod des Sohnes gab seine Mutter ein Interview – gemeinsam mit den Witwen der ebenfalls in dem Gefecht am Karfreitag getöteten Nils Bruns und Martin Augustyniak.12 Doch bereits am 22.  April erschien im Magazin Stern ein Artikel mit der Überschrift „An der Heimatfront“.13 Ein Artikel über die Trauer und Verzweiflung verschiedener Angehöriger von Afghanistan-Opfern. Robert Hartert war zu diesem Zeit12  Der Krieg bleibt – Die schwierige Heimkehr vom Hindukusch, ZDF-Dokumentation, 17.11.2010. 13  Wie der Krieg nach Deutschland kam, Stern, Nr.  17, 22.04.2010.

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punkt gerade einmal drei Wochen tot. Als wären Sie dabei gewesen, beschrieben zwei Stern-Reporter die Trauerfeier in Wilsdruff. Doch die Aussagen und Einschätzungen beruhten auf unbestätigten Beobachtungen, auf Umfragen in Roberts Heimatdorf – durchsetzt mit Fehlern und Fehleinschätzungen. Diese Berichterstattung bestätigte der Familie des Gefallenen ihre Vorurteile vom rücksichtlosen und rüden Umgang der Presse mit Angehörigen von Afghanistan-Soldaten. Auch wegen solcher Vorkommnisse hat Medienberichterstattung bei Soldaten im Einsatz keinen hohen Stellenwert. Zu oft finden sie sich und ihren Alltag in den Berichten nicht richtig wieder gegeben. Manches ist ihnen zu glatt, anderes einfach den Notwendigkeiten angepasst. Auch wenn meine Kollegen und ich sich redlich bemühen, so passt „Krieg“ eben selten in „eine Minute dreißig“ oder in „sechzig Zeilen“, sprich in die Formate, die in Nachrichtensendungen oder Zeitungen Standard sind. Aber auch die Soldaten wissen, Berichte in den Medien sind die einzige Möglichkeit ihre Erlebnisse in die Heimat zu transportieren. Sie sind ein Mittel um zu bewirken, dass das „freundliche Desinteresse“14 an der Heimatfront durch Respekt und Anerkennung abgelöst wird. Militär und ihre Einsätze sind eine komplizierte Thematik. Kaum ein Außenstehender ist sich der Komplexität eines militärischen Auslandseinsatzes bewusst. Journalisten müssen sich dem stellen. Genau zu beschreiben, ohne sich in militärfachlichen Details zu verlieren, ist ein Drahtseilakt. Aber um dem gemeinsamen Interesse zu dienen, nämlich eine ausgewogene und interessante Berichterstattung zu gewährleisten, müssen sich Militärs öffnen und Medien Verständnis für die Zwänge der Militärs entwickeln. Nur dann kann sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickeln. Recherche und Sachkunde sind dabei Grundlagen für eine faire Berichterstattung. Beides kostet Geld. Recherche dauert, und Sachkunde muss gepflegt werden. In Zeiten von Finanz14  Rede von Bundespräsident Horst Köhler, Kommandeurtagung der Bundeswehr, 10.10.2005.



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und Wirtschaftskrise, von sinkenden Etats, von Anzeigenschwäche und Gebührendruck ist all das keine Selbstverständlichkeit für Medienunternehmen. Ferner müssen sich Medien bemühen, ihre Journalisten fachlich so auszubilden, dass sie den sicherheitspolitischen und militärtaktischen Debatten, über die sie berichten, auch folgen können. Eine Haltung „Soldaten versteht ja keiner“ ist auf Medienseite nicht hilfreich, geht es doch um die Vermittlung dessen, was Soldaten in ihren Einsätzen erleben. Und die Aufgabe des Journalismus ist es, diese Erlebnisse in Wort und Bild für Zuschauer, Zuhörer und Leser zu übersetzen. Eine Forderung, die an Allgemeingültigkeit kaum zu überbieten ist, die in der Realität aber dennoch oft verletzt wird. Entscheidungen über militärische Auslandseinsätze oder Interventionen werden nach einer Vielzahl von politischen und militärischen Faktoren getroffen. Aber zumindest die größeren Auslandseinsätze haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt – die Medienberichterstattung. Hier spielt das Fernsehen eine ganz wesentliche Rolle: Verhungernde Kinder, marodierende Banden, blutrünstige Diktatoren, das sind die Bilder, die als moralisches Schwungrad für einen militärischen Einsatz dienen können. Sie wirken auf die Volksseele und damit natürlich auch auf die Politik. Auch die aktuellen Einsätze der Bundeswehr sind auf diese „vorbereitende Berichterstattung“ angewiesen. Beispiel Afghanistan: 2001 wirkten die tausendfach wiederholten Fernsehbilder vom Einsturz der Twin Towers wie Motivationspillen für die Bereitschaft der westlichen Gesellschaften, ihre Regierungen beim Feldzug in Afghanistan zu unterstützen. Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck formulierte es in der Debatte des Bundestages bei Ausrufung des Nato-Bündnisfalls am 12. September 2001 mit denkbar einfachen Worten: „Heute sind wir alle Amerikaner.“ Ob man die Anwesenheit von Ausbildungslagern der Al-Qaida in Afghanistan als zwangsläufige Folge der Taliban-Herrschaft sehen muss oder nicht, das war in Deutschland nie Gegenstand einer öffentlichen Debatte. Stattdessen trafen die Berichte über

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Terror-Camps am Hindukusch auf westliche Gesellschaften in Berlin, London und New York, deren Afghanistan-Bild schon seit längerem via Fernsehen und Pressefotos negativ geprägt worden war. Die Berichte über die Menschen verachtenden Facetten des Terrorregimes fanden ihren medialen Höhepunkt, als das Tali­ban-Regime im März 2001 die als Weltkulturerbe geschützten Buddha-Statuen von Bamiyan sprengte – ein barbarischer Akt, nicht nur im Kulturverständnis der westlichen Welt. Neun Jahre später ist der Krieg weniger plausibel geworden. Inzwischen dominieren in der Berichterstattung die Kriegsbilder der Isaf. Die Zuordnung von „Gut und Böse“ verschwimmt in der Berichterstattung, der Wiederaufbau wird nur selten thematisiert. Nur wenige Beiträge, wie der Bericht des Times-Magazin über eine junge Afghanin, der Peiniger die Nase abschnitten, geben eine Vorstellung davon, dass ein zu schneller Abzug der Nato für viele Afghanen auch in einer humanitären Tragödie enden könnte. Aber was, wenn die Bilder fehlen? Wenn die moralische Entrüstung erst erzeugt werden muss? Dann übernehmen Militärs und Regierungen schon mal selbst die Regie. Zur Rechtfertigung des ersten Irak-Krieges, nach dem Überfall der irakischen Regierung auf Kuwait 1990, ersann eine internationale PR-Agentur im Auftrag der US-Regierung eine grausame Geschichte, die als eine der erfolgreichsten Medieninszenierungen der Neuzeit gilt. Die Agentur Hill & Knowlton erdachte die Story der jungen kuwaitischen Krankenschwester Nayirah, die beim Einmarsch der irakischen Truppen in Kuwait-City mit ansehen musste, wie Soldaten Neugeborene aus den Brutkästen rissen und elendig sterben ließen. Das fünfzehnjährige Mädchen sagte später vor einem Ausschuss des amerikanischen Parlaments aus. In akzentfreiem Englisch und mit allen Ein­zelheiten. Erst der Enthüllungsartikel des renommierten ame­rikanischen Journalisten John R. MacArthur in der New York Times am 6.  Januar 1992 entlarvte alles als eine Kriegs-Lüge.15 In Wahrheit war „Nayirah“ die Tochter des dama15  Remember Nayira, Witness for Kuwait?, John R MacArthur, NYTimes, 6. Jan 1992.



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ligen kuwaitischen Botschafters in Washington. Es hatte nie eine fünfzehnjährige Nayirah gegeben, keine gewaltsam entleerten Brutkästen und auch keine toten Babys. All das war eine Erfindung zur Rechtfertigung eines Krieges. Dass der Irak zuvor Kuwait überfallen und besetzt hatte, durchaus ein völkerrechtlich legitimer Grund, den Irak anzugreifen und Kuwait zu befreien, erschien der US-Regierung offenbar als keine ausreichende Begründung, um die sogenannte Heimatfront für diesen Waffengang zu gewinnen. Keine Bilder – keine Geschichte. Keine Geschichte – keine Aufmerksamkeit. Keine Aufmerksamkeit – keine Unterstützung. Medien geben nicht den Einsatzbefehl, aber sie haben die Möglichkeit eine Interventionspolitik zu befördern oder ihr entgegen zu wirken. Wie beschränkt die Macht der Bilder gleichwohl sein kann, zeigen viele Reportagen aus Afrika, vor allem die unzähligen Berichte über den Völkermord in Ruanda im Jahr 1994. Die Reporter waren vor Ort, aber die Politker des Westens schauten weg. Ihre Soldaten kamen nie und die wenigen Uno-Blauhelme, die vor Ort waren, griffen nicht ein oder zogen ab. Der Einsatz von Militär in einem Krisengebiet ist für keine Regierung eine leichte Entscheidung. Das gilt unabhängig von politischen Konstellationen und Koalitionen. Um Soldaten einzusetzen, die die Interessen ihres Landes durchsetzen, bedarf eine Regierung der Zustimmung der Bevölkerung. In Demokratien, zumal in einem Land mit einer schwierigen Geschichte wie Deutschland, ist dabei der Verweis auf die Staatsräson, also die Durchsetzung nationaler Interessen, kein ausreichendes Argument für den Einsatz militärischer Gewalt. Vielmehr fordert die Bevölkerung klare Argumente dafür, dass ein Auslandsein­ satz auch moralisch gut begründet ist. Zugespitzt lässt sich sagen: Das Volk will den gerechten Krieg oder keinen. Für die Politik liegen damit die Hürden für Auslandseinsätze der Bundeswehr ziemlich hoch. Um sie zu überwinden, müssen die faktischen Voraussetzungen stimmen und die Regierung muss gute Argumente finden, um einen Einsatz als plausibel und unabweisbar darzustellen. Was schon im Vorfeld von Interven-

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tionen schwer ist, nimmt mit der Dauer des Einsatzes immer weiter zu. Wie schwer es sich auch demokratisch kontrollierte Regierungen im Zusammenhang mit Militärinterventionen machen, kann man am deutschen Beispiel gut studieren. Im Frühjahr 1999 musste die frisch gewählte rot-grüne Bundesregierung den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo rechtfertigen. Den ersten Kriegseinsatz der deutschen Armee seit 1945. Nicht nur in den Regierungsparteien, bei SPD und Bündnis 90 / Die Grünen, war die Skepsis groß. Auch ein Großteil der Medien argumentierte dagegen. Schwere Fehler in der Kriegsführung, wie etwa die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad durch Bomber der Nato, brachten die Bundesregierung zudem während der Kampfhandlungen unter Druck. Erst eine Neujustierung der Argumentation führte zur medialen Wende und brachte den Umschwung im Meinungsbild der Bevölkerung. Bereits vor Interventionsbeginn, im Frühjahre 1999 zogen führende Vertreter der rot-grünen Koalition moralische Superlative als Kriegbegründung heran. Bundesaußenminister Joschka Fischer argumentierte damals auf dem sogenannten „Kriegsparteitag“ der Grünen in Bielefeld mit dem hochemotionalen Appell: „Nie wieder Krieg – nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord – nie wieder Faschismus, beides gehört bei mir zusammen.“16 Die moralische Keule des Genozids wurde zur Begründung für den Einsatz auf dem Balkan. Teile der Medien griffen diese Rhetorik auf und unterlegten sie mit passenden Bildern. Die Bild-Zeitung druckte das ganzseitige Foto eines Flüchtlingstrecks. Dazu die Überschrift: „Sie treiben sie ins KZ“. Im Begleittext hieß es: „KZ. Konzentra­ tionslager. Ein Alptraum ist wiederauferstanden. Aus dem Kosovo verstärkten sich gestern Berichte, dass die Serben Tausende von Albanern in riesige Lager zusammentreiben  …“.17 Dass 16  Joschka Fischer, Rede auf dem Parteitag der Grünen, 13. Mai 1999. 17  Bild-Zeitung, 1. April 1999.



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das Foto in Wahrheit einen Flüchtlingszug von Albanern im angrenzenden Mazedonien zeigte, blieb lange unerwähnt. Doch diese moralische Überhöhung des Kosovo-Einsatzes bewährte sich nicht. Die demokratische Rechtfertigung der Operationen auf dem Balkan gelang trotz des Massakers von Srebrenica, trotz der unzähligen Gräueltaten der mutmaßlichen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko Mladić nicht. Die deutsche Bundesregierung benötigte viele Jahre, bis sich eine im besten Falle gleichgültige Haltung in der Bevölkerung zum inzwischen längsten aller Bundeswehreinsätze durchsetzte. Das trug allerdings weder zu mehr Unterstützung bei, noch führte es zu mehr Respekt gegenüber den Soldaten. Auch die baldige Anpassung der Argumentation, nach der der Einsatz nun dem erfolgreichen Wiederaufbau des Landes diene, sorgte in der Folge nicht für die gewünschte Aufmerksamkeit. Damit bleibt der Kosovo-Einsatz in seiner politischen Wirkung umstritten, obwohl er faktisch zu den gelungenen Militär­ interventionen zählt. Wenn man heute auf den Straßen der Republik eine Umfrage durchführte, würde man wohl feststellen, dass er inzwischen auch zu den vergessenen Einsätzen der Bundeswehr gehört. Das wäre womöglich alles anders zu beurteilen, wenn man in der damaligen Bundesregierung schon frühzeitig zu einer ehrlicheren Argumentation gefunden hätte. Wenn man die Verhinderung eines unlösbaren Flüchtlingsproblems in Europa in den Mittelpunkt gestellt hätte und die finanziellen und sozialen Herausforderungen, die eine Aufnahme Hunderttausender KosovoAlbaner zusätzlich zu den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien und Kroatien für unsere Sozialsysteme bedeutet hätte. Die damalige Bundesregierung traute sich offenbar nicht zu, allein entlang dieser Begründungslinien eine ausreichende Unterstützung für die Intervention zu gewinnen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Medien und Politik, man könnte hinzufügen auch das Militär, sind Teilhaber einer Wahrhaftigkeit, ohne die Demokratien keine Soldaten einsetzen könnten. Wenn die Bürger den Institutionen ihres Staates nicht mehr vertrauen, werden diese handlungsunfähig. Es ist Aufgabe

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von Politik und Militär dieses Vertrauen herzustellen, vor allem durch mehr Transparenz und Offenheit. Aufgabe der Medien ist es, das gewährte Vertrauen nicht zu missbrauchen. Nur dann wird die sogenannte „vierte Macht“ im Land ihre Rolle als kritischer Begleiter der Politk wahrnehmen können und den Bürgern die nötige Information und Aufklärung über den weltweiten Einsatz der Bundeswehr bieten.

