Bewegungskulturen im Wandel: Der Sport der Medialen Moderne - Gesellschaftstheoretische Verortungen 9783839431528

Sport is changing unmistakably. Classic club sport with regular training times in spaces that are devoted to sport are b

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Polecaj historie

Bewegungskulturen im Wandel: Der Sport der Medialen Moderne - Gesellschaftstheoretische Verortungen
 9783839431528

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Zugang und theoretisch-konzeptionelle Perspektive
Warum Gesellschaftstheorie und warum diese? Zu den Grundlagen von Mediale Moderne
Sportphilosophie: Natur und Ökonomie – Zwei Kategorien moderner Gesellschaften
Leistung und Erfolg in Sport und Ökonomie
Kann man sagen „Die bessere Mannschaft hat verloren? (José Mourinho)?. Response zu Simon Johnen: Leistung und Erfolg in Sport und Ökonomie
Natur und Leben aus moderner Sicht. Die gesellschaftliche Stellung naturwissenschaftlichen Wissens am Beispiel der Biologie in der Theorie Mediale Moderne
Die Medialität des Agon. Sport und Spiel in der klassischen Antike
Vereinssport: Zwischen Kontinuität und Wandel – Sportvereine als Institutionen (zivil-)gesellschaftlichen Handelns
Was bedeuten Werte und Wertewandel im Sport?
Was ist ein Sportverein „wert??. Vereine als Seismographen der Werteforschung
Alive and Kicking?. Fußballvereine in Deutschland und England als Orte von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung
Fußball und die Regulierung kollektiver Emotionen
Sportentwicklung und Medienwandel – Konzeptionelle Überlegungen und empirische Befunde zum Mediensport
Medialisierung des Sports – ein Untersuchungsmodell
Der Medialisierungsgrad des Spitzensports – eine Typologie
Olympische Prinzipien und gesellschaftliche Werte in der Printberichterstattung. Ausgewählte Befunde einer Pilotstudie
Kommunikationswissenschaftliche Perspektiven auf Werte in Zeiten des Medienund Gesellschaftswandels
Schulsport: Körper und Wissen im Sportunterricht – Zwischen Instrumentalisierung und Selbstbestimmung
Instrumentalisieren und Entdecken – Körperbilder in Sportlehrplänen 1980-2011
Körperbilder im Schulsport: Konstruktion, Kontrastierung, Kommentar
Zum Wandel gesellschaftlicher Erwartungen an Wissenserwerb in Sportlehrplänen
Handlungsfähigkeit im Sport – transversal und reflexiv
Einordnungen
Der Wandel des Sports und das Problem seiner gesellschaftstheoretischen Einordnung
Anmerkungen zum Projekt „Sport der Medialen Moderne? aus politikwissenschaftlicher Perspektive
Mediale Moderne – systemtheoretisch beobachtet
Sport und Gesellschaftstheorie – Plädoyer für ein kritisches Update
Autorinnen und Autoren

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Volker Schürmann, Jürgen Mittag, Günter Stibbe, Jörg-Uwe Nieland, Jan Haut (Hg.) Bewegungskulturen im Wandel

KörperKulturen

Volker Schürmann, Jürgen Mittag, Günter Stibbe, Jörg-Uwe Nieland, Jan Haut (Hg.)

Bewegungskulturen im Wandel Der Sport der Medialen Moderne – Gesellschaftstheoretische Verortungen

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Inhalt Einleitung

Jörg-Uwe Nieland/Volker Schürmann/Günter Stibbe/Jan Haut | 9

ZUGANG UND THEORETISCH-KONZEPTIONELLE P ERSPEKTIVE Warum Gesellschaftstheorie und warum diese? Zu den Grundlagen von Mediale Moderne

Volker Schürmann | 27

S PORTPHILOSOPHIE: NATUR UND Ö KONOMIE – ZWEI KATEGORIEN MODERNER G ESELLSCHAFTEN Leistung und Erfolg in Sport und Ökonomie

Simon Johnen | 47

Kann man sagen „Die bessere Mannschaft hat verloren“ (José Mourinho)?

Michael Roth | 65

Natur und Leben aus moderner Sicht

Janine Böckelmann | 73

Die Medialität des Agon. Sport und Spiel in der klassischen Antike

Andreas Hetzel | 89

V EREINSSPORT: ZWISCHEN KONTINUITÄT UND W ANDEL – S PORTVEREINE ALS I NSTITUTIONEN (ZIVIL-)GESELLSCHAFTLICHEN HANDELNS Was bedeuten Werte und Wertwandel im Sport?

Sven Güldenpfennig | 107

Was ist ein Sportverein „wert”?

Pia Klems | 131

Alive and Kicking? Fußballvereine in Deutschland und England als Orte von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung

Daniel Ziesche | 151

Fußball und die Regulierung kollektiver Emotionen

Timm Beichelt | 169

S PORTENTWICKLUNG UND MEDIENWANDEL – KONZEPTIONELLE ÜBERLEGUNGEN UND EMPIRISCHE BEFUNDE ZUM MEDIENSPORT Medialisierung des Sports – ein Untersuchungsmodell

Holger Ihle/Jörg-Uwe Nieland/Simon Rehbach | 185

Der Medialisierungsgrad des Spitzensports – eine Typologie

Stephanie Heinecke | 205

Olympische Prinzipien und gesellschaftliche Werte in der Printberichterstattung

Simon Rehbach/Holger Ihle/Jörg-Uwe Nieland | 225

Kommunikationswissenschaftliche Perspektiven auf Werte in Zeiten des Medien- und Gesellschaftswandels

Kathrin Friederike Müller | 251

S CHULSPORT: KÖRPER UND WISSEN IM S PORTUNTERRICHT – ZWISCHEN I NSTRUMENTALISIERUNG UND SELBSTBESTIMMUNG Instrumentalisieren und Entdecken – Körperbilder in Sportlehrplänen 1980-2011

Sebastian Ruin | 271

Körperbilder im Schulsport: Konstruktion, Kontrastierung, Kommentar

Eckart Balz | 293

Zum Wandel gesellschaftlicher Erwartungen an Wissenserwerb in Sportlehrplänen

Ingo Wagner | 307

Handlungsfähigkeit im Sport – transversal und reflexiv

André Gogoll | 323

E INORDNUNGEN Der Wandel des Sports und das Problem seiner gesellschaftstheoretischen Einordnung

Jan Haut | 339

Anmerkungen zum Projekt „Sport der Medialen Moderne“ aus politikwissenschaftlicher Perspektive

Ralf Kleinfeld | 353

Mediale Moderne – systemtheoretisch beobachtet

Swen Körner | 363

Sport und Gesellschaftstheorie – Plädoyer für ein kritisches Update

Martin Gessmann | 377

Autorinnen und Autoren | 391

Einleitung J ÖRG -U WE N IELAND /V OLKER S CHÜRMANN /G ÜNTER S TIBBE / J AN H AUT

Im Angesicht zahlreicher Krisen haben Modernisierungsdebatten wieder Hochkonjunktur. Denn für die Gegenwart verstärkt sich der Eindruck „allumfassender Vertrauens-, Erwartungs- und (ökologischer wie ökonomischer) Systemkrisen“ und kontinuierlicher Handlungszwänge. 1 So stieß Assheuer im Juli 2012 in der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine Diskussion unter dem Titel „Die Moderne ist vorbei“ an. Die Antworten der Soziologen Nassehi (2012) und Rosa (2012) sowie des Kulturwissenschaftlers Groys (2012) zeigen auch eine Krise der Gesellschaftsdiagnosen, denn die Beschreibungen der Gesellschaft als Selbstbeschreibungen (Nassehi) bemühen alte Muster (also Post- und Spätdiagnosen sowie Kapitalismuskritik) und vermengen sie mit neuen Begriffen wie „Postdemokratie“ und „Beschleunigung“ ohne zu einer Verständigung über Beobachtungskategorien oder einer normativen Basis zu gelangen. 2

1

Vgl. das Themenpapier zum 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (vom 06. – 10.10. 2014 in Trier), abzurufen unter: http://kongress2014.soziologie.de/ fileadmin/user_upload/kongress2014/Themenpapiere/DGS_2014_Themenpapier__20 13-09-24__final-1.pdf (letzter Zugriff am 04.09.2015). Indizien und Ausdruck der strukturell krisenhaften Phänomene sind die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Entkoppelung generationsspezifischer Zukunftshoffnungen und -erwartungen, die Verminderung von Chancen auf soziale Eigenständigkeit (gerade für die jungen Generationen), die Angst um den Verlust von privaten wie öffentlichen Vorsorgeleistungen für Alter und Gesundheit sowie die Erfahrungen und Zumutungen von Prekarisierungen, ökologischen Gefährdungen und politischem Populismus (ebd., S. 1).

2

Während Assheuer (2012) die Großkrise der Wirtschaft als „heißen Kern“ der neuen „Post-Theorien“ identifiziert, konzediert Nassehi (2012), dass die zentralen Instanzen

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Einigkeit besteht, „dass es gegenwartsdiagnostisch gesprochen im Vergleich zur Moderne in der Spätmoderne/Postmoderne zu einem (fundamentalen) Wandel der Rechtfertigungsdiskurse in punkto Kapitalismus, Lebensführung und Wettbewerbskulturen gekommen ist “ (Wetzel, 2013, S. 213f.) und der als Ökonomisierung bezeichnete Prozess inzwischen fast alle Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche durchzieht (vgl. bspw. Lemke, Ritzi & Schaal, 2014, S. 262; auch Akyel, 2014, S. 3ff.). „Ursächlich dafür sind neben politischen und ökonomischen Veränderungen auch der Wandel sozialer Wertvorstellungen“ (Akyel, 2015, S. 98). Die Ausweitung von Marktbeziehungen sei auf die zunehmende Individualisierung zurückzuführen, denn sie erzeugt (immer) neue Bedürfnisse und Handlungsziele (ebd., S. 99). Bei der Betrachtung der verschiedenen Wortmeldungen und Diagnosen fällt auf: Die Sportwissenschaft bzw. ihre gesellschaftswissenschaftlich interessierten Zweige sind an dem Diskurs kaum beteiligt. 3 Dies überrascht, da die „Versportung der Gesellschaft“ (Digel) voranschreitet – also der Bedeutungsaufschwung und die Präsenz von Sport und Bewegung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (allen voran den Medien, der Wirtschaft aber auch Gesundheit und Schulen). Studien wie „Treue zum Stil“ (Gebauer, Alkemeyer, Boschert, Flick & Schmidt, 2004), die neuartige Körperpraxen und Verhaltens-

der Gesellschaft – wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Religion und Kunst – völlig unterschiedliche Logiken, Erfolgsbedingungen und Reflexionstheorien entwickeln. Nassehi also hebt auf die funktionale Differenzierung als Grunderfahrung der Moderne ab und plädiert dafür, Komplexitäts- und Rückkopplungsprobleme ernster zu nehmen. Groys (2012) verweist auf die Eliminierung des Unterschieds zwischen kreativer Klasse und dem Publikum, da heute (fast) jeder die Möglichkeit hat, einen Blog zu starten, eine Webseite einzurichten, Fotos oder Videos aufzunehmen und diese global zu verbreiten. Rosa (2012) dagegen argumentiert, dass moderne Gesellschaften auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen sind – die Steigerungslogik ist dabei nicht nur der Ökonomie eingeschrieben, sondern umfassendes Funktions- und Stabilisierungsprinzip der Moderne. Das von ihm diagnostizierte „Post-Lebensgefühl“ fußt auf der Einsicht, dass Wachstum weitergehen muss, obwohl es nicht nur ökologisch desaströs ist, sondern nicht einmal ökonomische Knappheit und soziale Exklusion zu überwinden vermag – und so wird auch die Aufrechterhaltung des Bestehenden immer schwieriger. 3

Ausnahmen bilden u.a. das Engagement der Sektion „Soziologie des Körpers und des Sports“ auf dem 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und das geplante Schwerpunktheft „Krisen des Sports – der Sport in der Krise“ der Zeitschrift „Sport & Gesellschaft“.

E INLEITUNG

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weisen als eine „Aufführung von Gesellschaft in Spielen“ interpretieren (ebd.; auch Alkemeyer et al., 2003), bilden nach wie vor die Ausnahme. Gebauer und andere betrachten die neuen Bewegungskulturen – als „eine Kultur des Performativen“ – nicht als einen Verlust an Gemeinschaftsbildungen, sondern vielmehr als Veränderungen und Differenzierungen von Gemeinschaftsformen. Individualisierung (Beck) und Erlebnisgesellschaft (Schulze) bergen also eine Reihe von Möglichkeiten – und der Wandel der Sport- und Bewegungskulturen bietet dafür einen besonderen Untersuchungsgegenstand, weil er als Gradmesser für den Umgang mit dem sozialen Wandel dienen kann. Den Sport als Untersuchungsgegenstand heranzuziehen bietet sich auch deshalb an, weil eine Beschleunigung des sozialen Wandels unterstellt werden kann. Rosa (2009, S. 11 f.) diagnostiziert einen „Übergang zu einem intra-generationalen Wandlungstempo mit einem Wechsel von ‚positionalen‛ zu ‚performativen‛ Wettbewerbs- und Anerkennungsverhältnissen.“ Diese neuen performativen Wettbewerbsverhältnisse sind unmittelbar mit dem Wandel des Sports – insbesondere des Leistungssports – verbunden. 4 Wetzel (2013, S. 158) sieht die Performativität des Leistungssports auf zwei Ebenen: der Notwendigkeit der Wiederholung konkreter Erfolge in Wettkämpfen einerseits und der Nacherzählung in den Medien. Wenn sich diese performative Dimension der Anerkennung allerdings verstärkt, dann gerät die Erfolgsorientierung des Leistungssports zum (Doping-)Problem (ebd., S. 161 ff.; S. 216 f.). Ausreichend Gründe somit, sich mit dem Wandel des Sports zu beschäftigen und eine Einordnung dieses Wandels in den Modernediskurs vorzuschlagen. Die Indizien für die Veränderungen der Sport- und Bewegungskulturen sind unübersehbar. Der klassische Vereinssport mit seinen regelmäßigen Trainingszeiten in für den Sport ausgewiesenen Räumen verliert an Attraktivität; insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, von denen viele lieber in den Fußgängerzonen skaten als sich in (oft maroden) Turnhallen aufzuhalten – so der oft geäußerte Verdacht, dessen empirische Klärung aber weiter strittig ist. Sportliche Aktivitäten, die sich durch individuelle Motivation, Ausübungszeit und -ort auszeichnen (etwa Joggen, Snowboarding, Parkour), haben enormen Zulauf und prägen den öffentlichen Raum (vgl. Gebauer et al., 2004, S. 25 ff.). Ein Wandel ist auch hinsichtlich der Formen der Kommunikation über Sport zu beobachten. Hier zeigt sich, dass das Sportpublikum nicht nur konstitutiv für den Sport ist, sondern gleichzeitig für die strukturelle Kopplung von Massenmedien und Sport sorgt. Diese Kopplung hat historisch gesehen nicht nur die Ausdifferenzierung

4

Für Wetzels „Soziologie des Wettbewerbs“ gibt der (Leistungs-)Sport ein zentrales Untersuchungsfeld ab (Wetzel, 2013, S. 20f.; S. 28; S. 155ff.).

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des Sports vorangetrieben, sondern auch die Ausdifferenzierung der Massenmedien unterstützt (Werron, 2010, S. 219). Vor diesem Hintergrund entsteht die Frage, wie sich sportliches Handeln in der Gegenwart im Vergleich z.B. zum klassischen Olympismus der Moderne gestaltet.

Z IELSETZUNG Dieser Frage widmet sich der 2012 an der Deutschen Sporthochschule Köln eingerichtete Forschungsschwerpunkt Sport der Medialen Moderne. Das zentrale Anliegen des Forschungsschwerpunkts besteht darin, die tiefgreifenden Veränderungen in den Sport- und Bewegungskulturen moderner Gesellschaften, die sich im Übergang zur Postmoderne/Spätmoderne vollzogen haben und weiter vollziehen, besser zu verstehen als die Sportwissenschaften das heute tun. Denn das zentrale Desiderat des heutigen sportwissenschaftlichen Verständnisses liegt nicht so sehr in unzureichendem empirischen Wissen über solche Veränderungen, als vielmehr darin, die vielfältigen Einzelstudien begründet miteinander zu vergleichen und zu einem konsistenten, gesellschaftstheoretisch reflektierten Gesamtbild verbinden zu können. Vor diesem Hintergrund ist die zentrale Aufgabe des Forschungsschwerpunktes in der interdisziplinären Theoriearbeit auf der Grundlage von Detailstudien bestimmt worden. Die Diskussion der Ergebnisse gemeinsamer Theoriearbeit auf der einen Seite und der Teilbefunde der Detailstudien auf der anderen soll zum besseren Verständnis der Veränderungen in den Sport- und Bewegungskulturen führen und die Prüfung einer zentralen Hypothese der Sozialwissenschaften des Sports erlauben: Veränderungen in Sport- und Bewegungskulturen haben eine seismographische Funktion für gesellschaftlichen Wandel. Der vorliegende Band dokumentiert nicht nur einige Ergebnisse der vier, an der Deutschen Sporthochschule angesiedelten Teilprojekten des Forschungsschwerpunkts, vielmehr enthält er die Diskussion dieser Befunde durch Experten aus unterschiedlichen Fächern. Dafür stehen die Wortmeldungen in den Sektionen „Sportphilosophie“, „Vereinssport“, „Mediensport“ und „Schulsport“ sowie die Einordnungen im Schlusskapitel.

E INLEITUNG

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D IE G ESELLSCHAFTSTHEORIE M EDIALE M ODERNE Der Band wird eröffnet durch einen Beitrag von Schürmann, der die zugrunde liegende Gesellschaftstheorie zu skizzieren und zu begründen sucht (vgl. auch Böckelmann, Johnen & Schürmann, 2013). Die zentrale These lautet, dass Sozialwissenschaften sich nicht aussuchen können, ob sie eine Gesellschaftstheorie in Gebrauch nehmen oder ob sie das lieber bleiben lassen. Vielmehr sei jede sozialwissenschaftliche Analyse bereits gesellschaftstheoretisch formatiert. Es reicht daher nicht, nur von „theoretischer Empirie“ (Kalthoff, Hirschhauer & Lindemann, 2008) zu reden, sondern Ausgangspunkt ist eine Dreiheit von empirischen Daten, sozialtheoretischen Begriffen und gesellschaftstheoretischen Kategorien. Jede sozialwissenschaftliche Empirie gilt dann perspektivisch, abhängig vom jeweiligen gesellschaftstheoretischen Licht, in das sie gestellt ist. Dem entsprechend ist die Unterscheidung Moderne | Vormoderne in Mediale Moderne eine kategoriale Unterscheidung, nicht aber eine sozialwissenschaftliche Bestimmung. Moderne ist hier ein Geltungsraum, und erst sekundär eine historische Epoche. Wer sich unter dieser Annahme für den Wandel von Sport und Bewegungskulturen interessiert, der wird konstatieren, dass die Sozialwissenschaften des Sports nicht primär einen Mangel an empirischem Wissen haben, sondern ein Folgeproblem dessen, gleichsam über zu viel oder zu buntes empirisches Wissen zu verfügen. Der zentrale Impuls von Mediale Moderne liegt darin, die verschiedenen Perspektiven des vorliegenden empirischen Wissens kenntlich und ineinander übersetzbar zu machen. Mediale Moderne will erklärtermaßen eine Übersetzungsmatrix sein. Ihr eigenes Folgeproblem ist dann, dass sie ihren eigenen Einsichten gemäß dies nicht von einem vermeintlich neutralen Standort über aller theoretischen Empirie und folglich auch nicht neutral über allen Gesellschaftstheorien sein kann. Mediale Moderne muss daher ihre eigene Zirkularität methodisch kontrollierbar machen, die aus jener Doppelbelastung folgt. Sie darf ihre Kategorien nicht material durch eine Inhaltsangabe bestimmen, sondern muss formal genug sein, um ganz unterschiedliche Gesellschaftstheorien ineinander übersetzbar zu machen, aber dieses Beharren auf der Form darf nicht in einen vermeintlich neutralen Formalismus kippen, denn notwendigerweise ist Mediale Moderne selbst eine Gesellschaftstheorie neben anderen, die folglich sich selbst und die anderen Gesellschaftstheorien ineinander übersetzbar machen will. Der seidene Faden, an dem Mediale Moderne hängt, ist also, keine MetaTheorie gegenüber den sozialwissenschaftlichen Analysen zu sein, sondern deren Reflexion (Schürmann, 2015, S. 153 f.; vgl. auch Körner & Schürmann, 2015).

