Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion: Erzählungen von Entfremdung und Rückbesinnung. Mit einem Vorwort von Heiko Haumann 9783412214593, 9783412208028

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Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion: Erzählungen von Entfremdung und Rückbesinnung. Mit einem Vorwort von Heiko Haumann
 9783412214593, 9783412208028

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Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion

Lebenswelten osteuropäischer Juden Erinnerung an die Lebenswelten osteuro­ päischer Juden, an ihre Ge­schichte und Kultur, ist eine Erfahrung des Leidens, aber auch des Selbstbewusstseins und der Kraft. Mit den Arbeiten dieser Reihe – ­wissenschaftlichen Forschungen, Neuaus­ gaben bedeutender älterer Beiträge und Quelleneditionen – sollen Leben­ ver­ hältnisse und Alltag, Werte, Normen und Einstellungen, Denken, Fühlen und Verhalten der Juden ebenso wieder gegen­ wärtig werden wie das Zusammenleben mit der nichtjü­­dischen Umwelt und das Einwirken politischer, wirtschaft­ licher und ge­sell­schaftlicher Strukturen. In der Auseinandersetzung mit ­ diesen Welten gewinnen wir sie als Teil unserer eigenen Geschichte zurück.

Herausgegeben von Heiko Haumann Band 13

Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion Erzählungen von Entfremdung und Rückbesinnung Mit einem Vorwort von Heiko Haumann von Jan Arend

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Menorah and Hammer, 2010. © Sergej Elkin © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20802-8

Inhaltsverzeichnis Vorwort von Heiko Haumann ............................................................................. 7 Anmerkungen zum methodischen Vorgehen .................................................... 11 I – Hinführung 1. Einleitung............................................................................................................. 15 2. Kontexte: „Jüdische Fragen“ in der Sowjetunion....................................... 2.1. Entstalinisierung, „alltäglicher Antisemitismus“ und Widerstand – Die Jahre von 1953 bis 1985....................................... 2.2. Emigration und neue Blüte – Von der Perestrojka in die postsozialistische Zeit.............................................................................. 2.3. Lebenswege und Prägungen: Merkmale jüdisch-sowjetischer Biographien................................................................................................

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3. Lebensgeschichtliche Erzählungen als Quelle zur Erforschung autobiographischer Erinnerungsmuster........................................................ 38 4.

Strategien autobiographischer Sinnstiftung im Kontext neu gestärkter jüdischer Identität........................................................................... 4.1. Antisemitismus als Deutungsmuster von Erfahrung........................ 4.2. „Anhaftendes Judentum“........................................................................ 4.3. Das Motiv von Entfremdung und Rückbesinnung...........................

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5. Vom „Marginal Man“ zum „Jüdischen Leben“............................................ 53 II – Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetzeit 1. Mark Grutman – „So bekam ich eine Vorstellung, was in der Welt los war.“................................................................................................................. 57 2. Elizaveta Ušerenko – „Unser Volk ist talentiert und heldenhaft.“........... 66

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Inhaltsverzeichnis

3. Friedrich Valler – „Da lernte ich, dass es unanständig und schlecht ist, ein Jude zu sein.“................................................................................................. 86 4. Frau K. – „Ich war keine große Aktivistin.“.................................................. 101 5. Anna Mackina – „Denn der Schlag traf Stalin ja in der Nacht vor Purim…“......................................................................................................... 108 6. Žanna Š. – „Vieles haben wir dann verstanden, als wir erwachsen wurden.“................................................................................................................ 127 7. Hanna Scheinker – „Ich merkte, dass ich die ganze Zeit in die falsche Richtung gegangen war.“..................................................................... 135 8. Weitere Schicksale.............................................................................................. 157 Anhang Leitfaden für das Interview von Heiko Haumann............................................ 165 Verzeichnis der Interviews...................................................................................... 169 Literaturverzeichnis................................................................................................. 170

Vorwort Anfang 2006 konnte ich in Lörrach im Rahmen einer Veranstaltungsreihe zur Ukraine einen Vortrag über „Das Schtetl als Lebensform. Zur Geschichte der Juden in der Ukraine“ halten. Zu meiner Freude waren zahlreiche Jüdinnen und Juden anwesend, die früher, als dieser Staat noch existierte, in der Sowjetunion gelebt hatten. Nach meinem Vortrag kamen einige von ihnen nach vorne, sangen jiddische Lieder und ergänzten meine Ausführungen. In anschließenden Gesprächen wurde mir bewusst, wie viel sie von den damaligen Verhältnissen berichten konnten. Mir kam die Idee, diese einzigartige Quelle über jüdisches Leben in der Sowjetunion zu dokumentieren. Über eine Studentin der Osteuropäischen Geschichte an der Universität Basel, Katja Nudelman, die mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Lörrach gekommen war, gelang es im Sommer 2006, eine Zusammenkunft in den Räumen der jüdischen Gemeinde von Lörrach zu organisieren, an der ich meine Idee den Anwesenden vorstellen konnte. Sie stieß auf ausgesprochen positive Resonanz, die meisten erklärten sich zu einem Gespräch bereit. Bereits an diesem Abend erfuhr ich viele Lebensgeschichten, hörte von den Erfahrungen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, von Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, von den Morden während der Shoah, von den Diskriminierungen in der Nachkriegszeit, vom geheimen jüdischen Leben, von den Schwierigkeiten des eigenen Selbstverständnisses, vom Zusammenbruch der Sowjetunion und neuen judenfeindlichen Angriffen, von der Entscheidung auszuwandern. Deutlich wurde, dass die Interviews in Russisch oder Jiddisch geführt werden mussten, damit sich die Beteiligten so frei wie möglich in ihrer Muttersprache ausdrücken konnten. Im Wintersemester 2006/07 rief ich dann mit erfreulich großem Erfolg Studierende mit Russisch- und Jiddisch-Kenntnissen dazu auf, eine Projektgruppe zu bilden, um neben dem Studium in einem Forschungspraktikum das Leben von Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion kennenzulernen. Die Studierenden sollten lebensgeschichtliche Interviews selbständig durchführen und auf Band aufnehmen, sie in der Originalsprache und in einer deutschen Übersetzung verschriftlichen und eine Zusammenfassung erstellen. Auf Wunsch konnten auch Seminararbeiten angefertigt werden. In einer Vorbereitungsphase erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine intensive Einführung in die Oral History und ihre methodischen Probleme, in die Interviewführung und in die tech-

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Vorwort

nische Gestaltung. Ein „Leitfaden“, der allen zur Verfügung gestellt wurde, ist im Anhang abgedruckt. Für den erheblichen Arbeitsaufwand bekamen die Studierenden eine bescheidene Entschädigung, die ebenso wie der Ersatz der Fahrtund Materialkosten seitens der Fromer-Stiftung und der Stiftung für Jüdische Studien in Basel ermöglicht wurde. Im Laufe des Jahres 2007 fanden dann die Interviews statt. Katja Nudelman und Hanna Scheinker von der Lörracher jüdischen Gemeinde waren dabei eine unersetzliche Hilfe. Zusätzlich zu den Interviews mit Jüdinnen und Juden aus der Ukraine führten Katja Nudelman und Anna Liesch Gespräche mit Gemeindemitgliedern, die aus der ehemaligen Tschechoslowakei und der DDR nach Lörrach gekommen waren. Sie sind für diesen Band nicht berücksichtigt worden. Neben den genannten beteiligten sich folgende Studierende an den Interviews: Lukas Allemann (Hanna Scheinker), Valerie Andres (A. S.), Irene Appel (Elena Tanėzer), Jan Arend (Anna Mackina), Christine Bertschi (Žanna Š.), Svitlana Huber-Shpika (Igor’ Lerner), Katarzyna Szymańska (Frau K.), Maria Schalnich (Friedrich und Maja Valler), Nina Zlotnik (Elisaveta Ušerenko), Daniela Di Biase und Alain Zogg (Mark Grutman). Jan Arend hat es dann übernommen, die Interviews – die auch für die weitere Forschung zur Verfügung stehen – auszuwerten, für diese Publikation zusammenzustellen und vor dem Hintergrund des Forschungsstandes zu interpretieren. Die übrigen Mitglieder der Projektgruppe waren damit einverstanden und haben wichtige Hinweise geliefert. Für den Band konnten nicht alle Gespräche in gleicher Ausführlichkeit und Intensität genutzt werden. Wir mussten eine Auswahl treffen. Diese richtete sich nicht danach, ob einige interessanter seien als andere – jede Lebensgeschichte hat ihren eigenen Wert und ist gleich wichtig –, sondern nach eher technischen Kriterien. Zur Veröffentlichung als Einzelkapitel erschienen uns vor allem diejenigen Interviews geeignet, die einer chronologischen lebensgeschichtlichen Leitlinie folgten. Nicht alle Gespräche verliefen in dieser Form. Sämtliche Lebensgeschichten werden aber vorgestellt und sind in die Interpretation eingeflossen. Das Buch zeigt, was mit einem Projekt erreicht werden kann, in dem Studierende sachkundig und engagiert mitarbeiten, und zu welch bedeutsamen Ergebnissen ihre eigenen Forschungen führen können. Die Möglichkeit, Studierenden über Forschungspraktika zusätzliche Qualifikationen zu ihrem Studium zu vermitteln und durch derartige Projekte neue Erkenntnisse zu gewinnen, hat sich bewährt. Mit den Interviews und den hier vorgelegten

Vorwort

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Interpretationen wird ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Juden in der Sowjetunion geleistet, der bisher gar nicht oder nur umrisshaft bekannte Aspekte jüdischen und sowjetischen Lebens sichtbar macht. Allen an diesem Projekt Beteiligten danke ich herzlich für ihre Mitwirkung, insbesondere unseren Interviewpartnerinnen und -partnern, den Projektmitgliedern und Jan Arend, der das Manuskript verfasst hat. Katarina Bader, Sybille Diethelm, Manina Ott und Frithjof Benjamin Schenk danken Jan Arend und ich für anregende Kommentare zum Manuskript. Schließlich möchte auch Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau Verlag für die vorzügliche Lektoratsarbeit danken. Heiko Haumann

Anmerkungen zum methodischen Vorgehen Im ersten Teil der lebensgeschichtlichen Interviews wurden die Zeitzeugen aufgefordert, ihre Lebensgeschichte frei zu erzählen. In diesem Teil des Gesprächs verzichteten wir auf Zwischenfragen, um den Erzählfluss nicht zu stören und die Narration nicht in eine bestimmte Richtung zu lenken. In einem zweiten Teil stellten wir Rückfragen zur Lebensgeschichte und versuchten auch anhand des von Heiko Haumann entworfenen Fragenkatalogs das gewonnene Bild zu vervollständigen. Diese Fragen zielten auf drei Bereiche: das Alltagsleben in der Sowjetunion, die Erfahrungen, die die Interviewten im Zusammenhang mit ihrer jüdischen Herkunft gemacht hatten, und ihre heutigen Haltungen und Gefühle gegenüber der sowjetischen Vergangenheit, aber auch gegenüber den postsozialistischen Staaten, Israel und Deutschland. Bei der Übersetzung und sprachlichen Bearbeitung der Interviews versuchten wir die einfachere Syntax der gesprochenen Sprache zu konservieren. Dabei haben wir uns erlaubt, Versprecher, Unverständliches und Wiederholungen wegzulassen, sofern sie uns für den Sinngehalt unbedeutend schienen. Die Auslassungen sind im Text durch drei Punkte in eckigen Klammern markiert ([…]). Aus den Gesprächsaufzeichnungen wurden schließlich größere Passagen zur Veröffentlichung ausgewählt, wobei wir mehrere Auswahlkriterien berücksichtigten. So bevorzugten wir Abschnitte, die etwas über die persönlichen Erfahrungen der Befragten aussagten, gegenüber solchen Passagen, in denen die oftmals historisch kundigen Zeitzeugen allgemeines Wissen über die Geschichte der Sowjetunion und der Juden wiedergaben. Dieses Auswahlkriterium entsprach unserem Interesse an der subjektiven Dimension der Geschichte, also am persönlichen Erfahrungs- und Deutungsgehalt der Lebensgeschichten. Unser biographischer Zugang wiederum ließ uns tendenziell Passagen aus dem ersten Gesprächsteil (lebensgeschichtliche Erzählung) gegenüber Stellen aus dem zweiten Abschnitt des Interviews (themenorientierte Fragen) bevorzugen. Letztere wurden dafür bei der inhaltlichen Auswertung der Gespräche verstärkt berücksichtigt. Bei der Anordnung der Passagen beachteten wir den Erzählzusammenhang und die biographische Chronologie. Für die Veröffentlichung wurden die Passagen

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Anmerkungen zum methodischen Vorgehen

thematisch und chronologisch geordnet, ohne dabei jedoch die ursprüngliche Struktur der Lebensgeschichten grundlegend zu verändern. Wenn uns Abweichungen von der Chronologie im Hinblick auf die Konstruktion von Erinnerung von Bedeutung erschienen, beließen wir die Erzählung in ihrer ursprünglichen Form und ließen die Beobachtung in die Interpretation einfließen. Insgesamt versuchten wir, einerseits Verständlichkeit zu garantieren und andererseits die Erzählungen so authentisch wie möglich zu belassen. Schließlich noch einige Bemerkungen zur Transliteration. Bei russischen Begriffen folgten wir der im deutschen Sprachraum üblichen wissenschaftlichen Umschrift. Dies gilt auch für die von einigen Zeitzeugen verwendeten russischjiddischen Mischformen. Die Transliteration jiddischer Begriffe folgt der „leserfreundlichen“ Methode, die Marion Aptroot und Roland Gruschka vorschlagen.1 Bei den im Deutschen geläufigen Begriffen aus der jüdischen Kultur entschieden wir uns für eine Schreibweise nach Duden. Der Abdruck der hier gezeigten Abbildungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Interviewpartner. Die Photos befinden sich im Besitz des Autors.

1 Aptroot, Marion; Gruschka, Roland: Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. München 2010, 177–180.

1.  Einleitung Die Forschung zur Geschichte der Juden in der Sowjetunion war lange Zeit überwiegend politikgeschichtlich orientiert, so dass die Aufmerksamkeit Themen wie der Sowjetisierung der Schtetl in den zwanziger und dreißiger Jahren oder den Repressionen im Spätstalinismus galt. Mit Blick auf die Jahre zwischen 1945 und 1991 war die Geschichtsschreibung durch einen starken Fokus auf die Mitte der sechziger Jahre entstandene jüdische Oppositions- und Emigrationsbewegung geprägt. Dies führte in vielen Darstellungen zu einem einseitigen Bild vom sowjetischen Judentum seit dem Zweiten Weltkrieg, denn das Interesse galt vornehmlich denjenigen Juden, die eine politische jüdische Identität herausbildeten und sich vom sowjetischen System zu entfremden begannen.2 Zwar ist wiederholt bemerkt worden, dass diese Protestbewegung nur einen relativ kleinen Teil der sowjetischen Juden erfasste und dass es eine Mehrheit gab, die ihr Judentum charakteristischerweise nicht politisierte. Doch wurde diese Gruppe bisher selten zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht. Schon 1980 wies Theodore Friedgut in einem Aufsatz auf dieses Ungleichgewicht in der Forschung hin. Er prägte – in Anlehnung an den Titel eines Romans von Elie Wiesel3 – für diejenigen Juden, die von der Protestbewegung nicht erfasst wurden, den Begriff der „silent majority“.4 2 Vgl. die Überblicksdarstellungen von Alfred D. Low: Soviet Jewry and Soviet Policy, New York 1990; Nora Levin: The Jews in the Soviet Union since 1917. Paradox of Survival. Bände 1 und 2. New York 1988. Benjamin Pinkus: The Jews of the Soviet Union. The History of a National Minority. Cambridge 1989; Matthias Messmer: Die Judenfrage in der Sowjetunion. Ideologische Voraussetzungen und politische Realität, 1953–1985. Konstanz 1992. Ein breiteres soziales Spektrum deckt ab: Zvi Gitelman: A Century of Ambivalence. The Jews of Russia and the Soviet Union. 1881 to the Present. Bloomington 2001. Noch stärker nimmt die soziologische Arbeit von Mordechai Altshuler die jüdische Gesamtbevölkerung der Sowjetunion in den Blick: Soviet Jewry since the Second World War. Population and Social Structure. New York u. a. 1987. 3 Elie Wiesel, Les Juifs du Silence, Paris 1966. 4 Friedgut grenzte in seiner soziologischen Untersuchung die „silent majority“ näher ein: Er meinte eine sich in den sechziger und siebziger Jahren herausbildende Schicht innerhalb der sowjetischen Juden, die er als eine urbane, territorial verstreute Gruppe mit hohem Bildungs- und Assimilationsgrad beschrieb. Hier wird der Begriff allerdings in einem weiteren Sinne verwendet und meint alle sowjetischen Juden die sich nicht am

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Hinführung

In diesem Buch werden autobiographische Erzählungen von Angehörigen der „stillen Mehrheit“ vorgestellt, die im Rahmen von lebensgeschichtlichen Interviews entstanden sind. Diese Befragungstechnik gehört zu den Methoden der Oral History, einem Ansatz der Geschichtswissenschaft, der auf Gesprächen mit Zeitzeugen fußt. In lebensgeschichtlichen Interviews werden diese zu einer autobiographischen Erzählung angeregt, die möglichst wenig durch vorgefasste Fragen gesteuert werden soll. Die Selektions- und Gewichtungsentscheidungen beim Erzählen sollen bei dem Zeitzeugen selbst liegen.5 Die Lebensgeschichten sowjetischer Juden werden hier mit Blick auf Erinnerungsmuster und autobiographische Sinnkonstruktionen untersucht: Es interessiert also die retrospektive Deutung lebensgeschichtlicher Erfahrung. Die Analyse konnte sich dabei auf theoretische Vorarbeiten im Bereich der Erinnerungskultur- und Autobiographieforschung stützen. Die lebensgeschichtlichen Interviews werden hier also nicht als Quelle für die Untersuchung vergangener „Wirklichkeiten“ benutzt, sondern als Dokumente einer Sicht der Gegenwart auf die Vergangenheit. Daneben werden auch die historischen Kontexte der Lebensgeschichten dargestellt, wofür allerdings die Grundlage nicht die Interviews selber, sondern die historische Forschungsliteratur bildet. Dieses Vorgehen zielt nicht auf die Gegenüberstellung einer „subjektiven“ und einer „objektiven“ Sicht auf Geschichte. Es geht nicht darum, zu zeigen, dass die Zeitzeugen in bestimmten Punkten „falsch“ liegen. Auch die geschichtswissenschaftliche Sicht ist standpunktgebunden und von einer eigenen, disziplinären Subjektivität geprägt. So verstanden entspringen autobiographische und geschichtswissenschaftliche Wahrheiten unterschiedlichen Quellen und Motivationen. Diesen Unterschieden ist in der Darstellung Rechnung zu tragen, ohne das damit eine Wertung einhergeht. jüdischen Widerstand beteiligten. Vgl. Theodore Friedgut: Soviet Jewry: The Silent Majority. In: Soviet Jewish Affairs, 10, 2, 1980, 3–19, hier 4–7. 5 Vgl. Roswitha Breckner: Von den „Zeitzeugen“ zu den „Biographen“. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews. In: Diekwisch, Heike (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Essen 1994, 199–222; Hopf, Christel: Qualitative Interviews – ein Überblick. In: Uwe Flick, Ernst von Kardoff, Ines Steinkke, (Hgg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Hamburg 2003, 349–359; Arnd-Michael Nohl: Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. Wiesbaden 2009, 23–32. Für einen Überblick über die Ansätze der Oral History vgl. Thomas L. Charlton, Lois E. Myers, Rebbecca Sharpless (Hgg.): Handbook of Oral History, New York u. a. 2006; Alistair Thomson: Four Paradigm Transformations in Oral History. In: The Oral History Review, 2006, 34, 1, 40–70.

Einleitung

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Die Interviews wurden im Rahmen eines 2007 angelaufenen Forschungsprojektes am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Basel geführt. Befragt wurden jüdische Emigranten aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die seit ihrer Emigration in den Nachwendejahren in Deutschland unweit der Grenze zur Schweiz leben. Hier gehören sie zum Umfeld einer jüdischen Gemeinde, wobei nur ein Teil von ihnen die jüdische Religion praktiziert. Die Befragten kamen zwischen 1922 und 1952 zur Welt. Die Mehrheit von ihnen lebte vor ihrer Emigration auf dem Gebiet der ukrainischen und russländischen Sowjetrepublik, weitere Herkunftsorte waren das sowjetische Weißrussland und Litauen. Ihre autobiographischen Erzählungen beginnen meist mit den Verfolgungen während der Shoah und in der späten Stalinzeit und umfassen darüber hinaus die Jahre unter den Nachfolgern Stalins bis zur politischen Wende von 1991. Sie lebten in kleineren und größeren urbanen Zentren der Sowjetunion, meist ohne Anbindung an ein jüdisches Umfeld. Überwiegend gehörten sie zur gebildeten Schicht der sowjetischen Gesellschaft und arbeiteten in technischen und akademischen Berufen, oft als Ingenieure, Ärzte oder Lehrer. Keiner der Befragten nahm am jüdischen Widerstand teil. Die auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Adjektivmetapher „still“ kann aber, je nach historiographischem Zugang, Unterschiedliches bedeuten. Friedgut drückte damit die Politikferne der jüdischen Mehrheit in der UdSSR aus. Versteht man die Sowjetunion seit 1953 in ausschließlich politikgeschichtlicher Perspektive als eine Arena, in der Herrschende und Opposition einen (oft ungleichen) Kampf ausfochten, Repression und Widerstand das Geschehen bestimmten, dann war die Mehrheit der sowjetischen Juden tatsächlich „still“, denn sie trat auf der politischen Bühne nicht als Gegner des Regimes in Erscheinung. Aus der Perspektive einer Kultur- und Alltagsgeschichte stellt sich das Bild freilich anders dar. Jüngere Arbeiten konnten nämlich zeigen, dass im staatssozialistischen Kontext für die Mehrzahl der Menschen eine Lebensführung jenseits und zwischen den Polen von Konformität und politischem Widerstand charakteristisch war. Diese Forschungen entdeckten die alltägliche unpolitische Resistenz und den „Eigensinn“ der Individuen, womit Strategien des individuellen Umgangs und der subjektiven Umdeutung der „Zumutungen von oben“ gemeint sind.6 Sie konnten zeigen, wie Menschen, zum Beispiel in den 6 Vgl. Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn. In: Diekwisch, Alltagskultur, 139–153. Ders.: Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? In: Ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt a. M. u. a. 1989, 9–47; Thomas Lindenberger: Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung. In: Ders. (Hg.): Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesell-

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Hinführung

sozialistischen Betrieben, die Vorgaben der Produktionsnorm kreativ uminterpretierten und sich in der Freizeit Räume des Privaten schufen, in denen sie sich dem doktrinären Zugriff der Partei entziehen konnten.7 Vergleichbare Verhaltensweisen waren auch bei den Angehörigen der jüdisch-sowjetischen silent majority verbreitet. Manche hegten im Privaten eine Faszination für den israelischen Staat, als dieser in der Zeit des „Kalten Krieges“ zum feindlichen Lager des Westens gehörte, andere führten religiöse Traditionen im Kreis der Familie fort. Sowjetische Juden entwickelten unterschiedliche Strategien im Umgang mit ihrer Minderheitenlage und einem zeitweise repressiv-antijüdischen Klima. Das Spektrum reichte vom Versuch einer vollständigen Assimilation an die sowjetischen Verhältnisse bis hin zum aktiven jüdischen Widerstand und dem Drängen auf Emigration. Am stärksten verbreitet waren jedoch unterschiedlich geartete Versuche, einen Mittelweg zwischen Assimilation und Widerstand zu gehen. Dabei wurde eine Integration in die sowjetische Gesellschaft angestrebt, wobei die jüdische Identität schwächer werden konnte, ohne sich gänzlich zu verlieren.8 Assimilation, Widerstand und vielfältige Mittelwege: Dies sind wichtige Merkmale sowjetisch-jüdischer Biographien. Oft lassen sich innerhalb einer einschaftsgeschichte der DDR. Köln u.a. 1999, 13–44, hier 21–26; Ilko-Sascha Kowalczuk: Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR. In: Ders., Ulrike Poppe, Rainer Eckert (Hgg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, 85–115; Den Resistenzbegriff entwickelt mit Blick auf den Nationalsozialismus Martin Broszat: Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts. In: Ders., Elke Fröhlich, Anton Grassmann (Hgg.): Bayern in der NS-Zeit. IV. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil C. 4. München u.a. 1981, 691–709, hier 697–699. 7 Vgl. zum Beispiel Katherine A. Lebow: Public Works, Private Lives: Youth Brigades in Nowa Huta in the 1950s. In: Contemporary European History, 10, 2001, 199–219; Peter Heumos: „Der Himmel ist hoch und Prag ist weit!“ Sekundäre Machtverhältnisse und organisatorische Entdifferenzierung in tschechoslowakischen Industriebetrieben (1945–1968). In: Annette Schuhmann (Hg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR. Köln 200, 21–41. 8 Für diese Minderheitenstrategie ist auch der Begriff „Akkulturation“ vorgeschlagen worden, der eine Aufnahme der Mehrheitskultur bei gleichzeitiger Bewahrung des Eigenen bezeichnet. Für eine ausführliche Diskussion des Akkulturationskonzeptes vgl. Trude Maurer: Plädoyer für eine vergleichende Erforschung der jüdischen Geschichte Deutschlands und Osteuropas. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft, 27, 2, 2001, 308–326, hier 313; Heckmann, Friedrich: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation: Soziologie inter-ethnischer Beziehungen. Stuttgart 1992, 162–209.

Einleitung

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zelnen Biographie – in unterschiedlichen Lebensphasen oder als ambivalentes Schwanken in ein und derselben – mehrere dieser Strategien feststellen. Die Lebenswege von Angehörigen der „stillen Mehrheit“ der sowjetischen Juden waren stark durch die Mittelwege und durch Assimilationsbemühungen geprägt.9 Zum Teil gelang ihnen auf diesem Weg eine erfolgreiche Integration in die sowjetische Gesellschaft, doch machten sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft auch viele Exklusionserfahrungen. Diese Menschen bewegten sich in einem ambivalenten sozialen Raum zwischen Integration, Marginalität und Diskriminierung. Oftmals war ihre jüdische Idenität nur schwach ausgeprägt. Im Zuge der politischen und kulturellen Liberalisierung seit der Perestrojka hat demgegenüber innerhalb der „stillen Mehrheit“ eine intensive Neuorientierung am Judentum eingesetzt.10 Diese Renaissance eines jüdischen Herkunftsbewusstseins führte zu einer Umdeutung der Vergangenheit und prägt den autobiographischen Erzählungen dieser Gruppe auch in der postsozialistischen Zeit seinen Stempel auf. Die Zeitzeugen erzählen ihre Lebensgeschichten aus der Perspektive einer neu- oder wiedererstarkten jüdischen Orientierung, sie erzählen jüdische Lebensgeschichten. Meist sind die Protagonisten ihrer Ich-Erzählungen Menschen, die als Juden Erfahrungen machen, nicht etwa als Sowjetbürger, Russen oder Ukrainer. Die hier vorgestellten Lebensgeschichten sind vor dem Hintergrund dieses Wandels ihrer Erinnerungskultur zu verstehen.11 Der erste Teil dieses Buches bietet eine Hinführung zum Thema. Zunächst werden in einem Überblickskapitel (2.) die historischen Kontexte der lebensgeschichtlichen Erzählungen geschildert. Dabei stellt neben politischen und sozialen Entwicklungen die Vielfalt jüdisch-sowjetischer Lebenswege einen Schwerpunkt dar. Diese bildet gleichsam das autobiographische „Material“ der lebensgeschichtlichen Narrationen, einen Fundus an Erfahrungen, aus dem die Zeitzeugen beim Erzählen schöpfen. Dass die narrative Verarbeitung von Erfahrung als ein selektiver und kreativer Prozess zu denken ist, stellt ein zentrales Argument im folgenden, methodisch-theoretischen Kapitel (3.) dar, das sich mit den Implikationen von erinnerungs- und narrationstheoretischen Ansätzen für 9 Vgl. Friedgut, Silent Majority, 4–7. 10 Vgl. zum sowjetisch-jüdischen “Revival” Lukasz Hirszowicz: Breaking the Mould. The Changing Face of Jewish Culture under Gorbachev. In: Soviet Jewish Affairs, 1988, 18, 3, 25–45. 11 Zur starken Gewichtung jüdischer Aspekte in den autobiographischen Erzählungen der Zeitzeugen trugen zusätzlich auch Vorstellungen über die an sie in einem solchen Gesprächsrahmen gestellten Erwartungen bei. Schließlich war ihnen bewusst, dass sie an einem Projekt zur Erforschung jüdischer Gedächtniskulturen teilnahmen.

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Hinführung

die Interpretation lebensgeschichtlicher Erzählungen beschäftigt. Dabei soll gezeigt werden, wie autobiographische Narrationen Aufschluss geben über die retrospektive Deutung erlebter Geschichte und die auf ihr basierende Identitätsbildung in der Gegenwart. Im vierten Kapitel werden wiederkehrende Motive aus den lebensgeschichtlichen Erzählungen der Zeitzeugen vorgestellt (4.). Anhand dieser Deutungsmuster läßt sich darlegen, wie sie ihre Erfahrungen im Lichte ihrer neu gestärkten jüdischen Orientierung interpretieren. Eine zentrale Sinnstruktur bildet dabei die Deutung des eigenen Lebensweges als eine Bewegung von der erzwungenen Entfremdung zur Rückbesinnung auf das Judentum. Die „Rückkehr zu den Wurzeln“ wird zu einem bestimmenden autobiographischen Motiv, das der eigenen Lebensgeschichte – gerade auch angesichts von biographischen Zäsuren wie der Emigration – Sinn und Kohärenz verleiht. Schließlich folgen im zweiten Teil des Buches sieben lebensgeschichtliche Erzählungen, die die hier vorgetragenen Argumente beispielhaft illustrieren. Für die Zwecke dieser Publikation wurden die Interviews transkribiert, sprachlich bearbeitet und mit einem erklärenden Fußnotenapparat versehen. Jede Lebensgeschichte wird durch eine kurze Interpretation und historische Einordnung eingeführt. In diesen Essays wird der interpretative Umgang mit individuellen lebensgeschichtlichen Erzählungen erprobt. Dabei wird deutlich, dass es sich um Zeugnisse einer sich dynamisch entwickelnden postsowjetischjüdischen Erinnerungskultur handelt.

2.  Kontexte: „Jüdische Fragen“ in der Sowjetunion Seit der Wende zum Stalinismus 1929 bürgerte es sich unter den Führungsschichten der UdSSR ein, die „jüdische Frage“ – wie überhaupt alle nationalen und ethnischen Fragen – siegesgewiss für „gelöst“ zu erklären. Laut einer verbreiteten Vorstellung befand sich die sowjetische Gesellschaft auf dem Weg in eine lichte Zukunft, in der nationale Unterschiede und Konflikte überwunden sein würden und ein einheitliches sowjetisches Volk (sovetskij narod) mit einer einheitlichen kommunistischen Kultur entstehen würde. Die Sowjetunion wurde in der Propaganda als ein Schmelztiegel der Nationen dargestellt.12 Doch waren die politische Rhetorik und Praxis von Widersprüchen geprägt. Die „jüdische Frage“ löste sich nicht wirklich, sondern sie wurde wiederholt durch die Hintertüre wieder in den politischen Diskurs eingeführt und prägte die Haltung der Obrigkeiten gegenüber der Minderheit.13 Zwar wurde die Assimilation von der Partei als Patentlösung propagiert: Schrittweise sollten die Juden in das sich herausbildende sowjetische Volk hineinwachsen. Allerdings wurde die Verwirklichung dieser Utopie der Einheitlichkeit nicht mit letzter Konsequenz verfolgt. An ihrer Stelle setzten sich in der Praxis oft andere Ordnungsvorstellungen durch. Schon die frühe sowjetische Nationalitätenpolitik akzeptierte das Vorhandensein unterschiedlicher Nationalitäten als natürliche und bleibende Gegebenheit und unterstützte die Nationsbildung teilweise sogar, etwa durch die Gliederung der UdSSR nach föderalen, ethnisch-territorialen Prinzipien.14 Die Kategorie der Nationalität, der man auch die jüdische Minderheit zuordnete, blieb fest verankert in der administra12 Vgl. zu diesem Abschnitt Alfred D. Low: Soviet Jewry and Soviet Policy. New York 1990, 208–209. 13 Vgl. Naomi Blank: Redefining the Jewish Question from Lenin to Gorbachev: Terminology or Ideology? In: Yaakov Ro’i (Hg.), Jews and Jewish Life in Russia and the Soviet Union, Ilford 1995, 52–66. Die Konjunkturen und Rezessionen der “jüdischen Frage” im öffentlichen Bewusstsein wurden wesentlich durch Zensurmechanismen reguliert. Vgl. Bljum, Arlen V.: Evrejskij vopros pod sovetskoj cenzuroj. 1917–1991. St. Petersburg 1996. 14 Vgl. Yuri Slezkine, The USSR as a Communal Apartment, or How a Socialist State Promoted Ethnic Particularism. In: Slavic Review, 53, 2, 1994, 414–452; David Shneer: Having it both ways. Jewish Nation Building and Jewish Assimilation in the Soviet Empire. In: Ab Imperio, 2003, 4, 377–393.

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Hinführung

tiven und institutionellen Ordnung der Sowjetunion sowie im politischen Denken der Parteikader. Das Verhältnis der sowjetischen Führung zur jüdischen Minderheit war kompliziert und blieb im Verlauf der Geschichte der UdSSR ungeklärt. Dies hing auch mit den Schwierigkeiten der führenden Kommunisten zusammen, die Juden als Bevölkerungsgruppe in den Begrifflichkeiten ihrer politischen Ordnungsentwürfe zu erfassen. Die sowjetischen Juden, die bis zur Gründung des Autonomen Jüdischen Gebiets in Birobidžan (1934) weder innerhalb noch außerhalb der Sowjetunion ein Stammland besaßen und deren traditionalere Schichten in ihren Identitätsentwürfen Religion und Volkszugehörigkeit verbanden, passten nicht recht in die Kategorie der „Nationalität“. So wurde die „jüdische Frage“ in unterschiedlichen Politikbereichen thematisiert, etwa in der Religionspolitik, in der Nationalitätenpolitik, in der Kulturpolitik und im Rahmen der Klassenfrage.15 Seit der Gründung Israels wirkten sich vermehrt auch die Positionen sowjetischer Außenpolitik auf das Verhältnis zur eigenen jüdischen Minderheit aus.16 Es war auch diesen Definitions- und Kompetenzunsicherheiten geschuldet, dass man in den verschiedenen Phasen der historischen Entwicklung unterschiedliche Antworten auf die „jüdische Frage“ fand. Die 1920er Jahre etwa waren von der nationalitätenpolitischen Konzeption der „Einwurzelung“ (korenizacija) geprägt, in deren Rahmen versucht wurde, die Völker der Sowjetunion schrittweise und in einer ihnen vertrauten Form an sozialistische Prinzipien heranzuführen. Zeitweise förderte man deshalb ein jüdisches Kulturleben, das gemäß einer verbreiteten Formel der zeitgenössischen Nationalitätenpolitik „national in der Form und sozialistisch im Inhalt“ sein sollte, wobei mit dem

15 Vgl. zu diesem Abschnitt Heinz-Dietrich Löwe: Die Juden im bol’ševikischen System: Zwischen sozialem Wandel und Intervention. In: Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner (Hgg.), Zwischen großen Erwartungen und bösem Erwachen. Juden, Politik und Antisemitismus in Ost- und Südosteuropa 1918–1945. Zürich u.a. 2007, 137–165; Igor Krupnik: Soviet Cultural and Ethnic Policies toward Jews: A Legacy Reassessed. In: Ro’i, Jews, 67–86, hier 77. 16 Vgl. zum Wandel der sowjetischen Wahrnehmung der jüdischen Minderheit seit der Staatsgründung Israels Jeffrey Veidlinger: Soviet Jewry as a Diaspora Nationality. The „Black Years“ Reconsidered. In: East European Jewish Affairs, 33, 1, 2003, 4–29 und Zvi Gitelman, A Century of Ambivalence. The Jews of Russia and the Soviet Union. 1881 to the Present. Bloomington 2001, 193.

Kontexte: „Jüdische Fragen“ in der Sowjetunion

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Jiddischen die traditionelle Alltagssprache der osteuropäischen Juden favorisiert wurde.17 Ende der zwanziger Jahre zeichnete sich ab, dass man mit der Einwurzelungspolitik viele assimilationsunwillige Juden nicht recht erreichte. Das Konstrukt einer sowjetisch-jiddischen Kultur erschien vielleicht zu künstlich, um eine breite Anhängerschaft zu mobilisieren. Mit der Religion war zudem ein zentrales Element der traditionellen Lebensweise ausgegliedert worden. Viele an den religiösen Lebensformen orientierte Juden konnten sich nicht vorstellen, in einer atheistischen Gesellschaft Wurzeln zu schlagen. Zugleich wurde das politische Klima im Land repressiver. Die Sowjetunion befand sich auf dem Weg in den Stalinismus.18 Auch für die Juden brachte dieser Umschwung verschärften Druck. Ein jüdisches Kulturleben durfte sich kaum noch entfalten, und die Religionsausübung wurde mit immer drastischeren Mitteln behindert. Seit Anfang der 1930er Jahre wurde eine aggressive antireligiöse Kampagne geführt. Den berüchtigten „Säuberungen“ unter Stalin fielen auch unzählige Juden zum Opfer. Die zuvor bestehenden jüdischen Schulen wurden nun geschlossen und auch das Jiddische zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt. Überhaupt war die Nationalitätenpolitik unter Stalin durch eine Favorisierung der russischen Sprache geprägt, was sich etwa in Verboten anderssprachiger Publikationen äußerte. Innerhalb der Partei verloren zuvor bestehende jüdische Vertretungen an Spielraum. Mit der deutschen Invasion im Zweiten Weltkrieg kam ein vernichtender Schlag gegen die jüdische Bevölkerung hinzu. In den okkupierten Gebieten lebten sehr viele Juden und diejenigen, denen nicht rechtzeitig die Flucht nach Osten gelang, fielen in überwiegender Zahl der Shoah zum Opfer.19 Die Evakuation in den Kaukasus und die zentralasiatischen Staaten sowie das entbehrungsreiche Leben während der Kriegsjahre in diesen Ländern bilden in 17 Die Praxis der „Einwurzelungspolitik“ lässt sich beispielsweise anhand zeitgenössischer Lehrbücher an damals eigens eingerichteten Schulen für die jüdische Minderheit der Sowjetunion nachvollziehen. Sie waren in jiddischer Sprache verfasst und es wurden zum Teil alttestamentarische Motive verwandt, um eine sozialistische Botschaft verständlich zu machen. Vgl. dazu die Abbildungen in Anna Shternshis, Soviet and Kosher. Jewish Popular Culture in the Soviet Union. 1923–1939. Indiana 2006, 32–34. Vgl. zur „Einwurzelung“ auch Zvi Gitelman: The Evolution of Jewish Culture and Identity in the Soviet Union. In: Yaakov Ro’i und Avi Beker (Hgg.), Jewish Culture and Identity in the Soviet Union. New York 1991, 3–26, hier 6. 18 Vgl. zu diesem Abschnitt die Übersicht in Grüner, Patrioten, 132–150. 19 Vgl. Grüner., Patrioten, 36–40.

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mehreren der hier vorgestellten Biographien prägende Kindheits- und Jugenderfahrungen. Viele der überlebenden Juden, die sich zuvor auf dem Weg zur Assimilation befunden hatten, wurden im Krieg auf brutale Weise an ihr herkunftsbedingtes Anderssein erinnert und so gewissermaßen auf ihr Judentum zurückgeworfen. Die Kriegserfahrung brachte in der nur vermeintlich vollständig atheistischen sowjetischen Gesellschaft ein gewisses Aufleben religiöser Gefühle mit sich, das auch durch eine vorübergehend tolerantere Haltung des Regimes befördert wurde.20 Auch die Juden hatten von der liberaleren Religionspolitik, mit der versucht wurde, religiös geprägte Gruppen innerhalb der sowjetischen Gesellschaft zu mobilisieren, profitiert. Nach dem Krieg wurden die Synagogen vielfach zu Anlaufstellen für die Überlebenden, die aus den Evakuationsorten in Zentralasien und dem Kaukasus sowie von der Front zurückkehrten.21 Insgesamt hatten die Kriegsjahre unterschiedliche Auswirkungen auf die Stellung der Juden in der sowjetischen Gesellschaft. Einerseits beförderte die Erfahrung des gemeinsames Kampfes und Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ die Integration der jüdischen Minderheit. Viele Juden konnten an der Front ihre Loyalität unter Beweis stellen und wurden „Helden der Sowjetunion“, was ihnen auch in der Nachkriegszeit – etwa im beruflichen Fortkommen – zu Gute kam. War das gesellschaftliche Klima während des Terrors der späten 1930er Jahre durch die Hetze gegen „innere Feinde“ vergiftet, so existierte für die Dauer des Krieges ein äußerer Feind. In der Gegnerschaft zu ihm rückten die sowjetischen Menschen ein Stück weit näher zusammen. Doch wurde der jüdische Anteil an der Landesverteidigung nicht von allen Seiten gewürdigt. In der Nachkriegszeit sollte sich in Teilen der sowjetischen Bevölkerung die Meinung verbreiten, dass sich die jüdischen Sowjetbürger vor dem Wehrdienst gedrückt hätten.22 In der Tat waren viele Juden, die ja als Gruppe durch die deutsche Invasion besonders bedroht waren, in östliche Regionen der UdSSR evakuiert worden. Doch drückte sich in der Redewendung 20 Vgl. zu diesem Abschnitt Grüner, Glaube, 538–540. 21 Vgl. Yaakov Ro’i: The Jewish Religion in the Soviet Union after World War II. In: Ders., Jews, 263–289, hier 263; Ders.: The Reconstruction of Jewish Communities in the USSR. 1944–1947. In: David Bankier (Hg.): The Jews are Coming Back. The Return of the Jews to their Countries of Origin after WWII. New York u.a. 2005, 186– 205. 22 Eine Zeitzeugin berichtete, sie habe in den fünfziger Jahren oft den Vorwurf gehört, dass die Juden während des Krieges „in Taškent gesessen“ seien (v taškente sideli). Zitat aus Interview 6.

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zugleich ein Vorurteil aus, nämlich die Vorstellung eines mangelhaften sowjetischen Patriotismus bei den Juden. Auch die jüdische Leiderfahrung während des Holocaust wurde in der Öffentlichkeit nicht anerkannt. Die offizielle Deutung des Zweiten Weltkrieges folgte dem Diskurs über den „Großen Vaterländischen Krieg“, in dessen Rahmen der russische Beitrag im Abwehrkampf gegen den Faschismus besonders hervorgehoben und ansonsten das universelle Leid des gesamten sowjetischen Volkes betont wurde. Für partikulare Opfernarrative war in diesem Geschichtsbild kein Platz.23 Hatte schon das Trauma der Shoah bei den sowjetischen Juden ein Bewusstsein ihrer Sonderstellung hervorgerufen, so führte die Negierung der Leistungen und des besonderen Leides der jüdischen Bevölkerung bei vielen zu einer Entfremdung vom sowjetischen System. In den Nachkriegsjahren verschärfte sich das politische Klima wieder, was sich auch in einer Renaissance der „jüdischen Frage“ im politischen Diskurs äußerte. Die Jahre zwischen 1948 und 1953, dem Todesjahr Stalins, gelten als die „schwarzen Jahre“ des sowjetischen Judentums.24 Waren schon vor dem Krieg gegen Juden gerichtete Diskriminierungen keine Seltenheit, so wurde nun der Antisemitismus zu einem Bestandteil der offiziellen Politik. Diese Entwicklung stand in einem Zusammenhang mit der sowjetischen Außenpolitik: Im Zuge des sich anbahnenden Ost-West-Konfliktes initiierte das stalinistische Regime – nach anfänglicher Unterstützung Israels – eine scharfe Propagandakampagne gegen den neu entstandenen jüdischen Staat. Den sowjetischen Juden, die die Staatsgründung Israels zum Teil enthusiastisch begrüßt hatten, wurde dabei „zionistische“ Illoyalität nachgesagt. Es kam zu einer Welle von Verhaftungen und zur Ermordung führender jüdischer Persönlichkeiten. Die gegen „heimatlose Kosmopoliten“ und „Zionisten“ gerichteten Kampagnen trugen deutliche antisemitische Züge. Einen Höhepunkt der „schwarzen Jahre“ bildete 1953 das Ver-

23 Vgl. zum sowjetischen erinnerungspolitischen Diskurs zum Zweiten Weltkrieg Amir Weiner, Making Sense of War. The Second World War and the Fate of Bolshevik Revolution. Princeton 2001, 208–209. Zur Schweigepolitik bezüglich des Holocaust vgl. Lew Besymenski: Was das Sowjetvolk vom Holocaust wusste. In: Leonid Luks (Hg.), Der Spätstalinismus und die „jüdische Frage“, Köln 1998, 69–88. 24 Zur Geschichte der Juden im Spätstalinismus vgl. Frank Grüner: Patrioten und Kosmopoliten. Juden im Sowjetstaat 1941–1953, Köln u.a. 2008. Zur Politik des „staatlichen Antisemitismus“ vgl. Gennadij Kostyrčenko, Gosudarstvennyj antisemitism v SSSR. Ot načala do kul’minacii. 1938–1953. Dokumenty. Moskau 2005; Pinkus, Jews of the Soviet Union, 150–161 und 166–181.

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fahren gegen eine angebliche „Ärzteverschwörung“.25 Elf Kremlärzte, deren überwiegend jüdische Herkunft man in der Öffentlichkeit besonders herausstellte, wurden – zu Unrecht – beschuldigt, die Vergiftung der sowjetischen Führung einschließlich Stalins geplant zu haben. Die Aktion sei, so wurde kolportiert, vom amerikanischen Geheimdienst und internationalen jüdischen Organisationen von langer Hand geplant geworden. Es ist möglich, dass die sowjetische Führung in dieser Zeit sogar die Deportation aller sowjetischen Juden nach Sibirien vorbereitete.26 Erst der Tod Stalins im März 1953 nahm den schlimmsten Druck von der jüdischen Minderheit. Die „Schwarzen Jahre“ blieben als ein Trauma im Gedächtnis vieler sowjetischer Juden.

2.1.  Entstalinisierung, „alltäglicher Antisemitismus“ und Widerstand – Die Jahre von 1953 bis 1985 Unter Nikita Chrušèëv als Parteichef (1953–1964) kam es in der Sowjetunion zu einer begrenzten Liberalisierung der Gesellschaft. Man sprach von einem politischen und kulturellen „Tauwetter“ (ottepel`), das die Entstalinisierung des gesellschaftlichen und politischen Systems ermöglichen sollte. Für die jüdische Bevölkerung allerdings blieben die Auswirkungen dieses Umbruchs insgesamt begrenzt. Hatte Chrušèëv seit 1956 viele Verbrechen des Stalinismus offen denunziert und die öffentliche Rehabilitierung der Opfer vorangetrieben, so galt dies nur in begrenztem Maße für den antijüdischen Terror der späten Stalinzeit. Ein jüdischer Opferdiskurs durfte sich nicht artikulieren, was auch weiterhin besonders für die Shoah galt. Die Entstalinisierung ermöglichte – vor allem in Literatur und Theater – eine gewisse Regeneration des jüdischen Kulturschaffens, das sich nach wie vor an den ästhetischen Vorgaben der jiddisch25 Einen Überblick über die Forschungslage gibt David Brandenberger: Stalin`s Last Crime? Recent Scholarship on Postwar Soviet Antisemitism and the Doctor`s Plot. In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History, 6, 2005, 187–204. 26 Die Frage, ob die sowjetische Führung in Bezug auf die Juden Deportationsabsichten hegte, bleibt vorerst ungeklärt. Anhand von Dokumenten lassen sich keine Deportationspläne belegen, doch erfolgten viele Verbrechen des Stalinistischen Regimes auf mündliche Anordnung. Vgl. Gennadij Kostyrčenko, Deportacija – mistifikacija: Proščanie s mifom stalinskoi epochi. In: Otečestvennaja Istorija, 2003, 1, 92–113 und Samson Madievski, Czy Żydom Radzieckim Zagrażała w 1953 Roku Deportacja? In: Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego, 2000, 2, 215–221; Ferner: Grüner, Patrioten, 499.

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proletarischen Kultur der zwanziger Jahre zu orientieren hatte. Insgesamt blieben die Konzessionen zögerlich und wurden oft schnell zurückgenommen. Schon 1956 hatte man nämlich mit Blick auf das sowjetische Judentum erklärt, man wolle eigentlich „keine tote Kultur wiederbeleben“.27 Antijüdische Tendenzen verschwanden nun aus dem öffentlichen Diskurs. In der Propaganda fabrizierte man ein Bild von der Sowjetunion als einem Staat, in dem viele Völker gleichberechtigt und freundschaftlich miteinander lebten. Gegen außen sollte der Eindruck erweckt werden, dass es in der UdSSR die „westlichen“ Probleme des Antisemitismus und Nationalismus nicht gäbe. Wenn sie auch nicht offen artikuliert wurde, so war eine antijüdische Stoßrichtung in Chrušèëvs Politik jedoch sehr wohl spürbar. In seiner Kampagne gegen „Wirtschaftskriminalität“ zum Beispiel wurden – im Vertrauen auf judenfeindliche Reflexe in der Bevölkerung – gezielt antisemitische Stereotypen bedient und die oftmals jüdische Herkunft vermeintlicher „Spekulanten“ und „Parasiten“ deutlich herausgestellt.28 Und auch im Rahmen der seit 1957 intensivierten antireligiösen Agitation figurierte die jüdische Religion als prominentes Feindbild. Ein aufgrund seiner Aggressivität besonders hervorstechendes Beispiel war die 1963 durch die Ukrainische Akademie der Wissenschaften veröffentlichte Propagandaschrift „Die ungeschminkte Wahrheit über das Judentum“ (Iudaizm bez Prikras), die unter anderem eine jüdische Kollaboration mit den Nazis unterstellte.29 Für die Lage der sowjetischen Juden wurde nun ein Klima der Rechtsunsicherheit, das Diskriminierungen Tür und Tor öffnete, charakteristisch.30 Ein „alltäglicher Antisemitismus“ (bytovoj antisemitizm) – von den Obrigkeiten zuweilen geduldet, zuweilen ermuntert – bestimmte das Gesicht der Zeit. Juden wurden zum Beispiel auf dem Ausbildungsweg benachteiligt, was in vielen sowjetisch-jüdischen Lebensgeschichten beschrieben wird. Bei der Vergabe von Stu27 So der Parteitheoretiker Michail Suslov. Zitiert nach: Wilfried Jilge, Norbert Franz: Sowjetunion und Postsozialismus. In: Elke-Vera Kotowski (Hg.): Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Band 1. Länder und Regionen. Darmstadt 2001, 195–213, 206. 28 Vgl. Gitelman, Century, 168. 29 Trofim Kičko: Iudaizm bez prikras, Kiev 1963. 30 Einen Eindruck vom daraus entstehenden Klima der Angst gibt der Bericht eines amerikanischen Juden von einer Reise in die Sowjetunion im Winter 1965. Vgl. David W. Weiss: Die Last, in der Sowjetunion ein Jude zu sein. In: Rolf W. Schloss (Hg.), Lass mein Volk ziehen. Die russischen Juden zwischen Sowjetstern und Davidstern. Eine Dokumentation. München u. a. 1971, 24–50.