III. Der Einsatz

Im Einsatz mit Partnern Von Jörg Vollmer Von April 2009 bis März 2010 stellte die Panzergrenadierbrigade 37 „Freistaat Sachsen“ als erster Großverband des Heeres durchgängig für ein Jahr den Hauptteil der deutschen Kräfte für den Isaf-Einsatz im Norden Afghanistans. Zwei Jahre lang hatte ich unsere Truppen als Kommandeur auf diesen Einsatz vorbereitet. Ich selbst diente vom 10. Januar bis 3. Oktober 2009 als Kommandeur des Regionalkomman­dos Nord in Afghanistan (Commander Regional Command North, RC North) und war mit der Führung der multinationalen Isaf-Kräfte in den neun nördlichen Provinzen des Landes beauftragt. Neben den Soldaten der Bundeswehr, die sich aus allen Teilstreitkräften zusammensetzten, gehörten dem Regionalkommando viele weitere Nationen an, deren Offiziere teils über Jahrzehnte in Nato und EU in gemein­samen Ausbildungsabschnitten, Übungen und Einsätzen ein tiefgreifendes gegenseitiges Verständnis von Führungsverfahren und Führungskultu­ren entwickelt haben. Die Zusammenarbeit mit den afghanischen Sicherheitskräften dagegen war damals neu und zunächst ungewohnt. Es erforderte ein tiefgreifendes Umdenken. Wer jedoch Vertrauen erwerben will, muss bereit sein, Vertrauen zu geben. Die bei allen Partnern vorhandene Aufgeschlossenheit und der gelebte Wille zur Zusammenar­beit war die Voraussetzung dafür, dass auch die Kooperation mit unseren afghani­schen Partnern letztlich erfolgreich verlief. Deutschland hat als Führungsnation (Lead Nation) im Norden Afghanistans einen Verantwor­tungsbereich übernommen, der halb so groß ist wie die Bundesrepublik Deutsch­land: ca. 162.000 Quadratkilometer, unterschiedlich dicht besiedelt, mit 10,8 Millionen Einwohnern in neun Provinzen und 122 Distrik-

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ten. In 2009 waren für die Sicherheit in diesem Raum 5.700 Isaf-Solda­ten sowie unsere Partner der afghanischen Armee (Afghan National Army), der afghani­schen Polizei (Afghan National Police), des nationalen Sicherheitsdienstes (National Department of Security) und der afghanischen Grenz­polizei (Afghan Border Police) verantwortlich. Ne­ben Deutschland beteiligten sich in 2009 Schwe­den, Norwegen und Un­garn mit größeren Kontingenten im Verantwortungsbereich des Regionalkommandos Nord. Mittlerweile ist das amerikani­sche Kontingent deutlich angewach­sen. Es steuert nun jene Fähigkeiten bei, die bislang nur unzureichend vorhanden waren, wie beispiels­ weise Helikopter. Grundvoraussetzung einer jeden Zusammenarbeit im multinationalen Umfeld des Afghanistan­einsatzes sind die sprachlichen Fertigkeiten. Englisch ist die gebräuchliche Arbeitssprache, deren Beherrschung für alle in multinationalen Hauptquartieren eingesetz­ten Soldaten unabdingbare Voraussetzung zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist. Koordination und Führung sind ohne adäquate und eindeutige Kommunikation nicht möglich. Dies ist bereits für eingespielte Nato-Partner eine Herausforderung, bei denen die Sprachkompetenz erheblich schwankt und wo unterschiedliche Akzente weitere Verständnisprobleme provozieren. In der unmittelbaren Zusammenarbeit mit unseren afghanischen Partnern sind die sprachlichen Barrieren noch ungleich höher. Jedes Abstimmungsgespräch, alle gemeinsa­men Handlungen sind ohne Übersetzer oder Sprachmittler nicht möglich. Kommunikation benötigt so Zeit, Geduld und ein gewachsenes Gespür und Vertrauen für das jeweilige Gegenüber. Allein die Übersetzung des gesproche­nen oder geschriebenen Wortes von Deutsch in Eng­lisch, danach in Dari und zurück, lässt erah­nen, welche Fehlerquel­len oder unterschiedli­che Interpretationen dabei auftreten können. Der deutsche Kommandeur des Regionalkommandos Nord führt mit Hilfe seines multinatio­nalen Stabes aus Masar-e-Scharif heraus alle militärischen Operationen in seinem Einsatzgebiet. Er untersteht in der internationalen Kommandohierarchie dem Kommandeur Isaf. Zu meiner Zeit waren dies die amerikanischen



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­ enerale McKiernan und ab Juni 2009 General McChrys­tal. G ­Nationaler Befehls- und Weisungsgeber des deutschen Re­gional­ komman­deurs ist der Befehlshaber des Einsatzführungs­komman­ dos in Potsdam. Dem Commander RC North selbst unterstehen wiederum fünf Regionale Wiederaufbau­teams (Provincial Reconstruction Team, PRT). Deren Auftrag besteht darin, innerhalb ihres Verantwortungsbereichs Sicherheit und Stabilität herzustellen und zu gewährleisten, um so gemeinsam mit den Afghanen vor Ort Maßnahmen für den Wiederaufbau und die weitere Entwicklung möglich zu machen. Für diesen Zweck haben sie sowohl militärische Anteile, als auch eine zivile Präsenz, meist in Gestalt von Diplomaten und Experten der Entwicklungshilfe. In meinem ehemaligen Verantwortungsbereich gab es zwei deutsche PRTs in Kundus und Faisabad, ein ungarisches in Pol-e-Khomri, ein schwedisches in Masar-e-Scharif und ein norwegi­sches in Meymaneh. Jeder der internatio­nalen PRT-Kommandeure ist wiederum parallel in seine nationale Befehlskette eingebunden und jedes der regionalen Wiederaufbauteams ist nach der jeweiligen nationalen Vorgabe unterschied­lich ausgestattet und wird unter Berücksichtigung der nationa­len Vorgaben geführt. Diese sind stets zu respektieren und im Sinne des gemeinsamen Isaf-Auftrages in Übereinstimmung zu bringen. Das betrifft nicht nur die militärischen Vorga­ben, sondern vor allem auch die jeweiligen politischen Vorstellungen für Maßnahmen des Wiederaufbau­s und der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Einsatz mit Partnern endet aber ausdrücklich nicht bei den Isaf-Partnernationen, sondern umfasst auch alle Entscheidungsträger, Institutionen und Einrichtungen der Gastna­tion. Für den militärischen Teil des Regionalkommandos Nord ist dies noch weitge­hend einfach. Der Einsatz- und Verantwortungsraum des Regionalkommandos Nord ist geographisch identisch mit dem des 209. Korps der afghanischen Armee und mit dem der entsprechenden Verantwortungsebenen von afghanischer Polizei, Grenzpolizei und nationalem Sicherheitsdienst; das heißt fünf Kommandeure und ein jeweils identischer Verantwortungsraum. Alle sind mit ihren Hauptquartieren in Masare-Scharif stationiert, und alle fünf haben ein übergeordnetes

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Interesse: Sicherheit durchzusetzen und dauerhaft zu etablieren. Dazu fanden zu meiner Zeit regelmäßige gemeinsame Abstimmungen statt. Alle waren am Fortschritt interessiert. Die Zusammenarbeit mit der für die Koordinierung der Aufbauhilfe beauftragten VN-Organi­sation Unama (United Nations Assistance Mission to Afghanistan) gestaltete sich schwieriger, da diese den Norden Afghanistans in zwei unabhängig voneinander arbei­tende Regionalbereiche aufgeteilt hatte, jeweils verantwortlich für fünf bzw. vier Provinzen. Die beiden Regionalbüros befinden sich in Masar-e-Scharif und Kundus und legen den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit jeweils nur auf ihre Provinzen. Eine übergreifende Koordination oder auch nur Harmonisierung war schwierig und offenbar nicht immer im Interesse der jeweiligen Regionalbü­ros. Die Koordination der Zusammenarbeit mit den neun Provinzregierungen wird auf der Ebene der Gouverneure zur Herausforderung. Die Provinzgouverneure sind, trotz Zentralre­gie­rung in Kabul und trotz der Tatsache, dass sie ausschließlich durch Kabul einge­setzt und nicht von der Bevölkerung gewählt werden, weitgehend au­tark und han­deln entsprechend. Ohnehin bietet jede Provinz unterschiedliche Rahmenbedingungen in Bezug auf den politischen Gestaltungswillen des Gouverneurs, die Sicherheit, den wirtschaftlichen Fort­schritt und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Alle Maßnahmen des Wiederaufbaus werden mit den Gouverneuren und den Provinzrä­ten abgestimmt. Jede größere militärische Operation erfolgt grundsätzlich unter Einbin­dung des Gouverneurs; ohne seine Unterstützung laufen alle Maßnahmen mittelfristig ins Leere. Für konkrete Operationen bedeutet dies: Der Kommandeur des Regionalkommandos Nord erhält seine Befehle auf dem Isaf-Befehlsstrang aus Kabul und stimmt diese national mit dem Einsatzführungskommando in Potsdam ab. Danach erfol­gt die Koordination mit seinen vier afghanischen Partnern von Armee, Polizei, Grenzpolizei und nationalem Sicherheitsdienst, die Abstimmung mit den jeweils betroffe­nen Provinzgouverneuren und die Einleitung des Harmonisierungsprozesses mit der Unama



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sowie allen zu beteiligenden staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisatio­nen. Schlussendlich erfolgen die Planung der militärischen Umsetzung mit den beteilig­ten Partnernationen von Isaf und die anschließende Durchführung mit den zur Verfü­gung stehenden multinationalen Kräften. Dieser komplexe Abstimmungsvorgang erfolgt ununterbro­chen, häufig parallel, auf unterschiedlichen Ebenen und mit wechselnder Intensi­tät. Die Ausgestaltung und der Einsatz der PRTs erfolgen durch jede Nation nach einem eige­nen Ansatz. Keines der PRTs im Norden Afghanistans ist gleich, jede Nation verfolgt ihren eigenen Ansatz der Zusammenarbeit zwischen den militärischen und den zivilen Anteilen. So führte eine Partnernation ihr PRT mit einer strikten Trennung zwischen militärischem und zivilem An­teil. Die Unterbringung von Militärs und Zivilisten war bewusst räumlich getrennt. Langfristige gemeinsame Abstimmungen oder kurzfristige Absprachen zwischen Soldaten und Entwicklungsexperten waren die Ausnahme und hieraus resultie­rende Probleme wurden in Kauf genommen. Militärisch verfügte dieses PRT zwar über alle erforderlichen Fähigkei­ten, aber die zu geringe Anzahl von Soldaten in Bezug auf die Größe des Ver­ant­wor­ tungs­be­reichs wirkte sich nachteilig auf eine erfolgreiche Durchset­zung und das dauerhafte Hal­ten der Sicherheit in der Provinz aus. Der permanenten und räumlich wechselnden Bedro­hung durch Anschläge und der damit einhergehenden Einschüchte­rung der Bevölkerung konnte deshalb nur durch ständige Verlagerung der eigenen Kräfte begegnet werden. Da­ her gelang es hier nicht, flächendeckend eine dauer­hafte Sicherheit durchzusetzen. Die Aufständischen konnten sich in der Folge immer wieder erfolgreich dort festsetzen, wo die Sicherheitskräfte des PRT und der afghanischen Ar­mee und Polizei die Bevölkerung nicht dauerhaft schützen konnten. Regionale Aufbau­hilfe konnte in diesen Räu­men deshalb kaum ihre stabilisierende Wirkung entfalten. Das regionale Wiederaufbauteam eines anderen Partners war für insgesamt vier Provinzen zuständig. Militärisch ebenso professionell ausgerüstet und ausgebildet, trennte dieses PRT den

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militärischen und zivilen Bereich noch deutlicher. Aufbauhilfe und alle nationalen monetären Leistun­gen erfolgten unmittelbar an die afghanische Zentralregierung in Kabul. Von dort wurden die Mittel nach für mich nicht immer nachvollziehbaren Gesichtspunkten in alle Landesteile verteilt, einschließlich in den Süden Afghanistans. Dieses Vorgehen und die wenigen im Verantwortungsbereich des PRT ankommenden Geldmittel erschwerten die Zusammenar­beit mit den Provinzregierungen und behinderten die Vertrauensbil­dung zwischen dem PRT und der einheimischen Bevölkerung. Erst nachdem das Regionalkom­ mando Nord eingriff und nicht zuletzt mittels einer Vielzahl bedeutender, deutsch finanzierter Aufbauprojekte Vertrauensbildung betrieb, verbesserte sich die Situation. Einem weiteren Partner mangelte es wiederum sowohl an der entsprechenden Gesamtstärke, als auch an wichtigen militärischen Fähigkeiten, um die Aufgaben in seiner Provinz voll erfüllen zu können. So war weder die taktische Koordination von Luftkampfmit­teln möglich, noch verfügte das PRT über die wesentliche, notwendige medizinische Ausstattung. Eine zivile Komponente war im PRT nicht vorhanden und auch nicht vorgesehen, so dass alle zivilen Aufgaben durch Offiziere für zivilmilitärische Zusammenarbeit wahrgenommen wurden. Die militärisch-zivile Doppelspitze in der Führung der beiden deutschen PRTs hat sich grundsätzlich bewährt. Allerdings wäre es sinnvoll, solch eine Doppelspitze zusätzlich im Regionalkom­ mando Nord in Masar-e-Scharif abzubilden, da dort die Gesamtkoordination für alle neun Provinzen erfolgt. Zu meiner Zeit fand dies aber nicht statt, da es dafür sowohl an Personal als auch an einem abgestimmten Kon­zept fehlte, wodurch leider viel Zeit vertan wurde. Sie hätte genutzt werden können und müs­sen, um die Reihenfolge jener Provinzen festzulegen und vorzubereiten, die nacheinan­der vollständig in afghanische Verantwortung übergeben werden sollen. Die militärische Operationsführung des Regionalkommandos Nord war durchgehend durch die be­schränkte Verfügbarkeit der Kräfte in den regionalen Wiederaufbauteams limitiert. Verschärfend kamen zwei wei­tere Faktoren hinzu: Zum einen führten



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die Kontingentwechsel, die aufgrund der jeweili­gen nationalen Planungen und Vorgaben nur sehr schwer zu koordinieren waren, in allen fünf PRTs und bei den Verstärkungskräften in Masar-e-Scharif permanent zu personellen Engpässen. Zum anderen hatten die unterschiedlichen und teilweise auch sehr großzügig gehandhabten Urlaubsregelungen einzelner Nationen zur Folge, dass immer wieder entscheidende militärische, aber auch zivile Fähigkeiten über Wochen nicht verfügbar waren. Ein Ausgleich fehlender Fähigkeiten aus anderen PRTs heraus musste durch das Regional­kommando Nord koordiniert werden. Dies ist in vielen Fällen gelungen, aber zum Preis von entsprechenden Reduzierungen an anderer Stelle. In der geographischen Ausdehnung von knapp 162.000 Quadratkilometern standen nie Gesamtkräfte in dem Umfang zur Verfügung, der für die Erfüllung der Aufgaben notwendig gewesen wäre. Ein permanentes Rochieren der knappen Mittel war deshalb ständige Praxis. Eine umso größere Bedeutung hat daher der quantitative und vor allem qualitative Auf­wuchs der afghanischen Sicherheitskräfte. Hier sind in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt worden, zugleich ist aber noch ein weiter Weg zu gehen. Die im Nor­den Afghanistans zur Verfügung stehenden Kräfte entsprachen zu Beginn 2009 bei wei­tem nicht den Erfordernissen, weder zahlen- noch ausstattungsmäßig. Dies hing damit zusammen, dass die Regierung in Kabul und Isaf ihre militärischen Schwerpunkte eher im Süden und Osten setzten und die eigentlich notwen­dige Aufstellung von angemessen starken Armee- und insbeson­dere Polizeikräften in der Nordregion zunächst keine Priorität genoß. Deutsche Soldaten arbeiten auf allen Ebenen mit afghanischen Sicherheitskräften zusam­men: In der Planungsarbeit im Stab Regionalkommando Nord, in den PRTs bis auf die unters­ te taktische Ebene des Militärs, den Zug. Ein umfassender Planungsprozess im deut­schen Sinne unter Berücksichtigung aller notwendigen Faktoren ist weitgehend unbe­kannt. Die Kommandeure der afghanischen Sicherheitskräfte treffen vorwiegend kurzfris­tige Entscheidungen, die meist noch am selben Tag umgesetzt werden. Dabei kann es jederzeit vorkommen,