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Die Übersetzungsmatrix Mediale Moderne geht zurzeit von drei basalen Kategorien aus, die alle Gesellschaftstheorien (der Moderne) in irgendeiner Version in Gebrauch nehmen: Verfasste Bürgerschaftlichkeit, Personalität sowie das Politische (dazu Böckelmann, Johnen & Schürmann, 2013). Auch an dieser Auswahl kann man die genannte Doppelbelastung ablesen. Diese drei Kategorien fungieren als Übersetzungsmatrix und stehen für die eigene und streitbare Position, den Geltungsraum Moderne aus methodischen Gründen politisch bestimmt zu haben, nämlich als Bruch in der grundlegenden Ordnung des Miteinander in einer polis resp. in einer Gesellschaft. Mediale Moderne behauptet für den Geltungsraum Moderne eine prinzipielle Vermitteltheit aller personalen Verhältnisse im Medium der Bürgerschaftlichkeit: aus Menschen sind Personen gleicher Rechte geworden. Daraus resultieren zwei Abgrenzungsprobleme. Zum einen muss die so bestimmte politische Moderne innergesellschaftlich ins Verhältnis gesetzt werden zu anderen Kandidaten, an die man den Geltungsbruch Moderne | Vormoderne binden könnte und die zugleich als Felder oder Subsysteme der Gesellschaft thematisierbar sind – also etwa das Technische (die Moderne als Industriegesellschaft), das Weltanschauliche (die Moderne mit Kant als Revolution der „Denkungsart“), das Ökonomische (die Moderne als Kapitalismus). Der Beitrag von Simon Johnen geht dem vorbereitend und exemplarisch nach, insofern er nach den Verhältnisbestimmungen von Gesellschaft, Sport und Ökonomie fragt. Zum anderen ist Gesellschaft immer schon in Natur eingebettet, die allerspätestens mit der Neuzeit nicht mehr bruchlos als gesellschaftstranszendente Instanz thematisierbar ist. Der Beitrag von Janine Böckelmann fragt nach den Vermittlungen von Gesellschaft und Natur als ihrer Grenzbestimmung, was insbesondere heißt, nach den Verhältnissen von Gesellschaft, Leben und Natur und den Verhältnissen von Gesellschaft, Kultur und Technik zu fragen. Der Beitrag von Johnen geht von der grundlegenden Annahme aus, dass eine Verhältnisbestimmung von Ökonomie und Sport nicht auf direktem Wege erfolgen kann, sondern nur indirekt als Vergleich von Prinzipien. Wenn man mit der Moderne von differenzierten Gesellschaften auszugehen hat, dann heißt das eben, dass die Elemente eines Bereichs nicht in einem direkten Sinne auf Elemente eines anderen Bereichs einwirken oder in irgendeiner anderen Form Einfluss nehmen. So bleibt eigens zu reflektieren, was es heißt, dass Elemente als ökonomische in einem Verhältnis zu Elementen als sportlichen stehen. Der Beitrag operationalisiert diese Aufgabe in doppelter Weise. Zunächst übersetzt er jene drei Grundkategorien von Mediale Moderne in das Grundversprechen moderner Gesellschaften, nämlich im Bruch mit vormodernen Ständegesellschaften soziale Mobilität im Modus der Leistungsgerechtigkeit zu gewährleisten. Sodann geht er der Frage nach, ob und wie sich die Trias von Erfolg, Leistung und Ge-

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rechtigkeit einerseits in der Ökonomie der Moderne, andererseits im Sport der Moderne manifestiert. Ein zentrales Ergebnis ist, dass diese drei Momente im klassischen Olympischen Wettkampfsport, wie er von Coubertin begründet wurde, intrinsisch aufeinander bezogen sind: Ein sportlicher Erfolg gilt dann und nur dann als sportliche Leistung, wenn er auf faire Weise, d.h. gegen einen gleichwertigen Gegner bei Offenheit des Ausgangs des Wettkampfs, erzielt wurde. Deshalb kommt es im Sport nicht darauf an, alles für den Sieg zu geben, sondern das Beste. Es ist keine sportliche Leistung, unterwegs die Bedingungen zu seinen eigenen Gunsten zu verändern – also z.B. eine Abkürzung zu nehmen oder die beste Spielerin der gegnerischen Mannschaft aus dem Spiel zu foulen. Auch die Ökonomie kommt nicht ohne Gerechtigkeitsaspekte aus, die aber nicht in dieser intrinsischen Weise verortet sind. So verhält man sich bei Betriebsausflügen nicht unfair, wenn man unterwegs eine Abkürzung nimmt, und auch und gerade das Kerngeschäft kennt sogar „feindliche Übernahmen“, von allen „Preiskämpfen“ ganz abgesehen. Der kritische Kommentar von Michael Roth zu diesen Ausführungen von Johnen stellt noch einmal nachdrücklich heraus, dass daraus kein „Zusammenfallen“ von Leistung und Erfolg im Sport resultiert. Zwar sorge der Bühnencharakter des Sports dafür, dass klar und präzise angebbar ist, was überhaupt als sportliche Leistung gilt, ja dass sie messbar gemacht worden ist; gleichwohl verlange der Spielcharakter des Sports, dass aus der Gleichwertigkeit der Gegner keine Gleichheit werden darf. Der Wettkampf zeigt nur dann die im Vergleich zum Gegner bessere Leistung, wenn der tagesaktuelle Umgang mit der Gleichheit der Bedingungen den Ausschlag gibt. In diesem Sinne sei die sportliche Leistung nicht aus der inszeniert-hergestellten Gleichheit der Bedingungen ableitbar, sondern muss in einem wesentlichen Moment unverfügbar bleiben. Der Beitrag von Böckelmann analysiert die Grenzkategorie Natur vermittelt über den Begriff des Lebens und damit insbesondere vermittelt über die Rolle der Biologie, einerseits im Verhältnis zur Physik, andererseits im Verhältnis zu den Sozialwissenschaften. Der Befund ist, dass auch moderne Gesellschaften nicht ohne teleologische Momente auszukommen scheinen. So steht im Sport wie in der Biologie der Begriff des Lebens für ein Prinzip der Leistung als Selbstzweck. Wie problematisch es ist, wenn dieses Prinzip umgedeutet wird zu einem Prinzip der Leistung als Mittel zum Zweck, führte der Sozialdarwinismus vor Augen. Dies zeigt, dass das Leistungsversprechen der Moderne in eine Scheinlegitimation sozialer Kälte umkippen kann, dann nämlich, wenn der Selbstzweck einer Person interpretiert wird als Appell, sich (nur) um sich selbst zu kümmern. Die Rede von Selbstzweck ist dann formalistisch-leer geworden und propagiert eine Leistungssteigerung um der Leistungssteigerung willen.

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Der kommentierende Beitrag von Andreas Hetzel bestätigt und differenziert diese Diagnose durch einen Vergleich mit dem Konzept des antiken Agon. Einerseits geht es dort gerade nicht um „Sport“, denn der Clou der antiken Wettkämpfe sei nicht das Leistungsprinzip, sondern das Prinzip der Selbststeigerung. Andererseits ist in und für die Antike noch klar, dass diese Figur der Selbststeigerung nicht egologisch gedacht werden kann. Antike Selbstkultivierung ist schon grammatisch nur im Medium sagbar, d.h. gedacht als eine Tätigkeit, die sich weder rein aktiv als reines Herstellen noch rein passiv als reines Erleiden begreifen lässt. Der aktive Prozess der Selbstkultivierung ist dann und nur dann eine (gelingende) Selbstkultivierung, wenn er gelassen wird. Damit knüpft der Beitrag von Hetzel, von einem anderen Ausgangspunkt her, noch einmal an den zentralen Punkt von Roth an, die zu gewährleistende Unverfügbarkeit der sportlichen Leistung.

V EREINSSPORT

DER

M EDIALEN M ODERNE

In dieser Sektion beschäftigen sich Sven Güldenpfennig, Pia Klems, Daniel Zische und Timm Beichelt aus einer politikwissenschaftlich-historischen Perspektive mit Kontinuität und Wandel von Sportvereinen als verbreitete Einheiten des organisierten Sports. Dabei geht es allgemein um die Frage, welche Rolle Sportvereinen als Institutionen (zivil-)gesellschaftlichen Handelns zukommt. Güldenpfennig eröffnet die Sektion mit der Frage nach Werten und Wertewandel im Sport. Ziel ist es, Potenziale und Grenzen der Werteforschung sowohl für die (Sport-)Wissenschaft im Allgemeinen als auch für die Entwicklung einer Gesellschaftstheorie im Besonderen zu beleuchten. Im Blick auf den sportbezogenen Wertewandel unterscheidet er zwei unterschiedliche Sportmodelle: „Sporttyp I“ hat sich im frühmodernen England entwickelt und ist gekennzeichnet durch autotelisches, regelgeleitetes Leistungs- und Wettkampfstreben; demgegenüber fasst er unter dem „Sporttyp II“ all jene Formen der Körperkultur, die sich bewusst vom ersten Typ abheben und gesundheitliche, hygienische und ästhetische Zwecke mit dem Sport verfolgen. Beide Sportformen folgen einem je eigenen Wertekanon. Letztlich kommt Güldenpfennig zum Schluss, dass Werte im Sport weder ein Abbild der Gesellschaft noch ein Vorbild derselben seien. Klems betrachtet Vereine als Seismographen der Werteforschung und arbeitet beispielhaft Problemfelder und Analysedimensionen einer Untersuchung über vorherrschende Werte in Sportvereinen heraus. Hierbei können Dokumente wie Satzungen und Festschriften von Vereinen Aufschluss über solche Wertvorstellungen geben. Allerdings gilt es bei der Analyse, auf der Basis der bisherigen

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Vereinsforschung unterschiedliche Typen von Sportvereinen zu berücksichtigen und deren „Werte des Sports“ zu untersuchen. Ziesche vergleicht Fußballvereine in Deutschland und England als Orte von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung und betrachtet dabei insbesondere den Wandel der Vereine vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels. Fußballvereine stellen für ihn einen Mikrokosmos dar, in dem gesamtgesellschaftliche Veränderungsprozesse in expliziter und verdichteter Weise aufscheinen. Trotz unterschiedlicher organisationaler Strukturen von Fußballvereinen in Deutschland und England zeigen sich doch insgesamt ähnliche Veränderungstendenzen. Im letzten Beitrag dieser Sektion beschäftigt sich Beichelt mit der Regulierung kollektiver Emotionen im Fußball. Er stellt dabei die These auf, dass in der Spätmoderne Fußball individuelle und kollektive Anforderungen an das Subjekt, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, miteinander versöhnen kann.

M EDIENSPORT

DER

M EDIALEN M ODERNE

Ausgangspunkt für die Beiträge dieser Sektion ist die Diagnose, dass sowohl die Massenmedien als auch der medienvermittelte Sport fundamentalen Veränderungen unterworfen sind. Auflagenhöhe, TV-Reichweiten und Klick-Zahlen im Umfeld von Sportgroßereignissen aber auch kleineren Veranstaltungen belegen, dass Sport ein äußerst attraktiver Medieninhalt ist. Unübersehbar sind die zunehmende Unterhaltungsorientierung und auch die Skandalisierung der Sportberichterstattung sowie die Etablierung neuer Akteure und Geschäftsmodelle – damit wandeln sich Angebot, Nachfrage und Nutzungsformen des medial vermittelten Sports. Die Sektion beleuchtet das bisher noch nicht systematisch erforschte und auf soziale Wandlungsprozesse bezogene Verhältnis von Sport und Medien. Zunächst entwickeln Ihle, Nieland und Rehbach ein analytisches Modell, das Sport und Massenmedien als eigenständige gesellschaftliche Teilbereiche versteht, zwischen denen sich wechselseitige Bezugnahmen beobachten lassen. Dieses Modell lässt sich einbinden in die Forschung zur Medialisierung im Allgemeinen und zur Medialisierung des Sports im Speziellen. Aus einer funktionalstrukturellen Perspektive gelangen dabei im Sport ausgebildete Strategien in den Blick. Die Institutionen des Sports nehmen Kontakt mit Massenmedien auf, um deren Leistung, Öffentlichkeit herzustellen, zu nutzen. Dieses Medialisierungsangebot – insbesondere des IOC – wird als Medialisierung 1 bezeichnet. Inwiefern diese Strategien eine Umsetzung finden, kann auf der Ebene medialer Inhal-

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te beurteilt werden. Die Medialisierungsfolgenprodukte (Medialisierung 2) geben also Aufschluss über den Medialisierungsgrad von einer Sportart oder einem Sportevent. Während Ihle, Nieland und Rehbach ihr Untersuchungsmodell auf den olympischen Sport beziehen, entwickelt Heinecke in ihrem Beitrag eine Typologie, die unterschiedliche Medialisierungsgrade von fünf ausgewählten Sportarten erfasst. Sie markiert zunächst die besondere Zugänglichkeit des Teilsystems Sport für andere Teilsysteme, die hohe Anfälligkeit des Sports für Medialisierung und schließlich die gute Passung des Sports mit der Medienlogik. Den gestiegenen Einfluss betrachtet sie anhand der Anpassungsstrategien von Spielern, Trainern, Verbänden und Vereinen sowie Veranstaltern. Die Unterschiede in den Anpassungsstrategien führen dann zu einer Typologie. Abschließend problematisiert Heinecke, ob der Anpassungsdruck an die Medienlogik sich mit neuen Distributionswegen nicht verändert. Um Veränderungen der Sportberichterstattung empirisch ermitteln zu können, konzipieren Rehbach, Ihle und Nieland ein Erhebungsinstrument für eine standardisierte Inhaltsanalyse von Tageszeitungen. In einer Längsschnittanalyse der Berichterstattung des „Kölner Stadt-Anzeigers“ und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über die Olympischen Sommerspiele der Jahre 1956, 1976 und 1996 wurde das Analysewerkzeug erprobt. Das Auswertungssystem umfasste drei Dimensionen: Erstens die Thematisierung von Olympischen Prinzipien; um Verschiebungen der Medienlogik zu festzustellen, wurden zweitens Nachrichtenfaktoren erhoben und ihre Ausprägungen bzw. ihr Nachrichtenwert bestimmt und aufbauend auf den Erkenntnissen der soziologischen Wertewandelforschung wurde schließlich drittens erfasst, auf welche Weise innerhalb eines Zeitungsartikels einzelnen Akteuren spezifische Werte zugeschrieben werden. Die Ergebnisse der Pilotstudie zeigten eine Kluft zwischen dem Anspruch des IOC, die der Olympischen Bewegung zugrunde liegenden Ideale in die Öffentlichkeit zu bringen, und einem insgesamt nur geringen Vorkommen dieser fundamentalen Prinzipien. Daneben manifestierte sich eine relativ stabile Nachrichtenwertstruktur im Untersuchungszeitraum. Als Beobachtungsfolie für gesellschaftliche Veränderungen lässt sich die Olympiaberichterstattung insofern betrachten, als dass die erhobenen Wertzuschreibungen – wenn auch in einem geringen Umfang – mit dem Verlauf des in soziologischen Studien beschriebenen Wertewandels korrespondieren. Hier schließt der vierte Beitrag der Sektion an. Müller beschäftigt sich mit Werten und Normen in der Kommunikationswissenschaft. Sie berichtet von der Selbstreflexion des Faches in diesem Bereich, und zwar aufbauend auf der Einsicht, dass der Medienwandel in Beziehung mit dem Wertewandel steht. Ange-

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sichts veränderter Erwartungen von Medienmachern und Mediennutzern, aber auch Politikern und Werbetreibenden mit und an Medien entsteht enormer Forschungsbedarf. So zum Beispiel bezüglich der Werte des Medien(-sport)publikums. Abschließend bestimmt Müller drei Desiderate der Beschäftigung der Kommunikationswissenschaft mit dem Medienwandel. Sie plädiert dafür diese abzuarbeiten, um zu Aussagen über den medieninduzierten Gesellschaftswandel zu gelangen.

S CHULSPORT

DER

M EDIALEN M ODERNE

Die nächste Sektion befasst sich mit den Veränderungen im Schulsport. In verschiedenen Unterprojekten erfolgte eine Auswertung amtlicher Lehrplandokumente zum Schulsport an allgemein bildenden Schulen. Untersucht wurden Lehrpläne, die im Untersuchungszeitraum 1990 bis 2011 gültig waren bzw. bis heute noch gültig sind. In diesem Zusammenhang stellt Ruin im ersten Beitrag dieser Sektion seine Studie zu Körperbildern in Sportlehrplänen vor. Ausgehend vom Spannungsfeld zwischen Natur und Technik verortet er die Auffassungen von Körper im Schulsport auf einem Kontinuum zwischen der sinnhaften Erfahrung des Selbst in der Leiblichkeit (Natur) und einer instrumentellen Vereinnahmung des Körpers (Technik). Untersuchungsgegenstand sind exemplarisch die von 1980 bis 2011 gültigen Sportlehrpläne Nordrhein-Westfalens, die – wie Lehrpläne generell – als Ausdruck sowohl bildungspolitischer wie auch fachdidaktischer Bemühungen angesehen werden müssen. Auf der Grundlage körpersoziologisch fundierter Kategorien (u. a. Foucault und Bourdieu) gelingt es Ruin zu zeigen, wie sich bezüglich des Körpers im Schulsport erhebliche Veränderungsprozesse vollziehen. Nach einer Phase der Funktionalisierung des Körpers für sportspezifische Anliegen wird um die Jahrtausendwende eine (Wieder-)Belebung der Leiblichkeit des Menschen als basale Konstante von Bildungsprozessen sichtbar. Entgegen dieser Öffnung erwecken die aktuell gültigen Lehrpläne allerdings stärker den Verdacht, im Sinne eines „biopolitischen“ Eingriffs auf die Körperlichkeit von Kindern und Jugendlichen Einfluss zu nehmen – Gesundheit und Wettbewerbsfähigkeit geraten vermehrt in den Fokus. Balz versteht seinen Beitrag ausdrücklich als Kommentierung, Ergänzung und Kontrastierung zu den von Ruin aus einer körpersoziologischen Perspektive herausgearbeiteten Körperbildern im Schulsport. Ausgehend von einem „VierFelder-Modell“ des Sports erkennt er im Rückgriff auf sportanthropologische Grundlagen sechs unterschiedliche Körperbilder (u. a. „Erfahrungsleib“, „Sozial-

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leib“, „Umwelterfahrung“, „Raumgestaltung), die er als Alternative zu den körpersoziologischen Leitbildern sieht. Im Blick auf die Schulsportentwicklung der letzten 40 Jahre in Deutschland (bzw. der Bundesrepublik) arbeitet Balz dann aus einer fachdidaktischen Sicht vier weitere „Körperbilder“ – den „geschundenen“, den „gefundenen“, den „gesundenden“ und den „entbundenen“ Körper – heraus. Schließlich glaubt er in Sportlehrplänen – neben den von Ruin analysierten Körperbildern – noch den „formalisierten“, den „versteckten“ und den „explizierten“ Körper erkennen zu können. Wagner betrachtet den gesellschaftlichen Wandel aus Perspektive der Pädagogik bzw. der Sportpädagogik. Dabei hebt er auf den Postmodernediskurs, wie er von Welsch angestoßen wurde, ab. Wagner erkennt mit diesem Konzept eine zunehmende und radikalisierte Pluralität in der Gesellschaft, die auch für den Sportunterricht eine Herausforderung darstellt. In diesem Zusammenhang erhält „Wissen“ auch im Sportunterricht eine zunehmende Bedeutung als wesentliches Strukturmerkmal von Bildung. In der anschließenden Lehrplananalyse untersucht er exemplarisch die gymnasialen Sportlehrpläne aus Nordrhein-Westfalen von 1980, 2001 und 2011. Im Ergebnis erkennt er bezüglich der Thematisierung von „Wissen“ in Sportlehrplänen drei Tendenzen: (1) Eine zunehmende Bedeutung von diskursivem und sportartübergreifendem Wissen, (2) die Berücksichtigung von „Wissen“ im Blick auf formale und materiale Bildungsansprüche und (3) ein fachdidaktisches „Revival“ der Handlungsfähigkeit als Ziel des Sportunterrichts, bei dem auch kognitive Aspekte eine besondere Rolle spielen. Im abschließenden Beitrag dieser Sektion stellt Gogoll Ausprägungen und Veränderungen der pädagogischen Leitidee einer „Handlungsfähigkeit im Sport“ in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen. Die etwa in der Mitte der 1970er-Jahre entworfene Leitidee wurde in den 1990er-Jahren gewissermaßen „transversal“ im Sinne einer „Handlungsfähigkeit im und durch Sport“ erweitert, indem insbesondere auch erzieherische Ansprüche an den Sportunterricht gestellt wurden. In jüngerer Zeit ist in der fachdidaktischen Diskussion wiederum eine Fortschreibung dieser Leitidee zu erkennen. Die Bildungsaufgabe des Sportunterrichts besteht für Gogoll darin, eine „operative“ und eine „reflexive“ Handlungsfähigkeit auszubilden. Während es bei der „operativen Handlungsfähigkeit“ im Wesentlichen um den Grundbestand an körperlich-motorischen Kompetenzen geht, wird mit der „reflexiven“ Handlungsfähigkeit in Anlehnung an Marotzki (1990) ein „transformatorisches Überschreiten von bestehenden Welt- und Selbstsichten“ verfolgt.