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dienplätzen etwa spielte die „Nationalität“ der Bewerber eine Rolle. Auch für viele bessere Arbeitsplätze gab es inoffiziell diskriminierende „Judenquoten“.31 Unter Leonid Brežnev (1964-1982) geriet die jüdische Frage wieder ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie hatte sich nun, ähnlich wie in der spätstalinistischen Phase, zur „zionistischen Frage“ gewandelt. 1967 kam es als Reaktion auf den Sechstagekrieg zu einer scharfen Agitation gegen das sowjetische Judentum. Die Sowjetunion unterstützte in diesem Krieg – der Frontenlogik des „Kalten Krieges“ folgend – die unterlegenen arabischen Nachbarstaaten Israels. Erneut unterstellte man den sowjetischen Juden verräterischen „Zionismus“. Hatten früher vor allem innenpolitische Überlegungen die Regimepolitik gegenüber der jüdischen Minderheit bestimmt, so wirkten sich nun zunehmend außenpolitische Konstellationen auf ihre Lage aus. Im Zuge des Ost-West-Konflikts entstand eine eigentümliche „zionologische“ Denkweise in sowjetischen Führungskreisen, ein explosives Gemisch aus Feindbildern („der Westen“, „Israel“, „die Juden“), paranoiden Verschwörungstheorien und russisch-nationalem Chauvinismus.32 Es war insbesondere diese scharf geführte antizionistische Kampagne, die bei vielen zuvor regimeloyalen Juden den Anlass zu Desillusionierung und Aufbegehren gab. Vielleicht war dabei die Einsicht wichtig, dass die Entstalinisierung die Situation der Juden in der Sowjetunion nicht grundlegend verbessert hatte. Der israelische Sieg im Sechstagekrieg hatte unter Teilen der sowjetischen Judenheit nationaljüdische Loyalitäten aktiviert. Diese Juden machten ihre jüdische Identität zum Ausgangspunkt ihres Widerstandes gegen ein System, von dem sie sich entfremdet hatten. Es kam nun zu einer Renaissance des jüdischen Herkunftsbewusstseins in der UdSSR und zu einer eigentlichen jüdischen Nationalbewegung, die vermehrt auch im Westen Beachtung und Unterstützung erfuhr.33 Dies zeigte sich beispielsweise anlässlich des Prozesses gegen einen der Vorkämpfer der Bewegung, den Menschenrechtsaktivisten Anatolij Ščaranskij. Als dieser 1977 als Spion verurteilt wurde, erregte dies große internationale Auf31 Vgl. Jilge u.a., Sowjetunion, 209. 32 Vgl., Andreas Umland: Soviet Antisemitism after Stalin. In: East European Jewish Affairs, 29, 1–2, 1999, 163–164. 33 Vgl. zur jüdischen Emigrations- und Nationalbewegung Yossi Goldstein: The Jewish National Movement in the Soviet Union. A Profile. In: Ro’i, Culture and Identity, 27–41; Dina Zisserman-Brodsky: The „Jews of Silence“ – the „Jews of Hope“ – the „Jews of Triumph“: Revisiting Methodological Approaches to the Study of the Jewish Movement in the USSR, in: Nationalities Papers, Vol. 33, No. 1, März 2005, 119–139, hier 128–129.

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merksamkeit.34 Der jüdische Protest äußerte sich insbesondere im Drängen auf die Erlaubnis zur Ausreise, mit Israel als einem der wichtigsten Emigrationsziele. 1971 wurde schließlich erstmals einer beträchtlichen Zahl von Juden erlaubt, die Sowjetunion zu verlassen. Die vergleichsweise liberale Haltung des Regimes in der Emigrationsfrage während der siebziger Jahre stand im Zusammenhang mit der Entspannungspolitik im Ost-West-Konflikt. Man nahm Rücksicht auf die Interessen der USA, wo die sowjetisch-jüdische Emigrationsbewegung einflussreiche Unterstützer hatte.35 Als die verfeindeten Blöcke Ende der siebziger Jahre wieder auf einen verschärften Konfrontationskurs einschwenkten, wurden auch die Ausreisebestimmungen restriktiver. War der Kampf um das Recht auf Emigration in den siebziger Jahren die am stärksten verbreitete Form eines aktiven Bekenntnisses zum Judentum, so wurden nach dem weitgehenden Wegfall dieser Option Anfang der achtziger Jahre religiöse Ausdrucksformen jüdischer Identität wichtiger.36 Die Aktivisten des Widerstandskampfes entwickelten einen positiven, politisch geprägten Bezug zu ihrem Judentum. Wie schon erwähnt, wurde allerdings eine Mehrheit der sowjetischen Juden von dieser Welle der Politisierung nicht erfasst. Doch auch die Erfahrungen der „stillen Mehrheit“ müssen vor dem Hintergrund der hier skizzierten Entwicklungen verstanden werden. Zwischen 1945 und 1985 wechselten sich in der Sowjetunion offene staatliche Judenfeindschaft mit Phasen eines inoffiziellen und „alltäglichen“ Antisemitismus ab, wobei sich die sowjetische Führung auf teilweise in der Bevölkerung verbreitete Ressentiments gegen die Juden „verlassen“ konnte. Sie machte die jüdische Minderheit zuweilen zum Sündenbock für gesellschaftliche Missstände, um sie dann wieder für eine gewisse Zeit zu ignorieren, indem sie die „jüdische Frage“ kurzerhand für „gelöst“ erklärte.

2.2.  Emigration und neue Blüte – Von der Perestrojka in die postsozialistische Zeit Der tiefgreifende Wandel des politischen Klimas im Zuge der Perestrojka unter Michail Gorbačëv (1985-1991) hatte weitreichende Folgen für die Situation 34 Vgl. Gitelman, Century, 189. 35 Vgl. zu den internationalen Zusammenhängen der Emigrationsfrage Pauline Peretz: Le combat pour les Juifs soviétiques. Washington – Moscou – Jérusalem. 1953–1989. Paris 2006, hier 209–348. 36 Vgl. ebenda, 190.

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der Juden. Das jüdische Kulturleben in der UdSSR konnte sich nun wieder freier entfalten, Publikationen zu jüdischen Themen wieder vermehrt erscheinen.37 Insbesondere wurden nun auch die religiösen Institutionen nicht mehr systematisch unterdrückt, und religiöse Juden aus Israel und den Vereinigten Staaten durften einreisen, um mit ihren Organisationen die Errichtung eines flächendeckenden jüdischen Gemeindelebens zu unterstützen. Viele Juden begannen aktiver ihren Glauben zu praktizieren. Seit 1987 erleichterte man auch die Emigration für Ausreisewillige. Im Leben der „stillen Mehrheit“ wirkten sich die Umbrüche jedoch nur mit Verzögerung aus: Die „stille Mehrheit“ der sowjetischen Juden, diejenigen Juden also, die versuchten, so gut es ging zurechtzukommen und ihre Zukunft in der UdSSR sahen, befanden sich nach wie vor in einer marginalen und unsicheren Position. Die Mehrheit der sowjetischen Juden waren keine Dissidenten, obwohl Tausende unter ihnen bereit waren zu emigrieren, wenn sich die Möglichkeit eröffnete, ohne Benachteiligungen die Ausreise zu beantragen. Sie waren keine Zionisten und hatten keine spezifisch jüdische Lebensweise, wollten aber durch die Emigration Familien vereinigen oder erhofften sich eine bessere wirtschaftliche Situation im Ausland. Einige fürchteten den Antisemitismus oder wollten nicht in einem politischen System leben, das sie nicht unterstützten. Andere fühlten sich gut integriert in das sowjetische System und wollten nicht ausreisen. Ihre Karrieren, Freunde und ihr kulturelles Leben waren in der Sowjetunion und sie fühlten sich wohl. Doch sogar unter diesen Juden gab es einige, die verstanden, dass ein großer Teil der sowjetischen Gesellschaft sie als Außenseiter wahrnahm, unabhängig davon wie sie sich selber sahen.38

Nach dem Zerfall der UdSSR 1991 wurde eine Mehrheit der sowjetischen Juden zu Staatsbürgern der Russländischen Föderation und der Ukraine.39 Die Unterdrückung der Juden von Seiten der staatlichen Obrigkeit fand in diesen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein Ende. Anders als in sowjetischer Zeit können sich seitdem in einem freieren öffentlichen Diskurs alternative Geschichtsbilder behaupten. Teilweise wurde die Anerkennung des jüdischen 37 Vgl. Hirszowicz, Breaking. 38 Gitelman, Century, 194–195 (Übersetzung J.A.). 39 Vgl. zu den neunziger und Nullerjahren Vladimir Khanin: The Postcommunist Order, Public Opinion, and the Jewish Community in independent Ukraine. In: Harvard Ukrainian Studies, 1999, 23, 1–2, 85–108; Friedgut, Theodore H.: The Problematics of Jewish Community Development in Contemporary Russia. In: Zvi Gitelman, Yaacov Ro’i (Hgg.): Revolution, Repression, and Revival. The Soviet Jewish Experience. Lanham u.a. 2007. 239–272.

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Leides während der Shoah auch staatlich gefördert: In Moskau steht heute auf dem Areal von Poklonnaja Gora, einem zentralen Denkmalkomplex zum Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg, eine Synagoge mit einem Holocaustmuseum. Doch brachte die postsowjetische Zeit auch neue Probleme, wie politische Instabilität, soziale Unsicherheit, ethnische Spannungen und wirtschaftliche Krisen. In dieser angespannten Situation fand, etwa in Russland und der Ukraine, auch der Antisemitismus in der Bevölkerung wieder verstärkten Zulauf.40 Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse entscheiden sich bis heute eine große Zahl der Juden für die Ausreise ins westliche Ausland und nach Israel.41 Im Zuge der neuen Assoziations- und Organisationsfreiheit entstanden zahlreiche jüdische Kulturvereine, die – unterstützt durch ausländische Organisationen wie das American Jewish Joint Distribution Committee – Bildungs- und Wohlfahrtsprogramme auf lokaler Ebene entwickelten und sich, beispielsweise in Russland, auch auf nationaler Ebene zu Dachverbänden mit Anspruch auf Gesamtvertretung der jüdischen Gemeinschaft zusammenschlossen.42 Zugleich wurden sie zu Zentren der kulturellen Aktivität, organisierten Vortragsreihen zu jüdischen Themen und Sprachkurse in Jiddisch und Hebräisch. Auch ein jüdisches Pressewesen mit religiöser und kultureller Ausrichtung ging aus ihnen hervor. Die Opfer der Nationalsozialisten und ihre Angehörigen erhalten Hilfe von den Vereinigungen, beispielsweise bei der Geltendmachung von Restitutionsansprüchen. Die Kulturvereine beschleunigten auch den Emigrationsprozess – oft gehören gerade Emigrationswillige zu den aktivsten Mitgliedern. Die Zukunft wird zeigen, ob die neuen jüdischen Gemeinden und Kulturvereinigungen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion langfristig eine vitale jüdische Gemeinschaft verwurzeln können, oder letztlich die Auswanderungsbewegung noch verstärken werden.

40 Vgl. Lev Gudkov: Attitudes towards Jews in Post-Soviet Russia and the Problem of Anti-Semitism. In: Zvi Gitelman, Yaacov Ro’i (Hgg.): Revolution, Repression, and Revival. The Soviet Jewish Experience. Lanham u.a. 2007, 193–220. 41 Zur Dynamik der postsowjetisch-jüdischen Emigration vgl. Tolts, Mark: Post-Soviet Jewish Demography, 1989–2004. In: Zvi Gitelman, Yaacov Ro’i (Hgg.): Revolution, Repression, and Revival. The Soviet Jewish Experience. Lanham u.a. 2007, 283– 312. 42 Vgl. Friedgut, Problematics, 247–252.

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2.3.  Lebenswege und Prägungen: Merkmale jüdisch-sowjetischer Biographien Beschäftigt man sich mit den Lebenswegen sowjetischer Juden, so wird eine Vielzahl von Umgangsformen mit den Chancen und Problemen ihrer Minderheitensituation erkennbar. Wiederkehrende Muster stellen Assimilation und Widerstand dar. Dazwischen gab es vielfältige Mittelwege. Oft ist eine Biographie durch mehr als eines dieser Muster geprägt. „Assimilation“ bedeutet einen Prozess der Angleichung an eine Mehrheitskultur, der bis zur Aufgabe der eigenen Kultur führen kann.43 Lange war „Assimilation“ ein Leitbegriff der Interpretation sowjetisch-jüdischer Geschichte. Laut dieser Deutung war die Assimilation die Grundtendenz der Entwicklung der sowjetisch-jüdischen Minderheit. Mit der Ausnahme einer kleinen Gruppe von Dissidenten wurden die sowjetischen Juden oft als nahezu vollständig assimilierte Gruppe beschrieben.44 Als Ansatz zur Deutung der jüdischen Geschichte in der europäischen Moderne ist der Assimilationsbegriff jedoch in die Kritik geraten, weshalb heute auch die sowjetisch-jüdische Geschichte nur noch selten als Assimilationsgeschichte geschrieben wird. Die Kritiker des Assimilationsparadigmas argumentierten, dass der Begriff eine geradlinige, zum Ziel der totalen kulturellen Angleichung führende Entwicklung suggeriere, die als übergreifende Tendenz empirisch für die meisten Konstellationen jüdischer Minderheiten und nichtjüdischer Mehrheiten im modernen Europa nicht nachweisbar sei. Verbreitet sei vielmehr die Bewahrung des Eigenen im Prozess der Aufnahme von Mehrheitskulturen, wodurch kulturelle Mischformen entstünden.45 Die vorliegende Arbeit nimmt in gewissem Sinne eine Zwischenstellung zwischen den skizzierten Positionen ein. „Assimilation“ wird hier nicht als vorherrschender Entwicklungsweg der jüdischen Minderheit in der Sowjetunion ver43 Vgl. Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden, München 1999, 114. Vgl. für einen Überblick über die Assimilationstheorie Heckmann: Ethnische Minderheiten, 162– 209; Zygmunt Bauman: Assimilation and Enlightenment. In: Society, 27, 6, 1990, 71–81. 44 Für eine kritische Übersicht zu „Assimilation“ als Paradigma in der Geschichtsschreibung zum sowjetischen Judentum vgl. Dimitry Shumsky: Soviet Jewish Historiography as a „no-mans land“. Reflections on „The Jewish Century“. In: Zion, 2007, 72, 4, 457–470. 45 Vgl. zur Kritik am Assimilationsbegriff Maurer, Plädoyer, 14–15. Noch grundsätzlicher stellt das Konzept in Frage: Amos Funkenstein: The dialectics of assimilation. In: Jewish Social Studies. New Series. 1, 2, 1995, 1–14.

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standen, sondern als eine von mehreren Strategien und Tendenzen, die in sowjetisch-jüdischen Biographien, oder Phasen derselben, feststellbar sind. Der Versuch einer Assimilation an die sowjetische Mehrheitsgesellschaft kennzeichnet viele sowjetisch-jüdische Biographien.46 Oft war dabei die Anpassung nicht nur eine Reaktion auf äußeren Druck, sondern sie entsprang bei manchen Juden auch einem eigenen Wunsch.47 Die Revolutionen von 1917 hatten ihnen die offizielle Gleichberechtigung gebracht. Viele sahen nun große gesellschaftliche Aufstiegschancen, denn der Weg in die gute Gesellschaft schien erstmals frei. Auch die Begeisterung für die Ideen des Kommunismus oder für eine modernere Lebensweise spielte bei vielen Assimilationswilligen eine wichtige Rolle für ihre Bereitschaft, die Verbindung zu den jüdischen Wurzeln zu kappen. Manchen schienen die überkommenen Traditionen des Schtetls unzeitgemäß und sie strebten in die sich rapide entwickelnden großen Städte der Sowjetunion.48 Hier lockten günstige Aussichten in Ausbildung und Beruf. Zur Migration in die Metropolen trug auch bei, dass das Leben in den Schtetln zunehmend schwieriger wurde. Die Pogrome während des Bürgerkrieges trafen die jüdisch geprägten Kleinstädte hart. Und durch das Verbot des Privatkapitalismus wurde ihnen ihre traditionelle ökonomische Grundlage – Handel und Handwerk – entzogen.49 Die Migration in die Städte führte dazu, dass die Juden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die am stärksten urbanisierte Bevölkerungsgruppe der Sowjetunion bildeten.50 In den Großstädten kam es vermehrt zu Mischehen. Die Kinder aus solchen Ehen sahen sich oft nicht mehr als Juden und galten auch administrativ nicht mehr als solche. Seit die Sowjetführung in den dreißiger Jahren von der Einwurzelungspolitik abrückte, war eine Orientierung an der russischen Sprache ein zentrales Element von Assimilationsbestrebungen. In vielen Familiengeschichten kann man 46 Vgl. Valerij Chervyakov, Zvi Gitelman, Vladimir Shapiro: The Ethnicity of Russian and Ukrainian Jews. In: East European Jewish Affairs, Volume 31, 2, Winter 2001, 1–17, hier 4; Mordechai Altshuler, Soviet Jewry since the Second World War. Population and Social Structure. New York u. a. 1987, 238. 47 Vgl. zu den unterschiedlichen Hintergründen dieser jüdischen Assimilationsbereitschaft Haumann: Geschichte der Ostjuden, 190–193. 48 Vgl. zur jüdischen Migration in die Städte Altshuler, Soviet Jewry, 1–7. Zum Beispiel der Migration nach Moskau vgl. Gabriele Freitag: Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917–1932. Göttingen 2004. 49 Vgl. Freitag, Zuwanderung, 92–96. 50 Vgl. Altshuler, Soviet Jewry, 229.

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sehen, wie sich die Kenntnis des Jiddischen im Verlauf der Sowjetzeit in einem generationenübergreifenden Prozess sukzessive verliert. Assimilation bedeutete zudem immer auch Säkularisierung, lebte man doch in einer Gesellschaft, die ihren Atheismus ostentativ zur Schau stellte. Auch verschiedene Formen des jüdischen Widerstands kennzeichnen sowjetisch-jüdische Biographien. Nach den Revolutionen von 1917 und auch in den 1920er Jahren waren viele Juden nicht gewillt, die Traditionen aufzugeben. Dies äußerte sich etwa in der Ablehnung der propagierten proletarischen sowjetischjiddischen Kultur in der Phase der versuchten „Einwurzelung“ der Juden. Sie versuchten, so gut es ging, tradierte Lebensformen des Schtetls fortzuführen.51 Unter den Bedingungen extremer Repression und ideologischer Durchdringung während des Stalinismus wurde diese Art von Widerstand zunehmend schwieriger. Wer auf einem jüdischen Nonkonformismus beharrte, landete allzu oft in den Straflagern des GULag. Zumindest gegen außen mussten die Juden in dieser Phase den Schein der Konformität und Loyalität zum sowjetischen System erwecken. Doch ist anzunehmen, dass es auch in dieser Phase Formen jüdischen „Eigensinns“ und alltäglicher Resistenz gab, die allerdings noch nicht ausreichend erforscht worden sind. In der nachstalinistischen Zeit erlaubte die partielle Liberalisierung wieder vermehrt Äußerungen des Protests und des Widerstandes.52 Neben anderen oppositionellen Strömungen entstand Mitte der 1960er Jahre die erwähnte jüdisch-nationale Protestbewegung in der Sowjetunion. Die Dissidenten waren meist keine gläubigen und traditionsverwurzelten Juden. Sie wandten sich vom sowjetischen System ab, um sich einer nationalen Idee des Judentums zuzuwenden. Oft kamen sie freilich in der Emigration wieder mit jüdischen Traditionen und der Religion in Berührung. Die Mittelwege zwischen Assimilationsstreben und Widerstand bedeuteten eine weniger radikale Anpassungsstrategie als die Assimilation. Die Mehrheitskultur wurde dabei in unterschiedlichem Ausmaß übernommen, ohne dass die jüdische Identität verloren ging. Viele Merkmale der Assimilation – Migration in die Städte, Orientierung an der russischen Sprache, hoher Bildungsgrad – kennzeichneten auch die „Mittelwege“. Mischehen dürften dabei jedoch seltener gewesen sein und manchmal wurden jüdische religiöse Traditionen im privaten Rahmen fortgeführt. Seit der Entstalinisierung gab es auch einen 51 Vgl. Haumann, Geschichte der Ostjuden, 192. 52 Vgl. zu diesem Absatz Anmerkung 33.

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beschränkten institutionellen Rahmen für ein jüdisches Gemeindeleben. Schon seit den ersten Nachkriegsjahren existierten sogenannte registrierte jüdische Gemeinden, in denen die religiösen Feiertage und Riten begangen werden durften.53 Aus der US-amerikanischen Immigrationsforschung stammt der Begriff des „Marginal Man“, der geeignet ist, Aspekte der „Mittelwege“ zu beschreiben. Das von Robert E. Park und Everett V. Stonequist entwickelte Konzept bezeichnet einen Zustand des Grenzgängertums, eine Existenz an den Rändern zweier Kulturen, die in einem Konflikt oder einem Unterordnungsverhältnis zueinander stehen. Der „Marginal Man“ ist mit beiden Kulturen bis zu einem bestimmten Grad vertraut und dabei in keiner recht zuhause, also in gewissem Sinne doppelt fremd. Seine Marginalität resultiert aus einer unvollständigen Integration und zugleich einer unvollständige Entfremdung von beiden Welten, bedeutet also einen ergebnisoffenen und wandelbaren Zustand.54 Auch der Begriff der „Liminalität“, der ebenfalls zur Beschreibung von Integrationsproblematiken und Minderheitensituationen vorgeschlagen worden ist, lässt sich auf die „stille Mehrheit“ anwenden. Er bezeichnet einen dem Grenzgängertum des „Marginal Man“ verwandten „Schwellenzustand“, ein Verharren in einem Graubereich zwischen gesellschaftlicher Integration und Exklusion.55 Für eine weiterführende kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der sowjetischen Judenheit bieten diese Konzepte zahlreiche Anknüpfungspunkte.

53 Vgl. Frank Grüner, Glaube, 542–545; Katrin Boeckh: Jüdisches Leben in der Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg. Zur Verfolgung einer Religionsgemeinschaft im Spätstalinismus (1945–1953). In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 53, Heft 3, Juli 2005, 421–448, hier 428–429. 54 Vgl. zum Konzept des „Marginal Man“ Robert Ezra Park: Human Migration and the Marginal Man. In: The American Journal of Sociology, 33, 6, 1928, 881–893 und die Überblicksdarstellung bei Thomas H. Jenkins: The Marginal Man. Evolution of a Concept. In: Rutledge M. Dennis (Hg.), Marginality, Power, and Social Structure. Issues in Race, Class, and Gender Analysis. Amsterdam u. a. 2005, 49–67, hier 49–51. Zum Umgang mit dem Konzept in der jüdischen Geschichte vgl. Peter Haber, Zwischen jüdischer Tradition und Wissenschaft. Der ungarische Orientalist Ignác Goldziher (1850–1921). Köln u. a. 2006, 230–235. 55 Das Konzept der Liminalität geht zurück auf: Arnold van Gennep: Les rites de passage, Paris 1909; Vgl. auch Victor Turner: Variations on a Theme of Liminality. In: Sally F. Moore, Barbara G. Myerhoff (Hgg.): Secular Ritual. Assen u. a. 1977, 36–52; Julia Richers: Jüdisches Budapest. Kulturelle Topographien einer Stadtgemeinde im 19. Jahrhundert. Köln u.a. 2009, 344–348.

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Welche der genannten Strategien und Tendenzen in welchen Lebensabschnitten bestimmend wurden, hing von einer Vielzahl teils kontingenter Faktoren ab: Etwa von den politischen Überzeugungen des Einzelnen, seinen Hoffnungen und Chancen auf sozialen Aufstieg, seinen Erfahrungen mit Antisemitismus und den Prägungen durch das Umfeld in Arbeit, Familie und Freundeskreis. Assimilation, Widerstand und die Mittelwege stellten oft Reaktionen auf eine für sowjetisch-jüdische Biographien charakteristische Problematik dar: die Schwierigkeit, eine gelingende gesellschaftliche Integration und ein gelebtes Judentum, das die engen Grenzen der zugelassenen Äußerungen kultureller Vielfalt sprengte, zu vereinbaren. Ausdrucksformen jüdischer Identität – etwa das Praktizieren der jüdischen Religion, oder, im Sinne einer kulturellen Orientierung, das Lesen jüdischer Bücher, das Hören jüdischer Musik, das Sprechen des Jiddischen – konnten zu Diskriminierungen führen. Auch ein Engagement für den israelischen Staat oder der Kontakt zu Juden im Ausland gefährdeten die Integration. Andererseits bot auch die Bereitschaft zur Anpassung nicht immer Schutz vor antijüdischen Tendenzen in Gesellschaft und Politik. Die jüdische „Nationalität“ blieb bei Personen mit zwei jüdischen Eltern im Pass vermerkt. Wer diesen Eintrag hatte, galt offiziell als Jude.56 Die mit diesem administrativen Status verbundenen Benachteiligungen betrafen so oft auch diejenigen, die sich gerne vollständig assimiliert hätten. Während die Aktivisten des jüdischen Widerstandes zu Dissidenten wurden und die Sowjetunion verlassen oder politisch umgestalten wollten, blieben die Standpunkte und Haltungen der „stillen Mehrheit“ vielfältiger und ambivalenter, stärker den Strategien der Assimilation und den Mittelwegen verhaftet. Oftmals behielten sie trotz Diskriminierungserfahrungen ihre Loyalität zum sowjetischen System, das sie nicht grundsätzlich anzweifelten und dessen Dysfunktionionalitäten sie äußeren Umständen und dem Versagen Einzelner zuschrieben. Vielfach gelang ihnen eine weitgehende gesellschaftliche Integration: Sie waren beruflich erfolgreich und bekleideten auch teilweise wichtige politische Funktionen. Die antijüdischen Tendenzen der Obrigkeiten und vieler Mitmenschen ließen sich angesichts einer scheinbar gesicherten Stellung „überhören“, einzelne Diskriminierungserfahrungen „wegstecken“. Oft war ihre jüdische Herkunft für sie sekundär gegenüber einer Identität als Sowjet56 Vgl. Gitelman, Evolution, 5–6. Zur Entwicklung und den sozialen Ausschluss- und Kontrollmechanismen des sowjetischen Passsystems vgl. Nathalie Moine: Passeportisation, statistique des migrations et contrôle de l’identité sociale. In: Cahiers du monde russe. Russie, Empire Russe, Union soviétique, États indépendants. 1997, 38, 4, 587–599.

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bürger oder einer Verbundenheit mit der russischen Kultur. In zahlreichen Fällen erlebten sie ihr Judentum in erster Linie als ein Hindernis beim gesellschaftlichen Fortkommen. Dass sie im Kategoriensystem der sowjetischen Nationalitätenpolitik als Juden galten, bedeutete dann allenfalls eine „administrative“ Identität, eine gleichsam von außen aufgezwungene Eigensicht. Teils wollten sie ihr Judentum ablegen, teils glaubten sie an eine Vereinbarkeit von loyalem Sowjetbürgertum und jüdischem Herkunftsbewusstsein, zum Beispiel im Rahmen des sowjetisch-jiddischen Kulturlebens, wie es in den zwanziger Jahren geschaffen worden war und sich nach dem Tode Stalins wieder in gewissen Grenzen entfalten konnte. Ihr Verhältnis zu ihrer jüdischen Herkunft war insgesamt zugleich komplizierter und schwächer ausgeprägt als dasjenige der jüdischen Dissidenten.

3.  Lebensgeschichtliche Erzählungen als Quelle zur Erforschung autobiographischer Erinnerungsmuster Das Interesse an Erinnerungskulturen, also an den innerhalb von sozialen Gruppen vorherrschenden Deutungen und Darstellungsformen der eigenen Geschichte, gehört zu den Neuorientierungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften.57 Die Forschung reagierte dabei mithin auf gesellschaftliche Entwicklungen, waren doch in jüngerer Zeit in vielen europäischen Ländern öffentliche Auseinandersetzungen mit der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts – einem Zeitalter der Diktaturen und Weltkriege – zu verzeichnen.58 Viele soziale, ethnische und religiöse Kollektive befinden sich gegenwärtig auf der Suche nach einer sinn- und orientierungsstiftenden Deutung ihrer jüngeren Vergangenheit. Im Bereich der osteuropäischen Geschichte ist das Paradigma der Erinnerungskultur seit dem Zusammenbruch der UdSSR besonders relevant geworden, denn die vormals zum Sowjetimperium gehörenden Staaten haben ihre neuerlangte Unabhängigkeit auch durch eine erinnerungspolitische Umwertung ihrer Geschichte fundiert. Im östlichen Europa lässt sich die Herausbildung vielfältiger Geschichtsnarrative beobachten, in deren Zentrum oft die nationale Opfererfahrung unter totalitären und imperialistischen Großmächten steht.59 Bei der Generation der unmittelbar Betroffenen und ihren Angehörigen haben die Gewalterfahrungen des vergangenen Jahrhunderts ein Bedürfnis nach 57 Vgl. zum Begriff der Erinnerungskultur Christoph Conelissen: Was heißt „Erinnerungskultur“? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54, 2003, 548–563; Stefan Troebst: Jalta versus Stalingrad. Gulag versus Holocaust. Konfligierende Erinnerungskulturen im größeren Europa. In: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hgg.), „Transformationen“ der Erinnerungskulturen nach 1989, Essen 2006, 23–50, hier 26–28; Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. 58 Vgl. zur Übersicht die Sammelbände: Volkhart Knigge, Norbert Frei (Hgg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord. Bonn 2005; Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Berlin 2005. 59 Vgl. Bernd Faulenbach: Erinnerungskulturen in Mittel- und Osteuropa als wissenschaftliches und geschichtspolitisches Thema. In: Ders. u.a., „Transformationen“, 11–23; Mit biographischem Ansatz: Robin Humphrey, Robert Miller, Elena Zdravomyslova (Hgg.): Biographical Research in Eastern Europe. Altered Lives and Broken Biographies. Aldershot u.a. 2003.

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würdigender Kommemoration, nach Anerkennung von Opferstatus und Heldentum hinterlassen. Der innerhalb dieser Gruppe in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnende Boom der autobiographischen Memoirenliteratur kann als Indiz dafür gelten. Auch das jüdische Schicksal im 20. Jahrhundert wurde zu einem Stoff, der bis heute immer wieder neue Bearbeitungen erfährt. In großer Zahl entstanden Zeitzeugenberichte, Autobiographien und literarische Auseinandersetzungen mit den Traumata, die die Shoah, aber auch der Stalinismus verursacht haben. Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen hat Mitte der achtziger Jahre eine seither nicht mehr abgeklungene wissenschaftliche Diskussion über das Verhältnis von Identität, (Auto-)Biographie und Gedächtnis eingesetzt.60 Deutlich wurde in dieser Debatte, dass sich Identitäten auf dem Wege kollektiver und individueller Selbstbeschreibung herausbilden, wobei der Aneignung einer erlebten und imaginierten Vergangenheit große Bedeutung zukommt. Für die Erforschung dieser Zusammenhänge haben sich „Selbstzeugnisse“, also Dokumente, in denen sich die Eigensicht von Individuen niederschlägt, als wertvolle Quellen erwiesen. Dabei kann es sich beispielsweise um Memoiren und Autobiographien handeln. Auch die lebensgeschichtlichen Erzählungen in diesem Buch stellen „Selbstzeugnisse“ dar. Die Geschichtswissenschaft hat sich im Zuge der Kritik an einem einseitig strukturgeschichtlichen Zugriff auf die Vergangenheit vermehrt dieser Quellengattung zugewendet, um Aufschluss über subjektive Dimensionen ihres Gegenstandsbereichs zu gewinnen.61 Eine Sensibilisie60 Dazu grundlegend: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2007, v.a. 130–161. Vgl. auch Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft, 29, 2003, 441–476, hier 466–468. Ders.: Historische Zäsuren und biographische Krisen im 20. Jahrhundert. Geschichtserfahrung im Medium autobiographischer Selbstauslegung. In: Newsletter des Arbeitskreises für Militärgeschichte, 10, Oktober 1999, 44–45; Odo Marquard: Identität – Autobiographie – Verantwortung. Ein Annäherungsversuch. In: Ders., Karlheinz Stierle (Hgg.): Identität. München 1979, 685–717. 61 Vgl. dazu Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? In: Bea Lundt, Helma Reimöller (Hgg.), Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Köln u.a. 1992, 417– 450, hier 428; Benigna von Krusenstjern: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Richard van Dülmen, Egon Flaig, Utz Jeggle: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag. Band 2, 1994, 462–471; Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden

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rung für die Tatsache, dass bestimmte Zeiten und Gesellschaften besondere Selbstbilder und Formen der Aneignung von „Wirklichkeit“ hervorbringen, hat seither die Forschung bereichert. Die Oral History ist hier also nur eine Teilbewegung innerhalb einer Neuorientierung in der Geschichtswissenschaft, die sich zunehmend für den einzelnen Menschen und seine Sichtweisen interessiert. In diesen Zusammenhang gehört auch die Entdeckung der „kleinen Leute“ und des „Alltags“ in der Geschichtswissenschaft.62 Gerade die Hinwendung zu Selbstzeugnissen von scheinbar „unbedeutenden“ Menschen, die bisher nicht in die Geschichtsbücher eingegangen sind, kann hier neue Perspektiven auf die Vergangenheit und ihre Deutung in der Gegenwart eröffnen. Und es sind insbesondere mündliche Befragungen, die auch Menschen zu Wort kommen lassen, die vergleichsweise selten schriftliche Quellen hinterlassen, weil sie aus einem eher schriftfernen, zum Beispiel handwerklichen oder bäuerlichen, Umfeld stammen. Was macht nun die Spezifik von lebensgeschichtlichen Erzählungen aus? Sie sind kulturell geprägte Narrative, in denen sich gelebte Erfahrung mit kollektiven und individuellen Erinnerungs- und Sinnstiftungsmustern zu einem vielschichtigen Ganzen verbinden.63 Wenn ein Mensch seine Geschichte erzählt, bedeutet dies zunächst eine Erinnerungsleistung. Dabei gibt keine Erinnerung die Vergangenheit in ihrer „tatsächlichen“ Gestalt wieder. Die psychologische und neurobiologische Erinnerungsforschung geht davon aus, dass das Gedächtnis eine eigene Dynamik der „Umschichtung“ besitzt und zudem sensibel auf psychische, physiologische und gesellschaftliche Einflüsse reagiert.64 Geschehenes wird deshalb zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich erinnert: der Konzentrations- und Vernichtungslager. Hamburg 1999, 19–27. Zur Unterscheidung von struktur- und subjektorientierten Ansätzen in den Sozialwissenschaften vgl. Gabriele Rosenthal: Die erzählte Lebensgeschichte: Eine zuverlässige historische Quelle? In: Wolfgang Weber (Hg.), Spurensuche. Dokumentation zur Internationalen Tagung über die Rolle der „Neuen“ Historischen Methoden in der Regionalgeschichte (Dornbirn 1991). Regensburg 1992, 8–17, hier 8–11. 62 Vgl. Lüdtke, Alltagsgeschichte. 63 Vgl. Heiko Haumann: Geschichte, Lebenswelt, Sinn. Über die Interpretation von Selbstzeugnissen. In: Brigitte Hilmer, Georg Lohmann, Tilo Wesche (Hgg.), Anfang und Grenzen des Sinns. Für Emil Angehrn. Göttingen 2006, 42–54, hier 42–47. 64 Vgl. ebenda, 46–47. Ein anregendes Beispiel zu diesem Thema gibt auch die Diskussion der Erinnerungen des KZ-Überlebenden Hans Wassermann in Ulrike Jureit: Authentische und konstruierte Erinnerung. Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen. In: Werkstatt Geschichte, 18, 1997, 91–101.

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Bestimmte Aspekte der Vergangenheit werden verdrängt, andere rücken in den Vordergrund. Manche Erinnerungen kehren erst im Alter oder in besonderen Lebenslagen zurück. Aus sozial- und geisteswissenschaftlicher Perspektive besonders relevant sind Untersuchungen, die zeigen konnten, wie kollektive Sichtweisen und gesellschaftliche Diskurse individuelle Erinnerungen formen. Diese Arbeiten wiesen darauf hin, dass das Gedächtnis mithin als ein soziales und kulturelles Phänomen zu denken ist.65 Individuelles und kollektives Gedächtnis stehen dabei in einem besonderen Spannungsverhältnis zueinander und bilden sich zugleich in gegenseitiger Durchdringung heraus. Individuen können sich mit ihren Autobiographien und lebensgeschichtlichen Erzählungen in bestimmte kollektive Geschichtsdiskurse „einschreiben“, um auf diese Weise ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu signalisieren. Zugleich bergen Diskrepanzen zwischen persönlicher und kollektiver „Wahrheit“ Konfliktpotentiale und psychische Herausforderungen für den Einzelnen. Jede lebensgeschichtliche Erzählung bewegt sich in diesem Spannungsfeld zwischen kollektiver und individueller Erinnerung.66 Erinnerungen werden auch durch Prozesse der autobiographischen Sinnstiftung überformt. Autobiographisches Erzählen bedeutet immer auch den Versuch, das eigene Leben zu verstehen und für andere verständlich zu machen. Als sinnstiftende Handlung ist autobiographisches Erzählen geleitet von der Suche nach Motiven und Topoi, nach Sinn-Bildern also, mit deren Hilfe die Vergangenheit deutend verstanden werden kann. Die erlebte Wirklichkeit erhält so ein erzählerisches Gewand und wird als Geschichte nachvollziehbar und mitteilbar. Dieser Prozess der Sinnstiftung hat einen prägenden Einfluss auf die Gestalt von lebensgeschichtlichen Erzählungen. Er führt zu bestimmten, durch die Erzählenden meist unbewusst vorgenommenen, Gewichtungen, Hervorhebungen und Auslassungen. Erzählerische Sinnstiftung erfüllt auch die Funktion der Kontingenzbewältigung, denn sie verknüpft eine Fülle von Erfahrungen und Ereignissen – die demjenigen, der sie erlebt hat, zuweilen zufällig und unzusammenhängend erscheinen können – zu einem kohärenten Erzählstrang. Auf diese Weise lassen sich Brüche in der Biographie überbrücken, so dass das eigene Leben als eine Einheit verstanden werden kann. 65 Dazu grundlegend: Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin u.a. 1966; Ders.: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967. 66 Vgl. Christof Dejung: Oral History und kollektives Gedächtnis. Für eine sozialhistorische Erweiterung der Erinnerungsgeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft, 34, 2008, 96–115.

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Lebensgeschichtliche Erzählungen erweisen ihren narrativen Charakter des Weiteren dadurch, dass in ihnen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem Ganzen verknüpft werden. Die Lebensgeschichte führt durch verschiedene Zeitschichten hindurch, die im Erzählzusammenhang eine bestimmte Funktion einnehmen können, indem beispielsweise die „gute, alte Zeit“ dem gegenwärtigen oder noch zu erwartenden Verfall gegenübergestellt wird. Solche Zeitschichten sind oft räumlich kodiert. In den Lebensgeschichten sowjetischer Juden wird die „gute, alte Zeit“ beispielsweise oft im Schtetl verortet, das als ein Hort der Tradition beschrieben wird. Die Befragten, die die in der Frühphase der Sowjetzeit gewaltsam transformierte Welt des Schtetls meist nicht mehr aus eigener Anschauung kennen, beschreiben sie durchgängig als „arm“, „eng“ und „fromm“.67 Im Rahmen dieses festgefügten Motives kommt Wandel kaum in den Blick, vielmehr erscheint das Schtetl als eine stabile, in sich ruhende Welt, die eine Aura der Unverfügbarkeit umgibt. Sie wird in den Lebensgeschichten als ein gleichsam verlorenes, untergegangenes Universum dargestellt. In dieses Motiv fließen Erzählungen der älteren Generationen ebenso ein, wie das angelesene oder aus anderen Medien, zum Beispiel Film und Theater, gewonnene Wissen über das Schtetl. Es ließe sich von einer „erlesenen“ Herkunft sprechen: Einer besonderen, mit Stolz und Liebe gedachten, aus eigener Erfahrung freilich nie gekannten, nur über sekundäre Quellen und die Phantasie zugänglichen Heimat.68 Die erlebte Vergangenheit wird demgegenüber im Gespräch weniger stereotyp beschrieben. Dies zeigt sich daran, dass hier die Raum- und Zeitbilder stärker individuell gefärbt sind. Doch gibt es auch für diese Zeitschicht charakteristische, in unterschiedlichen Lebensgeschichten ähnlich gestaltete „Orte“ der Biographie, etwa den Arbeitsplatz als Ort der Bewährung in der sowjetischen Ordnung, den durch Exklusionserfahrungen charakterisierten behördlichen Raum, aber auch den Friedhof, der das Band zu den Ahnen und der jüdischen Vergangenheit repräsentiert. Insgesamt wird aus dem Gesagten der Konstruktionscharakter von lebensgeschichtlichen Erzählungen ersichtlich. Kritiker der Oral History haben aus diesem Grund den Quellenwert von Zeitzeugengesprächen skeptisch beurteilt. Die mitunter beträchtliche zeitliche Distanz, die zwischen den berichteten Ereignissen und dem Interview liegt, mache sie als Methode zur Rekonstruktion histo67 Vgl. für ein Beispiel S. 131. 68 Das Schtetl als literarischen Erinnerungsort untersucht Olaf Terpitz: Die Rückkehr des Štetl. Russisch-jüdische Literatur der späten Sowjetzeit (=Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 9). Göttingen 2008.

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rischer Sachverhalte unzuverlässig. Die subjektive Sichtweise des Zeitzeugen und die Selektivität seines Gedächtnisses wirkten sich verfälschend aus. Dieser Kritik ist beispielsweise entgegengehalten worden, dass der Rückgriff auf das Wissen der Zeitzeugen in vielen Fällen aufgrund des Fehlens zeitgenössischer Quellen unverzichtbar ist. Auch lässt sich argumentieren, dass jede historische Quelle – und nicht nur die Interviews der Oral History – in einem bestimmten Kontext entsteht und dass diese Standortgebundenheit im Rahmen einer Quellenkritik reflektiert werden muss. Doch dies ist nicht der Ort, diese Fragen weiter zu erörtern, denn sie betreffen die Substanz dieser Arbeit nicht.69 Das Erkenntnisinteresse dieses Buches stellt nämlich nicht die „historische Wirklichkeit“ dar, sondern Erinnerungs- und Deutungsmuster der Vergangenheit. Es geht um eine subjektiv gebrochene, aber auch kollektiv geprägte „Erinnerungswirklichkeit“.

69 Eine Übersicht über die Debatte gibt Gabriele Rosenthal, Erzählte Lebensgeschichte. Vgl. auch Dies.: Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität. Methodologische Implikationen für die Analyse biographischer Texte. In: Diekwisch, Alltagskultur, 125–138.

4.  Strategien autobiographischer Sinnstiftung im Kontext neu gestärkter jüdischer Identität Ende der achtziger Jahre setzte unter den Juden der Sowjetunion ein Prozess der Stärkung jüdischer Identität ein, wie es ihn bislang in dieser Intensität und Breitenwirkung nicht gegeben hatte. Erstmals erfasste er auch weite Teile der „stillen Mehrheit“. Diese Neuorientierung wurde durch die Liberalisierung des kulturellen und religiösen Lebens in der UdSSR unter Gorbačëv unterstützt. Nach der Wende von 1991 verstärkte sich dieses Aufleben jüdischer Selbstgewissheit noch. Vielfach war es die Ausreise – meist nach Israel, Deutschland oder in die USA –, die ein neues jüdisches Herkunftsbewusstsein mit sich brachte, wurde doch angesichts der biographischen Zäsur der Emigration die Frage nach der eigenen Identität neu gestellt. Die rechtliche Möglichkeit einer Ausreise war oftmals an den Nachweis einer jüdischen Abstammung gebunden und die Ausreisewilligen bekamen nicht selten organisatorische und finanzielle Unterstützung durch jüdische Organisationen. Das Erstarken der jüdischen Emigrationsbestrebungen nach Deutschland, Israel, den USA und anderen Ländern beschleunigte die jüdische Identitätsbildung bei den sowjetischen Juden und wurde umgekehrt durch sie beschleunigt. Sie sind als Juden emigriert und wurden als Juden in den Aufnahmeländern aufgenommen. Administrative Zuschreibungen und Außenwahrnehmungen in den Gesellschaften der Aufnahmeländer waren dabei eng mit der Herausbildung einer neuen jüdischen Eigensicht verknüpft.70 Dieser Prozess prägte auch den Blick auf die eigene Vergangenheit. Es hat innerhalb der Gruppe der postsozialistischen Juden eine gemeinsame Verständigung über die geteilten Erfahrungen eingesetzt, wobei sich kollektive Erinne-

70 Zum Zusammenhang von Einwanderungspolitik und Identitätsbildugsprozessen vgl. Franziska Becker: Ankommen in Deutschland. Einwanderungpolitik als biografische Erfahrung im Migrationsprozess russischer Juden. Berlin 2001. Zu Immigration und Integration von Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland vgl. Robin Ostow: From objects of administration to agents of change: Fourteen years of post-Soviet Jewish immigration to Germany. In: East European Jewish Affairs, 33, 2, 2003, 1–6; Barbara Dietz: Jewish Immigrants from the Former Soviet Union in Germany: History, Politics and Social Integration. In: East European Jewish Affairs, 33, 2, 2003, 7–19.

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rungsmuster herausbilden.71 Die Emigranten fanden sich in den Aufnahmeländern oftmals in jüdischen Gemeinden zusammen, die auch zu Zentren einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte wurden. Zudem wird seit dem Erstarken einer jüdischen Orientierung unter den postsowjetischen Juden zunehmend auch westliche und israelische jüdische Geschichtsliteratur rezipiert, die ebenfalls ihre Deutungsmuster der Vergangenheit beeinflusst. Insgesamt führten diese Rezeptions- und Kommunikationsprozesse bei einem großen Teil der postsowjetischen Juden zu einer Neubewertung der Vergangenheit aus einer dezidiert jüdischen Perspektive, die auch in den hier untersuchten Lebensgeschichten greifbar wird.72 Im Interview blickten die Befragten meist vom Standpunkt einer neu erstarkten jüdischen Orientierung auf ihr Leben zurück, was beim Erzählen bewusst oder unbewusst ihre Prioritäten, Auslassungen und Gewichtungen beeinflusste. Obwohl das eigene Judentum über große Lebensabschnitte hinweg eine untergeordnete Rolle in ihrem Selbstbild gespielt hat, werden die Lebensgeschichten deshalb aus einem jüdischen Blickwinkel erzählt und jüdische Aspekte der Biographie besonders betont. Mögen sich die Erzählenden auch im Verlaufe ihres Lebens nicht immer primär als Juden verstanden haben, so erzählen sie dennoch heute jüdische Lebensgeschichten. Dieser Fokus auf das Judentum schenkt den Erzählungen oft eine generationenübergreifende Kontinuität, die angesichts historischer und biographischer Umbrüche sinnstiftend wirkt. Die Erzählenden beginnen bei ihren Vorfahren, die traditionell im osteuropäischen Schtetl lebten, und sie enden vielfach mit der Rückbesinnung auf ihre eigenen jüdischen Wurzeln. Dazwischen liegt die sowjetische Periode, in der sich viele vom Judentum entfremdeten und oft wenig Inhalt mit ihrer im Pass vermerkten „Nationalität“ verbanden. So funktioniert das Motiv des Judentums in den Erzählungen mithin als Zeitbrücke, die die untergegangene Welt des Schtetls mit der Gegenwart in der Emigration verbindet. Damit schließt sich in den Lebensgeschichten ein Kreis, der ein bewegtes Jahrhundert jüdischer Geschichte zwischen Ost und West umfasst. Auf diese Weise mündet die Erzählung oft in ein „Happy End“: Die Rückkehr zu den Wurzeln nach einem Jahrhundert der Widrigkeiten wird als ein Triumph jüdischer Selbstbehauptung dargestellt. 71 Aspekte postsowjetisch-jüdischer Erinnerungskultur untersucht: Jeff Mankoff: Babi Yar and the Struggle for Memory, 1944–2004. In: Ab Imperio, 2004, 2, 393–415, hier 410–413. 72 Auf die transnationale Verdichtung von Kommunikationsprozessen unter postsowjetischen Juden geht ein: Larissa Remennick: Russian Jews on Three Continents. Identity, Integration, and Conflict. New Jersey 2007, z.B. 9.

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In den Lebensgeschichten sowjetischer Juden gibt es nun zahlreiche Motive und Deutungsmuster, die diese neue Sicht auf die eigene Vergangenheit zum Ausdruck bringen. Dass sie in zahlreichen Lebensgeschichten in ähnlicher Form auftauchen, weist auf ihre kollektive Bedeutung hin. Sie werden zwar in einzelnen Erzählungen individuell ausgestaltet, dennoch bleiben sie als wiederkehrende Elemente von Erinnerungsdiskursen, an der die postsowjetischen Juden als Gruppe teilhaben, erkennbar.

4.1.  Antisemitismus als Deutungsmuster von Erfahrung Eine prominente Stellung in den Lebensgeschichten nimmt die Reflexion über das Phänomen des Antisemitismus ein. In den Erzählungen entsteht mithin das Bild einer nichtjüdischen Umwelt, die einer jüdischen Minderheit feindselig gegenüberstand. In manchen Fällen scheint der Antisemitismus zu einer festen Größe im Denken der Befragten geworden zu sein: Sie sprechen von dem Antisemitismus, der in ihren Erinnerungen oft nicht weiter eingeführt oder begründet zu werden braucht. Dabei wird die Judenfeindschaft der Umwelt als historische Konstante gedeutet: Historisch betrachtet war alles sehr negativ, leider. Und das Negative wird nie aufhören. Das ist meine Meinung. Denn der Antisemitismus war das ganze Leben über da, und er wird in Zukunft da sein. Immer waren die Juden der Sündenbock, wenn irgendwo etwas schlecht war.73

Diese Deutung lebensgeschichtlicher Erfahrung im Lichte eines historischen Antisemitismus ist das Produkt eines dezidiert jüdischen Blicks auf die eigene Vergangenheit, der auch im Kontext der Neuintegration nach der Emigration zu verstehen ist. Es bildet sich nämlich auf diese Weise ein jüdischer Opferdiskurs, der an erinnerungskulturelle Narrative der jüdischen Gemeinschaften in den Aufnahmeländern anschließbar ist. Der Topos der immerwährenden Verfolgung und Judenfeindschaft ist fest in einem verbreiteten jüdischen Geschichtsbild verankert, das in der Forschung als „tränenreiche Perspektive“ auf die jüdische Vergangenheit beschrieben wird und die Historiographie und

73 Zitat aus Interview 8. Die Übersetzungen der hier und im Folgenden angeführten Zitate aus den in russischer Sprache geführten Interviews stammen von Mitarbeitern des Projektteams und vom Verfasser.

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Geschichtsauffassung in Europa, Israel und Nordamerika teilweise bis heute prägt.74 In einer anderen Lebensgeschichte wurde der Antisemitismus mit einer erblich angelegten Krankheit verglichen. Der Befragte wählte damit ein Bild, das die Judenfeindschaft ebenfalls als unveränderliche Gegebenheit fasst: Während des [Zweiten Welt-]Krieges ist in der Sowjetunion der Antisemitismus aufgeblüht. Als habe er sich zuvor in den Tiefen der menschlichen Seele verborgen. […] Die Ärzte sagen, dass in jedem Menschen die Tuberkuloseerkrankung angelegt ist. Bei weitem nicht alle erkranken aber tatsächlich. Solange der Mensch normal leben kann, sich normal ernähren kann und etwas anzuziehen hat, wird er nicht an der Tuberkulose erkranken. Er wird sein ganzes Leben verleben, ohne zu wissen, was das ist, die Tuberkulose. Doch es genügt, dass sich die Umstände verschlechtern, dass es zu Stress kommt, zu Unterernährung, Schlafmangel oder Kälte – dann lässt die Tuberkulose von sich hören. So war es auch mit dem Antisemitismus. Solange es keinen Krieg gab, solange alles  friedlich war, habe ich den Antisemitismus nicht gespürt. […] Doch dann kommt der Krieg, kommen Verluste, kommen die Kälte, der Hunger und die Unzufriedenheit… Und wer ist schuld? Na klar doch: Die Juden! Und schon hat man jemanden, dem man, wie man so sagt, „die Schuld in die Schuhe schieben“ kann.75

Das antisemitische Sündenbockdenken, das in den Juden die Schuldigen an jedweder Misere erblickt, wird hier mit einer „in jedem Menschen angelegten“ Erkrankung verglichen, die durch physiologische Reize wie „Kälte“ und „Hunger“ ausgelöst wird.76 Dadurch entsteht die Vorstellung eines im Menschen natürlicherweise angelegten Antisemitismus, der als mögliches Verhaltensmuster immer schon gegeben ist. Die Judenfeindschaft erhält auf diese Weise den Status eines physiologischen Reflexes, vielleicht auch eines Instinktes. Es vermischen sich in dieser bemerkenswerten Passage biologische und tiefenpsychologische Bildsprachen. Der Antisemitismus ist „tief in der menschlichen Seele ver74 Vgl. zur „tränenreichen Perspektive“ auf die jüdische Geschichte Salo W. Baron: Emphases in Jewish History. In: Jewish Social Studies, 1, 1, 1939, 15–38, hier 37. 75 Zitat aus Interview 12. 76 Mit dem Bild vom Antisemitismus als Krankheit wird hier ein etablierter Topos der Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte aufgegriffen. So hat etwa Leo Pinsker (1821–1891) die „Judophobie“ als eine Psychose beschrieben, die „als eine seit zweitausend Jahren vererbte Krankheit […] unheilbar“ sei. Leo Pinsker: „Autoemanzipation!“ Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden. Berlin 1934 (erste Auflage 1882), 8.