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dass die Ab­sicht des Kommandeurs oder die zu erreichen­den Ziele während einer laufenden Opera­tion immer wieder geändert werden. Der Planungsho­ri­zont ist dementsprechend kurz und schnellle­big. Eine ständige Übersteuerung über alle afghanischen Führungsebenen hin­weg war die Re­gel. So kam es ständig zu unmittelbaren, fernmündlichen Anweisungen von afghanischen Ministerien oder auch vom kommandierenden General des 209.  Korps der afghanischen Armee direkt an die untersten militärischen Vorgesetzten. Ebenso wurden kurzfristig Operatio­ nen durch den Provinzgouverneur oder die Zentralregierung angewiesen, die dann im besten Falle inner­halb von wenigen Tagen vorzubereiten und durchzuführen waren. Dabei wurde die Unterstüt­zung durch Isaf wie selbstverständlich erwartet; Verzöge­rungen, die zwangsläu­fig durch fundierte Planungsarbeit und notwendige Erkundun­gen unserer Offiziere entstanden, wurden von den afghanischen Kameraden mit Unverständnis aufgenommen. Die Zusammenarbeit mit unseren afghanischen Partnern erfordert also Geduld, Empathie, Flexibilität und interkultu­relle Kompetenz. Ebenso erfordert das mangelnde Vertrauen der afghanischen Sicherheits­kräfte untereinander ein ständiges Vermitteln und Überzeu­gen durch die internatio­nalen Partner. Wie geht man als Befehlshaber mit solch einer Situation um? Bewährt hat sich die Umkehrung des militärischen Führungsprozesses in der Gestalt, dass zunächst versucht wurde, ein gemeinsames Grundverständnis zwischen den Führern der afghanischen Sicherheitskräfte und Isaf herzustellen. Ist eine gemein­same Absicht einvernehmlich formuliert worden, können mit den afghanischen Stäben eine gemeinsame Beurteilung der Lage und daraus abgeleitet Möglichkeiten des Han­delns ent­wickelt werden. Sehr erfolgreich war dieses Vorgehen bei der Vorberei­tung der afghanischen Präsidentschaftswahlen im Sommer 2009. Dabei gelang es erst­mals, die zivilen afghani­ schen Verantwortungsträger in den Prozess der Entscheidungsfin­ dung einzubinden und sie in ihrer Verantwortung zu stärken. In allen neun Provinzen im Norden Afghanistans verliefen die



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Wahlen weitgehend ruhig und im Vergleich zu anderen Landesteilen fanden sie unter hoher Wahlbeteiligung statt. Alle beteilig­ten afghanischen Kräfte, zivile, polizeili­che und militärische, haben die Vorberei­tung und Durchführung der Wahlen als ihre Verantwortung empfunden. Sie waren auf das Ergebnis zu Recht stolz. Der Schlüssel für den Erfolg liegt im Aufbau von tragfähigen Sicherheitsstrukturen; in der Einbeziehung der afghanischen Sicherheitskräfte in den Schutz ihrer eigenen Bevölke­rung. Der Strategiewechsel des damaligen neuen Isaf-Kommandeurs, General McChrystal, im Juni 2009 zielte genau in diese Richtung. Er führte nicht nur tägliche Video­konferenzen mit seinem Hauptquartier in Kabul und den Kommandeuren der fünf Regionalkomman­dos ein, sondern es wurden zu diesen – ebenso wie zu anderen Besprechun­gen – ab sofort auch hochrangige Vertreter der afghanischen Sicherheitskräfte eingeladen. Sie wurden damit unmittelbar in die Planung von Isaf eingebunden, ihnen wurde die Arbeits- und Denkweise der Isaf-Kräfte direkt verdeutlicht, und sie wurden letztendlich auch in Verant­wortung genommen. Dies wurde schrittweise auch auf den weiteren Ebenen umgesetzt. Immer häufiger und nach einiger Zeit sogar täglich wurden die afghanischen Partner in unsere Arbeitsprozesse eingebun­den, um Vertrauen zu schaffen und ihnen schrittweise die Verantwortung zu übertra­gen. Wie könnte es weitergehen? Es gilt, zunächst das Erreichte zu sichern und den in sieben von neun Provinzen im Nor­den bereits sehr erfolgreichen Wiederaufbau weiter voranzubringen. Die Afghanen erwarten zuvorderst Sicherheit für sich und ihre Familien, ein Einkommen, das zum Überleben ausreicht, und Bildung für die junge Generation. Hierfür muss das Konzept des ressortübergreifenden Ansatzes auch personell im Einsatzland umgesetzt werden. Ein durchgängig und belastbar arbeitsfähiges ziviles Team ist zum Ausbau von Staatlichkeit und Wiederaufbau sowohl auf der Ebene des Regio­nalkom­man­dos Nord als auch der PRTs erforderlich. Hier steht Deutschland als Führungsnation im Norden in der Pflicht.

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Das große Potential unserer in Deutschland lebenden, häufig hochqualifizierten afghani­schen Mitbürger, die während der sowjetischen Besatzungszeit ihr Heimat­land verlassen mussten, liegt weitgehend brach. Ihre sprachlichen Fähigkei­ten und ihre interkulturelle Kompetenz gilt es noch weit besser und intensiver auch für die Bundeswehr zu nutzen. Der Aufbau und die Ausbildung einer von der Bevölkerung anerkannten und akzeptierten afghanischen Polizei erfordern weitere Kraftan­strengung. Der Aufbau der Polizeischulen in Masar-e-Scharif und Kundus war ein guter Anfang. Jetzt müssen ausreichend Polizei­kräfte rekrutiert, bezahlt, ausgebildet und vor Ort in den Distrikten durch Mentoren beglei­tet werden. Für den Aufbau der afghanischen Armee gilt es, Kontinuität zu gewährleisten. Der hohe Stellen­wert des persönlichen Vertrauens innerhalb der afghanischen Gesell­schaft rechtfer­tigt auch für die Bundeswehr längere Einsatzzeiten, besonders im Bereich der militärischen Führer und Mento­ren, auch wenn dies für die betroffenen Soldaten eine noch höhere persönli­che Belastung bedeutet. Um Sicherheit durchzusetzen, ist unverändert ein robustes Mandat erforderlich. Es sind Einsatzregeln notwendig, die es unseren Soldaten erlauben, richtig und in jeder Bedrohungs­lage angemes­sen zu handeln. Hierfür ist seit Sommer 2009 die notwendige Grundlage geschaf­fen worden. Nur wer Rechtssicherheit hat, kann im Rahmen des erteil­ten Auftrags erfolgreich handeln. Dies muss einher gehen mit der Bereitstellung der entsprechen­den Mittel und Kräfte. Erst wenn das Kon­zept des Wiederauf­baus einvernehmlich mit allen da­für Verantwortli­chen abgestimmt ist und die notwendi­gen Kräfte zur dauerhaften Aufrecht­erhal­tung der Sicherheit vorhanden sind, kann ernsthaft damit begonnen werden, Sicher­heit durchzusetzen. Im Einsatz mit Part­nern zu sein, umfasst also stets mehr als nur die militäri­ sche Partnerschaft. Grundsätzlich gilt: es darf keine militärische Operation geben, ohne dass ausreichend Kräfte für das anschließende Aufrechterhalten von Sicherheit zur Verfügung stehen und ohne dass Konzepte für den Wiederaufbau vorliegen. Dort, wo die



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Zusammenarbeit bereits gut funktioniert, herrscht gegenseitiges Vertrauen und das Verständnis eines gemeinsa­men Ansatzes – militärisch wie zivil. Aber auch eine hohe Motivation, ein langer Atem sowie die Fähigkeit, mit Mißerfolgen umzugehen, sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit. Festzuhalten ist, dass deutsche Soldaten grundsätzlich gut vorbereitet sind, um in multinationalen Einsätzen, wie dem IsafEinsatz in Afghanistan, zu beste­hen. Vor allem die Fähigkeit zum kreativen, flexiblen und zielorientierten Handeln zeich­net den „deutschen Stil“ unverändert aus. Eine deutlich verbesserte Integration unserer afghanischen Partner ist der Schlüssel zum Erfolg für die Durchsetzung der Sicherheit und – wenn notwendig – auch gemeinsam im Gefecht. Erst dort, wo dauerhaft Sicher­heit herrscht, kann mittelund langfristig der Auf­bau vorangehen. Das muss aber immer vorher mit denjenigen abgesprochen sein, die für den Aufbau verantwortlich sind. Ge­schieht dies nicht, kann Sicherheit wieder verlo­ren gehen und der Teufelskreis der Gewalt beginnt von vorne. Im Einsatz mit Partnern erfolgreich zu bestehen ist daher nicht nur eine Herausforde­rung für Soldaten. Im Gegenteil! Es erfordert ein ressortübergreifendes Verständnis der jeweiligen Einsatzgrundsätze und Rahmenbedingungen. Im Einsatz mit Partnern zu handeln heißt, gemeinsam mit Soldaten aus Nato und Nicht-Nato-Staaten, mit Sicherheitskräften des Gastlandes und mit einer Vielzahl von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen auf ein gemeinsames Ziel hin zu arbeiten. Wer das nicht bereits zuhause durchdenkt und in welcher Form auch immer übt, der muss vor Ort im Einsatzland viel Zeit einkalkulieren, um Versäumtes nachzuholen. Friktionen wird es in Einsätzen wie in Afghanistan immer geben, aber man kann sie durch ein besseres, übergrei­fendes Verständ­nis aller beteiligten Partner und einen frühzeitig erprobten und von allen Sei­ten akzeptierten gemeinsamen Ansatz deutlich minimieren.

Im Felde – die Sicht des Soldaten Von Christian Freuding* 1

Greller Sonnenschein, ein fast unwirklich erscheinender blauer Himmel, die schneebedeckten Gipfel der sich majestätisch gegen den Horizont abhebenden Bergkette – unzählige Male habe ich dieses Bild, das sich mir beim Absitzen aus der Transall-Maschine am Kundus Airfield bietet, in PowerpointPräsentationen während der Vorbereitung gezeigt bekommen. Es ist vor allem der noch ungewohnte Geruch der Luft, der mir deutlich macht: Dies ist keine Folie, kein Bild mehr, es ist Wirklichkeit: Ich bin in Kundus – jetzt beginnt der Einsatz. „Herzlich willkommen!“ – mein Vorgänger holt mich am Flughafen ab. Immer intensiver hatten wir uns bereits in den letzten Wochen per Mail und Telefon ausgetauscht: Was habe ich zu erwarten? Wie entwickelt sich die Lage? Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem zivilen Leiter des Provincial Reconstruction Team (PRT)? Wo liegt meine Stube im Camp, was soll ich unbedingt mitbringen? Kann ich Radiowecker und Wasserkocher übernehmen? Die ersten Tage vergehen wie im Fluge: Briefing reiht sich an Briefing, Kontrolle von Impfausweisen und Erkennungsmarken, Überprüfungsschießen der eigenen Handwaffen. Jeden Tag neue Gesichter; die Küche überlastet, Warteschlangen vor den Duschen, die provisorischen Zelte bis auf das letzte Feldbett gefüllt – allenthalben Zeichen des Kontingentwechsels. Die Alten weisen die Neuen über mehrere Tage in ihre künftigen Aufgaben ein. Unschwer lassen sich die Angehörigen des aktuellen und des Folgekontingentes nicht nur anhand der mehr *  Der Beitrag gibt ausschließlich die persönlichen Auffassungen des Verfassers wieder. 1 

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oder weniger ausgewaschenen Uniform auseinander halten: Die einen haben wettergegerbte Haut und einen müden, aber zufriedenen Gesichtsausdruck, die anderen benötigen zum Herstellen der Gefechtsbereitschaft an ihren Fahrzeugen noch wenige Minuten länger und lassen ihren Respekt vor der vor ihnen liegenden Aufgabe deutlich erkennen. In den kommenden Monaten wird das Feldlager zu unserer Heimat werden, diese „Kleinstadt“ mit ihren atriumsartigen Unterkunftsgebäuden, den Zeltstädten, den Instandsetzungshallen, dem hochmodernen Feldlazarett, dem Küchengebäude mit dem markanten, durch einen Raketeneinschlag verursachten Loch in der Stirnseite, dem doppelt abgesicherten Bereich unserer Kommunikationsanlagen, dem provisorischen Beachvolleyballfeld, der „Gottesburg“ – die mit Holz verkleideten Container des Militärpfarrers –, dem Postamt – der Verbindung nach Hause schlechthin –, dem kleinen Krämerladen, in dem es neben den Dingen des täglichen Bedarfs immer die Dinge zu kaufen gibt, die man gerade nicht braucht, dem kleinen Gebetshaus für unsere afghanischen Mitarbeiter, und schließlich dem halbrunden Ehrenmal aus schlichten Ziegeln, das mit Messingplaketten an die Kameraden des PRT erinnert, die hier gefallen sind. Das Feldlager erstreckt sich auf einem Areal von 1.500 mal 1.000 Metern hinter den etwa vier Meter hohen Ziegelmauern. Es wird gesichert von afghanischen Wachleuten und wird betrieben von deutschen Soldaten, von Mitarbeitern der Wehrverwaltung, die hier als Reservisten ihren Dienst leisten, und von Dutzenden afghanischen Mitarbeitern, die schneidern, sägen, klempnern oder auch Vermittler- und Dolmetscherdienste für die auf dem lokalen Markt zu beschaffenden Waren leisten. Rückblende: Ein halbes Jahr vor meinem Einsatz habe ich erfahren, dass ich als Chef des Stabes in Kundus Dienst leisten würde, ein zeitlicher Vorlauf, der persönliche Planungssicherheit und gezielte Vorbereitung ermöglichte. Ein derartiger Planungsvorlauf ist die Regel. Dennoch können Veränderungen in der Kontingentzusammensetzung – ausgelöst durch Lageentwicklungen im Einsatzgebiet oder Änderungen in der Mandatie-



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rung  – zuweilen ebenso kurzfristige Umplanungen erforderlich machen wie beispielsweise Verletzungen oder Erkrankungen von Soldaten. „Kein Einsatz vor dem Einsatz!“ Das ist neben dem Wunsch nach hoher Planungssicherheit für den einzelnen Soldaten der zweite, wesentliche Leitgedanke für die Einsatzvorbereitung. Bei allem berechtigten Streben nach einem hohen Ausbildungsstand: Die zeitliche Beanspruchung durch Übungen und speziell auf die Einsatzaufgabe ausgerichtete Lehrgänge sollen nicht zu einer mehrmonatigen, fast durchgängigen Abwesenheit der Soldaten von Heimatstandort und Familie bereits vor Einsatzbeginn führen. Wenn diese Absicht nicht immer einzuhalten ist, so liegt das auch daran, dass die Erfahrungsberichte der Vorgängerkontingente und die Erkundungsreisen künftiger Kommandeure und Einheitsführer wichtige Impulse dafür geben, das geplante Ausbildungskonzept den jüngsten Entwicklungen vor Ort anzupassen und gegebenenfalls auch um weitere Elemente zu ergänzen. Welche neue Taktik wendet der Gegner an? Werden wir in unserem Kontingent bereits über neue Ausrüstung, über neue Gefechtsfahrzeuge verfügen, die jüngst beschafft wurden? Ab wann stehen uns diese Ausrüstung, diese Gefechtsfahrzeuge zur Verfügung, und in welcher Stückzahl auch für die Voraus­bildung? Gerade die letztgenannte Frage ist immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten und auch sie wird nie rundum befriedigend zu beantworten sein. Zweifellos muss es unser Anspruch sein, eine Fahrzeug- oder Panzerbesatzung beispielsweise des Dingo so auszubilden, dass jeder seine Aufgaben bereits vor dem Verlegen in das Einsatzland beherrscht. Doch jeder an die Truppe ausgelieferte Dingo – dessen Beschaffung wiederum abhängig ist von der Verfügbarkeit von Haushaltsmitteln und industrieller Fertigungskapazität –, der zur Ausbildung in Deutschland herangezogen wird, fehlt dort, wo sein Vorhandensein möglicherweise über das Überleben entscheidet – im Einsatz vor Ort. Auch dieses Dilemma ist unauflösbar, wenn im Verlauf eines Einsatzes die Ausrüstung immer wieder anzupassen ist.