E INLEITUNG

T HEORETISCHE E INORDNUNG

UND

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P ERSPEKTIVEN

Die abschließende Sektion dient der Bestandsaufnahme und Evaluation: Inwieweit haben die bisherigen Ergebnisse und Ansätze des Projekts Mediale Moderne die Frage nach der seismografischen Funktion des Sports klären können? Welche Implikationen hat das für verschiedene disziplinäre und theoretische Perspektiven auf den Sport als gesellschaftliches Phänomen? Und wie können verschiedene gesellschaftswissenschaftliche Zugänge umgekehrt zur Weiterentwicklung von Mediale Moderne beitragen? Haut zeichnet zunächst die in den empirischen Teilprojekten ausgemachten Entwicklungen nach und verortet diese in den historischen und soziologischen Diskussionen der Sportwissenschaft zur Frage des sportlichen Wandels. Sukzessive fragt er nach möglichen Brüchen zwischen diesen empirischen Befunden und dem theoretischen Ansatz von Mediale Moderne. Insbesondere wird diskutiert, welche Bedeutung dem Olympischen Sport (als etwaigem Prototyp des modernen Sports) in einer gewandelten Sportlandschaft mit konkurrierenden Modellen noch zukommt. Der Beitrag von Kleinfeld formuliert zum einen diverse Fragen bezüglich der Theorien und Methoden von Mediale Moderne, die sich aus Perspektive des Politikwissenschaftlers stellen. Zum anderen wird auf Berührungspunkte mit verschiedenen Teilgebieten der Disziplin (Vergleichende Politikwissenschaft, Ideengeschichte, Internationale Politik) verwiesen, anhand derer Vorschläge zur Fortführung des Projekts entwickelt werden. Dagegen wählt Körner eine andere Herangehensweise und diskutiert, wie sich die Theorie Mediale Moderne aus Sicht eines anderen gesellschaftstheoretischen Ansatzes, namentlich der Systemtheorie, darstellt. Dabei zeichnet er zentrale Charakteristika von Mediale Moderne nach und kontrastiert diese mit systemtheoretischen Auffassungen, um Bedarf und Möglichkeiten zur wechselseitigen Präzisierung anzuzeigen. Im abschließenden Beitrag von Gessmann werden hingegen Deutungsmöglichkeiten der Entwicklung des Sports jenseits der Theorieansätze Mediale Moderne und Systemtheorie skizziert. Unter Rückgriff auch auf Befunde aus den empirischen Teilprojekten wird für ein neuerliches Update des Verhältnisses von Sport und Gesellschaftstheorie plädiert. Ein solcher Neustart würde die von Wetzel (2013, S. 155ff.) betonte starke performative Dimension von Anerkennung berücksichtigen und könnte der eingangs festgestellten sparsamen Beteiligung der Sportwissenschaft an den aktuellen Krisendebatten und Gegenwartsdiagnosen etwas entgegen halten.

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L ITERATUR Akyel, Dominic (2014). Ökonomisierung und moralischer Wandel. Die Ausweitung der Marktbeziehungen als Prozess der moralischen Bewertung von Gütern. MPIfG Discussion Paper, 14/13. Köln. Akyel, Dominic (2015). Ökonomisierung und moralischer Wandel. In MPIfG Jahrbuch 2015-2016 (S. 97-102) Köln: Max-Plank-Institut für Gesellschaftsforschung. Alkemeyer, Thomas, Boschert, Bernhard, Schmidt, Robert & Gebauer, Gunter (Hrsg.). (2003). Aufs Spiel gesetzte Körper. Aufführungen des Sozialen in Sport und populärer Kultur. Bielefeld: UVK. Assheuer, Thomas (2012). Die Moderne ist vorbei. Die Zeit, Nr. 31, v. 26.07.2015. Zugriff am 13.07.2015 unter http://www.zeit.de/2012/31/Zeitkritik-Postdemokratie-Spaetkapitalismus. Böckelmann, Janine, Johnen, Simon & Schürmann, Volker (2013). Sport der Medialen Moderne. Ein gesellschaftstheoretischer Entwurf. Sport und Gesellschaft, 10, 119-142. Gebauer, Gunter, Alkemeyer, Thomas, Boschert, Bernhard, Flick, Uwe & Schmidt, Robert (2004). Treue zum Stil. Die aufgeführte Gesellschaft. Bielefeld: transcript. Groys, Boris (2012). Leben in der Kältezone. Die Zeit, Nr. 36, v. 30.08.2015. Zugriff am 13.07.2015 unter http://www.zeit.de/2012/36/ZeitkritikPostdemokratie-Spaetkapitalismus. Kalthoff, Herbert, Hirschauer, Stefan & Lindemann, Gesa (Hrsg.). (2008). Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Körner, Swen & Schürmann, Volker (Hrsg.). (2015). Reflexive Sportwissenschaft. Konzepte und Fallanalysen. Berlin: lehmanns. Lemke, Matthias, Ritzi, Claudia & Schaal, Gary S. (2014). Stand und Perspektiven der Ökonomieforschung. In Gary S. Schaal, Matthias Lemke & Claudia Ritzi (Hrsg.), Die Ökonomisierung der Politik in Deutschland. Eine vergleichende Politikfeldanalyse (S. 261-270) Wiesbaden: Springer VS. Nassehi, Armin (2012). Das „Goldene Zeitalter“ ist vorbei. Die Zeit, Nr. 32, v. 03.08.2015. Zugriff am 13.07.2015 unter http://www.zeit.de/2012/32/Zeitkritik-Postdemokratie-Spaetkapitalismus-Replik. Rosa, Hartmut (2009). Kapitalismus als Dynamisierungsspirale – Soziologie als Gesellschaftskritik. In Klaus Dörre, Stephan Lessenich & Hartmut Rosa. Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte. (S. 87-125) Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

E INLEITUNG

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Rosa, Hartmut (2012). Das neue Lebensgefühl. Die Zeit, Nr. 34, 22.10. 2012. Zugriff am 13.07.2015 unter http://www.zeit.de/2012/34/PostdemokratieSpaetkapitalismus-Soziologie. Schürmann, Volker (2014). Bedeutungen im Vollzug. Zum spezifischen Gewicht der Praxisphilosophie. Sport & Gesellschaft, 11 (3), 212-231. Schürmann, Volker (2015). Formatierte Sportwissenschaft. In Swen Körner & Volker Schürmann (Hrsg.), Reflexive Sportwissenschaft. Konzepte und Fallanalysen, (S. 145-156) Berlin: lehmanns. Wetzel, Dietmar J. (2013). Soziologie des Wettbewerbs. Eine kultur- und wirtschaftssoziologische Analyse der Marktgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS. Werron, Tobias (2010). Der Weltsport und sein Publikum. Zur Autonomie und Entstehung des modernen Sports. Weilerswist: Velbrück.

Zugang und theoretisch-konzeptionelle Perspektive

Warum Gesellschaftstheorie und warum diese? Zu den Grundlagen von Mediale Moderne V OLKER S CHÜRMANN

Mediale Moderne ist eine Gesellschaftstheorie. Es handelt sich um den Versuch, das Moderne moderner Gesellschaften zu bestimmen. 1 Mediale Moderne ist deshalb der Titel einer Analyseperspektive – ein „Prinzip der Ansprechbarkeit“ (Plessner) von Gesellschaften als moderne Gesellschaften –, und erst sekundär die Bezeichnung einer historischen Epoche. Für die beiden Subepochen der Moderne schlagen wir die Namen „staatsbürgerschaftliche Moderne“ (für die klassische Moderne, beginnend mit den Menschenrechtserklärungen von 1776 bzw. 1789) und „weltbürgerschaftliche Moderne“ (beginnend mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948) vor, wobei alle Fragen derart, ob wir vielleicht nie modern gewesen sind oder ob wir nicht längst in der Epoche nach der Moderne leben, damit nicht schon vorentschieden sind und insofern offen bleiben mögen. Weil Mediale Moderne keine Epochenbezeichnung ist, ist diese Modernetheorie insbesondere keine Modernisierungstheorie, denn sie ist nicht primär eine Entwicklungstheorie, und schon gar nicht eine solche, die eine einheitliche und/oder lineare Zeitlichkeit der Geschichte unterstellt. Schon eher handelt es sich um eine (reflexive) „Semantik“, die „gesellschaftlichem Geschehen einen historischen Sinn“ gibt (Angermüller, 2007, 303). Mediale Moderne macht einen

1

Es handelt sich zunächst um eine Darstellung aus der Sicht des Teilprojekts 1 des Gesamt-Forschungsschwerpunktes (Tobias Arenz, Janine Böckelmann, Simon Johnen, Volker Schürmann). Zu einer ersten Übersicht vgl. Böckelmann, Johnen und Schürmann, 2013.

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Vorschlag zur Bestimmung der kategorialen Grenze Vormoderne | Moderne; sie bindet diese Grenze an die Deklarationen der Menschenrechte von 1776 bzw. 1789. Das von Mediale Moderne vorgeschlagene Prinzip der Ansprechbarkeit ist selbstverständlich inhaltlich bestimmt, denn es ist ein bestimmter Vorschlag, der sich von anderen Bestimmungsversuchen unterscheidet. Dieser Vorschlag ist jedoch wesentlich methodisch geprägt; deshalb kann man diese inhaltliche Bestimmung nicht dadurch kritisieren, dass man auf direktem Wege eine andere inhaltliche Bestimmung für plausibler hält. Der methodos der inhaltlichen Bestimmung sagt hier vielmehr erst, was die inhaltliche Bestimmung besagt – sie gilt gleichsam „pfadabhängig“. Es geht im Folgenden darum, diesen Pfad nachzuzeichnen, damit die Weggabelungen sichtbar werden, an denen man begründet anderer Meinung sein kann. Inhaltlich vertritt Mediale Moderne die These, dass personale Verhältnisse prinzipiell in einem Medium („Lebenselement“) vermittelte Verhältnisse sind, und dass diese Kategorie der medialen Vermitteltheit personaler Verhältnisse im Geltungsraum Moderne „praktisch wahr“ (Marx, 1857) geworden ist. 2 Das grundsätzlich Neue des Geltungsraums Moderne besteht lt. Mediale Moderne darin, dass als vor-gegeben geltende Vermittlungsmedien (eine sog. natürliche oder eine sog. göttliche Ordnung des personalen Miteinander) obsolet und anachronistisch geworden sind; im Geltungsraum Moderne gilt das Medium der Vermittlung personaler Verhältnisse seinerseits als personales Medium. 3 Dass diese triadische Struktur personaler Verhältnisse im Geltungsraum Moderne praktisch wahr geworden ist, manifestiert sich (in einer wesentlichen Hinsicht) in einer Umstellung des Rechtsstatus moderner personaler Verhältnisse: Sie haben nicht länger den Status willkürlicher Verhältnisse („Recht des Stärkeren“), sondern sie sind nunmehr rechtsstaatliche, also menschenrechtlich geschützte Verhältnisse.

2

„Hier also wird die Abstraktion der Kategorie ‚Arbeit‛, ‚Arbeit überhaupt‛, Arbeit sans phrase, der Ausgangspunkt der modernen Ökonomie, erst praktisch wahr. Die einfachste Abstraktion also, welche die moderne Ökonomie an die Spitze stellt und die eine uralte und für alle Gesellschaftsformen gültige Beziehung ausdrückt, erscheint doch nur in dieser Abstraktion praktisch wahr als Kategorie der modernsten Gesellschaft.“ (Marx, 1857, S. 635)

3

Das kommt plakativ in dem Nietzsche-Diktum „Gott ist tot!“ zum Ausdruck. Systematisch bedeutet es, Feuerbachs Umstellung von „theologischer Metaphysik“ auf „anthropologische Metaphysik“ ernst zu nehmen. – Die andere Seite derselben Medaille ist dann freilich, dass Herrschaft apersonale Form annimmt (vgl. Zunke, 2014, S. 20).

W ARUM G ESELLSCHAFTSTHEORIE UND WARUM

DIESE ?

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1. E INE M OTIVATION FÜR G ESELLSCHAFTSTHEORIE Gesellschaftsdiagnosen gab und gibt es viele. Dass wir in der Industriegesellschaft, Leistungsgesellschaft, im Kapitalismus, in der bürgerlichen Gesellschaft, im Postfordismus, in der Wissens-, Informations- oder aber Erlebnisgesellschaft, in der zweiten Moderne oder Postmoderne leben, sind verschiedene, mehr oder weniger wirkmächtige Deutungs- und Orientierungsangebote. Nimmt man diesen Befund ernst, dann gehört zum Konsens einer grundsätzlich plural verfassten Moderne insbesondere eine Pluralität der Deutungsangebote ihrer selbst. In jenen Angeboten sind je unterschiedliche Hinsichten markiert, unter denen gesellschaftliches Leben, und insbesondere das Soziale, beobachtet und analysiert wird. Wechselt man solche Perspektiven, dann sieht man Anderes und anders. Wenn man beispielsweise das gesellschaftliche Leben als Leistungsgesellschaft beobachtet, dann ist die Deutung der Phänomene eine andere, als wenn man sie als bürgerliche Gesellschaft beobachtet – und zwar auch und gerade dann, wenn der phänomenale Befund als solcher unstrittig ist. Die leitende These in dieser Situation ist, dass man das Soziale nicht von einem gesellschaftstheoretisch neutralen Beobachtungsstandort beobachten und analysieren kann. In der Analyse des Sozialen haben wir die Wahl, welche Gesellschaftstheorie eingeht, aber wir haben nicht die Wahl, ob eine Gesellschaftstheorie eingeht oder doch lieber nicht. Oder als Formel: Jede Forschungsanalytik (des Sozialen, aber auch genereller, z.B. des Psychischen) ist gesellschaftstheoretisch formatiert. Die Konsequenz dieser These ist: Gesellschaftstheorien und Theorien des Sozialen sind nicht dasselbe; man kann und muss sie voneinander unterscheiden, weil sie wechselseitig aufeinander unreduzierbar sind. Deshalb ist eine Arbeitsteilung naheliegend und hoch rational, aber es gibt zwischen beidem keine logische Trennung: Wer eine bestimmte Theorie des Sozialen vertritt, der hat bestimmte gesellschaftstheoretische Annahmen bereits im Gebrauch; und wer gesellschaftstheoretische Bestimmungen artikuliert, der bezieht sich damit reflexiv auf gesellschaftstheoretische Annahmen gewisser (Sozial-)Theorien. Die erste Motivation für Gesellschaftstheorie ist hier daher eine theoriearchitektonische. Nimmt man jene leitende These ernst, dann bedarf jede Forschungsanalytik ihrer gesellschaftstheoretischen Reflexion, um transparent und rational kritisierbar zu sein. – Selbstverständlich aber kann es einem egal sein oder unnötig scheinen, dass Forschungsanalytiken über die Eigenschaften der Transparenz und Kritisierbarkeit verfügen. Freilich ist jene These auch von praktischer Relevanz. Dies kann nur exemplarisch aufgezeigt werden. – Es gibt die bekannte und durchaus verbreitete The-

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se, dass Doping zur Logik des modernen Sports dazu gehört und nicht etwa die Ausnahme bildet (prominent und zugespitzt vertreten z.B. von Eugen König). Gelegentlich wird aus dieser These auch die Konsequenz gezogen, man solle das Doping frei geben. Die genannte These hat also spürbare praktische Konsequenzen. Die These selber aber steht und fällt mit der gesellschaftstheoretischen Diagnose der Moderne als Leistungsgesellschaft, der eine Steigerungsfigur eingeschrieben sei. Bei einer anderen Gesellschaftstheorie, die das Phänomen der Leistungssteigerung nicht bestreiten muss, aber nicht für konstitutiv für die Moderne erklärt, wäre jene These nicht zu vertreten – und zwar ohne dass man das Phänomen des weit verbreiteten Dopings bestreiten müsste. Das Phänomen sagt nur nicht selbst, ob es konstitutiv ist für modernen Sport oder nicht – konstitutiv wird dieses Phänomen erst im Lichte einer bestimmten Gesellschaftstheorie. Deshalb hilft es auch nicht, sich in direkter Weise um die oben genannte Konsequenz zu zanken. Man kann sehr entschieden der Meinung sein, dass man Doping nicht frei geben solle, aber dennoch die Figur der Steigerung für konstitutiv halten (so etwa Güldenpfennig). So lange man die Steigerungsfigur als solche nicht problematisiert, ist und bleibt man im entscheidenden Punkt einer Meinung – um sich dann, je nachdem, Zynismus oder Naivität vorzuwerfen. Die zu klärende Frage ist und bleibt, ob die Steigerungsfigur für die Moderne konstitutiv ist oder nicht. Diese Frage kann man nur theoretisch klären, nicht aber durch Befragung der Phänomene – schon gar nicht dort, wo es um den phänomenalen Befund gar keinen Streit gibt. Das Phänomen der allfälligen Leistungssteigerung in modernen Gesellschaften muss man nicht durch eine konstitutive Steigerungsfigur deuten – man könnte es z.B. auch als Folge des konstitutiven Versprechens selbstbestimmter sozialer Mobilität deuten. Mediale Moderne ist daher eine Übersetzungsmatrix: Sie ist selber eine bestimmte Gesellschaftstheorie neben anderen, die aber so formal, prozedural, abstrakt sein muss, dass sie sich reflexiv zu sich und anderen Gesellschaftstheorien verhält, um diese miteinander vergleichen zu können.

2. G RÜNDE

DER GRUNDLEGENDEN

U NTERSCHEIDUNG

Mediale Moderne geht davon aus, dass hinsichtlich der Forschungsanalytiken in den Humanwissenschaften grundlegend zwischen der Dimension der Theorien des Gesellschaftlichen und der Dimension der Theorien des Sozialen zu unterscheiden ist. Was das genau heißt, hängt von den Gründen dieser Unterschei-

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DIESE ?

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dung und der sich daraus ergebenden Art und Weise der Unterscheidung ab. 4 Eine erste Orientierung, was mit dieser Unterscheidung in etwa gemeint ist, findet sich bei J. Fischer: Sozialtheorien geben eine Antwort auf die Frage, wie das Soziale funktioniert – Gesellschaftstheorien geben eine Antwort auf die Frage, was da funktioniert, insofern sie danach fragen, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben. 5 2.1 Der Unterschied im Gegenstand Der erste Grund der Unterscheidung liegt darin, dass es beide Theoriefamilien mit unterschiedlichen Gegenständen zu tun haben. Unabhängig davon, wie es je theoretisch gefasst wird, fällt das Soziale nicht mit dem Gesellschaftlichen zusammen. Dies wird z.B. sichtbar, wenn man den Konsens zugrundelegt, dass moderne Gesellschaften in eigenlogische Subbereiche („Subsysteme“, „Felder“ etc.) differenziert sind. Dann nämlich ist (z.B.) das Psychische eigenlogisch unterschieden vom Sozialen; das Psychische ist selbst kein soziales Phänomen, sondern lediglich „Umwelt“ des Sozialen. Daraus folgt jedoch nicht, dass das Psychische deshalb im individuellen Binnenerleben zu verorten ist. Es gibt gute Gründe und entsprechend hinreichend viele Psychologien, die das Psychische als einen gesellschaftlichen („mitweltlichen“) Sachverhalt fassen, ohne deshalb den Unterschied von Psychischem und Sozialem zu bestreiten. Dort muss man zwischen dem Psychischen innerhalb und außerhalb des Geltungsraumes des Gesellschaftlichen unterscheiden (Bewusstsein von „Menschen“ | von „Tieren“), und folglich sind dort das Soziale und das Psychische verschiedene (und sozusagen überschneidungsfreie) Facetten des Gesellschaftlichen. Methodischer Kommentar: Hier sieht man, was eine „Übersetzungsmatrix“ leisten muss: Es gibt weitgehend Konsens, dass moderne Gesellschaften differenzierte Gesellschaften sind, aber es ist alles andere als Konsens, was dabei das Differenzierungsprinzip ist und worin Gesellschaften differenziert sind. Systemtheorie und Bourdieusche Feldtheorie ist eben nicht dasselbe. Die Rede von „eigenlogischem Subbereich“ ist dann einerseits lediglich ein Titel, der genau dies einfangen will. Es kann und darf an dieser Stelle keine Definition von „eigenlo-

4

So meint diese Unterscheidung in Mediale Moderne etwas anderes als etwa in Lindemanns Weltzugängen, obwohl sich beide Ansätze entschieden einig sind, dass zwischen beiden Theoriefamilien unterschieden werden muss (Lindemann, 2014).