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borgen“, kann aber zuweilen plötzlich „aufblühen“ und das Verhalten der Menschen bestimmen. Die Judenfeindschaft wird so als ein Wesensmerkmal des nichtjüdischen „Anderen“ gedeutet, denn sie ist in seiner „Natur“ und „Seele“ verwurzelt. Ein verwandtes Motiv spielt mit der Metapher vom Schlaf- und Wachzustand. Zuweilen „schlummert“ der Judenhass in den Menschen, doch kann er „erwachen“ und die Grausamkeit eines unsanft Geweckten an den Tag legen. In diesem Motiv klingen wohl auch die Erfahrungen mit der launenhaften Politik des sowjetischen Regimes gegenüber der jüdischen Minderheit an. Auch die „jüdische Frage“ schlummerte ja zuweilen im politischen Unbewussten des öffentlichen Diskurses, um dann umso plötzlicher auf der politischen Tagesordnung aufzutauchen. Insgesamt begegnet man diesen Topoi in den Erzählungen oft dort, wo über das Scheitern von Integrationsbemühungen reflektiert wird. Die jüdische Marginalität in der sowjetischen Gesellschaft wird so mit dem konstanten, mithin „ewigen“ Antisemitismus der „Anderen“ in Verbindung gebracht. Doch auch diejenigen Zeitzeugen, die sich nach eigener Aussage über weite Strecken ihrer sowjetischen Biographie durchaus sozial integriert fühlten, äußern aus heutiger Perspektive durch den Verweis auf einen immer latent vorhandenen Antisemitismus Zweifel, ob es sich um eine „echte“ Integration gehandelt habe.

4.2.  „Anhaftendes Judentum“ Ein weiteres wiederkehrendes Muster stellen Reflexionen über das Verhältnis von Selbstbild und Fremdzuschreibung dar. Oft beschreiben die Zeitzeugen Eigen- und Fremdsicht als inkongruent: Unabhängig davon, ob sie sich selber als Juden sahen, hätten sie in den Augen der Umwelt und Obrigkeit als solche gegolten. Ihr Judentum habe ihnen angehaftet, ob sie dies wünschten oder nicht: Ich hätte mich gar nicht als Jude gefühlt, wenn es nicht antisemitische Stimmungen und antisemitische Propaganda gegeben hätte. Vielleicht hätte ich dann mein Judentum gar nicht gespürt. Damals gab es ja den Internationalismus. Offiziell wurde die Doktrin des Internationalismus propagiert. Alle Nationen seien gleichwertig und so weiter. Das war aber in der Sowjetunion nicht wirklich der Fall.77 77 Zitat aus Interview 2. Es wurde im Gespräch nicht deutlich, ob sich diese Aussage auf eine bestimmte Phase der Lebensgeschichte oder generell auf die jüdische Geschichte in der Sowjetunion bezog.

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Das Bewusstsein vom eigenen Judentum wird hier auf die Erfahrung gesellschaftlicher und politischer Judenfeindschaft zurückgeführt. Es wird als durch die Umwelt bestimmt und nicht als innere Disposition beschrieben. Der Gegensatz zwischen selbstbestimmt-innerlichem und fremdbestimmt-äußerlichem Judentum bildet eine zentrale Sinnstruktur der Erzählungen. Die eigene Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln seit der Perestrojka wird deshalb oft als Entwicklung von einer fremdbestimmt-negativen zu einer selbstbestimmt-positiven jüdischen Identität erzählt. Als Symbol für die Festschreibung des Judentums von außen fungiert in einer anderen Lebensgeschichte der Eintrag im sowjetischen Pass, der die jüdische Herkunft bezeugte. Man sei als Jude „lebenslang abgestempelt“ gewesen.78 Eine weitere Zeitzeugin betonte ebenfalls die Bedeutung der „fünften Spalte“ im sowjetischen Pass, in der die „nationale“ Herkunft der Sowjetbürger vermerkt war: „Jeder kannte damals die fünfte Spalte von jedem. Leider. […] Ja, das war immer spürbar. Wir wussten immer, dass wir Juden sind.“79 Das „anhaftende Judentum“ wird in den Erzählungen oft mit dem schon beschriebenen Topos vom wesenhaften Antisemitismus des „Anderen“ begründet: Angesichts einer naturgegebenen Judenfeindschaft war das eigene Judentum nicht „abzustreifen“, denn der eingefleischte Antisemit erblickte auch in den Assimiliertesten noch einen jüdischen Kern. Der „ewige Antisemitismus“ erklärt so ein „ewiges Judentum“. Der Judenhasser und der auf sein Judentum zurückgeworfene Jude werden in den Erzählungen auf diese Weise als Parallelfiguren konstruiert. Dabei geht es auch um das Motiv der Fremdheit und Marginalität des Juden in der sowjetischen Ordnung: Als ein Jude ist er ein Fremder und da sein Judentum unüberwindbar ist, ist seine Fremdheit ein bleibender Zustand. Dabei wird auch der sowjetische Diskurs über die jüdische „Heimatlosigkeit“ reflektiert. Der Begriff des „heimatlosen Kosmopoliten“ war in der Rhetorik des späten Stalinismus zu einer Chiffre für die jüdische Fremdheit in der Sowjetunion geworden. Unter Brežnev wurde im Rahmen der „Zionologie“ wieder an dieses Motiv angeknüpft, denn auch der „zionistische Jude“ wurde als ein Fremder imaginiert, dessen Loyalität mit Israel nicht mit dem gebotenen sowjetischen Patriotismus vereinbar war.80 Es sind also nicht nur rezentere jüdische Ge-

78 Zitat aus Interview 1. 79 Zitat aus Interview 8. 80 Vgl. Umland, Antisemitism sowie S. 11 und 13.

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schichtsdiskurse, die die Deutungsmuster sowjetisch-jüdischer Lebensgeschichten überformen. Auch Rhetoriken aus der Sowjetzeit werden übernommen.

4.3.  Das Motiv von Entfremdung und Rückbesinnung Dem Bild von der erzwungenen jüdischen Heimatlosigkeit in der sowjetischen Welt steht in den Lebensgeschichten oft der Topos einer neu- oder wiederentdeckten Heimat im Judentum gegenüber, der etwa durch ein ausdrückliches Bekenntnis zum israelischen Staat, zur jüdischen Religion oder zum jüdischen Volk und seinem historischen Schicksal signalisiert wird. Die Erzählungen enden häufig mit der Schilderung dieser neuen Beheimatung im Judentum und erhalten dadurch eine teleologische Struktur. Sie führen von der aufgezwungenen Entfremdung zur Rückkehr zu den jüdischen Wurzeln. Die „Wurzeln“ (korni) sind denn auch ein Schlüsselwort in den Lebensgeschichten, wobei hier vielleicht neben Diskursen über die jüdische Identität auch sowjetische Rhetoriken über „Einwurzelung“ und „wurzellose Kosmopoliten“ widerhallen. Die Autobiographien lesen sich stellenweise als Protokoll einer (Wieder-)Aneignung jüdischer Kultur. Am Anfang stehen Schilderungen einer Entfremdung von den Ursprüngen. Die Welt der Ahnen aus dem Schtetl scheint entrückt und ihr Wissen um die Traditionen nicht mehr verfügbar. Die religiöse Lebensweise wurde in den Interviews oft nur noch mit der Zeit der Groß- und Urgroßeltern in Verbindung gebracht: Es gibt Gebote, die man befolgen soll, viele Regeln. Nur die wirklich religiösen Menschen, die wissen natürlich, wie es läuft. Mein Großvater wusste es vielleicht, mein Urgroßvater schon eher. […] Man muss damit aufwachsen.81

In den politischen Umbruchsjahren seit 1985 konnten vermehrt religiöse Juden aus dem Westen und aus Israel in die Sowjetunion einreisen. Sie bemühten sich um eine Neubelebung des religiösen Gemeindelebens.82 Die Begegnung mit diesen traditionsorientierten Juden aus dem Ausland wird als ein Moment beschrieben, in dem den Erzählenden die Entfremdung vom jüdischen Erbe bewusst wurde: Damals habe ich die orthodoxen Juden gesehen und ich musste über sie staunen. Mir schienen sie irgendwie wie Menschen, die direkt aus dem Mittelalter kamen. Mit 81 Zitat aus Interview 1. 82 Vgl. die Seiten 29–31.

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diesen Hüten und wie sie beteten. Für mich war das Ganze irgendwie merkwürdig. Wir waren erwachsen und hatten so etwas noch nie gesehen und wussten nicht, was das überhaupt bedeutet, zu beten, sich zu verbeugen.83

Anschließend beschrieb diese Frau die Begegnung mit den orthodoxen Juden als ein Erlebnis gegenseitiger Fremdheit, die sie mit einem Identitätsverlust der sowjetischen Juden erklärte. Ihr damaliges Judentum sei für sie von Sinn und Inhalt entleert gewesen. Sie beschreibt es als eine administrative Zuschreibung von Seiten der Obrigkeit, als bloßes „Passjudentum“ gewissermaßen: Im Pass stand es geschrieben: „Jüdin“. Wenn man mir sagte, dass ich eine Jüdin bin, was bedeutete das? Die Eltern gaben mir keine Erklärungen. Sie hatten auch selber keine [jüdische] Erziehung und Bildung mehr genossen. Über die jüdische Geschichte hatten sie ohnehin nichts erfahren. […] Und so fielen nie irgendwelche Worte über die jüdische Geschichte. […] Es gab keine Literatur darüber, nichts. Umso mehr galt das für die Literatur über die jüdische Religion. Ich wusste überhaupt nichts darüber. Ich wusste, dass in meinem Pass steht, dass ich eine Jüdin bin. Aber was das ist und was es bedeutet, das war für mich natürlich wie ein Buch mit sieben Siegeln (lacht). Ein Geheimnis.84

An einer anderen Stelle sprach diese Frau von den assimilierten sowjetischen Juden als „Menschen ohne Vergangenheit“, die „wie Gespenster“ lebten und „gar niemand“ waren.85 Diese Bilder passen besonders gut zu Stonequists und Parks Konzept des „Marginal Man“, der hier gleichsam zum Protagonisten der autobiographischen Erzählung wird: Es geht um Menschen, die sich von der einen, jüdischen Welt entfremdet hatten und denen doch auch keine vollständige Integration in die andere, sowjetische Welt gelingen konnte. Ihr Status ist unsicher und ambivalent. Auf diese Weise werden in den Erzählungen die Begriffe des „Eigenen“ und „Fremden“ problematisch, denn das vermeintlich Eigene scheint fremd und die Welt der „Anderen“ zuweilen vertraut. Die Sowjetunion wird manchmal als „Fremde“ und „Exil“ beschrieben, manchmal aber auch als ein Zuhause, als eine Welt mit gewissen Makeln, die dennoch Heimatgefühle wecken kann. Passagen mit positiven Bewertungen sowjetischer Verhältnisse schildern oft ein einfaches und dennoch befriedigendes Alltagsleben. Vielfach wird diese Zufriedenheit mit den sowjetischen Menschen zugeschriebenen Eigenschaften be83 Zitat aus Interview 1. 84 Zitat aus Interview 1. 85 Zitat aus Interview 1.

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gründet, etwa mit Genügsamkeit und Gemeinschaftlichkeit. Diese positive Sichtweise auf die bescheidenen sowjetischen Lebensverhältnisse mag durch Erfahrungen im Postsozialismus mitgeprägt worden sein. Denn mit der „bescheidenen Zufriedenheit“ vor 1991 kontrastieren in den Erzählungen die Schilderungen des postsozialistischen „Raubtierkapitalismus“ und einer konsumzentrierten Mentalität in Deutschland. Die Bewertung der sowjetischen Erfahrung bleibt so an vielen Stellen ambivalent. Die Deutung des eigenen Lebens als jüdische Biographie lässt sie zwar ihre Diskriminierungserfahrungen und die antijüdischen Tendenzen in der sowjetischen Gesellschaft in den Vordergrund rücken, bedeutet jedoch nicht notwendigerweise eine pauschale Verdammung der sowjetischen Verhältnisse. Auf die Beschreibung der eigenen Traditionsferne in der Sowjetzeit folgen Schilderungen der Neu- und Wiederaneignung jüdischen kulturellen Wissens. Mit der Entdeckung dieses Erbes reift auch ein neuer Herkunftsstolz: Da ich fast blind bin, hilft mir der Chesed86 mit Hörbüchern. Sie haben da eine wunderbare Bibliothek mit Hörbüchern. Ich hörte mich durch die ganze Geschichte des jüdischen Volkes. Ich erfuhr, woher die Juden kommen und was das ist, ein Jude. Ich erfuhr, was für Menschen das sind, die Juden, und verstand, dass wir stolz sein müssen auf unser Volk.87

Das Aufleben einer solchen positiven jüdischen Identität und die Emigration werden oft zusammengedacht. Das Motiv des „befreienden Exodus“ wird dann zugleich als eine Rückkehr zu den Ursprüngen beschrieben und markiert die Überwindung von Marginalität und Außenseitertum. Eine der Befragten ließ ihre Lebensgeschichte mit einem Satz über ihre gegenwärtige Situation in Deutschland enden. Im Erzählzusammenhang nahmen sich diese letzten Worte bezeichnenderweise wie ein (jüdisches) Happy End aus: „Ich lebe ein interessantes und erfülltes Leben und man kann sagen: ein jüdisches Leben.“88

86 Der Chesed ist eine international tätige jüdische Wohltätigkeitsorganisation, die in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion auch jüdische Bildungsarbeit betreibt. 87 Zitat aus Interview 10. 88 Zitat aus Interview 6.

5.  Vom „Marginal Man“ zum „Jüdischen Leben“ In den hier vorgestellten Lebensgeschichten werden in vielfältiger Weise die Prägungen der jüdisch-sowjetischen Bevölkerungsgruppe verhandelt, so dass man sie als Erzählungen über ihr Minderheitendasein verstehen kann. Sie kreisen um die Themen der Marginalität, Exklusion und Integration. Oft ist der autobiographische Icherzähler ein jüdisch-sowjetischer „Marginal Man“ – ein Mensch an den Rändern der Kulturen, der in einem Schwellenzustand zwischen Integration und Ausgestoßensein lebt. Fast alle Erzählungen enthalten Episoden gelingender Integration und die Auseinandersetzung mit Ausgrenzungserfahrungen gleichermaßen. Die Stärkung der jüdischen Identität seit Mitte der 1980er Jahre ist der Faktor, der die Gestalt der Lebensgeschichten am nachhaltigsten prägt. Vielfach verharren die Erzählenden nicht bei der Schilderung einer Vergangenheit, die von Marginalität und einer Entfremdung vom Judentum geprägt war. Oft enden ihre Lebensgeschichten vielmehr mit dem Bekenntnis zu einer positiven jüdischen Identität in der Gegenwart. Die autobiographische Erzählung im Interview diente den Befragten auch dazu, sich dieser neuen Verwurzelung im Judentum zu versichern. Ihr Erzählen bedeutet eine „Identitätspräsentation durch Geschichten“.89 Die Narrative haben oftmals eine teleologische Struktur, denn auf die Jahre der Heimatlosigkeit folgt in ihnen ein neues Heimischwerden im Judentum. Diese neu- oder wiedererstarkte jüdische Orientierung nimmt unterschiedliche Formen an und erscheint zum Beispiel als religiöse Haltung, israelischer Patriotismus oder als Bekenntnis zum jüdischen Volk als historische Schicksalsgemeinschaft. Ihre Lebensgeschichten werden dabei retrospektiv zu jüdischen Autobiographien umgeformt und die Erzählungen enden mit dem Bild eines überwiegend positiv besetzten „jüdischen Lebens“ in der Gegenwart. Auch sowjetische Diskurse werden dabei aufgenommen und oftmals umgedeutet, was sich beispielsweise anhand der Motive der „Wurzeln“ und der „Heimat“ beobachten lässt. Sie waren Elemente antijüdischer sowjetischer Rhetoriken und werden nun innerhalb einer Sprache der Selbstbehauptung jüdisch besetzt. Hatte man sie früher verdächtigt, „wurzel- und heimatlose Kosmopoli-

89 Marquard, Identität – Autobiographie – Verantwortung, 691.

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ten“ zu sein, so stellen sie sich heute oft als in einer jüdischen Tradition verwurzelte Menschen dar. Als Teilnehmer an einem Projekt zur Erforschung sowjetisch-jüdischer Biographien waren sich die Zeitzeugen bewusst, dass ihre Erfahrungen als Juden von besonderem Interesse sein würden. Trotz der offenen Anlage der Interviews mag dies zusätzlich dazu beigetragen haben, dass sie ihr Leben weitgehend als ein „jüdisches“ deuteten. Darüber hinaus waren es jedoch insbesondere ihre Erfahrungen seit der Perestrojka und dem Zusammenbruch der UdSSR, die ihre jüdische Sicht auf die eigene Biographie gestärkt haben. Sie sind als Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ausgereist und haben in Deutschland an eine jüdische Gemeinde Anschluss gefunden. Als weiterführendes Projekt wäre ein Vergleich mit lebensgeschichtlichen Erzählungen von Juden, die nicht emigriert sind, interessant. Auf diese Weise ließe sich der hier festgestellte Zusammenhang von Emigration, jüdischer Identitätsbildung und Neubewertung der Vergangenheit näher bestimmen. In den wiederkehrenden Motiven ihres Erzählens zeigt sich, dass sich unter den postsowjetischen Juden narrative Deutungsmuster herausbilden, in denen sich die Geschichte der jüdisch-sowjetischen Minderheit der Gegenwart mitteilt. Nicht nur in der Emigration, sondern auch in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion kommt es zu einer jüdischen Selbstverständigung über geteilte Erfahrungen, die vielfach an westlich-jüdische und israelische Erinnerungsdiskurse anschließt, sich aber auch an ihnen reibt.

1.  Mark Grutman – „So bekam ich eine Vorstellung, was in der Welt los war.“ Der Immunologe Mark Grutman kam 1936 in Kiev zur Welt. Die ukrainische Großstadt bildet neben dem sibirischen Novosibirsk, wo seine Familie die Kriegsjahre überlebte, den wichtigsten geographischen Schauplatz dieser Lebensgeschichte. Herrn Grutmans Großvater hatte ursprünglich mit seiner Familie in einem ländlichen Teil des russischen Ansiedlungsrayons90 für Juden gelebt. Nach der Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen während des Ersten Weltkriegs zog er in die Großstadt am Dnjepr. Kiev wurde in den 1930er Jahren in rasantem Tempo umgestaltet. Die neue Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik sollte aus dem Schatten ihrer orthodox geprägten Vergangenheit als sozialistische Stadt hervortreten. In diesem großstädtischen Umfeld hatte sich schon die Generation von Herrn Grutmans Eltern weitgehend von der jüdischen Tradition abgewandt und war sozialistisch orientiert. Beide Elternteile wurden Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die Mutter hat die ökonomische Arbeiterfakultät durchlaufen und arbeitete als Bankangestellte, der Vater war Kaderoffizier bei der Roten Armee. Die politische Prägung durch das Elternhaus hinterlässt auch Spuren in Herrn Grutmans lebensgeschichtlicher Erzählung: An vielen Stellen demonstriert er eine Vertrautheit mit den marxistischen und leninistischen Gesellschaftstheorien, die weit über den Grad einer oberflächlichen Indoktrinierung hinausgeht. Dabei reflektiert er einen Prozess des Umdenkens, in dessen Verlauf er sich vom überzeugten Anhänger der Partei und ihrer Ideologie letztlich zu einem religiösen Menschen gewandelt hat, der auf die autoritäre sowjetische Herrschaftspraxis mit Verachtung zurückblickt. Mit Distanz zur eigenen Entwicklung erinnert sich Herr Grutman, dass er – wie unzählige mit ihm – Tränen vergoss, als Stalins Tod bekannt wurde. Zunächst hätten ihn auch die in den 1940er Jahren spärlich aus dem Westen einsickernden Nachrichten über die sta90 Der Ansiedlungsrayon im Zarenreich umfasste diejenigen Territorien im Westen des Imperiums, in denen Juden die Niederlassung erlaubt war. Er reichte von Litauen im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden. Die Ansiedlung in den städtischen Zentren des Reiches, in Moskau und St. Petersburg, blieb den Juden weitgehend versagt. Die das jüdische Niederlassungsrecht betreffenden Bestimmungen traten Anfang des 19. Jahrhunderts in Kraft und galten bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs hinein.

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linistischen Straflager mit empörtem Unglauben erfüllt. Später aber habe sich sein „Denken verändert“. Die lebensgeschichtliche Erzählung wird hier gleichsam zum Dokument eines Abfalls von einem ideologischen Irrglauben: Ein interessantes Beispiel: Ich hatte einen Radioempfänger. Und irgendwann Ende der 40er Jahre fing ich zufällig die „Stimme Amerikas“91 ein. Zufällig, denn ich hatte die Frequenz nicht gekannt. Dort sprachen sie von den Lagern des GULags. Ich dachte damals: „Was für eine Verleumdung! Wo gibt’s denn so was!“ So dachte ich damals. Ich wusste nichts. Später dann, später hörte ich sowohl die „Stimme Amerikas“ als auch BBC. Sie haben damals die Frequenz gestört. Sie können sich nicht vorstellen, wie sich das anhörte. Praktisch nur Störgeräusche. Und durch diesen Lärm hindurch versuchte ich, etwas aufzuschnappen. Und so bekam ich eine Vorstellung davon, was in der Welt los war.

Herrn Grutmans Lebensgeschichte folgt an solchen Stellen erkennbar dem Muster einer Dissidentenbiographie, auch wenn sie nicht in eine Teilnahme am politischen Widerstand mündet: Er stellt sich als ein Intellektueller dar, der sich langsam in einer Welt der Täuschungen und Manipulationen zurechtfindet, indem er sich alternative Informationsquellen erschließt und die Wahrheit über den verbrecherischen Charakter des Regimes zu erkennen beginnt. Geschildert wird ein Prozess, der von den Tränen um den verstorbenen Führer der UdSSR bis hin zur Begeisterung für George Orwell und seine Demaskierung des Totalitarismus führt. Die Romane Orwells und Solženicyns hätten ihm die Augen geöffnet, so dass er bis heute sagt: „Wenn man das liest, versteht man den Geist dieser Zeit.“ Diesem Denken in literarischen Bezügen entspricht die Einordnung der eigenen Biographie in ein aus Büchern erworbenes historisches Wissen. Mark Grutmans Deutungen der sowjetischen Geschichte folgen zum Beispiel den Interpretationen des Historikers Richard Pipes, die er offensichtlich genau studiert hat und den Interviewern auch als Lektüre empfahl.92 Die Chronologie der Erzählung ist weitgehend an der sowjetischen Politikgeschichte orientiert; die eigenen Erfahrungen werden, zum Beispiel bei der ausführlichen Schilderung des akademischen Werdegangs, vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Kreml erzählt: „Und dann kam Chruščëv an die Macht 91 Voice of America, offizielles Auslandsradio der USA. Im Kalten Krieg versuchte die USA mittels russischsprachiger Sendungen in der Sowjetunion der antiwestlichen Propaganda entgegenzuwirken. 92 Vgl. zum Beispiel: Richard Pipes: Communism. A history. New York 2001.

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und ich begann Medizin zu studieren.“ Auf diese Weise verleiht die Politikgeschichte der Lebensgeschichte einen Ordnungsrahmen, innerhalb dessen diese entwickelt wird. Die Parallelisierung von politischem und autobiographischem Narrativ verweist zugleich auf eine intensive retrospektive Deutungsarbeit im Lichte eines angelesenen Wissens über totalitäre und autoritäre Systeme. So kann er sein Leben als totalitär geprägte Biographie verstehen und zugleich die persönliche Überwindung dieser Prägung betonen, indem er seine Entfremdung vom System und seine Entdeckung des jüdischen Glaubens nachzeichnet. Lebensgeschichte Ich kam in Kiev zur Welt. Sie interessieren sich für die Geschichte meiner Familie? Soweit ich Bescheid weiß, werde ich erzählen. Doch ich kenne die Geschichte meiner Familie nicht im Detail. Die Großeltern von der väterlichen Seite lebten in der Kiever Oblast’93, wie es heute heißt. Früher war das die Kiever Gubernija94. Sie lebten ungefähr 50 oder auch 80 Kilometer von Kiev entfernt in einem kleinen Städtchen. Oder war es ein Dorf ? Das war im Ansiedlungsrayon. Sie lebten wahrscheinlich nicht in Armut. Ich weiß über sie nicht in allen Einzelheiten Bescheid, doch wahrscheinlich waren sie nicht arm. Der Großvater hatte wohl eine Mühle. Sie waren wohl weder arm noch reich, sondern irgendetwas dazwischen. Später kamen die Sowjets an die Macht und in der Ukraine tobte der Bürgerkrieg. Das war ein grausamer Krieg und es gab Pogrome. Und der Großvater zog mit seiner Familie nach Kiev. […] Er begann, als Klempner zu arbeiten. Er war Dachdecker und Klempner. Sehen Sie, das war ein Arbeiterberuf, er arbeitete ja mit seinen Händen. Darum behandelten ihn die Bolschewisten auch als Arbeiter (lacht) […].95 Es gab drei Kinder in der Familie. Für sowjetische Verhältnisse lebten sie recht gut. Mein Vater war Parteimitglied. Er trat 1924 ein und wurde Kaderoffizier. Als der Krieg ausbrach, war er im Rang eines Hauptmanns. Er war bei den Panzersoldaten. Als der Krieg ausbrach, war er mit seiner Einheit direkt an der westlichen Front. Wir aber lebten weiterhin in Kiev. Da alle arbeiteten – und Vater verdiente nicht schlecht beim Militär – lebten wir recht anständig. Die Familie meines Vaters half sogar der Familie der Mutter mit Geld. 93 Gebiet, territoriale Verwaltungseinheit in der Russländischen Föderation. 94 Gouvernement, Verwaltungseinheit im Zarenreich. 95 Gemeint ist, dass sich der „proletarische Hintergrund“ des Vaters nach der Machtübernahme der Bolschewisten für das soziale Fortkommen der Familie vorteilhaft auswirkte.

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Die Familie der Mutter kam aus der Oblast’ Vinnica96, aus einem Städtchen […]. Sie lebten auf dem Land. Von ihnen will ich nun erzählen. Sie lebten in der Oblast’ Vinnica, in Kazaki. Das ist eine kleine Stadt. […] Sie arbeiteten in einer Kolchose und ihre finanzielle Lage war natürlich nicht rosig. Umso mehr, weil in der Ukraine Hunger herrschte.97 Wissen Sie, warum Hunger herrschte? Stalin nahm alles Getreide weg und verkaufte es an den Westen. Dafür kaufte er Maschinen und Technik. Die Leute starben vor Hunger […]. Stalin wollte die Bauern vernichten und vernichtete sie so. Doch die Familie meines Vaters half der Familie meiner Mutter. Einer der Brüder meiner Mutter kam dann nach Kiev und lebte in der Familie meines Vaters. Er ging an die Universität und wurde Lehrer. Das war der Hilfe der Familie meines Vaters zu verdanken. Der zweite Bruder meiner Mutter ging auf eine Militärschule und schloss ausgerechnet 1941 ab, als der Krieg ausbrach. Das war eine Artillerieschule. Er kam an die Front und kämpfte vom ersten bis zum letzten Tag. Durch ein Wunder blieb er am Leben. Er nahm an allen Schlachten teil. Er kämpfte in Stalingrad. Er kämpfte überall. Durch ein Wunder! Er wurde oft verwundet. Doch mein Vater kam um im Krieg. Das war noch im ersten Kriegsjahr, 1941. Irgendwann im September, in der Ukraine. In meiner Familie gab es keine Opfer des stalinschen Terrors. Keine. Das ist das Eine. Hinzu kam, dass wir im Krieg unversehrt blieben. Sie wissen ja, dass Hitler die Juden vernichten wollte. Das wissen Sie ja gut. […] Gott sei Dank überlebte meine Familie. Nur die Großmutter meiner Frau kam in Babij Jar um. Wir blieben unversehrt, weil wir rechtzeitig evakuiert worden waren. […] Der Bruder des Vaters war Baumeister beim Militär. Das heißt, er war Soldat, doch bei den Bautruppen. Diese Truppen waren bei Kriegsausbruch an der rumänischen Grenze stationiert. Bald wurden sie nach Osten geschickt. Man musste dort ja Fabriken bauen, denn die Fabriken [im Westen] wurden ja evakuiert. Auf der Durchfahrt kamen sie in Kiev vorbei. Sie hatten Lastwagen und der Bruder des Vaters nahm die Familie in so einem Lastwagen mit und brachte sie raus. So blieb meine Familie am Leben. Doch Vater kam um. Jetzt will ich noch von der Mutter erzählen. Mutter kam nach der Revolution aus dem Gebiet von Vinnica nach Kiev. Sie war eine Arbeiterin und arbeitete in verschiedenen Betrieben. Und als Arbeiterin wurde sie an der Uni angenommen. 96 Gebiet und Verwaltungseinheit in der Ukraine. Die Region liegt südwestlich von Kiev und gehörte ebenfalls zum Ansiedlungsrayon. 97 Die ukrainische Sowjetrepublik war ein Zentrum der Hungersnot von 1932/33, die durch die sowjetische Politik der Zwangskollektivierung und –Industrialisierung (mit-) ausgelöst wurde.

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Als Arbeiterin war das nämlich leichter. Und sie schloss in Ökonomie ab. Sie arbeitete ihr ganzes Leben lang in einer Bank, als Angestellte. Doch ich bitte nicht zu verwechseln: Sowjetische und Schweizer Banken, das sind zwei Paar Schuhe. […] Sie war also eine gewöhnliche sowjetische Angestellte und blieb ihr ganzes Leben bei der Bank. Auch als wir [nach Novosibirsk] evakuiert wurden. Ich erhielt keine jüdische Erziehung. Ich werde Ihnen das erklären. Erstens wurden diese Dinge erschwert. Die Kirchen, sowohl die russische als auch die jüdische, wurden verfolgt. Es sollte ja nur eine einzige Autorität im Land geben: Die Partei. Im Krieg war Stalin noch etwas toleranter. Er brauchte ja die Unterstützung aus dem Volk. Doch im Allgemeinen wurden die Kirchen streng überwacht. Und hinzu kam: Mutter war in der Partei. Sie war Atheistin. Großvater und Großmutter starben, als ich noch klein war. Die konnten nicht mehr auf mich einwirken. Deshalb habe ich keinerlei jüdische Erziehung erhalten. Dennoch fühlte ich, dass ich Jude war. […] Verstehen Sie, die Sache ist die: Ich hätte mich gar nicht als Jude gefühlt, wenn es nicht antisemitische Stimmungen und antisemitische Propaganda gegeben hätte. Vielleicht hätte ich dann mein Judentum gar nicht gespürt. Damals gab es ja den Internationalismus. Offiziell wurde die Doktrin des Internationalismus propagiert. Alle Nationen seien gleichwertig und so weiter. Das war aber in der Sowjetunion nicht wirklich der Fall. Für Sie ist das schwierig nachzuvollziehen, denn bei euch in der Schweiz ist es ja einerlei, ob man Franzose, Deutscher oder Italiener ist. Das ist ein und dasselbe. Natürlich gibt es nationale Eigenheiten, doch was die Rechte angeht… Das ist ja in der Schweiz schon lange so, wahrscheinlich schon seit der Gründungszeit […]. Sie müssen verstehen, worum es hier geht: Das jüdische Bewusstsein wäre vielleicht unter dem Einfluss der Propaganda des Internationalismus gänzlich verschwunden, wenn nicht der Krieg gewesen wäre. Wenn nicht Millionen Juden ermordet worden wären. Die jüdische Identität gäbe es dann vielleicht nicht mehr. Doch die auf den Krieg folgenden Repressionen konnten diese Identität dann nicht mehr zerstören. […] Meine Mutter wurde gegen Ende ihres Lebens gläubig. Sie begann zu glauben. Sie starb sehr jung, mit nur 52 Jahren. An Lungenkrebs. Und auch ich kam allmählich zum Glauben. In Deutschland, doch auch schon vor der Emigration. Ich erkläre es Ihnen. Es hat in meinem Leben einige Dinge gegeben, die ich mir nur durch ein Eingreifen Gottes erklären kann. Ja. Denn mein Leben ist so verlaufen und das hat mich stark beeinflusst. Es gab einfach ein paar solche Ereignisse.

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Als die deutsche Invasion kam, wurden wir nach Novosibirsk evakuiert. Sie waren dort? Tja, das Novosibirsk, das ich gesehen habe, war ganz bestimmt ein anderes als dasjenige, das Sie gesehen haben. Haben Sie zum Beispiel die hölzernen Bürgersteige gesehen? Nein? Ich schon. Zu meiner Zeit gab es nämlich wenig Asphalt und Holz gab es in rauhen Mengen (lacht). Ja, die Bürgersteige waren aus Holz. […] Das ist nur ein Beispiel. Dort gab es damals noch viel Interessantes zu sehen. Tja, die Kriegszeit. Wissen Sie, das war eine schwere Zeit. Hinter der Front herrschte Hunger. […] Die Lebensmittel wurden rationiert und es wurden Lebensmittelkarten ausgegeben. Das gab es ja in Deutschland auch. Sie kennen das also ein wenig. Man bekam kümmerliche Portionen für diese Lebensmittelkarten. Es war abhängig von der Art der Karte, wie viel man bekam. Für Arbeiterkarten bekam man mehr, als wenn man nicht arbeitete. Doch zum Glück musste meine Familie nicht hungern. Denn Mutter kam aus einem Dorf und war damals eine recht junge und kräftige Frau. Auch ihre jüngere Schwester war bei uns. Die war 17. Auch Großmutter war Landarbeit gewohnt. Und Land gab es um Novosibirsk viel. Dort gibt es Schwarzerde, gutes Land. Wenn nur Hände zum Arbeiten da waren. Land teilten sie bereitwillig aus. Bittesehr. Und meine Familie beackerte große Flächen. Sie bauten Kartoffeln an. Dank diesen Kartoffeln überlebten wir und mussten nicht hungern. An Hunger erinnere ich mich nicht. Nach Kriegsende kehrten wir zurück nach Kiev. Mutter arbeitete wieder in der Bank. Ich ging zur Schule. Damals gab es noch so eine Sache, die Sie nicht kennen. Was eine Kommunalka ist, da haben Sie schwerlich eine genaue Vorstellung von (lacht). […] Ich und Mama lebten in so einer Kommunalwohnung. Wir hatten ein Zimmer für uns und außerdem gab es noch vier Zimmer. Tja, jede Familie bewohnte ein, zwei Zimmer. Es gab einen riesigen Korridor in dieser Wohnung. Der war bestimmt zehn Meter lang. Nein, bestimmt fünfzehn! Ich fuhr in diesem Korridor Fahrrad. Ja, solche Dinge gab es. Das ist für euch heute schwierig zu begreifen. Doch so lebten wir. Ich schloss die Schule ab. Das war in den letzten Jahren vor Stalins Tod. Nach dem Krieg. Damals breitete sich der Antisemitismus im Land aus. Stalin liebte die Juden ganz und gar nicht. Eine Zeit lang tat er ihnen nichts zuleide, denn er brauchte sie. Doch nach dem Krieg legte er los. […] Auch meine Mutter wurde übrigens damals entlassen und musste sich eine neue Stelle suchen […].98 98 Unter dem Einfluss der antijüdischen Hetzkampagnen zwischen 1948 und 1953 kam es auch zu vielen Entlassungen.

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Haben Sie Solženicyn gelesen? Nur wenig? Sie müssen nicht alles von ihm lesen. Nur den „Archipel Gulag“ und vielleicht noch eines der kürzeren Werke […].99 Ja, eine Diktatur, das ist eine schreckliche Sache! Ich fürchte, dass es für euch heute schwierig ist, sich das vorzustellen […]. Übrigens, apropos das sowjetische System: Haben Sie Orwells “1984“ gelesen? Ein brillantes Werk! Dann gibt es noch „Die Farm der Tiere“. Im Russischen heißt das Werk „Der Viehhof “.100 Wenn man das liest, versteht man den Geist dieser Zeit.101 Das ist vergleichbar mit dem „Archipel Gulag“. Auch das müssen Sie lesen. Eine schreckliche Sache. Doch so ist die Geschichte. […] Man hat mir die Mitgliedschaft [in der Partei] vorgeschlagen, doch ich lehnte ab. Ich sagte, ich sei noch nicht würdig für den Eintritt (lacht). Ich stand der Partei immer ablehnend gegenüber, obwohl Mutter und Vater in der Partei waren. Auch meine Frau trat nie ein. Wissen Sie, um in der Sowjetunion Karriere machen zu können, musste man in der Partei sein. Doch das garantierte noch nichts. Meine Mutter zum Beispiel war die ganze Zeit über in der Partei, doch half ihr das nicht, Karriere zu machen. Ich denke, auch mir hätte es nicht geholfen. Doch lehnte ich die Mitgliedschaft nicht deshalb ab. Ich wusste einfach, was das für eine Partei ist. Doch übrigens: Als Stalin starb, da weinte ich! Ich dachte, die Welt würde nicht mehr dieselbe sein. Und als Chruščëv auf dem Parteitag…Ich habe schon vergessen, welcher Parteitag das war. Ach ja, der Zwanzigste. Erst damals begann ich anders zu denken […]. Stalin starb gerade rechtzeitig. Denn da war ja die Ärzteaffäre. […] Tja, Stalin mochte keine Ärzte. Seinen Leibarzt, Professor Vinogradov, hat er ins Gefängnis gesteckt, als dieser ihm sagte, er müsse mehr ruhen. Er kurierte sich lieber selber und starb dann an einem Infarkt. Und dies, unter anderem, rettete die Juden vor der Deportation.102 Dann kam Chruščëv an die Macht und ich studierte Medizin. Ich schloss das Studium ab, schloss gut ab. […] Ich hatte nur Fünfen im Zeugnis. Keine einzige Note war unter fünf (lacht). Ich war ein guter Student. Doch leider nahm man mich nicht für eine Doktorandenstelle, obwohl ich schon während des Studiums in verschiedenen Abteilungen der medizinischen Fakultät wissen99 Im Mitte der 1970er Jahre erschienenen Werk „Der Archipel Gulag“ beschreibt Alexander Solženicyn die Verfolgungen und den politischen Terror gegen die Sowjetbürger und insbesondere das System der stalinistischen Straflager. 100 Russ. skotnyj dvor. 101 George Orwell (eigentlich Eric Arthur Blair (1903–1950)) zeichnete in den beiden erwähnten Antiutopien die Schreckensvision einer totalitären Gesellschaft. 102 Vgl. Anmerkung 26.

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schaftlich mitgearbeitet hatte. Ich denke, das hatte wieder mit nationalen Überlegungen zu tun […].103 Nach dem Studium schickte man mich in ein Dorf im Lugansker Kreis. Das liegt im Osten der Ukraine, im Donbas104, wo die Schächte sind. Tja, ich arbeitete in einem Bezirksspital in der Nähe von Lugansk. Auf dem Land. Nach zwei Jahren versuchte ich noch einmal, eine Promotionsstelle zu bekommen. Diesmal in Moskau. Ich wollte an die Moskauer Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Doch im ersten Jahr klappte es nicht. Ich legte zwar gute Prüfungen ab. Doch wie mir dann die Professorin, die mich prüfte, sagte, hatte ich als Konkurrentin um die Stelle eine Frau, mit der ich mich nicht messen konnte. Weshalb konnte ich mich mit ihr nicht messen? Weil ihr Mann den Lehrstuhl für Marxismus-Leninismus an der Akademie innehatte (lacht). Stellen Sie sich das vor: Sie sagt mir, dass ich die Prüfung gut abgelegt habe und dennoch keine Chance habe. Doch ich nahm das als gegeben hin. Damals wussten alle, wie der Hase lief. Ich versuchte es nach einem Jahr noch einmal an derselben Akademie. Und diesmal klappte es. Ich legte eine gute Prüfung ab, schrieb ein Referat und sie nahmen mich. Ich muss sagen, man verhielt sich dort gut zu mir. Man bewertete die Prüfung objektiv und gut. Da kann ich nichts sagen. Ich studierte dann im Doktorandenstudium im Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie. Mein Fach ist die Immunologie. Damals waren gute Leute an diesem Institut. Es hatte eine gute Leitung. Später war da Professor Barajan. Der hat übrigens lange Zeit in Genf gearbeitet. Und was waren das für Leute, die in Genf arbeiteten (lacht)? Richtig! Spione! Der KGB. Auch er war beim KGB. Man sagte, im Range eines Generals. Doch das ist nicht wichtig. Doch die Zeit, als ich da hinkam, das war eine gute Zeit. Ich war in einer Abteilung, die Professor Zdrodovskij leitete. Der hat unter Stalin im Lager gesessen. Später kam er frei. Er hatte Glück. Ein guter Mensch war das. Mich haben dort alle Arbeitskollegen gut behandelt. Und ich schloss die Promotion binnen drei Jahren erfolgreich ab und verteidigte meine Dissertation. Dann kehrte ich nach Kiev zurück und arbeitete dort im Institut für Epidemiologie und Mikrobiologie. Und auf dieser Arbeitsstelle blieb ich bis zum Jahr 2001. Es war im Ganzen ein gutes Arbeitsleben. Man verhielt sich mehr oder 103 Gemeint sind hier die Benachteiligungen von Juden im Bildungswesen. Im administrativen Verständnis galten auch die Juden als Nation. 104 Russische Kurzbezeichnung für das Donec-Steinkohlebecken im Südosten der Ukraine und im russischen Gebiet um Rostov.

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weniger gut zu mir. Kann sein, dass man mich beim beruflichen Fortkommen etwas aufhielt. Doch eigentlich war es ganz in Ordnung. Ich habe mich dann habilitiert und trage den Titel eines Doktoren der Medizin.105 […] Als die Sowjetunion unterging, da ging alles in die Brüche. Das Institut war in einem so schlechten Zustand, dass man dort nicht mehr arbeiten konnte. Die Löhne waren erbärmlich und für Forschung gab es kein Geld. Man konnte nicht arbeiten und außerdem waren die Renten schlicht erbärmlich. Verstehen Sie, ich war eigentlich schon im Pensionsalter. Doch von diesen Renten zu leben, das war zwar gerade noch möglich, aber man lebte sehr schlecht davon. Und dann tauchte die Möglichkeit auf, nach Deutschland auszureisen. […] Das war, ungefähr und in Kürze, meine Lebensgeschichte.

105 Entspricht einem Professorentitel im deutschsprachigen Raum.

2.  Elizaveta Ušerenko – „Unser Volk ist talentiert und heldenhaft.“

Die 1922 in Kiev geborene Elizaveta Ušerenko erzählt eine Lebensgeschichte von großer atmosphärischer Dichte, in der sie die jüdischen und sowjetischen Milieus ihrer Heimatstadt als eng verflochtene Lebenswelten beschreibt. Man spürt die literarische Begabung der Übersetzerin, Journalistin und Autorin von Erzählungen. In den Erinnerungen an ihre Kindheit im Kiev der Zwischenkriegszeit etwa ist die Intensität kindlicher Eindrücke spürbar. Auch die Schilderungen des Alltagslebens in späteren Lebensabschnitten sind von großer Anschaulichkeit. Die Vorfahren von Elizaveta Ušerenko gehörten zum Schtetljudentum im Zarenreich. Sie waren meist einfache Handwerker oder Lehrer in den jüdischen Schulen in ukrainischen Kleinstädten und Dörfern. Erst die Generation der Eltern verließ das Schtetl, um nach Kiev zu ziehen, wohl aus Mangel an ökonomischen Perspektiven in der Provinz. Die Schilderungen ihres Aufwachsens im nachrevolutionären Kiev der zwanziger und dreißiger Jahre nehmen in der Lebensgeschichte von Elizaveta Ušerenko eine wichtige Stellung ein. Sie rufen das Bild einer noch von den jüdischen Traditionen des Ansiedlungsrayons geprägten Stadt hervor, die erst die Shoah und die Repressionen Stalins und seiner Nachfolger untergehen ließ. Elizaveta Ušerenko erinnert sich an viele jüdische Nachbarn und an die jüdischen Feste, die, neben sowjetischen Feiertagen, in dem zu ihrem Haus gehörigen Hinterhof begangen wurden. Der Alltag sei durch Jüdisches ebenso wie durch Russisches und Sowjetisches geprägt gewesen. Man bereitete zu besonderen Anlässen traditionelle jüdische Gerichte zu, hatte eine Exemplar des Alten Testaments zu hause stehen, aß aber zugleich Schweinefleisch, besuchte die Banja und nahm an den Aktivitäten des Komsomol teil. Für Elizaveta Ušerenkos Erinnerungen an die zwanziger und dreißiger Jahre ist dabei charakteristisch, dass diese Koexistenz kulturell unterschiedlich kodierter Lebensformen als wenig konflikthaft beschrieben wird. Die wirklich prägenden Einschnitte, die sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt zu haben scheinen, bringt sie nicht mit ihrer jüdischen Herkunft in Zusammenhang. Hervorgehoben werden vielmehr die Beschwernisse und Katastrophen, die die gesamte sowjetische Bevölkerung betrafen, etwa wirtschaftliche Notlagen und die nicht nur in Kiev verheerend verlaufende Hungersnot von 1932/33.

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Zu einem zentralen Motiv der Lebensgeschichte wird das Bild einer allgegenwärtigen Armut. Dieses Motiv durchzieht die Schilderungen des Lebens der Vorfahren im Schtetl, des eigenen Aufwachsens im sowjetischen Kiev und auch die Darstellung einer entbehrungsreichen Kriegszeit und mühevoller Nachkriegsjahre. Die Erzählung handelt dabei von guten Menschen, die „Gott in der Seele“ hatten und trotz bedrückender materieller Verhältnisse verantwortungsvoll handelten und glücklich sein konnten. Elizaveta Ušerenkos Großmutter beispielsweise, in ihrem Schtetl „Fruma-Kringelbäckerin“ genannt, habe einen „ganzen Haufen Kinder“ ernährt, nicht jedoch mit den Kringeln, die sie verkaufte, denn „wahrscheinlich reichte es ihnen nur für eine schwarze Brotkruste.“ Der Vater, ein „sehr starker Mann“, der sich allerdings „nie auf Händel einließ“, habe hart und für einen kargen Lohn auf dem Fischmarkt gearbeitet, mit seinen „großen, von der Mühsal gezeichneten Händen, in welchen Splitter von Fischgräten steckten.“ Nach dem Krieg war Elizaveta Ušerenko ohne Angehörige – beide Eltern fielen dem von den Nazis verübten Massaker von Babij Jar zum Opfer. Als Studentin habe sie sich hungrig und frierend in einer vom Grauen der Jahre 1941-1945 gezeichneten Welt durchschlagen müssen. Sie erzählt mit Blick auf diese Zeit die Geschichte eines persönlichen Überlebens wider alle Wahrscheinlichkeit: Weil es keinen Brennstoff gab, war bei mir kein Winkel beleuchtet. Keinerlei Brennholz war da und ich schlief auf einem kalten Sofa. […] Ich hatte zerplatzte Galoschen. Ich band diese Galoschen mit einem Riemen an die Socken. Und ich ging so durch Pfützen, kam heim, stellte die Socken hin, die schon gefroren waren. Und dann legte ich mich jeweils auf dieses kalte Sofa. Wieso ich damals nicht gestorben bin, weiß ich auch nicht!

Frau Ušerenko schloss in den ersten Nachkriegsjahren ihr philologisches Studium ab und verdingte sich als Korrekturleserin bei verschiedenen Zeitungen und Journalen. Im Jahr 1948 bekam sie eine Anstellung bei einem Verlag im sowjetisch kontrollierten Teil Deutschlands, der die UdSSR mit Lehrbüchern belieferte. Als sie Anfang der fünfziger Jahre nach Kiev zurückkehrte, habe sie – anders als in den zwanziger und dreißiger Jahren – in der Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik ein antijüdisches Klima wahrgenommen, in dem Diskriminierungen keine Seltenheit waren. Dass sie in den Jahrzehnten bis zur Wende wiederholt ihre Arbeitsstelle verlor, führt sie auf diese antisemitischen Tendenzen in der Gesellschaft zurück. Seit der Perestrojka begann sich auch Elizaveta Ušerenko verstärkt am Judentum zu orientieren und entdeckte dessen Geschichte und Kultur für sich. Dieses Erstarken ihrer jüdischen Identität ist mit einer entschieden proisraeli-

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schen Haltung verbunden. Sie versteht sich heute als Patriotin des israelischen Staates und träumt davon, dort ihren Lebensabend zu verbringen. Eine dezidierte Parteinahme im Nahostkonflikt begründet Elizaveta Ušerenko mit der Erfahrung der Shoah, denn die jüdischen Opfer der Nationalsozialisten gelten ihr als Märtyrer des Judenstaates. Erst ihr Tod habe den Staat Israel als sicheren Hafen der verfolgten Judenheit zur Möglichkeit werden lassen. Die Soldaten der israelischen Armee werden in dieser Sicht zu Helden, die ein durch das Blutopfer der Shoah erkauftes Landerbe verteidigen. Oft begleiten solche Märtyrerund Heldenerzählungen das Erstarken von Gruppenidentitäten, wie es sich unter den postsowjetischen Juden vollzieht. Die proisraelische Stellungnahme zum Nahostkonflikt fungiert dabei als Identitätsmarker, als Signal für ein neu aktiviertes Zugehörigkeitsgefühl. Unser Volk ist talentiert und unser Volk ist heldenhaft. Dank unserem Volk existiert das Land Israel. Es kämpfte 1948, als der Staat Israel gegründet wurde. Sie wurden von allen Seiten angegriffen. […] Und die heldenhaften Israelis wehrten alle Angriffe ab und gingen als Sieger hervor. […] Meine Eltern bezahlten mit ihrem Leben, sechs Millionen Juden bezahlten mit ihrem Leben dafür, dass der Staat Israel existiert (weint). Und ich glaube an Gott, denn, wenn es ihn nicht gäbe, gäbe es vielleicht kein Israel, gäbe es unser Land nicht. Sie erkauften dieses Land mit ihrem Leben. Mit ihrem Leben! Und jetzt sagt man, dass die Juden Okkupanten sind? […] Das ist so absurd, zu sagen, dass die Juden Okkupanten sind!