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Ich selbst habe die Ausrüstung der Bundeswehr immer als sehr gut empfunden, und der Mitteleinsatz für die kontinuierliche Verbesserung ist beachtlich.1 Ein „besser“ ist natürlich immer möglich, und bei einigen Fähigkeiten ist die Bundeswehr weiterhin auf die Unterstützung unserer Partner angewiesen, zum Beispiel wenn wir unsere Luftbeweglichkeit über deren Hubschrauber gewährleisten. Gerade unsere persönliche Ausrüstung braucht jedoch den internationalen Vergleich nicht zu scheuen, und der Rückgriff auf Fähigkeiten von Partnern zählt schließlich zum Wesenskern einer Allianz. In der Einsatzvorbereitung ist „Teambuilding“ der Schlüssel zum Erfolg. Dies mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, sollte doch eine militärische Einheit – wie der Name schon sagt – in der Lage sein, mehr oder minder geschlossen in den Einsatz zu verlegen, um dort ihren jeweiligen Auftrag zu erfüllen. Mit Blick auf den gemeinsamen Einsatz ganzer Kompanien gerade der Kampftruppenverbände haben wir hier in den vergangenen Jahren sicherlich Fortschritte erreicht. Dennoch wirkt etwa eine geographische Darstellung der jeweiligen Heimattruppenteile von Kontingentangehörigen noch immer wie ein Flickenteppich: Die derzeit knapp 5.000 in Afghanistan eingesetzten Soldaten werden aus insgesamt knapp 500 Truppenteilen der Bundeswehr entsandt. Ein Grund dafür ist, dass beispielsweise ein Infanterieverband für seinen Ausbildungsund Übungsbetrieb im Heimatland keine Wasseraufbereitungsspezialisten benötigt, im Einsatz aber nicht auf sie verzichten kann. In Deutschland sind diese Spezialisten jedoch aus gutem Grunde in besonderen Einheiten an wenigen Standorten gebündelt, um eine einheitliche Ausbildung und die Regeneration des Personals sicherzustellen. Eine weitere Ursache für die „Personalverwürfelung“ der Kontingente liegt darin, dass die Bundeswehr – auch aufgrund 1  Alleine in den Jahren 2008, 2009 und 2010 konnte die Anzahl der im Einsatzland Afghanistan genutzten geschützten Fahrzeuge pro Jahr um ungefähr 150 Fahrzeuge gesteigert werden. Heute haben wir dort mehr als 1100 geschützte Fahrzeuge für die ca. 2000 Soldaten, die täglich die Lager verlassen.



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der engen Mandatsobergrenzen – den Ansatz verfolgt, Truppenteile und vor allem Stäbe für die jeweils aktuelle Aufgabe in den Einsatzgebieten „maßzuschneidern“. Deren Struktur ist auf den jeweiligen Einsatzort zum jeweiligen Zeitpunkt zugeschnitten und weicht damit naturgemäß von der heimatlichen Friedensstruktur der entsandten Verbände ab. Besonders deutlich wird dies etwa bei der Besetzung der Hauptquartiere. „Zu viele Häuptlinge, zu wenige Indianer“: Mit Recht würde sich die Bundeswehr diesem Vorwurf aussetzen, falls man in Deutschland dauerhaft die Stabsstrukturen etabliert hätte, die etwa im Isaf-Einsatz in den PRT-Stäben, im Regionalkommando Nord und im Isaf-Hauptquartier benötigt würden – noch dazu unter Berücksichtigung der zeitlichen Rotation. Umgekehrt bedeutet dies, dass in die genannten Einsatzstäbe Offiziere und Unteroffiziere einzugliedern sind, die aus „fremden“ Truppenteilen kommen und gegebenenfalls zusätzlich qualifiziert werden müssen. Während die Bundeswehr diesen sogenannten „Funktionalitätsansatz“ verfolgt, räumen andere Nationen auch bei der Bereitstellung ihres Stabspersonals dem Aspekt Kohäsion, also dem gewachsenen inneren Zusammenhalt militärischer Einheiten, Priorität ein. So werden Hauptquartiere in ihrer bestehenden Friedensstruktur in den Einsatz verlegt, was aufgrund der Einsatzerfordernisse in deutlich höherem Maße als beim Funktionalitätsansatz die ergänzende Qualifizierung der Betroffenen und in der Regel auch eine erheblich längere Stehzeit des jeweiligen Hauptquartiers im Einsatzland erfordert. Gerade die Frage der Stehzeit im Einsatzland ist immer wieder auch Gegenstand der politischen Debatte. Die Bundeswehr plant derzeit grundsätzlich mit einer Stehzeit von vier Monaten im Einsatz.2 Allerdings machen es einige Aufgaben schlichtweg erforderlich, in beide Richtungen von diesem Grundsatz abzuweichen. Ein Spezialist im Sanitätsdienst wird stets nur einige Wochen im 2  Aktuell fallen beim Isaf-Einsatz ca. 60% der zu besetzenden Dienstposten unter die Viermonatsregelung, ca. 40% der Soldaten verbleiben etwa sechs Monate im Einsatzland (März 2011).

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Einsatzland verbleiben, da sein Können nur abgerufen wird, wenn schwere Verwundungen und Verletzungen eintreten. Er muss aber fortwährend praktizieren, um seine Befähigung für spezielle operative Eingriffe dauerhaft zu erhalten. Das Gegenbeispiel ist etwa der Interkulturelle Einsatzberater (IEB), ein Stabsoffizier, der den Kommandeur in allen Fragen der Kommunikation und Interaktion mit der örtlichen Bevölkerung im Einsatzgebiet berät und der intensiv mit dem soziokulturellen Beziehungsgeflecht im Einsatzland vertraut sein muss. Gerade den IEB alle vier Monate auszuwechseln, wäre wenig hilfreich, ist doch in einer „Personen-“ und nicht „Amts- oder Funktionsgesellschaft“ wie in Afghanistan das gute persönliche Verhältnis zueinander oft der entscheidende Schlüssel zum Erfolg. Die beiden hier gewählten Beispiele verdeutlichen, dass bei der Frage nach dem rechten Maß der Einsatzdauer das Krite­ rium der Effektivität, der Wirksamkeit für die Einsatzaufgabe, entscheidender Maßstab sein sollte. Bei dieser Maßstabsfindung muss freilich auch die Fürsorgepflicht Berücksichtigung finden, da selbst der best möglich vorbereitete Soldat unter den physischen und psychischen Anforderungen des Einsatzes seine Leistungsfähigkeit nur über einen begrenzten Zeitraum aufrecht erhalten kann. Bei vielen Partnernationen hat sich hier eine Einsatzdauer von sechs Monaten als das Maß erwiesen, das den Kriterien der Wirksamkeit und Fürsorge am besten Rechnung trägt. Aus meiner eigenen Erfahrung als Chef des Stabes in Kundus kann ich unterstreichen: es wäre illusorisch zu glauben, die Rotation selbst eines bestvorbereiteten und professionell agierenden Stabes gelänge problemlos. Zu fordernd ist es, sich mit den Gegebenheiten des Einsatzlandes vertraut zu machen, die Kameraden der anderen Isaf-Nationen und deren Stärken und Schwächen kennen zu lernen und sich an das für die meisten ungewohnte Arbeiten in Englisch zu gewöhnen. Und auch mit Blick auf die Kenntnisse, die ein Patrouillenführer oder Kompaniechef nur in der täglichen Praxis des Einsatzes im doppelten Sinne des Wortes „er-fahren“ kann (Bei welchen Witterungsverhältnissen kann ich mit welchem Fahrzeug die Furt noch durchqueren? Wo finde ich



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den Dorfältesten am Freitag?), wird deutlich, dass der Grundsatz des viermonatigen Kontingentzeitraumes die Wirksamkeit im Einsatz einschränkt. Für eine Angleichung der Einsatzdauer an die Praxis unserer Verbündeten sprechen auch Effizienzkriterien bei der Ausbildung der Einsatzkräfte, da längere Stehzeiten im Einsatz die Zahl der im Jahr auszubildenden Kontingente von drei auf zwei verringern würde. Wie sieht ein Tag im PRT Kundus aus? Den Alltag des Soldaten gibt es im Einsatzland nicht. Zu unterschiedlich sind die Aufgaben: der Feldkoch, der durchgängig im Schichtsystem arbeitet; der Panzermechaniker, der bis in die frühen Morgenstunden die Achsen an den geschützten Fahrzeugen wartet; der Infanterist, der über mehrere Tage an einem Checkpoint in einem unter unsere Kontrolle gebrachten Geländeabschnitt die Zufahrtstrasse zu einem Dorf überwacht; die Rettungsassistentin, die in Rufbereitschaft darauf eingestellt ist, binnen fünf Minuten am OP-Tisch zu stehen; der Truppführer für Operative Information, der zusammen mit einem der Infanteriezüge in einer nahegelegenen Ortschaft Flugblätter verteilt; der Spähtrupp, der über Tage versteckt ein Gehöft beobachtet. Neben den höchst unterschiedlichen Funktionen stehen natürlich auch wechselnde Aufträge und die stetem Wandel unterliegende Lage vor Ort der Entwicklung einer allzu starren Alltagsroutine entgegen. Ob eine Gesamtoperation des PRT vorbereitet wird, die Führer des Nachfolgekontingentes in die Gegebenheiten vor Ort eingewiesen werden sollen, überraschender Feinddruck die Verstärkung eigener Truppe erfordert – kaum ein Tag gleicht dem anderen, gerade für die Soldaten, die überwiegend außerhalb des Feldlagers eingesetzt sind. An dieser Stelle soll auch auf das zuweilen vorgebrachte Argument eingegangen werden, nur ein geringer Anteil der deutschen Soldaten würde in den Einsatzgebieten die Feldlager verlassen. Zum einen belegt die sogenannte teeth-to-tail-ratio3 des deutschen Isaf-Kontingents mit 1 :  2 gerade auch im inter3  Militärischer Fachterminus, der das Verhältnis der kämpfenden zur unterstützenden Truppe umschreibt.

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nationalen Vergleich das Gegenteil von „Etappenlastigkeit“.4 Dies gilt umso mehr, als Deutschland durch die Nato die Hauptverantwortung für den Betrieb sowohl der logistischen Basis für Nordafghanistan als auch des einzigen Flugplatzes im Norden des Einsatzlandes übertragen wurde. Zweitens ist die Frage, wie viele der vor Ort stationierten Soldaten das Feldlager verlassen, falsch gestellt. Dieser rein quantitativen Betrachtungsweise ist vielmehr eine qualitative Perspektive gegenüberzustellen. Ein Beispiel: Kann der Elektromechaniker, der für die Wartung einer Drohne zuständig ist, durch das „Verlassen des Feldlagers“ in höherem Maße zum Erfolg im Einsatz beitragen? Wenn diese Frage verneint wird, wäre es geradezu unverantwortlich, ihn außerhalb des Feldlagers einzusetzen, das heißt, ihn einer höheren Gefährdung für Leib und Leben auszusetzen, ohne dass dies in höherem Maße zur Auftragserfüllung beitrüge. Bei der Frage nach dem Tagesablauf darf auch das Thema „Freizeit“ nicht fehlen. Natürlich gibt es auch im Einsatz ein Leben neben dem Dienst. Regeneration nach tagelangen Pa­ trouillen, nach mehrwöchigen Nachtschichten ist nicht nur angemessen; Regeneration ist notwendig, um über mehrere Monate an sieben Tagen der Woche über 24 Stunden am Tag einsatzfähig zu bleiben. Jeder findet hier andere Möglichkeiten: der Besuch des Fitness-Zeltes, die etwas abseits aufgehängte Hängematte mit dem Lieblingsbuch, der gemeinsame Kaffee in der sogenannten Betreuungseinrichtung (das mit viel Liebe eingerichtete „Cafe“ mit selbst gezimmerter Holzbar), der SkypeChat mit der Familie in Deutschland, ja auch das ausgelassene Wasserballspiel im Feuerlöschteich. Diese vermeintliche Normalität überlagert die tatsächlichen Alltagsgedanken natürlich nur momentan und oberflächlich. Wie geht es den Lieben zuhause? Welche Aufträge liegen in den nächsten Tagen an? Werden wir genug Ersatzteile bekommen, um unser Fahrzeug wieder einsatzbereit zu haben? Was passiert mit dem Vater und seinem kranken Kind, die wir am 4  Als „Etappe“ werden im Militärjargon (die früher der „Front“ folgenden) Unterstützungs- und Verwaltungseinheiten bezeichnet.



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Lagertor abweisen mussten? Fährt meine Patrouille morgen nicht in das Dorf, in dem vor wenigen Wochen ein Anschlag auf deutsche Kräfte verübt worden war? War es Glück oder Können, dass wir in der vergangenen Woche den versteckten Sprengsatz aufklären konnten, bevor wir die Brücke überquerten? Wie können wir beim nächsten Feuerüberfall unsere schweren Waffen noch schneller gegen den Feind einsetzen? Es sind diese wirklich existentiellen Fragen, die in der ein oder anderen Form jeden Kontingentangehörigen beschäftigen, und die die Fragilität der „Normalität des Einsatzalltages“ verdeutlichen. Sie zeigen die Besonderheit des soldatischen Dienstes. Eine weitere Erfahrung, die die Soldaten im Einsatzland machen, ist die mitunter unmittelbare Wirkung, die politische Diskussionen und Entscheidungen in Berlin auf das Handeln vor Ort entfalten können. Denn natürlich besitzen die Fragen nach der erforderlichen Truppenstärke zur Erfüllung des vorgegebenen Auftrages und die sich daraus ergebende Mandatsobergrenze direkte Auswirkungen auf die Einsatzführung. Ein zweites Beispiel ist der Einsatz von Waffensystemen wie die Panzerhau­bitze 2000. Welche Waffensysteme einzusetzen sind, ist eigentlich eine taktische, militärfachliche Problemstellung, die die Kommandeure im Einsatzland oder die Bundeswehrführung für sich entscheiden müssten. Weil dies sich aber zur Instrumentalisierung in einer politischen Debatte eignet, werden diese Fragen dennoch oft von Politikern und anhand politischer Überlegungen beantwortet. Eine Situation im Frühjahr 2008 ist mir hier in allzu lebendiger Erinnerung. In Berlin war entschieden worden, die schnelle Einsatztruppe, die Quick Reaction Force, für das Regionalkommando Nord durch deutsche Kräfte zu stellen, wobei der Gesamtumfang des Kontingentes nicht erhöht werden sollte. Um dies zu leisten, waren die Truppenteile gezwungen, kurzfristig Dienstposten zu streichen. Dies führte nicht nur dazu, dass sich die PRT-Führung vor die Entscheidung gestellt sah, alternativ auf Infanterist, Übersetzer oder Feuerwehrmann verzichten zu müssen. Es bedeutete auch, Soldaten, die sich über Monate auf den Einsatz vorbereitet und von ihren Familien

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verabschiedet hatten, wenige Tage nach ihrer Landung in Kundus wieder nach Hause zu schicken. Derartige Erfahrungen veranlassen viele Soldaten zu der Klage über den scheinbar fehlenden Rückhalt seitens der Politik  –  vor allem aufgrund fehlender oder ungenügender Antworten auf Fragen wie: Warum stehen uns nicht die zur Auftragserfüllung offensichtlich erforderlichen Kräfte und Mittel zur Verfügung? Weshalb müssen wir auf Waffensysteme verzichten, die unsere alliierten Kameraden mit Erfolg einsetzen? Wie kann die Wortwahl einer Gefechtsmeldung, ihrer Natur nach unvollständig, auf die politische Goldwaage gelegt zum Vorwurf der „Vertuschung“ führen? Wie können die Aufzählung von Einzelfähigkeiten und das Ringen um personelle Obergrenzen in Zehnerschritten zu wochenlangem politischen Streit führen? Eine solche Wahrnehmung „des fehlenden Rückhalts der Politik“ in der Truppe ist weder durch hohe Zustimmungsquoren bei den Mandatsverlängerungen im Bundestag noch durch die Besuche politischer Mandatsträger im Einsatzgebiet zu korrigieren. Gleichwohl werden diese Besuche von Politikern ungeachtet des hohen Durchführungsaufwandes5 von den Soldaten grundsätzlich als Anerkennung geschätzt. Sie wirken jedoch dann kontraproduktiv, wenn die vor Ort vermittelten Erfahrungen in Deutschland wieder hinter innen- und parteipolitischen Erwägungen zurückzustehen haben. Jede Beschreibung des soldatischen Alltags im Einsatz bliebe unvollständig, erwähnte sie gerade mit Blick auf Isaf nicht auch die enge Zusammenarbeit mit den alliierten und afghanischen Partnern, den Polizisten, den Mitarbeitern des Auswärtigen Dienstes und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie deren Durchführungsorganisationen.6 „Vernetzte Sicherheit“ – so der im Weißbuch der Bun5  Die Kräfte, die zur Absicherung des Besuchs eines Staatssekretärs im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit bei einem Wiederaufbauprojekt eingesetzt werden, stehen beispielsweise nicht für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte zur Verfügung. 6  Siehe ausführlicher hierzu die Beiträge von Jörg Vollmer und Alexander Skiba.