5

Vgl. Joachim Fischer, www.fischer-joachim.org/Projekt_B%FCrgerliche.html, abgerufen am 30.7.2014.

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gisch“ oder von „Bereich“ gegeben werden, weil es darum geht, gerade neutral gegen solche Fragen zu sein. Die Rede von „eigenlogischem Subbereich“ ist gerade nicht ein klammheimliches Plädoyer für funktionale Differenzierung oder für die Habitustheorie oder was auch immer. Zugleich ist dieser Titel kein bloßes label, sondern durchaus eine bestimmte Vereindeutigung möglicher Differenzierungstheorien. Die Rede von „eigenlogisch“ geht nämlich davon aus, dass es sich um qualitative Bereichsunterscheidungen handelt und nicht lediglich um graduelle Unterschiede. Das Psychische ist in der Systemtheorie eben nicht ein bisschen psychisch und ein bisschen sozial, aber dann doch überwiegend psychisch; es ist auch nicht hybrid; vielmehr handelt es sich um einen eigenen, nicht auf Anderes reduzierbaren Sachverhalt – und dieser Aspekt wird mit dem Titelwort „eigenlogisch“ mit eingefangen, ohne wiederum deshalb schon systemtheoretisch zu sein oder zu werden. Eine Übersetzungsmatrix muss so formal wie möglich sein, ohne formalistisch zu werden. 2.2 Die Unreduzierbarkeit der Theorietypen Ein zweiter Grund liegt darin, dass Theorien des Gesellschaftlichen und Theorien des Sozialen nicht aufeinander reduzierbar sind. Sie sind in verschiedenen Dimensionen des Forschens und Wissens verortet, denn gesellschaftstheoretische Annahmen sind die kategorialen Bedingungen der Möglichkeit sozialtheoretischer Analysen. In diesem Sinne wird hier die an Tönnies orientierte Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft gebraucht: Was bei Tönnies eine Unterscheidung innerhalb des Sozialen ist, ist hier eine Unterscheidung zwischen sozialtheoretisch konstituierten Einheiten des Sozialen („Gemeinschaften“) und dem dabei in Gebrauch genommenen kategorialen Gehalt („Gesellschaft“), überhaupt von sozialen Gebilden sprechen zu können. Ein holzschnittartiger Verweis auf die Historie kann dies deutlicher machen. Soziale Akteure können neuzeitlich, paradigmatisch mit Hobbes, nicht mehr „als immer schon“ in Gemeinschaft seiend gedacht werden. Dies ist eine nun, neuzeitlich, massiv in die Kritik geratene Naturalisierung von Gemeinschaft; gegen einen antiken Holismus, der die Individuen an das Gängelband einer vorgegebenen Ordnung nimmt, wird nun endlich – dies ist das Verdienst des Politischen Liberalismus – das Individuum als Individuum gedacht. Der historisch nötige Preis dieses Befreiungsschlages ist der Nominalismus: Alle überindividuellen Konzepte gelten als bloße „Namen“, und nicht mehr als seiende Entitäten. Allgemeines ist dort nichts weiter als ein induktiv gewonnenes Ergebnis, aber nicht selber im eminenten Sinne seiend; allein als seiend gilt Einzelnes. Dieser Schritt der konzeptionellen Befreiung von vor-gegebenen Ordnungen hat sich in

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den Staatsvertragstheorien manifestiert. Dort ist ein Sozialatomismus unterstellt. Zwar nicht empirisch-faktisch, aber kontrafaktisch werden je für sich bestehende Individuen unterstellt, die sich, und dies ist der Sprung aus dem Naturzustand in einen gesellschaftlichen Zustand, eine Ordnung allererst geben. Ein Miteinandersein in diesem neuen Zustand ist auf der Basis eines Sozialatomismus prinzipiell eine Ver-Gemeinschaftung. Der Zusammenschluss eines Miteinanderseins ist, in neuzeitlichen Vertragstheorien, ein sich Zusammenschließen von Unverbundenen. Rousseau wird dann den Finger in die Wunde dieses Modells legen. Zu derselben Logik der staatsvertraglich gedachten Ver-Gemeinschaftung gehört dazu, dass dabei immer schon entschieden ist, wer überhaupt Kandidat für einen solchen Vertragsschluss ist. Es ist nicht nur empirisch gesehen Unsinn, sondern auch logisch falsch, dass erst einmal alle Naturwesen in Frage kommen, um dann, nachträglich, empirisch zu beobachten, welche Wesen nun tatsächlich als soziale Wesen durchgegangen sind. Oder vorsichtiger: Es ist keine „falsche“, aber eine ganz bestimmte Logik; nämlich eine solche, die den Unterschied von „Gesellschaft als Geltungsraum“ und „Gesellschaft als reines Ergebnis einer Machtauseinandersetzung“ nicht mehr zu denken gewillt und in der Lage ist. Rousseau stellt die neuzeitlichen Vertragstheorien dadurch auf den Kopf, dass er diese Kandidatenfrage stellt: „Ehe man also den Akt untersucht, mit dem ein Volk einen König wählt, müßte man erst den Akt untersuchen, durch den ein Volk ein Volk wird.“ (Rousseau, 1762, S. 71) Erst mit Rousseau kennen Staatsvertragstheorien an ihnen selbst den Unterschied zwischen sozialtheoretischer und gesellschaftstheoretischer Dimension, bei ihm auch terminologisch festgehalten als Unterschied von volonté de tous und volonté générale. Freilich scheiden sich dann sofort, und schon in den Texten von Rousseau selbst, die Geister. Um den historischen und wirkgeschichtlichen Exkurs systematisch zu wenden: Der Sozialatomismus – heute: alle Intersubjektivitätstheorien – ist eine duale Struktur. Alles Soziale gilt als Ergebnis des Hin und Her von Ego und Alter, und seien dies auch verwirrend viele, bunte und hybride Egos. Das antike Konzept der Polis war (und der neuzeitliche Strukturalismus ist) demgegenüber eine triadische Struktur: Schon die Hand einer Statue hat bei Aristoteles eine andere Bedeutung als die Hand eines Menschen, weil zur Bedeutung von „Hand“ dazu gehört, die Hand eines lebendigen Organismus zu sein. Und ganz analog: Zur Bedeutung von „Individuum“ gehörte dazu, Individuum einer Polis zu sein. Nach dem nötigen sozialatomistischen Befreiungsschlag kehrt Hegel zu dieser triadischen Struktur zurück – freilich wird dabei, alles entscheidend, aus der Vorgegebenheit des dritten Moments vor dem Tun von Ego und Alter (Holis-

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mus: Vorgegebenheit des Ganzen vor den Teilen oder der Struktur vor den Akteuren) ein Mitgegebenseins eines Mediums, innerhalb dessen Ego und Alter erst das sind, was sie sind, nämlich soziale Akteure. Mit Plessner kann man dies das „Problem der Kontingenz der Mitwelt“ nennen (so Lindemann, 2011, S. 2; Lindemann, 2014, S. 331). In dieser Logik gründet der Name: Mediale Moderne kennt personale Verhältnisse, anders als der Liberalismus, nur als triadische Struktur, aber sie kennt das Dritte, anders als der Kommunitarismus, nur als Medium und nicht als Holon. Ein Folgeproblem ist dann, dass das Dritte auch in den Beziehungen zwischen Ego und Alter repräsentiert sein muss, und zwar vorzüglich in dem Dritten. Dies ist ein Folgeproblem, weil dort gar nichts repräsentiert sein könnte, was nicht schon als Geist, mitten unter den vielen Egos und Alter, präsent ist. 6 Es gehört zu dieser Logik dazu, dass sich hier die Rede von VerGesellschaftung verbietet. Ganz ohne Zweifel unterliegt es dem historischen und kulturellen Wandel, wer jeweils als Kandidat gilt, als sozialer Akteur in Frage zu kommen. Aber diese Gesellschaftlichkeit sozialer Akteure – ihre Personalität – ist nichts, was im sozialen Tun erst entsteht, sondern ist schon mitgegeben, wenn man soziale Akteure resp. soziales Geschehen identifiziert und unterscheidet. Formate des Sozialen wechseln, aber sie entstehen und vergehen nicht durch soziales Agieren, weil sie die (historisch und kulturell wechselnden) Bedingungen der Möglichkeit sind, von sozialem Agieren reden zu können. 7 Oder zugespitzt: Als Kandidaten sind soziale Akteure „immer schon“ mitgegeben, und der Kandidatenstatus ist niemals (als Aufgabe) aufgegeben. Klar ist freilich, dass hier ein logisches und sachliches Folgeproblem entspringt: Der Wechsel der gesellschaftstheoretisch bestimmten Formate des Sozialen ist zwar, in dieser Logik, keinesfalls das Ergebnis des sozialen Tuns, aber ganz sicher auch nicht einfach Schicksal, dessen Schläge sich jenseits des sozialen Agierens ereignen. Die Logik des Mit-Gegebenseins verlangt auch hier ein logisch Mittleres: Nicht im, aber mit dem sozialen Agieren steht immer auch der Geltungsraum – der Kandidatenkreis der Personalität – auf dem Spiel. Deshalb: „Wir Personen“ ist ein logisch anderes Wir als jedes Gemeinschafts-Wir, nämlich ein Gesellschafts-Wir, insbesondere also etwas logisch anderes als ein „wir Menschen“. Die Rede „wir Weltbürger“ kann beides sein.

6

Beinahe alle heutigen Theorien des Dritten (Simmel, Serres, Röttgers, Bedorf, Lindemann) kehren hier die Logik um: Sie kennen ausschließlich den oder die Dritte – den Parasiten, der sich einzeckt –, aber nicht das Dritte.

7

Deshalb sagt Leibniz, „daß die Monaden nur mit einem Schlage zu sein beginnen und enden können“ (Monadologie, § 6, Übersetzung aus dem Franz.: H.H. Holz).

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3. G ESELLSCHAFT

ALS

DIESE ?

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G ELTUNGSRAUM

Gesellschaft ist im Rahmen von Mediale Moderne das lebendige Ensemble der Verhältnisse derjeniger lebendiger Organismen, die als freie Bürger gelten. In Gesellschaft beheimatet sind also Personen, nicht Lebewesen mit diesen oder jenen Eigenschaften. Gesellschaft ist damit ein Geltungsraum. Das etwas als etwas gilt, hat zwei Momente: i) Es bedeutet, dies zu sein: Etwas ist das, als was es gilt, dem Ansprechen (der Semantik bzw. der Rhetorik) nach; und es wird ii) so traktiert, wie man typischerweise in einer bestimmten Kultur mit so etwas umgeht, das als so etwas gilt: Etwas ist das, als was es gilt, dem Status im praktischen Umgang nach (wobei auch das Ansprechen ein spezieller Modus des praktischen Umgangs ist). Am hier entscheidenden Beispiel gesprochen: Bürger einer modernen Gesellschaft zu sein, ist es, als Person unantastbarer Würde und gleicher Rechte zu gelten. Was das aber genau heißt, hat ein praktisches Maß. Ein solches Maß zu haben, meint nicht, fraglich zu finden, ob diese gleichen Rechte auch tatsächlich praktiziert werden, sondern es meint: Es ist praktisch entschieden und umkämpft, was als Verstoß gegen die Würde und was als gleiches Recht gilt. Meinungsfreiheit etwa gehört dazu; das Recht auf den Besitz eines eigenen Automobils gehört nicht dazu; das Menschenrecht auf Sport wird von der Olympischen Charta zwar herbeipropagiert, hat sich aber bis dato völkerrechtlich verbindlich noch nicht niedergeschlagen; das Recht auf Arbeit ist bis heute in seiner Geltung, und nicht nur in seiner Umsetzung, offen prekär. Real-historisch, also epochal-kultural ist Gesellschaft daher heute, nach 1948, zu identifizieren mit den Vereinten Nationen – letztere nicht genommen als real-empirischer Lebensraum, sondern als völkerrechtlich verankerter Raum der Geltung der Unantastbarkeit der Würde jeder Weltbürgerin. Als Titel für diesen Geltungsraum ist Gesellschaft topologisch äquivalent etwa zu Weltgesellschaft im Rahmen der Luhmannschen Systemtheorie, zu Herrschaftsfreier Diskurs im Rahmen der Habermasschen Theorie des kommunikativen Handelns und zu Kommunikativer Text im Rahmen der Röttgersschen postanthropologischen Sozialphilosophie (Röttgers 2012). Als Geltungsraum ist Gesellschaft nicht abgegrenzt durch einen Schnitt in dieser oder jener evolutionären Entwicklung, sondern durch kategoriale Grenzen. Dies sind (zunächst?) vier: i) Die Grenze ihres kategorialen Was: Mediale Moderne bestimmt die Moderne als politische Moderne, und d.h.: Sie nimmt Gesellschaft als Polis, als lebendiges Ensemble der Verhältnisse von Personen, als Welt der freien Bürger –

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und z.B. nicht als Ethnie, nicht als ökonomische Formation, nicht als menschliche Gemeinschaft, nicht als Gemeinde gläubig-auserwählter Kreaturen etc. ii) Die Grenze zum kategorialen Außen, zum Nicht-Gesellschaftlichen, zur Nicht-Polis, also zum Kosmos; die kategoriale Grenze ist nicht identisch mit einer wie auch immer bestimmten qualitativen Unterscheidung im sog. TierMensch-Übergangsfeld (sondern ganz im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit von empirischen Analysen dieses Feldes). Es ist die kategoriale Unterscheidung Person | Nicht-Person (= Freie | Nicht-Freie), aber diese kategoriale Grenze muss mit jener qualitativen Tier-Mensch-Unterscheidung, sprich mit dem Darwinismus, „kompatibel“ sein. Sonst wäre es nur eine Gedankenbestimmung, nicht aber ein kategorialer Gehalt, der Erfahrung ermöglicht. – Was hier eine methodische Kontrolle von „kompatibel“ ist, scheint mir völlig ungeklärt zu sein (und müsste z.B. durch eine ethnografische Analyse der Analysen von Tomasello herausgestellt werden). Diese Grenze Gesellschaft-Kosmos ist vermittelt im Medium Geschichte: Geschichte ist, im Unterschied zur Naturgeschichte, seine Geschichte selbst zu machen. iii) Die Grenze zum kategorialen Innen, zum Nicht-Natürlichen, also zum Sozialen (im hier praktizierten Sprachgebrauch: die kategoriale Grenze Gesellschaft | Gemeinschaften); die kategoriale Grenze ist nicht identisch mit einer wie auch immer allgemeinen Bestimmung des konkret-empirischen Verhaltens sozialer Akteure (sondern ganz im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit von empirischen Aussagen dazu) – z.B. ist Gesellschaft hier nicht, wie etwa Luhmanns Weltgesellschaft, dadurch bestimmt, dass man real weltweit vernetzte reale Kommunikationsakte beobachten kann. Auch (Welt-)Gesellschaft ist nicht evolutionär geworden, sondern historisch in Geltung gesetzt. Als Grenze ist das, was Gesellschaft als kategorialer Raum der Personen = Weltbürger hier meint, zudem vollständig frei zu halten von der Idee einer Verhältnisbestimmung von sog. erster und zweiter Natur von sozialen Akteuren: Das Soziale ist kategorial vom Natürlichen abgegrenzt sozusagen durch Einen Doppelaspekt; Exzentriker sind nicht ein bisschen zentrisch und ein bisschen ex, sondern eben exzentrisch positioniert in all ihrem Tun als soziales Tun. Diese Grenze Gesellschaft – Gemeinschaften ist vermittelt im Medium Kultur: Es ist eine Frage der je wirkmächtigen Selbst-Deutung der sozialen Akteure als Personen. iv) Als Geltungsraum im Rahmen einer bestimmten Gesellschaftstheorie ist Gesellschaft von der Idee her verschieden von den topologischen Äquivalenten anderer Gesellschaftstheorien – also z.B. ideell verschieden von Weltgesellschaft und auch ideell verschieden von Kommunikativer Text (Röttgers, 2012). Die

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grundlegende Differenz ist ein Unterschied im Prototypen dessen, was als soziales Tun gilt. Vorläufig und in aller Vorsicht ist der Prototyp von Weltgesellschaft und von Kommunikativer Text, soziales Tun als Kommunikation zu beobachten, während der Prototyp von Mediale Moderne darin liegt, soziales Tun als Produktion anzusprechen. Dieser Unterschied ist auch, und vielleicht in erster Linie, ein methodischer Unterschied, denn der Prototyp Kommunikation wird in der Systemtheorie evolutionär-empirisch bestimmt, während der Prototyp Produktion ebenfalls eine kategoriale Unterscheidung, eben ein Prinzip der Ansprechbarkeit von etwas als etwas, ist. Funktionale Differenzierung (in Systeme) ist nicht dasselbe wie eine Differenzierung von Eigenlogiken (von Feldern), aber letztere muss mit ersterer „kompatibel“ sein. Diese Grenze Gesellschaftstheorie A | Gesellschaftstheorien Nicht-A ist vermittelt im Medium Ideologie („Klassenkampf in der Theorie“, Althusser).

4. M EDIALE M ODERNE –

SO ABSTRAKT WIE MÖGLICH !

Mediale Moderne ist eine moderne Gesellschaftstheorie – eine Theorie moderner Gesellschaften, die den Bedingungen der Moderne angemessen sein will (4.1). Mediale Moderne ist eine strikt formale Theorie (eine „Grammatik“), die (nur) dadurch Übersetzungen zwischen konkreten Gesellschaftstheorien ermöglicht (4.2). Mediale Moderne kann unter den Bedingungen der Moderne eine solche Übersetzungsmatrix nur dadurch sein, selbst eine konkrete Theorie moderner Gesellschaften zu sein – also eine, die sich selbst übersetzen und in Bezug zu anderen Gesellschaftstheorien der Moderne setzen kann (eine „Grammatik“ vor allen „Sprachen“ ist in der Moderne obsolet). Für die konkrete Ausarbeitung von Mediale Moderne ergibt sich daraus ein pragmatischer Zweischritt. Es geht zunächst darum, diese Gesellschaftstheorie als eine eigenständige auszuarbeiten, also insbesondere die basalen Kategorien und ihre eigenen Grundannahmen zu artikulieren. In einem zweiten Schritt müssten dann konkrete Theorievergleiche und Übersetzungen zwischen verschiedenen Gesellschaftstheorien ausgearbeitet werden. 4.1 Der Einstieg in Mediale Moderne Mediale Moderne ist notwendigerweise zirkulär: Sie will eine moderne Theorie moderner Gesellschaften sein, nimmt also das bereits in Anspruch, was sie bestimmen will. Die Zirkularität ist hier kein logischer Fehler, sondern sachlich

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unvermeidbar – sie muss (jedoch) methodisch kontrolliert werden. Minimalbedingung ist, zwischen Moderne als „Gegenstand“ (als historische Epoche) und Moderne als „Beobachtungskategorie“ (als Prinzip der Ansprechbarkeit) (Bonacker & Reckwitz 2007, 7) zu unterscheiden. Dazu dienen zwei grundlegende Annahmen: 1. Eine wissenstheoretische Annahme in Bezug auf die Modernität moderner Theorien: Mediale Moderne macht die Kantische kopernikanische Wende mit: An jedem Wissen ist zu unterscheiden zwischen dem Erfahrungsgehalt und den Bedingungen der Möglichkeit dieses Erfahrungsgehalts. Dies heißt hier „kategoriale Formatiertheit“. Die Gegenposition ist ein Positivismus, also jede Naturalisierung im weiten Sinne einer Reduktion von Geltung auf Genese. 2. Eine geschichtstheoretische Annahme in Bezug auf die Modernität moderner Gesellschaften: „Gehe von Brüchen im geschichtlichen Verlauf aus!“ – „Eine Anfangs-Setzung, d.h. hier: eine Setzung der Moderne als Moderne ist unvermeidbar, also weise sie aus!“ – Hier geht eine methodologische Setzung ein, die z.B. Blumenberg (1987, 11) auf die Formel gebracht hat, dass es Anfänge „in der Geschichte nicht [gibt, sondern sie] dazu ›ernannt‹ [werden]“. Wenn man diesen Grundsatz der Kontinuität der Historie, aber der unhintergehbaren Diskontinuitäten in und für die Geschichtsschreibung teilt, dann kann man nicht wieder hinter die Einsichten zurück, die z.B. Nerlich (1997) nachdrücklich herausgestellt hat: Man kann dann die Moderne nicht durch eine ihrer Modernisierungen bestimmen, weil es keine empirisch aufzeigbaren Charakteristika der Moderne gibt, die man nicht auch schon (als dann sog. Vorläufer) in vormodernen Zeiten antraf. Die Unterscheidung Vormoderne | Moderne ist, wenn überhaupt, nur als kategoriale Unterscheidung, nicht aber als historisch-empirischer Unterschied zu haben. Die Gegenposition zu Mediale Moderne ist eine Position im Sinne von: „Weil Geschichte ein kontinuierlicher Prozess ist, sind Anfangssetzungen zu vermeiden – dort, wo sie nötig sind, sind sie lediglich Heuristiken resp. Hypothesen.“ Die methodische Konsequenz, die Mediale Moderne daraus zieht, liegt darin, auf deklarierte Anfänge zu setzen. Die politische Moderne beginnt auch nur, so der generelle Grundsatz, in einem dazu ernannten Anfang – aber dieser Anfang ist immerhin nicht nur durch diesen oder jenen oder viele Historiker ernannt, sondern die Deklaration der Menschenrechte ist ein von uns – von einem Gesellschafts-Wir – deklarierter Anfang. Das gibt dem Völkerrecht, den Staatsverfassungen oder auch den verfassten sozialen Bewegungen wie der Olympischen Bewegung zwar keine sachlich höhere Weihe, aber bietet immerhin einen hier