Obwohl sich Elizaveta Ušerenko, wie erwähnt, mit dem Gedanken trug, nach Israel auszuwandern, führte ihr Lebensweg (als einziger der hier vorgestellten) nicht in die Emigration. Sie fühle sich zu alt für die mit einer Ausreise verbundenen Strapazen und zweifle an dem Nutzen, den sie für Israel erbringen könne. „Eine alte Frau von achtzig Jahren, das wäre ein schlechtes Geschenk für Israel, weil man für mich dort noch Geld ausgeben müsste.“ So blieb sie in ihrer Geburts- und Heimatstadt Kiev. Lebensgeschichte Ich bin Elizaveta Mojseevna Ušerenko. Gemäß Pass heiße ich Lisa. Ich kam am 7. April 1922 in Kiev zur Welt, im Stadtviertel Podol. […] Meine Eltern waren wunderbare Menschen. Glaubten sie an Gott? Natürlich glaubten sie an Gott. Sie hatten Gott in der Seele. Das stimmt genau, dass Gott in ihrer Seele war, weil sie nie jemanden betrogen, nie jemanden beleidigten, nie jemanden schlugen. Vater war ein sehr starker Mann, doch er ließ sich nie auf Händel ein. Solche Menschen waren das.

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[…] Mein Vater war Mojsej Šimšonovič Ušerenko und kam im Jahre 1874 in Černobyl’ zur Welt. Ich möchte ein wenig über seine Familie erzählen. Seine Mutter buk Kringel. Damals war sie schon Witwe. Man nannte Sie in ihrem Schtetl Fruma-Kringelbäckerin. Und mit dem Verkauf dieser Kringel […] ernährte sie einen ganzen Haufen Kinder. Natürlich aßen sie die Kringel nicht selbst, wahrscheinlich reichte es ihnen nur für eine schwarze Brotkruste. Sie hatten nur ein einziges Paar Schuhe und rannten damit der Reihe nach in den Cheder106. In der Familie des Vaters war der erste Sohn, Šolem, mit einem schadhaften Schultergelenk zur Welt gekommen. Das war ungefähr im Jahre 1870. Er ist etwas älter [als mein Vater]. Die ganze Familie, Groß und Klein, arbeitete hart, um dem Ältesten eine Ausbildung zu ermöglichen, damit er nicht körperlich arbeiten musste. Schließlich schloss er eine Ausbildung zum Buchhalter ab. Das war für uns, als wäre er ein Akademiker geworden. Ich sah ihn erst später. Er trug eine Melone. […] Vater verließ das Haus der Großmutter sehr früh. Sie gaben ihn weg, in die Lehre […]. Er verließ das Haus […] mit neun Jahren und fuhr nach Kiev. Da arbeitete er bei privaten Arbeitgebern und hauptsächlich in Fischhallen. Und ich erinnere mich nur an den Namen Volinskij. Das war sein erster Arbeitgeber. Und später, als ich geboren wurde, da war das dann Falkovič, da arbeitete er bei Falkovič. […] Er war dort sowohl Hausmeister, als auch Lastträger und Böttcher. Er fuhr mit zum Fischeinkauf. Ich erinnere mich, nach Astrachan’ und nach Tallinn fuhr der Vater. Er war ein großer Fischkenner. Aber weil er schlecht schreiben konnte, rechnete er immer alles im Kopf aus. […] So lebte der Vater bis zur Revolution und arbeitete bei Falkovič. […] Vater kam noch vor dem Ersten Weltkrieg zu den Soldaten. Er war Artilleriekanonier. Irgendwo bei meinen Verwandten in Moskau gibt es eine Fotographie. Er ist darauf jung und trägt Achselschnüre. Er war damals 18 Jahre alt. Artilleriekanonier. Aber im Ersten Weltkrieg nahmen sie ihn nicht, denn er musste damals schon eine Familie ernähren, hatte drei kleine Kinder. Darum nahmen sie ihn im Ersten Weltkrieg nicht. Und im Zweiten Weltkrieg war er dann schon zu alt. Als die Revolution ausbrach […] wurde für Falkovič dieser einfache Arbeiter Mojše Ušerenko zur Verkörperung der ganzen Revolution. Er steckte ihn vom 106 Der Cheder, das Zimmer, ist eine religiöse Erziehungsanstalt, in die Knaben meist im Alter von vier Jahren eintreten. In dieser Schule wird die hebräische Sprache gelehrt und die Zöglinge werden an Tora, Talmud und Gebetsliteratur herangeführt.

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Erdgeschoss in ein Seitengebäude. Daran erinnere ich mich noch, ich rannte umher, stieß an etwas an und sagte: „Das ist eine schlechte Wohnung!“ Das heißt, wir mussten in ein Kellergeschoss umziehen. Die Fenster waren dort auf Bodenhöhe. Vater kümmerte sich immer sehr gut um das Haus. Er machte alles eigenhändig, weil nie Geld da war. Man hat ihn immer ausgenutzt, sowohl vor der Revolution, als auch nach der Revolution. Denn er konnte alles. […] Die Löhne waren damals so knapp berechnet, dass gestohlen wurde. Aber er hat sein ganzes Leben nicht ein Streichholz gestohlen. So lebten wir. Im Grunde genommen immer am Hungertuch nagend. Und er aß sich nie satt. Er war groß, schön, gut gebaut. Ich erinnere mich, dass ihm am Strand die Frauen nachschauten. Er war ein schöner Mann. Aber Geld verdienen, um die Familie zu versorgen, das konnte er nicht. Er sagte immer: „Ich arbeite doch im Schweiße meines Angesichts, aber ist es meine Schuld, dass sie 30 Rubel zahlen und nicht 100?“ Aber machen konnte er alles selbst. Er konnte selber einen Ofen bauen, konnte Fenster verglasen, alles machte er, alles! Er reparierte selber Uhren, mit diesen großen, von der Mühsal gezeichneten Händen, in welchen Splitter von Fischgräten steckten. Meine Mutter hieß Dvojra […] Mordchovna. Ihr Mädchenname war Grinberg. Sie kam im Jahre 1886 in Gornostaj-Pole bei Černobyl zur Welt. […] Sie wurde irgendwann während des Purimfestes geboren, also im März. Ihr Vater war ein Melamed107, er unterrichtete kleine Kinder. Sie waren auch sehr arm. Neben dem Unterrichten hobelte er noch Schuhleisten für den Schuster. […] Er war sehr streng, sehr machthaberisch […]. Meine Großmutter Leja war die Schwester meiner Großmutter Fruma. Meine Eltern waren also Cousin und Cousine. Großmutter Leja baute Gemüse an und ernährte alle Kinder und Enkel mit Gemüse. Das war ihr Beitrag. Mutter war 16 Jahre alt, als sie sie weggaben, dem Witwer ihrer älteren Schwester zur Frau. Meine Mutter hatte eine ältere Schwester, eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit. Tja, als diese Schwester bei einer Geburt starb… Ihr Mann war nämlich ziemlich vermögend... Er war Aufkäufer, fuhr von Dorf zu Dorf, kaufte dort irgendwas, verkaufte da irgendwas weiter. […] Er erreichte, dass sie ihm die jüngste Tochter, meine Mutter, gaben. Sie war auch sehr hübsch. Sie wollte aber nicht. Er war doppelt so alt wie sie, er hatte schon große Kinder...

107 Hebr. für Lehrer.

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Das waren Lëva und Jaša. Und dann wurde noch Nina geboren, als die Schwester starb. Und Mutter wurde buchstäblich dazu gezwungen, ihn zu heiraten. Eine große Rolle spielte dabei ihre andere Schwester, Tante Chaj-Ginesja. Sie kam und fing an, auf die Mutter einzureden: „Liebst du etwa deine Verwandten nicht? Lëva, Jaša und Nina, liebst du die nicht? Werden diese Kinder zu irgendeiner Stiefmutter weggegeben, so werden sie unglückliche Kinder sein. So halte es schon eine Weile aus, heirate ihn! Er liebt dich so, er wird dich behüten, er ist reich...“ Und Mutter, selber noch ein sechzehnjähriges Kind, sagte: „Nun gut, ich halte es aus und werde, bis ich 25 bin, mit ihm leben, aber dann – verurteilt mich nicht – werde ich von ihm weggehen.“ So sprach sie. Sie liebte ihn überhaupt nicht, er war offensichtlich ein Mensch ohne höhere moralische Prinzipien. Und als Nina schon zehn Jahre alt war, ging Mutter schwanger von ihm weg und gebar. Und er ließ sie bald im Stich. Und dann hieß es: „Du hast mich verlassen, also werde ich eine andere Frau haben.“ […] Sie verließ ihn, doch nach den jüdischen Gesetzen soll der Mann nicht lange allein bleiben. Er fand sich eine andere Frau, die selbst einen Haufen Kinder hatte. Dazu kamen noch seine Kinder, und das Ganze war beinahe ein Kindergarten. Aber diese Frau, die ihm übrigens empfohlen worden war, war eine sehr gute Frau. […] Sie hatte ihre eigenen Kinder, er auch, und danach hatten sie noch zusammen Kinder. Und Adel, das Kind meiner Mutter, der Säugling, blieb dann auch bei diesem Kinderhaufen, weil Mutter wusste, dass diese gute Frau das Kind nicht benachteiligen würde. Mutter fuhr dann nach Kiev und verdingte sich als Amme in einem reichen Haus. Sie sparte für eine Nähmaschine. Damals durfte man sich nur als Handwerker in Kiev niederlassen. Sie lernte nähen, und als sie schließlich die Aufenthaltsbewilligung für Kiev bekam, fuhr sie nach Gornostaj-Pole. Das Kind wollte ihr dort schon niemand mehr geben. Und sie nahm Adel einfach mit. Und mit zwei oder drei Jahren lebte Adel dann schon bei Mutter. […] Das war etwa 1913 oder 1914. Mutter lebte etwa zehn Jahre allein. Sie zog Adel auf und nähte, bis sie [Papa kennenlernte]. Nun, sie waren Cousin und Cousine. Papa war ein schöner und äußerst anständiger Mann. Sie verliebten sich ineinander und heirateten, und dann kam ich zur Welt. Der Vater hatte seine eigenen Kinder, Jaša und Sonja. Die Mutter hatte Adel. Ich kam dann schon aus ihrer gemeinsamen Ehe. Ich war der Liebling der Familie, weil Schwester Sonja an mir einen Narren gefressen hatte. Sie sah sich selbst fast als Mutter. Meine Mutter war sogar eifersüchtig auf sie: „Alles was Sonja tut, die Kleine tut es ihr nach!“ […] Und ich wurde natürlich von meinen Schwestern und Eltern verhätschelt. Sie konnten mich nicht mit Spielzeug oder Geld verwöhnen. Wenn ich

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also sah, dass ein Kind im Hof eine Puppe hatte, eine wunderbare Puppe, dann gingen meine Eltern arbeiten […]. Und von dem Geld kauften sie einen Puppenkopf. Und dann machten sie sich an die Arbeit: Er schnitzte aus Holz Arme und Beinchen, machte einen Rumpf und setzte das Köpfchen drauf. Mutter nähte ein schickes Puppenkleid und schon hatte ich die beste Puppe. Sie hieß Ninel108, ich erinnere mich gut. […] Mutter und Vater lebten sehr gut zusammen, aber finanzielle Schwierigkeiten brachten gewisse [Unstimmigkeiten] in die Familie. Vater sagte immer: „Nun, was soll ich tun? Sie zahlen mir eben keine 100 Rubel!“ […] Mama nähte selbst aus Stofffetzen Kleidung, und sie war immer besser angezogen als alle anderen. Ihre Schuhe waren immer schlecht, weil sie immer die billigsten kaufte, aber angezogen war sie immer gut. […] Ich erinnere mich, dass bei uns Altwarenhändler von Hof zu Hof gingen. „Alte Waren! Alte Waren!“ Und Vater gab ihnen alles, ich erinnere mich, alles gab er weg. Mama sah durchs Fenster, dass um ihn ein solcher Altwarenhändler herumtänzelte. Sie rannte herbei: „Was machst du da?“ Und sie nahm dem Händler auch den letzten Lumpen wieder aus den Händen. Vater antwortete ihr […]: „Soll es doch jemand benutzen.“ So ein Mensch war er, mit einem guten Charakter. […] Meine erste Schule war eine jüdische, im Stadtviertel Podol. […] Das war eine sowjetische Schule. Kindergedichte von Kvitko109 lernten wir, daran erinnere ich mich. Dann kam ich […] in eine ukrainische Schule. Ich schloss dann diese ukrainische, zehn Jahre dauernde Schule ab. […] In der Schule hatte ich eine Freundin, Njušečka Talis, sie ist jetzt in Amerika mit ihren Kindern. Ich hatte noch eine andere Freundin, Ženja Ostrovskaja, die Tochter irgendeines Arztes. Er schickte sie nach Kiev, zu ihrer Großmutter. Sie war zur Hälfte Russin, zur Hälfte Jüdin. Nun, bei uns in der Schule war die Mehrheit der Kinder jüdisch. Es waren Knaben und Mädchen, sehr gute Kinder. Doch unsere Klasse wurde im Krieg zerschlagen, wir waren Jahrgang 1921/22. Nur wenige überlebten den Krieg, nur wenige kamen zurück. Mazur 108 „Ninel“ ist die Umkehrform von „Lenin“. Insbesondere in den ersten Jahrzehnten der Sowjetzeit wurden oft Namen mit Bezug zu Führungsfiguren und Großereignissen der sowjetischen Geschichte verliehen. 109 Lev (Lejb) Kvitko (1890–1952) war ein jiddischer Schriftsteller. Als linientreuer Dichter war er lange Zeit Vorsitzender der jüdischen Sektion des sowjetischen Schriftstellerverbandes. In der von Elizaveta Ušerenko besuchten sowjetisch-jüdischen Schule, in der der Unterricht anhand der Ideen der „Einwurzelungspolitik“ gestaltet wurde, waren die prosowjetisch gefärbten Werke Kvitkos eine bevorzugte Lektüre. Kvitko wurde 1952, während des spätstalinistischen Terrors, hingerichtet.

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kam zurück, Izja Mazur. Aber danach starb er auch. Er hatte eine dicke Brille, trotzdem musste er an die Front und kehrte ohne Bein zurück. […] Wir hatten noch Spivak in unserer Klasse. Ihm riss in der Kindheit eine Straßenbahn beide Beine ab, und er ging an Krücken zur Schule. Sein Vater war Zahnarzt. Ja, Miša Spivak. Wir hatten gute Jungs in der Schule. Damals begann die Hungersnot von 1932/33. Der Mann meiner Schwester war Matrose bei der Dnjepr-Flotte. Er aß […] dort bei der Arbeit in der Flotte nichts und brachte all diese Krümel zu uns nach Hause. Und davon ernährte sich unsere ganze Familie. Und danach zogen die Schwester und ihr Mann in den Fernen Osten, und wir blieben allein zurück. Vater verdiente nicht genug […]. Wir hungerten schon alle. Mutter begann Vater zu überreden, nach Moskau zu fahren, zum ältesten Sohn. Damit er nicht stürbe vor Hunger. Er wollte natürlich nicht allein wegfahren. Doch Mutter überredete ihn. Sie sagte ihm, dass er dort Arbeit finden und uns etwas schicken könnte. Dort gab es was zu Essen. Und er ließ sich überreden. [Zunächst] konnte er uns nichts heim schicken. Mutter war damals sehr krank... Und plötzlich kam doch ein Paket aus Moskau. Und Mutter rannte los, um dieses Paket zu holen […]. Wir öffneten es. Da waren Brotstücke drin, ein ganzes Paket voller Brot. Vater hatte offensichtlich große Anstrengungen unternommen […]. Ich erinnere mich an schreckliche Bilder. Wir gingen hinaus auf die Straße, dort lagen die Menschen am Boden, dicht umschwärmt von grünen Fliegen. Sterbende und tote Menschen, es war ein Albtraum. Es war ein schrecklicher Anblick. Ich erinnere mich: Unser Nachbar kochte eine Schale Kartoffeln und wir standen dabei und atmeten diesen Kartoffelgeruch ein. Selber hatten wir natürlich keine Kartoffeln, nichts hatten wir. Ich erinnere mich, wir hatten Dosen. Das war gestoßenes Hafermehl, Soja-Mehl […]. Und Mutter machte aus diesem Soja Fladen und trug sie auf den Basar, um sie zu verkaufen und so ein Stückchen Brot kaufen zu können. Und sie kam in Tränen zurück, mit einigen Kupfermünzen in den Händen, ohne Brot und ohne Fladen. Sie hatte alles [an kranke Menschen] verschenkt. Und wir hatten weder Brot noch Fladen. Papa war in Moskau und Mama fand eine Arbeit in einer Näherei. Sie saß dort den ganzen Tag am Fließband. Und ich ging zur […] Schule. Und so überlebten wir. Die Hungersnot ging vorbei und Vater kam nach Hause […]. Bei uns im ersten Stock wohnte Hausmeister Karev. Er war ein parteitreuer und sehr aktiver Kommunist. Und deswegen fürchteten ihn alle und wahrscheinlich war er auch noch beim KGB, als Nebentätigkeit. Aber Šura, seine Tochter, mit

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der kam ich gut aus. Sie war älter als ich, sie machte ein Medizinstudium. […] Das war die Tochter dieses Hausmeisters Karev und ihre Mutter war ebenfalls Russin. Sie heiratete dann einen jüdischen Jungen und zog mit ihm nach [Ortsname]. […] Im Untergeschoss wohnten die Golovskijs. Die hatten ein einziges Töchterchen. Er war Krämer, ein kleiner Krämer. Sie handelten mit Kleinigkeiten und hatten immer genug zum Leben. Und hinter der kleinen Zinočka rannte immer die Großmutter her und fütterte sie mit Kartoffeln. Überhaupt war das eine wohlbehaltene Familie. Dann gab es ein langes Gebäude, und dort lebte die Familie Piljavskij, Mucher und Bruška. Sie hatten einen Sohn, Aron, und eine Tochter. Und sie fuhren immer in das Dorf Glebovka und trieben dort Kleinhandel. Sie hatten immer irgendwelche Kopftücher aus dem Dorf […]. Bruška war eine sehr gesellige Frau, sie kümmerte sich nicht allzu sehr um ihren Haushalt. Es reichte ihnen zum Leben. Und sie kam immer zu uns. Offensichtlich war sie heimlich verliebt in meinen Vater. […] Die Piljavskijs wurden rechtzeitig evakuiert, sie überlebten den Krieg […]. Im Untergeschoss lebte noch ein altes kinderloses Paar, das waren Nuchem und „die Greisin“, beide uralt. Dieser Nuchem war seinerzeit Ofensetzer gewesen. Mit ihnen im Zimmer lebte eine behinderte, eine körperlich behinderte Frau. Ihre Oberschenkel bis zum Knie, die waren sehr kurz, aber der Unterschenkel war normal groß. Mental war sie nicht zurückgeblieben, sie war sehr fröhlich. Und da wohnte noch eine Frau, die war Weißnäherin. Das war Esja Polak. Und im Keller zur Straße hin wohnten die Spilmans. Er kaufte Leder und machte selber Schuhe daraus. Er war selbstständiger Heimarbeiter. Er verdiente sein Geld. Jeder im Hof verdiente irgendwie seinen Lebensunterhalt. […] Der Spilman machte auch prachtvolle Kleidungsstücke. Er war ein NEP-Mann.110 Er machte Stiefel. Damals gab es immer mehr Schuhmacher. Er machte auf Bestellung Stiefel. Der Spilman hatte eine Tochter, seine älteste, Tanja. Mit ihr freundete ich mich später an. Dann hatten sie noch eine zweite Tochter, Eva. Oder nein, ich habe ihren Namen vergessen. Oben […] lebten die Aškenazi. Das waren sehr religiöse Juden, sie trugen Gebetsschäle111. Das waren sehr orthodoxe 110 Die Neue Ökonomische Politik (NEP) bestimmte die sowjetische Wirtschaft zwischen 1921 und 1929. Sie brachte eine partielle Rückkehr zu marktwirtschaftlichen Grundsätzen. Als „NEP-Mann“ wurde – oft abschätzig – bezeichnet, wer sich die neuen ökonomischen Bedingungen zunutze machen konnte und so zu relativ schnellem Reichtum kam. 111 Gebetsschal oder Gebetsmantel (hebr. Tallit). Rituelles Kleidungsstück, das manchmal auch im Alltag getragen wird.

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Juden. Sie flochten Körbe. Immer wenn der Hof voller Ruten war, da kauften sie diese Ruten, und er flocht mit seinem Sohn Körbe daraus. Koffer gab es ja damals noch keine. Bei uns im Hof feierte man die [jüdischen] Feiertage. Ich erinnere mich, dass sich die Familie Vinnik jeweils große Mühe gab, wenn Pessach kam. Unsere Familie konnte nicht viel beitragen. Aber jene, die etwas reicher waren, die schon. Ich erinnere mich auch an Chanukka. Da wurde Geld verteilt. […] Bei uns wurde geheiratet und geheiratet. […] Das sah sehr interessant aus. Eine Menge Leute waren unter dieser großen Bedeckung112. Dorthin wurden dann Braut und Bräutigam geführt. Die Braut trug einen weißen Schleier. Danach wurde irgendwas zerbrochen.113 Ein religiöser Würdenträger betete dann ein wenig und das war es. Und danach: Heiterkeit und ein Festmahl. Es gab gefilte fisch.114 Übrigens, apropos gefilte fisch: Meine Tante, Tante Šurka, die später nach Babij Jar kam, die war Köchin. Sie ernährte ihre Familie damit, dass sie für die großen Feierlichkeiten das Essen zubereitete: Sie machte gefilte fisch und bereitete alles vor, was es brauchte. Sie war sehr arbeitstüchtig, sehr flink, sehr geschickt. […] Sie war sehr fröhlich, fröhlich war sie. […] Mama kochte herrlich, aber wir hatten oft nichts, woraus wir etwas kochen konnten. Gefilte fisch gab es oft, weil Vater im Fischmarkt arbeitete. Wir aßen immer Fisch. Hering. Mit Hering bin ich groß geworden. Es kam vor, dass ich kam und sagte: „Oj, Mama, ich bin hungrig.“ – „Nun, nimm ein Stückchen Hering.“ Denn Fleisch gab es nicht. Fleisch war bei uns nicht üblich, weil wir kein Geld dafür hatten. In seltenen Fällen, wenn es dennoch Fleisch gab, […] da machte Mama ein Rindsgericht. Einen süß-sauren Braten. Das war ungewöhnlich schmackhaft. Nun, was kochte Mama noch? Oh, ich erinnere mich! Es gab grečane latkes, Buchweizenpfannkuchen. Mama kochte einen großen Stapel Buchweizenpfannkuchen im Ofen, und das schmeckte unglaublich gut! Denn die gab es mit Honig oder auch mit Butter. Und wenn man kein Geld mehr hatte, dann gab es noch Gänsegrieben. Latkes mit Gänsegrieben, das war der süßeste Traum.[…] Vater trocknete Plötze. Und wie er die trocknen konnte! Solche Plötzen, wie sie heute verkauft werden, die hätte man damals weggeworfen! Er trocknete die 112 Gemeint ist die Chuppa (hebr. Trauhimmel), ein Baldachin, unter welchem Braut und Bräutigam rituell ins gemeinsame Leben eintreten. 113 Zum traditionellen Trauungsritus gehört das Zertreten eines Glases durch den Bräutigam. Diese Handlung soll die Trauer angesichts der Zerstörung des Tempels in Jerusalem ausdrücken. 114 Traditionelles aschkenasisches Fischgericht.

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Plötze so, dass sie im Licht wie Bernstein aussah. So hing sie in unserem kleinen Korridor. Und wir kamen, zogen an der Schnur und rissen uns ein Stückchen Plötze ab […]. Mama ging jeweils auf den Basar, um billiger einzukaufen. Weil kein Geld da war. Mama kaufte zum Beispiel die ersten grünen Äpfel. Ich mochte die sehr und aß sie […]. Wir bemühten uns, alles etwas billiger zu bekommen. Wenn Fleisch gekauft wurde, dann nur das billigste. Unser kleiner Ofen war der billigste von allen. Dann kamen die Kaninchen. Juden essen ja eigentlich keine Kaninchen, das war Tabu.115 Doch Vater arbeitete in diesem Feinkostladen […]. Kaninchen waren da schrecklich günstig. Ich erinnere mich, die zweite Sorte kostete etwa vierzig Rubel […]. Und er brachte diese Kaninchen nach Hause und Mama bereitete sie zu. Das ist doch immerhin Fleisch! Wir fingen also an, uns normal zu ernähren […]. Und wir aßen diese Kaninchen, weil Vater doch irgendwie zu Kräften kommen musste. Ohne Fleisch ging das nicht. Vater aß auch Speck, denn im Winter gab es nichts, was kalorienreicher gewesen wäre. So schnitt er sich ein Stückchen ab und aß es. Er ging jeden Freitag in die Banja. Im Stadtviertel Podol gab es eine Banja. Da ging er hin und nahm ein Dampfbad. Er liebte es schrecklich, ein Dampfbad zu nehmen und sich mit der Rute abklopfen zu lassen.116 [Die Nachbarn] gingen manchmal in die Synagoge. […] Vater ging da aber sehr selten hin. Es war nach der Revolution und wir waren eine jüngere Generation. Die antireligiöse Politik und die Propaganda spornten nicht eben zum Gang in die Synagoge an. […] Überhaupt war die Synagoge für uns kein guter Ort. […] Die Sowjetmacht wollte keine Religiosität. Verstehen Sie, die Religiosität nahm damals in der Bevölkerung nicht eben zu. Itzik Fefer war im ganzen Land bekannt, diese Gedichte von ihm.117 Lev Kvitko [auch], diese Büchlein von Kvitko. 118 Wir zündeten am Schabbat keine Kerzen an. Die Schwester meiner Mutter, die tat das […]. Aber Mutter glaubte offensichtlich daran, dass Gott auch so vergeben würde. Die Eltern erfüllten die göttlichen Weisungen, die zehn Gebote, sehr genau. Vater und Mutter betrogen einander nie, sie stahlen nie auch 115 Das Kaninchen gehört zu den unreinen Tieren, deren Genuss verboten ist. 116 Das Abklopfen mit einer Rute aus Birkenzweigen zur Anregung des Kreislaufes gehört zur Zeremonie der russischen Banja. 117 Itzig Fefer (1900–1952), jiddischer Dichter. Als linientreuer Schriftsteller war er ein Anhänger der Sowjetideologie. Dennoch fiel er dem stalinistischen Terror zum Opfer. Fefer wurde 1952 hingerichtet. 118 Vgl. zu Lejb Kvitko Anmerkung 109.

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nur eine Grosche von einem anderen Menschen und nahmen nie fremdes Eigentum an sich. Aber der Schabbat… Wahrscheinlich strengten sie sich im Geiste an, nicht allzu hart zu arbeiten. Doch Vater musste ja arbeiten gehen. Und Mutter musste das Essen auftragen. Sie waren ja Arbeiter. Also, der Schabbat wurde bei uns nicht eingehalten, uns war das nicht möglich. Vater kaufte eine Bibel mit rotem Einband und mit Illustrationen von Doré.119 Diese prächtige Bibel war in altem Hebräisch geschrieben, in Althebräisch und Altdeutsch. Das war nicht einmal Russisch. Ich wuchs mit dieser Bibel auf, denn wenn ich erkrankte… Es gab ja keine Vitamine. Also legten sie mir, wenn ich krank wurde, diese Bibel auf die Knie. Und deshalb erinnere ich mich an alle biblischen Sujets, in Dorés Darstellung. Die Illustrationen Dorés, das sind so prächtige Zeichnungen, dass sie bis heute unübertroffen sind. Später schrieb Vater sich in der Bibliothek ein und nahm Scholem Alejchem120 mit nach Hause. Ich erinnere mich noch an sein Vorlesen. Vater las vor und wir hatten alle Mühe, nicht ständig loszulachen.[…] Und mir brachten sie, weil ich besonders gut lesen und schreiben konnte, auch russische Bücher [aus der Bibliothek]. Die las ich schon selber. Ich las diese Bücher in einem Abend durch. […] Und Vater sagte: „Weißt du was, Töchterchen? Geh selber und schreib dich in die Bibliothek ein.“ […] Ich ging da hin und sie fragten mich: „Mädchen! Was sollen wir dir zum Lesen geben?“ – „Abenteuer oder Reisen.“ So las ich mich durch Magellan, und durch Jules Verne, durch all das. Einer meiner Cousins war Arbeiterkorrespondent und er wurde befördert, denn er war ein guter Arbeiterkorrespondent. Man schickte ihn zum Studium an das Institut für Journalismus. Er war sehr gut in seiner Arbeit, weil er immer Bücher las. Er liebte Bücher, las sie in Massen. Und so kam er ans Institut für Journalismus. Als er es abschloss, kam er als einer der Besten seines Jahrgangs zur Pravda.121 […] Und er bewährte sich dort bald und stieg zum Redaktionsmitglied auf. Er unterstützte uns zwar nicht finanziell, aber dank ihm hatten wir immer ein Abonnement der Pravda. Als ich klein war, bekam ich die Murzilka, und danach die Pionerskaja Pravda.122 Daran erinnere ich mich. Er versorgte uns mit ideologischer Nahrung. […] Wenn er nach Kiev kam – der wichtige Cousin 119 Gustave Doré (1832–1883), französischer Graphiker und Maler. 120 Scholem Alejchem (1859–1916), jiddischer Schriftsteller. Seine oftmals humoristischen Schilderungen des ostjüdischen Volkslebens gehören zu den Klassikern der jiddischen Literatur. 121 Pravda (Wahrheit, Gerechtigkeit), Name der Parteizeitung und offiziellen Publikationsorgans des Zentralen Komitees der Kommunistischen Partei. 122 Murzilka und Pionerskaja Pravda, sowjetische Kinder- und Jugendzeitschriften.

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von der Pravda – dann wohnte er im Astorija, im […] Hotel. Er wurde im Auto chauffiert. [Mit ihm] saß ich damals das erste Mal in einem Auto. […] Also, verstehen Sie, er bewährte sich da. Doch weil er fürchtete, nicht in die Strömung zu passen, hielt er sich zurück, uns irgendwie zu helfen. Sein Vater war ein armer Mann und es kann sein, dass ihn auch das vorwärts gebracht hatte. […] Meine Cousins und Cousinen haben sich übrigens gut eingerichtet […]. Miša, der Älteste, wurde ein erfolgreicher Ingenieur. Sema wurde Jurist und arbeitete vor dem Krieg in der diplomatischen Vertretung in China. Er war dort irgendein Funktionär. Das heißt, sie waren alle gut ausgebildet […]. Manja und Riva arbeiteten bei der Pravda. Sie hatten nicht studiert. Sie arbeiteten dort irgendwo in der Setzerei. Es gab noch eine Cousine […]. Im Krieg froren der die Hände an die Maschinenteile, die sie anfertigen musste. Und so starb sie, krank und ungebildet. Solche Leben gab es. […] Frejdl hieß diese Cousine. Möge sie in Frieden ruhen. Aber im Krieg kam ihr Foto irgendwo in die Zeitung. Denn sie war Bestarbeiterin. […] Sie drechselte unglaubliche Geräte an der Werkbank, sie war eine Bestarbeiterin. So war sie ihr ganzes Leben lang stolz auf dieses Foto. Sie war so stolz. Sie hatte ein hartes Leben, war ungebildet, stotterte, hatte einen Sprachfehler. […] Ich hielt mich selbst für sehr hässlich, bis ich erwachsen war. […] Adel war bei uns die Schönheit, sie hatte so eine europäische Statur, sie hatte schöne Haare, sie ähnelte überhaupt nicht einer Jüdin. Sie sah zart aus. Adel heiratete [einen ehemaligen Mitschüler]. Die waren irgendwann zusammen zur Schule gegangen. […] Er lernte Tischler, im Fabzavuč.123 Er war mit ihr zusammen im Fabzavuč. Er war sogar ein Jahr jünger, aber er war maßlos verliebt in sie, und sie heirateten. Und vor dem Krieg fuhren sie nach Dubna124. Er wurde dorthin versetzt. Srul hieß er im Jiddischen. Aber alle nannten ihn Sanja, in der Familie war er Sanja. […] Als der Krieg ausbrach, gab man ihm ein Auto, er sollte Frauen in Sicherheit bringen. Er war der Direktor des Offiziersclubs. Die Offiziere verstanden offensichtlich, dass er als Jude hier nicht überleben würde. Also gaben sie ihm ein Auto. Das war ein Wink […]. Also brachte er die Frauen aus Dubna in Sicherheit, an einen ungefährlichen Ort. Er brachte seine eigene Frau weg und auch andere Frauen. Doch er kehrte zurück, um zusammen mit allen anderen zu 123 Kurzform für russ. fabrično-zavodskoe učeničestvo, Nachwuchsschulung in Betriebsschulen. 124 Stadt im Moskauer Gebiet, an der Wolga.

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sterben… Solche Leute gab es. Und seine Mutter, eine alte Frau, kam in Babij Jar um […]. Adel kehrte zurück […], aber ihr Mann nicht. […] Sie bekam die Nachricht, dass er vermisst wird. Was heißt hier „vermisst“! Es war doch klar, dass er in der Westukraine getötet worden war […]. Nun, ich beendete die neunte Klasse und trat dann in die Universität ein. Vater war darüber nicht sehr erfreut. Er war damals ungefähr 65 Jahre alt und wollte, dass ich bald anfing zu arbeiten. Mutter begann Tag und Nacht zu arbeiten, als sie erfuhr, dass ich studieren will! Sie nähte. Wie sie nähen konnte! Sie war eine Künstlerin, sie legte ihre Seele in ihre Arbeiten, und nahm dafür nur Kopeken von den Leuten. Sie konnte niemanden kränken. Ihr war nicht wichtig, wer ihre Kleidungsstücke tragen würde. Wichtig war ihr, wie sie diese Meisterwerke anfertigte! […] Sie beharrte darauf, dass ich an die Universität ging. Nun, man dachte, ich würde nicht aufgenommen werden, denn damals gab es einen Numerus Clausus. Es gab einen schrecklichen Wettbewerb um die Studienplätze. Aber ich wurde aufgenommen […]. Man schaute sich vielleicht den Familiennamen [von Bewerbern für Studienplätze] an und sie wählten irgendwie aus, aber das tat man nicht so offen wie später.125 Es gab bei uns einige jüdische Mädchen. Ihre Familiennamen waren russisch. Kann sein, dass sie das alles aufgrund der Familiennamen koordinierten. Wir hatten eine Petrakovskaja im Semester, eine Okun’, eine Ušerenko… Einen Vogel gab es auch, eine Varelman war da. Das heißt, jüdische Familiennamen gab es auch. Als der Krieg begann und die Deutschen kamen, flohen wir in die Stadt Marx an der Wolga. In Marx lebten Wolgadeutsche. Das war die Wolgarepublik der Deutschen.126 […] Man brachte mich in der Firma Kommunist unter. Ich arbeitete dort und erhielt Briefe von der Familie, die in Kiev geblieben war. Mutter schrieb, dass Kiev nie deutsch werden würde. Kiev würden sie nie aufgeben und 125 Gemeint ist hier, dass vor dem Zweiten Weltkrieg die diskriminierende Berücksichtigung der Herkunft eines Bewerbers noch nicht so verbreitet war wie in den Jahren nach dem Krieg. 126 Die Stadt Marx am Unterlauf der Wolga wurde 1765 von deutschen Siedlern gegründet. Damals hieß Marx „Katharinenstadt“, zu Ehren Katharinas II, die die Siedler ins Land gerufen hatte. Zwischen 1924 und 1945 gehörte Marx zur autonomen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Nach dem Krieg wurde die Wolgadeutsche ASSR aufgelöst, nachdem die ortsansässige deutsche Bevölkerung wegen angeblicher Unterstützung der deutschen Invasoren nach Sibirien und Zentralasien deportiert worden war.

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der Krieg würde mit unserem Sieg enden. Alle würden zurückkehren und wir würden wieder zusammen sein. […] Dann kamen die Karevs aus unserem Hof nach Marx und erzählten mir, wie sie versucht hatten, Mutter und Vater zu überreden, damit sie auch fliehen. Mutter sagte nein. Und Vater auch, wegen ihr, obwohl er eigentlich fliehen wollte. Er wollte wegfahren, aber Mutter hatte nein gesagt und so blieb er. Sie kamen um. Und so auch ihre Verwandten, die in Kiev blieben. […] Fast alle kamen sie nach Babij Jar. Mutter glaubte wahrscheinlich, dass sie nicht wegfahren könne, wenn ihre Familie hier blieb. Sie hatte Verantwortung anderen gegenüber, die kann man nicht abgeben. Sie dachte wahrscheinlich, dass sie kein Recht zur Flucht habe. Mir schrieb sie in den Briefen: „Sorge dich nicht um uns, wir haben unsere Lebenszeit schon durchlebt.“ Sie war am Ende 55 Jahre alt und Vater war 67. „Wir haben unsere Zeit schon durchlebt.“ Das hat sie mir geschrieben. […] Sobald in den Zeitungen gemeldet wurde, dass es in Kiev ein Massaker gegeben hatte, verstand ich, dass sie schon nicht mehr am Leben waren. Wie konnte ich nicht verstehen, wenn geschrieben wurde, dass alle Juden abgeschlachtet worden waren? Was gab es da noch zu fragen? Wohin hätten sie auch fliehen können […]? Ich hatte damals Nachricht von Adel bekommen […], und ich fuhr zu ihr nach Novouzensk127, wohin sie geflohen war. Und dort lebte ich bei ihr […]. Ich arbeitete dort bei Zeitungen. Ich reichte einen Antrag um Aufnahme in die Armee ein. Damals nahmen sie auch Frauen in die Armee. Sie nahmen mich nicht, wegen meiner Kurzsichtigkeit. Kurz gesagt, sie nahmen mich nicht in die Armee, obwohl ich darum bat. Und danach gelangte ich von Novouzensk an die sogenannte Arbeitsfront128, nach Orsk129. Und von Orsk wurde ich nach Kzyl-Orda130 versetzt. Dort kam ich an die Universität. Ich begann 1942 zu studieren, hungrig und mit nackten Füßen, wie wir damals studierten. Das war ein Albtraum! Ich hungerte dort so, wie man sonst nur in Leningrad hungerte!131 Ich hatte gar nichts dort. Andere, 127 Stadt im Bezirk Saratov an der unteren Wolga. 128 Im Zweiten Weltkrieg wurde in der Sowjetunion – ähnlich wie im kriegführenden Nazideutschland – durch die Propaganda die Vorstellung einer Arbeitsfront verbreitet. Jeder im Land sollte für den Sieg arbeiten. 129 Stadt in Westrussland. 130 Kzyl-Orda liegt im südlichen Kasachstan und war zeitweise die Hauptstadt der kasachischen ASSR. 131 Hinweis auf die Versorgungsnot in Leningrad während der Belagerung vom September 1941 bis zum Januar 1944.

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die dort studierten, hatten Eltern, die ihnen mit irgendwelchen Lebensmitteln halfen. Und mir half niemand! Wir bekamen dort nur ein Brötchen, […] ein Brötchen und etwas Rettich. Mehr gab es nicht. Und wenn wir in die Kantine gingen, mussten wir eine Gasmaske tragen. Ich erkrankte an Gelbsucht […]. Und alle dachten schon, dass das mein Ende war, weil es nichts gab, um mich zu stärken. Aber meine Gelbsucht war nur von der leichten Art. Man musste mich mit Gemüse aufpäppeln, ich brauchte Karotten. Man bestellte mir vier Kilogramm Gemüse und bedauerte mich. Ich lag im Krankenhaus. Ich erinnere mich, wie ich einmal aus dem Krankenzimmer ging. Ich ging und ging und kam in die Leichenhalle. Ich dachte: „Hierhin führt auch mein Weg.“ […] Ich hungerte schrecklich! Es gab damals eine Studentin, die im Verkaufsstand arbeitete. Sie gab Brot aus gegen Brotmarken. Sie […] half mir: „Wenn es reicht, dann gebe ich dir jeweils die Reste, die Krümel.“ So ernährte ich mich von diesen Krümeln […]. Dann begann man, die Menschen zurück nach Hause zu schicken. […] Wir fuhren am Aralsee vorbei und da gab es Salz. Wir sammelten etwas von diesem Salz. So hatte ich ein wenig Salz in der Tasche […]. Und mit diesem Salz trieb ich zum ersten Mal Handel. Ich ging aus dem Zug, der gehalten hatte und ging zum Markt. Doch dort wollte mein Salz niemand haben. Dann hatte eine alte Frau Mitleid mit mir und gab mir ein Ei. Eines. Für diesen Krümel Salz aß ich zum ersten mal wieder ein Ei. Und als wir nach Penza132 kamen, sagte man: „In Penza, da tauschen sie gut!“ Und die Mädchen aus meinem Wagen rannten los, ihr Salz gegen Brot zu tauschen. Aber ich konnte schon nicht mehr aufstehen. Also nahm irgendwer mein Stückchen Salz, lief los und brachte mir eine Scheibe Brot dafür. In Penza aß ich nur diese eine Scheibe: Langsam, langsam. Und schließlich kamen wir nach Kiev. […] Das war irgendwann im Mai 1944 […]. Ich kam dort in ein Wohnheim […]. Ich begann, als Korrektorin für Zeitungen zu arbeiten. […] Und dazu spendeten wir viel Blut. Ich gab soviel, wie sie nur nahmen. Ich spendete oft. Damals kriegte man für die Blutspende etwas Geld oder sie gaben etwas zu essen […]. Etwas Butter, etwas Zucker, etwas Eipulver. Das half auch. Nach dem Krieg, da wollte ich weiterstudieren. Doch ich musste auch arbeiten. Also haben sie mich von der Uni ausgeschlossen. […] Und als ich dann bei Aeroflot eine Stelle bekam, mietete ich ein kleines Zimmer für mich. An der Rosa-Luxemburg-Straße, in einem prestigeträchtigen Viertel, da gab es Zimmer. […] Weil es keinen Brennstoff gab, war bei mir kein Winkel beleuchtet. […] Die 132 Russische Stadt, südöstlich von Moskau.

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Hausherren heizten bei sich irgendwie, ein kleiner Herd war bei ihnen beheizt, aber mich ließ man dort nicht hinein. Das alles wussten meine Arbeitskolleginnen und sie fingen an zu bitten, dass man mich versetzen soll, um mich vor dem Tod zu retten. Und sie gingen zum Chef der Politabteilung – ein gewisser Poterjajlo war das bei uns – und baten ihn, dass man dieses Mädchen rette, sie komme sonst um. Und er willigte ein. So kam ich an einen anderen Ort. Dann begann man, mir in einem Verlag Korrekturarbeiten zu geben und ich arbeitete dort. Da kam der Befehl, zwei Korrektoren zur Arbeit nach Deutschland zu schicken. Sie konnten aber lange keine zwei Korrektoren finden. Der eine durfte wegen des einen Paragraphen nicht fahren, der andere nicht wegen eines zweiten... Damals fand ja überall eine schreckliche Selektion statt. […] Aber mit Juden wurde das damals noch nicht so strikt gehandhabt. […] Jedenfalls wurden 1948 nach Deutschland nur sorgfältig überprüfte Menschen geschickt. Und ich schrieb an den Verlag, dass ich einverstanden sei, nach Deutschland zu fahren und in einer Druckerei, in der sowjetische Bücher gedruckt wurden, zu arbeiten. Und ich kam mit der Bobrenko nach Leipzig. Die hatte die zweite Stelle bekommen […]. Jeden, der mit den Deutschen gelebt hatte, strichen sie von der Auswahlliste. […] Schließlich wählten sie uns beide aus: die Ušerenko und die Bobrenko. Bald wurden wir von Leipzig aus weiterversetzt […]. Anfangs kam ich mit Šura Bobrenko nach Weimar, und danach wurde Šura aus Weimar nach Eisenau geschickt, und ich kam nach Erfurt. Dort arbeitete ich in einer Druckerei. Da wurden russische Bücher gedruckt. Ich erinnere mich, welche Bücher: Der Bukvar`133 und „Die Geschichte der Partei“. Ein Deutscher sagte mir einmal: „Essen bei euch die Kinder etwa diese Schulbücher?“ Es gab nämlich Millionenauflagen. Und ich sagte ihm: „Bei uns gibt es so viele Kinder, die müssen unterrichtet werden.“ […] Man druckte und druckte, druckte und druckte. Und immer diese zwei Titel: Diese Fibel und die Geschichte der Partei. Als ich nach Kiev zurückkehrte, fand ich Arbeit bei der Zeitung Komsomol’skoe Znamja134. Der Redaktor, Bystrozorov, war ein Faschist. Also fing er an, Wege zu suchen, wie er mich loswerden konnte. Ich hatte die Universität erfolgreich im Fernstudium abgeschlossen. Doch er ließ mich […] nicht in die Redaktion. […] Und als der Redaktor mir die Stelle aufkündigte, da stand ich auf der Straße. Ich möchte erzählen, wie es zu dieser Kündigung kam. Igor’ Bystrozorov war aus 133 Russ. Fibel. 134 Russ. für Das Banner des Komsomol.

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dem Zaporoger Gebiet135 gekommen. Sie nahmen ihn in die zentrale Redaktion, und er arbeitete dort. Und […] als ich ihn kennen lernte, beklagte er sich einmal bei mir, dass irgendwo irgendein Funktionär wohnt und der habe sogar ein eigenes Zimmer für seinen Hund. Aber er, Igor’, habe keine Wohnung und kein Zimmer, er wohne mit drei anderen in einem kleinen Zimmerchen. So jammerte er in meiner Gegenwart, der zukünftige Redaktor. Als er stellvertretender Redaktor und später Redaktor wurde, da konnte er es sich wohl nicht verzeihen, dass er sich bei mir ausgeweint hatte. Und ich war damals ohne Wohnung und ging zu ihm, um ihn zu fragen, ob sie mich in eine Warteliste für eine Wohnung aufnähmen. Da erinnerte er sich wahrscheinlich an alles. Als sich in der Zeitung irgendein Fehler einschlich, gab er mir die Schuld dafür und feuerte mich. Später stellte sich dann heraus, dass an diesem Fehler nicht ich schuld gewesen war. Als ich zu Bystrozorov ins Büro kam, rief er noch irgendeinen Korrespondenten hinzu und im Beisein dieses Korrespondenten lief das Kündigungsgespräch: „Verstehen Sie, Igor’, was Sie mir antun? Man wird mir nirgendwo mehr Arbeit geben.“ Das war in dem Jahr, als die Kosmopoliten…136 Er lächelte und sagte: „Sie können doch zwei Sprachen, sie können zu jeder Zeitung: Sie können sowohl in einer russischsprachigen als auch in einer ukrainischsprachigen Zeitung arbeiten. Sie haben in einer Druckerei gearbeitet. Ich sage: „Aber ich brauche doch eine Wohnung.“ Er antwortet mir: „Nicht alle können in Kiev leben.“137 Er konnte aus dem Zaporoger Gebiet hierher kommen, aber ich als gebürtige Kieverin sollte meine Heimatstadt verlassen? […] Ich erinnere mich an den Tod Stalins 1953. Auf der Arbeit gab es bei uns eine Trauerzeremonie und alle versammelten sich im Saal. Die Leute weinten, vielen schien es, als sei das Ende der Welt gekommen. Alle trugen eine Trauerbinde am Ärmel. Wir wussten nicht, dass wir so weiterleben würden wie bisher. Ich fand dann wieder Arbeit bei einer Zeitschrift. Der Chefredaktor war Dmitruk, ein ehemaliger Mitschüler. Im Zentralkomitee der Partei sagten sie zu Dmitruk: „Du hast da eine Synagoge eingerichtet. In der Redaktion gibt es zu 135 Region im Südosten der Ukraine, am Unterlauf des Dnjepr. 136 Gemeint ist hier die antisemitische Kampagne gegen „Kosmopolitismus und Zionismus“ von 1953. Die dabei von den Obrigkeiten angefachte antijüdische Stimmung verbreitete sich auch in der Bevölkerung und der ungerechten Behandlung von Juden war im Alltag Tür und Tor geöffnet. In vielen biographischen Quellen wird von ähnlichen Vorkommnissen wie der persönlichen „Abrechnung“ des Redaktors mit seiner jüdischen Mitarbeiterin berichtet. 137 Das Anrecht auf eine Wohnung war an eine Anstellung gebunden.

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viele jüdische Namen.“ So entschied Dmitruk, mich zu entlassen […]. Ich suchte dann eine andere Arbeit, und man nahm mich im Studio für populärwissenschaftliche Filme. Ich spielte dort kleine Rollen und schrieb Szenarien […]. So habe ich damals mein Geld verdient. Bald fing ich an, [im Fernsehen] zu sprechen. Dann ging ich in Pension. Ich beschäftigte mich noch mit Übersetzungen, und meine Erzählungen wurden in der Ukrajina und im Vsesvit gedruckt.138 Ich verdiente mein Geld, wie ich konnte, und dann ging ich in Rente. Sollte ich nach Deutschland ausreisen? Deutsch sprechen? Kategorisch nein! Ich will auch das Jiddische nicht lernen, weil es mich ans Deutsche erinnert. Das will ich nicht! Nach Deutschland will ich nicht. Sogar wenn mir der Taj Mahal aus Indien geschenkt würde und man mir sagen würden: „Er gehört dir!“ Ich bräuchte auch dann dieses Deutschland nicht! Davon kann gar keine Rede sein. […] Als ich nach dem Krieg als Siegerin in Deutschland war, [ging es mir da schlecht], ich brauchte diese materiellen Güter nicht. Wir sind nicht miteinander vereinbar, dieses Land und ich. […] Und jetzt mit ausgestreckter Hand dorthin fahren… Nein! Auch davon kann keine Rede sein. Kanada? […] Aber ich wäre dort ja ein Niemand. Verstehen sie, dort nehmen sie keine nichterwerbstätigen Familienangehörigen auf. Die Kanadier sind Prachtkerle! Die nehmen sich keine Nichtverdiener wie in Amerika. Nach Amerika hätte ich seinerzeit fahren können, aber ich sagte meinen Cousins und Cousinen: „Ihr habt Kinder, fahrt dorthin für deren Zukunft. Aber ich […], ich sterbe hier nicht vor Hunger, ich habe hier ein Dach über dem Kopf und bin eingekleidet.“ Da ich fast blind bin, hilft mir der Chesed139 mit Hörbüchern, sie haben da eine wunderbare Bibliothek mit Hörbüchern. Ich hörte mich durch die ganze Geschichte des jüdischen Volkes. Ich erfuhr, woher die Juden kommen und was das ist, ein Jude. Ich erfuhr, was für Menschen das sind, die Juden, und ich begriff, dass wir stolz sein müssen auf unser Volk. […] Dank unserem Volk existiert das Land Israel. Es kämpfte 1948, als der Staat Israel gegründet wurde. Sie wurden von allen Seiten angegriffen. Man kann sagen, sie wehrten die Angriffe aller Araber ab. Mögen mir meine sowjetischen Genossen verzeihen, denn das waren dort russische Flugzeuge, sowjetische, die gegen Israel flogen! Und die heldenhaften Israelis wehrten alle Angriffe ab und gingen als Sieger hervor. Und 138 Dies sind ukrainischsprachige Zeitschriften. 139 Internationale jüdische Wohltätigkeitsorganisation.

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sie waren an den Wällen Kairos, an den Wällen von Damaskus! Das sind Helden! […] Lasst sie in Ruhe leben, lasst sie in Ruhe. Sie brachten ja die Wissenschaft voran und die Kultur. Es kommt ja alles Know-How aus Jerusalem, aus Tel-Aviv. Alles ist dort fortschrittlich. Sie kamen voran, ein so kleines Land! Diese ganzen fünfzig Jahre taten die Juden alles, um nicht die Letzten zu sein. Ich träumte davon, nach Israel zu fahren und dort zu sterben. Jetzt ist es dafür zu spät. Denn eine alte Frau von achtzig Jahren, das wäre ein schlechtes Geschenk für Israel, weil man für mich dort noch Geld ausgeben müsste. Ich träumte davon, meinen Lebensabend im heiligen Land zu verbringen. Ich träumte sogar davon, jenes Land zu verbessern! […] Doch jetzt würde ich sie in Unkosten stürzen. Für mich gäbe es nur Aufwand. Ich kann ja nichts mehr einbringen in diesem Land. Mit nichts kann ich mehr helfen. Aber ich bin eine israelische Patriotin […]. Wie ich mir wünsche, dass die Ukraine blühend gedeihe – es ist ja mein Land, meine Sprache – so wünsche ich mir zehnmal mehr, dass Israel blühend gedeiht. Ich habe dort entfernte Verwandte. Dort wohnen die Enkel der Schwester meiner Mutter. Sie führen alle Mischehen. Aber zwei Enkel dienen in der Armee und sie schützen dort das israelische Land, diese halbrussischen Knaben. Ich kann nur stolz sein auf meine Verwandtschaft. Wir haben keine Gauner, keine Verräter… Die Sowjetzeit war voller Spitzel, Schwätzer und Henker. Wir haben weder Henker in der Verwandtschaft noch Spitzel. Nun, vielleicht kann man mich zu den Schwätzern zählen? Ich habe mich schon lange nicht mehr so mit Menschen unterhalten und dabei so viel erzählt. Jetzt, da ich Ihnen alles erzählt habe, werde ich ruhiger sein.