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desregierung von 2006 gewählte Terminus – ist für alle Soldaten gelebte Rea­lität: vom PRT-Kommandeur, der in der Öffentlichkeit nur gemeinsam mit seinem zivilen Kollegen auftritt, bis hin zum Gruppenführer, der zusammen mit dem BMZ-Mitarbeiter die Möglichkeiten der Straßenbefestigung mit dem Dorfältesten erörtert. Militärische Aufstandsbekämpfung, der (Neu-)Aufbau von Verwaltungs- und Politikstrukturen und die Implementierung von Entwicklungshilfe werden immer engmaschiger miteinander verwoben, insbesondere seit es in den vergangenen Jahren gelungen ist, bei den nicht-militärischen Komponenten Personal- und Mittelansätze signifikant zu erhöhen. Auch persönlich habe ich dieses Zusammenwirken mit den Kollegen von Auswärtigem Amt, BMI und BMZ als ausgesprochene Bereicherung meiner Aufgabe in Kundus empfunden. Viele Soldaten haben am Ende ihres Einsatzes gemischte Gefühle: der Stolz auf das Erreichte; die Freude, wieder in die Heimat zu Familie und Freunden zurückkehren zu können; Schmerz und Trauer, wenn Kameraden verwundet oder getötet wurden; das Abschiednehmen von den Menschen, die einem vor wenigen Monaten so fremd waren, für die und mit denen man gekämpft hat, und die manchmal gar zu Freunden wurden; die Gewissheit, einen kleinen Mosaikstein auf dem Weg zum Erfolg mitgestaltet, aber doch die Aufgabe noch nicht zu einem Ende geführt zu haben. So unterschiedlich die Erfahrungen der zurückliegenden Monate sind, so unterschiedlich geht auch jeder Soldat damit um. Die systematische Einsatznachbereitung unterstützt beim Übergang in die „Normalität“ des heimatlichen Alltages und soll auch dazu dienen, die Soldaten zu erkennen, die gegebenenfalls auch mittel- und langfristig professioneller Hilfe bedürfen. So ist der auch öffentlich diskutierte, merkliche Anstieg der Anzahl von Soldaten mit „Posttraumatischer Belastungsstörung“ (PTBS) in den vergangenen beiden Jahren nicht nur mit der zunehmenden Intensität der Kämpfe in Afghanistan zu erklären. Er geht auch zurück auf eine deutlich gewachsene Sensibilität bei Vorgesetzten aller Ebenen und auf die gestiegene Bereitschaft der Betroffenen, sich selbst eine mögliche Erkrankung einzugestehen. Umgekehrt konnten mit der zunehmenden Professionalisierung der Behandlung, u. a. durch die

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Etablierung des Traumazentrums im Bundeswehrkrankenhaus Berlin, die Aussichten auf eine dauerhafte Heilung gesteigert werden. Wieder gen Heimat: Etwas mehr als eine Stunde nach dem Abflug in Kundus verstummen langsam die dröhnenden Transall-Motoren auf dem Flughafen im usbekischen Termez. Umsitzen auf den Airbus, das Einsatzende rückt näher. Was bleibt? Ich will die Kameradschaft nicht missen, die einen auch bei höchster Anstrengung weiterträgt; den täglich fast greifbaren Willen aller Soldaten und Mitarbeiter des PRT zum gemeinsamen Erfolg; das Erleben von Mut und Tapferkeit; die Sympathie und Dankbarkeit unserer afghanischen Partner. Und ich bin stolz, mit meinen Kameraden im Auftrag Deutschlands gedient zu haben.

Entwicklungszusammenarbeit unter Kriegsbedingungen Von Alexander Skiba* Wenn in Deutschland vom Auslandseinsatz in Afghanistan die Rede ist, so sind damit in den seltensten Fällen die Frauen und Männer der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gemeint. Dies erklärt sich wohl auch dadurch, dass ihr Einsatz nicht formal vom Deutschen Bundestag mandatiert wird, sie oft an dezentralen Standorten arbeiten und die Projekte in der Regel langfristiger Natur sind. Erst die Ermordung eines deutschen Straßenbauingenieurs am Heiligabend 2010 im nordafghanischen Kholm brachte für kurze Zeit in Erinnerung, dass auch circa 260 entsandte Experten der deutschen staatlichen Durchführungsorganisationen, vor allem der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) sowie der KfW Entwicklungsbank im Land arbeiten1. Ihre Aufgabe ist es, eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen der afghanischen Bevölkerung herbeizuführen. Gemeinsam mit rund 1.500 einheimischen Mitarbeitern tragen sie dazu bei, dass die Ziele der deutschen Afghanistanpolitik nach Möglichkeit erreicht werden. Die deutschen Entwicklungsexperten sind unbewaffnet und leben nicht in Militärcamps, sondern meist in privaten Unterkünften inmitten afghanischer Siedlungen. Die Bundesregierung ist bemüht, den Afghanistaneinsatz entsprechend einer „vernetzten Sicherheit“, also über eine enge *  Der 1  Seit

Autor gibt hier seine persönlichen Auffassungen wieder. dem 1.1.2011 sind die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) und InWent (Internationale Weiterbildung und Entwicklung) zur Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) fusioniert. KfW = Kreditanstalt für Wiederaufbau.

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Kooperation von Verteidigungs-, Außen-, Innen- und Entwicklungsressort, zu organisieren. Gemäß dem Weißbuch zur Sicherheitspolitik von 2006 ist Entwicklungspolitik ein wichtiger Bestandteil dieses Ansatzes. Vernetzte Sicherheit wird häufig als Unterordnung des Zivilen unter das Militärische missverstanden. Faktisch bleibt es bei getrennten Verantwortlichkeiten im Rahmen des jeweiligen Auftrags und einer gemeinsamen Verantwortung für die von der Bundesregierung definierten Ziele. Die Entwicklungszusammenarbeit hat in Afghanistan vielfältige Erfolge aufzuweisen. Diese verdienen eine stärkere Wahrnehmung und Würdigung in der Öffentlichkeit. Doch auch die massiven Fortschritte im Gesundheits- und Bildungsbereich oder das im Durchschnitt der letzten Jahre zweistellige Wirtschaftswachstum können nicht über die zahlreichen Probleme im Land hinwegtäuschen, allen voran Korruption und eine entwicklungshemmende schlechte Sicherheitslage. Die Nato-geführte Isaf-Truppe kann militärisch noch so erfolgreich sein: Wenn nach ihrem Abzug keine fähigen afghanischen Sicherheitskräfte zur Verfügung stehen, um das Erreichte zu erhalten und fortzuführen, so bleiben alle Bemühungen und Opfer vergebens und die Anstrengungen im Bereich Wiederaufbau und Entwicklung laufen Gefahr zu verpuffen. Meine eigenen Erfahrungen als Beauftragter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) für die Provinzen Kundus und Takhar und als Ressortvertreter im Regionalen Wiederaufbauteam von Oktober 2009 bis September 2010 lehrten mich, dass die selbst gesetzten Ansprüche zur Ausgestaltung der vernetzten Sicherheit im Verantwortungsbereich des Regionalkommandos Nord noch stringenter verfolgt werden könnten. In neun Jahren Afghanistaneinsatz haben Zivilisten wie Militärs vor Ort einiges hinzugelernt. Durch die gemeinsame Einsatzerfahrung ist das gegenseitige Verständnis füreinander bei allen beteiligten Akteuren gewachsen. Gänzlich im Einklang werden die Interessen von Entwicklungshelfern und Soldaten aufgrund unterschiedlicher Prioritäten, Berichtswesen und Hie­ rarchiestrukturen wohl nie liegen. Dennoch könnte die zivil-



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militärische Zusammenarbeit noch reibungsloser ablaufen und besser institutionalisiert werden. Ausschlaggebend für Erfolg oder Misserfolg bei der Zusammenarbeit sind nicht zuletzt weiche, das heißt kulturelle Faktoren und die Fähigkeit, unterschiedliche Zeithorizonte, Erfahrungen und Arbeitskontexte vor Ort zu einem integrierten, gemeinsamen Lagebild aller deutschen Akteure handlungsleitend zusammenzuführen. Häufig herrscht ein falsches Rollenverständnis in Bezug auf die Aufgaben und Fähigkeiten der Entwicklungszusammenarbeit vor, das nicht selten zu überzogenen Erwartungshaltungen und damit verbundenen Enttäuschungen führt. Nach dem Sturz der Taliban sollte das Land quasi über Nacht modernisiert werden. Dabei bleibt dies eine Aufgabe für mehrere Generationen. Das BMZ ist in Afghanistan mit eigenem und beauftragtem Personal vertreten, um eine effiziente Koordination der deutschen Hilfe vor Ort zu ermöglichen. Repräsentanten finden sich an den Hauptstandorten des ressortgemeinsamen Engagements in Nordafghanistan – im Isaf-Regionalkommando Nord in Masar-e-Scharif, an den Regionalen Wiederaufbauteams (Provincial Reconstruction Teams) Kundus und Faisabad, im kleineren Regionalen Beratungsteam (Provincial Advisory Team) in Taloqan sowie an der deutschen Botschaft in Kabul.2 Für das BMZ ist Afghanistan ein besonderes Partnerland: Über eine vergleichbare direkte Präsenz vor Ort verfügt das Ministerium sonst nirgendwo. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat ihren zivilen Beitrag 2010 annähernd verdoppelt und Afghanistan mit circa 430 Millionen Euro pro Jahr zum wichtigsten Empfänger deutscher Hilfe gemacht. Rund 250 Millionen Euro stammen aus dem Haushalt des BMZ. 2  Der Referent für wirtschaftliche Zusammenarbeit an der deutschen Botschaft ist für die Dienstzeit in Afghanistan an das Auswärtige Amt abgeordnet. Die Vertreterinnen und Vertreter an den Nordstandorten sind als Ressortvertreter Repräsentanten des BMZ und unterstehen dem Länderreferat für Afghanistan. Seit Februar 2011 füllt das BMZ zudem erstmalig die Position eines Director Development im Stab des Senior Civilian Representative im Isaf-Regionalkommando Nord aus.

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Lange litten die internationale Gemeinschaft und die Bundesregierung bei der Auswahl von Projektstandorten an „Kabul-Zentrismus“. Der politische Neuanfang sollte maßgeblich von der Hauptstadt und seiner neuen Regierung ausgehen. Später besann man sich auf den Subsidiaritätsgedanken im politisch, ethnisch und geographisch zerklüfteten Afghanistan. Der Beitrag des BMZ konzentriert sich heute auf den Norden des Landes, wo auch die deutschen Isaf-Kräfte Verantwortung tragen, schließt aber Kabul weiterhin ein. 2009 und 2010 wurden größere Büros von den Durchführungsorganisationen angemietet und ausgebaut; circa 80 Stellen für deutsche und internationale Fachkräfte wurden allein von der GIZ 2010 neu besetzt; an Standorten wie Kundus, Taloqan und Faisabad, vor allem aber in Mazar-e-Scharif, ist der personelle und finanzielle Aufwuchs besonders spürbar. Entwicklungszusammenarbeit orientiert sich am Gedanken der Partnerschaft mit einem Land und seiner Regierung verbunden mit dem Ziel, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern und politische Reformen zu unterstützen. Sie erschöpft sich nicht in der Bereitstellung von Infrastruktur etwa durch das fast schon sprichwörtliche Bohren von Brunnen oder Bauen von Schulen und setzt auf mehreren Ebenen an: mit Beratungsleistungen in zentralen Ministerien ebenso wie mit Trainingsmaßnahmen in entlegenen Dörfern von ländlich geprägten Provinzen. In der Praxis wird schnell deutlich, dass Nachhaltigkeit nur gewährleistet werden kann, wenn zuvor die Rahmenbedingungen und finanziellen, regulatorischen und personellen Voraussetzungen sorgfältig analysiert und gegebenenfalls verbessert werden: Schulen können nur gebaut werden, wenn sie beim Bildungsministerium registriert sind und die Bezahlung der Lehrer sichergestellt ist. Eine Wertschöpfungskette zur Belebung der Wirtschaft ist nicht vollständig, wenn die Frage des Zugangs zum internationalen Markt für die hergestellten Produkte ungeklärt bleibt. Entwicklungszusammenarbeit soll zur Selbsthilfe befähigen. Sie kann und soll ein Land, noch dazu das von jahrzehntelangem Krieg und extremer Armut geplagte Afghanistan, nicht innerhalb von wenigen Jahren nach westlichem Vorbild umge-



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stalten. Noch viel stärker als die deutschen Soldaten sind auch Entwicklungshelfer an die Leistungsfähigkeit der Partnerseite, beispielsweise einer Provinzverwaltung gebunden, deren Kapazitäten es gleichzeitig zu stärken gilt. Während die Nato für die Isaf Ziele festlegt und Vorgaben macht, die auch für das Bundeswehr-Kontingent gelten, werden die strategischen Vorgaben für die einzelnen Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit jährlich zwischen dem BMZ und der afghanischen Regierung (dort liegt die Federführung beim Finanzministerium) in sogenannten Regierungsverhandlungen vereinbart. Deutschland hat sich mit Afghanistan auf fünf Schwerpunkte geeinigt: Gute Regierungsführung (good govern­ ance), Grund- und Berufsbildung, (erneuerbare) Energie(n), Wasserversorgung und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Zusätzlich finanziert das BMZ Projekte im Rahmen der Not- und Übergangshilfe und stellt Gelder für im Land tätige Nichtregierungsorganisationen zur Verfügung. Afghanistan zählt zwar weiterhin zu den ärmsten und zugleich korruptesten Ländern der Welt, und die Sicherheitslage hat sich seit 2006 auch in Teilen Nord-Afghanistans teils drastisch verschlechtert. Die Prosperität in den Ballungszentren Kabul, Mazar-e-Scharif und auch im deutlich kleineren Kundus ist dennoch sichtbar. Der Fortschritt liegt hier buchstäblich auf der Straße: Verkehrswege und die modernisierte und im großen Stil ausgebaute Wasser- und Energieinfrastruktur haben den Entwicklungsstand gegenüber 2001 deutlich gehoben. Die Menschen wissen das zu schätzen. In vielen Städten pulsiert das Leben, Mädchen gehen zur Schule, Frauen auf die Märkte. Mehr als jeder vierte Afghane besitzt mittlerweile ein Mobil­ telefon. Beispiele aus den Schwerpunktsektoren verdeutlichen den deutschen Beitrag: Im Wassersektor unterstützt das BMZ die Schaffung einer sicheren Trinkwasserversorgung mit effizienten, wirtschaftlich tragfähigen Betreiberstrukturen. In Kundus werden das alte, mit sowjetischer Hilfe gelegte Röhrennetz erneuert, mehrere saubere und verlässliche Wasserquellen in der näheren Umgebung erschlossen oder ausgebaut und ein zentraler