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als entscheidend genommenen methodischen Vorteil, weil die Grenzen verfasster Geltungsräume klar(er) sind. Und hinsichtlich dessen, dass jede Anfangssetzung eine umkämpfte Setzung ist, geht mit diesem methodologischen Vorteil der Vorteil einer normativen Asymmetrie einher: Abweichungen von deklarierten Setzungen sind begründungsbedürftig, Zustimmungen sind bereits erfolgt. Wer etwa das Völkerrecht ändern will, ist in der Bringschuld. Der Einstieg in Mediale Moderne ist nicht ohne Ethos zu haben: Es ist der Versuch, mit Bourdieu „ohne Zynismus auszukommen“. 8 Dieser Versuch besteht darin, im (wissenschaftlichen) Beobachten einen erfahrbaren Unterschied im Modus des Beobachtens einzuziehen. Ohne Zynismus auszukommen heißt, kein neutrales Beobachten vom Hochsitz aus zuzulassen, sondern ein mitspielendes, involviertes Beobachten zu praktizieren (das freilich als Beobachten gleichwohl distanziert ist; dazu eindringlich Seel, 2004). Dann, und erst dann, ist Parteilichkeit keine Parteinahme. 4.2 Die sechs Basis-Kategorien/Prinzipien Mit den im Folgenden genannten sechs Dimensionen ist die Übersetzungsmatrix angegeben. Diese Bestimmungen müssen zunächst für jegliche Gesellschaftstheorie (der Moderne) gelten – sie dürfen nicht spezifisch sein für Mediale Moderne, sondern wollen die Koordinaten sein, in der jedwede Gesellschaftstheorie (der Moderne) einen Eintrag hat. Nur so sind verschiedene Gesellschaftstheorien miteinander vergleichbar. – In einem jeweils zweiten Schritt ist dann der Eintrag von Mediale Moderne in dieser Dimension angegeben. i) Wie/als was sind die sozialen Akteure formatiert? – Personalität. Dies ist die von einer (hier sog.) „Anthropologie“ thematisierte individuelle Dimension: Die Bestimmung der Funktionspositionen von Gesellschaft: ich – du – er/sie/es; wir – ihr – sie, sowie ihrer Formatiertheit. Leitfrage: Was ist es, das aus einem etwas ein jemand macht? (Spaemann 1996) In Mediale Moderne: Personalität im Sinne einer reflexiven Anthropologie vom Typus Plessner – in Abgrenzung zu positiven Anthropologien, die für selbstverständlich nehmen, dass (nur) Menschen Personen sind [mit dem Spezialfall positiv-aristokratischer Anthropologien, die für selbstverständlich nehmen, dass nur ausgezeichnete Menschen Personen sind], und in Abgren-

8

„Eines der Privilegien, die dazugehören, wenn man in ein Spiel hineingeboren wird, besteht darin, daß man, weil man den Sinn fürs Spiel hat, ohne Zynismus auskommt.“ (Bourdieu, 1998, S. 143)

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ii)

iii)

iv)

v)

vi)

zung gegen metaphysische Positivismen, die die Formatiertheit von etwas als jemand dem Zufallsspiel eines Macht-Darwinismus überantworten. Wie/als was sind die Relationen zwischen den sozialen Akteuren formatiert? – Bürgerschaftlichkeit. Dies ist die von einer (hier sog.) „Sozialphilosophie“ (= Gesellschaftstheorie i.e.S.) thematisierte überindividuelle Dimension: Das Relationengefüge = die Struktur = das Zwischen der Personen. Leitfrage: Wie hält es diese Gesellschaftstheorie mit Rousseaus Unterscheidung von volonté de tous und volonté générale? In Mediale Moderne: Bürgerschaftlichkeit als verfasste Bürgerschaftlichkeit; deklariertes Prinzip der Ansprechbarkeit. Wie/als was ist das Verhältnis von individueller und struktureller Perspektive formatiert? – das Politische. Dies ist die von einer (hier sog.) „Sozialontologie“ thematisierte Vermittlungs-Dimension von Personalität und Bürgerschaftlichkeit, mit den Varianten: Atomismus/Ding-Eigenschafts-Ontologie – Holismus/RelationenOntologie („Strukturalismus“) – Medialität/Prozess-Ontologie – Pfingstwunder-Pop-ups/ Ereignisontologie. Leitfragen: i) Was ist die kleinste Analyseeinheit: Dinge? Verhältnisse? Ereignisse? Prozesse? ii) Was ist das leitende Freiheits-Verständnis: Freiheit als Willkür? Freiheit als Illusion? Freiheit als Macht? (Kobusch 2011) In Mediale Moderne: Das Politische als prozess-ontologisch fundierte Performativität: bodenlos, (nur) im Vollzug gegeben, ausdruckhaftig – dies als Ausdruck eigener Situiertheit resp. eines Ethos: Freiheit als Macht. Wie/als was ist das Verhältnis Gesellschaft/Nicht-Gesellschaft formatiert? – Natur. Leitfragen: Wie organisiert Gesellschaft ihr (Über- und gut-)Leben als Polis? Was ist das leitende Freiheits-Verständnis – im Umgang miteinander (Emanzipation; Gerechtigkeit); im Umgang mit den gegebenen Ressourcen (Ausbeutung der Natur); im eigenen Selbstverständnis (Welt-Anschauung)? In Mediale Moderne: Natur als Fremdes der Gesellschaft mit Leben als Vermittlungsinstanz. Was ist das Differenzierungsprinzip? Kandidaten dafür sind: Arbeitsteilung (Klassen); funktionale Differenzierung (Systeme); Typen von Weltzugängen (Sinnwelten [Lindemann]); Ausdifferenzierung „besonderer Tätigkeiten“ [weiter zu klärender Vorschlag im Anschluss an Leont’evs Tätigkeitstheorie] (Eigenlogiken). Was macht Gesellschaftlichkeit aus? Was ist der Witz einer gesellschaftlichen Lebensform? [Zusammenhangsprinzip/Prinzip der Ansprechbarkeit]

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Kandidaten dafür sind: Gesellschaft ist ein Zusammenhang von Menschen (positive Anthropologien) | Gesellschaft ist Kommunikation (Luhmann, Röttgers) | Gesellschaft ist der personale Schutzraum der Öffentlichkeit (Plessner) | Gesellschaft ist Produktion des Lebens (= Kultur) (Herder, Marx).

5. AUSBLICK Nächste Schritte der Ausarbeitung von Mediale Moderne wären zum einen konkrete Theorievergleiche und Übersetzungen. Dringlich ist hier insbesondere ein Vergleich mit anderen nach-gödelschen Gesellschaftstheorien, also mit der Systemtheorie und der Kritischen Theorie. Die explizite Auseinandersetzung mit „Antinomien“ und „dialektischen Widersprüchen“ dürfte die entscheidende Basis sein für ein grundsätzlich neues Konzept des Beobachtens des Beobachtens. Über diese Spezifik hinaus müsste die Abhängigkeit aller gesellschaftstheoretischen Differenzen von der jeweiligen Ontologie herausgearbeitet werden. Positiv heißt das für Mediale Moderne eine stärkere Verzahnung mit Praxiskonzeptionen, vermittelt durch eine Prozess-Ontologie. Zum anderen müssten die beiden zunächst unterstellten Subepochen der Moderne empirisch und kategorial wesentlich schärfer gefasst werden. Das verlangt eine Binnendifferenzierung (mindestens) in Moderne – Gegenmoderne – AntiModerne, und eine klare Bestimmung des Verhältnisses von staatsbürgerschaftlicher und weltbürgerschaftlicher Moderne. Bisher gehen wir hier von einer Reflexionsstufe aus, was insbesondere heißt, zwischen beiden Subepochen einen qualitativen, und nicht bloß graduellen, Unterschied anzusetzen, der gleichwohl ein Unterschied innerhalb der Moderne wäre. Weltanschaulich gesprochen: Auch die weltbürgerschaftliche Moderne wäre noch durch ein Konzept von Aufklärung orientiert, wie modifiziert auch immer. Aber ist dieser Ansatz (noch) plausibel oder (schon) Wunschdenken? Zum dritten müsste der Sport, und insbesondere dessen unterstellte seismographische Rolle, präziser in dieser Gesellschaftstheorie verortet werden. Viertens bedarf es, trotz und gerade wegen des Singulars des Prinzips, einer ausgearbeiteten Konzeption der Pluralität von Gesellschaftsformationen – nicht zuletzt, um den Verdacht des Ethnozentrismus einer an den Menschenrechtserklärungen orientierten Konzeption zu unterlaufen.

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L ITERATUR Angermüller, Johannes (2007). Kontingenz oder Mangel: Von der Gesellschaft der Moderne zum Sozialen der Postmoderne. In Thorsten Bonacker & Andreas Reckwitz (Hrsg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. (S. 301-321) Frankfurt a. M./ New York: Campus. Blumenberg, Hans (1987). Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Böckelmann, Janine, Johnen, Simon & Schürmann, Volker (2013) Sport der Medialen Moderne. Ein gesellschaftstheoretischer Entwurf. Sport und Gesellschaft 10 (2), 119-142. Bonacker, Thorsten & Reckwitz, Andreas (2007). Das Problem der Moderne: Modernisierungstheorien und Kulturtheorien. In Thorsten Bonacker & Andreas Reckwitz (Hrsg.) Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart. (S. 7-18) Frankfurt a. M./ New York: Campus. Bourdieu, Pierre (1998). Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fischer, Joachim (2014). Projekt: Gesellschaftstheorie und Gegenwartsdiagnostik: Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft. Zugriff am 30.07.2014 unter http://www.fischer-joachim.org/Projekt_B% FCrgerliche. html. Kobusch, Theo (2011). Die Kultur des Humanen. Zur Idee der Freiheit. In Adrian Holderegger, Siegfried Weichlein & Simone Zurbuchen (Hrsg.), Humanismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart und Zukunft. (S. 357-386) Basel: Schwabe. [gekürzt in Information Philosophie 38 (2010) 5, S. 7-13]. Lindemann, Gesa (2011). Die Gesellschaftstheorie von der Sozialtheorie her denken – oder umgekehrt? ZfS-Forum 3 (1), 1-19. Zugriff am 10.07.2014 unter http://www.zfs-online.org/forum. Lindemann, Gesa (2014). Weltzugänge. Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Weilerswist: Velbrück. Marx, Karl (1857). Einleitung [zur Kritik der Politischen Ökonomie]. In Karl Marx; Friedrich Engels (MEW): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz, Bd. 13, 615–642; auch in MEW 42, 15-45. Nerlich, Michael (1997). Abenteuer oder das verlorene Selbstverständnis der Moderne. Von der Unaufhebbarkeit experimentalen Handelns. München: Gerling Akad.-Verl. Röttgers, Kurt (2012). Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie. Bielefeld: transcript.

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Rousseau, Jean-Jaques (1762). Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes. In: Jean-Jaques Rousseau (Hrsg.) Politische Schriften (S. 59208) Ludwig Schmidts. Paderborn u.a.: Schöningh. Seel, Martin (2004). Adornos Philosophie der Kontemplation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Spaemann, Robert (1996). Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹. Stuttgart: Klett-Cotta. Zunke, Christine (2014). Biologie und Ideologie des Homo sapiens. Theorie und Praxis heteronomer Bestimmungsgründe der menschlichen Natur. Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 1 (1), 4-39.

Sportphilosophie: Natur und Ökonomie – Zwei Kategorien moderner Gesellschaften

Leistung und Erfolg in Sport und Ökonomie S IMON J OHNEN

Leistung führt zu Erfolg und Erfolg beruht auf Leistung. Mit dieser kurzen Fassung des Versprechens der bürgerlichen Gesellschaft ist ausgedrückt, dass in der Moderne niemand mehr aufgrund seiner Geburt auf eine bestimmte soziale Position festgelegt ist, sondern ein jeder seinen Platz in der Gesellschaft selbstbestimmt suchen kann (bzw. können soll). Nirgendwo gelangt dieses Prinzip so zu seiner Eindeutigkeit wie im olympischen Wettkampfsport. Im Sport wird – wie in einem experimentellen Versuchsaufbau – künstlich ein Raum geschaffen, um die Ungleichheiten der alltäglichen Konkurrenz soweit wie möglich auszuschalten. Die Leistungen der Beteiligten sollen so exakt wie möglich zum Ausdruck gebracht werden. Um einen eindeutigen Sieger zu ermitteln, werden Leistungskriterien festgelegt. Es wird also vereinbart, was als Leistung gilt. Häufig wird dazu ein Merkmal absolut gesetzt. Es zählen nur die erzielten Tore, die gelaufene Zeit oder die erreichte Weite (Krockow, 1974, S. 19). Wer dieses Kriterium im Rahmen der vereinbarten Regeln am besten erfüllt, ist automatisch erfolgreich. Die bessere Leistung hat im Sport damit derjenige erbracht, der einen Wettbewerb erfolgreich bestreitet, weshalb sich Aussagen wie: „Die bessere Mannschaft hat verloren“, von José Mourinho (2013, 31. August) im Sport (eigentlich) verbieten. Mit der Festlegung eindeutiger Kriterien müssen sportliche Leistungen im Wettbewerb zwar vom Schiedsrichter verifiziert werden, nicht aber muss die sportliche Leistung von dem Publikum erst als Leistung bewertet werden, um zum Erfolg zu führen. Während es in der Wirtschaft durchaus möglich ist, dass sich ein Kunde aus irgendwelchen Gründen für ein objektiv betrachtet schlechteres Angebot entscheidet und damit der eher geringeren Leistung zum Erfolg verhilft, ist dies im Sport gerade nicht möglich, da die sportliche Leistung an sich Gültigkeit besitzt. So mag es zwar vorkommen, dass sich ein Deutscher Meister im Volleyball oder im Tauziehen von den Zuschauern, den Sponsoren und den

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Medien nicht angemessen gewürdigt fühlt, doch ist eine solche Anerkennung allein für den medialen und den ökonomischen Erfolg ausschlaggebend, nicht aber (unmittelbar) für den sportlichen. Die Schaffung eines künstlichen Settings läuft also offenkundig darauf hinaus, dass sich Leistung und Erfolg im sportlichen Bereich im hohen Maße gegenseitig bedingen. Leistung gleich Erfolg und Erfolg gleich Leistung lautet offenbar die Formel des sportlichen Leistungsvergleichs. Eine Unterscheidung zwischen Leistung und Erfolg wirkt in Bezug auf den Sport folglich immer irgendwie ein Stück weit gekünstelt; oder etwa nicht!? Es verwundert in jedem Fall nicht, dass die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen zunächst nicht im Bereich des Sports zur Anwendung gelangt, sondern in der Ökonomie.

1. L EISTUNG

UND

E RFOLG IN

DER

W IRTSCHAFT

Auch im Bereich der Wirtschaft gilt das bürgerliche Versprechen, nach dem nicht die soziale Herkunft, die religiöse Gesinnung oder die Hautfarbe ausschlaggebend für den Erfolg einer Person sind, sondern die erbrachte Leistung zählt. Den Garant für die Einhaltung des Versprechens bildet das ökonomische Wettbewerbsprinzip. Jeder kann seine Leistung im freien Wettbewerb anbieten und die objektiven Vergabemechanismen des Marktprinzips tragen dann Sorge dafür, dass jedem der Erfolg eingeräumt wird, der ihm aufgrund seiner Leistung zusteht. Dieses Entsprechungsverhältnis von Leistung und Erfolg im Bereich der Wirtschaft stellen Gustav Ichheiser (1930) und – an diesen anknüpfend – Sighard Neckel (2008) massiv in Frage. Die Erfolgssoziologie Ichheisers geht in den 1930er Jahren der Frage nach, was in der kapitalistischen Gesellschaft wirklich zum Erfolg führt (Ichheiser, 1930, S. 5). Innerhalb seiner Analyse unterscheidet Ichheiser zwischen der Leistungs- und der Erfolgstüchtigkeit. Es seien stets beide Aspekte, die über den wirtschaftlichen Erfolg und – damit einhergehend – über die soziale Anerkennung einer Person entscheiden (ebd. S. 6). In der Trennung beider Begriffe voneinander drückt sich bereits Ichheisers Kritik an der geltenden Gesellschaftsordnung aus, da das Entsprechungsverhältnis von Leistung und Erfolg – als das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft – durch die Unterscheidung ins Wanken gerät (ebd.). Die Präsentation der eigenen Persönlichkeit oder das Anpreisen eines Produkts zählen für Ichheiser zu den Erfolgskriterien, die dazu führen können, dass sich ein schlechteres Produkt gegenüber einem besseren am Markt durchsetzt (ebd. S.8). Nicht nur herrschten damit unterschiedliche Vorbedingungen unter

L EISTUNG

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den Akteuren, sondern selbst bei der fiktiven Annahme gleicher Startchancen im Wettbewerb sei nicht allein die Leistung für den wirtschaftlichen Erfolg am Markt ausschlaggebend (ebd. S. 7). Vielmehr gelte es Dritte – auch unabhängig von der objektiven Qualität und der erbrachten Leistung – von einem Produkt zu überzeugen. Diese Erfolgstüchtigkeit werde von den Bürgern anerkannt und honoriert. Als Leistung gelte für sie das, was erfolgreich ist. Soziale Erfolge würden daher nicht mehr an sozial wertvolle Taten gebunden, was der Erfolgstüchtigkeit auf breiter Ebene zur Durchsetzung verhelfe, da sie sowohl zum wirtschaftlichen Erfolg führe als auch soziale Anerkennung nach sich ziehe (ebd. S. 29). Mit der Unterscheidung zwischen Leistung und Erfolg will Ichheiser die Diskrepanz zwischen dem bürgerlichen Versprechen der Leistungsgerechtigkeit und den faktisch gültigen (Erfolgs-)Mechanismen der Gesellschaft sichtbar und kritisierbar machen. Nicht soll also die bürgerliche Norm der Leistungsgerechtigkeit als pure Illusion entlarvt werden, sondern der Gesellschaft soll mit der Unterscheidung zwischen Leistung und Erfolg der Verrat an ihren eigenen Prinzipien gespiegelt werden, damit sie „den erfolgsbedingten Täuschungen“ (ebd. S. 65) entgegentreten kann. In die gleiche Kerbe wie Ichheiser schlägt Sighard Neckel, indem er die Unterscheidung zwischen Leistung und Erfolg als Analyse- und Beschreibungsinstrument der modernen Gesellschaft, die er als erfolgsorientierte Marktgesellschaft bezeichnet, in Anschlag bringt (Neckel, 2008, S. 53). Für Neckel bildet die Leistung den Weg, der zu der Erzielung eines Ergebnisses führt, während der Erfolg allein aus der positiven Bewertung eines Ergebnisses durch Dritte resultiert. Wie Ichheiser verdeutlicht Neckel, dass leistungslose Erfolge in der modernen Gesellschaft ebenso möglich seien, wie das Ausbleiben von Erfolg trotz erbrachter Leistung. Die Märkte honorierten allein das Ergebnis eines wohlmöglich langwierigen Arbeitsprozesses und nicht die erbrachte Leistung, die zu diesem Ergebnis führt. Dabei werde nicht selten das als Leistung bewertet, was hohe Ertragschancen verspricht und sich gut verkaufen lässt (Neckel, 2004, S. 67). Der Markt bestimmt nach Neckel darüber, was als Leistung gilt. Hierbei müsse sich der wirtschaftliche und der soziale Erfolg in der erfolgsorientierten Marktgesellschaft nicht länger an einer gültigen Sozialnorm und an dem Nutzen des Erfolgs für das Allgemeinwohl messen lassen, sondern gälten als Verdienst an sich (Neckel, 2008, S. 53 f.). Letztendlich teilt Neckel in seiner Analyse der modernen Gesellschaft nicht die optimistische Haltung Ichheisers, nach der durch die Unterscheidung zwischen Leistung und Erfolg den Menschen die Augen geöffnet werden könne, sondern konstatiert, dass die Marktgesellschaft längst alle Bereiche der modernen Lebensordnung durchdringe. In der Postmoderne habe sich die Marktlogik

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sowie die damit verbundene Umstellung vom bürgerlichen Leistungs- auf das Erfolgsprinzip in allen gesellschaftlichen Bereichen manifestiert und dadurch die Gesellschaft als Ganze gewandelt (ebd. S. 54). Doch wie zeigt sich die von Neckel postulierte Umstellung von einem Leistungs- auf ein Erfolgsprinzip in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen und in der Gesamtgesellschaft? Auch für den gesellschaftlichen Bereich des Sports stellt sich diese Frage. Sie stellt sich gerade auch deswegen, weil das Leistungsprinzip, wie oben angedeutet, im Sport anders zum Ausdruck kommt als in der Wirtschaft. Die sportliche Leistung muss nicht erst durch das Nadelöhr der Anerkennung seitens der Käufer gehen, um zum (sportlichen) Erfolg zu führen. Welche Bedeutung kommt der Unterscheidung zwischen Leistung und Erfolg von Ichheiser und Neckel also im Sport zu? Damit einhergeht die Frage nach der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen 1 sowie die nach dem Verhältnis zwischen einzelnen Bereichen und der Gesellschaft.