3.  Friedrich Valler – „Da lernte ich, dass es unanständig und schlecht ist, ein Jude zu sein.“

Friedrich Valler, Tallinn 2004.

„Zuhause war ich in einer ziemlich schwierigen Situation“, sagt der 1926 in der weißrussischen Kleinstadt Rečica geborene Meteorologe Friedrich Valler zu Beginn seiner Lebensgeschichte. „Mutter war Atheistin; sie akzeptierte keine Religion. Doch die Großmutter war gläubig. Sie zündete freitags Kerzen an, wie es sich für gläubige Juden gehört, und sie führte mich in die Synagoge. Und meine Position zwischen den beiden war ziemlich schwierig.“ Später beschreibt Friedrich Valler, wie die jüdische Traditionskette in seiner Familie während der Sowjetzeit abbrach. Mit dem Ableben der religiös geprägten Großeltern habe es in der Familie niemanden mehr gegeben, der die Traditionen weiterführte. Die weltanschaulichen Umbrüche zwischen den vorrevolutionär geprägten Generationen und ihren Kindern, die schon eine sowjetische Sozialisation durchliefen, sind ein wichtiges Thema in dieser Lebensgeschichte. Friedrich Valler erzählt

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von seinem Großvater, der noch eine Jeschiwa besucht und als Zwischenhändler gearbeitet hat, einer traditionellen beruflichen Tätigkeit der Juden im östlichen Europa. Ein Urgroßvater hat den Beruf des Sofer, des Tora-Schreibers, ausgeübt. Die Generation der Eltern hingegen neigte der Sozialdemokratie und später dem Sozialismus zu. Friedrich Vallers Vater war ein Jude aus Polen, der sich den Kommunisten anschloss. Die Mutter arbeitete als Schneiderin und war ebenfalls schon früh in der revolutionären Bewegung aktiv. Die politische Orientierung der Eltern hat auch die Namenswahl für das Kind beeinflusst: Friedrich Valler erhielt seinen Vornamen zu Ehren von Friedrich Engels. Auf seine Kindheit zurückblickend, erzählt er von seiner Geburtstadt Rečica, die in den zwanziger Jahren noch stark durch die jüdische, meist seit vielen Generationen im Handwerk tätige, Bevölkerung geprägt gewesen sei. Zugleich erinnert sich Herr Valler an den rasanten Wandel dieser traditionellen Lebenswelt. Als äußeres Zeichen für die sowjetischen Übergriffe auf das Schtetl erschien ihm die Umbenennung der Straße, in der das Haus seiner Eltern stand; aus der „Schustergasse“ wurde die „Proletarskaja“. Die lebensweltlichen Umbrüche im Zuge der Etablierung des sowjetischen Systems sind ein Thema, zu dem Herr Valler immer wieder zurückkehrt. Bei der Schilderung seiner weitverzweigten Familie entwirft er ein gesellschaftliches Panorama der sowjetischen Judenheit in der Frühphase der Geschichte der Sowjetunion. Seine nahen und entfernteren Verwandten seien ganz unterschiedliche politische Wege gegangen. Vom religiösen Dissens im Untergrund, über das Engagement bei den Menschewisten bis hin zur regulären bolschewistischen Parteikarriere werden in dieser Familiengeschichte verschiedene – und verschieden erfolgreiche – Lebensentwürfe beschrieben. Rečica gehörte zu jenen sowjetischen Gebieten, die 1941 von der deutschen Invasion erreicht wurden. Kurz nach Kriegsausbruch wurde die Familie evakuiert. Nach einer langen Flucht überlebte sie den Krieg schließlich in Kasachstan. Doch viele Angehörige wurden von den deutschen Besatzern umgebracht. Herr Valler, der für den Einsatz an der Front noch zu jung gewesen war, leistete seinen zweijährigen Militärdienst in der unmittelbaren Nachkriegszeit. 1948 begann er das Studium am Leningrader hydrometeorologischen Institut, nach dessen Abschluss er eine Arbeitsstelle in einer Messstation im dagestanischen Machačkala zugewiesen bekam. Später hatte er leitende Stellungen an verschiedenen meteorologischen Stationen in der Sowjetunion inne, zuletzt in Astrachan, an der Wolgamündung ins Kaspische Meer. Herr Valler erzählt seine Lebensgeschichte auch als Migrationsbiographie.140 140 Das Motiv der Migration in sowjetisch-jüdischen Lebensgeschichten stellt ein interessantes Thema für weiterführende Forschungen dar. Die mannigfachen Ortswechsel wer-

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Einen Fokus der autobiographischen Reflexion stellt das Thema des Antisemitismus dar. Die Judenfeindschaft wird hier als eine biographieprägende Kraft beschrieben, mit der zu rechnen ist. Sie tritt in der Erzählung an einem bestimmten Punkt in Friedrich Vallers Leben und ist seither nicht mehr wegzudenken. Die Erkenntnis, dass die Umwelt durch einen intrinsischen Antisemitismus geprägt ist, wird als ein „Erwachen“ dargestellt. Die persönliche Erfahrung von Diskriminierungen habe Friedrich Valler die Augen geöffnet für die antisemitische Grunddisposition der Umwelt. Eine Erinnerung an die Evakuation im Zweiten Weltkrieg mag dafür als Beispiel dienen: Man brachte uns über Rostov na Donu141 in den nördlichen Kaukasus, in die Stadt Podgornyj. Dort lebten Kosaken. Da bin ich zum ersten Mal mit Antisemitismus in Berührung gekommen. […] Man muss nämlich erwähnen, dass unter den Evakuierten die Juden die Mehrheit darstellten. Als die Bewohner von Podgornyj dahinterkamen, dass wir mehrheitlich Juden sind, da lernte ich, dass es unanständig und […] schlecht ist, ein Jude zu sein. Dass die Juden ein Volk zweiter Klasse sind.142

Dies ist eine der wenigen Stellen, in denen Herr Valler Reflexionen über die eigenen Prägungen anstellte. Ansonsten sind seine Ausführungen recht sachlich, gleichsam mit Distanz zur eigenen Person, gehalten. Es dominiert eine faktenorientierte und präzise Erzählweise, die sich etwa im sorgfältigen Umgang mit Jahreszahlen und Ortsnamen ausdrückt. Auch Herrn Vallers große Belesenheit in der historischer Literatur prägt die Darstellung seiner Lebensgeschichte, die er in größeren politik- und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen verortet. Lebensgeschichte Ich heiße Friedrich Valler und bin am 1. Januar 1926 in einem Städtchen namens Rečica zur Welt gekommen. Rečica liegt auf dem rechten, hohen Ufer des Flusses Dnjepr. Eigentlich ist das so ein Schtetl, worüber ja diejenigen, die den in vielen autobiographischen Erzählungen als prägende und für sowjetische Biographien typische Erfahrungen dargestellt. Dazu gehörten etwa die oft in den zwanziger und dreißiger Jahren erfolgende Migration vom Schtetl in die (Groß-)Stadt, dann die Flucht und Evakuation im Zweiten Weltkrieg und schließlich die sich nach planwirtschaftlichen und administrativen Vorgaben richtende Arbeitsmigration. 141 Industrie- und Hafenstadt am Don, unweit der Mündung ins Asowsche Meer. 142 Antisemitismus wird in dieser Lebensgeschichte nicht allein mit der besonderen sozialen Gruppe der Kosaken in Verbindung gebracht, sondern als ein generelles Merkmal der sowjetischen Gesellschaft beschrieben. Vgl. die Seiten 46–48.

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sich mit der Geschichte der Ostjuden beschäftigt haben, so viel geschrieben haben. Der größte Teil der Einwohnerschaft waren Juden, die unterschiedliche Berufe ausübten. Vor allem gab es da viele jüdische Schneider, Schuster, Tischler und Kürschner. Und die Straße, in der ich in meiner Kindheit wohnte, hieß „Schustergasse“ und es gab dort wirklich viele Schuster. Ich lebte bei meiner Großmutter von der mütterlichen Seite. Wir waren ziemlich arme Leute. Die Familie war ziemlich arm, obwohl wir einen kleinen Stand vor dem Haus hatten, wo wir irgendetwas verkauften. Ich erinnere mich, an diesem Stand gab es Federhalter zu kaufen. Das war so ein kleines Ding, am Ende ließ sich eine Feder hineinschieben. Aus Metall war das. Außerdem verdiente  mein Großvater – er hieß Vulf Malenkovič – sein Geld damit,  dass er durch die Dörfer fuhr und bei den ortsansässigen Jägern Tierfelle aufkaufte. Es gab dort bei uns in den Wäldern Eichhörnchen und Füchse und sogar Bären. Diese Felle brachte er dann nach Rečica und verkaufte sie zur Weiterverarbeitung an Kürschner. Wir lebten ziemlich arm, obwohl viele denken, dass das reiche Leute sein müssen, wenn ein Verkaufsstand vor dem Haus steht. Aber das stimmt nicht.  […] Meine Mutter wurde mit 13 Jahren in die Schneiderlehre gegeben. Sie ging nur sehr kurz zur Schule und ihr ganzes Leben lang konnte sie das Russische nur fehlerhaft schreiben. Und das Jiddische konnte sie auch praktisch nicht schreiben, obwohl sie es natürlich sprach. Jiddisch war überhaupt die Umgangssprache bei uns, in unserer Stadt. Die Juden hier sprachen vor allem jiddisch. Der Großvater ist ebenfalls in so einem Schtetl zur Welt gekommen. […] Sein Vater war Schneider, er schneiderte für die Familie  eines Gutsbesitzers. Dieses Dorf, [in dem sie lebten], das gibt es noch heute in der Gegend  von Gomel.143 Damals gab es noch keine Nähmaschinen, auf alle Fälle nicht in unseren Breitengraden, und er nähte von Hand. Alles, was die Familie des Gutsbesitzers benötigte, nähte er. Der Urgroßvater war zweimal verheiratet. Als die erste Frau starb, heiratete er die zweite. Doch mein Großvater war aus der ersten Ehe. Und aus der zweiten Ehe seines Vaters hatte er viele Stiefbrüder und Stiefschwestern. Überhaupt war das eine große Familie. Obwohl sie recht arm waren, hat Großvater die Jeschiwa von Gomel besucht. Eine Jeschiwa, das ist eine geistliche Lehranstalt,  die die Kultdiener ausbildete. Er schloss die Jeschiwa mit Erfolg ab, aber Rabbiner ist er nicht geworden. Wie meine Mutter erzählte, hatte er keine Stiefel. Und was ist ein Rabbiner ohne Stiefel! 143 Gomel, Stadt im Südosten Weißrusslands, die bis zum Zweiten Weltkrieg einen bedeutenden jüdischen Bevölkerungsanteil hatte.

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Nach Abschluss der Jeschiwa zog er nach Rečica und dort heiratete er meine Großmutter. Die hieß Nechama. Nechama – im Hebräischen bedeutet das „Trost“. Ihr Vater war ein Sofer, das ist ein jüdischer Beruf. Das war ein Schreiber. Der schrieb heilige Texte. Die Juden verlesen ja bis heute in den Synagogen nicht gedruckte Bücher, sondern handgeschriebene Torarollen. Eine große Torarolle wird auseinandergerollt und daraus wird der handgeschriebene Text verlesen. Er hat wohl nicht schlecht verdient, denn auch heute noch kostet es 20  000 Euro, eine Tora abschreiben zu lassen. […] Anscheinend hat er nicht schlecht verdient, denn er konnte seiner Tochter, meiner Großmutter, eine Mitgift geben, so dass es reichte, ein Haus zu kaufen. […] In diesem Haus, das nicht allzu groß und nicht allzu schön war, habe ich meine Kindheit verbracht. Vor dem Haus  gab es, wenn es geregnet hatte, immer eine große Pfütze. Man hat versucht, sie zuzuschütten, aber es gelang nicht. Immer war nach dem Regen die Pfütze da. Mein  Großvater starb früh, im Jahr 1915. Sein Geburtsjahr war ungefähr 1860. Er starb an Leberkrebs. Großmutter fuhr mit ihm nach Kiev ins Krankenhaus. Kiev war vergleichsweise nahe. Auf dem Dnjepr fuhren Dampfer hinunter nach Kiev. Nach Großvaters Tod verschlechterte sich die Lage der Familie natürlich. Er war schließlich der Haupternährer gewesen. […] Ich habe keine Erinnerungen an ihn, denn ich bin ja erst elf Jahre nach seinem Tod zur Welt gekommen. Doch Mutter erzählte mir, dass er ein sehr religiöser Mensch gewesen war. Bei uns zuhause gab es sehr viele religiöse Bücher. Nicht nur die Bibel, die Tora, aber auch den Talmud. Es gab ungefähr 30 Bücher bei uns, die der jüdischen Religion geweiht waren. Zum Haus gehörte ein Garten,  ein ziemlich großer. Großmutter und die Kinder haben dort immer etwas angebaut, überwiegend Kartoffeln. Weißrussland ist überhaupt eine Kartoffelrepublik, dort pflanzt man viele Kartoffeln und es werden viele Gerichte aus Kartoffeln gekocht. Außerdem gehörte zum Haus eine Scheune. Dort hatten wir eine Kuh […]. Großvater und Großmutter hatten acht Kinder. Vier Jungen und vier Mädchen. Nun, man kann sagen, dass diese acht Kinder gewissermaßen das ganze politische Spektrum des zarischen Russland in der Zeit vor der Revolution repräsentierten. Der älteste Sohn hieß Israel. Er besuchte die Jeschiwa von Gomel und arbeitete dann als Melamed144 im Cheder.145 Nun, als die Sowjets an die 144 Hebr. Lehrer. 145 Cheder, traditionelle jüdische Erziehungsanstalt, in die die Knaben meist im Alter von 4 Jahren eintraten. Hier fand die religiös geprägte Erziehung statt.

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Macht kamen, wurden all diese religiösen Schulen geschlossen. Doch Onkel Israel führte eine Zeit lang einen Cheder im Untergrund weiter. Das heißt, die Jungen kamen zu ihm nach Hause und er hat sie unterrichtet, heimlich. Die Obrigkeiten wussten davon nicht. Man lernte da Hebräisch […] und las die Bibel. Aber später wurde es dann schwierig. Die Regierung kam dahinter und […] er musste diesen Unterricht einstellen. Er machte danach eine Ausbildung zum Buchhalter und arbeitete im Sozialwesen. Später wurde er dann ein leidenschaftlicher Zionist. […] Die Älteste der Mädchen hieß Chalja Sara. Sie heiratete einen Tischler, der Sozialdemokrat war. Er war Mitglied in der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Nach der Aufspaltung dieser Partei in Bolschewisten und Menschewisten, hat er sich den Menschewisten angeschlossen. Das war 1903. Er saß zu Zeiten des Zarenreiches im Gefängnis in Minsk, wegen so einer revolutionären Idee […]. Er trat dann nach der Revolution in eine Artel146 ein, in eine Tischlerartel. […] Dort war er Vorsitzender des lokalen Komitees. Das heißt, er erfreute sich großen Ansehens.  Im Jahre 1937, als die Ežovščina147 begann, […] wurden Millionen von Juden verhaftet. Viele wurden erschossen, viele wurden deportiert. Nun, diesem Onkel von mir wurde vorgeworfen, dass er Menschewist war und man steckte ihn ins Gefängnis in Gomel. Er saß ein ganzes Jahr und man versuchte, ein Geständnis aus ihm herauszuprügeln. Er sollte zugeben, dass er eine menschewistische Untergrundorganisation gegründet hatte, was natürlich Unsinn war. Es gab da gar keine  Organisation, alles war von A bis Z fingiert. Doch mein Onkel hatte Glück. Stalin hat Ežov erschiessen lassen, und mein Onkel wurde aus dem Gefängnis entlassen. Doch man hatte ihn da gefoltert. Man hatte ihn gezwungen, auf einem umgekehrten Schemel zu sitzen, man folterte ihn psychisch und körperlich. Später arbeitete er dann wieder als Tischler und im Krieg wurde er nach Mittelasien evakuiert, nach Taschkent. Dort starb er dann auch. Dann gab es eine Tante, die hieß Pesja Leja. Sie heiratete einen Mann namens Rubinskij, Aron Rubinskij. Er war ein Taugenichts. Sie zog zu ihm in ein Schtetl, das heute auch im Bezirk Gomel liegt. Ich weiß gar nicht recht, was der gearbeitet hat. Er arbeitete wohl als Wachmann […].

146 Russ. Genossenschaft. 147 Nikolaj Ežov (1895–1939), seit 1936 Leiter des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes. In der Ežovzeit (Ežovščina) erreichte der stalinistische Massenterror einen Höhepunkt. 1940 wurde Ežov selbst ein Opfer des Terrors und hingerichtet.

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Von den anderen Geschwistern meiner Mutter sollte man auch Zachar erwähnen. Zachar Malenkovič. Die Juden nannten ihn Šarja. Er hat im Ersten Weltkrieg an der Front gekämpft. Und er hat die Bolschewisten kennengelernt und schloss sich ihnen an. […] Dann kämpfte er im Bürgerkrieg auf der Seite der Roten und wurde verletzt […]. Später ging er nach Moskau und studierte dort an einer Akademie, wo die Elite der sowjetischen Industrie ausgebildet wurde. Allilueva, die Frau Stalins, war mit ihm im Semester.148 Zunächst wusste er nicht, dass das die Frau Stalins war, doch später erfuhr er es dann. Stalin selbst hielt Vorlesungen an dieser Akademie. Zachar erzählte mir, Stalin habe damals einen fürchterlichen Akzent gehabt. Später konnte er dann besser russisch, doch damals war er schwer zu verstehen […]. Onkel Zachar arbeitete nach der Akademie in Moskau, im Apparat des Zentralkomitees der Partei.  Dort traf er Molotov149 und viele andere Führer des Landes. Er war Beamter im Parteiapparat. Später leitete er das Volkskommissariat für Holzindustrie. […] Das war ein hohes Amt. 1941, als der Krieg ausbrach, trat Zachar freiwillig in die Armee ein, obwohl er eigentlich vom Militärdienst befreit war. Er trat „um des Volkes willen“150 ein, wie es damals hieß. […] Er wurde zum Batallionskommandanten ernannt. Sie kämpften  bei Moskau und im Jahre 1942 gerieten sie in Umzingelung. Und er wurde verwundet und konnte die Umzingelung nicht durchbrechen. Er hat sich dort erschossen. […] Es wurden damals von der Regierung Erinnerungsbücher zum Großen Vaterländischen Krieg veröffentlicht. Dort ist er aufgeführt, in so einem Erinnerungsbuch. Zachar […] bekam kein offizielles Begräbnis, weil er dort bei Moskau irgendwo in den Wäldern verschollen war. Doch bekam seine Tochter ein Stipendium, weil sie einen Vater hatte, der im Krieg fiel […]. Dann gab es einen Onkel Isaak […]. Er kämpfte ebenfalls im Ersten Weltkrieg. In den Karpaten, gegen die Österreicher. Dort holte er sich Erfrierungen an den Zehen. […] Nach dem Krieg machte er eine Ausbildung zum Schuhmacher und arbeitete als Schuhmacher […]. Isaak, seine Familie und auch die Familie von Israel wurden im September des Jahres 1941 in Rečica von den deutschen Besatzern erschossen […]. Meine Mutter hatte noch eine Schwester: Emma. […] Die hat, zieht man die damaligen Verhältnisse in Betracht, eine recht singuläre Tat begangen: Sie 148 Nadežda Allilueva (1901–1932), Stalins zweite Ehefrau. 149 Vjačeslav Molotov (eigentlich Skrjabin, 1890–1986), führender Politiker aus dem engsten Kreis um Stalin. Zeitweise fungierte er als Stalins Stellvertreter. 150 Im russ. Original: v narodnoe polučenie.

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heiratete nämlich keinen Juden, sondern einen Donkosaken. Das war ziemlich seltsam, sogar exotisch. Denn wie kommt ein Donkosake nach Rečica? Dieser Donkosake, Pavel Semënovič Sveridov, kämpfte im Bürgerkrieg unter Budënyj.151 Und als Sekretär der Bezirkspartei wurde er dann in unsere Stadt, nach Rečica, geschickt. Dort lernte er Emma kennen. Nach der Heirat zogen sie nach Leningrad, dort studierten sie beide an der Arbeiterfakultät. Dann wurde er nach Kasachstan versetzt, wo er unter einen Traktor kam und starb. Solche Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden waren damals eine  ziemlich seltene Erscheinung. Später, in den 30ern, in den Vierzigern und nach dem Krieg wurden sie dann zur Epidemie, diese Mischehen. Dann war da meine Mutter. Sie schloss sich der revolutionären Bewegung an. Das war, als sie noch zur Schule ging. Sie war in einer Genossenschaft von Schneidern […] und trat dann dem Bund152 bei. Und im Jahre 1920, nach der Auflösung des Bundes, ist sie in die weißrussische KP eingetreten. […] Sie kam dann nach Minsk, wo sie an der Arbeiterfakultät studierte. […] Dort lernte sie meinen Vater kennen. Er hieß Iosif und sie heiratete ihn. […] In Minsk arbeitete meine Mutter in einer Gewerkschaft, sie war Funktionärin in der Gewerkschaft der Schneider. […] Nach dem Abschluss der Arbeiterfakultät […] wurde sie zur Vorsitzenden der Schneidergenossenschaft in Rečica gewählt. Das war eine ziemlich große Organisation. Man muss auch sagen, dass sie mit meinem Vater keine sehr glückliche Ehe führte. Sie ließen sich scheiden, als ich gerade mal zwei Jahre alt war. Doch ich kenne meinen Vater, er kam vor dem Zweiten Weltkrieg in unregelmäßigen Abständen zu uns nach Rečica. Ich hatte eine Zeit lang Briefkontakt mit ihm. […] Seine Eltern stammten aus Polen. […] Ich habe einen deutschen Namen, ich heiße Friedrich. Das hat nichts damit zu tun, dass wir deutsche Wurzeln hätten, sondern damit, dass meine Eltern Kommunisten waren, Marxisten. Und sie fanden, dass ich entweder zu Ehren von Karl Marx oder zu Ehren von Friedrich Engels benannt werden müsse. Die Klassiker des Marxismus. Sie wählten den Namen Friedrich. Hier, in Deutschland, ist mein Name allen vertraut. Doch damals, in der Sowjetunion musste ich jedes Mal erklären, warum ich ein Friedrich bin. In der Armee nannte man mich Fëdor, nach russischer Art (lacht). 151 Semen Budënyj (1883–1973) stand im russischen Bürgerkrieg zwischen 1918 und 1920 an der Spitze einer Reiterarmee der Bolschewisten. 152 Der Bund (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland) war die erste jüdische Arbeiterpartei. Der „Bund“ wurde 1897 in Wilna gegründet. In den später zur Sowjetunion gehörenden Gebieten ging er 1920 in der Kommunistischen Partei auf. Nicht alle Mitglieder folgten allerdings diesem Schritt.

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Als der Krieg ausbrach, war ich gerade im Pionierlager. Überhaupt fuhr ich jedes Jahr ins Pionierlager. Zuerst verheimlichte uns die Lagerleitung, dass ein Krieg ausgebrochen war. Wir wussten es also nicht. Dann sagten sie es den älteren Komsomolzen, den älteren Jungs. Na ja, und die erzählten es dann uns. Ich erinnere mich, ich war sehr überrascht, dass unsere Armee sich zurückdrängen ließ, denn vor dem Krieg war bei uns sehr aktiv Propaganda betrieben worden. Dort hieß es, dass die rote Armee sehr stark ist und dass sie sich selbstverständlich niemals zurückziehen wird. Ich denke, es war 1938, als Vorošilov153 Volkskommissar war und er auf der Ratssitzung auftrat, um anzukündigen, dass „wir den Feind mit kleinem Blutzoll auf seinem eigenen Territorium“ besiegen werden. Da schien es dann paradox, als sich unsere Armee zurückzuziehen begann. Ich war die ganze Zeit über sicher, dass bald, bald, […] ein Gegenangriff beginnen würde. Doch wir warteten vergebens. Bald brachte man uns auf ein Schiff und wir wurden schnell nach Hause zu unseren Familien gebracht, denn die Deutschen näherten sich dem Pionierlager […]. Über uns flogen schon deutsche Flugzeuge. Offenbar Aufklärungsflieger. Dann wurden wir nach Kiev gebracht. In Kiev hat man uns auf ein großes Schiff gebracht. Wir fuhren auf diesem Schiff bis Dnjepropetrovsk.154 Dort gab man uns […], ich erinnere mich, umsonst Zucker, was irgendwie seltsam war. In  Dnjepropetrovsk kamen wir in einen Zug. Die Waggons hatten keine Dächer. Das waren Kohlezüge. Wenn es regnete, war es furchtbar schmutzig, denn diese Waggons waren nicht ausgewaschen […]. Alle wurden wir ganz schön eingeschmiert. Man brachte uns über Rostov na Donu155 in den nördlichen Kaukasus, in die Stadt Podgornyj. Dort lebten Kosaken. […] Ich arbeitete dort in einer Kolchose. […] Dann ging ich auch zur Schule in Podgornyj, in die achte Klasse. Danach beschlossen wir, wegzufahren, denn […] die Deutschen besetzten Rostov na Donu. Das war schon ziemlich in der Nähe von Podgornyj, wo wir uns aufhielten. Wir erhielten einen Fahrschein und fuhren nach Machačkala.156 Dort kamen wir auf eine Warteliste und mussten zwei oder drei Wochen warten, bis wir 153 Kliment Vorošilov (1881–1969), führender sowjetischer Politiker und Militär. Im Krieg war er Oberbefehlshaber an der sowjetischen Nordfront und später Organisator der sowjetischen Partisanenverbände. 154 Industriestadt am unteren Dnjepr (Ukraine). 155 Vgl. FN 141. 156 Machačkala, zu Sowjetzeiten die Hauptstadt der dagestanischen ASSR, heute Hauptstadt der zu Russland gehörigen Republik Dagestan.

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auf ein Schiff durften. Ein Tanker nahm uns dann, ein großes Schiff. Doch Erdöl gab es dort keines, denn das Schiff war ausgewaschen. […] Wir überquerten das Kaspische Meer und kamen nach Krasnovodsk.  Das war in Turkmenistan. Heute heißt Krasnovodsk Türkmenbaşi.157 Und von dort fuhren wir mit dem Zug durch ganz Zentralasien und kamen nach Taschkent. Von dort ging es weiter in die Stadt Ust-Kamenogorsk […].158 Ich beendete dort die achte und die neunte Klasse. Mama ging sofort arbeiten. Sie arbeitete in einer Schneiderwerkstatt. Daneben war sie auch Sekretärin einer Parteiorganisation. […] Wir hatten Hunger. Für alles brauchte man Karten, alles war sehr schwierig zu  beschaffen. Vor allem Nahrungsmittel. Und in den Schulen gab man den Kindern immerhin zu essen. Das war einer der Gründe, warum ich in eine Militärschule kam. Außerdem konnte ich hier eine mittlere Schulbildung erhalten. In den gewöhnlichen Schulen ließ man uns damals im Krieg nicht einmal das zehnte Schuljahr beenden. Diese Militärschule besuchte ich ein Jahr lang. Dort bekam ich den Antisemitismus zu spüren.  Es war Krieg, eine schwierige Zeit. Es herrschte Hunger. Die Menschen suchten jemanden, an dem sie ihre Wut rauslassen konnten. Und sie fanden jemanden. Die Juden nämlich! Die sind anders. Die sprechen auch anders. Sie kleiden sich anders, sie essen anders. Und so weiter, und so weiter. Gründe konnte man immer viele finden, wenn man wollte. Während des Krieges ist in der Sowjetunion der Antisemitismus aufgeblüht. Als habe er sich zuvor in den Tiefen der menschlichen Seele verborgen. Die Ärzte sagen, dass in jedem Menschen die Tuberkuloseerkrankung angelegt ist. Bei weitem nicht alle erkranken aber tatsächlich. Solange der Mensch normal leben kann, sich normal ernähren kann und etwas anzuziehen hat, wird er nicht an der Tuberkulose erkranken. Er wird sein ganzes Leben leben, ohne zu wissen, was das ist, die Tuberkulose. Doch es genügt, dass sich die Umstände verschlechtern, dass es zu Stress kommt, zu Unterernährung, Schlafmangel oder Kälte – dann lässt die Tuberkulose von sich hören.  So war es auch mit dem Antisemitismus. Solange es keinen Krieg gab, solange alles friedlich war, habe ich den Antisemitismus nicht gespürt. Ich denke, dass es vor dem Krieg in der Sowjetunion sehr wenig Antisemitismus gab. Doch dann kommt der Krieg, kommen Verluste, kommt die Kälte, der Hunger und die Unzufriedenheit… Und wer ist schuld? Na klar doch: Die Juden! Und schon 157 Türkmenbaşi, Stadt an der kaspischen Küste Turkmenistans. Das frühere Krasnovodsk gehörte zur turkmenischen SSR. 158 Ust-Kamenogorsk, heute Öskemen, Stadt im Osten Kasachstans.

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hat man jemanden, dem man, wie man so sagt, „die Schuld in die Schuhe schieben“ kann. Es war ja verboten, zu sagen, dass Stalin schuld war. Da konnte es einem schlecht ergehen. Im besten Fall kam man ins Gefängnis, doch man konnte auch erschossen werden. Doch den Juden die Schuld zu geben, das wurde geduldet […]. […] Ich schloss diese Militärschule ab […] und wurde zum Studium in eine Kiever Militärhochschule geschickt. Die befand sich damals in der Stadt Krasnojarsk, in Sibirien.159 Ich wurde da in die sechste Batterie eingeteilt. Man könnte meinen: Was macht das für einen Unterschied, ob ich in die Sechste kam, oder in die Fünfte oder Siebte? Aber das spielte eine wichtige Rolle für mein weiteres Leben. Denn schon nach einem Monat  Unterricht wurde bestimmt, dass die sechste Batterie nach  Kiev fahren soll. Kiev war damals, im November 1943, schon befreit. Wir fuhren nach Kiev, um dort die Hochschule wieder aufzubauen. Hundert Leute waren wir, die sechste Batterie. Bis Kiev fuhren wir zwei Monate lang. Das ging deshalb so lange, weil man den militärischen Fronttransporten Vortritt lassen musste. Wir sahen oft, wie Züge mit Panzern an uns vorbeifuhren. Auch Züge mit Waffen, mit Soldaten sah ich, alle für die Front bestimmt. Als wir in Kiev ankamen, sahen wir, dass die Gebäude der Schule zerstört worden waren. Die deutschen Truppen hatten die Gebäude benutzt und vor ihrem Abzug sprengten sie sie. So wurden wir zu Maurern […] und Malern. Zimmermänner waren wir. Wir errichteten Gebäude, legten Ziegel und so weiter. Dann, irgendwann im […] Herbst 1944, richtete man neben unserer Schule ein Lager für deutsche Kriegsgefangene ein. Und wir arbeiteten nicht mehr selbst, sondern wir bewachten […] die deutschen Kriegsgefangenen, die unsere Gebäude wieder aufbauten. Wir hatten einen Karabiner, aber Patronen gab man uns keine, so dass wir eigentlich auf die Deutschen gar nicht schießen konnten (lacht), selbst wenn sie sich schlecht benommen hätten. Ich sprach damals mit den Deutschen. Ich konnte ein wenig Jiddisch, und das ist ja immerhin eine mit dem Deutschen verwandte Sprache. Und ich hatte in der Schule fünf Jahre lang Deutsch gelernt. Ich war gut in der Schule. Ich sprach also mit den deutschen Kriegsgefangenen. Es gab unter ihnen unterschiedliche Menschen und ich war einfach neugierig. Es gab auch Sozialdemokraten und Christdemokraten unter ihnen. Und es gab solche, die waren schlechterdings Faschisten. Einer von denen, da erinnere ich mich, sagte zu mir: „Du bist ein Untermensch!“ Ich habe dieses Wort damals nicht verstanden. In 159 Auch ganze Schulen wurden während des Krieges evakuiert.

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Friedrich Valler, Sowjetarmee, 1946.

den sowjetischen Wörterbüchern gab es dieses Wort nicht und erst später erfuhr ich, dass es bedeutet, ich gehöre zu einer niederen Rasse, ich sei kein vollwertiger Mensch. Sie hatten Angst vor uns, diese Deutschen, obwohl sie sich in unserer Gefangenschaft ziemlich frei fühlten. Ich stellte mir vor, dass, wäre ich in deutsche  Gefangenschaft geraten, man mich schon nach einer Stunde erschossen hätte. Denn in erster Linie erschossen sie dort Juden und sowjetische Offiziere. […] Der Krieg ging langsam zu Ende. […] Ich erinnere mich, wie man verkündete, dass der Krieg zu Ende sei. Ich erinnere mich, als sei es jetzt. Ich sitze beim Radio und höre die Nachricht  von der Kapitulation Deutschlands. Und da kommt ein Offiziersschüler zu mir rüber, der auch an meiner Hochschule war. Er sagt zu mir: „Du kamst also nicht an die Front, was?“ Ich sage ihm: „Ja. Und

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Friedrich und Maja Valler, 1956

du auch nicht.“ „Du bist mir aber ein Schuft!“ sagt er. Ich sage: „Warum denn das? Und was bist dann du?“ – „Ich, das ist eine andere Geschichte. Aber du bist ein Schuft!“ Und weg war er. Das hieß also, dass ich als Jude verpflichtet war zu kämpfen. Und weil ich nicht an die Front kam, bin ich ein Schuft. Und er ist Russe, er darf kämpfen oder nicht kämpfen, er darf alles. Als ich die Schule abschloss, war auch der Krieg schon vorbei. Und ich leistete meinen Militärdienst nach dem Krieg in einem Artillerieregiment. Wir waren damals im südlichen Bessarabien stationiert. Später wurden wir verlegt […], ins heutige Moldawien. […] Wir gingen nach dem Krieg nicht zurück nach Rečica. Dort waren all unsere Verwandten umgekommen. Und das Haus, in dem wir gelebt hatten, wurde von der lokalen Bevölkerung auseinandergenommen, wegen dem Holz.

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Friedrich Valler, 9.5.2008, Tag des Sieges, Lörrach

[…] Und 1948 begann  ich das Studium im Leningrader Hydrometeorologischen Institut. Eigentlich wollte ich  an die politisch-ökonomische Fakultät. Aber ich kam zu spät. Das war zumindest die offizielle Version: Ich sei zu spät nach Leningrad gekommen und die Aufnahmen seien bereits abgeschlossen. Am Ende meines Studiums bekam ich eine Arbeitsstelle in Machačkala zugewiesen. Das lag am Kaspischen Meer. Ich arbeitete dort als Ingenieur auf einer meteorologischen Station. Danach wurde ich Leiter der hydrometeorologischen Station eines Messschiffes, draußen im Kaspischen Meer. Dieses Schiff war zugleich ein Leuchtturm. Es zeigte den ankommenden Schiffen an, wo sie in den Wolgakanal einbiegen müssen. Das Kaspische Meer ist dort im Norden recht untief. Deshalb grub man dort einen Kanal aus, für große Schiffe. Die

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brachten Öl aus Baku. Danach wurde ich nach Rostov na Donu versetzt. […] Und 1967 ernannte man mich zum Direktor des hydrometeorologischen Observatoriums in Astrachan’.160 Dort arbeitete ich 20 Jahre lang. Das war ein großes Observatorium. Ungefähr 400 Angestellte. […] Wir hatten ein Schiff und führten damit Meeresuntersuchungen durch. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich 1955 heiratete. Eine Fachkollegin. […] Dann kam unsere Tochter Irina zur Welt. In Rostov wurde dann unser Sohn geboren. Und 1986, als ich 60 wurde, ging ich in Rente. Ich arbeitete dann noch weiter, als Wachmann in Astrachan’. Mein Sohn schloss die Hochschule der Fischindustrie und Meereswirtschaft ab und bekam eine Arbeitstelle in Tallinn zugeteilt […]. Wir zogen mit ihm nach Tallinn, in die estnische Sowjetrepublik. In Tallinn arbeitete ich dann noch einige Zeit als Wachmann. Dann bekam ich einen Infarkt. Ich arbeitete nämlich sehr viel, bekam wenig Erholung. So ging ich dann endgültig in Rente. 1991, als die Sowjetunion zusammenbrach, war Estland unter den ersten Republiken, die unabhängig wurden. Im neuen Estland  waren wir nun Menschen ohne Staatsbürgerschaft. […] Eine estnische Staatsbürgerschaft bekamen nur diejenigen Bewohner  des Landes, die schon vor 1944 da gelebt hatten […], vor der sowjetischen Okkupation Estlands.161 Da wir uns dort erst wesentlich später niedergelassen hatten, bekamen wir so ein merkwürdiges Dokument ausgestellt, einen Ausländerpass, wie das hieß […]. Wir beschlossen, nach Deutschland zu emigrieren. Ich ging auf die deutsche Botschaft in Tallinn und bekam den entsprechenden Fragebogen ausgehändigt. Wir füllten alles aus und begannen zu warten, bis man uns erlaubt, einzureisen. […] Und im Jahre 2001 kam dann die Erlaubnis. 2002 fuhren wir. Mein Sohn, ich und meine Ehefrau. Später kam dann unsere Tochter nach, aus Russland. […] Und nun leben wir hier in Deutschland zusammen in der gleichen Stadt.

160 Astrachan’, Hafenstadt an der Wolga, im Gebiet ihrer Mündung ins Kaspische Meer. 161 Im Herbst 1944 nahm die Rote Armee Estland ein, nachdem das Land zuvor unter deutscher Besatzung gestanden hatte. Damit befand sich Estland, das schon 1940 als Sowjetrepublik der UdSSR angegliedert worden war, wieder unter sowjetischer Kontrolle. Es blieb bis zur Unabhängigkeit 1991 Teil der Sowjetunion.

4.  Frau K. – „Ich war keine große Aktivistin.“ Frau K. wurde 1952 in Odessa geboren. Beide Eltern stammten aus jüdischen Familien, hatten sich jedoch sehr weitgehend assimiliert. Auch in dieser Familie war die Generation der Großeltern die letzte, die noch aktiv die religiösen Traditionen praktizierte. Diese älteren Familienmitglieder fielen zum größten Teil den nationalsozialistischen Judenmorden im besetzten Odessa zum Opfer. „Mir sind praktisch keine Angehörigen geblieben“, sagt Frau K. im Interview, als sie auf die Shoah zu sprechen kommt. Einen Teil ihrer Schulzeit verbrachte sie in Vladivostok, nachdem ihr Vater, ein Schiffbauingenieur, in die Stadt im Fernen Osten der UdSSR versetzt worden war. Frau K. arbeitete später ebenfalls als Ingenieurin und lebte mit ihrer Familie bis zur Emigration nach der Wende in Odessa. Sie habe, wie sie im Gespräch ausführt, ein zwar gegen außen weitgehend konformes Leben geführt, sich jedoch nicht mit der sowjetischen Ordnung identifiziert. Man habe versucht, die eigene Lebenswelt so weit als möglich frei von „Politik“ zu halten: Ich selber war keine große Aktivistin. Ja, ich machte mit, aber nur soviel, wie man musste. Ich beschäftigte mich eher mit Musik, mit Lernen, mit Büchern und nicht mit den Aktivitäten des Komsomol. Mein Bruder auch nicht. Er war vor allem mit Lernen beschäftigt. Jetzt arbeitet er viel und Politik, die hat ihn nie interessiert.

Die Lebensgeschichte von Frau K. erscheint besonders stark narrativ durchstrukturiert. Sie wird durch klare Kontraste bestimmt, die in ihrer Eindeutigkeit wenig Raum für Kontingenzen und Ambivalenzen belassen. Dies gilt zum Beispiel für die folgende Schilderung einer harmonischen Koexistenz unterschiedlicher Völker im Odessa der Vorkriegszeit, die später einer durch Antisemitismus und ethnische Superioritätsgefühle bestimmten Nachkriegsgesellschaft gegenübergestellt wird: Mama war sowohl mit Russen als auch mit Juden befreundet. In Odessa war das sowieso alles gemischt. Es war eine ausgesprochen internationale Stadt. Es gab viele Juden und Russen. Und sie waren Freunde und sie sagten niemals, dass es ihnen nicht genehm ist, beispielsweise mit Juden zu verkehren. So etwas gab es nicht. Natürlich verkehrten meine Eltern mit allen. Und die Familie meiner Mutter war sehr gastfreundlich, wie Mama erzählte. Sie wohnten an der Marozlievskaja Straße. Sie erzählte, dass immer sehr viele Leute da waren: Russen, Juden, Deutsche, Polen. Eine

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Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion Unmenge von Nationalitäten. […] Und irgendwie waren alle Freunde. Und sie verstanden überhaupt nicht, warum man die eigene Nationalität geheim halten sollte. Wenn man bedenkt, wie es später war…

Die etwas idealisierende Schilderung eines freundschaftlichen Miteinanders unterschiedlicher Nationalitäten wird hier zum Element einer Geschichte des Niedergangs, die von der Korrumpierung fruchtbarer Koexistenz durch die Kräfte des Antisemitismus handelt. Immer wieder betont Frau K. auch an anderen Stellen das – verglichen mit der Nachkriegszeit – offene gesellschaftliche Klima und die Entfaltungsmöglichkeiten für Juden in der von ihr nicht erlebten Zeit vor dem Krieg. Im Erzählzusammenhang erfüllen diese Bilder die Funktion einer Kontrastfolie, vor deren Hintergrund sich die Konjunktur des Antisemitismus in der Nachkriegszeit umso schärfer abhebt. Das Motiv des Niedergangs erfüllt also narrative Funktionen, die weit über die Bezeichnung eines bloßen historischen Sachverhaltes hinausgehen. Auf die Sowjetzeit zurückblickend beschreibt sich Frau K. als assimiliert und dem Judentum entfremdet. Sie und ihre Familie hätten sich so weit angeglichen, dass sie vollständig zu „Sowjetmenschen“ geworden seien. Die jüdische Kultur und Glaubenswelt sei ihr fremd und unverfügbar, gleichsam als ein „Buch mit sieben Siegeln“, erschienen. Mit der in ihrem Pass vermerkten jüdischen „Nationalität“ habe sie keinerlei positiver Bezug verbunden. Sie habe sich gefragt, was dieser Eintrag in ihrem Pass – abgesehen von den mit ihm verbundenen Benachteiligungen – für sie eigentlich bedeutete. Ihre jüdische Herkunft sei ihr als ein Stigma erschienen, als Makel, der – zum Beispiel bei der Partnersuche – verheimlicht werden musste: Übrigens, ich hatte einen Freund, mit dem ich ging. Er wollte zur See fahren, er war an einer Fachhochschule für Schifffahrt. Nun, wir waren ziemlich lange zusammen, aber ich entschied mich, ihn nicht mehr zu sehen. Es war unmöglich für mich, ihm zu sagen, warum ich mich mit ihm nicht mehr treffen will. Ich konnte nicht offen sagen: „Du, ich bin eine Jüdin. Denk nach, ob du mich heiraten willst, denn dies kann schlechte Auswirkungen auf deine Laufbahn haben.“ Ich war so unsicher. Es war wirklich schrecklich für mich. Dann hätte er mir vielleicht gesagt: „Tut mir leid, ich kann dich nicht heiraten.“ Das war einfach ein Albtraum.

In der Lebensgeschichte von Frau K. hat das Motiv-Paar „Entfremdung und Rückbesinnung“ eine zentrale Stellung. Während sie sich in der Sowjetzeit als bloße „Passjüdin“ gefühlt habe, so prägt den Zeitpunkt des Interviews eine neue Auseinandersetzung mit den jüdischen Wurzeln. Die Lebensgeschichte wird auf

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diese Weise „abgerundet“, denn sie endet mit der Schilderung einer neuen Annäherung an das zuvor „fremde“ Judentum. Das „Buch mit sieben Siegeln“ öffnet sich ein Stück weit. Doch bleibt die Erzählung in dieser Beziehung ambivalent. Für Frau K. stellt sich die Frage nach der Identität der postsowjetischen Juden noch immer drängend und schmerzhaft. An einer Stelle kommt sie sogar zu dem Schluss, dass sie „gar niemand“ seien, denn die eigene Vergangenheit sei ihnen, nachdem sie sich jahrzehntelang erzwungenermaßen nicht mit ihr beschäftigen konnten, abhanden gekommen. Doch den jüngeren Generationen könne die Rückbesinnung vielleicht gelingen: In die jüdische Organisation in Odessa kam auch ein Freund von Vadik, meinem Sohn. Ich glaube, sie haben zusammen studiert. Und er, dieser Junge, hat irgendwie angefangen, Jiddisch zu lernen. Und dann hat er sich immer mehr für das Judentum interessiert und zum Schluss unterzog er sich der Beschneidung. Er wurde beschnitten und bekam […] einen neuen Namen. Das heißt, er wurde ein richtiger religiöser Jude. Und dann habe ich ihn in der Synagoge gesehen, er hatte dort sogar eine Arbeit. Er hatte irgendeine Tätigkeit in der Synagoge. Er hieß einfach Igor’, und dann hat er einen anderen Namen bekommen. Ich habe vergessen, welchen. Ich glaube, Shimon. Gewöhnlich gibt man in solchen Fällen alte Namen. Und dort verkehrten viele junge Leute, als ich dort gearbeitet habe. […] Und was erstaunlich ist, sie kamen zur Religion und haben angefangen die Traditionen zu praktizieren. […] Sogar eine Jeschiwa162 wurde bei uns eröffnet. Die Rabbiner aus Israel haben sie eröffnet. […] Drei Jahre lang musste man dort studieren. Ich glaube, sie haben in der Schule Rabbiner ausgebildet. Und jetzt herrscht dort ein reges jüdisches Leben.

Die Verleihung eines „alten“ jüdischen Namens an einen zuvor assimilierten Juden wird hier zum Bild für die Rückeroberung ebenjener Vergangenheit, deren Verlust zuvor beklagt wurde. Das Motiv der Namensgebung verweist auf die Problematik der Identität. Wenn aus „Igor’“ „Shimon“ wird, legt er etwas von seiner Vergangenheit ab und wird empfänglich für das Judentum. In dieser Passage wird auf diese Weise über die Chancen einer Neuaneignung von Herkunftsbewusstsein reflektiert – wenn nicht für die eigene Person, so doch für die sowjetisch geprägten Juden als Gruppe.

162 Jeschiwa, Religiöse Hochschule.

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Lebensgeschichte Bei uns zu Hause gab es keine Dinge, die darauf hinwiesen, dass wir Juden waren. Denn wir hatten uns so weitgehend assimiliert, dass wir zu Sowjetmenschen geworden waren, wie man so sagt. Und es gab keinen Unterschied zwischen uns und den Anderen. Wir waren nicht gläubig, wir haben keine Feste gefeiert, nichts dergleichen. Meine Mutter erinnerte sich, wie ihr Großvater, mein Urgroßvater, die Pessachfeier leitete. Er war das Familienoberhaupt, er setzte sich auf den Ehrenplatz. Nun, wie das bei ihnen Sitte war. Bei uns, besser gesagt. Wir haben das dann schon nicht mehr eingehalten. Pessach ist eine bestimmte Tradition: Das Familienoberhaupt setzt sich an den Tisch, die Kinder auch. Insgesamt ist das alles sehr zeremoniell und erfolgt nach einem bestimmten Plan. Nun, der Großvater kam und die Kinder, die waren auch dabei. Daran erinnerte Mutter sich noch. Ihr Papa hat Mutter auch irgendwann in die Synagoge mitgenommen, noch vor der Revolution. Es gab viele Synagogen in Odessa. Es gab die Brodskij-Synagoge an der Puschkinstraße […]. Nun, sie erzählte, er habe sie dorthin mitgenommen. Es war eine schöne Synagoge. Jetzt ist dort das Stadtarchiv (seufzt). Und in Großvaters Familie, väterlicherseits, da haben sie anscheinend die religiösen Feste auch gefeiert. […] Natürlich haben sie das. Sie waren wie alle anderen zu dieser Zeit. Sie waren doch Kleinstadtmenschen, sie haben die jüdischen Schulen besucht, ihnen wurden alle Bräuche beigebracht. Sie sprachen Jiddisch. […] Ich selber spreche kein Jiddisch. Mein Papa sprach auch keins, er verstand es nur, und auch Mama verstand es. Sprechen konnten sie es nicht mehr, und ich verstehe es nicht mal (lacht). Nach der Revolution […] wurde der sowjetische Staat atheistisch. Die Religion wurde ja abgeschafft. Und deshalb gab es keine Literatur darüber, nichts. Und umso mehr galt das für Literatur über die jüdische Religion. Ich wusste überhaupt nichts darüber. Ich wusste, dass in meinem Pass steht, dass ich eine Jüdin bin. Aber was das ist und was es bedeutet, das war für mich natürlich wie ein Buch mit sieben Siegeln (lacht). Ein Geheimnis. […] Im Pass stand es geschrieben: „Jüdin“. Wenn man mir sagte, dass ich eine Jüdin bin, was bedeutete das? Die Eltern gaben mir keine Erklärungen dazu. Sie hatten auch selber keine jüdische Erziehung und Bildung mehr erhalten. Über die jüdische Geschichte hatten sie ohnehin nichts erfahren. Meine Mutter absolvierte eine sowjetische Schule. Der Vater absolvierte eine Fachhochschule und sollte sich, wie man so sagt, „in den Proletarierstaat einfügen“163 (lacht). 163 Im russ. Original vchodit` v proletarskuju stranu.

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Und so fielen nie irgendwelche Worte über die jüdische Geschichte. Erst später habe ich angefangen, mich für die Geschichte zu interessieren, als alle Verbote fielen […]. Das war in den 90er Jahren. […] Mein Vater besuchte eine Hochschule. Er war ein begabter Ingenieur. Er war klug und hatte keinen schlechten Posten. […] Die Juden wurden damals gebraucht. Da entwickelte sich gerade die Industrie und man sollte mitwirken. Und er arbeitete. Er wurde nach dem Abschluss in einen Schiffsbaubetrieb geschickt. Sie stellten dort vor allem Kriegstechnik her, Kriegsschiffe. […] Er hat sich dort richtig bewährt […]. Und er war einer von den Hauptingenieuren, und sie haben diese Schiffe produziert. Sie haben Prämien bekommen, sie bekamen Stalin-Preise […]. Sie haben wichtige Arbeit geleistet. Mein Vater war Parteimitglied. Anders konnte er in einem solchen Betrieb nicht arbeiten. Wenn man nicht Kommunist war, war das schwierig. Umso mehr, wenn es um Kriegstechnologie ging. Das wäre kaum möglich gewesen. Er war Kommunist. Vielleicht: Ein nicht ganz überzeugter Kommunist. Mit Politik hatte er nichts zu tun. Er hat gearbeitet als Ingenieur. Im Grunde war er ein Arbeitsmensch und die Arbeit hat ihn beschäftigt, nicht die politischen Hintergründe. Klar, er wurde Kommunist, er lebte zu dieser Zeit. Kann sein, dass er eine Zeit lang an diese Ideale geglaubt hat. Er war nicht religiös. Später, als er schon gearbeitet hat, war er über das Ganze enttäuscht. […] Aus Mutters Bekanntenkreis ging niemand [in die Synagoge]. Die Bekannten von Mama waren sowieso alle gebildet, mit Hochschulabschlüssen. Mit Religion hatten sie […] nichts zu tun. Außerdem hatten sie Angst, weil es in dieser Zeit riskant war, in die Synagoge zu gehen. Denn die Religion war verboten. Und eine meiner Freundinnen wusste nicht, [dass wir Juden waren]. Und sie sagte mir, dass sie die Juden hasst. Bei einem gemeinsamen Spaziergang sagte sie, sie hasst die Juden. Für mich war das natürlich ein Schock. Solche Sachen haben mich immer sehr gekränkt. […] Ich habe nie dem typischen Bild einer Jüdin entsprochen. […] Ich war immer groß, hatte blaue Augen, blonde Haare, niemand dachte bei mir an eine Jüdin. Deswegen hat man in meiner Gegenwart judenfeindliche Aussagen ohne Hemmungen gemacht. Deshalb habe ich schon mehr zu hören bekommen als jemand, der wirklich dem Judenbild entsprach. Weil bei denen keiner seine Meinung offen gesagt hat. […] Zum Beispiel meine Freundin, oder Kollegin, wie auch immer. Sie sagte einmal: „Olja, das ist so ein nettes Mädchen. Schade, dass sie eine Jüdin ist.“ Es gab oft solche Sprüche.