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Wasserspeicher installiert. Besonders anspruchsvoll ist der Aufbau der afghanischen Versorgerstruktur, denn funktionierende regionale oder städtische Wasserbetriebe, die bei uns verantwortlich wären, existieren nicht. Solch ein Projekt ist also ausgesprochen komplex und lässt sich nur in einem stabilen Umfeld über mehrere Jahre implementieren. Die voraussichtliche Laufzeit des Vorhabens beträgt eine Dekade. Bislang konnte fast ein Drittel der Haushalte in Kundus-Stadt wieder mit sauberem Trinkwasser erreicht werden. In Afghanistan mangelt es nicht nur an Schulgebäuden, es fehlen auch gut ausgebildete Lehrer, Unterrichtsmaterialien und Lehrpläne, damit die staatlichen Schulen eine wirkliche Alternative zu Kinderarbeit oder islamischen Madrassas bieten können. Lehrer zu sein ist ein angesehener Beruf, und viele junge, engagierte Frauen und Männer streben nach einer Tätigkeit im Schuldienst. 2001 war der Zugang selbst zu einer einfachen pädagogischen Ausbildung kaum möglich. Mit deutscher Hilfe entstanden in Kundus und an anderen Standorten Zentren zur Lehrerausbildung und ein Netz an damit verknüpften Schulen zur praktischen Weiterbildung. Im Bildungsbereich ist der Fortschritt der letzten Jahre besonders auffällig: 2010 konnten siebenmal so viele Schülerinnen und Schüler zur Schule gehen wie 2001.3 Der Anblick von Mädchen und Jungs mit Unicef-Schulranzen zählt sicher zu den einprägsamsten Bildern der zivilen, aber auch militärischen Helfer im Land. Langfristig wird die afghanische Regierung Entwicklungsprojekte ohne ausländische Unterstützung durchführen müssen: Im Bereich Regierungsführung steht die Entwicklungszusammenarbeit vor den größten Herausforderungen. Mit der Verbesserung der Verwaltungsarbeit und der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien steht und fällt das Ansehen der afghanischen Regierung und die Hoffnung, ein allgemein akzeptiertes, legitimes Staatswesen auf der Grundlage demokratischer Prinzipien zu etablieren. 3  Dies entspricht einer Steigerung von 1 Mio. (2001) auf 7 Mio. (2010). Der Anteil von Schülerinnen in Grundschulen betrug in 2008 38 Prozent.



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Die Voraussetzungen dafür sind regional unterschiedlich. In meinen Gesprächen mit afghanischen Bürgern in Kundus und Takhar wurde immer wieder deutlich, welchen großen gesellschaftlichen Stellenwert Recht und Gerechtigkeit für die Menschen haben. Dort, wo staatliches Handeln als willkürlich und ungerecht empfunden wird, nutzen die Taliban diese Unzufriedenheit geschickt aus, um gerade in ländlichen Gebieten mit geringer Präsenz der afghanischen Verwaltung alternative Ordnungsstrukturen aufzubauen. Während die Provinzregierung in Kundus in den Augen meiner nationalen Mitarbeiter und bei vielen Dorfältesten aus den Distrikten als Hort von Korruption und Nepotismus galt, gab es in Takhar vermehrt Lob für das Interesse des neu eingesetzten Gouverneurs und seiner Verwaltung an den Bedürfnissen und Sorgen der Bevölkerung. Auch wenn handfeste Nachweise für Missbrauch und Selbstbereicherung in Afghanistan kaum zu erhalten sind: Bei schwierigen Partnern ist stets größte Vorsicht und Zurückhaltung geboten. Der Austausch politischer Amtsträger liegt nicht in der Hand deutscher Helfer. Mit einem Programm zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit setzt die Entwicklungszusammenarbeit an verschiedenen Schwach­ stellen an und unterstützt unter anderem die Justizverwaltung, Gerichte und Staatsanwaltschaften durch Trainings- und Ausstattungshilfen. Sie versucht ebenso, die Polizei besser in der Bevölkerung zu verankern. Neue Instrumente, besonders flexible Regionalfonds, sollen die subnationalen Verwaltungsstrukturen stärken, damit auch von der afghanischen Seite selbst zunehmend Dienstleistungen für die Bevölkerung erbracht werden können. Hierzu werden die Kapazitäten der Provinzentwicklungskomitees, in denen die zentralen afghanischen Akteure einschließlich des Gouverneurs und der Sektorministerien vertreten sind, in ihrer Rolle als Entscheidungs- und Implementierungsorgane für zentrale Entwicklungsvorhaben beraten und unterstützt. Die Maßnahmen und Programme der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan werden hauptsächlich über die GIZ und die KfW Entwicklungsbank sowie über Beratungsunternehmen umgesetzt. Die entwicklungspolitische Steuerung und Ge-

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samtverantwortung obliegt hingegen dem BMZ. Das BMZPersonal in Afghanistan ist mit der Koordination der etablierten Programme und mit der Vertretung der Ressortinteressen an den einzelnen Standorten betraut, nicht jedoch mit Projektarbeit oder der Allokation und Verwaltung von Mitteln. An den einzelnen Standorten des deutschen Engagements in Nordafghanistan engagieren sich zum einen die zivilen Ressorts (Auswärtiges Amt / Botschaftsaußenstelle, Bundesministerium des Innern (BMI) beziehungsweise die Verantwortlichen für das deutsche Polizeiausbildungsprojekt und BMZ einschließlich seiner Durch­führungsorganisationen) sowie zum andern die Bun­deswehr, die mit ihrem Beitrag zur Isaf die militärische ­Komponente stellt. Als die deutschen Medien 2009 zum ersten Mal darüber berichteten, dass sich Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel expliziter als seine Amtsvorgängerin zum Ansatz der vernetzten Sicherheit bekannte, wurde diese Nachricht bei vielen Helfern in Kundus als willkommene Anerkennung einer selbstverständlichen Realität wahrgenommen. Die Idee des konzertierten Zusammenwirkens der Entwicklungs­ zusammen­arbeit mit den Partnerressorts, insbesondere die zivil-militärische Zusammenarbeit, wird indes häufig missverstanden. Bei einzelnen Soldaten nährte der teilweise verzerrende mediale Diskurs die Hoffnung, Koordinierungsbefugnisse gegenüber den auf Unabhängigkeit bedachten Nichtregierungsorganisationen zu erhalten – eine Vorstellung, die auch Beunruhigung hervorrief. Die Bündelung aller mit deutschen Steuergeldern finanzierten Maßnahmen in Konfliktländern wie Afghanistan bedeutet jedoch keine Vergemeinschaftung individueller Verantwortlichkeiten. Stattdessen geht es um den politischen Anspruch, dass sich die entscheidenden Akteure in ihrer Arbeit einem gemeinsamen Ziel verpflichtet fühlen. Ein reibungsloser Informationsfluss zwischen den einzelnen Akteuren ist die Grundlage der erfolgreichen Zusammenarbeit. Wenn klar ist, dass dem Großteil der Entwicklungsprojekte ein anderer Zeithorizont als einer Militäroperation zugrunde liegt und dass auch gewisse Voraussetzungen erfüllt sein müssen,



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damit zivile Hilfe Wirksamkeit entfalten kann, besteht die Möglichkeit zur vertrauensvollen Zusammenarbeit. Meine Erfahrungen aus Nordafghanistan zeigen, dass der regelmäßige Austausch zwischen Zivilisten und Soldaten, uniformierten Polizeiausbildern und Entwicklungshelfern, Beamten vom Auswärtigen Amt und Vertretern des BMZ funktionieren und fruchtbar für alle sein kann. In Kundus waren Briefings und Diskussionsrunden des PRT-Kommandeurs mit Vertretern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit üblich. Ebenso wurden aktuelle Entwicklungsprojekte, Bewertungen und Analysen der zivilen Sicherheitsfachkräfte mit den jeweiligen Abteilungen der Isaf-Kontingente besprochen. Dieser comment des Miteinanders zwischen den verschiedenen Akteuren stellt die Arbeitsfähigkeit vor Ort sicher. Als Erfolgsmodell des vernetzten Ansatzes gilt der 2007 eingerichtete Provinzentwicklungsfonds (Provincial Development Fund). In Nordafghanistan werden über diesen Fonds in den Provinzen Kundus, Takhar und Badakhschan kleinere Projekte (im Wert von maximal 50.000 Euro) mithilfe der GIZ umgesetzt. Die Kosten für die Implementierungsstrukturen und die Projektmittel werden von Entwicklungs-, Außen- und Verteidigungsministerium gemeinsam getragen. Die Vertreter dieser Ressorts und ein Vertreter des BMI nehmen mit vier afghanischen Mitgliedern der Provinzverwaltung die Auswahl der typischerweise von Gemeinderäten eingereichten Projektvorschläge vor – in der Regel vergleichsweise schnell sichtbare Maßnahmen wie der Bau von Schulen, Brunnen, Straßen und Brücken sowie Projekte zur zügigen Schaffung von Einkommen, wie etwa Trainingsmaßnahmen im Bereich der Bienen- oder Geflügelzucht. Der Charme dieses Ansatzes liegt auf der Hand: Hier entscheiden die vier Ressorts im Dialog mit afghanischen Partnern über Entwicklungsmaßnahmen. Was im Feld mittlerweile zum Standard zählt, ist bei der Vorbereitung der Einsätze in Deutschland noch unüblich. Eine gemeinsame Ausbildung von zivilen Helfern und Bundeswehr findet erst ansatzweise statt. Wohl bietet die Bundeswehr Sicherheitstrainings für ausreisende Entwicklungshelfer an und

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die Führungsverbände des deutschen Isaf-Kontingents werden durch erfahrene Entwicklungsexperten über die Strukturen und Programme der Entwicklungszusammenarbeit während der Einsatzvorbereitung informiert. In Afghanistan zeigt sich jedoch, dass dies nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis der Herausforderungen ist. Das Prinzip learning by doing stößt an einem Standort wie Kundus auch deutlich an Grenzen. Die Erfahrungen und das Wissen der Praktiker sollte bei der Weiterentwicklung der ressortgemeinsamen Zusammenarbeit unbedingt einbezogen werden. Auch wenn deutsche Entwicklungshelfer vor Ort regelmäßig im engen Austausch mit Isaf stehen, so gehen sie meist getrennte Wege, wenn es sich um den Kontakt mit Afghanen und die Durchführung von Projekten handelt. Dieses Verhalten ist Bestandteil des Sicherheitskonzepts der Entwicklungszusammenarbeit. Nur im Ernstfall, etwa bei einer notwendigen Evakuierung, leistet die Bundeswehr direkte Unterstützung für die Zivilisten, die, von einigen Ausnahmen abgesehen, in der Stadt wohnen und somit einen direkten Kontakt zur afghanischen Zivilbevölkerung halten können.4 Der Einsatz verlangt zivilen Helfern eine gewisse Risikobereitschaft ab. Die meisten Entwicklungshelfer sind jedoch weder Draufgänger noch Glücksritter, sondern eher pragmatische Idealisten. Wichtige Kriterien bei der Personalauswahl sind neben der Fachlichkeit vor allem kulturelle Sensibilität, Besonnenheit, ein gesundes Urteilsvermögen aber auch Belastbarkeit und Nervenstärke. Gesucht werden nicht zuletzt Persönlichkeiten, die sich bewusst für die Arbeit in Afghanistan entscheiden. Für die zivilen deutschen Helfer und Berater wurde ein eigenes Sicherheitssystem (Risk Management Office, RMO) eingerichtet, das ihre Bewegungsfreiheit auch unter schwierigen Bedingungen erhalten soll und gleichzeitig mögliche Risiken vorausschauend, schnell und effektiv minimiert. 4  Die Feldlager der Bundeswehr sind darüber hinaus zentrale Anlaufstellen für die zivilen Experten: Sie dienen als Treffpunkte zum zivil-militärischen Austausch und bieten im Bedarfsfall schnelle medizinische Versorgung nach westlichem Standard.



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Dies geschieht einerseits durch Schutzmaßnahmen, um Gefahren wie Entführungen, Überfällen oder Attentaten vorzubeugen. Sichere Rückzugsräume stellen die Basis für die Arbeit der zivilen Helfer dar. Hierzu werden die Liegenschaften der Durchführungsorganisationen – Büro- und Projekthäuser sowie Unterkünfte – je nach Bedrohungslage besonders gesichert. Die Häuser, in denen sich Entwicklungsexperten regelmäßig für längere Zeit aufhalten, sind durch Mauern, Stacheldraht und meist auch von bewaffnetem afghanischen Wachpersonal geschützt. Dies gilt umso mehr für besonders gefährdete Standorte wie Kundus, an denen für Überlandfahrten 2009–2010 ausschließlich sondergeschützte Fahrzeuge zum Einsatz kamen. Personenschutz oder gar bewaffnete Entwicklungshelfer gibt es nicht. Im Mittelpunkt der Sicherheitsstrategie steht die Akzeptanz der Helfer durch die lokale Bevölkerung. Deutschland hat trotz zunehmend kritischer Umfrageergebnisse einen vergleichsweise guten Ruf in Afghanistan.5 Akzeptanz entsteht durch das gezielte Herstellen von Transparenz über den Sinn und Zweck der Arbeit der zivilen Helfer. In sicherheitskritischen Gebieten wird beispielsweise über Versammlungen mit Gemeindevertretern (Schuren) der direkte Kontakt mit der Bevölkerung gesucht, um ein günstiges Umfeld für die Projektimplementierung zu schaffen. Bei akuten Problemen können Fachleute – oftmals erfahrenes nationales Personal – einspringen und als neutrale Außenstehende vermitteln. Risikominimierung ist ein stetiger Anpassungsprozess, der ernorme Wachsamkeit, eine zuverlässige Informationsbeschaffung und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der afghanischen Bevölkerung, aber auch zwischen Isaf und dem zivilen Sicherheitssystem, erfordert. Die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt und ihre Professionalität nimmt kontinuierlich zu. Die größte Gefahr besteht darin, die zivile Hilfe aufgrund der massiven Mittelaufstockung mit Heils­ erwartungen zu überfrachten. 5  Vgl.

ARD, BBC, ABC News Umfrage, Dezember 2010.

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Mehrere Studien haben gezeigt, dass zwischen Entwicklungsprojekten und der kurzfristigen Herstellung von Sicherheit – leider – kein direkter Zusammenhang besteht.6 Hier stimmen erfahrene Soldaten und Entwicklungshelfer überein: Ein Gebiet kann militärisch als „gesäubert“ gelten, die Herzen und Köpfe der Menschen bleiben davon zunächst unberührt. Hier muss sich sukzessive auch die Regierungsführung verbessern, um das Vertrauen in die staatlichen Strukturen zu erhöhen. In weiten Teilen ist die Bevölkerung zwar an der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse – Einkommen, Wasser, Strom und Zugang zu Bildung – interessiert, und langfristig mag dies auch zur Stabilisierung des Landes insgesamt beitragen. Die Veränderung von politischen Loyalitäten – weg von den Aufständischen, hin zur afghanischen Regierung – ist aber von außen, wenn überhaupt, nur in enger Kooperation mit starken afghanischen Partnern, die den nötigen Rückhalt und Respekt bei der Bevölkerung genießen, zu beeinflussen. An dieser Stelle müssen auch Counterinsurgency-Ansätze neu justiert werden. Zu den mitunter schmerzhaften Erfahrungen der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan zählt, dass Entwicklung Zeit sowie leistungsfähige und -willige Kapazitäten auf Seiten ebendieser Partner benötigt, um nachhaltig zu wirken. Eine noch stärkere „Afghanisierung“ auch auf regionaler und lokaler Ebene ist notwendig, wenn das Engagement in der Fläche stärker spürbar werden soll. Der direkte Kontakt zu den Menschen in den Dörfern ist nicht durch Dritte zu ersetzen. Ist der Zugang für eigenes Personal durch Sicherheitsrisiken behindert, so stößt Entwicklungszusammenarbeit an klare Grenzen. In Kundus und an anderen Standorten haben sich 2009–2010 ganzheitliche Operationsansätze unter Einbeziehung aller Bun6  Siehe stellvertretend: Andrew Wilder, Stuart Gordon: Money can’t buy America love, Foreign Policy, Dezember 2009: http: /  / www.foreign policy.com / articles / 2009 / 12 / 01 / money_cant_buy_america_love; Oxfam international: Quick Impact, Quick Collapse, Januar 2010: http: /  / www. oxfam.org / en / policy / quick-impact-quick-collapse BMZ Evaluierungsbericht 031, Friedensmission in Nordost Afghanistan, September 2007: http: /  / www.bmz.de / de / publikationen / reihen / evaluierungen / evaluie rungsberichte_ab_2006 / EvalBericht031pdf.pdf.