2. Z UM V ERHÄLTNIS

VON

S PORT

UND

W IRTSCHAFT

In der Sportwissenschaft hat die Diskussion der Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen Sport und Wirtschaft eine verhältnismäßig lange Tradition vorzuweisen. Innerhalb der Debatte um die Autonomie des Sports, die sich in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zuspitzte, bildet die auf theoretischer Ebene vollzogene Verhältnisbestimmung zwischen beiden Bereichen die entscheidende und richtungsweisende Vorbedingung der sportwissenschaftlichen Analysen. Die sogenannte Neue Linke der Sportwissenschaft bestimmt das Verhältnis zwischen Sport und Wirtschaft (bzw. zwischen Sport und Politik) sowie das zwischen Sport und Gesamtgesellschaft als ein direktes, was dazu führt, dass sie den Sport als „Sonderform des Arbeitens“ (Rigauer, 1969, S. 65) fassen kann. Die sportexternen Zwänge des kapitalistischen Gesellschaftssystems instrumentalisierten den Sport zu ihren Gunsten, womit der Sport nach Ansicht der Neuen Linken nicht unpolitisch ist. Die klassisch bürgerliche Position steht innerhalb der Debatte hingegen für eine autarke Bestimmung der Beziehung des Sports zu anderen gesellschaftlichen Bereichen und zur Gesamtgesellschaft, wo-

1

Konkret stellt sich hier die Frage nach der Beziehung zwischen Sport und Wirtschaft. In methodologischer Hinsicht weist die Bezugnahme explizit auf den ökonomischen Bereich ein willkürliches Moment auf. Der methodologische Anspruch dieser exemplarischen Bezugnahme auf den Bereich der Ökonomie besteht darin, dass diese auch für andere gesellschaftliche Bereiche Gültigkeit besitzt.

L EISTUNG

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durch in dieser Position das sportliche Handeln als ein – sich in der sportlichen Eigenwelt vollziehendes – vergnügliches und zweckfreies Tun begriffen wird bzw. werden kann (Grupe, 1969; Krockow, 1972). Die hier grundgelegte Unterscheidung zwischen einer direkten und einer autarken Verhältnisbestimmung ist auch über die Debatte der siebziger Jahre hinaus aufschlussreich, wobei die Unterscheidung noch durch die Mittelposition einer indirekten Bestimmung des Verhältnisses zwischen Sport und Gesellschaft zu ergänzen ist. So wird die häufig anzutreffende Übertragung sportlicher Tugenden auf die Wirtschaft in Form der Metaphern-Bildung meist über den direkten Weg vorgenommen. Zahlreiche Ratgeber für die Wirtschaft bedienen sich ausgiebig der Sportmetaphorik, ohne diese an die Bedingungen der Wirtschaft anzupassen. Es gilt dann auch am Arbeitsplatz seinen inneren Schweinehund zu überwinden, sich als Teamplayer zu zeigen und ausdauernd zu sein. Der Chef im Büro sollte – wie der Trainer auf dem Platz – sein Team motivieren, über eine gute Ersatzbank verfügen, jeden seiner Schützlinge ein Stück besser machen und sich im Umgang mit seinen Mitarbeitern als fair erweisen. Die Evidenz des Entsprechungsverhältnisses zwischen beiden Bereichen liegt dabei für die Motivationskünstler auf der Hand, womit sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung – bspw. zwischen dem fairen Umgang am Arbeitsplatz und der sportlichen Fairness im Wettbewerb – für sie erübrigt. 2 Wie für die Metaphern-Bildung ist es auch für die bereichsübergreifende Begriffsanalyse ausschlaggebend, ob ein direktes, ein autarkes oder ein indirektes Verhältnis zwischen den Bereichen in Anschlag genommen wird. So verbirgt sich hinter der Arbeit von Dietmar Wetzel (2013) die Annahme eines direkten Verhältnisses zwischen vier gesellschaftlichen Bereichen, mit denen er sich in seiner Arbeit auseinandersetzt. Bei der Untersuchung des Wettbewerbsbegriffs in den Bereichen Bildung – Universitäten, Ökonomie – Finanzmärkte, Sport – Hochleistungssport und Liebe – Onlineplattformen führt dies letztendlich zu einer Gleichsetzung beobachtbarer Einzelerscheinungen in allen vier Teilbereichen. Wetzel konstatiert u.a., dass das für den Wettbewerb charakteristische

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Ein schönes Gegenbeispiel hierzu bildet der Aufsatz von Bröckling (2014), in dem gerade darauf hingewiesen wird, dass die metaphorische Analogiebildung zwischen Sport und Wirtschaft „[w]ie alle Vergleiche hinkt“ (ebd. S. 93). Da die starken Unterschiede zwischen Sport und Wirtschaft durch die gebildeten Metaphern unbeachtet blieben, gelte es zunächst immer die Voraussetzungen von Metaphern zu klären, um von diesen ausgehend analysieren zu können, „was sichtbar wird und was ausgeblendet bleibt, wenn der ökonomische Wettbewerb in Sprachbildern aus der Sphäre des sportlichen Wettkampfs beschrieben wird“ (ebd. S. 94).

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Element des Dopings in allen vier Feldern zur Anwendung komme. Aufgrund des steigenden Wettbewerbsdruck griffen viele Studenten zum Hirndoping und im Hochleistungssport könnten sich die Athleten – insbesondere im Radsport – gar nicht mehr leisten, nicht zu dopen. Ebenso werde Doping in Form der Einnahme von Kokain und Ritalin an Finanzmärkten, wo schnelle Handlungsreaktionen gefragt seien, immer beliebter und im Feld der Online-Liebesmärkte nehme das (Neuro-)Enhacement zu, auch wenn Doping auf diesem Gebiet noch eine eher geringere Rolle einnehme (ebd. S. 210). Doping ist für Wetzel im Grunde genommen in allen gesellschaftlichen Bereichen dasselbe nur unter unterschiedlichen Bedingungen, worin seine direkte Verhältnisbestimmung der Bereiche zueinander zum Ausdruck kommt. 3 Mit den unterschiedlichen Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung und den damit verbundenen Konsequenzen für die Analyse der Entwicklung von Leistung und Erfolg im Sport stellt sich die Frage, wie das Verhältnis zwischen den Bereichen mit der Theorie der Medialen Moderne zu treffen ist. 2.1 Das systemische Argument der Gesellschaftstheorie Sport der Medialen Moderne Die Gesellschaftstheorie Sport der Medialen Moderne vertritt die Grundannahme, dass es sich bei allen gesellschaftlichen Verhältnissen in der Moderne um medial vermittelte – indirekte – Verhältnisse handelt (Böckelmann, Johnen & Schürmann, 2013; Schürmann 2006, 2011, 2013). Die Theorie teilt die Grundthese Luhmanns, nach der sich die Gesellschaft seit der klassischen Moderne in verschiedene Teilbereiche ausdifferenziert hat. 4 Als Prototyp für diese Ausdifferenzierung kann die Trennung zwischen Staat und Kirche angesehen werden. Die Voraussetzung für diese Differenzierung – sowie auch für alle weiteren Differenzierungen– bildete der Verlust einer gemeinsamen „Grundsymbolik“ (Kneer & Nassehi, 2001, S. 130). Gewissermaßen musste Gott erst tot sein, damit die Kirche zu einem Bereich neben allen anderen werden konnte. Das Religiöse war seit dem nicht mehr der Gesellschaft vor-

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Das vermehrte Auftreten von Doping und anderer für den Wettbewerb charakteristischer Elemente (wie bspw. die Macht der Zahlen) gelten schließlich in der Arbeit Wetzels als Nachweis für die „Verwettbewerblichung der Gesellschaft“ (Wetzel, 2013, S. 219), womit wiederum eine direkte Verhältnisbestimmung zwischen den Bereichen und der Gesamtgesellschaft vorgenommen wird.

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Die Annahme ist sicherlich bei Luhmann am prominentesten vertreten, wird aber keineswegs von ihm exklusiv geteilt.

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bzw. übergeordnet, womit sich weitere gesellschaftliche Bereiche bilden konnten. An die Stelle der religiösen Grundsymbolik trat demnach nicht einfach eine andere Symbolik. Auch ist im Gegensatz zum Hierarchiemodell alteuropäischer Traditionen mit Luhmann davon auszugehen, dass weder die Religion, noch die Politik, noch die Wirtschaft oder irgendein anderer Bereich die Gesellschaft dominiert (Luhmann, 1970, S. 204). Exemplarisch strebt Luhmann daher in Bezug auf die Wirtschaft ein „Umdenken von ›wirtschaftlicher Gesellschaft‹ auf ›Wirtschaftssystem als Teilsystem des Gesellschaftssystems‹“ (ebd. S. 227) an. 5 Anders als in der Position der Neuen Linken ist mit der Theorie der Medialen Moderne somit nicht davon auszugehen, dass die Wirtschaft in einem (direkten) Herrschaftsverhältnis den Sport fremdbestimmt. Vielmehr ist der Sport als gesellschaftlicher Teilbereich in dem Sinne autonom, als dass er nicht durch die Abhängigkeit seiner einzelnen Elementen auf einen herrschenden Bereich oder einer herrschenden Metaordnung bezogen ist. 6 Innerhalb der relativ autonomen gesellschaftlichen Bereiche wirkt eine eigenständige Dynamik. Zur Klärung der Frage, wie diese Dynamik entsteht, wird hier in gebotener Kürze der theoretischmethodische Zugang des systemischen Arguments herausgestellt. Um das systemische Argument denken zu können, bedarf es einen Austausch von einzelnen Elementen, der nicht auf das Handeln Einzelner reduzierbar ist. Die Theorie des methodologischen Individualismus gilt es abzulehnen, da in dieser soziales Handeln entsteht, indem ein Subjekt sich in seinem Handeln auf das Handeln eines anderen bezieht. Gesellschaftliche Dynamik ist nach dem methodologischen Individualismus individuell gesteuert, womit ein Austausch der einzelnen Elemente in einem vermittelnden Medium nicht gedacht wird. Aus diesem Grund scheiden soziale Gebilde, wie der Staat oder Aktiengesellschaften, nach dem methodologischen Individualismus als Träger sinnhafter Handlungen aus (Weber, 1921, S. 553). Soziale Gebilde haben im methodologischen Indivi-

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Bei Thomas Alkemeyer findet sich dieses Argument in der strikten Abgrenzung des Mimesis-Konzepts von „orthodoxen Spielarten des Marxismus“ (Alkemeyer, 1997, S. 368). Kultur ist nach Alkemeyer nicht als bloßer Überbau – und damit nicht in direkter Abhängigkeit von der sozialökonomischen Basis – zu sehen. Die Ökonomie diktiere nicht dem Sport ihre wirtschaftliche Struktur auf. Vielmehr stelle der Sport ein eigenständiges Kulturfeld dar, das zwar immer Bezug auf seine Außenwelt und damit auch auf die Ökonomie nähme, doch geschehe dies immer schon durch eine sportspezifische Brille.

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Für Alkemeyer ist der Sport nach der Auflösung übergreifender gesellschaftlicher Grundordnungen ebenfalls eigenständig [als ein „kulturelle[s] Handlungsfeld“ Alkemeyer, 1997, S. 368)] zu begreifen.

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dualismus keinerlei Einfluss auf die Form des zweckrationalen und autonomen Handelns der Individuen, sondern die Individuen handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen auf dieselbe Art und Weise nur unter anderen Bedingungen. Mit dem systemischen Argument der Theorie der Medialen Moderne sind die Individuen einer Gesellschaft hingegen nicht als autarke Entscheider zu charakterisieren. Vielmehr sind die Individuen das, was sie sind, nur im Medium der Struktur gesellschaftlicher Bereiche. Hierbei funktioniert das vorgebrachte Argument nicht schlicht in einer Umkehrlogik im Sinne des Holismus, nach dem soziale Tatbestände unabhängig von dem Handeln der Individuen existieren und wirken (Durkheim, 1961, S. 104114). Im Gegensatz zum methodologischen Individualismus verkörpert sich im holistischen Ansatz nicht der Einzelne in den sozialen Gebilden, sondern die sozialen Tatbestände verkörpern sich im Einzelnen. Rituale und Bräuche bestünden bspw. bereits vor der Ausübung durch die konkreten Einzelnen und hätten auch im Anschluss daran weiter Bestand. Im holistischen Erklärungsansatz sind die Elemente somit ebenfalls nicht in einem Medium miteinander vermittelt, sondern das Ganze steht vor den Elementen und bestimmt somit das Handeln der Einzelnen, weshalb ein Holismus ebenfalls abzulehnen ist. Mit dem systemischen Argument gilt dementgegen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Soziale Gebilde sind weder auf das absichtsvolle Handeln der Einzelnen reduzierbar (vs. methodologischer Individualismus), noch sind sie dem Handeln der Individuen vorgeordnet (vs. Holismus), sondern die einzelnen Elemente sind durch das Mehr der gesellschaftlichen Institutionen miteinander vermittelt, womit überindividuelle Dynamik entstehen kann. Vereinfacht gesprochen und auf einen kleinen Bereich herunter gebrochen: Eine Familie entsteht nicht dadurch, dass die Struktur der Familie die Familienmitglieder determiniert. Auch ist sie nicht auf das absichtsvolle Handeln der Einzelnen zurückzuführen. Sie entwickelt sich nicht, indem sich die einzelnen Mitglieder dazu entschließen, sich als Bruder und Schwester anzusehen – genau so wenig zerbricht sie, wenn sie es bleiben lassen. Vielmehr sind die Familienglieder das, was sie sind, nur in der Struktur der Familie, womit eine Familie nicht bloß aus der Summe ihrer Mitglieder besteht. Bruder und Schwester begegnen sich im Medium der familiären Struktur, wodurch sie anders miteinander umgehen (können) als Kunde und Verkäufer. Dass die mediale Struktur der Familie hier ihren Platz hat, zeigt sich daran, dass sie nicht in einen anderen Bereich verpflanzt werden kann. So wirbt zwar ein Fußballverein aus München damit, dass man Mitglied in der Bayern-Familie werden soll, doch zieht dies keine überindividuelle Dynamik im Sinne des systemischen Arguments nach sich. Auch wenn sich Uli Hoeneß und Karl-Heinz

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Rummenigge tatsächlich dazu entschlossen haben mögen, sich gegenseitig als Brüder anzusehen, hat dies nicht automatisch zur Folge, dass sich auch Boris und Helmut durch ihre Mitgliedschaft als Brüder ansehen (können). Vielmehr müssten sich die beiden erneut dazu entschließen, womit zwar eine Dynamik entstehen würde, aber eben keine überindividuell dynamische, wie sie mit der systemischen Struktur der Familie einhergeht. Neben der medialen Vermitteltheit des Handelns Einzelner besteht mit dem systemischen Argument auch kein direkter Austausch zwischen den Bereichen. Strukturen, die sich innerhalb eines Bereichs realisieren, sind nicht eins zu eins auf einen anderen Bereich übertragbar, sondern nehmen in diesen eine spezifische Form, Bedeutung und Position ein. Eine eigene systemische Logik beinhaltet somit die Nicht-Reduzierbarkeit des Bereichs auf einzelne Elemente und kennzeichnet zugleich die Besonderheit eines Bereichs gegenüber anderen. 2.2 Gerechtigkeit als Prüfstein In den gesellschaftlichen Bereichen entstehen bereichsspezifische Strukturen sowie eigenständige Dynamiken. Die Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen sind aufgrund dieser Eigenständigkeit indirekter Natur. Ebenso wie bei der direkten Verhältnisbestimmung der Bereiche existieren auch bei der indirekten Bestimmung unterschiedliche Möglichkeiten der Herangehensweise. 7 Im Unterschied zur Systemtheorie steht hier nicht die indirekte Einflussnahme der Bereiche aufeinander im Fokus. Es soll nicht untersucht werden, inwieweit der Sport wirtschaftliche Umwelteinflüsse unter Wahrung seiner Autonomie systemintern verarbeitet. Auch soll nicht herausgearbeitet werden, inwiefern der Sport z.B. über das Gesundheitssystem strukturell mit der Wirtschaft gekoppelt ist. Demgegenüber soll hier überlegt werden, inwieweit von der Beobachtung der Verwirklichung und der Entwicklung eines Prinzips in einem Bereich auf einen anderen Bereich geschlossen werden kann. Es stellt sich somit die Frage nach indirekten Strukturanalogien zwischen den Bereichen. Konkret steht die Frage im Mittelpunkt des Interesses, ob aus der von Ichheiser und Neckel für die Wirtschaft postulierten Entwicklung des Leistungsprinzips hin zu einem Erfolgsprinzip Erkenntnisse für den sportlichen Bereich gewonnen werden können.

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Zur direkten Verhältnisbestimmung wurden hier die Möglichkeiten des Herrschaftsverhältnisses, der Metaphern-Bildung und der bereichsübergreifenden Begriffsanalyse angesprochen.

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Aufgrund der bereichsspezifischen Strukturen sind die Prinzipien der Leistung und des Erfolges aus der Wirtschaft nicht eins zu eins auf den Sport übertragbar. Gleichzeitig ist nicht davon auszugehen, dass die Prinzipien der unterschiedlichen Bereiche in keinerlei Beziehung zu einander stehen. Dies wäre allein schon deshalb merkwürdig, da wir in beiden Bereichen die gleichen Begrifflichkeiten verwenden. Zur Vermittlung der in den unterschiedlichen Bereichen je spezifischen Prinzipien bedarf es daher einen den Bereichen gemeinsamen Referenzpunkt. Dieser bildet sich aus der Gesamtstruktur der Gesellschaft, die mit der Medialen Moderne näher hin als bürgerliche Gesellschaft charakterisiert wird. Für das Selbstverständnis dieser Gesellschaft ist zentral, dass jeder seinen Platz in der Gesellschaft eigenbestimmt suchen kann, womit die soziale Mobilität das zentrale Prinzip der Gesellschaft bildet. Das gesellschaftliche Grundprinzip der sozialen Mobilität kommt in den jeweiligen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich zum Ausdruck, wodurch diese indirekt aufeinander bezogen sind. Die unterschiedliche Partizipation der Bereiche an dem Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft zeigt sich an dem Prinzip der Gerechtigkeit, das ein konstitutives Moment der sozialen Mobilität bildet. In der Ökonomie kann jeder seine Leistung am Markt anbieten. Die objektiven Vergabemechanismen des Marktes tragen dann Sorge dafür, dass jeder das erhält, was seine Leistung wert ist, womit in der Wirtschaft Marktgerechtigkeit herrscht. Diese Form der Gerechtigkeit fungiert im ökonomischen Sektor als Vehikel der sozialen Mobilität, da jeder durch seine Leistung seinen Platz innerhalb des Bereichs selbstbestimmt suchen kann (bzw. können soll). Gegenüber dem Prinzip der Marktgerechtigkeit handelt es sich bei dem Begriff der Fairness im wirtschaftlichen Bereich um einen Wert. Dieser bildet in der – von Neckel und Ichheiser kritisierten – neoklassischen Marktwirtschaft (wenn überhaupt) eine regulative Rahmenbedingung des Marktgeschehens. Da Fairness nicht konstitutiv für den Marktmechanismus ist, handelt es sich bei der Rede von Fairness in Bezug auf den Markt in der Regel um eine moralische Kritik von außen. Es kann zwar darüber diskutiert werden, ob die jährliche Ausschüttung von Millionenboni an Manager, die Verlegung von Firmensitzen in Steueroasen oder das Spekulieren mit Lebensmitteln an der Börse unfair bzw. unmoralisch ist, doch haben solche Diskussionen keinen Einfluss auf die Vergabemechanismen des Wettbewerbs am Markt. Unabhängig davon, ob die Diskussionen als pure Ideologie abgetan werden oder als ernstzunehmende Sonntagsreden nachdenklich stimmen, bildet die moralische Dimension für das neoklassische Marktprinzip einen von außen hinzukommenden Wert. Die Diskussionen drehen sich somit um moralische Probleme, nicht aber um Probleme des formalen Marktgeschehens, weshalb moralische Forderungen für das Marktgeschehen folgenlos bleiben (müssen).