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[…] Als ich dann an die Hochschule wollte, da brauchte ich Beziehungen. Man konnte aufgenommen werden, es war möglich. Aber es konnte auch passieren, dass man bei der Aufnahmeprüfung eine Zwei164 bekam, dass sie irgendetwas bemängelten. Wenn ein Jude an der Reihe war, konnten sie bei der mündlichen Prüfung sagen, dass die Antwort nicht richtig war, obwohl sie richtig war. Da kann man nichts beweisen. Und bei der Schriftlichen konnten sie die Prüfung verstecken, die Klausur konnte einfach verschwinden. Es gab solche Situationen, ganz seltsame. Oder sie haben auch selbst etwas Falsches hinzugeschrieben. Ein paar Fehler, einfach so (seufzt). So was gab es. […] Es gab diesen stillen, unauffälligen, individuellen Antisemitismus. Dieser Antisemitismus wurde in aller Stille, aber ziemlich stark betrieben. […] Wenn der Staat eine solche Politik machte, warum sollten die Menschen, die Antisemitisches äußern wollten, sich nicht äußern? Wir hatten unterschiedliche Nachbarn. Manche waren ganz nett. Wir haben vierzig Jahre zusammen in einem Haus gewohnt. Die haben nichts gesagt, aber andere haben was gesagt. Sie sagten geradeheraus zu uns: „Ihr gemeinen Juden.“ Wenn nicht Schlimmeres. Ich habe keine Lust, es zu wiederholen. Natürlich sagten sie auch größere Gemeinheiten. Und manche haben uns gar nicht gegrüßt oder haben sich weggedreht. Die Nachbarn, mit denen man vierzig Jahre zusammengelebt hat. Nun, [dann kam] die Perestrojka. Es war schwierig mit der Arbeit, es war schlimm. Man wusste nicht, was kommt und […] die staatlichen Arbeitsstellen waren unsicher. Der Staat hatte kein Geld. Mit den Banditen165 zusammenzuarbeiten war auch irgendwie schrecklich. Es begann ein Chaos. Jeder versuchte irgendwie zurechtzukommen, um zu überleben. […] Wenn man sich irgendwo um eine Stelle bewarb – und es gab schon diese privaten Firmen – war es denkbar, dass der Besitzer Juden nicht einstellt. Je nach Einstellung des Besitzers. […] Wir wollten in einem normalen Rechtsstaat leben, wo die Gesetze beachtet werden. Denn dort bei uns gab es überhaupt keine Schranken mehr. Gar nicht. Wenn auch in den 60ern, 70ern und 80ern der Antisemitismus herrschte, gab es damals dennoch irgendwie Ordnung. Na gut, es ist schwierig, sich mit dem Antisemitismus abzufinden, wo du jedes Mal gedemütigt wirst. Aber es gab früher irgendwie Ordnung und einen normalen Rechtsstaat. Man hatte die Gesetze 164 Die Fünf war die beste, die Eins die schlechteste Note. 165 Gemeint sind die kriminellen und mafiösen Elemente der Gesellschaft, die sich in der Umbruchssituation vermehrt organisieren und bereichern konnten.

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beachtet. Die Menschen waren normal gewesen, und plötzlich stand alles Kopf. Alles kippte um. […] Es gab eine jüdische Wohltätigkeitsorganisation […], die den älteren Menschen geholfen hat. Die Organisation hat den Älteren geholfen, auch meiner Mutter half sie. Mit Lebensmitteln. Die Unterstützung kam von verschiedenen Organisationen, israelischen und amerikanischen. Sie halfen den Juden, die sich in einer schlechten ökonomischen Lage befanden. Sie haben ein Mal im Monat Lebensmittel verteilt. Meine Mutter hat eine Gemeindezeitung erhalten. Alle Juden bekamen diese Zeitung, umsonst. Eine sehr interessante Zeitung, ich las sie sehr gerne. Und damals begann ich, etwas über die Geschichte des Judentums zu erfahren. Aus dieser Zeitung habe ich etwas erfahren, sehr viel habe ich entnommen daraus. […] Ich habe mich noch bei einer anderen Organisation erkundigt, bei einem Kulturzentrum. Dort konnte man lernen. Es gab dort eine offene israelische Universität. Ich habe mich dort eingeschrieben und studierte Geschichte. Ich habe sogar bis heute Bücher wie die „Kapitel aus der Geschichte und Kultur der osteuropäischen Juden“. Sogar eine Jeschiwa wurde bei uns eröffnet. Die Rabbiner aus Israel haben sie eröffnet. […] Drei Jahre lang musste man dort studieren. Ich glaube, sie haben in der Schule Rabbiner ausgebildet. Und jetzt herrscht dort ein reges jüdisches Leben. […] Man hat auch die Synagoge renoviert. Früher hatte sie als Warenlager gedient. Man hat alles wunderschön umgebaut und es kamen ein Rabbiner aus Odessa und ein Rabbiner aus Israel. Ein echter Rabbiner kam. […] Und damals habe ich die orthodoxen Juden gesehen und ich musste über sie staunen.166 Mir schienen sie irgendwie wie Menschen, die direkt aus dem Mittelalter kamen (lacht). Mit diesen Hüten und wie sie beteten. Für mich war das Ganze irgendwie merkwürdig. Wir waren aufgewachsen und hatten so was noch nie gesehen und wussten nicht, was das überhaupt bedeutet, zu beten, sich zu verbeugen. […] Wir sind Menschen ohne Vergangenheit, ohne irgendwas, wie Gespenster. […] Die ausländischen Orthodoxen haben sich uns Nichtpraktizierenden gegenüber nicht immer korrekt verhalten. Es schien, dass wir nicht zu ihnen gehören, dass wir zu niemandem gehören. […] Die Beziehung zu ihnen war schlecht. Wir sind überhaupt niemand (lacht). Nun, wer sind wir?

166 Hierbei handelte es sich um religiöse Juden aus dem Westen und aus Israel, die seit 1985 vermehrt in die UdSSR einreisten, um die mit der gesellschaftlichen Liberalisierung zunehmend geduldete Wiederaufnahme eines religiösen Gemeindelebens zu unterstützen.

5.  Anna Mackina – „Denn der Schlag traf Stalin ja in der Nacht vor Purim…“ Anna Mackina, eine jüdische Emigrantin aus der Ukraine, beschreibt ihr gegenwärtiges Leben in Deutschland stolz als „jüdisch“. Ein „jüdisches Leben“ in der Emigration bedeutet für sie nicht zuletzt eine Beschäftigung mit den Lebensund Glaubenswelten der Vorfahren im Schtetl, für deren Traditionen sie in den 1990er Jahren großes Interesse entwickelt hat.

Anna Mackina, Weil am Rhein 2005.

In ihrer Kindheit seien die Spuren dieser traditionell imprägnierten Welt noch präsent gewesen. Sie wurde als Tochter von jüdischen Eltern im ukrainischen

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Slavuta geboren. In dieser Kleinstadt, die bis zur sowjetischen Besetzung Ostpolens im September 1939 unweit der polnisch-sowjetischen Grenze gelegen war, lebten bis zum Zweiten Weltkrieg viele Juden, nebst einem ukrainischen und einem kleinen polnischen Bevölkerungsteil. Es gab hier mehrere jüdische Schulen und Bethäuser. Slavuta war zudem seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein Zentrum des chassidischen Judentums gewesen. Auch hier hatten allerdings die Mechanismen der Sowjetisierung gegriffen, so dass der jüdische Bevölkerungsanteil in der 1920er und 1930er Jahren sukzessive durch Abwanderung in die Großstädte und Mischehen abnahm. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 brachte schließlich einen vernichtenden Schlag für das jüdische Slavuta. Er riss auch die Familie von Anna Mackina auseinander. Der Vater wurde an die Front beordert, wo er später fiel. Mutter und Tochter flohen ostwärts vor den heranrückenden deutschen Truppen. Zunächst schien ihnen die Flucht zu gelingen und sie fanden Aufnahme bei Familienangehörigen in der Kleinstadt Šargorod. Doch geriet auch dieses ehemalige ukrainische Schtetl unter deutsche Besatzung. Die Familie überlebte den Krieg im von den Besatzern errichteten Ghetto. Anna Mackina, die zum Zeitpunkt der deutschen Besatzung noch ein Kleinkind war, erzählt mit großer Anschaulichkeit von ihrer Flucht und der nationalsozialistischen Okkupation. Offensichtlich vermischen sich dabei frühkindliche Erinnerungen mit Wissen, das aus späteren Erzählungen der Eltern und anderer Angehörigen sowie der historischen Literatur zum Thema stammt. So entsteht ein spannungsgeladener Bericht über eine Zeit der Flucht und Verfolgung, der zwar nicht „authentische Erinnerungen“ wiedergibt, aber in seiner Vermischung von Erlebtem und Gehörtem, von Erinnertem und Gelesenem beispielhaft für die Mechanismen der Konstitution lebensgeschichtlicher Erzählungen stehen kann. Nach Kriegsende kehrten Mutter und Tochter nach Slavuta zurück. Anna Mackina wollte studieren, doch erhielt sie unter der diskriminierenden Bildungspolitik im Spätstalinismus keinen Studienplatz. Sie schloss stattdessen eine technische Fachschule ab und arbeitete in verschiedenen staatlichen Bauunternehmen. 1962 heiratete sie einen jüdischen Kommunisten, der in seiner Fabrik bald in eine leitende Stellung aufstieg. Auch Frau Mackina war beruflich erfolgreich. Seit 1980 leitete sie die Produktionsabteilung eines Eisen- und Stahlwerks in Slavuta. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation der Familie. In diese Zeit des politischen Umbruchs fiel bei Anna Mackina die erwähnte „Entdeckung“ der jüdischen Wurzeln, das Erwachen einer Sehnsucht nach einem „jüdischen Leben“. Sie lernte Iwrit und bereiste Israel, von dessen Kultur und Gesellschaft sie mit Begeiste-

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rung erzählt. Nach der Emigration im Jahr 2002 suchte sie Anschluss an die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Dieses neu erflammte Zugehörigkeitsgefühl ist bei Anna Mackina auch religiös gefärbt. Dies wird beispielsweise dann deutlich, wenn Sie die sowjetischjüdische Geschichte in alttestamentarischen Kategorien deutet. Gott habe die sowjetischen Juden „so wie einst“, in biblischen Zeiten, gerettet, indem er Stalin im März 1953 zu sich nahm, bevor dieser seine damals vielleicht gehegten mörderischen Deportationspläne verwirklichen konnte:167 Ja, so wie die Deutschen die Menschen in die Konzentrationslager brachten, so sollten auch die Juden deportiert werden, in den sicheren Tod. Man rechnete damit, dass eine Hälfte im Transport umkommt, durch Kälte, Krankheit, Dreck und Hunger. Die zweite Hälfte sollte dann dort [in Sibirien] sterben. Doch offenbar half uns hier Gott, so wie er einst half. Ja, an Purim, als die Juden vor der Vernichtung errettet wurden. Das war im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. So geschah es auch hier, denn der Schlag traf Stalin ja in der Nacht vor Purim. Und deshalb sagen wir Juden, dass Gott dennoch mit uns ist. In den schwierigsten Stunden errettet er uns.

Auch in dieser Lebensgeschichte werden viele Exklusionserfahrungen geschildert. Anna Mackina war, wie sie sagt, „patriotisch“ und durchaus prosowjetisch eingestellt. Sie habe begeistert an den Aktivitäten des Komsomol teilgenommen, sich bei der Arbeit in der politischen Ausbildung der Belegschaft engagiert und eine Parteimitgliedschaft angestrebt. Letztere aber blieb ihr, ebenso wie ein Universitätsstudium, verwehrt. Bei beiden gesellschaftlichen Misserfolgen dürfte ihre jüdische Herkunft eine wichtige Rolle gespielt haben. Diesen Erfahrungen der Diskriminierung werden allerdings immer wieder positive – und durchaus prosowjetisch gefärbte – Bilder einer funktionierenden Welt des zwischenmenschlichen Miteinanders gegenübergestellt. Ihre Erinnerungen an die Arbeitseinsätze in der landwirtschaftlichen Hilfe beispielsweise sind geprägt von einem gleichsam sowjetromantischen affirmativen Kollektivismus.

167 Vgl. Anmerkung 26. Das Freudenfest Purim geht auf das biblische Estherbuch zurück, in dem von einer Errettung der Juden im Perserreich berichtet wird. In dieser Erzählung gewinnt der Jude Mordechaj den Machtkampf mit dem intriganten persischen Minister Haman, dessen judenfeindliche Pläne scheitern. Haman verendet an eben jenem Pfahl, den er für die Juden vorsah.

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[Meine Eltern] lebten nicht wohlhabend, sondern bescheiden, so wie die Mehrheit der sowjetischen Menschen […] lebte. Doch […] sie lebten in großer Liebe und großer Achtung füreinander. Und natürlich war es ein Leben in Arbeit168.

Die Verbindung der positiv besetzten Konzepte der Bescheidenheit, der Arbeit und der funktionierenden zwischenmenschlichen Beziehungen ist ein wiederholt begegnendes Muster in den hier untersuchten Erinnerungen an die Sowjetzeit. In der Lebensgeschichte von Anna Mackina fällt sie besonders ins Auge. An einer Stelle reflektiert sie über die Gründe dieser Zufriedenheit und bringt sie mit einer gewissen historischen „Abhärtung“ der Sowjetbürger in Verbindung. Die Traumata der Kriege im 20. Jahrhunderts schraubten in dieser Deutung die Ansprüche der Menschen herunter und machten sie so vielleicht empfänglicher für ein Glück, das jenseits von materiellen Wertvorstellungen lag: […] Meine Mutter ging mit der Überzeugung aus diesem Leben, dass wir in einem wunderschönen, wunderbaren Land leben. Vielleicht war es so, dass unsere Generation und die Generation unserer Eltern, die den Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte… vielleicht hatten wir einfach nicht diesen Drang nach Luxus und nach sonst was. Wir hatten das Leben im Westen nicht gesehen, obwohl Papa oft davon erzählte. Er hat ja immerhin Tschechien befreit und war auch in Deutschland gewesen. Und er erzählte, was es in den Dörfern dort für Häuser gab, verglichen mit unseren ukrainischen, schrecklichen, strohbedeckten Hütten. Doch wer arbeitete, wer sich bemühte, der lebte auch gut. […] Wir träumten nicht von einem Auto. Mein Mann fuhr Fahrrad. Und später kauften wir ein Motorrad. […] Das war dann schon die Erfüllung der süßesten Träume. Und niemand dachte auch nur an ein Auto.

Auffällig ist in dieser Passage wiederum Verweis auf die geordneten sowjetischen Verhältnisse, in denen, wer sich anstrengt, auch „gut leben“ kann. Und der Mutter der Befragten habe die Sowjetunion sogar als „wunderbares Land“ gegolten. Das Motiv des bescheidenen Glücks hat an mehreren Stellen auch diesen politischen Aspekt. So entwirft Anna Mackina ein komplexes Gesamtbild ihrer sowjetischen Erfahrung: Kränkende Exklusionserfahrungen und die tröstenden, versöhnlichen Erinnerungen an ein bescheidenes, zwischenmenschliches Glück, an Menschen, für die „echte Werte“ und kein neumodischer Materialismus galten, stehen darin nebeneinander.

168 Im russ. Original trud.

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Anna Mackina im Alter von 9 Monaten. Mit Mutter. Slavuta, August 1940.

Lebensgeschichte Ich bin am 28. September 1939 im kleinen jüdischen Städtchen Slavuta, in Podolien169, geboren worden. Zur Zeit meiner Geburt war Slavuta ein Grenzstädtchen, weil in 20 Kilometer Entfernung die polnische Grenze verlief. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, […] ging ein Teil der Länder, die zu Polen gehört hatten, an die Sowjetunion und wurde ein Teil der ukrainischen Sowjetrepublik. Und so war Slavuta zur Zeit meiner Geburt schon kein Grenzstädtchen mehr. Ich kam in einer ausgesprochen jüdischen Familie zur Welt. In einer Familie von Lehrern. Meine Mutter hatte das Lehrerseminar in Odessa abgeschlossen. Nach meiner Geburt, im Schuljahr 1941/42, begann sie in einer der Schulen Sla169 Region im Südwesten der Ukraine und im Nordosten Moldawiens.

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vutas zu unterrichten. Mein Vater hatte auch das Lehrerseminar in Odessa abgeschlossen. Dort hatten er und Mutter auch geheiratet. Doch er wurde in die Armee einberufen, und zum Zeitpunkt meiner Geburt leistete er schon Eildienst in Lvov. In Lvov war deutlich zu spüren, dass ein Krieg unumgänglich ist. Und durch den Feldstecher konnte man sogar beobachten, wie die Deutschen ihre Truppen zur Grenze vorrücken ließen, mit den Geschützen. Und mein Vater schrieb uns in einem Brief, dass es so kommen könnte, dass wir uns nie wieder sehen. Deshalb schrieb er meiner Mutter: „Nimm Anjutačka und komm.“ Ich heiße Anna, doch man nannte mich Anjuta. Und so kamen wir [nach Lvov], um Vater zu sehen und dort hat uns dann der Krieg überrascht. Drei Tage waren wir noch in Lvov. Wir wurden bombardiert, nachts versteckten wir uns in einem Keller. Bis man uns evakuierte. […] Der Zug war ganz vollgepfercht, man stieß die Menschen einfach in die Wagen, Familien von sowjetischen Parteiarbeitern, Familien von Kriegsdienstlern. Vor allem waren es natürlich Frauen und Kinder.170 Und als wir etwa viereinhalb Stunden von Lvov entfernt waren, kam die deutsche Flugwaffe angeflogen und begann, den Zug zu bombardieren. Die Lokomotive war natürlich sofort zerstört, der Maschinist kam um, die Schienen waren verwüstet und alle Türen verschlossen. Und keine Schaffner, man kann nicht raus aus den Waggons. Panik, die Leute beginnen die Scheiben einzuschlagen und durch die Fenster raus zu springen, weil der Zug brennt. Auch unser Waggon fing Feuer. Einen Tag mussten wir im offenen Feld warten, in einem Weizenfeld. Man musste warten, bis eine Brigade kam, um die Schienen wieder aufzubauen. Und bis eine neue Lokomotive und neue Waggons kamen, um weiter zu fahren. Wir wollten nach Slavuta, heim. Vor dem Krieg gab es ja so eine Überzeugung, die durch die sowjetische Propaganda verbreitet wurde, […] dass „der Deutsche“ nicht bis zu uns kommen wird. Und: „Sobald sich die Deutschen auch nur bewegen, zeigen wir es ihnen.“ Und wir dachten […], dass die Deutschen nicht bis Slavuta kommen werden und dass wir dort also in Sicherheit wären. Fast vier Tage lang reisten wir nach Slavuta. Doch die Deutschen rückten näher und wir flohen weiter nach Osten. Wir kamen nach Šargorod. Hier wurden wir eingeholt. Die Deutschen besetzten die Stadt und bauten ein Ghetto. Wir kamen in dieses Ghetto. Was für eine Ordnung richteten die Besatzer ein? Über jedem Haus musste ein Fähnchen hängen, ein weißes Fähnchen mit blauem Stern. Das heißt, jedes 170 Wahrscheinlich vermischen sich in diesen Abschnitten der Lebensgeschichte eigene frühkindliche Erinnerungen von Frau Mackina mit Erzählungen, die sie später von ihren Eltern hörte.

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jüdische Haus wurde gekennzeichnet. Auf die Straße durfte man nur mit dem Stern. Und ja, ich erinnere mich, meine Mutter hat diesen Stern nach dem Krieg aufbewahrt. Ein schwarzes Stück Stoff, und darauf war mit gelbem Faden ein sechsendiger Stern eingenäht. […] Mama hat den Stern lange aufbewahrt. Doch 1967, als in Israel der Sechstagekrieg wütete – der Krieg für die Unabhängigkeit – da führte die Sowjetunion eine glühend antisemitische Kampagne. […] Meine Eltern waren sehr gesetzestreue und ein wenig feige Menschen. Und obwohl dieser Stern irgendwo in einer Tasche lag, [dachten sie]: „Und wenn sie ihn doch irgendwie finden, dann beschuldigen sie uns des Zionismus.“ Denn uns war gelehrt worden, dass „Zionismus“ ein Schimpfwort ist. Wer Herzl war, […] das lehrte man uns nicht, doch „der Zionismus ist ein Faschismus.“ Und darum hatten meine Eltern sehr, sehr viel Angst, dass man sie des Zionismus beschuldigen könnte. Und Mama verbrannte das Sternchen, warf es in den Ofen […]. Und während dieser Kampagne erfuhren wir von sehr vielen herausragenden Künstlern, dass sie Juden waren […]. Damals gab es eine Pressekonferenz, in der man Israel mit Schande überhäufte. Und wer war es, der natürlich an dieser Pressekonferenz Israel mit Schande überhäufte? Prominente Juden. Die wurden dazu einfach gedrängt. Und wir erfuhren damals von vielen Künstlern, berühmten Künstlern, dass sie Juden waren. Nun, man stellte im Ghetto von Šargorod natürlich Listen auf. Doch unser Glück lag darin, dass Šargorod die Deutschen nicht interessierte. Es ist ein kleines Städtchen, sehr weit von der Eisenbahnlinie. Und die Deutschen versuchten ja, entlang der Eisenbahnlinien voranzukommen. […] Man schickte uns zur Aufrechterhaltung der neuen Ordnung eine rumänische Einheit.171 […] Drei Jahre lebten wir unter der Okkupation. Und drei Jahre lang war da diese Angst. Wenn wir uns schlafen legten, betete meine Mutter immer zu Gott: „Herr, wenn mir beschieden ist, zu sterben, dann nur zusammen mit meiner Tochter. Lass sie mir mein Kind nicht wegnehmen.“ Ja, das war ihr fast tägliches Gebet. Und wir überlebten. Nach dem Krieg kehrten wir nach Slavuta zurück. Auch andere Juden, die evakuiert worden waren, begannen, nach Slavuta zurückzukehren. Sie kehrten zu ihren Aschehaufen zurück. Sehr viele jüdische Häuser waren zerstört worden, einige jüdische Häuser wurden „gestohlen“. So das Haus meiner Mutter. Es hatte sechs Zimmer, es war aus guten Balken gebaut. 171 Rumänien beteiligte sich am deutschen Angriff auf die Sowjetunion.

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Großmutter hatte es gebaut, in den Zwanzigern. […] Ich kam in diesem Haus zur Welt. Leider wurde es im Krieg verkauft. Das heißt, jemand von der lokalen Verwaltung verkaufte es. Man sagte uns dann: „Für eine Dreiliterflasche Selbstgebrannten und ein Wildschwein.“ Das Haus wurde auseinander genommen, denn die Balken waren hervorragend, und es wurde sogar in ein anderes Gebiet weggetragen. Als wir ankamen, war nur noch das Fundament übrig. Doch weil es in der Familie nun keine Männer mehr gab, war niemand da, der das Haus wieder hätte aufbauen können. Man gab das Grundstück weg, man gab es auch einem Juden, der im Krieg gekämpft hatte. Und er baute dort ein Haus. Ein wenig über meine Eltern. Mein Vater machte einen Abschluss an der historisch-geographischen Fakultät. Doch er kam nicht mehr dazu, zu arbeiten, denn er wurde zum Dienst in die sowjetische Armee einberufen. Bei Kriegsausbruch war er in Lvov, wie auch wir. Doch er blieb bei seiner Einheit. Wir sahen ihn nicht wieder. Er starb an der Front. Meine Mutter schloss 1936 eine jüdische Schule in Slavuta ab. Man muss erwähnen, dass es vor dem Krieg in Slavuta drei jüdische Schulen gab, eine, die vier Jahre dauerte, eine, die sieben Jahre dauerte und seit 1933 eine Mittelschule, also zehn Jahre. Mama schloss die Mittelschule ab, weil sie Lehrerin werden wollte. Und im pädagogischen Institut an der Universität von Odessa gab es eine jüdische Fakultät, wo Lehrer für jüdische Schulen ausgebildet wurden. Sie wollte Jiddischlehrerin werden, deshalb schloss sie die jüdische zehnjährige Schule ab. […] Doch diese Fakultät hielt sich nur noch ein Jahr. 1937 wurde sie aufgelöst. Es gab auch eine bulgarische Fakultät, weil in Odessa viele Bulgaren lebten. Und auch diese wurde aufgelöst. Und Mama schloss dann als Lehrerin für russische Sprache und Literatur ab. 1946 heiratete meine Mutter zum zweiten Mal, einen Landsmann. […] Dieser Mann wurde mir zum Vater, denn an meinen [leiblichen] Vater kann ich mich natürlich nicht erinnern. Er wurde mir zum Vater, er zog nicht nur mich auf, er zog auch meinen Sohn auf […]. Auch er wurde Lehrer, für Mathematik. Er arbeitete in der gleichen Schule wie meine Mutter. […] Sie waren ehrlich, ehrliche Menschen. Na, Lehrer eben. Aber bei uns erdreisteten sich mit der Zeit auch die Lehrer. ließen irgendwo etwas mitgehen. Meine Eltern nutzten ihre Stellungen niemals aus, um etwas aus dem Schulbestand zu bekommen. Oder um im Laden etwas zu bekommen. Denn wissen Sie, wir lebten im Zustand eines ständigen Mangels. […] Sie konnten mit dem auskommen, was sie hatten. Mit dem, was für sie erreichbar war. Und so lebte auch ich. Und all das brachten sie auch mir […] bei. Und dafür bin ich ihnen sehr, sehr dankbar. Und sie brachten das auch noch unseren Kindern bei. Und deshalb

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werde ich bis zum Ende meiner Tage eine lichte Erinnerung an sie im Herzen bewahren. Sie sind in Slavuta begraben und ich fahre jedes Jahr nach Slavuta. Um die Gräber wird gesorgt, sie werden gepflegt und sind in bester Ordnung. […] Wir sprachen zuhause jiddisch. Diese Sprache bekam ich, so könnte man sagen, mit der Muttermilch mit. Umso mehr, weil Großmutter mit uns lebte. Großmutter war vollkommen taub und sie wollte immer unbedingt wissen, […] was am Radio erzählt wurde. Und all das musste man ihr auf jiddisch erklären. Und wenn ich es ihr also erzählte und ein Wort nicht kannte – man musste ihr das alles ins Ohr schreien, offenbar ist mir bis heute so eine laute Stimme geblieben – da rief ich durch die ganze Wohnung: „Mama, wie sagt man dies auf jiddisch und wie jenes?“ Und diese Kenntnis des Jiddischen, das ich immer zuhause gehört habe, hilft mir jetzt in Deutschland (lacht). Hilft mir dabei, mir die deutsche Sprache anzueignen. Das Jiddische war unsere Alltagssprache in der Familie. […] Mein Stiefvater, Papa, war in einer sehr religiösen Familie aufgewachsen. […] Er erhielt in seiner Kindheit eine jüdische Erziehung, wie sie alle jüdischen Jungen damals erhielten. Er erhielt diese Erziehung im Cheder. Dort studierte man die Tora und die Tradition. Er kannte die Tora sehr gut, er konnte die Gebetsbücher wunderbar lesen. Er konnte unsere zeitgenössischen Kalenderdaten in jüdische Daten umrechnen. Zum Beispiel gibt es bei den Juden den Todestag, an dem man des Verstorbenen gedenkt. Das heißt, man zündet für einen Tag und eine Nacht ein Lämpchen an und man liest ein Gedenkgebet. Und all das richtet sich nach dem jüdischen Kalender und mein Vater konnte diese Daten sehr gut umrechnen. Nach seinem Tod – er starb 1990 – blieb mir ein Papierchen, ein Blatt, wo die Namen aller Verstorbenen unserer Familie draufstehen und sogar jener, die an der Front umkamen. Mit den jüdischen Todesdaten. […] Und ich richte mich auch jetzt immer nach dieser Liste. Und wenn der Todestag meiner Eltern kommt oder derjenige meines Mannes, gebe ich immer, wenn bei uns Schabbat ist und dieses Gedenkgebet gelesen wird, die Namen an. Und man liest dann unbedingt für sie das Kaddisch172. Nach der jüdischen Tradition darf man Milchiges nicht zusammen mit Fleischigem essen. Wie es in der Tora gesagt wird: „Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen.“ Bei uns hat man sich daran gehalten. Sogar beim Boršč, beim roten Boršč, den alle mit Sahne essen, bei uns wurde da nie 172 Kaddisch, Aramäisches Gebet, das als Trauerritual anlässlich des Todestages eines Angehörigen verlesen wird.

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Sahne reingetan. Und ich habe mich so sehr daran gewöhnt, dass ich sogar jetzt noch keine Sahne reintue. Mit Sahne schmeckt er mir nicht. […] Es gab bei uns auch einen separaten Topf, in dem wir Milch erhitzten. Für Pessach nimmt man ja vollkommen neues Geschirr und Besteck, man darf ja nicht dasselbe verwenden wie im Alltag. Später hatten wir das dann, doch in den ersten Nachkriegsjahren gab es kein Geschirr. Und ich erinnere mich an unser Sieb zum Sieben des Matzenmehls. Papa machte aus amerikanischen Konserven so ein Döschen. Er hatte einfach mit einem Nagel kleine Löcher rein gemacht. Und die Pfannen, die wir jeden Tag benutzten, die haben sie mit Kohlen von allen Seiten gebrannt, damit man sie für Pessach verwenden konnte. All das habe ich gesehen, all das geschah vor meinen Augen. Na ja, die Gesetze wurden bis zu einem gewissen Grad eingehalten bei uns. Doch muss ich sagen, dass wir auch Schweinefleisch aßen, auch Wurst. Na ja, das Leben war so, das Leben war einfach so. […] Doch ich finde, dass das keine so große Sünde ist. Eine viel größere Sünde ist es, jemanden zu beschimpfen, jemanden zu belügen, ja, einem Menschen nicht zu helfen, wenn er die Hand, nach Hilfe bittend, ausstreckt. Das ist eine größere Sünde. Bei uns gab es nach dem Krieg auch eine jüdische Gemeinde. Geleitet wurde sie von Jicchak Liberson. Ich trage sein Andenken bis heute in meinem Herzen. Das war unser Rabbiner. Auch sein Vater war Rabbiner und sie führten ihren Stammbaum auf Baal Schem Tow173 zurück. Er starb 1982. Er war ein außergewöhnlich intelligenter Mann, ein toleranter Mann. […] Und er ging immer zu den Beerdigungen, sang für alle Verstorbenen, begleitete sie auf dem letzten Weg. Nie schlug er das ab, sogar als er schon ein Greis war. Und am Vorabend des Feiertags zum Neuen Jahr, Rosch Ha-Schana, wenn der Mond ins Grab geht, da werden an den Gräbern der Verstorbenen Gedenkgebete gesprochen. Da kam er auch, er kam immer auf den Friedhof und ein jeder führte ihn zu seinen Verwandten, zu seinen Gräbern und er kam zu jedem Grab […]. Er war ein sehr frommer, sehr guter Mensch. Er wusste immer, welche Witwe kein Holz zum Heizen mehr hatte. Und er kaufte für sie Holz von seinem Geld, von dem Geld, das die Juden in den Synagogen ins Döschen warfen. Wenn man es öffnete, gab er dieses Geld immer für die Wohltätigkeit hin, ja. Bei uns gab es auch Wälder, überhaupt waren rundherum Wälder. Viele Bauern verdienten sich mit Forstarbeiten etwas dazu. Sie wurden dafür mit Holz bezahlt. Sie wuss173 Baal Schem Tow, Meister des Namen Gottes, Beiname Israel Ben Eliesers (1699–1740), des Begründers des ostjüdischen Chassidismus.

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ten schon, dass man mit diesem Holz zum Rabbiner Liberson fahren muss, und der Liberson gibt dann eine Adresse, wo man das Holz hinbringen soll. Am Vorabend von Pessach wusste er, wem man Matze bringen musste. Er gab nicht Geld, sondern immer das, was es brauchte, damit der Ritus beachtet werden konnte. Damit also zum Beispiel am Feiertag eine Familie Matzen hatte. Und manchmal brachte er auch ein Huhn, damit zumindest für die ersten, besonders wichtigen Feiertage Hühnersuppe da war.174 Man hängte bei uns sein Judentum nicht an die große Glocke, sozusagen, das durfte man nicht. Doch an Pessach gab es im Haus kein Brot, es gab Matze. All das wurde eingehalten. An Jom Kippur verließ Papa ganz früh am Morgen das Haus, um in die Synagoge zu gehen. Als es noch dunkel war, damit man ihn nicht sah. Und der Gottesdienst ist normalerweise zu Ende, wenn drei Sterne am Himmel stehen. Das ist im Oktober, dann ist es schon ziemlich dunkel. Ich erinnere mich, in der Kindheit bin ich immer Großmutter in der Synagoge abholen gegangen, um sie nach Hause zu begleiten. Ja, und dann kam Papa jeweils auch raus. Und den ganzen Tag hatte er im Gebet verbracht. Die 50er Jahre waren die Jahre, als sich der staatliche Antisemitismus auszuwirken begann. Erstens war da die Affäre um die „Ärzteverschwörung“, noch zu Stalins Lebzeiten. Das war die Blüte der sowjetischen Medizin. Von zehn Ärzten waren acht Juden. Stellen sie sich vor, wie die Stimmung unter den gewöhnlichen Werktätigen war. An den Fronten im Krieg waren ja sehr viele arbeitsfähige Männer gestorben, man musste das Land wieder aufbauen, und die Werke, Fabriken, der Bau, die mussten alle bemannt werden. Es fehlte an Arbeitern. Natürlich kamen junge Männer aus den Dörfern. Und diese waren meist ungebildet und unkultiviert und es war sehr einfach, sie zu beeinflussen. Und so konnte man überall in den öffentlichen Verkehrsmitteln hören: „O, diese Juden! O, diese Juden!175 Da haben sie vergiftet, dort jenes, da dieses...“ Und so weiter. Diese Schuld, die fast 2000  Jahre an den Juden haftete und bei der unklar war, wofür sie überhaupt schuldig waren. Ja, auch nun wurden sie wieder überall und allerorten angeklagt. […] Zur Zeit dieser Ärzteaffäre hat Stalin auch eine Deportation der Juden vorbereitet.176 […] In das Gebiet Verchojansk, das ist der kälteste Ort der Sowjetunion. Dort baute man schon Baracken, ohne Ofenheizung. Man sammelte 174 An Pessach wird traditionell Hühnersuppe mit Matzeknödeln gegessen. 175 Im russ. Original O, ėti židy! 176 Vgl. Anmerkung 26.

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an großen Eisenbahnknotenpunkten schon Züge, auch diese unbeheizt. […] Sofort nach Stalins Tod wurde der Betrug, der diese Ärzte verdächtig machte, aufgeklärt. Man ließ die Ärzte frei und Professor Vovsi kam zurück zu seinen Studenten ins Institut. Und die Studenten weinten, als sie seine zerquetschten Finger sahen, als sie ihn sahen. Und er sagte, als er in den Hörsaal trat: „Also, wir fahren fort.“ Ich kam 1946 zur Schule, in eine Mittelschule in Slavuta, 1956 schloss ich ab. Nun, was soll ich Ihnen sagen. Ich erhielt die ganzen zehn Jahre über Bestnoten in der Schule. Doch ich bekam keine Auszeichnungen. […] Es gab sehr viele jüdische Schüler, die Anwärter auf eine Medaille waren. Und man entschied, dass es zu viele waren. Das heißt, drei bekamen eine und der Rest waren Ukrainer und Russen. Ich erhielt keine. Auch an der Universität wurde ich nicht genommen. Ich bewarb mich im Institut für Nahrungsmittelindustrie. Dort lernte ich ein Mädchen aus Weißrussland kennen, Nina Bačerova. Noch immer erinnere ich mich an sie. Sie schrieb bei mir beim Aufsatz ab, bei der Aufnahmeprüfung, weil ich die ersten zwei Prüfungen, Chemie und Englisch, mit „sehr gut“ bestanden hatte. Ja, sie schrieb bei mir beim Aufsatz ab. Trotzdem bekam sie eine bessere Note. Und man sagte, ich hätte bei der Bačerova abgeschrieben. […] Meine Mutter ging dann zur Einsichtnahme: Ich hatte absolut keine Fehler im Aufsatz. Ich kannte die russische Sprache dank meiner Mutter sehr gut. Ich schrieb fehlerfrei und schreibe bis heute fehlerfrei, in schwierigen Fällen wende ich die Regeln an, ja. Und ich war also durchgefallen. Und nach Slavuta zurückzukehren, eine Schülerin mit Bestnoten, ohne an einer Uni aufgenommen worden zu sein, das war so beschämend, so schmachvoll. Denn einige meiner Mitschüler, die jeweils klägliche Dreien bekommen hatten, jedoch aus wohlhabenden Familien stammten, waren an der Uni aufgenommen worden. Denn damals, in den Zeiten […] des staatlichen Antisemitismus, gab es eine Tendenz zur Korruption. Juden, die wollten, dass ihre Kinder – und meist waren das begabte junge Menschen – an die Universität kamen, wurden zum Zahlen gezwungen. Und meine Eltern hatten dieses Geld nicht. Mamas Schwester lebte in Lvov und sie erfuhren, dass dort im Technikum noch Studienplätze frei waren. Und ich fuhr direkt aus Leningrad nach Lvov. Ins Technikum wurde ich mit meinen Noten sogar ohne Prüfung aufgenommen. 1959 schloss ich das Technikum ab, in der Fachrichtung Bauwesen. Und ich kehrte nach Slavuta zurück, in die Heimat. Ich arbeitete im Amt für Bauwesen, in der Abteilung für Produktion und Technologie. Dort hatte ich ein Praktikum gemacht und man lud mich dahin zur Arbeit ein.

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Dann, 1960, versuchte ich erneut, an einer Universität einen Studienplatz zu bekommen, für ein Fernstudium. Ich bereitete mich so sorgfältig vor, so gewissenhaft. Ich bestand alle Prüfungen gut, den Aufsatz sogar mit einer Fünf, Mathematik mit einer Vier. In Physik, irgendwie hatte ich den Physikern nicht gefallen, sie hatten mich verwirrt, na ja, einen Dreier bekam ich da. Doch für einen Fernstudenten war das ein sehr guter Durchschnitt und ich weiß, dass alle meine Mitschüler, die nicht sofort einen Universitätsplatz bekommen hatten, mit Dreien zum Fernstudium aufgenommen wurden. Und ich bekam Bescheid, […] dass ich durchgefallen sei. Nun hatte ich nicht mehr genug Kraft und Mut, mich erneut für die Aufnahme zu bewerben, denn ich nahm mir das alles sehr zu Herzen und litt darunter sehr. 1962 heiratete ich und 1964 kam mein Sohn zur Welt. Ich heiratete einen Arbeiter, einen Elektriker. Doch während unseres gemeinsamen Lebens schloss er im Fernstudium die Uni ab. Er arbeitete in einer Tuchfabrik. Es gab bei uns so eine alte Tuchfabrik […]. Dort machte man sehr schöne Bettdecken. 1965 wechselte ich in eine Fabrik, in den Metall- und Betonbau. Es war eine riesige Fabrik, eine Fabrik mit guten Traditionen. Eine Fabrik, die Konstruktionen für den Bau von Brücken erstellte. Brücken für Autos, für die Eisenbahn und […] Fußgängerbrücken. Auch im Häuserbau betätigten wir uns. Es war eine sehr interessante Arbeit für mich. Zwei Jahre war ich in der Werkstatt, und dann wurde ich in die Abteilung für Technik und Produktion verlegt. Von 1980 bis 1994, bis zur Pensionierung, arbeitete ich als Chef der Produktionsabteilung. Ich liebte meine Arbeit sehr. Wir lieferten unsere Produkte in die ganze Sowjetunion, […] bis zum nördlichen Eismeer, alles Konstruktionen von uns. Schrittweise begann man, meinen Mann im Dienst zu befördern, denn er war ein sehr kenntnisreicher und fähiger Mensch. Als er die Universität abgeschlossen hatte, machte man ihn zum Chef der Energieabteilung der Fabrik. Und 1986 machte die Fabrik eine schreckliche, schreckliche Stagnation durch. Niemand kaufte die Produkte, denn die Maschinen waren nicht erneuert worden, man hatte nicht modernisiert. Die Fabrikleiter, zwei Frauen, Chefingenieurinnen und Direktorinnen, waren schon längst im Pensionsalter. Ja und deshalb überanstrengten sie sich nicht gerade und nahmen es ein wenig auf die leichte Schulter. Und der Rajkom177 der Partei bestellte meinen Mann – er war Parteimitglied, er war schon aus der Armee als Kommunist zurückgekehrt – und schlug ihm vor, die Fabrik zu leiten. Am 20. August 1986 wurde er Chef des Kollektivs. Die Fabrik war damals mit eineinhalb Millionen verschuldet. Die 177 Kurzform für rajonnyj komitet, Bezirkskomitee.

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Produktion lag darnieder, es war kein Geld da, um Löhne auszuzahlen, und was hatte man für Schulden! Man nahm Kredite auf bei der Bank, um die Löhne auszuzahlen, um die Materialien für die Produktion zu kaufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Mann schon 23 Jahre in dieser Fabrik gearbeitet und alle kannten ihn gut, alle respektierten ihn. Er war sehr menschlich, ein sehr zugänglicher Mensch, ja, kein übertriebener Ehrgeiz. Und er ging durch die Abteilungen und sagte: „Um das Jahr normal zu beenden, um die Schulden loszuwerden, um die Jahresprämie zu erhalten, Genossen, dafür müssen wir auch am Wochenende arbeiten!“ Und die Angestellten hielten zu ihm. Und tatsächlich, Ende des Jahres hatte man es geschafft. Der Plan wurde in allen Punkten erfüllt, mein Mann konnte den Produktionsprozess entschlacken. Es wurden neue Druckmuster ausgearbeitet, ein liegender Tiger, ein stehender Tiger, Kraniche. Wunderschöne Bettdecken waren das. Diese Decken wurden geradezu massenweise gekauft und waren schön und das Sortiment wurde erneuert. Ja, und all diese Jahre, bis zum Zerfall der UdSSR, noch etwa bis 1994 oder 1995 produzierte die Fabrik weiter. Es gelang ihm sogar, das Rohmaterial billiger einzukaufen und die Produktionskosten wurden zugleich nicht wesentlich erhöht. Denn andere Unternehmen, die in der Ukraine ebenfalls Bettdecken produzierten, erhöhten ihre Produktionskosten mit der Zeit erheblich. Und die Menschen erhielten in der von meinem Mann geleiteten Fabrik wieder ihren Lohn. Manchmal zahlte man den Lohn in Bettdecken, wenn es kein Geld gab. Die Angestellten verkauften dann die Decken irgendwo, doch jedenfalls bekamen sie etwas für ihre Arbeit. […] Mein Mann war zwar ein echter Jude, in allen Belangen… Ein echter in dem Sinne, dass auch dieses kleine Rituälchen178 bei ihm durchgeführt worden war. Alles, wie es sein soll. Doch er war sehr weit entfernt von der Tradition. Wissen Sie, warum? Ich sage es Ihnen. Wir arbeiteten doch alle zusammen mit Ukrainern. Wir waren im Alltag […] stärker mit der ukrainischen Tradition verbunden. Alle Nachbarn waren Ukrainer. Kam ein Festtag, saßen wir bei ihnen zu Tisch, verstehen Sie? Und mein Mann, wissen Sie, als er Direktor wurde, da waren überhaupt all seine Freunde diese Ukrainer. Ja. Und die verbrachten ihre Zeit auf ihre eigene Weise. Die Ukrainer haben natürlich die Tradition, die Feiertage ausgiebig zu begehen, „mit einem rechten Trunk und einem rechten Schmaus“, wie sie sagen. Verstehen Sie? Was werde ich sie also an Pessach zur Matze einladen?

178 Gemeint ist die Beschneidung.

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Ich wollte in die Partei. [Doch] man nahm mich nicht. Ich war im Komsomol, da kam ich in der achten Klasse rein. Mit 14 Jahren nahm einen der Komsomol auf. Und ich war damals so stolz, dass ich es gar nicht ausdrücken kann. Mit soviel Ehrfurcht ging ich ins Bezirkskomitee des Komsomol, zur Bestätigung der Aufnahme. Und als wir den Vertreter des Komsomol sahen, wie wir den begrüßten! Uns schien, dass wir geradezu aufblühten, nur schon vom bloßen Anblick dieses Mannes. Ja, doch dann arbeitete ich im Gerüstebau. Der Chef des Betriebs […], der war, tja, nicht so umgänglich. Sein Vater war so ein berühmter Mann, von dem viel abhing. Und der Chef des Betriebs fürchtete aus irgendeinem Grunde, dass ich ihn von seinem Posten verdrängen könnte. […] Ich habe mich nie vorgedrängt für einen hohen Posten. Ich habe immer ehrlich gearbeitet in der Abteilung, die ich leitete. Und ich hatte schon zwei Empfehlungen zur Aufnahme in die Partei. Ja, und er verhinderte meine Aufnahme. Doch auch wenn ich nicht Parteimitglied war, schickte man mich ins Parteikommissariat […]. Nach den Parteikongressen, […] schickte man mich immer als Politaufklärerin in die Transportabteilung meines Betriebs. Sobald eine Sitzung des Obersten Sowjets zu Ende war, musste man in den Abteilungen eine Verlautbarung machen. Politischer Unterricht war ja obligatorisch. Man musste […] erzählen, was dort im Obersten Sowjet erörtert worden war, was der Oberste Sowjet beschlossen hatte. Wenn es einen Parteikongress gab, dann wurden sowieso das ganze Jahr Papiere hin und hergereicht, und all diese Kennzahlen... Und immer schickte man mich. Ich war immer eine sehr gute Politaufklärerin, ohne in der Partei zu sein. […] Ich war eine Patriotin. Mein Mann und ich hatten keine Ausreiseabsichten, wir hatten nicht den Wunsch, irgendwohin ins Ausland zu fahren. […] Auch meine Eltern waren schreckliche Patrioten. Sie fanden, dass wir in der Sowjetunion wunderbar lebten. Natürlich gab es auch Schlechtes. Natürlich gab es das. Schlecht war, dass jeder Mensch, besonders Menschen in leitenden Positionen, durch das Bezirkskomitee und das Gebietskomitee der Partei unterdrückt wurden. Und in den Kolchosen, in der Landwirtschaft erst recht. Überhaupt muss man sagen, dass in der Partei auf den hohen Posten viele ungebildete Menschen saßen, die sich in fremde Angelegenheiten einmischten. Und damit richteten sie viel Schaden an. Verstehen Sie? Denn Russland ist eigentlich ein Land mit begabten Menschen. Ja, begabte Menschen. Wenn man sie nur nicht unterdrücken würde. Wenn man ihnen Denkfreiheit gäbe, Handlungsfreiheit. […] Vielleicht wäre dann die Sowjetunion nicht zerfallen. Doch weil unqualifizierte Menschen über

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uns saßen … Vielen verging einfach die Lust zu arbeiten, sich einzusetzen. Wie viele Menschen wurden eingesperrt, weil sie Eigeninitiative gezeigt hatten. Und sogar erschossen! Verstehen Sie? Das Volk wurde unterdrückt. Unterdrückt. 1994 war ich 55 Jahre alt geworden. Mit dem Zerfall der UdSSR wurde das [für unsere Fabrik zuständige] Ministerium aufgelöst. Die Aufträge blieben aus, die Produktion wurde verringert. Es kam schon so weit, dass Leute entlassen wurden […]. Und ich war 55. Das ist Rentenalter. Was werde ich also, wenn ich auch Abteilungsleiterin war, was werde ich also weiter zur Arbeit gehen und den anderen ihren Lohn wegnehmen. Und ich bat, drei Monate vor meinem 55. Geburtstag, dass man mich entlasse, denn bei frühzeitiger Entlassung wurde noch drei Monate lang das Gehalt ausbezahlt. Und ich beendete mein Arbeitsleben sehr schön, wenn man bedenkt, was das für Zeiten waren.179 Und bis zum heutigen Tag, wenn ich nach Slavuta komme, treffe ich meine Kollegen. Das Werk gibt es nicht mehr, nur noch die leeren Hallen stehen da. Löcher in den Wänden gähnen einen an. Auch die Fenster sind ohne Scheiben, all das haben sie kaputt gemacht, geklaut. Zum Werk gehörten 21 Kilometer Schienenstrecke, all das wurde geklaut. 13 Kräne wurden auseinandergenommen, um das Eisen zu verkaufen. Wer das Geld dafür bekommen hat, weiß man nicht. Die Menschen sind weg, ohne ihren Lohn bekommen zu haben, bis zum heutigen Tag. Das ist sehr schade und kränkend. Aber ich treffe mich mit meinen Kollegen und ich habe mein Leben so gelebt, dass ich zurückschauen kann und sehe: Hinter meinem Rücken sind Freunde und gute Kollegen. Am 1. Juli 1996 starb mein Mann am Arbeitsplatz, in seinem Büro, kurz vor dem Ende des Arbeitstages. Plötzlich ein schlimmer Herzanfall und bevor die Sanität kam, war er tot. Mein Mann war natürlich kein Anhänger der Emigrationsidee gewesen. Er war ein großer Patriot seines Landes. Auch ich war das, wir wurden so durch unsere Eltern erzogen. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden mein Sohn und seine Frau arbeitslos. Mein Sohn schloss die Musikfachschule ab und diente dann zwei Jahre in der sowjetischen Armee. Meine Schwiegertochter schloss ebenfalls die Musikfachschule ab. Mein Sohn ist Klavierlehrer, meine Schwiegertochter unterrichtet Musik. Und sie wurden arbeitslos, weil die Gebühren der Musikschulen ge179 Hier sind die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Nachwendejahren gemeint.