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desressorts und weiteren Akteuren herausgebildet. Diese ressortgemeinsame Arbeit im Rahmen der regionalen Wiederaufbauteams und im Regionalkommando Nord könnte konzeptionell stärker ausgearbeitet werden, um die erreichten Fortschritte bei der Selbstorganisation zu erhalten. Hierbei sollte noch genauer definiert werden, welche Rolle die Entwicklungszusammenarbeit übernehmen und ausfüllen möchte und welche Leistungen sie im Rahmen des vernetzten Ansatzes konkret erbringen kann.

Die Autoren

Stephan Ackermann (*1963 in Mayen/Eifel) studierte von 1981–1989 Theologie in Trier und Rom. Anschließend war er vierzehn Jahre lang in der Priesterausbildung in Trier und Grafschaft-Lantershofen tätig. 2000 promovierte er in katholischer Theologie in Frankfurt/St. Georgen. Nach der Bischofsweihe 2006 war er bis 2009 Weihbischof und seit dem 24.05.2009 Bischof von Trier. Er ist Mitglied der Kommis­ sion für Wissenschaft und Kultur sowie der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz sowie seit 2008 auch Vorsitzender der deutschen Kommission „Justitia et Pax“. Diese Kommission vernetzt im Bereich der katholischen Kirche in Deutschland kirchliche Akteure, die sich mit internationalen Fragen befassen, erarbeitet Beiträge zur Förderung von Entwicklung, Menschenrechten und Frieden, und führt zu diesen Fragen einen kontinuierlichen Dialog mit Parlament, Regierung, Parteien und gesellschaftlichen Kräften.

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Die Autoren

Niels Annen (*1973 in Hamburg) ist „Non Resident Fellow“ beim German Marshall Fund in Washington DC. Von 2005–2009 gehörte er dem Deutschen Bundestag an, wo er den Wahlkreis Hamburg-Eimsbüttel als direkt gewählter Abgeordneter vertrat. Als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss zählten u.a. das deutsche Engagement in Afghanistan und im Nahen Osten zu seinen Arbeitsschwerpunkten. Von 2001–2004 war er Bundesvorsitzender der Jusos in der SPD. Niels Annen ist seit 2003 Mitglied des SPD-Parteivorstands. Er hat in Hamburg, Madrid und Berlin Geschichte und Spanisch studiert. Niels Annen publiziert regelmäßig über internationale Themen und die US-Innenpolitik.



Die Autoren

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Heinrich Brauß ist Generalmajor der Bundeswehr und seit 1972 Soldat. Er studierte an der Universität der Bundeswehr in München Erziehungswissenschaften und Neuere Geschichte (Dipl.-Päd.) und durchlief danach mehrere Verwendungen als Artillerieoffizier und als Jugend­offizier der ehemaligen 4. Panzergrenadierdivision in Regensburg. Von 1984 bis 1986 absolvierte er den Generalstabslehrgang des Heeres an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Verschiedenen Verwendungen als Generalstabsoffizier und als Kommandeur eines Artillerie­ bataillons schlossen sich Einsätze als Referent und Arbeitsbereichsleiter im Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung in Bonn und als Dezernatsleiter im Stab des Deutschen Militärischen Vertreters im Militärausschuss der NATO in Brüssel an. Von 2001 bis 2003 kommandierte er die Panzerbrigade 42 „Brandenburg“ in Potsdam. Von Juni bis Dezember 2002 war er als Chief of Staff HQ Stabilisation Force (SFOR) in Bosnien-Herzegowina eingesetzt. Im April 2004 wurde Heinrich Brauß zum Abteilungsleiter und Assistant Chief of Staff Operations/Exercises Division im Militärstab der Europäischen Union in Brüssel gewählt und im Jahre 2005 zum ersten Direktor der damals neu geschaffenen ­Civilian/ Military Cell im EU-Militärstab ernannt, zu der auch das EU Operations Centre gehörte. Seit September 2007 ist er Deputy Assistant Secretary General for Policy and Planning im Internationalen Stab der NATO in Brüssel und verantwortlich für Strategie, politisch-militärische Konzeptentwicklung und Fähigkeitenplanung der NATO. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne.

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Die Autoren

Mathis Feldhoff (*1965 in Münster/Westf.) arbeitet seit zehn Jahren als Hauptstadtkorrespondent für das ZDF. Dabei beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der Außen- und Sicherheitspolitik. In dieser Funktion konnte er bereits vier Verteidigungsminister und drei Außenminister auf Auslandsreisen, etwa nach Afghanistan oder in andere Einsatzgebiete der Bundeswehr, begleiten. Daneben gehört auch der intensive Kontakt ins Parlament zu seinen regelmäßigen Aufgaben. Vor seinem Wechsel zum ZDF arbeitete er bis 2001 für die ARD. Dort sammelte er langjährige Erfahrung in der politischen Berichterstattung beim NDR in der Redak­tion Panorama sowie beim WDR im Hauptstadtstudio Bonn. Nach dem Abitur in Bielefeld und dem Wehrdienst absolvierte er zunächst eine Ausbildung zum Maschinenschlosser, bevor er 1989 in den Journalismus einstieg. Nach zwei Volontariaten beim Lokalradiosender in Hagen und bei Radio Bremen führte ihn seine erste Station zur Aktuellen Stunde im dritten Fernsehprogramm des WDR. Mathis Feldhoff wurde mit einer ehrenden Anerkennung beim Fernsehpreis für Regionalberichterstattung von Radio Bremen ausgezeichnet. Gemeinsam mit Kollegen des Fernsehmagazins Panorama nominierte man ihn 2000 für den Grimme-Preis. In 2010 erhielt er den Medienpreis des Deutschen Reservistenverbandes „Goldener Igel“ für die Dokumentation „Die Afghanistan-Lüge“.



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Christian Freuding (*1971) ist Oberstleutnant i. G. und gehört dem Planungsstab des Bundesministers der Verteidigung an. Seit 1990 Soldat (Heeresaufklärungstruppe) hat er Politikwissenschaften an der Universität der Bundeswehr Hamburg studiert und den Master-Studiengang Defence Studies des King’s College London absolviert. Christian Freuding durchlief die deutsche wie die britische Generalstabsausbildung an der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg (2004–2006) bzw. dem Joint Services Command and Staff College in Shrivenham. Er wurde 1999 mit einer Arbeit über die deutsche Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an der Universität der Bundeswehr in Hamburg promoviert. Im Rahmen seiner Truppen- (u. a. als Kompaniechef im Aufklärungslehrbataillon 3, Lüneburg) und Generalstabsdienstverwendungen hat er an Einsätzen in Bosnien-Herzegowina und ­Afghanistan teilgenommen. Seine Veröffentlichungen zur Außenund Sicherheitspolitik umfassen u. a.: Streitkräfte als Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik (2007); Organising for War: Strategic Culture and the Organisation of High Command in Britain and Germany, 1850–1945 (2010).

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Die Autoren

Ralf Fücks (*1951 in Edenkoben/Pfalz) studierte Sozialwissenschaft, Ökonomie und Geschichte. Parallel engagierte er sich in der Studentenbewegung und in der außerparlamentarischen Opposition. Nach dem Studium arbeitete er als Lehrbeauftragter an der Universität Bremen und als Dozent in der Erwachsenenbildung. Für die Zeitschrift „Moderne Zeiten“, die er 1980 mitgründete, war er als Redakteur tätig. 1982 schloss sich Fücks den GRÜNEN an, wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter ihrer Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft und von 1985 bis 1989 selbst Abgeordneter und Fraktionsvorsitzender. 1989/90 wurde er als Co-Vorsitzender in den Bundesvorstand der GRÜNEN gewählt. Entschieden sprach er sich dafür aus, die GRÜNEN zu einer Regierungspartei zu machen und gemeinsam mit der SPD eine „neue geistige und politische Hegemonie“ anzustreben. 1991 wurde er in Bremen Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz sowie zweiter Bürgermeister in dieser ersten „Ampelkoalition“ aus Grünen, SPD und FDP in Deutschland. Seit 1996 leitet Ralf Fücks die Heinrich-BöllStiftung. Er ist u.a. verantwortlich für die Inlandsarbeit, Außen- und Sicherheitspolitik sowie Europa, Nordamerika und Israel. Als u.a. Mitglied der Grundsatzprogramm­kommission von Bündnis 90/Die Grünen hält er die Verbindung zwischen Stiftung und Partei. Ralf Fücks publiziert in den großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.



Die Autoren

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Bastian Giegerich (*1976) hat von 1996 bis 2001 Politikwissenschaft in Potsdam studiert und wurde 2005 an der London School of Economics & Political Science (LSE) im Fachbereich Internationale Beziehungen promoviert. Er verbrachte das akademische Jahr 1999–2000 als Fulbright Stipendiat an der University of Maryland, College Park, MD, USA. Seit August 2010 ist Bastian Giegerich wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (SOWI) im Forschungsschwerpunkt Multinationalität/Europäische Streitkräfte. Von 2005 bis 2010 arbeitete er als Research Fellow for European ­Security am International Institute for Strategic Studies (IISS) in London und lehrte außerdem an der LSE (2003–2009). Neben seiner Arbeit am SOWI ist er weiterhin in beratender Funktion für das IISS tätig und nimmt einen Lehrauftrag an der Universität Potsdam wahr. Er ist ­Herausgeber des Buches „Europe and Global Security“ (Routledge 2010) und Autor der Bücher „European Military Crisis Management“ (Routledge 2008), „European Military Capabilities: Building Armed Forces for Modern Operations“ (IISS 2008, mit Alexander Nicoll) und „European Security and Strategic Culture“ (Nomos 2006). Bastian Giegerich hat verschiedene Aufsätze zu sicherheitspolitischen Fragen in den Zeitschriften Cambridge Review of International Affairs, Europe’s World, International Politics, Security Dialogue, ­Security Studies, Studia Diplomatica und Survival veröffentlicht.

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Die Autoren

Christian Heldt (*1963 in Aschaffenburg) absolvierte eine zweijährige Dienstzeit als Reserveoffiziersanwärter bei der Gebirgstruppe und studierte danach Geschichte, Politikwissenschaften und Völkerrecht mit Abschlüssen in Paris und Bonn. Er trat 1991 in den Vorbereitungsdienst des Auswärtigen Amts ein, mit Stationen u.a. in St. Petersburg und Moskau. 1993 bis Anfang 1996 war er als Wirtschaftsreferent (Energie, Rüstungsindustrie, Konversion) und Koordinator Humanitäre Hilfe an der Deutschen Botschaft Moskau tätig. Danach leitete er bis Mitte 1999 das Pressereferat der Deutschen Botschaft Tel Aviv. 1999 bis 2002 war er in der Politischen Abteilung 3 des Auswärtigen Amts für die Länder Nordafrikas verantwortlich. 2002 bis 2007 arbeitete er als erster Deutscher und Ausländer im Pariser Quai d’Orsay in den Ministerbüros von sukzessive drei Außenministern und vier Europaministern. Zurück in Berlin nahm er 2007 und 2008 Sonderaufgaben für den Nah- und Mittelostbeauftragten im Auswärtigen Amt wahr (u.a. Aufbau der Initiative „Zukunft für Palästina“, Verhandlungen für die Union für das Mittelmeer). Mit der Aufstellung des Einsatzführungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung war er von Mitte 2008 bis Mitte 2010 erster Politischer Berater des Leiters dieses Stabes. Seit Sommer 2010 leitet er das Frankreichreferat in der Europaabteilung des Auswärtigen Amts. Christian Heldt ist verheiratet und hat vier Kinder.



Die Autoren

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Elke Hoff (*1957 in Unkel/Rhein) studierte nach dem Abschluss der allgemeinen Hochschulreife sechs Semester Germanistik, Philosophie und Politik in Frankfurt und absolvierte anschließend eine Ausbildung zur Kauffrau der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft. Von 1985– 1991 war Elke Hoff in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Bauindustrieverband und dem Bundesverband der Betriebskrankenkassen tätig. Danach war sie bis 2000 hauptamtliche Kreisbeigeordnete im Landkreis Neuwied und Dezernentin für Wirtschaft, Verkehr, Straßenbau, Bauwesen und Dorferneuerung, Schulen, Jugend und Kultur. 2000 wurde Frau Hoff zur Vizepräsidentin der Struktur- und Genehmigungsdirektion Nord in Koblenz ernannt und war als Abteilungsleiterin für die Bereiche Raumordnung/Landesplanung, Bauwesen, Naturschutz sowie Enteignung/Entschädigung zuständig. Diese Position hatte sie bis zur Bundestagswahl 2005 inne. Nach ihrem Eintritt in die FDP im Jahr 1981 führte sie von 1989–1991 als Vorsitzende die FDP-Fraktion im Kreistag von Neuwied, war 12 Jahre Kreisvorsitzende und ist seit 2007 stellvertretende Landesvorsitzende des FDP-Landesverbandes Rheinland-Pfalz. Seit ihrer Wahl in den Deutschen Bundestag im Jahr 2005 ist Elke Hoff ordentliches Mitglied im Verteidigungsausschuss und stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Seit 2009 ist sie sicherheitspolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion und Obfrau im Verteidigungsausschuss. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

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Die Autoren

Claus Kreß ist Professor für Strafrecht und Völkerrecht. Es ist Inhaber des Lehrstuhls für deutsches Strafrecht, europäisches Strafrecht und Völkerstrafrecht sowie Friedenssicherungs- und Konfliktsvölkerrecht an der Universität zu Köln und Life Member von Clare Hall College, Universität Cambridge. Seine über 100 Veröffentlichungen im In- und Ausland handeln vor allem von Fragen des Friedenssicherungsrechts und des Völkerstrafrechts, darunter zuletzt völkerrechtliche Probleme asymmetrischer bewaffneter Auseinandersetzungen, dogmatische und rechtspolitische Aspekte des Aggressionsverbrechens sowie der Rechtsrahmen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. 1996 bis 2000 war er Referent bzw. stv. Referatsleiter im Bundesministerium der Justiz. Seit 1998 ist er Mitglied der deutschen Regierungsdelegationen bei den Verhandlungen zum Internationalen Strafgerichtshof. Bei den interna­ tionalen Verhandlungen zum Aggressionsverbrechen war er zeitweise Sub-Koordinator. Er gehörte der vom Bundesministerium der Justiz eingesetzten Arbeitsgruppe „Völkerstrafgesetzbuch“ an und war Vorsitzender des Redaktionsausschusses für die Geschäftsordnung des Internationalen Strafgerichtshofs. Er ist Mitglied des Fachausschusses „Humanitäres Völkerrecht“ des Präsidiums des Deutschen Roten Kreuzes und gehört dem Ausschuss „Use of Force“ der International Law Association bei den Beratungen zum Thema „Aggression“ an.