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Anders als in der neoklassischen Marktwirtschaft kann Fairness allerdings auch als zentrales Prinzip der Bereiche selbst angesehen werden. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Gerechtigkeit – als Fairness – kann als übergreifende Grundordnung für die Gesamtgesellschaft als verbindlich betrachtet werden, die sich dann in den einzelnen Bereichen realisiert. Prototypisch hierfür ist die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness von John Rawls (1971, S. 19–73; 2001). Fairness umfasst bei Rawls mehr als eine bloß moralische Rahmenkonstellation der Bereiche, da sie eine übergreifende Grundordnung bildet, die bis in die Mechanismen der gesellschaftlichen Bereiche hineinwirkt (Rawls, 2001, S. 35). Moralische Werte müssen somit nach Rawls nicht von außen an die Bereiche herangetragen werden, sondern sind in diesen – durch das Wirken der gesellschaftlichen Grundstruktur – immer schon verankert. Hierbei setzt sich nach Rawls die gleiche Fairness als Hintergrundgerechtigkeit in den Bereichen unter unterschiedlichen Bedingungen durch. In der Theorie der Gerechtigkeit hat die mediale Struktur der jeweiligen Bereiche somit keine ausschlaggebende Wirkung auf das Verständnis von Gerechtigkeit in diesen Bereichen. Im Unterschied zu Rawls ist mit dem systemischen Argument anzunehmen, dass das Verständnis eines Prinzips unter den bereichsspezifischen Bedingungen als Prinzip etwas anderes ist, als das Gleiche unter anderen Bedingungen. Das gesellschaftliche Grundprinzip der sozialen Mobilität buchstabiert sich als Gerechtigkeit in den Bereichen unterschiedlich aus, wodurch das Verständnis von Gerechtigkeit bereichsspezifisch zu unterscheiden ist. So ist die Fairness als Gerechtigkeit des Sports nicht gleichzusetzen mit der Marktgerechtigkeit. Im sportlichen Wettbewerb wird nicht bloß eine übergreifende Grundordnung der Gerechtigkeit unter sportlichen Bedingungen nachgespielt, sondern das bürgerliche Prinzip der sozialen Mobilität drückt sich in der sportlichen Eigenlogik anders aus als in der Restgesellschaft. Dies ist schon allein daran zu erkennen, dass es beim Handball nicht ungerecht ist, anderen den Ball wegzunehmen oder beim Boxen andere zu schlagen. 8 Doch herrscht im Sport auch keine vollkommene Sondermoral. 9 Gerechtigkeit ist unter sportlichen Bedingungen nicht etwas ganz anderes als in der Rest-

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Umgekehrt kann man beim Betriebsausflug, wenn man nicht so gut zu Fuß ist, oder einfach früher im Biergarten sitzen möchte, ruhig eine Abkürzung nehmen, ohne deshalb gleich unfair zu sein.

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Im sportlichen Setting ist demnach nicht alles und jedes neu zu verhandeln. So bedarf es keiner Sondermoral des Sports, um festzuhalten, dass man andere nicht anspuckt. In einem solchen Fall gilt vielmehr mit Volkamer (2004) ganz allgemein: „Das tut man nicht.“

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gesellschaft. Im sportlichen Prinzip der Fairness zeigt sich ebenso wie in der Marktgerechtigkeit immer noch Gerechtigkeit. 10 So wird bei der Übertragung des Fairnessbegriffs auf andere Bereiche nicht gleich ein „Kategorienfehler“ (Schürmann, 2012, S. 77) begangen. 11 Vielmehr wissen wir (zumindest ungefähr) was gemeint ist, wenn das Verhalten eines Mitarbeiters, der seine Kollegen mobbt oder das eines Börsenmaklers, der durch Ritalin seine Reaktionszeit verbessert, als unfair bezeichnet wird. Doch handelt es sich in diesen Fällen um eine andere Form der Ungerechtigkeit als beim unfairen Verhalten eines Sportlers. Das Prinzip der Fairness im Sport kann bspw. nicht eins zu eins auf den Medikamentenmissbrauch des Börsenmaklers übertragen werden, weil dabei die vermittelnde Funktion der bereichsspezifischen Bedingungen unberücksichtigt bliebe. Um einen solchen „Kategorienwechsel“ (ebd.) zu vermeiden, sind die bereichsspezifischen Bedingungen, unter denen sich die Prinzipien verwirklichen, zu berücksichtigen und offenzulegen. 12 Erst auf Grundlage dessen ist zu überlegen, was die Entwicklung eines Prinzips in dem einen Bereich in Bezug auf einen anderen Bereich bedeuten kann. In Bezug auf das sportliche Setting ist hierbei entscheidend, dass das Prinzip der sozialen Mobilität spielerisch inszeniert wird. Durch die künstliche Schaffung von Chancengleichheit im Wettbewerb sollen die Ungleichheiten des alltäglichen Konkurrenzkampfes im Sport soweit wie möglich ausgeschaltet werden, damit der Ausgang des Wettbewerbs prinzipiell offen ist. Darüber hinaus wird festgelegt, dass die sportliche Leistung auf eine spezifische Art und Weise erbracht werden muss, um als sportliche Leistung zu gelten. Ein sportlicher Erfolg gilt nur dann als Erfolg, wenn er durch eine faire Leistung errungen wurde. Sportliche Leistungen müssen sich demnach – gegenüber Leistungen in anderen

10 Dies geschieht im Sport allerdings in einer anderen Art und Weise. Eben aufgrund dieser Differenz der Bedeutung des Gerechtigkeitsprinzips in den relativ autonomen Bereichen der Gesellschaft bedarf es eines gemeinsamen Referenzpunktes, der die unterschiedlichen Formen der Gerechtigkeit miteinander in Beziehung setzt und vergleichbar macht. Diesen Punkt bildet das Prinzip der sozialen Mobilität als dem gesellschaftlichen Grundprinzip der bürgerlichen Moderne. 11 Ein solcher läge bspw. dann vor, wenn man einen Plüschelefanten als fair bezeichnen würde. Da es sich bei Plüschtieren nicht um soziale Lebewesen handelt, können sie nicht die soziale Norm der Fairness ausüben, weshalb sich die Anwendung der sozialen Kategorie der Fairness auf den Plüschelefanten verbietet. 12 Ein solch unberücksichtigter Kategorienwechsel findet sich in der direkten Verhältnisbestimmung bei Wetzel (2013).

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gesellschaftlichen Bereichen – an der sportspezifischen Norm der Fairness messen lassen. Das Prinzip der Fairness legt bspw. fest, dass es im sportlichen Leistungsvergleich ungerecht ist, Präparate einzunehmen, die die prinzipielle Offenheit des Ausgangs gefährden und somit im Widerspruch zum Geist des Sports (World Anti-Doping Agency, 2009, S. 14, 33) stehen. Mit dem Eintritt in den sportlichen Wettbewerb versprechen die Athleten, dass diese Präparate keinen Einfluss auf den Ausgang des Wettbewerbs nehmen sollen. In alltäglichen Konkurrenzsituationen, wie an der Börse oder der Uni, hingegen nimmt die Fairness keine konstitutive Funktion ein, weshalb unter den Akteuren im Wettbewerb auch nicht das Versprechen besteht, zur Wahrung der Chancengleichheit bestimmte Medikamente nicht einzunehmen. So mag es zwar meine individuelle Moral als ungerecht empfinden, wenn meine Mitstreiter an der Börse und an der Uni sich mit übermäßig viel Coffein oder Ritalin wach halten, doch ist ein solches Verhalten nicht im sportlichen Sinne unfair. Aufgrund des Wegfalls der sportspezifischen Norm handelt es sich bei der Einnahme von Medikamenten in diesen Bereichen auch nicht um das für den Bereich des Wettkampfsports spezifische Doping, sondern (höchstens) um Medikamentenmissbrauch.

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Abschließend ist zu überlegen, was aus dem hier Angeführten für die Leistung und den Erfolg im Sport folgt. Zunächst wurde deutlich, dass von der Entwicklung der Prinzipien der Leistung und des Erfolgs in der Wirtschaft, wie sie von Ichheiser und Neckel beschrieben wird, nicht unmittelbar auf den Sport geschlossen werden kann. Weder diktiert die Wirtschaft der Eigenwelt des Sports ihre Prinzipen in Form einer Herrschaftsbeziehung auf, noch ist die Entwicklung wirtschaftlicher Prinzipien eins zu eins auf den Sport übertragbar. 13 Die Dominanz einer Erfolgstüchtigkeit, mit der – durch die Durchsetzung der eigenen Persönlichkeit am Markt – leistungslose Erfolge ermöglicht werden, ist so im sportlichen Wettbewerb nicht plausibel. Eine hervorragende Redegewandtheit und ein gutes Aussehen mögen zwar zum wirtschaftlichen Erfolg von

13 Darüber hinaus stand innerhalb dieser Ausarbeitung nicht die indirekte Einflussnahme der Wirtschaft auf den Sport im Zentrum des Interesses, sondern die Bildung von indirekten Strukturanalogien.

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Sportlern beitragen, nicht aber können sie (unmittelbar) zum Sieg im Wettbewerb führen. Zudem ist es im sportlichen Wettbewerb nicht möglich, die Leistung durch eine gute Performance vorzutäuschen. Wer versucht den bloßen Anschein zu erwecken, er habe die meisten Tore geschossen und damit die bessere Leistung erbracht, wird unmittelbar vom sportlichen Ergebnis überführt werden. Anders als bei der Annahme einer direkten Beziehung der Bereiche zueinander sind mit dem systemischen Argument beobachtbare Tendenzen in dem einen Bereich in die Eigenwelt des anderen zu übersetzen. Es gilt demnach zu überlegen, was die Entwicklung von Leistung und Erfolg in der Wirtschaft unter den spezifischen Bedingungen des sportlichen Wettkampfs bedeuten kann. Hierbei zeigt die wirtschaftliche Entwicklung die für den Sport aufschlussreiche und bedeutsame Tendenz an, dass der Weg hin zum Erfolg nicht mehr konstitutiv sein könnte für das, was wir als sportliche Leistung vereinbart haben und als solche anerkennen. Im Sinne der indirekten Bestimmung des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Sport handelt es sich hierbei nicht um einen kausalen Effekt, sondern um eine mögliche indirekte Analogie innerhalb der Struktur der Bereiche. Zum einen wären im sportlichen Bereich beobachtbare Symptome auf eine solch mögliche Tendenz hin zu befragen 14 und zum anderen hätte die Umstellung von einem Leistungsprinzip hin zu einem Erfolgsprinzip für den Sport andere Konsequenzen als für den Wettbewerb in der Wirtschaft. Durch die Gleichsetzung der Prinzipien der Leistung und des Erfolgs im Sport wäre die konstitutive Funktion der Fairness als Norm, an der sich die Erbringung der sportlichen Leistung im Wettkampf messen lassen muss, massiv in Frage gestellt. Es würde dann im sportlichen Wettkampf nicht mehr in erster Linie darum gehen, auf dem Weg der fairen Leistungserbringung erfolgreich zu sein, sondern bspw. darum, dem Publikum am meisten zu gefallen, den coolsten Stil zu entwickeln oder, unabhängig vom Weg, die eigene Leistung zu steigern. Das Versprechen des fairen Leistungsvergleichs wäre aufgehoben, womit die

14 Als zu analysierende Symptome bieten sich bspw. die Fokussierung von Medaillengewinnen durch die sogenannten Zielvereinbarungen des DOSBs und die nach wie vor weitestgehend ungeteilte Anerkennung der Leistung und des Erfolgs des Dopings überführter und verdächtigter Sportler an. Über diese Symptome hinaus verspricht insbesondere die Olympische Charta im Hinblick auf die gewählte Fragestellung aufschlussreich zu sein, da sie die normative Rahmenvorgabe des Wettkampfsports bildet. Veränderungen innerhalb der Charta (z.B. Abschaffung des Amateur-Paragraphen) betreffen damit unmittelbar die Prinzipien des modernen Sports.

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Einnahme von Medikamenten oder die besondere Achtung des Gegners für den sportlichen Erfolg ebenso irrelevant wäre, wie für den Erfolg an der Börse. 15 Eine Ausrichtung des Sports am Erfolg anstatt an der Leistung kann auch für die gesamtgesellschaftliche Funktion des Sports nicht folgenlos bleiben. Wird der Weg, der zum Erfolg führt, sekundär, dann zielt der sportliche Wettkampf nicht mehr darauf ab, die Ungleichheiten der alltäglichen Konkurrenzsituationen so weit wie möglich einzudämmen. Folglich würde die soziale Mobilität im Sport nicht mehr möglichst rein inszeniert werden, womit sich das Verhältnis zwischen Sport und Gesamtgesellschaft wandelt. Im Sinne der seismographischen Funktion des Sports wäre zu fragen, inwiefern sich die Abkehr von der indirekten Ausrichtung des sportlichen Bereichs an der sozialen Mobilität auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zeigt. Dies wäre freilich wiederum auf dem Weg einer indirekten Strukturanalogie zu prüfen. Konsequenterweise stellt sich hierbei auch die Anschlussfrage, ob sich die (post-)moderne Gesellschaft noch in der Weise über das bürgerliche Prinzip der sozialen Mobilität identifiziert.

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15 Die Erfolge eines Felix Baumgartners bemessen sich bspw. nicht an der fair erbrachten Leistung im Wettbewerb. Baumgartners Leistung besteht in der Einmaligkeit seines Tuns und sein Erfolg in der Anerkennung dieses Tuns durch das Publikum und seinen Sponsor. Es wäre daher auch absurd, Baumgartner bei seinen Rekordsprüngen des Dopings bezichtigen zu wollen.

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Ichheiser, Gustav (1930). Kritik des Erfolges. Eine soziologische Untersuchung. Leipzig: C. L. Hirschfeld. Kneer, Georg & Nassehi, Armin (2001). Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung (4. Aufl.). München: Fink. Krockow, Christian von [1972] (1974). Sport und Industriegesellschaft. München: R. Piper & Co. Krockow, Christian von (1974). Sport. Eine Soziologie und Philosophie des Leistungsprinzips. Hamburg: Hoffmann & Campe. Luhmann, Niklas [1970] (1991). Wirtschaft als soziales System. In Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme (S. 204–231). Opladen: Westdeutscher Verlag. Mourinho, José (2013, 31. August). Stimmen zum Supercup-Spiel. Mourinho: „Bessere Mannschaft hat verloren“. Zugriff am 20.08.2014 unter http://www.kicker.de/news/fussball/intligen/startseite/591485/artikel_mourin ho_bessere-mannschaft-hat-verloren.html. World Anti-Doping Agency (2009). World Anti-Doping Code. Zugriff am 08.09.2014 unter http://www.ifbb.com/pdf/wadacode.pdf Neckel, Sighard (2004). Erfolg. In Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann & Thomas Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart (S. 63–70). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Neckel, Sighard (2008). Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. Frankfurt a. M., New York: Campus. Rawls, John [1971] (1990). Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rawls, John (2001). Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rigauer, Bero (1969). Sport und Arbeit. Soziologische Zusammenhänge und ideologische Implikationen. Münster: Lit. Schürmann, Volker (2006). „Die schönste Nebensache der Welt“. Sport als Inszenierung des Citoyen. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 54 (3), 363– 382. Schürmann, Volker (2011). Olympischer Anzeiger. Plädoyer, den Sport ernst zu nehmen. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 21 (4), 605–612. Schürmann, Volker (2012). Natürlichkeit oder Fairness? Begründungsstrategien zum Dopingverbot im Spannungsfeld von Recht und Moral. In Christoph Asmuth & Christoph Binkelmann (Hrsg.), Entgrenzungen des Machbaren? Doping zwischen Recht und Moral (S. 75–87). Bielefeld: transcript.

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Kann man sagen „Die bessere Mannschaft hat verloren“ (José Mourinho)? Response zu Simon Johnen: Leistung und Erfolg in Sport und Ökonomie M ICHAEL R OTH

(1) Der Begriff Leistungsgesellschaft wird zwar gegenwärtig zumeist pejorativ gebraucht (im Sinn von „Menschen werden auf ihre Leistung reduziert“), doch bezeichnet der Begriff zunächst eine positive Errungenschaft moderner Gesellschaften, in denen Menschen ihre Stellung in der Gesellschaft nicht ihrer Herkunft, sondern ihrer eigenen Leistung zu verdanken haben. Zwar sind herausragende Leistungen zu allen Zeiten gesellschaftlich anerkannt worden, aber erst die frühen Theoretiker des Liberalismus wie Adam Smith und John Locke hoben ‚Leistung‛ zu einem umfassenden gesellschaftlichen Ordnungsprinzip hervor. Was eine Person besitzt, welche soziale Stellung jemand innehat und welche Karriere sie oder er einschlagen kann, sollte nicht länger durch das ständische Prinzip der Herkunft bestimmt werden, sondern allein Ergebnis der eigenen Arbeit und Leistung sein. Das Modell der Leistungsgesellschaft prägt bis heute das Selbstverständnis moderner Nationen. Leistung ist eine Fundamentalnorm im Selbstverständnis moderner Gesellschaften. Kein gesellschaftliches Vorhaben der Gegenwart, das eine wirtschaftliche, sozial- oder bildungspolitische Modernisierung verspricht, verzichtet darauf, hierfür den Leistungsbegriff in Anspruch zu nehmen. Das Leistungsprinzip fungiert als einzig öffentlich rechtfertigungsfähiger Maßstab der Statusvergabe, über den die moderne Gesellschaft ihrem Selbstverständnis nach verfügt (vgl. Roth, 2011). Gerade die Leistungsgesellschaft scheint gegenwärtig im Auflösen begriffen zu sein. So verdeutlicht die PISA-Studie, dass vor allem in Deutschland die Bildung von der sozialen Herkunft abhängig ist. Aber auch im Bereich der Ökonomie, dem klassischen Kernbereich des Leistungsprinzips, wird das Leistungs-