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stiegen waren. Die Menschen wurden arbeitslos, ohne Mittel zum Leben. Es konnte keine Rede davon sein, seine Kinder zum Musikunterricht zu schicken. Musikinstrumente sind sehr teuer, vor allem das Klavier, und dann noch die Stunden. Balalajkas, die schlugen sich noch irgendwie durch, aber Klavier... Und meiner Schwiegertochter kam die Idee, dass alle wegfahren und dass auch wir weg müssen. Man müsse sich nach Europa bewegen, ins fortschrittliche Europa. Und im Jahr 2002, am 26. September, überschritten wir die deutsche Grenze. Ja, und seither leben wir hier, wir haben uns in Weil am Rhein niedergelassen. Dabei bekamen wir Hilfe von der jüdischen Gemeinde und ihrer Vorsitzenden, Hanna Scheinker. Und man muss sagen, dass unsere Gemeinde sich sehr erfolgreich, mit großem Ernst und mit großem Einsatz, darum kümmert, die Menschen mit Wohnungen zu versorgen. Jetzt leben die Menschen nur noch zwei, höchstens drei Monate in den Heimen. Frau Scheinker wendet sehr viel Energie dafür auf, die Leute mit Wohnungen zu versorgen. 1997, nach dem Tod meines Mannes, gab es bei uns in Slavuta einen Ulpan180, da wurde Iwrit gelehrt. Denn die Menschen emigrierten nach Israel und hatten eine sprachliche Vorbereitung dringend nötig. Auch ich nahm daran teil, denn meine Schwester lebt in Israel. Und ich begann, Iwrit zu lernen. Das Erlernen dieser Sprache fiel mir leicht, wenn sie auch dem Jiddischen überhaupt nicht ähnlich ist. Beim Deutschen hilft es, das Jiddisch, beim Iwrit nicht. Na ja, offenbar liegen mir Sprachen, da schlage ich nach der Mutter. Natürlich, ohne Hilfe hätte ich die Sprache nicht erlernt, doch es wurden alle drei Monate Kurse durchgeführt. Der Sochnut181 nahm diese Sache sehr ernst. […] Ich lernte sehr viel in diesen Kursen. Ich kaufte mir ein Lehrbuch und eine Grammatik des Iwrit in russischer Sprache. Und Verbtabellen. Ja, ich lernte viel und gab nicht auf. Und bald fuhren auch die Lehrer des Ulpan weg nach Israel und empfahlen mich als neue Lehrerin. Und meine Schüler waren dann sehr erfolgreich. Ich unterrichtete dreieinhalb Jahre Iwrit, dann gab es niemanden mehr, den man unterrichten konnte. Und dann lud man mich ein, als Kuratorin weiterzuarbeiten. 180 Ulpan, intensiver Hebräischkurs, der jüdische Immigranten sprachlich auf die Integration in Israel vorbereiten soll. Er kann vor oder nach ihrer Ankunft im jüdischen Staat stattfinden. Oft werden im Ulpan auch Grundkenntnisse in israelischer Landeskunde, Geschichte und in der jüdischen Tradition vermittelt. 181 Sochnut, Agentur, staatliche Einwanderungsorganisation Israels.

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Anna Mackina (rechts), zusammen mit anderen Überlebenden am Denkmal für die Opfer des Ghettos, Slavuta 2002.

[…] Als ich das erste Mal in Israel war, 1993, bin ich ein wenig herumgereist. Da war ich einfach begeistert. Ich war begeistert von diesen Straßen, diesen Transportlösungen, von diesem Aufbruch. Jetzt, in Deutschland, sehe ich dasselbe. Doch damals, als ich nach Israel kam und noch nicht in Europa gewesen war und so etwas bei uns in der Sowjetunion noch nicht erlebt hatte, da war ich einfach begeistert. Diese Gärten, diese Orangenhaine, wo die Bäume gepflanzt sind! Diese Gewächshäuser, diese Krokodilfarmen. Israel, das keine eigenen Rohstoffe hat, muss ja etwas exportieren. Und so exportieren sie Krokodilshäute. Als ich im Norden, in den Golanhöhen war, dort gibt es eine Krokodilfarm, die sah ich dort, da staunt man einfach. Diese Weinberge, diese Apfelbäume in den Golanhöhen! […] Ich unterrichtete nicht nur Iwrit, ich lehrte auch die jüdischen Traditionen. Ich las und lernte, deshalb kannte ich die Tradition sehr gut. Und als ich in die Gemeinde kam und unsere (lacht) Juden traf, die aus den großen Städten gekommen waren, die hatten keine Ahnung von sehr vielen grundlegenden Dingen. Und ich erzählte ihnen. Sie kamen zu den Feiertagen. Und auch in Deutschland berät man sich manchmal mit mir, was traditionellerweise auf den Tisch gehört an einem bestimmten Feiertag. Zum Beispiel an Tu Bi-Schewat, dem

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Anna Mackina mit Schwiegertochter und Enkelin, Lörrach 2008.

Neujahr der Bäume. Ich leitete dieses Fest zwei Mal, erzählte die Geschichte dazu. Ich nehme in Lörrach aktiv am Gemeindeleben teil, […] besuche alle Freitagabendgottesdienste. Zu Purim machten wir Purimspiele182, auch da nahm ich teil. Jetzt bin ich auch in einer Musikgruppe, ich singe, ja, ich lebe ein interessantes, erfülltes Leben und man kann sagen: ein jüdisches Leben.

182 Scherzhafte Stücke, die am Freudenfest Purim aufgeführt werden.

6.  Žanna Š. – „Vieles haben wir dann verstanden, als wir erwachsen wurden.“ Die Lebensgeschichte von Žanna Š. beginnt in der im Uralgebiet gelegenen Stadt Čeljabinsk, wohin ihre Familie nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion evakuiert wurde. Hier kam Žanna Š. 1944 zur Welt. Ihre Eltern stammten aus dem ukrainischen Schtetljudentum; die Topoi der „Armut“ und „Enge“ des Schtetls begegnen auch in dieser Lebensgeschichte: „Sie hatten sehr viele Kinder. So haben sie dort gelebt, sehr arm und sehr eng, aber das war nun mal so damals.“ Ihr Vater, der mit Vornamen Aron hieß, war im Handel tätig, die Mutter, Fajna, arbeitete als Buchhalterin. In der Familie, die nach Kriegsende in ihre ukrainische Heimatstadt Vinnica zurückkehrte, wurde auch während der Sowjetzeit das Jiddische noch gesprochen, das neben Russisch die zweite Sprache im Elternhaus war und von den Eltern aktiv, von Žanna Š. eher passiv beherrscht wurde. In diesem jüdischen Haus blieb – anders als dies für die Mehrzahl der sowjetisch-jüdischen Familiengeschichten gilt – die religiöse und kulturelle Traditionskette weitgehend intakt. So sei Žanna Š. schon früh klar gewesen, dass sie einmal einen Juden heiraten würde. „Ich wusste, dass bei mir kaum eine Ehe mit einem Nichtjuden möglich gewesen wäre. Die Eltern hätten das niemals zugelassen“. 1967 heiratete sie den Elektriker Naum Š. Doch seien die jüdischen Traditionen auf das Privatleben beschränkt gewesen; nach außen hin habe man ein weitgehend unauffälliges, „sowjetisches“ Leben geführt. Der Partei sei die Familie dennoch ferngestanden. Man habe „nicht „Hurra“ geschrieen, wo es nicht nötig war“, wie Žanna Š. im Gespräch sagt. Die Eltern hätten zuhause anders über die politischen Zustände gesprochen als in der Öffentlichkeit. Žanna Š. erinnert sich, dass sie dies als Kind verwirrte. Sie habe durchaus mit Begeisterung an den Aktivitäten des Komsomol teilgenommen und zunächst die Systemkritik, die ihre Eltern im vertrauten Kreis äußerten, nicht nachvollziehen können: Papa hat sehr viel diskutiert, [...] mit Freunden. Ich habe das gehört und damals nicht verstanden. Wenn er darüber sprach, was mit unserem Land gemacht wird. [...] Und ich habe zugehört. Und es nicht verstanden. Ja, ich habe ihn nicht verstanden. Wie konnte er so reden, wo bei uns doch alles so gut war! Besonders als ich ein Mädchen war, Pionierin, beim Komsomol, verstehst du? Bei uns war die patriotische Idee im

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Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion Land sehr stark. Wir wurden in eine sehr patriotische Richtung erzogen. [...] Die Agitation im Land hat sehr gut funktioniert. [...] Doch vieles haben wir dann verstanden, als wir erwachsen wurden. Als die Zeit kam für die Aufnahme ins Institut und alles.

Žanna Š. beschreibt hier ihren persönlichen Reifungsprozess als ein Anwachsen der Einsicht in die diskriminierenden Mechanismen des sowjetischen Systems. Dieser Bewusstseinswandel wird dabei mit den Erfahrungen beim Übertritt an die Hochschule in Verbindung gebracht. Žanna Š. wollte Ärztin werden, der ihr aufgrund ihrer Leistungen zustehende Studienplatz sei ihr aber vorenthalten worden. Auch in anderen sowjetisch-jüdischen Lebensgeschichten stellen die Diskriminierungserfahrungen bei der Bewerbung um Studienplätze in der Nachkriegszeit einen Wendepunkt dar. Oft werden die Benachteiligungen an den Hochschulen als desillusionierende Erfahrungen beschrieben, die zu einem Bewusstsein des Nachteile bringenden Minderheitenstatus führen und die eigene Loyalität gegenüber dem sowjetischen System in Frage stellen. Das Berufsleben von Žanna Š. nahm später eine positive Wende. Sie bekam einen Platz im Chemiestudium und hatte eine leitende Stellung in einer Waschmittelfabrik inne. Auch ihr Ehemann hatte ein gutes Auskommen. Eine zentrale Stellung nehmen in dieser autobiographischen Erzählung die Kriegs- und Gewalterfahrungen der Familie ein, die Frau Š. vor allem aus späteren Erzählungen der Eltern und weiterer Angehöriger kennt. Die Ereignisse an der europäischen Ostfront des Zweiten Weltkriegs und das beschwerliche Überleben in den Evakuationsorten bilden dabei nur einen der Höhepunkte einer Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren grausame Bilanz hier aus der Perspektive der eigenen Familie beschrieben wird. Sie umfasst neben den gewaltsamen Sowjetisierungskampagnen der zwanziger und dreißiger Jahre und dem Zweiten Weltkrieg auch die Revolutionswirren und den Russischen Bürgerkrieg, in dem der Vater von Žanna Š. als Jugendlicher gekämpft und schwere Verletzungen davongetragen hat. Dabei ordnet Frau Š. ihre verlustreiche Familiengeschichte nicht als ein außergewöhnliches Schicksal ein: „Bei uns sind wie gesagt fast alle Männer gefallen [...]. Von den Verwandten zweiten Grades, von den Tanten und Onkeln, rede ich gar nicht erst. Eigentlich sind alle umgekommen. Nun, wahrscheinlich gibt es keine Familie, in der niemand umgekommen wäre.“

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Der die eigene Verlusterfahrung relativierende Zusatz, dass wahrscheinlich jede sowjetische Familie ein zumindest vergleichbares Leid erfahren habe, verweist auf ein Bestreben, die persönlichen Erfahrungen nicht über Gebühr in den Vordergrund zu stellen und die eigene Biographie als „gewöhnlichen“ Werdegang eines sowjetischen Menschen darzustellen. Dies ist charakteristisch für die von Frau Š. eingenommene Erzählhaltung, die man als die Strategie einer Normalisierung der Lebensgeschichte beschreiben könnte. Dazu gehört das Bemühen, nicht zu klagen und nicht anzuklagen. Die mit der jüdischen Herkunft verbundenen Schwierigkeiten und Konflikte werden deshalb in dieser Lebensgeschichte nicht übermäßig betont und es dominieren die vorsichtigen Zwischentöne. Zuweilen wird jedoch deutlich, dass Frau Š. Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer jüdischen Herkunft sehr wohl erinnert, es aber nicht für angebracht hält, diese zu erwähnen. An einer Stelle kommt dieses Verfahren der Selbst-Zensur besonders deutlich zum Ausdruck: [...] Mich haben immer verschiedene Nationalitäten umgeben. [...] Ukrainer sind mit mir zur Schule gegangen, Russen und Juden. Aber in der Schule, da kann ich nichts sagen, ich machte keinerlei negative Erfahrungen. Bei meinem Nachnamen ist es schwierig, sich ein Bild vom Namen zu machen. Weißt du, wie sie mich genannt haben? – Kozlova! Kozlicha. Nun ja. Ich hatte einen komplizierten Nachnamen.183 Einen sehr seltenen Nachnamen übrigens. [...] In der Schule fühlte ich mich immer normal. Na ja, ich merkte natürlich ein bisschen, dass… Aber nein, ich werde nichts dazu sagen. Alles war normal, positiv.

Die Tendenz zur „Normalisierung“ der eigenen Lebensgeschichte bedeutet, dass Diskriminierungserfahrungen eher ausgespart werden. Zugleich beschreibt Frau Š., wie sie im Verlauf ihres Lebens zunehmend die sowjetischen Verhältnisse als repressiv und judenfeindlich zu sehen begann. Letztlich sind dies gegensätzliche, wenn man will „widersprüchliche“ Momente in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung. Der Versuch, diese „Widersprüche“ aufzulösen, würde der Vielschichtigkeit dieser Erzählung nicht gerecht. Sie sollen hier nur festgestellt werden – als ein Teil des komplexen Bildes, das Frau Š. von sich im Interview entwarf.

183 Gemeint ist, dass ihr Mädchenname – er bleibt auf Wunsch der Befragten ungenannt – Žanna Š. nicht eindeutig als Jüdin auswies, was ihr, wie sie vermutet, Diskriminierungserfahrungen erspart hat. Kozlova – hier als Spitzname verwendet – ist ein verbreiteter russischer Nachname.

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Lebensgeschichte Ich hatte zwei Großmütter. Die Eine wurde im Krieg deportiert. Und die zweite Großmutter erlebte die Okkupation und kam um. Offiziell trage ich ihren Vornamen. Damals war Tante Paša mit ihr, Mamas Schwester. Die war sozusagen unter den Erschossenen. Sie war schon im [Massengrab] und kletterte aus dem Grab wieder heraus [...]. Sie und noch ein Junge blieben am Leben. [...] Hitler hatte ein zweites Hauptquartier, neun Kilometer von Vinnica entfernt [...].184 Zu diesem Oberkommando gab es keinen Zutritt. Deshalb ist nicht bekannt, was dort drinnen war. Nun, Hitler war zweimal in Vinnica. Von all den Menschen, die dieses Oberkommando aufbauen mussten, blieb niemand am Leben. Tante Paša hat all das miterlebt. [...] Im Mai des Jahres 1942, am 30. Mai des Jahres 1942, gab es im Schtetl Kalinovka eine erste Erschießung [...]. Auf dem Feld stehen heute zwei Denkmale, dort, wo zwei Massengräber waren. Und meine Tante ist aus diesem Grab wieder rausgestiegen. Ein Wunder. Sie blieb am Leben, sie ist einfach lebendig ins Grab gefallen. Und das Grab hat, wie sie erzählte, drei Tage lang geatmet. Weil viele nicht gestorben waren (seufzt). Das alles weiß ich nur aus ihren Erzählungen. Sie hat sehr wenig erzählt. Sie wurde gerettet, sie blieb am Leben. Dank den Menschen, die sie gerettet haben. [...] Sie haben Tante Paša geholfen, deshalb überlebte sie. Danach war sie bei den Partisanen. Dann wurde sie nach Rumänien deportiert. Aus Rumänien kam sie zurück, als Vinnica schon befreit war. Vinnica wurde am 20. März 1944 befreit. [...] Mein Vater hatte den Bürgerkrieg durchgemacht, er war damals noch ein Kind. 18 Jahre war er alt, als er zurückkam. Und er hatte schwere innere Verletzungen. Und er hat schlecht, sehr schlecht gehört. Deshalb war er nicht [an der Front im Zweiten Weltkrieg]. Deshalb blieb er am Leben. [...] In die Konzentrationslager kam aus unserer Familie niemand. Nur ins Ghetto. Zwei Brüder meiner Mutter sind an der Front gefallen. Panzerfahrer waren sie. Der dritte Bruder hat den Krieg überlebt, er war beim Berufsmilitär. [...] Er ist 1960 gestorben, ebenfalls an Kriegsverletzungen. Ziemlich jung ist er gestorben, etwas über 50 wurde er. 54 Jahre alt wurde er. So ist das. Nun, [...] von meinem Vater ist ein Bruder gefallen, der zweite Bruder hat den Krieg überlebt. Der Mann meiner Tante kam um.

184 Vinnica, Stadt südwestlich von Kiev. Im Zweiten Weltkrieg ließen die deutschen Besatzer nördlich von Vinnica ein Führerhauptquartier errichten, in dem sich Hitler in den Jahren 1942 und 1943 zeitweise aufhielt.

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[...] Ich wusste von den Ghettos und Konzentrationslagern schon seit meiner Kindheit. Ich wusste sehr viel darüber, doch zu lesen gab es dazu wenig. Weil es damals wenig Literatur über den Krieg gab. Die kam später. Ich wusste viel aus Erzählungen, der Vater hat viel erzählt. Doch er sprach darüber nicht laut, laut wurde darüber nicht gesprochen. Vinnica war ein ziemlich jüdisches Städtchen. Rundherum gab es viele jüdische Orte. So kam meine Mama zum Beispiel aus [Ortsname]. Papa ist aus [Ortsname], doch sie sind nach Vinnica umgezogen, der Papa und der Großvater. Die Familie war groß, viele Kinder gab es. Ungefähr im Jahre 1906 kamen sie nach Vinnica. Hundert Jahre ist das her. Sie hatten sehr viele Kinder. Und so haben sie dort gelebt, sehr arm und sehr eng, aber das war nun mal so damals. [...] In der Stadt hat sich eine Familie mit der Herstellung von Matzen beschäftigt. Meine Eltern haben ihnen Mehl gebracht. Vier, fünf Kilo. Und das wurde jeweils nachts abgeholt. Weil das nicht gerade erlaubt war, sozusagen. Später hat sich alles geändert. Nach der Perestroika hat man angefangen, Matzen aus Israel zu importieren. Man konnte sie schon in der Synagoge [...] kaufen. Früher war dies ziemlich schwierig. [...] Ich habe mich an die Matze gewöhnt, bei uns zuhause wurden [die Pessachbestimmungen] immer eingehalten, bis heute. Ich liebe diese Feiertage sehr. Die letzten 15 Jahre habe ich also an Pessach kein Brot gegessen, sondern nur Matzen. Ich mag es, und mag es auch hier in Deutschland. Es ist ungewohnt, aber mir schmeckt es. [...] An Neujahr machten wir immer Grabbesuche. Das war bei uns üblich. Sogar schon einen Monat vorher kamen die Leute aus anderen Städten hergefahren und besuchten die Gräber. [...] Und an Pessach wurde zuhause unbedingt eine sehr gründliche Reinigung vorgenommen, eine vollständige, alles wurde herausgeputzt und herausgekratzt [...]. [...] Im Schulalter kamen wir zum Komsomol, und auch den Pionieren sind wir im Schulalter beigetreten. Als wir bei den Pionieren aufgenommen wurden, das war ein Fest! Nun, wir waren da noch Kinder, vieles haben wir nicht verstanden. Das war sehr feierlich. Und kein Komsomolze zu sein, das hätte ich mir gar nicht vorstellen können. Das musste man einfach sein [...]. Das war nicht einfach nur gut angesehen, sondern unumgänglich. Es wäre eine Schande gewesen, kein Komsomolze zu sein. Nun, mit 27 Jahren ist man dann aus dem Komsomol ausgetreten und das war es. [...] Wer im Komsomolleben aktiv war [...], der hatte sich fürs Leben sehr gut abgesichert. Mein Mann hat zum Beispiel einen Freund,

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der war Komsomolzenführer in der Fabrik, und das hat ihm im Leben sehr geholfen. [...] Papa hat sehr viel diskutiert, [...] mit Freunden. Ich habe das gehört und damals nicht verstanden. Wenn er darüber sprach, was mit unserem Land gemacht wird. [...] Und ich habe zugehört. Und es nicht verstanden. Ja, ich habe ihn nicht verstanden. Wie konnte er so reden, wo bei uns doch alles so gut war! Besonders als ich ein Mädchen war, Pionierin, beim Komsomol, verstehst du? Bei uns war die [patriotische] Idee im Land sehr stark. Wir wurden in eine sehr patriotische Richtung erzogen. [...] Die Agitation im Land hat sehr gut funktioniert. [...] Doch vieles haben wir dann verstanden, als wir erwachsen wurden. Als die Zeit kam für die Aufnahme ins Institut und alles. [...] Wir waren nicht in der Partei. Niemand von uns. [...] Der Vater war natürlich in seiner Jugend Mitglied gewesen. Auch während des Krieges, glaube ich. Ich weiß nicht mal mehr, wie das bei ihm genau war. Doch kurz gesagt: Er trat aus der Partei aus. Ich erinnere mich gar nicht, wie das ablief. Mama war natürlich nicht in der Partei. [...] Wir wollten nicht. [...] Mit Politik haben wir uns nicht beschäftigt. Wie man so sagt, wir waren alle weit weg von der Politik. [...] Wir haben nicht „Hurra“ geschrieen, wo es nicht nötig war. Wir waren es gewohnt, dass immer ganz verschiedenen Feiertage gefeiert wurden. [...] Wir feierten die nationalen Feiertage. [...] Neujahr natürlich, den Ersten Mai, den Tag der Oktoberrevolution, dies waren bei uns nicht Arbeitstage, das waren sehr wichtige Feiertage, sowjetische Feiertage. Nun, auch der Achte März, verstehst du (lacht)? Wir haben sie geliebt, diese sowjetischen Feiertage. Paraden. Und nach der Parade dann unbedingt ein Festessen. Und überhaupt, wir haben das alles geliebt, es war sehr fröhlich. Denn bei uns ist es in den Restaurants nicht so wie hier bei euch in Deutschland. Im Restaurant gibt es immer Musik, die Leute tanzen, die Leute feiern. Sie kommen nicht einfach nur zum Essen. Und gegessen wird bei uns sehr viel. Wenn wir hier in Deutschland ins Restaurant gehen, ist alles sehr schön. Aber alles ist geordnet. Wir bereiten selbst alles vor, laden Gäste ein. Na ja, wir haben uns daran gewöhnt. Auch wenn man sagt, dass wir arm gelebt haben… Das stimmte, doch immer war alles da, und wir waren die Armut gewohnt. Hier sehe ich solche Feiern nicht. Verstehst du? [...] Bei uns in der Familie wurden auch die jüdischen Feiertage begangen. Auch weil meine Mama es von ihrer Mama [...] so gelernt hatte. Wir kannten Pessach sehr gut, auch das jüdische Neujahr. Das waren bei uns sehr wichtige Feiertage. Und Jom Kippur war ein heiliger Tag, und Channuka haben wir heiß

Žanna Š.

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geliebt. Das ist der Feiertag, an dem den Kindern Geld geschenkt wird. Deshalb heißt dieser Feiertag bei uns „Kindergeld“. Alle haben da etwas gegeben, alle Onkel und Tanten, alle. Papa und Mama natürlich, alle schenkten Geld. Das waren Kopeken, aber dazumal… Verstehst du? [...] Wir haben also alle Feiertage begangen und ich kannte die Feiertage gut. Als ich [nach Deutschland] kam, fand ich es merkwürdig, dass viele hier, auch alte Leute, die jüdischen Feiern nicht kennen. Aber nicht überall in der Sowjetunion wurden diese Traditionen bewahrt. Bei uns in der Ukraine war es auch so. Mama hat die Traditionen bewahrt, aber die Nachbarn, die älter und auch jüdisch waren, die haben das nicht getan. Sagen wir es so, sie waren Kommunisten, oder so etwas in der Art. Sie haben die Traditionen nicht bewahrt. Na ja. Auch Weihnachten haben wir gefeiert. Weil wir sehr viele russische Freunde hatten. Und Ukrainer, alles in allem sehr viele. [...] Zu Weihnachten wird dort bei uns eine Kuča gemacht. Schwierig zu erklären, was das ist. Nun, es wird Hirse gekocht, mit Honig, mit Nüssen. Eine leckere Speise ist das. Die gibt es speziell zu Weihnachten. [...] Wir haben bis heute keine rein jüdische Küche. Im Gegenteil, denn viele unserer Freunde sind Ukrainer. Doch sie lieben die jüdische Küche sehr. Da gibt es Fischfrikadellen, die bereite ich jetzt selber zu. Zu Pessach gibt es [...] allerlei aus Matzen. Kurz gesagt, den Ukrainern schmeckt das sehr, und wir wiederum lieben die ukrainische Küche. [...] Ich koche Boršč, ich weiß nicht, ob das jüdisch oder ukrainisch ist. Nun, Boršč eben (lacht). Wir kennen irgendwie keine solche Trennung zwischen jüdischer und ukrainischer/russischer Küche. Das Eine ist jüdisch, Hühnchen etwa. Aber ich glaube, alle kochen es so. [...] Natürlich kennen wir die deutsche Küche nicht so gut. Nun, Speck lieben wir. Wir vergöttern ihn. [...] Ich sage ja, alles vermischte sich, jetzt ist es sehr schwierig zu sagen, was genau jüdisch ist. Die Fischfrikadellen waren einst rein jüdisch. Doch ich bekam sie überall auf der ganzen Welt. [...] Zuhause sprach ich nur russisch. In der Schule sprachen wir natürlich russisch und ukrainisch. Dies sind die Sprachen, die in der Schule unterrichtet wurden, und wenn ich heute in Vinnica auf den Markt gehe, spreche ich ukrainisch. Und zuhause sprach ich einzig und allein russisch. [...] Ich verstand die jiddische Sprache sehr gut, genauso gut wie das Russische. Für mich machte es keinerlei Unterschied, in welcher Sprache gesprochen wurde, ich bemerkte es nicht einmal. Doch sprechen konnte ich das Jiddische nicht. Ich habe es nie gesprochen. Bei meinem Mann zuhause wurde nur Russisch gesprochen. Seine Eltern sprachen so ein wunderschönes Russisch. Bei ihm zuhause wurde kein Jiddisch

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gesprochen. Bei uns schon, weil meine Eltern zu ihrer Zeit vor dem Krieg im Technikum in jiddischer Sprache studiert hatten. [...] Ich war sozusagen eine geborene Ärztin. Aber mit meinem fünften Punkt185 war es sehr schwierig, einen Studienplatz im medizinischen Institut zu bekommen. Nur eine festgelegte Anzahl jüdischer Studenten wurde genommen. Drei Jahre lang versuchte ich es. Ich arbeitete im regionalen Krankenhaus, da ich ein Praktikum brauchte. Ich habe das medizinische Praktikum absolviert, aber trotzdem reichte es irgendwie nicht: Es fehlte mir ein Punkt, oder ein halber Punkt bei der Aufnahmeprüfung. So kam ich ans Polytechnische Institut, das ich dann auch abschloss. [...] Und ich wollte das ganze Leben, seit meiner Kindheit, Medizin studieren. Das Medizinstudium ist bei uns sehr anspruchsvoll, die Aufnahme ist ein Problem. [...] Man bewirbt sich irgendwo weit weg in Russland. Auch muss man bestimmte Beziehungen haben, weil das medizinische Institut bei uns ein sehr prestigeträchtiges und anspruchsvolles Institut ist. Ich habe es nicht geschafft. Dennoch habe ich eine Hochschulausbildung erhalten. Dazumal war Chemie in Mode und ich kam an die chemische Fakultät. [...] Ich war ziemlich erfolgreich in meiner Arbeit [...], doch durfte ich nicht in dem Beruf arbeiten, den ich mir wünschte. Was kann man machen? So etwas kann auch hier in Deutschland passieren. [...] In der Stadt Vinnica gab es eine sehr große und für das ganze Land wichtige Chemiefabrik. Sie hatte verschiedene Namen. Dort habe ich praktisch mein ganzes Leben lang gearbeitet. Ich hatte verschiedene Posten inne. Ich begann als Laborantin, danach heiratete ich [...]. Ich weiß, dass bei mir kaum eine Ehe mit einem Nichtjuden möglich gewesen wäre, die Eltern hätten es niemals zugelassen. Ja, ich wusste das einfach. [...] Besonders nach dem Krieg änderte sich das dann alles. Denn vor dem Krieg gab es wirklich keine solchen Mischehen. Und nach dem Krieg… Alles änderte sich. [...] Dann, als die Perestrojka kam, da begann alles zusammenzubrechen. Und unsere zwei Werke – wir produzierten Waschmittel – kaufte eine Firma, sagen wir es so. Und ich war überhaupt die einzige Fachperson, die sich in den letzten Jahren mit Standardisierung beschäftigt hatte. Und sie haben mich gekauft, ohne mich zu fragen. [...] Ich habe dort sehr erfolgreich gearbeitet, bis zum letzten Tag vor der Ausreise nach Deutschland.

185 Unter dem „fünften Punkt“ war im sowjetischen Pass die Nationalität vermerkt. Auch die jüdische Herkunft galt im administrativen Verständnis als Nationalität.

7.  Hanna Scheinker – „Ich merkte, dass ich die ganze Zeit in die falsche Richtung gegangen war.“

Die Lebensgeschichte von Hanna Scheinker, geborene Stark, nimmt eine Sonderstellung unter den hier versammelten autobiographischen Erzählungen ein. Die 1934 im litauischen Šiauliai geborene Jüdin gehörte nicht zur „stillen Mehrheit“, wie sie hier definiert wurde. Eher ist sie der jüdischen Widerstandsbewegung zuzurechnen, denn sie strebte schon in den siebziger Jahren eine Emigration an und konnte schließlich 1978 ausreisen, zunächst in das aufgrund der Einreisebestimmungen leichter zu erreichende Israel, kurze Zeit später in die BRD, wo sie sich mit ihrer Familie niederließ. Doch auch wenn Frau Scheinkers Biographie sich von den Lebenswegen der anderen Befragten durch die frühe Entfremdung vom sowjetischen System unterscheidet, folgt die erzählerische Verarbeitungen ihrer Erfahrungen in weiten Teilen ähnlichen Mustern. Hanna Scheinker erinnert sich an eine wohlbehaltene Kindheit vor dem Krieg im unabhängigen Litauen. Das Judentum habe dabei eine untergeordnete Rolle gespielt und die Familie habe sich auf dem Weg der Assimilation befunden. Obwohl man in ihrem Elternhaus noch das Jiddische pflegte, sei man der Religion ferngestanden: „Es gab keine Traditionen mehr, nur Erinnerungen daran. [...] Wir lebten so wie die Nachbarn. Die Litauer und die Russen.“ Als 1941 die deutsche Invasion bevorstand, entschloss sich die Familie zur Flucht, die sie nach Kirgisien führte. Ihre Kindheitserinnerungen an die entbehrungsreiche Zeit in Zentralasien fügt Frau Scheinker im Interview zu einer eindrucksvollen Geschichte vom Überleben unter den Bedingungen von Armut, Hunger und Krankheit. Nach dem Kriegsende und ihrer Rückkehr in das nun zur Sowjetunion gehörende Litauen besuchte Frau Scheinker die Schule. Sie habe davon geträumt, Ärztin zu werden, sei jedoch nicht ins Medizinstudium aufgenommen worden. In der Rückschau erklärt sie dies mit den diskriminierenden Nationalitätenquoten im sowjetischen Bildungssystem. Doch damals habe sie nicht gewusst, dass „sich der Rektor bestechen ließ und zugleich bestimmte Anordnungen befolgen musste, wie viele Studenten einer bestimmten Herkunft er aufnehmen durfte“. Später wurde Frau Scheinker Lehrerin für Russische Sprache und Literatur. Lange Zeit sei sie eine loyale Sowjetbürgerin gewesen, die ihre Schüler zum Sowjetpatriotismus erziehen wollte. Wie sie erzählt, habe sie vor allem

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ihr zweiter Ehemann – eine erste Ehe wurde Mitte der sechziger Jahre aufgelöst – zu einem Umdenken bewegt. Dieser war als Jude während des Zweiten Weltkrieges im Konzentrationslager Stutthof interniert gewesen. Er habe „so viel leiden müssen“ und „diesen Schmerz [...] nie verziehen“. Deshalb habe er in der Sowjetunion – „einem Land, das die Juden ungerecht behandelt[e]“ – nicht mehr weiterleben wollen. Die Gespräche mit ihrem Ehemann hätten Hanna Scheinker merken lassen, dass sie „die ganze Zeit in die falsche Richtung“ gegangen war und „dass der Kommunismus nie Wirklichkeit werden würde“. Auch sie habe sich in der Folge stärker mit dem Judentum identifiziert, ihr Mann habe ihr geholfen, „die Leiden des jüdischen Volkes zu verstehen“. In diesen Passagen wird Hanna Scheinkers lebensgeschichtliche Erzählung zu einer Konversionsgeschichte: Die Abkehr von einem falschen Glauben an eine Ideologie, die Frau Scheinker in der Rückschau als wirklichkeitsfern erscheint, mündet in die Hinwendung zum Judentum und führt schließlich in die Emigration. In Deutschland ist Frau Scheinker seit Mitte der 1990er Jahre maßgeblich beteiligt am Aufbau der jüdischen Gemeinde in Lörrach, die mittlerweile viele jüdische Emigranten aus den ehemals sowjetischen Ländern aufgenommen hat. Im Zusammenhang mit dieser neuen Tätigkeit hat sie sich auch selber einem religiösen Judentum angenähert. Ähnlich wie beispielsweise in der lebensgeschichtlichen Erzählung von Herrn Valler reflektiert auch Frau Scheinker in mehreren Passagen über weltanschauliche Umbrüche zwischen den Generationen der sowjetischen Juden, die in ihrer Familie unmittelbar erfahrbar gewesen seien. Heute spricht sie mit einer reflektierten Distanz – und aus der neu gewonnenen religiösen Überzeugung heraus – über die damals unterschiedlichen Anschauungen und Überzeugungen in der Familie. Zwar habe ihr die Großmutter von Gott erzählt, doch habe sie dies damals für „Hirngespinste“ gehalten und sei dafür „absolut unempfänglich“ gewesen. Während des Krieges habe die Großmutter geglaubt, dass das ganze Leid geschehe, „weil Gott es so will“, während für die Mutter das Leiden der unschuldigen Bevölkerung gerade der Nachweis für die Nichtexistenz Gottes gewesen sei. Auch der Tod Stalins im März 1953 sei, wie Frau Scheinker erzählt, in der Familie unterschiedlich aufgenommen worden. Sie selber habe lange an das überhöhte Bild vom sowjetischen „Führer“ geglaubt. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass dieser den Juden feindlich gesinnt war. Damals habe sie sich empört über das Gerücht einer bevorstehenden Deportation der sowjetischen Juden: „Warum behauptet man, Stalin habe angeordnet, für unsere Verbannung

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Züge bereitzuhalten186? Das ist nicht wahr!“ Während sie zusammen mit ihren Mitschülern trauerte, hätten sich die Eltern „über seinen Tod gefreut“. Die Eltern hätten Stalin realistischer eingeschätzt, wie Frau Scheinker aus heutiger Sicht findet. Indem Frau Scheinker nachzeichnet, wie sich ihre Haltungen im Laufe ihres Lebens verändert haben, erzählt sie auch von einer Annäherung an die Sichtweisen der älteren Generationen, nicht zuletzt gilt dies für die Religiosität. So folgt auch diese Lebensgeschichte dem Muster einer generationenübergreifenden Erzählung von Entfremdung und Rückbesinnung. Lebensgeschichte Ich wurde am 4. Dezember 1934 in der litauischen Stadt Šiauliai geboren. [...] Meine Kindheit vor dem Großen Vaterländischen Krieg verbrachte ich in der Familie meiner Eltern. [...] Sie führten ihren eigenen Haushalt. Sie hatten ihr Leben, ihre Arbeit. Damals gab es keine Taxis, und [...] sie hatten Pferde und Kutschen, mit denen man die Leute transportierte. Die Kutschen hießen Phaetons. Mein Vater hatte einige Phaetons. Er hatte Lohnarbeiter und arbeitete auch selbst. Das war damals wie ein Taxi. [...] Wir besaßen auch einige Häuser und hatten einen großen Hof. [...] So war es bis zum Ausbruch des Krieges. Ich bin ohne Religion aufgewachsen, denn bei uns zu Hause wurde sie nicht praktiziert. Wir wussten, dass wir Juden sind, dass es zweierlei Küchen gibt.187 Doch koscher haben wir nicht gegessen. So war das. Wir haben ein ganz anderes Leben geführt damals. Wir lebten so, wie die Leute um uns herum. Bei uns wurden vor allem sowjetische Feiertage gefeiert: Der 1. Mai, der 7. November188, der Verfassungstag, der Tag der Presse, der Tag der Armee und der Tag der Befreiung vom Faschismus. Diese Festtage wurden in der Stadt und in der Schule gefeiert, und selbstverständlich haben sie auch auf den Familienalltag eingewirkt. Aber die religiösen Feste – das waren nur Erinnerungen. Wir wussten, dass an diesem oder jenem Tag ein Feiertag war. [...] Unter Stalin gab es in der ganzen Sowjetunion bestimmte Regeln, bestimmte Standards, die für alle galten. So haben alle gelebt. Meine Mutter las uns Bücher auf jiddisch vor. Scholem Alejchem. Alle versammelten sich, um ihr zuzuhören. Sie war die einzige, die das Jiddische lesen 186 Vgl. Anmerkung 26. 187 Frau Scheinker bezieht sich hier auf das religiöse Gebot, Milch- und Fleischprodukte zu trennen. 188 Am 7. November – im alten, julianischen Kalender entsprach dies dem 25. Oktober – wurde der Tag der Oktoberrevolution gefeiert.

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konnte. Sie las also, und wir hörten zu und lachten über Scholem Alejchems Laufbahn. Ich kann mich jetzt nicht an Scholem Alejchems Lebensweg erinnern, aber das war etwas Besonderes. Er war ein Waisenkind. Und wie seine Stiefmutter mit ihm sprach, wie sie ihn verwünschte oder welche Sachen sie ihm erzählte, das alles schrieb er auf. Dieses Blatt legte er auf sein Bett. Einmal wechselte die Stiefmutter seine Bettwäsche [...]. Da fiel dieses Blättchen heraus und sie begann es zu lesen. Und sie musste so lachen, dass sie beinahe platzte. Diese Biographie las unsere Mutter für uns und wir baten sie, sie noch einmal zu lesen, denn sie war sehr lustig und spannend.189 Wie die Stiefmutter ihm einen süßen Tod unter einem Wagen voller Zucker wünschte. Und wenn er sehr hungrig war 189 Gemeint ist Scholem Alejchems unvollendet gebliebener autobiographischer Roman „Vom Jahrmarkt“, der erstmals 1915 erschien.

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und sehr schnell wuchs und essen wollte, da schrie sie: „Du bodenloser Darm!“ Verstehen Sie? So waren die Ausdrücke in diesem Buch. „Bodenlos – so sind deine Gedärme.“ […] Und unser Vater sang uns manchmal Lieder vor. Er sang immer mit großem Vergnügen. Er sang irgendwelche lustigen jiddischen Lieder oder erzählte Witze. So was gab es bei uns. Es war im Mai oder im Juni [1940], ich weiß es jetzt schon nicht mehr genau, da sagte mir mein Vater mal früh am Morgen: „Komm, schau mal schnell aus dem Fenster. Da sind überall Panzer.“ Er setzte mich auf seine Schultern und wir gingen nach draußen. Da sahen wir die sowjetischen Panzer und Soldaten an uns vorbeiziehen. Es war unsere erste Begegnung mit der Sowjetunion, denn sie kamen ganz überraschend nach Litauen.190 Und da wir eine große Wohnung hatten, wurde bei uns nach nur einem Monat eine Offiziersfamilie einquartiert. Sie belegten mein Kinderzimmer. Die Familie bestand aus einem Mann, einer Frau und einem neugeborenen Kind. Der Mann war Fliegersoldat. In Šiauliai befand sich ein großer Flugplatz. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte meine Mutter einige Zeit in der russischen Region Poltava verbracht und konnte deshalb russisch sprechen. Mein Vater konnte auch russisch sprechen. Woher er es konnte, das weiß ich jetzt nicht mehr. Und meine Mutter erklärte dieser russischen Frau, dass man die Windeln auswaschen solle oder dass man nach draußen nicht im Nachthemd gehen darf. Und die Frau beschwerte sich selbstverständlich bei ihrem Mann. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Ich war noch sehr klein. Das gab einen Riesenkrach. Der Offizier hat meine Mutter angefahren, sie sei eine „Bürgerliche“, und sie habe kein Recht, seine Frau zu belehren. Und er zog sogar seinen Revolver. Mein Vater war aber sehr stark, er war ein richtiger Mann. Diese Angelegenheit gelangte dann sogar an die Behörden. Aber dann beruhigten sich die Parteien doch. Auf diese Weise kamen wir zum ersten Mal direkt mit Menschen aus der Sowjetunion in Berührung. Als der Krieg mit Deutschland begann, bekamen wir meinen Vater bei uns zu Hause kaum mehr zu sehen, denn er wurde eingezogen. Er sollte Schützengrä190 Im Juni 1940 besetzten Truppen der Roten Armee Litauen. Zuvor war das Land im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag (September 1939) der sowjetischen Interessenssphäre zugeteilt worden. Im August 1940 wurde Litauen als litauische SSR der Sowjetunion angegliedert.

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ben ausheben. Es hieß, dieser Krieg sei bald zu Ende. Eben zu dieser Zeit wollte meine Mutter mit meinem Bruder und mir zu meinen Großeltern fahren. Die lebten in einem Dorf bei Šiauliai. Aber nach wenigen Tagen kam mein Vater zu uns und sagte: „Wir müssen alle sofort weg.“ Pferde hatte er damals schon keine mehr, denn sie waren alle von den sowjetischen Soldaten beschlagnahmt worden. Und wir hatten exzellente Pferde gehabt, denn ein Fuhrwerk soll immer mit ansehnlichen Pferden bespannt sein. Deswegen hatte mein Vater sie regelmäßig austauschen oder sich neue kaufen müssen. Dafür reiste er nach Ostpreußen [...] und kaufte dort die berühmten Ostpreußischen. Das waren Hengste. Das waren echte Wunderpferde, mit langen Beinen. Ich habe sogar Photos von ihnen. Und als wir wegmussten, hatten wir weder Pferde, noch Fuhrwerke. Wir hatten nichts. Man hatte uns alles weggenommen. Und Vater kam zu Fuß zu uns und sagte dem Großvater: „Du hast ja noch Pferde und Fuhrwerke. Nimm uns alle auf den Wagen und wir fahren los, denn Hitler macht uns allen kurzen Prozess. Es wäre schade um die Kinder.“ Und dann sind wir alle aufgestiegen und losgefahren. Es waren außer der Mutter noch ihre zwei Schwestern mit ihren Kindern dabei. Und unsere Großeltern und noch ein Onkel mit seiner Frau und zwei Kindern. Kurzum, wir saßen auf mehreren Fuhrwerken, machten uns alle zusammen auf den Weg. Wir fuhren in Richtung Riga, denn Großvater lebte damals näher an Riga als an Šiauliai. Und so fuhren wir in Richtung Riga. Als wir in Riga waren, kamen junge Letten zu der Fuhre, auf der unsere Großeltern saßen. Sie führten sie weg und brachten sie in irgendeinen Keller.191 Davon hatten mein Vater und der Bruder meiner Mutter erfahren. Sie bewaffneten sich mit Deichgabeln und nahmen noch irgendwas mit. Und sie liefen Großvater und Großmutter retten. Erst danach konnten wir weiterfahren. Auf dem Weg sahen wir sehr viele Menschen. Das waren alles Flüchtlinge. Manche waren zu Pferd unterwegs, andere zu Fuß. Je nachdem, was man hatte. Es war ein heißer Tag. Da tauchten auf einmal am Horizont die deutschen Bomber auf. Ich war damals noch sehr klein, nicht einmal sechs Jahre alt. Und natürlich sprangen in diesem Augenblick alle von ihren Fuhren ab und rannten los. Auch meine Mutter und ich rannten los. Dann zögerte Mutter plötzlich. Und ich schaute nach oben, sah Feuer vom Himmel herabfallen und schrie: „Mama, 191 Dies waren wahrscheinlich Letten, die zur Kollaboration mit Nazideutschland bereit waren und vielleicht vorhatten, die jüdischen Flüchtlinge an die deutschen Truppen auszuliefern.

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Mama!“ Ich zog an ihrem Arm und in dem Moment fielen wir beide auf den Boden. Und irgendwie ging dieses Feuer über unsere Köpfe hinweg. Seit diesem Ereignis musste ich stottern, und es blieb, bis ich 17 Jahre alt war. Dann, als meine Angst nachließ, flogen die Flugzeuge weg. Auf der Strasse lagen viele Verwundete und Tote. Ich hatte die andern aus den Augen verloren. Meine Mutter übernahm dann die Führung. Bald fand sie mich, meinen Bruder, meine Tante und ihre jüngere Schwester mit deren Kind. Meine Tante war 19, und sie hatte ihr kleines Kind im Arm. Doch ihr älteres Kind war aus irgendeinem Grund nicht aufzufinden. Hinzu kamen auch noch die zwei Kinder meines Onkels. Er hatte zwei Töchter. Und so zogen wir alle zusammen weiter. Auf dem Weg verrenkte sich meine Mutter ihr Bein. Sie war die einzige, die russisch sprechen konnte, und in ihren Händen lag die ganze Verantwortung für diejenigen von uns, die übrig geblieben waren. So wanderten wir weiter, bis wir in die Gegend um Jaroslavl’192 gelangten. Wir kamen nach Galič, eine kleine Provinzstadt. Dort wurden wir einer Kolchose zugeteilt. [...] Und da unsere Mutter auf dem Land aufgewachsen war und sich in allen landwirtschaftlichen Bereichen auskannte, musste sie in der Kolchose arbeiten. Der Chef [...] sagte ihr: “Du hast fünf Kinder, deshalb musst du für fünf arbeiten.“ Und wie sie arbeitete! Was sie alles schaffte! Sie schreckte vor keinerlei Arbeit zurück, die man auf dem Land zu verrichten hatte. Und wir waren alle hungrig. Um Galič gab es Wälder und sehr viele Pilze. Und bevor Mutter und Tante morgens zur Arbeit in die Kolchose gingen, liefen sie zunächst in den Wald, Pilze suchen. Und wir alle aßen Pilze, und dann kriegten wir alle Durchfall. Ich kam ins Krankenhaus, und danach wollte meine Mutter mich und auch meine beiden Cousinen ins Waisenhaus schicken. Und ich weinte sehr viel und schrie: „Hilfe! Ich will zur Mutter, ich will nicht weg.“ Meine Mutter hatte sich dafür entschlossen, mich und die anderen zwei Mädchen ins Waisenhaus zu bringen, weil sie uns nicht ernähren konnte. Und im Waisenhaus gab es immer etwas für die Kinder. Und da ich nach dem Krankenhaus ganz schwach war, musste ich viel weinen und litt sehr. Mich nahm sie dann zurück, und die zwei anderen Mädchen blieben im Waisenhaus. [...] Man riet uns, nach Zentralasien zu fahren, denn dort sei es warm und dort bräuchten wir keine Kleidung. Und Kleidung hatten wir ohnehin keine. So bestiegen wir den erstbesten Zug – es war ein Viehwaggon, der Wagenboden war mit Stroh ausgelegt – und machten uns auf den Weg nach Zentralasien. 192 Stadt im Nordwesten Russlands.

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[...] Wir kamen in die Stadt Kungur, die am Ural liegt. Wir brachen so ungefähr im September oder Oktober 1941 auf. Und nach Kungur gelangten wir erst Anfang Dezember. Und da wir keine warmen Kleider hatten, konnten wir Kinder die Waggons nicht verlassen, wo auch immer der Zug hielt. Und meine Mutter und Tante holten an den Bahnhöfen heißes Wasser, manchmal auch Brot und irgendwelche anderen Lebensmittel. Außerdem gab es in jeder Stadt ein Zentrum für Evakuierte, mit einem Informationsbrett. Und wer vorbeifuhr, schrieb sich dort ein. Einmal kommt meine Mutter zu so einem Brett und fängt an, diese Liste zu lesen. Da kommt ein junges Ehepaar aus Šiauliai und sagt: „Frau Stark! Ihr Mann ist hier...Wissen Sie das?“ Und so hatte meine Mutter meinen Vater wiedergefunden. Er arbeitete damals in einem Krankenhaus. Weil er 1902 geboren war [...], wurde er wegen seines Alters nicht mehr einberufen, sondern er musste im Krankenhaus arbeiten. Und da er sich nur mit Pferden und deren Pflege auskannte, musste er sich auch im Krankenhaus um die Pferde kümmern. So nahm uns unser Vater zu sich. Und ziemlich genau zwei, drei Wochen später fuhren wir alle zusammen weiter nach Zentralasien. Wir fuhren in einem Güterzug [...] nach Zentralasien, wo es warm war, wo wir keine warmen Kleider mehr brauchen würden. Nach Zentralasien, egal, ob nach Usbekistan oder Tadschikistan. Das war uns einerlei. Und natürlich dauerte es länger, als ein oder zwei Tage. Und auch nicht nur zehn Tage. Es dauerte wohl einen Monat, wenn nicht mehr. Und wieder stiegen meine Mutter und Tante oder mein Vater an den Bahnhöfen abwechselnd aus, um Brot aufzutreiben. Denn die Kinder mussten doch etwas zu essen haben. Die Kinder, das waren mein Bruder und noch ein kleiner Junge, erst ein Jahr alt, und ich. Und [...] an einem Ort, wo unser Zug angehalten hatte, gingen meine Mutter und Tante Brot holen. Da fuhr der Zug plötzlich weiter. Man sagte uns nie, wann der Zug weiter fuhr. Es gab keinen Kontakt zwischen uns und der Lokomotive. Sie fuhr einfach weiter. Wir wussten nur, es geht in Richtung Zentralasien. Und so blieben sie zurück. [...] Und wir blieben im Zug, das heißt Vater und wir Kinder. Es dauerte sechs Wochen, bis sie uns eingeholt hatten. Stellen Sie es sich vor: Der Zug fuhr immer weiter, und mein Vater konnte uns nicht verlassen. Und dann noch dieses kleine Kind. Unsere Lage war furchtbar. Ich erinnere mich noch an Folgendes: In diesem Waggon stand ein gusseiserner Ofen. Und jemand, mein Vater oder noch irgendjemand anders, hatte für mich Kartoffeln aufgetrieben. Und ich saß da, schnitt die Kartoffeln mit einem dünnen Messer in kleine Stückchen und klebte sie an diesen gusseisernen Ofen.

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Dieser Ofen hieß „Buržujka“193. Man musste ihn mit Kohlen heizen, um die Kälte fernzuhalten. Denn im Waggon war es sehr kalt. So klebte ich also diese Kartoffelscheiben drauf. Das weiß ich noch sehr gut. Vielleicht war gerade das entscheidend für unser Überleben. Denn diese Kartoffelstückchen, die ich draufklebte, die konnte ich auch essen. Vielleicht habe ich eben deshalb überlebt, ich weiß es nicht. Als wir in Kirgisien ankamen, hat man uns alle in eine Sowchose, in die Berge, geschickt. Das war im Tienschangebirge. [...] Die Sowchose hiess Suchoj Chrebet194 und befand sich hoch in den Bergen des Tienschan. Und unten lag der See Issyk Kul. [...] Meine Mutter konnte arbeiten, auch die Tante konnte arbeiten. Wir aber hatten keine warme Kleidung. Wir mussten zu Hause sitzen. Zu Hause war es auch kalt, denn es gab Frost. Und wir hatten alle keine Schuhe. Und eines Tages hat man meinen Vater einberufen. Es war wohl im Jahr 1942, im Winter 1942. Er kam in die litauische Division der Roten Armee, und wir blieben zurück. Als mein Vater weg war, kam jemand aus der Sowchosenleitung und sagte uns, dass wir hier nicht mehr wohnen dürfen, denn die Sowchose liege unweit der chinesischen Grenze. Und wir seien ja Ausländer, ohne sowjetische Staatsbürgerschaft. Wir seien ein Niemand und müssten von hier verschwinden. [...] So mussten wir also umsiedeln. Wir zogen um, in ein Städtchen, das Karabalty hieß. Es befand sich auch in Kirgisien. Dort musste meine Mutter am Bau einer Eisenbahnstrecke mitarbeiten. Sie musste diese Eisenbahnschwellen verlegen, sie mit anderen zusammen schleppen, mit verurteilten Kriminellen. Oder waren es Leute, die aus politischen Gründen verurteilt worden waren? Ich bin jetzt nicht mehr sicher. Aber ich kann mich erinnern, dass die Mutter sagte, dass alle von ihnen 20 bis 25 Jahre Gefängnis abzusitzen hatten. Doch die Häftlinge achteten meine Mutter sehr, denn sie erzählte ihnen, woher sie gekommen war, was sie bisher für ein Leben geführt hatte, für wie viele Menschen sie jetzt sorgen musste und was ihr widerfahren war. [...] Die Sträflinge sagten zu meiner Mutter: „Hab’ keine Angst vor uns, wir tun dir nichts.“ Und so arbeitete sie mit ihnen zusammen. Das war wirklich eine Knochenarbeit.