Die Autoren

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Winfried Nachtwei (*1946 in Münster): Wehrdienst 1965–1967, Leutnant der Reserve; 1967–1974 Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Münster und München; 1977–1994 Lehrer am Gymnasium Dülmen, Gründungsmitglied der Münsteraner Grünen, aktiv in der Friedensbewegung der 80er und 90er Jahre; Gründungsmitglied des Bundes für Soziale Verteidigung und des Forum Ziviler Friedensdienst; Forschungen zu Judendeportationen nach Riga, Engagement für HolocaustÜberlebende im Baltikum; 1994–2009 Mitglied des Bundestages (Verteidigungsausschuss, Unterausschuss Abrüstung, NATO-Parlamentarierversammlung), 2002–2009 sicherheits- und abrüstungspolitischer ­Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, 2002–2005 stellvertretender Fraktionsvorsitzender; Mitglied im Beirat „Zivile Krisenprävention“ des Auswärtigen Amts, Beirat „Innere Führung“ des Verteidigungsministeriums, im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“; jeweils 15 Reisen in die Krisen- und Einsatzgebiete Balkan und Afghanistan mit umfassenden Reiseberichten; seit dem Ausscheiden aus dem Bundestag intensive Vortragstätigkeit; jüngste Veröffentlichungen zur Bundeswehrreform, zum „Fortschrittsbericht Afghanistan“ der Bundesregierung und Zwischenbilanz des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr (Friedensgutachten 2010), zu Stand und Perspektiven der zivilen Krisenprävention; seit Dezember 2010 Träger des Bundesverdienstkreuzes.

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Die Autoren

Avi Primor (*1935 in Israel) ist Diplomat und Publizist. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und dem Militärdienst führte ihn seine diplomatische Karriere u.a. als Botschafter des Staates Israel nach Deutschland und zur Europäischen Union. Seit seiner Zeit in Bonn (1993 bis 1999) ist er einer der wichtigsten Protagonisten des deutschisraelischen Dialoges. Daneben setzt er sich intensiv und leidenschaftlich für eine Friedenslösung im Nahost-Konflikt ein. Avi Primor publizierte zahlreiche Bücher und Aufsätze und ist ein geschätzter Gastkommentator in deutschen und internationalen Medien. Heute lehrt er an der Privatuniversität IDC in Herzliya/Israel und ist seit 2008 Präsident der Israelisch-Deutschen Gesellschaft (IDG) sowie seit 2010 Präsident der Israelischen Gesellschaft für Außenpolitik. Avi Primor ist Träger vieler nationaler und internationaler Auszeichnungen.



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Robert von Rimscha (*1964) ist Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt. Der gelernte Journalist ist der Autor von acht Büchern über aktuelle Fragen der internationalen Politik, zuletzt von Biographien der US-Präsidentenfamilien Bush und Kennedy (Campus-Verlag). Zwei seiner Bücher beschäftigen sich mit dem Übergang Südafrikas von der Apartheid zur Demokratie; drei beschäftigen sich mit dem Vergleich gesellschaftlicher Entwicklungen in den USA und in Deutschland. 2003 wurde er mit dem Arthur-F.-Burns-Preis für transatlantische Kommentierung ausgezeichnet. Robert von Rimscha war von 2004 bis 2009 Sprecher der FDP und Chefredakteur des liberalen Zweimonatsmagazins „Liberale Depesche“. Zuvor arbeitete von Rimscha als Leiter der Parlamentsredaktion (2001–2004) und als Amerika-Korrespondent (1996–2001) für die Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel“. Dort war er 1991 bis 1996 Volontär, Redakteur, stellvertretender Politik- und Nachrichtenchef. 2010 nahm er seine Arbeit im Auswärtigen Amt auf, zunächst als Stellvertretender Planungsstabschef. Robert von Rimscha hat in Freiburg und Boston Geschichte, Germanistik, Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Amerikanistik studiert und war anschließend am Graduiertenkolleg des John-F.-Kennedy-Instituts der FU Berlin. Er hat u.a. an der University of South Africa (UNISA) in Pretoria gelehrt und unterrichtet als Lehrbeauftragter im Masterstudiengang Wirtschaftskommunikation der HTW in Berlin.

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Volker Rühe (*1942 in Hamburg-Harburg) war von 1992 bis 1998 Bundesminister der Verteidigung im Kabinett von Helmut Kohl. Zu seiner Zeit nahm Deutschland erstmals an friedenssichernden Einsätzen außerhalb des Nato-Bündnisgebietes teil. Weitere politische Leistungen waren die Vollendung der Armee der Einheit sowie der deutsche Beitrag zur Öffnung der Nato für Mitglieder des ehemaligen Warschauer Pakts. Der CDU-Politiker begann seine politische Karriere 1970 als Mitglied in der Hamburgischen Bürgerschaft. Von 1976 bis 2005 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. Hier war er von 1982 bis 1989 sowie von 1998 bis 2002 stellvertretender Vorsitzender der CDU / CSU-Bundestagsfraktion. Von November 2002 bis Oktober 2005 war er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Zu seiner Parteikarriere zählen seine Stationen im Bundesvorstand der Jungen Union (1973– 1975), der Vorsitz im Bundesfachausschuss Außen- und Sicherheitspolitik der CDU (1983 bis 1989), die Zeit als CDU-Generalsekretär in den Jahren der deutschen Wiedervereinigung (1989–1992) sowie die Position eines Stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU (1998 bis 2002). Sicherheitspolitisch wirkt Volker Rühe heute durch seine Zusammenarbeit mit deutschen und amerikanischen Think Tanks. Gleichzeitig ist er in der Beratung von Wirtschaftsunternehmen tätig. Volker Rühe ist verheiratet und hat drei Kinder.



Die Autoren

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Michael Rühle (*1959 in Stuttgart) studierte nach seinem Wehrdienst Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Von 1988 bis 1990 war er Mitarbeiter im Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin, im Rahmen eines Stipendiums der Volkswagen-Stiftung. Von Januar bis Juli 1989 war er Visiting Fellow am Center for Strategic and International Studies, Washington, D.C. Seit 1991 arbeitet er im internationalen Stab der Nato, zunächst in der Politischen Abteilung der NATO im Referat „Politische Planung und Reden“, dessen Leitung er im Januar 2000 übernahm. 2006 wurde er stellvertretender Leiter der politischen Planungseinheit im Kabinett des Nato Generalsekretärs. 2010 wurde er Leiter des Referats für Energiesicherheit in der neuen Abteilung „Emerging Security Challenges“. Michael Rühle verfasste Reden und Aufsätze für sechs NATO-Generalsekretäre und andere hochrangige NATO-Mitarbeiter. Darüber hinaus wirkte er an der Vorbereitung von zahlreichen Kommuniqués und politischen Denkschriften mit und vertritt die NATO auf zahlreichen internationalen Veranstaltungen. Michael Rühle ist Mitverfasser einer umfassenden Studie über Raketenabwehr (1990) und publiziert regelmäßig zu sicherheitspolitischen Fragen, u.a. in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Internationale Politik, International Herald Tribune, Comparative Strategy, European Security, International Affairs und The World Today. Sein Essay „Gute und schlechte Atombomben“ erschien im März 2009 in deutscher und englischer Sprache.

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Die Autoren

Paul Schäfer (*1949 in Mainz) ist verteidigungspolitischer Sprecher und Obmann im Verteidigungsausschuß der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE. Dem Deutschen Bundestag gehört er seit 2005 an (Landesliste NRW). Nach dem Abitur 1967 am Neusprachlichen Gymnasium in Oppenheim absolvierte er ein Studium der Politologie und der Soziologie in Mainz und Marburg, welches er 1978 als DiplomSoziologe beendete. Während seines Studiums war er von 1970 bis 1971 Hochschulreferent im AStA der Philipps-Universität Marburg und von 1971 bis 1972 Pressereferent des Verbandes Deutscher Studentenschaften. Von 1979 bis 1983 war Schäfer Berater beim Vorstand des Bundes demokratischer Wissenschaftler und wechselte 1983 als Redakteur zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden. Von 1991 bis 1994 war Paul Schäfer wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Katrin Fuchs (SPD) und von 1995 bis 1998 des Abgeordneten Gerhard Zwerenz (PDS). Anschließend war er bis 2002 Referent für Außen- und Sicherheitspolitik der PDS-Bundestagsfraktion. Er gehört dem Aufsichtsrat des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze, dem Beirat der „NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit“ und der Kommis­ sion „Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an.



Die Autoren

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Andreas Schockenhoff (*1957 in Ludwigsburg) hat drei Kinder. Nach dem Abitur 1976 am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Ludwigsburg studierte er bis 1981 Romanistik, Germanistik und Geschichte an den Universitäten in Tübingen und Grenoble. Von 1982 bis 1984 leistete er seinen Referendardienst in Ravensburg. 1985 folgte die Promotion am Romanischen Seminar der Universität Tübingen mit einer Dissertation zum Thema „Henri Albert und das Deutschlandbild des ‚Mercure de France‘ 1890–1905“. Von 1985 bis 1990 unterrichtete er Französisch und Deutsch am Freien katholischen Gymnasium im Bildungszentrum St.  Konrad in Ravensburg. Seit 1990 vertritt er den Wahlkreis 294 Ravensburg (Bodensee) im Deutschen Bundestag. Dort war er zunächst von 1990 bis 1994 Mitglied des Innen- und des Wirtschaftsausschusses, seit 1994 ist er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses sowie seit 2005 des Verteidigungs- und des Europaausschusses. Von 1998 bis 2005 war er als stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgruppe Außenpolitik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Obmann im Auswärtigen Ausschuss, seit 2005 nimmt er die Aufgabe des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden für Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Europapolitik wahr. Seit 1994 sitzt er der deutsch-französischen Parlamentariergruppe vor. Andreas Schockenhoff wurde 2006 zum Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit ernannt. Seit 2000 ist er Bezirksvorsitzender der CDU Württemberg-Hohenzollern und Mitglied des Präsidiums und Landesvorstandes der CDU Baden-Württemberg. Andreas Schockenhoff ist Hauptmann der Reserve.

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Die Autoren

Christoph Schwegmann (*1971 in Köln) studierte Politik und Germanistik in Mannheim und Swansea/Wales und wurde 2003 mit einer Arbeit über das internationale Krisenmanagement im ehemaligen Jugoslawien promoviert. Er lebt in Berlin, wo er im Bundesministerium der Verteidigung arbeitet. Seit Beginn seiner beruflichen Laufbahn hat er sich auf verschiedenen Ebenen mit Auslandseinsätzen befasst. Zunächst (2000–2002) als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), anschließend (2002–2005) als Berater des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Volker Rühe, im Deutschen Bundestag sowie derzeit und von 2006 bis 2008 in unterschiedlichen Funktionen im Bundesministerium der Verteidigung. Von Oktober 2008 bis Dezember 2009 arbeitete er im Internationalen Stab der NATO in Brüssel, wo er ein umfassendes Verständnis der Beratungen und Entscheidungsfindung in der Allianz gewinnen konnte. Christoph Schwegmann ist u.a. Mitglied im Körber-Netzwerk-Außenpolitik, Munich Young Leader der Münchner Sicherheitskonferenz, Deutsch-Amerikanischer und Europäischer Young Leader der AtlantikBrücke und Mitgründer der Atlantischen Initiative e.V. Er war Visiting Fellow am EU Institut für Sicherheitsstudien in Paris und am American Institute for Contemporary German Studies in Washington. Christoph Schwegmann publizierte in deutschen und englischsprachigen Fachzeitschriften und Zeitungen.



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Alexander Skiba ist Länderreferent für Afghanistan im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Von Oktober 2009 bis September 2010 war er als Entwicklungsbeauftragter des BMZ für die nordafghanischen Provinzen Kundus und Takhar zuständig und arbeitete als Ressortvertreter im Regionalen Wiederaufbauteam Kundus. Nach dem Studium der Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin (Dipl.-Pol.), dem Institut d’Etudes Politiques Lyon und der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University in Washington, DC war Ale­ xander Skiba als Programmmitarbeiter am Alfred von OppenheimZentrum für europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin tätig. 2008–2009 nahm er am 14. Jahrgang des Stiftungskollegs für internationale Aufgaben der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Robert Bosch Stiftung teil. Im Rahmen seines Projekts zur Rolle Irans bei der Stabilisierung ­Afghanistans absolvierte er Arbeitsstationen im Auswärtigen Amt, an der Deutschen Botschaft Teheran, an der Kabul University sowie bei der Policy Planning Unit im Brüsseler NATO-Hauptquartier.

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Die Autoren

Jörg Vollmer (*1957 in Bremen) ist Brigadegeneral und seit Oktober 2010 Chef des Stabes im I. Deutsch/Niederländischen Korps in Münster. Zuvor war er seit 2006 Kommandeur der Panzergrenadierbrigade 37 „Freistaat Sachsen“ in Frankenberg. In diese Zeit fiel sein Einsatz als Kommandeur Regionalkommando Nord ISAF in Masar-e-Scharif von Januar bis Oktober 2009. Nach dem Abitur begann 1978 seine militärische Karrriere mit dem Diensteintritt in die Bundeswehr. Es folgte die Ausbildung zum Offizier in Hammelburg, Hannover und Münster, einschließlich eines Studiums der Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg. Nach mehreren Offiziersverwendungen bei den Panzergrenadieren besuchte er von 1991 bis 1993 den Generalstabslehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Es folgten Verwendungen als Referent für Militärpolitik im Verteidigungsministerium in Bonn (1993–95) und als G3 und Chef des Stabes der Panzerbrigade 14 in Neustadt (1995–97). Seine erste Auslandsverwendung führte ihn 1996 ins Unterstützungskommando für IFOR und SFOR in Zagreb. Anschließend war er bis 1999 zwei Jahre Kommandeur Fallschirmjägerbataillon 373, bevor er bis 2001 Leiter des Fachzentrums Planübungen an der Führungsakademie in Hamburg wurde. Es folgte ein Fellowship für Advanced Operational Art Studies an der School for Advanced Military Studies in Leavenworth/USA (2001/02) und leitende Verwendungen im Streitkräfteamt in Bonn (2002–04) sowie im Führungsstab des Heeres in Bonn (2004–06). Brigadegeneral Vollmer ist verheiratet.



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Ulrich Weisser (*1938 in Aurich/Ostfriesland) ist Vizeadmiral a.D. Nach seinem Eintritt in die Marine 1958 durchlief er eine Ausbildung zum Seeoffizier. Es folgten der Einsatz als Kommandant auf Küstenminensuchbooten, Stabsverwendungen sowie der Admiralstabslehrgang an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg und Verwendungen im Bundesministerium der Verteidigung. Von 1979 bis 1982 war er Deutscher Vertreter im NATO-Hauptquartier Atlantik in Norfolk/USA. Danach war er Gruppenleiter für Sicherheitspolitik im Bundeskanzleramt. Nach Besuch des NATO Defence College in Rom wurde er Direktor für Sicherheitspolitik und Strategie an der Führungsakademie der Bundeswehr, woran sich 1991 ein Studienaufenthalt beim amerikanischen Forschungsinstitut RAND in Santa Monica/USA anschloss. Nach Verwendung als Chef des Stabes und Stellvertreter des Deutschen Vertreters im NATO-Militärausschuss in Brüssel wurde er von 1992 bis 1998 Leiter des Planungsstabes des Bundesministers der Verteidigung. Wesentliche Arbeitsschwerpunkte waren die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses, die Öffnung der NATO für neue Mitglieder, die Strategische Partnerschaft NATO-Russland, die Vollendung der Armee der Einheit, die Strukturreform der Bundeswehr und die Rüstungspolitik. Ulrich Weisser veröffentlichte fünf Bücher: „Europas Sicherheit und die Supermächte“, „Schlüssel zum Frieden“, „NATO ohne Feindbild“, „Sicherheit für ganz Europa“ und zuletzt „Strategie als Berufung“. Er ist vielfacher Gastkommentator im Fernsehen und in Printmedien zu aktuellen sicherheitspolitischen Themen sowie Berater von Regierungen und Industrie.