193 Die Buržujka (Bourgeoise, Kleinbürgerin) war ein Ofen, der aus einem Eisenfass gemacht und in Städtewohnungen benutzt wurde. Ihr Besitz wurde offensichtlich als ein Luxus betrachtet, welcher nur in der Bourgeoisie anzutreffen sei. 194 Russ. trockener Gebirgskamm.

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[...] Wir wohnten damals bei einer russischen Familie, die hatten ein interessantes Haus. Es war ein langes Haus mit einer Trennwand. Ich meine, es gab dort ein Zimmer, es hieß auf russisch zala. Dort wohnte diese Familie: Eine Mutter, eine Großmutter und zwei Kleinkinder. Und im Vorraum, wo die Küche war, stand ein großer russischer Ofen. Und in dieser Küche durften wir übernachten und wohnen. Eben zu jener Zeit wurde ich sehr krank. Als ich erkrankte und heftig hustete, musste man mir erlauben, auf dem Ofen zu schlafen. Diesen Ofen konnte ich erst Anfang des Sommers 1942 verlassen. Ich befand mich in einem bewusstlosen Zustand. Ich kann mich jetzt an nichts mehr erinnern [...]. Diese alte Frau [...] war darüber entsetzt, wie schmutzig ihr Ofen geworden war. Offensichtlich musste ich damals viel husten und hatte Auswurf. Ich kann mich nicht richtig erinnern, ich war damals ganz weg. Ich war klein und das Lieblingskind meines Vaters. Mein Bruder [...] war viel älter als ich, um sieben Jahre älter. [...] Die Mutter schickte meinem Vater einen Brief an die Front. Sie schrieb, dass sie nicht sicher sei, ob die Kinder den Krieg überleben würden. Sie schrieb, ich sei sehr krank und dass ich wahrscheinlich sterben würde. Als mein Vater den Brief las, musste er heftig weinen. Danach hatte er Dienst und er sollte etwas überwachen. So hielt er Wache und war dabei natürlich in seine Gedanken versunken, dachte an das Unglück, welches ihn erwartete. Er dachte an den Hunger, der uns alle heimgesucht hatte. Und wirklich, wir mussten in Zentralasien am Hungertuch nagen. Und wir hatten keine [...] Vorräte, nichts hatten wir. Weder Geld, noch Kleidung. Deshalb hatte ihm die Mutter geschrieben, damit er weiß, dass sie alles tut, um uns am Leben zu erhalten. Aber sie sei nicht sicher, ob es ihr gelingen würde. Ich sei schwer krank und müsse wohl sterben. Vater stand nicht stramm, wie hätte er auch strammstehen sollen? Er weinte. Gerade in diesem Augenblick kam ein russischer Hauptmann vorbei und fragte: „Soldat, warum stehst du so da? Du stehst nicht stramm. Das ist gegen die Vorschrift.“ Und entweder hatte ihn der Vater nicht verstanden oder ich weiß nicht… Aber er hatte ein Maschinengewehr auf sich und richtete es auf den russischen Hauptmann. Doch dieser Offizier wusste, dass die litauische Division zu 99 Prozent aus geflohenen Juden bestand, die kein Russisch konnten. Er schickte sofort nach einem Dolmetscher. Als der Dolmetscher kam, zeigte ihm mein Vater den Brief, den die Mutter geschrieben hatte. Den Brief hat man dann gelesen und ins Russische übersetzt. Und alle mussten weinen. Und der Offizier sagte Folgendes: „Soldat Stark! Eigentlich müsste ich dich vorschriftsgemäß dem Kriegsgericht übergeben. Du

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bist falsch gestanden. Aber da du solch einen Kummer hast, schicke ich dich bloß in die Strafkompanie.“ So hat mein Vater den ganzen Krieg über in der Strafkompanie dienen müssen. Bis sie Königsberg, Kaliningrad, einnahmen. Dann wurde er entlassen. Er hatte überall Wunden. Er hatte Granatsplitter in seinen Beinen. [...] Man wollte ihm sogar ein Bein amputieren. Aber er sagte, lieber stirbt er und behält das Bein. So hat er sein ganzes Leben lang diese Splitter im Bein getragen. Er ist früh gestorben, im Alter von 67 Jahren. Und wir... wir lebten weiterhin in Zentralasien, in der Stadt Karabalty. Von dort sind wir später in eine andere Kleinstadt umgezogen, die Sosnovka hiess. Dort wechselte meine Mutter von der Eisenbahnbaustelle zur Kolchosearbeit über. [...] Sosnovka lag auch in Kirgisien. Wir haben den ganzen Krieg in Kirgisien verbracht. Mein Bruder war zu der Zeit erst 13 Jahre alt, trotzdem sollte er in der Kolchose arbeiten. Im Frühjahr 1942 musste man in der Kolchose den Acker pflügen. Und nach den Vorschriften, die es in diesem Land, in Kirgisien, gab, sollte man dazu Ochsen einspannen. [...] Und mein Bruder sollte mit diesen Ochsen den Acker pflügen. Und als es dunkel wurde und die Sonne unterging, konnte er nichts mehr sehen. Er holte sich eine seltene Krankheit, die sogenannte Nachtblindheit. Da wird man bei Nacht blind. Und da er nicht mehr pflügen konnte, zeigte sich der Brigadeleiter entrüstet. Er nannte ihn einen Deserteur, weil er sich weigerte zu arbeiten. Er sagte, dass er simuliert. Ein Deserteur sei er. Und meine Mutter bekam Angst, dass man ihn ins Arbeitslager schickt. Sie weinte viel. Da ich kein Russisch sprach, wurde ich erst mit zehn Jahren eingeschult [...]. Das war [...] 1944. Weshalb kam ich in die Schule? Weil die Amerikaner damals begonnen hatten, der Sowjetunion zu helfen. Mit Kleidung und Lebensmitteln. Und für solche Menschen, wie wir es waren, für die Flüchtlinge, richtete man eine Art Zentrum ein, wo man Kleider bekommen konnte. Auch Schuhe gab man dort aus. Und unsere Mutter bekam dort für mich Schuhe, aber nicht von der Größe 34, sondern Größe 37. Kannst du dir vorstellen, was das für Schuhe waren? Und in diesen Schuhen ging ich dann also zur Schule. Es war im September. Ich war zehn Jahre alt und ging in die erste Klasse. Und als es zu regnen und zu schneien begann, fielen die Schuhe schnell auseinander, denn sie waren nicht für jenes Klima geeignet. Dann musste ich wieder einige Zeit zu Hause bleiben, bis sich meine Mutter etwas einfallen ließ. Kleider und Schreibpapier gab es nicht. Es gab nur irgendwelche alten Zeitungen, die ich gebrauchte, um das Schreiben zu lernen. Was uns die Lehrerin in der Schule sagte, konnte ich nur zur Hälfte verstehen. Und man dachte, ich sei dumm. Da ich die russische Sprache

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nicht konnte, konnte ich vieles nicht verstehen. Natürlich hab ich diese Sprache nach und nach erlernt, durch das Sprechen mit den anderen Kindern und durch den Schulunterricht. Als der Krieg zu Ende war, machten wir uns sofort auf den Weg zurück nach Litauen. Mal fuhren wir, mal wurden wir mitgenommen, mal mussten wir zu Fuß gehen. Am 15. oder 20. Mai sind wir aufgebrochen, und erst im November konnten wir Litauen, unsere Heimat, erreichen. Mein Vater war schon aus der Armee entlassen worden, und so kam er uns abholen. Er war erstaunt darüber, dass ich keine Schuhe hatte (lacht). Und er kam mir so groß, so abgemagert vor. Er hatte diesen Soldatenmantel an. Er hob mich hoch und wärmte mir die Füße. Und ich sagte zu ihm: „Hab keine Angst, Vater, mir ist nicht kalt. Es geht mir gut.“ Mein Körper war mit Furunkeln übersäht, weil ich an Skorbut litt. Es gibt so eine Krankheit, wenn einem die Zähne ausfallen. Die heißt Skorbut. Und zu dem Zeitpunkt, als ich meine Milchzähne verlor, waren sie schwarz. Und mein Körper war mit Furunkeln übersäht, denn das hängt damit zusammen, was man isst und welche Kleidung man trägt. So kamen wir nach Šiauliai. Die Stadt war vollkommen zerstört worden. Unsere Häuser aus der Vorkriegszeit waren niedergebrannt. Der Vater fand jedoch irgendein kleines halbzerstörtes Haus und besserte es ein wenig aus. So zogen wir dort nach dem Ende des Krieges ein. Und mein Vater [...] suchte sich eine Arbeit. Und ich ging zur Schule, in eine russische Schule. 1954 machte ich meinen Abschluss. Meine Schulleistungen waren weder gut noch schlecht. In der Grundschule hatte ich Schwierigkeiten, da ich nicht so gut russisch konnte. [...] Dazu hatte ich auch noch einen Sprachdefekt. Ich stotterte und konnte nicht ruhig sprechen. Erst in der achten Klasse sind meine Leistungen besser geworden. Man merkte, dass ich einen Hang habe zu den Geisteswissenschaften. Aber weil ich stotterte, hatte ich Schwierigkeiten. Ich musste oft schriftlich antworten, denn mündlich war es mir manchmal zu schwer, wegen meiner Sprachprobleme. Und als ich etwa 16 war, kam die Musiklehrerin zu uns und merkte, dass ich beim Singen nicht stottere. Beim gewöhnlichen Sprechen musste ich nur ein wenig stottern, aber wenn ich aufgeregt war, stotterte ich ganz heftig. Und die Lehrerin sagte zu mir, sie habe auch an so was gelitten. Sie sagte, sie hätte auch allerlei Sachen durchmachen müssen, und wisse, woher ich das habe. Und ich solle singen. Ich solle singen oder mir vorstellen, dass ich singe. So würde ich es loswerden. So habe ich sehr viel gesungen und versucht, beim Sprechen immer ans Singen zu denken [...]. Und immer, immer zu singen. So vor mich hin. Und nach einiger Zeit habe ich nicht mehr gestottert.

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[...] 1953 war in der Sowjetunion die Lage sehr angespannt. Und die Juden, die zu der Zeit in der Sowjetunion lebten, mussten darunter viel leiden. [...] In Litauen haben wir erfahren, dass man Züge bereithält, um alle Juden nach Sibirien und Čukotka195 zu deportieren.196 Da war der Ärzte-Prozess. Es wurde behauptet, die Ärzte hätten Stalin mitsamt der ganzen Regierung [...] vergiften wollen. Das war der Anfang eines richtigen Pogroms. [...] Damals war ich 19 und ich ging zur Schule. Meine Eltern und andere Juden wussten, dass die Züge schon bereitstanden und dass man uns jeden Augenblick in die Verbannung schicken konnte. Alle waren empört: Wofür wollte man uns bestrafen? Weshalb? [...] Doch einige Monate später hat Gott Stalin zu sich geholt. Das war im März. Und ich habe zusammen mit meinen Mitschülern Stalin nachgetrauert. Meine Eltern haben sich über seinen Tod gefreut, besonders mein Vater. [...] Die Schule beendete ich erst mit 20 [...]. Ich wollte unbedingt Ärztin werden und habe mich an der Universität in Vilnius um einen Studienplatz beworben. Die Aufnahmeprüfungen habe ich ganz gut abgelegt. Mit ziemlich guten Noten in allen Fächern. Die letzte war die Englischprüfung. Und die habe ich mit einer Vier bestanden.197 Ich kann mich jetzt daran recht gut erinnern. Für alle anderen Prüfungen hatte ich Fünfen bekommen. Ich wusste nicht, dass sich der Rektor bestechen ließ und zugleich bestimmte Anordnungen befolgen musste, wie viele Studenten von einer bestimmten Herkunft er aufnehmen durfte. [...] Man schaute auf den Herkunftsort, auf Dorf, Stadt, Nationalität, auf die Herkunft der Eltern. Man hat das alles berücksichtigt. [...] Für meine Englischprüfung hätte ich eine Fünf verdient. Man sah aber, dass ich alle anderen Fächer mit Fünf bestanden hatte. Das heisst, ich hätte aufgenommen werden müssen, was den Vorgaben des Rektors nicht entsprach. Deshalb gab man mir eine Vier und ich wurde nicht zugelassen. [...] Ich kehrte dann heim nach Šiauliai und eben zu der Zeit hatte man dort eine pädagogische Hochschule eröffnet. Die erste in der Stadt. Und da sie eben eröffnet worden war, gab es nicht so viele Bewerber. Da ich nicht ein Jahr lang zu Hause sitzen wollte, habe ich mich für diese Hochschule entschieden. Ich entschied mich für die Fakultät für russische Sprache und Literatur.

195 Region an der Beringstrasse im äußersten Nordosten Russlands. 196 Vgl. Anmerkung 26. 197 Die 5 war die beste, die 1 die schlechteste Note.

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Hanna Scheinker, 1956.

Am Anfang meines Studiums war ich oft sehr aufgeregt und habe sehr unter dem Stottern gelitten. Man schlug mir vor, zu gehen. Aber es gefiel mir dort sehr und ich wollte bleiben. [...] So blieb ich an der pädagogischen Hochschule, und alle Schwierigkeiten, die ich dort hatte, habe ich überwunden. So wurde ich also Pädagogin, und im Studium waren meine Leistungen gut. [...] Doch irgendwie ist alles anders gekommen. Im sechsten Semester – das war 1956 – habe ich geheiratet. Einen Kadetten der Kriegsflotte, der [...] Radioelektronik studierte. Nach dem Abschluss bekam er eine Stelle auf der Halbinsel Kamčatka im Fernen Osten, und ich ging mit ihm. [...] Ich hatte gerade das dritte Studienjahr beendet und ging mit ihm auf die Kamčatka. Es gab dort auch eine pädagogische Hochschule. Aber ich konnte dort nur ein Fernstudium machen. Meine erste Ehe dauerte zehn Jahre. Wir haben meist im Fernen Osten

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gelebt, auf der Kamčatka und in der Stadt Vladivostok. Da mein Mann Offizier war, habe ich die zehn Jahre mit ihm dort leben müssen, wo er gedient hat. Nach zehn Jahren haben wir uns scheiden lasen. Von ihm habe ich einen Sohn. Dann bin ich heimgekehrt und war fünf Jahre allein. [...] Da ich jahrelang in eine sowjetische Schule ging, dann an einer sowjetischen Hochschule studierte und so lange im fernöstlichen Teil der UdSSR gelebt habe, habe ich mir auch die sowjetische Kultur und die sowjetische Vorstellung von der Außenwelt angeeignet. Ich glaubte, die Welt sei in zwei Teile gespalten. Ich glaubte, es gäbe Freunde und Feinde. Die sozialistischen Länder seien unsere Freunde und der Kapitalismus sei [...] alles Schlimme und Böse. All das habe ich in mich aufgenommen und an meine Schüler weitergegeben. [...] Da mein erster Mann Soldat gewesen war und ich eine sowjetische Schule besucht hatte, hatte ich keine Schwierigkeiten in die politischen Organisationen aufgenommen zu werden. Da mein Mann Soldat war, konnte ich mich politisch betätigen. Und zumal ich als Lehrerin arbeitete, war es geradezu meine Pflicht. [...] Ich engagierte mich öffentlich, parteilich und gewerkschaftlich. [...] Und von Religion konnte keine Rede sein, denn in der sowjetischen Wirklichkeit gab es für die Religion keinen Platz. Ich wusste natürlich von meiner Großmutter, dass es Gott gibt, aber ich habe ihr doch widersprochen: „Wie kannst du so was sagen, Großmutter? Dass es Gott gibt! Wo ist er? Gott gibt es nicht. Was sind das für Hirngespinste? Du sagst, die Frau wurde aus einer Rippe von Adam gemacht, und deshalb haben die Frauen eine Rippe mehr als die Männer? Was sagst du denn da, Großmutter? So was gibt es nicht.“ Ich war für so etwas damals absolut unempfänglich. Ich erinnere mich auch gut an [ein Vorkommnis] während des Krieges. Mutter und Großmutter gerieten in einen Streit. Die Großmutter sagte, der ganze Krieg und alles was da passiere, geschehe, weil Gott es so will. Und wir Menschen sollten ihm gehorchen. Und meine Mutter sagte: „Was redest du da? Wo ist dieser Gott, während so viele Menschen ums Leben kommen? Es gibt keinen!“ Da sagte die Großmutter: „Halt den Mund! Du darfst so was nicht sagen. Niemand hat dich dazu berechtigt. Gott hat so entschieden.“ Meine Großmutter war sehr gläubig. Während ich im Fernen Osten lebte, habe ich zum ersten Mal gespürt, dass man mich für eine Ausländerin hielt, weil ich aus Litauen kam. Ich meine die Ortsansässigen und die Russen, die dort in der Armee dienten. Da ich aus Litauen war [...], nahm man mich als Ausländerin wahr. [...] Man fragte mich

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immer, bei jeder neuen Bekanntschaft: „Woher bist du?“ Denn die Halbinsel Kamčatka nannte man die „Kleine Erde“198. Und der ganze Rest der UdSSR galt als „Große Erde“199. Man fragte mich: „Wo hast du früher gelebt, bevor du auf die Kamčatka kamst? Auf der großen Erde?“ – „In Litauen.“ – „Und was ist deine Nationalität?“ – „Ich bin eine Jüdin.“ „Ach so ist das! Aber man würde dir die Jüdin gar nicht geben!“ Das war ein Riesenkompliment und eine Riesenbeleidigung. Mein erster Mann – er war Soldat – ging nach Leningrad, um sich dort fortbilden zu lassen. Ich habe gekündigt und bin mit meinem Sohn ebenso nach Leningrad gekommen. Zuvor hatten wir bei Vladivostok gelebt. Ich habe also meine Lehrerstelle gekündigt und bin meinem Mann nach Leningrad gefolgt. Dort haben wir ein Jahr lang gelebt, während mein Mann die Fortbildungskurse besuchte. Da komme ich einmal in irgendeine Schule und sage, ich sei Lehrerin und frage, ob man dort nicht Lehrkräfte für die russische Sprache brauche. „Ach, gewiss! Und zwar sehr. Natürlich stellen wir Sie ein. Sogar schon ab morgen, wenn Sie wünschen.“ – „Abgemacht!“ – „Dann bringen Sie uns Ihren Pass mit.“ Am nächsten Tag nahm ich meinen Pass mit und war schon einsatzbereit. Da machten sie meinen Pass auf. „Gebürtige Stark.” Den Pass gab man mir zurück und sagte, Arbeit gäbe es keine für mich.200 Und mein Mann hatte oft Probleme. Er war ein Jude, deswegen konnte er mit mir an seiner Seite keine Karriere machen. Wenn er eine russische Frau gehabt hätte, hätte er Karriere machen können. So war die sowjetische Wirklichkeit. [...] Und für mich war es manchmal auch ärgerlich. Das wurde uns gelegentlich zum Anlass für einen Krach. [...] Es gab viele Leute wie mich, die benachteiligt wurden. Manche Litauer wurden benachteiligt, weil ihre Eltern, Onkel oder Tanten den sich zurückziehenden deutschen Truppen ins Ausland gefolgt waren, weil sie nicht in der Sowjetunion leben wollten. Diese Leute waren auch benachteiligt. In dieser Hinsicht war ich nicht allein. Während ich im fernöstlichen Teil der UdSSR lebte, habe ich das Fernstudium an der pädagogischen Hochschule abgeschlossen und danach als Russischlehrerin gearbeitet. Dann kehrte ich nach Litauen zurück und fand an einer 198 Russ. Malaja Zemlja. 199 Russ. Bol’šaja Zemlja. 200 Ihr Mädchenname wies Frau Scheinker als Jüdin aus.

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Hanna Scheinker, 1975.

litauischen Schule eine Lehrerstelle. Dort habe ich 15 Jahre lang gearbeitet. In dieser Zeit habe ich wieder geheiratet und einen Sohn bekommen, der jetzt 36 ist. Ich habe mich sehr oft mit meinem zweiten Mann unterhalten, und es ist mir dabei klar geworden, dass ich die ganze Zeit in die falsche Richtung gegangen war. Dass der Kommunismus nie Wirklichkeit werden wird. Mein zweiter Mann sagte: „Wir leben in einem ungerechten Land. Hier sagt man eines und tut etwas völlig anderes.“ Er fand, wir sollten aus diesem Land fliehen, damit zumindest die Kinder ein normales Leben würden führen können. Und ich war mit ihm einverstanden. [...] Mein Mann half mir auch, die Leiden des jüdischen Volkes zu verstehen. Er hat viel leiden müssen. Er hat fast seine ganze Familie verloren. Er hat im Ghetto leben müssen und hat das KZ Stutt-

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hof durchgemacht. Er hat so viel leiden müssen. Und diesen Schmerz hat er nie verziehen. Er sagte, er wolle nicht weiterleben in einem Land, das die Juden ungerecht behandelt. Er wolle nicht weiterleben in einem Land, wo er 1953 nur deshalb aus dem Konservatorium ausgeschlossen wurde, weil er während des Krieges im KZ gewesen war.201 Deshalb hatte er seine Ausbildung erst später im Fernstudium abschliessen können. Direkt konnte er nicht studieren. So versuchten wir etwa seit 1971 eine Erlaubnis für die Emigration nach Israel zu bekommen. Wir begannen ums Ausreiserecht zu kämpfen. Es fiel uns schwer die Ausreisegenehmigung zu bekommen, denn man wollte uns nicht rauslassen. Ich war mit einem Ausreiseverbot behängt. Das heißt: Zehn Jahre lang durfte ich die Sowjetunion nicht verlassen, weil ich mit meinem ersten Mann zehn Jahre lang in einem [militärischen] Sperrgebiet gelebt hatte. Das Geld kam von meiner Tante, die zu jener Zeit in den USA lebte. Das war die Schwester meines Vaters. [...] Sie kam damals praktisch für alles auf. Sie schickte uns ständig Pakete und Geld. [...] Sie hatte ein Ghetto durchmachen müssen und ihre ganze Familie verloren. Dann landete sie in den USA. Sie hat uns viel mit Geld unterstützt. Denn man musste 4000 Rubel für vier Pässe zahlen. Das war sehr viel Geld. Da mein Mann und ich Lehrer waren, hätten wir selber nie so eine Summe auftreiben können. Ich weiß, viele konnten nicht emigrieren, weil sie kein Geld hatten. Mein Mann träumte von einem Leben in Deutschland. Es war sein Traum, denn sein ganzes Leben war von der deutschen Kultur geprägt. Er stammte aus Riga, und in seiner Familie wurde nicht jiddisch, sondern deutsch gesprochen. Man hat zwar die nationalen jüdischen Feiertage gefeiert, [...] besuchte aber deutschsprachige Schulen. Mein Mann war von der deutschen Kultur geprägt und wollte auch wieder in dieser Kultur leben. Und ich wusste, dass meine Großeltern väter- und mütterlicherseits in Ostpreußen gelebt und alle deutsch gesprochen hatten. Aber das Jiddische kannten sie auch. Sie fürchteten sich nicht, bei sich zu Hause in Litauen jiddisch zu sprechen. Meine Eltern konnten deutsch sprechen, weil sie in Ostpreußen geboren und aufgewachsen waren. Aber nach dem Krieg wollten sie kein Deutsch mehr sprechen. Der Grund war klar: Weil Deutschland die Juden so grausam behandelt hatte. 201 Sowjetbürger, die im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft geraten waren, wurden in der angespannten Atmosphäre des „Kalten Krieges“ oft diskriminiert. Sie galten als potentielle westliche Spione und Überläufer.

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Doch jiddisch haben sie gesprochen, und durch die Gespräche der Eltern und durch meine Umgebung – auch die anderen Juden in den baltischen Staaten sprachen jiddisch – lernte ich diese Sprache. Aber schreiben und lesen konnte ich sie nicht. Ich beherrschte nur die gesprochene Sprache. Eine Ausreise nach Deutschland war vorerst nicht möglich. Doch 1977 bekamen die Scheinkers die Bewilligung zur Emigration nach Israel. Sie verließen die Sowjetunion, um sich im jüdischen Staat niederzulassen. In Israel hat man uns sehr gut empfangen. Man bot uns gute Bedingungen, damit wir uns schnell an das neue Leben gewöhnen [...] und die Sprache lernen. [...] Ich war damals schon 44 und hatte schon 20 Jahre als Lehrerin gearbeitet. Mein Mann ist 13 Jahre älter als ich. Er war 57. Dann hat mein Mann gesagt, er wolle in Deutschland leben. Er ging auf die Botschaft, stellte dort einen Antrag und brachte auch meinen Lebenslauf und irgendwelche Papiere dorthin. Und man sagte ihm, dass er warten muss und dass man ihn wieder herbestellen würde. [...] Und ungefähr im Juni 1979 wurde er nach Deutschland bestellt. Er fuhr nach Deutschland [...] und hat Weil am Rhein ausgewählt. Um sich dort niederzulassen. Damals war er dazu berechtigt einen Ort zu wählen, denn damals gab es nicht so viele Aussiedler aus der Sowjetunion, nicht so viele wie heute (lacht). Er hat sich also einen Ort gewählt und hat sofort alle Papiere bekommen, einen Pass und eine deutsche Staatsbürgerschaft. [...] Er sagte zu mir: „Du musst mit mir nach Deutschland kommen.“ Und ich wollte nicht, und auch meine Mutter war dagegen. Sie sagte, sie wolle nicht nach Deutschland. Um keinen Preis. Da sagte mein Mann zu mir: „Lass uns hinfahren, du kriegst deinen Pass und kehrst zurück, wenn du dort nicht auf Dauer leben willst.“ Ich nahm meinen jüngeren Sohn – der war damals acht Jahre alt – und ich kam im Juni 1980 nach Deutschland [...]. Hier habe ich sofort alle Papiere bekommen, die ich brauchte. [...] Wir kamen also ins deutsche Ausländeramt, da sagte mein Mann zu mir: „Schweig lieber, denn du kannst die Sprache nicht, jetzt werde ich sprechen.“ [...] So sitzen wir also, der Beamte202 uns gegenüber. Mein Mann sitzt auch dabei. Der Beamte stellt ihm Fragen, und mein Mann antwortet für mich. Da höre ich: Mein Mann sagt etwas Falsches. Was soll das? Der Beamte fragte nach meinen Großeltern, fragte, wo sie gelebt hatten. Und mein Mann 202 Im Interview deutsch.

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antwortete: „Sie weiß es nicht.“ Und ich antworte auf deutsch: „Ich weiß das nicht? Ich weiß es! Meine Großmutter ist Faber Berta, sie ist dort und dort geboren worden, sie hat dort und dort gelebt. Ich kann alles erzählen.“203 Da sagte der Beamte zu meinem Mann: „Gehen Sie raus. Ihre Frau spricht deutsch! Ihre Hilfe brauche ich nicht mehr.“ Dann habe ich all seine Fragen selber beantwortet. [...] Natürlich habe ich Fehler gemacht. Offensichtlich hab ich auch jiddisch gesprochen, denn das baltische Jiddisch, das in meiner Familie gesprochen worden war, das war so ein unreines Jiddisch, mit deutschen Sätzen und Wörtern und Grammatik. Kurzum, ich habe alles selber abgewickelt. Und das hat mir sehr gefallen. [...] In Israel musste ich Hebräisch lernen, so eine Sprache, die mir unbekannt und die sehr schwer war. Und Deutsch hatte ich in Deutschland noch keine Minute gelernt, und konnte es schon sprechen. Es lag mir sehr, sehr nah. [...] Mein Mann ist Rentner. Und seit ich 60 bin, bin auch ich im Ruhestand und kriege meine Rente, die ich verdient habe. In den 90er Jahren begannen die Juden nach Deutschland zu kommen. Sie kamen nach Weil am Rhein und nach Lörrach. Das waren Juden aus der Sowjetunion. Eine hübsche Menge. Und man hatte die Idee, eine Gemeinde zu gründen. Man schlug mir vor, in Lörrach eine Gemeinde zu gründen. Ich sagte, ich kann nicht, ich sei kein Mann und stünde der Religion eher fern und so weiter. Dann aber hat sich uns Doktor Weinberg angeschlossen. Er ist mittlerweile schon verstorben. Er war 20 Jahre älter als ich. [...] So überlegten mein Mann, Doktor Weinberg und ich, wie es sich machen ließe. Entstanden ist unsere Gemeinde am 5. März 1995. Am Anfang zählte sie 35 Mitglieder, später dann 50. [...] Jetzt besteht unsere Gemeinde aus fast 400 Menschen. Doktor Weinberg war schon alt und konnte sich deswegen nicht beteiligen. Dann erkrankte er und starb. An seine Stelle trat für einige Zeit Peter Weiß. Dann wurde auch er krank und starb. Ich glaube, nach ihrem Ableben wurde ich stärker. Ich habe mich mehr der Religion gewidmet und habe öfter in der Thora gelesen. Ich habe mich dafür immer stärker interessiert und begann, mehr zu verstehen. Und heute haben die Menschen Vertrauen zu mir und ich leite diese Gemeinde. Seit dem vorigen Jahr setzen wir alles daran, um hier eine Synagoge zu bauen. Wir hoffen, es wird hier schon Anfang 2008 eine Synagoge geben. Manchmal 203 Im Interview deutsch.

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Hanna Scheinker (links), Vorstellung der Memoiren von Herrn Scheinker, 2009.

will ich all diese ehrenamtliche Arbeit niederlegen, denn in meinem Alter müsste ich eigentlich schon Schluss machen (lacht). Wissen Sie, ich sag Ihnen jetzt einen sehr tiefgreifenden... nicht nur einen tiefgreifenden Gedanken, sondern auch eine Art Geheimnis. Ich frage mich manchmal: Wo ist meine Heimat? Und ich bin zum Schluss gekommen, dass ich keine habe. Besonders stark wurde dieses Gefühl in mir, als wir Litauen verließen. Meine Mutter war gekommen, um von dem Dorf Abschied zu nehmen, in dem sie gelebt hatte und aufgewachsen war. Dort hatte sie zwei Bäume gepflanzt. Das waren inzwischen ausgewachsene Bäume. Und ich begleitete meine Mutter. Sie kam also in ihr Dorf, um sich zu verabschieden. Es lebten dort immer noch irgendwelche älteren Leute, die sich an sie noch erinnern konnten, ihre Freundinnen. [...] Meine Mutter rannte zu diesen Bäumen, die sie und ihr Bruder gepflanzt hatten, und begann, die Bäume zu umarmen und zu küssen. Sie fiel auf die Knie und weinte. Und ich stand erstaunt da und sagte: „Mach kein Theater, Mama, was machst du denn da? Alle schauen dich an.“ Und sie sagte: „Geh weg von hier. Du hast kein Herz. Du liebst nicht deine Heimat.“ Da hab ich begriffen, dass ich keine Heimat habe. Mit sechs bin ich vor dem Krieg nach Zentralasien geflohen. Dort lebte ich sechs Jahre lang. Als ich zu-

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rückkehrte, war ich schon fast zwölf. Dann ging ich zur Schule, machte mein Abitur. Dann studierte ich drei Jahre lang an der Hochschule. Da war ich schon 23. Dann bin ich in den Fernen Osten der UdSSR gezogen. Im Fernen Osten verbrachte ich zehn Jahre, da wurde ich schon 33. Ich kam dann zurück nach Litauen, ließ mich von meinem ersten Mann scheiden, heiratete zum zweiten Mal. Mit 44 reiste ich aus Litauen aus. Wo ist meine Heimat? Am längsten lebe ich hier in Deutschland. Schon fast seit 30 Jahren. Ich glaube, meine Heimat ist hier, denn den größten Teil meines Lebens habe ich hier verbracht. Hier fühle ich mich am besten. Das bedeutet, dass meine Heimat hier ist.

8.  Weitere Schicksale A. S., der anonym bleiben will, wurde 1949 in Sol’ncevo, einem Vorort von Moskau, geboren. Während des Zweiten Weltkrieges war sein Vater an der Front, während seine Mutter mit seiner Schwester nach Taschkent „evakuiert“ worden waren. Nach ihrer Rückkehr nach Sol’ncevo hatten sie ihre Wohnung geplündert vorgefunden, einen Teil der Wohnungsgegenstände entdeckten sie später bei Nachbarn. Die Eltern erzogen die Kinder als „sowjetische Menschen“, die jüdische Tradition wurde nicht weitergegeben. Zwar unterhielten sich Vater und Mutter in Jiddisch, aber nur dann, wenn die Kinder sie nicht verstehen sollten. In der Schule hatte A. S. keine Probleme wegen seiner jüdischen Herkunft, und er besaß einige gute russische Freunde. Auf der Straße wurde er allerdings mehrfach „als Jude“ verprügelt. Nach dem Studium erfuhr er dann immer wieder Diskriminierungen bei der Arbeits- und Wohnungssuche, die er auf seine „Nationalität“ zurückführt. Die Benachteiligungen wurden nicht offen ausgesprochen, sondern äußerten sich indirekt, etwa bei Ablehnungen mit fadenscheinigen Argumenten. Auch seine spätere Frau musste darunter leiden, seitdem sich herumgesprochen hatte, dass sie „mit einem Juden zusammen war“. Um ihrer Tochter Erniedrigungen und Demütigungen zu ersparen und ein besseres Leben zu ermöglichen, entschloss sich das Ehepaar zur Emigration nach Deutschland. In Lörrach und besonders in der dortigen jüdischen Gemeinde fühlt sich die Familie sehr wohl. Erst hier lernte sie das Judentum kennen. Igor’ Lerner wurde 1945 in Černobyl’ geboren. Seine Eltern waren Lehrer. Die ehemals große jüdische Gemeinde war fast ausgelöscht. Von einem Hineinwachsen in eine jüdische Lebenswelt konnte keine Rede mehr sein. Stattdessen wurde Igor’ Lerner ganz als „sowjetischer Mensch“ erzogen. Dennoch hatte sich der Vater geweigert, der Kommunistischen Partei beizutreten. Igor’ wurde zwar begeistert im Kommunistischen Jugendverband (Komsomol) aktiv, unterließ aber ebenfalls den Schritt zur Parteimitgliedschaft. Er wuchs geborgen in seiner Familie auf und erinnert sich an eine glückliche Kindheit, an einen „normalen Alltag eines kleinen Bezirksstädtchens“. Seine Familie verkehrte mit den wenigen anderen jüdischen Familien ebenso wie mit nichtjüdischen. Offenbar sprachen seine Eltern abfällig über diejenigen, die in der ausgehenden Stalin-Zeit und dann auch später ihre jüdische Herkunft zu verschleiern suchten. Igor’ arbeitete nach der Schule als Fräser. Weil er sich mit den kommunistischen Zie-

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len identifizierte, wollte er Flieger werden. Er bestand auch die Aufnahmeprüfung der Fliegerschule, wurde aber trotzdem nicht genommen. Es muss offen bleiben, ob dafür – wie angegeben – medizinische Gründe oder seine jüdische Herkunft verantwortlich waren. Nach weiteren Schwierigkeiten – die Igor’ damals einer Feindseligkeit gegen ihn als Juden zuschrieb, einen Vorwurf, den er heute relativiert – und nach dem Armeedienst in einer Panzereliteeinheit konnte er dann doch Physik studieren und heiratete seine Frau Rosa, eine Jüdin. Während sie als Notfallärztin arbeitete, wurde Igor’ Mathematik- und PhysikLehrer. Dabei engagierte er sich nachdrücklich für eine Ausweitung des Ukrainischen in der Schule zu Lasten des Russischen. Später wurde er als Ingenieur im Kernkraftwerk Černobyl’ eingesetzt. Hier erlebte er bereits 1983 einen – bis heute kaum bekannten – schweren Unfall, der den ersten Block des Reaktors zerstörte und eine hohe radioaktive Strahlung freisetzte. Da sich Igor’ immer wieder wegen seiner jüdischen „Nationalität“ benachteiligt fühlte und kaum befördert wurde, nahm er das Angebot an, das Amt des stellvertretenden Direktors des Pionierlagers zu übernehmen und damit faktisch die Leitung auszuüben. In dieser Funktion fiel ihm während der Katastrophe vom 26. April 1986 eine unerwartete Bedeutung zu: Er musste nicht nur die vom Unglück im Kernkraftwerk betroffenen Menschen betreuen, sondern auch vorübergehend das Kommando über die Bekämpfung der Katastrophe übernehmen. Miliz- und Armee-Einheiten unterstanden ihm, und seine Maßnahmen zur Fürsorge für die Betroffenen brachten ihm deren Vertrauen ein. Zum ersten Mal empfand er sich als wahrer „Sowjetmensch“, der trotz seiner jüdischen Herkunft anerkannt wurde. Während viele hohe Parteifunktionäre geflohen waren, koordinierte und leitete der parteilose Jude die Mobilisierung und Solidarität der Betroffenen und der zahlreichen Helfer aus allen Gegenden der Sowjetunion. Elena Tanėzer wurde 1926 in Char’kov (Char’kiv) geboren. Ihr Vater war damals aktiv im Kommunistischen Jugendverband (Komsomol), später auch in der Kommunistischen Partei, und arbeitete als Metallgraveur, ihre Mutter war Angestellte in einem Kontor. Die Familie lebte in einem einzigen Raum in einem Haus, in dem ihr Vater zum Hausmeister bestimmt worden war. Über eine Wohnungsbaugenossenschaft konnten sie schließlich in ein Haus einziehen, in dem sie zwei Zimmer bewohnten und die Küche mit einer anderen Familie teilten. Elena wurde „Pionierin“ in der kommunistischen Jugend. Während des Zweiten Weltkrieges zog sie mit ihrer Mutter nach Krasnojarsk in Sibirien. Später konnten sie wieder mit dem Vater im Ural zusammentreffen, in einem Dorf, das überwiegend von Altgäubigen bewohnt war. Der Vater arbei-

Weitere Schicksale

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Elena Tanėzer mit Eltern während der Semesterferien, 1945.

tete in einem militärisch wichtigen Betrieb. Eine Ausbildung an einer „Arbeiterfakultät“ konnte er als Ingenieur abschließen. 1944 kehrte Elena Tanėzer nach Char’kiv zurück und begann ein Elektrochemiestudium. 1946 kamen die Eltern nach. Die Lebensbedingungen gestalteten sich außerordentlich schwierig. Elena Tanėzer heiratete ihren Mann Mark, der ebenfalls aus einer jüdischen Familie stammte, und brachte einen Sohn zur Welt. Nachdem die junge Familie zunächst bei den Eltern gewohnt hatte, wurde ihr eine Einzimmerwohnung zugewiesen. Erst unter Chruščev – von 1953 bis 1964 Erster Sekretär der Kommunistischen Partei und seit 1958 auch Ministerpräsident – verbesserten sich die Wohnverhältnisse: Die Familie zog, jetzt wieder mit den Eltern, in eine „Chruščevka“ mit drei Zimmern ein. Hier bekam sie dann noch eine Tochter. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, ermöglichte ihnen eine Wohnungsbaugenossenschaft den Umzug in eine Zweizimmerwohnung in einem 16-stöckigen Hochhaus. Nach dem Zusam-

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Elena und Mark Tanėzer, 1963.

Elena und Mark Tanėzer, 1990er Jahre.

Jüdische Lebensgeschichten aus der Sowjetunion

Weitere Schicksale

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Maja und Friedrich Valler, Lörrach 2008.

menbruch der Sowjetunion unterstützte sie eine amerikanisch-jüdische Organisation, die sich auch für eine Förderung der jüdischen Tradition einsetzte. Seit dieser Zeit kann Elena Tanėzer „jüdisch“ leben, vorher war ihr davon nur wenig bekannt. Im Jahr 2000 verstarb ihr Mann. In Lörrach lebt sie heute allein. Maja Valler (geb. Sinicyna) kam 1933 in Cherson, in der Ukrainischen SSR, zur Welt. 1941 musste die Familie vor der deutschen Invasion nach Osten fliehen. Die Flucht in einem offenen Güterzug sei dramatisch verlaufen: „Unser Zug wurde ohne Unterlass bombardiert.“ Die Familie gelangte nach Sibirien und später nach Zentralasien. Eine Tante brachte Maja während der Jahre in der Evakuierung das Lesen und Schreiben bei. Nach dem Krieg konnte die Familie nach Cherson zurückkehren und Maja ihren Schul- und Universitätsabschluss am Hydrometerologischen Institut machen. Ihr wurde ein Arbeitsplatz im dagestanischen Machačkala zugewiesen. Hier lernte sie ihren Mann, Friedrich Valler (vgl. Teil II, Kapitel 5), der ebenfalls Metereologe war, kennen. Sie erinnert sich an eine Erkrankung des gemeinsamen Sohnes. Im Krankenhaus habe man ihn herablassend „einen Juden genannt“ und er wusste

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nicht, „was das soll“. Später lebte die Familie in Astrachan und Tallinn. Nach ihrer Pensionierung in der wirtschaftlich schwierigen Zeit nach 1991 arbeitete Frau Valler auf einem Markt in der estnischen Hauptstadt. 2002 reisten die Vallers nach Deutschland aus.

Leitfaden für das Interview von Heiko Haumann

1.  Erzählung der Lebensgeschichte Nach einem kurzen Einstieg über das Projekt und das vorgesehene Verfahren wird die/der GesprächspartnerIn gebeten, ihre/seine Lebensgeschichte zu erzählen. Falls nötig, kann folgende Frage den Anstoß für die Erzählung geben: „Vielleicht beginnen Sie damit, wann und wo Sie geboren sind und wie Sie sich an Ihr Elternhaus erinnern.“ Die Erzählung sollte nur dann unterbrochen werden, wenn es für das Verständnis wichtig ist oder wenn es zu Stockungen kommt. Im Bedarfsfall können situationsbedingt nachfolgend aufgeführte Themen angesprochen werden, möglicherweise ergänzt durch Punkte, die während der Erzählung deutlich geworden sind (diese sollten im Verlauf der Erzählung notiert werden). Während der ersten Phase sollte aber immer zunächst versucht werden, die Befragten durch unspezifische Anstöße („Wie ging es weiter? An was können Sie sich noch erinnern?“) zum Weitererzählen zu ermuntern. Es ist wichtig, dass erst einmal die Erinnerung an das Leben nach der selbstbestimmten Gestaltung der GesprächspartnerInnen zum Ausdruck kommt. Inhaltliche Fragen lenken von der Entfaltung der Erinnerung ab, während im ungestörten Erzählfluss in der Regel immer neue Erinnerungen auftauchen. Grundsatz: Die GesprächspartnerInnen sind keine „Objekte“, aus denen um jeden Preis Informationen herausgequetscht werden sollen, sondern Menschen, mit denen wir in einen Dialog treten, um ihre Lebensgeschichte kennen zu lernen. Ihre Würde und ihr Recht, selbst zu bestimmen, was sie erzählen wollen, dürfen nicht verletzt werden.

2.  Themenfelder für Nachfragen und Ergänzungen: Lebenswelt und Erinnerung Die Reihenfolge ist beliebig. Sinnvoll ist es, wenn möglich an Stellen in der vorangegangenen Erzählung anzuknüpfen. Es empfiehlt sich, einerseits relativ allgemein und offen zu fragen, um einen neuen Erzählfluss anzuregen („Können

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Anhang

Sie mir noch mehr über die religiösen Feiertage erzählen?“), andererseits konkrete Situationen im Blick zu haben, auch wenn es um Gefühle und Einstellungen geht, damit die Antworten nicht nichtssagend bleiben oder sich an angenommenen Wünschen des/der Fragenden orientieren („Gab es Situationen, bei denen Sie sich als Jüdin benachteiligt fühlten?“ – „An welche Situation erinnern Sie sich besonders, als Sie festgestellt haben, dass die kommunistischen Ideale nicht mit der Wirklichkeit des Sowjetstaates übereinstimmten?“ – „Können Sie mir ein konkretes Beispiel geben?“). Kleben Sie nicht sklavisch an den folgenden Punkten. Sie können nicht in gleicher Dichte beantwortet werden. Soweit die Befragten nicht schon in ihrer Lebensgeschichte darauf eingegangen sind, merken Sie vermutlich, welche Gebiete ihnen noch wichtig sein könnten. Darauf sollten Sie mit Ihren Nachfragen ausführlicher eingehen, andere Punkte können Sie lediglich streifen. a. Orte und Stationen des Lebens. b. Wichtige Bezugspersonen: z. B. Eltern, Großeltern (evtl. Lebensgeschichten, besondere Ereignisse); Geschwister; Lehrer; KameradInnen / KollegInnen, FreundInnen; LebenspartnerInnen; Kinder. c. Das Haus: Hierarchische „Ordnung“ im Haus (Stellung der einzelnen Familienmitglieder); Erziehungsstil (Worauf haben Ihre Eltern Wert gelegt? Was ist Ihnen selbst bei der Erziehung wichtig?); Geburtstage, Feste, Feiertage (religiöse und weltliche); Geschenke; Reisen; Traditionen / Neuerungen; Brauchtum; Treffpunkte; Essgewohnheiten; Bedeutung des Schabatts. Eventuell muss nach verschiedenen Zeiten und verschiedenen Orten unterschieden werden. d. Jiddische Sprache: Wurde sie im Elternhaus gepflegt? Behinderung durch Behörden, in der Schule, am Arbeitsplatz? e. Entbehrungen und Benachteiligungen (auch wegen „jüdischer Nationalität“ als Eintrag im Pass); Bestrafungen; Erfahrung von körperlicher und seelischer Gewalt. Haben Sie Ihre Situation als Jüdin oder Jude in bestimmten Fällen auch als vorteilhaft erlebt? f. Hoffnungen, Wünsche, Träume. Dieser Bereich kann konkret bei jedem Punkt angesprochen werden! g. Schule: Erinnerung an Abläufe in der Schule; welche Schulen?; Lehrpersonen; Unterrichtsmaterialien; weiterführende Schulen; evtl. Hochschulen; hätten Sie gerne etwas anderes gemacht?

Leitfaden für das Interview

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h. Bedeutung religiös bestimmter Orte: Synagoge, Betraum, Mikwe, Gemeinderäume, religiöse Vereine / Gemeinschaften. Gab es Bestrebungen, innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Angelegenheiten des täglichen Lebens selbst zu regeln, ohne die sowjetischen Behörden einzuschalten? i. Arbeit: Berufswahl; wer hat über sie bestimmt? Welche Arbeiten? Wann? Wo? Entschädigung / Lohn; Arbeitsbedingungen und –abläufe; Konflikte; wirtschaftliche Grundlage der Familie. Was hat Ihnen an Ihrer Arbeit besonders gefallen? j. Gesundheit und Krankheit. Wie sah die gesundheitliche Versorgung aus? Hatten Sie einen jüdischen Arzt? Was geschah, wenn jemand gestorben war? k. Leben im Quartier / in der Stadt / im Dorf (Kommunikation; Orte der Begegnung; Infrastruktur; Dominanz bestimmter Familien; Politik; Konflikte; Beziehungen zu anderen Familien / Gruppen). l. Kontakte mit der Außenwelt: Umfeld in Kindheit und Jugend (Spiele; jüdische und nichtjüdische Bekannte); Jüdische Gemeinde; sowjetische Behörden; Geheimpolizei; Nachbarschaft (jüdische und nichtjüdische); Besuche (Schwierigkeiten? Gab es Überwachung?); Vereine; Rote Armee; Wahrnehmung der Außenwelt – Wahrnehmung durch die Außenwelt; antijüdische Aktionen im Alltag; Gewalterfahrungen. m. Zuneigung, Liebe: Gab es Verbote und Tabus? Begegnungsorte zum Kennenlernen; Hochzeit (nach religiösem Ritus?). n. Einfluss politischer, kultureller und gesellschaftlicher Ereignisse auf das örtliche und persönliche Leben (z. B. Stalins Tod; Wirtschaftsreformen in den 1960er Jahren; technische und wirtschaftliche Modernisierungen wie die Einführung von Radio und Fernsehen; sowjetische Erfolge im Weltraum). o. Politische Aktivitäten. p. Religiöse Aktivitäten außer Haus: Tätigkeit in der Gemeinde; Folgen für das eigene Leben / evtl. Nachteile seitens der Behörden, am Arbeitsplatz usw. q. Wie wurde die Geschichte des Staates Israel verfolgt? Einstellung zur sowjetischen Politik gegenüber Israel und gegenüber Emigrationsmöglichkeiten. r. Ursachen und Anlass für die Emigration. Eventuell: Stationen der Emigration? s. Leben in Lörrach. Gut eingelebt? Probleme? Kontakte? Biographische Situation heute. t. Blick zurück: Wird im Rückblick das Leben in der Sowjetunion anders wahrgenommen als früher? Was hätten Sie sich von heute aus gesehen an-

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ders gewünscht damals? Wenn Sie im Alter von 16 Jahren einen Aufsatz hätten schreiben müssen „Was ist gut und was ist schlecht in der Sowjetunion“ – was hätten Sie geschrieben? Und was würden Sie heute schreiben? u. Erinnerung an die Schoah: Eigene Erfahrungen; Verarbeitung in der Sowjetunion; Thematisierung in der Gemeinde; Wahrnehmung der gegenwärtigen Diskussionen. v. Erinnerung an antijüdische Kampagnen in der Sowjetunion (Auflösung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und Verfolgung führender Mitglieder; angebliche jüdische „Ärzteverschwörung“; „zionistische Verschwörungen“; antireligiöse Kampagnen unter Chruschtschow u. ä.): Wie erfahren und wahrgenommen? Persönlich betroffen? w. Lieder (evtl. Noten und Texte geben oder zuschicken lassen, evtl. vorsingen lassen), Geschichten, Anekdoten, Witze. Welchen Stellenwert nahm das im Leben ein? Wenn möglich, sollte dies zugesandt werden.

3.  Bilanzierung des Gesprächs Frage an die/den GesprächspartnerIn, ob es Themen gibt, die noch nicht angesprochen wurden, ob sie/er noch etwas hinzufügen möchte und ob sie/er mit dem Gespräch zufrieden ist. Was erwartet sie/er sich von der historischen Aufarbeitung? Gibt es Wünsche für den weiteren Umgang mit der Lebensgeschichte (z. B. Publikation, Lehrveranstaltung an der Universität)?

Verzeichnis der Interviews Interview 1: Gespräch mit Frau K. Interview 2: Gespräch mit Mark Grutman. Interview 3: Gespräch mit A.S. Interview 4: Gespräch mit V.K. Interview 5: Gespräch mit Igor’ Lerner. Interview 6: Gespräch mit Anna Mackina. Interview 7: Gespräch mit Hanna Scheinker. Interview 8: Gespräch mit Žanna Š. Interview 9: Gespräch mit Elena Tanėzer. Interview 10: Gespräch mit Elizaveta Ušerenko. Interview 11: Gespräch mit Maja Valler. Interview 12: Gespräch mit Friedrich Valler. Alle Gespräche wurden im Frühjahr 2007 geführt.

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„Mir tr äuMt jetzt von Auschwitz unentwegt...“ gedichte russischer juden Aus finsterer zeit Ausgewählt und ins deutsche übertr Agen von gennAdi e. K AgAn

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kulturelle toPograPHien einer stadtgemeinde im 19. JaHrHundert

sPracHinseln JiddiscHe Publizistik in london, Wilna und berlin 1880–1930

1999. 144 S. 5 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-02998-2

2009. 424 S. Mit 27 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20471-6

Band 13: Jan Arend

Band 7: Heiko Haumann (Hg.)

JüdiscHe lebens­ gescHicHten aus der soWJetunion

luftmenscHen und rebelliscHe töcHter

erzäHlungen von entfrem­ dung und rückbesinnung

zum Wandel ostJüdiscHer lebensWelten im 19. JaHrHundert

2011. 177 S. Mit 18 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-20802-8

2003. 337 S. 1 farb. und 1 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-06699-4

Band 8: Peter Haber die anfänge des zionismus in ungarn (1897–1904) 2001. 196 S. 10 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-10001-8

Band 9: Frank M. Schuster zWiscHen allen fronten osteuroPäiscHe Juden WäHrend des ersten Welt­ krieges (1914–1919)

ST550

2004. 562 S. 16 s/w-Abb. auf 16 Taf. Br. ISBN 978-3-412-13704-5

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