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prinzip immer mehr ausgehöhlt. So weist der Ökonom Sighard Neckel darauf hin, dass ökonomische Erträge und sozialer Statusgewinn heute weniger denn je nur als Wirkung zuvor erbrachter Leistungen zu begreifen sind. Wir haben es nach Neckel in der Gegenwart mit leistungslosen Erfolgen zu tun, während für breite Bevölkerungsschichten gilt, dass Leistungen in Arbeit und Beruf längst nicht garantieren, in der Erlangung eines sozialen Status auch erfolgreich zu sein. So sind nach Neckel Leistungskategorien für den Erwerb ihrer Vorteile immer weniger verbindlich, sondern eher privilegierte Herkunftsbedingungen. Am effektivsten wirke die bloße Zugehörigkeit zu den Kartellen und Netzwerken der Vorteilsmehrung an sich. Vor allem macht Neckel darauf aufmerksam, dass eine Ökonomie, die das ökonomische Risikohandeln zum Prototyp wirtschaftlichen Handelns werden lässt, leistungsbezogene Qualifikationen entwertet und ökonomische Vorgänge umfassend an Kontingenz bindet. In diese kritische Richtung weist auch eine Studie des Instituts für Soziologie der technischen Universität Darmstadt (vgl. Roth, 2011, S. 425). In ihrer Auswertung der Studie kommt die Soziologin Yvonne Haffner zu dem Fazit: Beruflicher Erfolg durch Leistung ist ebenso ein Mythos wie mangelnder Misserfolg durch mangelnde Leistung. Zu einem beruflichen Fortkommen entscheiden nach Haffner weniger die tatsächlichen Leistungen als das, was eine Person für ein Bild von sich den anderen vermittelt. So ist beispielsweise für die Bewertung von Leistung durch Vorgesetzte weniger die tatsächliche Arbeit entscheidend, auch nicht die tatsächliche Arbeitszeit, sondern die am Arbeitsplatz verbrachte Zeit und die dadurch nach außen demonstrierte Identifikation mit der jeweiligen Firma. Gilt immer noch „Leistung führt zu Erfolg und Erfolg beruht auf Leistungen“ oder wird dieses Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft immer mehr ausgehöhlt durch leistungslose Erfolge und erfolglose Leistungen? (2) Nirgendwo – so Simon Johnen in seinem Aufsatz „Leistung und Erfolg in Sport und Ökonomie“ – gelange das Prinzip „Leistung führt zu Erfolg und Erfolg beruht auf Leistung“ so zu seiner Eindeutigkeit wie im olympischen Wettkampfsport. Zwar – so Johnen – müssen sportliche Leistungen im Wettkampf vom Schiedsrichter verifiziert werden, allerdings müssen sie nicht vom Publikum erst als Leistung bewertet werden, um zum Erfolg zu führen. Gerade hierin unterscheide sich der Sport von der Wirtschaft. Während es nämlich in der Wirtschaft möglich sei, „dass sich ein Kunde aus irgendwelchen Gründen für ein objektiv betrachtet schlechteres Angebot entscheidet und damit der eher geringeren Leistung zum Erfolg verhilft, ist dies im Sport gerade nicht möglich, da die sportliche Leistung an sich Gültigkeit besitzt. So mag es zwar vorkommen, dass sich ein Deutscher Meister im Volleyball oder im Tauziehen von den Zuschau-

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ern, den Sponsoren und den Medien nicht angemessen gewürdigt fühlt, doch ist eine solche Anerkennung allein für den medialen und ökonomischen Erfolg ausschlaggebend, nicht aber (unmittelbar) für den sportlichen“. Von daher – so Johnen – verbiete sich eigentlich eine Aussagen wie die von José Mourinho „Die bessere Mannschaft hat verloren“. An diesem Punkt setzt die Frage von Johnen ein: Hat die Umstellung von dem Leistungs- auf das Erfolgsprinzip auch für den Sport Konsequenzen? Im Rahmen der Theorie der Medialen Moderne geht Johnen nicht davon aus, dass die Wirtschaft in einem direkten Herrschaftsverhältnis zum Sport stehe, vielmehr wirke hier eine „eigenständige Dynamik“, so dass nach „indirekten Strukturanalogien“ gefragt werden müsse: „Aufgrund der bereichsspezifischen Strukturen sind die Prinzipien der Leistung und des Erfolgs aus der Wirtschaft nicht eins zu eins auf den Sport übertragbar. Gleichzeitig ist nicht davon auszugehen, dass die Prinzipien der unterschiedlichen Bereiche in keinerlei Beziehung zu einander stehen“. So gehe es darum zu überlegen, „was die Entwicklung von Leistung und Erfolg in der Wirtschaft unter den spezifischen Bedingungen des sportlichen Wettkampfs bedeuten kann“. Diese Überlegungen deutet Johnen abschließend nur an, indem er nach einem möglichen Verlust der Fairness im sportlichen Geschehen und einer Auflösung der – durch das sportliche Setting konstituierten – Überwindung der Ungleichheiten der alltäglichen Konkurrenzsituationen fragt. (3) Johnens Frage nach einer möglichen Verschiebung des Leistungs- zum Erfolgsprinzip im sportlichen Geschehen ist zentral, seine – im Rahmen der Theorie der Medialen Moderne angestellt – Überlegung, nicht von linearen Abhängigkeiten zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen auszugehen, sondern nach indirekten Strukturanalogien zu fragen, spannend, wenn freilich auch die Ergebnisse dieser Überlegungen bisher eher angedeutet sind und daher auch die Bewährung dieser Frageperspektive noch aussteht. Die im Text von Johnen aufgeworfene Frage nach der Verschiebung vom Leistungszum Erfolgsprinzip in der Ökonomie und nach der Konsequenz für den Sport provoziert eine Reihe von Fragen, ich will mich im Folgenden auf eine konzentrieren: Kennt der Sport in seiner Idealgestalt einen Satz wie „Die bessere Mannschaft hat verloren“ nicht? In der Tat: Um den Leistungsvergleich im Sport zu ermöglichen, sind sowohl die Chancengleichheit als auch die Nachprüfbarkeit von Leistungen wesentliche Voraussetzungen des Sports. Chancengleichheit und die Nachprüfbarkeit von Leistungen haben die Funktion, die notwendigen Bedingungen zu schaffen, die einen möglichst exakten Vergleich von Leistungen ermöglichen. Der Versuch, gleiche Chancen zu schaffen und Leistungen nachprüfbar zu machen, führt zu

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dem typischen Erscheinungsbild des Sports. Im Sport wird ein künstliches Setting geschaffen (es spielt sich weder innerhalb des alltäglichen Geschehens ab noch entwickelt es sich direkt aus dem Alltagsgeschehen heraus), das durch ein Regelwerk etabliert und am Leben gehalten wird. Ziel dieses Regelwerkes ist es, eine Situation genau zu beschreiben, in der eine Leistung erbracht werden kann, die möglichst unter gleichen Bedingungen und Chancen abläuft und dazu möglichst exakt messbar ist. Das strenge Regelwerk des Sportes dient also dazu, einen Bereich exakt abzugrenzen und ihn vor Übergriffen aus dem Alltag zu wahren. Der sportliche Leistungsvergleich hebt sich somit deutlich von dem alltäglichen, vor allem beruflichen, Leistungsvergleich ab. Zwei Punkte möchte ich hervorheben. Erstens: Der Leistungsvergleich des Sports findet nicht im alltäglichen Leben statt, sondern in einem künstlichen Setting, das Chancengleichheit gewährt. Im sportlichen Regelwerk wird eine (künstlich) zu etablierende Situation beschrieben, in der die einzelnen Sportler jeweils die gleichen Bedingungen antreffen. Ausgeschaltet wird alles, was eine Ungleichheit schaffen würde. Gerade hieraus ergibt sich die Künstlichkeit des sportlichen Settings, seine NichtAlltäglichkeit; denn es sind die Ungleichheiten des alltäglichen Konkurrenzkampfes, die das sportliche Regelwerk (so weit wie möglich) auszuschalten versucht. Zweitens: Die Leistungen, die im sportlichen Event miteinander verglichen werden, sind solche, die nachprüfbar und messbar sind. Um die Nachprüfbarkeit von Leistungen zu ermöglichen werden einzelne Parameter isoliert und damit genau beschrieben, auf was es bei der sportlichen Leistung „ankommt“. Bedeutet die im Sport ermöglichte exakte Leistungsmessung bereits, dass Leistung und Erfolg in der idealen Gestalt des Sports notwendig zusammenfallen und das Auseinanderfallen bereits eine Depravation des Sports (und seiner Leistungsidee) ist? Nein, ganz und gar nicht. Meine Gegenthese lautet: Auch im sportlichen Geschehen gibt es notwendig ein unverfügbares Element, so dass es geradezu notwendig ist, dass Leistung und Erfolg nicht immer zusammenfallen. Um diese These zu unterstützen, sei daran erinnert, dass der Sport eine besondere Form des Spiels darstellt (vgl. Roth, 2002). (4) Von den sechs Wesensmerkmalen des Spiels (vgl. Scheuerl, 1979, S. 79) möchte ich für unseren Zusammenhang drei in Erinnerung rufen: (a) Zweckfreiheit: Das wohl hervorstechendste Merkmal des Spiels, das von fast allen Spieltheoretikern gesehen wurde, ist zunächst rein negativer Natur: „Das Spiel verfolgt keinen außerhalb seiner selbst liegenden Zweck.“ (ebd.) So erkannte bereits Immanuel Kant, dass man im Gegensatz zur Arbeit, die man „einer anderen Absicht wegen“ (Kant 1923, S. 470) unternimmt, sich beim Spiel beschäftigt „ohne irgendeinen Zweck dabei zu berücksichtigen“ (ebd.). Das

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Spiel ist somit reiner Selbstzweck, es ist frei von Zwecksetzungen, die außerhalb des Spiels selbst liegen. Gerade hierin ist das Spiel von der Arbeit und vom Kampf ums Dasein und damit dem Ernst des Lebens unterschieden; das Spiel dispensiert von diesem Kampf ums Dasein. Insofern im Spiel keine Güter hervorgebracht werden, kann es als eine unproduktive Beschäftigung bezeichnet werden. Es ist von jeder „objektiven Wert- und Zweckordnungen abgehoben“ (Scheuerl, S. 70). Als „freies Handeln“ ist das Spiel für den „erwachsenen und verantwortlichen Menschen [...] eine Funktion, die er ebenso gut lassen könnte. Das Spiel ist überflüssig.“ (Huizinga, 1944, S. 12) (b) Scheinhaftigkeit: Das Spiel ist nicht das „‚gewöhnliche‛ oder das ‚eigentliche‛ Leben“. Es ist vielmehr „das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit eigener Tendenz“ (ebd., S. 13). Scheinhaftigkeit eignet dem Spiel dabei insofern, als es eine Als-Ob-Situation ist, eine Schein-Realität. Zum Spiel gehört aber nicht nur dieser Als-Ob-Charakter, sondern auch das Wissen um diesen Als-Ob-Charakter. Die Scheinhaftigkeit des Spiels wird erreicht durch eine scheinhafte Ebene, die von der normalen Realität abgehoben ist, diese symbolhaft abbildet bzw. nachbildet. (c) Ambivalenz: Das Spiel besitzt einen offenen Ausgang. So ist es geradezu spielnotwendig, dass sich Spieler treffen, die einander gewachsen sind; nur so kann Offenheit des Ausgangs und die Spannung und Freude am Spiel erhalten bleiben. Ist hingegen in der Spielsituation eine Seite hochüberlegen, so kommt ein Spiel gar nicht erst zustande oder, wenn es bereits begonnen worden ist, wird es wegen Unspielbarkeit abgebrochen. Das Spiel „bedarf einer maßvollen Spannung. Spannungslosigkeit wäre der Tod für das Spiel.“ (Scheuerl 1979, S. 91) Dieser offene Ausgang wird ebenfalls durch das Regelwerk des Spiels ermöglicht, das auch dem Zufall und dem Glück Raum gibt und damit auch dem schwächeren Spieler eine Siegesmöglichkeit einräumt: Ich kann auch gegen einen weltklasse Weitspringer gewinnen, wenn dieser bei seinen drei Sprüngen das Brett übertritt und gegen den weltbesten 100-Meter Läufer, wenn dieser drei Fehlstarts begeht – oder gar am verabredeten Zeitpunkt des Wettkampfs „nicht in Form“ ist. Und so kann auch eine Mannschaft aus der Regionalliga gegen Bayern München gewinnen, wenn letztere trotz zahlreicher herausragend herausgespielter Tormöglichkeiten das Tor nicht trifft und der RegionalligaMannschaft mehr aus Zufall als planvoll herausgespielt ein Ball ins gegnerische Tor kullert – ganz zu schweigen von einem ungerechtfertigt gewährten Elfmeter. (5) Was folgt aus dem Gesagten? In der Tat: Das sportliche Geschehen etabliert eine eigene Welt, in der Leistungen möglichst exakt gemessen werden können. Allerdings werden damit „Ungerechtigkeiten“ und Kontingenzen keinesfalls

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ausgeschlossen. Das sportliche Setting beschreibt nicht nur, was als Leistung zu gelten hat, sondern auch, was als Schicksalsschlag (weniger dramatisch: Pech) und Unverfügbarkeit zu gelten hat (bspw. ausschließliches Treffen von Latte und Pfosten, Übertreten des Sprungbretts). Wenn das Leistungsprinzip in seiner Reinform vorliegen würde, würde der Sport eine exakt vorhersagbare Welt abbilden – was wäre langweiliger? Ungerechtigkeiten und Kontingenzen, das Auseinanderdriften von Leistung und Erfolg, ist somit nicht nur Teil unserer Welt und unserer Geschichten, sondern auch Teil der durch das Sportgeschehen etablierten Welt und Teil der Geschichten, die der Sport erzählt. Das Wembley-Tor ist das beste Beispiel. Wenn der Sport somit nicht bloß die Geschichte von belohnten Leistungen, sondern auch von dem Auseinanderklaffen von Leistung und Erfolg erzählt, mithin dramatische Geschichten, dann stellt sich die Frage, was ihn dann eigentlich von dem Drama des alltäglichen Lebens unterscheidet? M. E. sind hier zwei Punkte zu nennen: Zum einen sind die Ungerechtigkeiten des Sports andere als die im alltäglichen Leben. Zum anderen ist das sportliche Geschehen – als ein Spiel (vgl. die Punkte (a) und (b)) – ausgezeichnet durch Zweckfreiheit und Scheinhaftigkeit. So wie – aufgrund der im Sportgeschehen waltenden Zweckfreiheit – die Leistungen innerhalb des Sportgeschehens keine Bedeutung über das Sportgeschehen hinaus haben (derjenige der auf einer 400-Meter-Bahn an einem 400-Meter-Lauf teilnimmt, kommt da an, wo er losgelaufen ist), haben auch die „Ungerechtigkeiten“ keine Bedeutung außerhalb des sportlichen Geschehens. Auch wenn ich im sportlichen Wettkampf drei Fehlstarts hingelegt habe und damit vom Wettkampf ausgeschlossen werde, verändert sich damit nichts außerhalb des sportlichen Geschehens, der Pfostenschuss hat nach Abpfiff keine Bedeutung mehr. Die im Sportgeschehen etablierte Welt ist nicht die eigentliche Welt und der Sportler weiß dies auch. Insofern kann hier der Umgang mit Unverfügbarem und Ungerechten eingeübt werden. Insofern ist der Sport Ethos bildend. (6) Die von Simon Johnen aufgeworfene Frage nach der Verschiebung vom Leistungs- zum Erfolgsprinzip im sportlichen Geschehen bleibt virulent. Allerdings muss m. E. in Rechnung gestellt werden, dass das Sportgeschehen – auch in seiner Idealgestalt! – ein Auseinanderdriften von Leistung und Erfolg kennt, ja um der Dramatik willen geradezu fordert. In welcher Weise werden aber die spezifischen Geschichten von Leistung und Erfolg, die der Sport erzählt, einer Transformation unterzogen?

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L ITERATUR Huizinga, Johan (1944). Homo ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelements der Kultur. Basel: Burg-Verl. Kant, Immanuel (1923). Über Pädagogik. In ders., Werke (Hrsg. v. der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften), Bd. IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik. Berlin, Leizpig: Georg Reimer. Roth, Michael (2002). Sinn und Geschmack fürs Endliche. Überlegungen zur Lust an der Schöpfung und der Freude am Spiel. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Roth, Michael (2011). Sport und Alltag. Ethische Überlegungen zum Leistungsprinzip. Deutsches Pfarrerblatt, 111 (8), 424–426. Scheuerl, Hans (1979). Das Spiel. Untersuchungen über das Wesen des Spiels, seine pädagogischen Möglichkeiten und Grenzen. Weinheim, Basel: Beltz.

Natur und Leben aus moderner Sicht Die gesellschaftliche Stellung naturwissenschaftlichen Wissens am Beispiel der Biologie in der Theorie Mediale Moderne J ANINE B ÖCKELMANN

In der spätbürgerlichen Gesellschaft bricht ihre Naturwüchsigkeit nochmals durch, als Biologismus und schließlich Rassentheorie. [...] Natur, einmal mit Sinn ausstaffiert, setzt sich anstelle jener Möglichkeit, auf welche die Konstruktion des intelligiblen Charakters hinauswollte. (Adorno 1997, S. 291)

S ELBSTZWECK P RINZIPIEN

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ZWEI MODERNE

Leistung ist ein Schlüsselbegriff moderner Gesellschaft: Leistung führt zu Erfolg – so das bürgerliche Versprechen (siehe Beitrag Simon Johnen). Im Bereich des Sports ist zu differenzieren zwischen Leistung als Selbstzweck (Vergnügen an körperlicher Betätigung, Spüren des eigenen Körpers) und Leistung als Mittel zu einem Zweck (körperliche Betätigung zum Muskelaufbau, für die Gesundheit, um des Erfolges/ des Sieges willen). Im Falle des olympischen Sports als Prototyp des Sports der Moderne ist es ein Ziel des sportlichen Leistens, sportlich erfolgreich zu sein. Dies ist jedoch nicht das ausschließliche Ziel, denn der olympische Gedanke umfasst sowohl, dass eine erfolgreiche Teilnahme an den Spielen nur unter bestimmten Bedingungen − Fairness und Chancengleichheit − gewährleistet ist als auch, dass die sportliche Leistung um ihrer selbst willen erbracht wird. Der Erfolg ist das quasi beiläufig erzielte Ergebnis desjenigen, der die um ihrer selbst willen zu erbringende Leistung am besten erbracht hat und als

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Sieger hervorgeht. Neben dem Leistungsbegriff ist somit auch der Begriff des Selbstzwecks ein zentraler des Olympismus wie der Moderne insgesamt. So sind Bewegungskulturen der Gegenwart häufig nicht mehr so stark oder gar nicht mehr durch die Parameter des Leistungsvergleichs und des Sieges zu bestimmen. Joggen, moderne Tanzvariationen oder Skatebording beinhalten stark das Prinzip des Performativen, dem das Moment des Wettkampfes und Erfolgs hinzukommen kann oder auch nicht. Norbert Elias führt bereits die Entwicklung der englischen Fuchsjagd als Sport, der aus Selbstzweck, zum Vergnügen der Betreiber betrieben wird, an, mit dem Hinweis, dass dieses Jagen als Selbstzweck ein Kennzeichnen eines Entwicklungsschubes hin zu einer modernen Gesellschaft ist (vgl. Elias & Dunning, 2003). Durch die Begriffe des Selbstzwecks und der Leistung unter den Bedingungen von Chancengleichheit und Fairness unterscheiden sich die olympischen Spiele der Moderne von den antiken Spielen: sportlich geleistet wurde dort aus religiösen Gründen und ohne Chancengleichheit. Neben dem Sport als einem Feld moderner Gesellschaften finden sich die Begriffe von Leistung und Selbstzweck in weiteren Feldern wie z.B. der Erziehung und Bildung, der Kunst oder der Sozialpolitik. Auch im Umfeld der Biologie sind Leistung und Selbstzweck präsente Begriffe. Der Gegenstand der Biologie, die (belebte) Natur, ist nicht einfach gegeben, denn Natur ist keine empirische Tatsache, die wir unvermittelt in der Welt vorfinden und die dann einfach naturwissenschaftlich analysiert werden kann. Natur ist ein Begriff, und Begriffe bilden die Wirklichkeit nicht unmittelbar ab, sondern Wirklichkeit ist immer vermittelt durch Kategorien, die den Begriffen zu Grunde liegen. Diese Kategorien sind gesellschaftlicher Art, d.h. dass der Begriff der Natur gesellschaftstheoretisch formatiert ist (zur Formatierung von Begriffen vgl. Böckelmann, Johnen, Schürmann, 2013). Der Begriff Natur ist immer schon mit bestimmten Kategorien verfasst und wir beziehen uns auf Natur immer schon vermittelt durch diese Kategorien. Neben den für diesen Beitrag zentralen Kategorien der Naturwissenschaft und Politik gibt es z.B. auch noch die Vermittlung von Natur über die ökonomische Kategorie (die Pflege des Nutzgartens, die Patentierung von Saatgut, die Entwicklung von Autos mit geringem Energieverbrauch) oder die ästhetische Kategorie (die unberührte Natur zur Erquickung der Seele, das Macbook). Wir erfahren Natur immer nur in einem Prozess einer bestimmten theoretischen oder praktischen Bezugnahme auf sie und diese Bezugnahmen sind immer schon durch eine äußere Natur und durch technisch-kulturell geformte Natur konstituiert. Natur ist deshalb als Medium zu verstehen, jedoch nicht als anderen Medien vorgelagertes Medium, sondern gleichzeitig mit anderen Medien. Ebenso wie es bei der Sprache der Fall ist, sind wir zwar immer schon in Natur (und Sprache),

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aber gleich der Sprache und anderen Medien können wir uns trotz dieses immerschon-innerhalb-seins nur vermittelt – durch Begriffe – auf sie beziehen. „Jedes Verhalten zur Natur [ist] durch kulturelle Standards bestimmt. [...] Die Kriterien unserer Erkenntnis der Natur, auch wo es naturalistische sind, sind keine Kriterien der Natur. Nur unsere Maßstäbe können für uns Maßstab sein.“ (Seel, 1996, S. 13f., vgl. auch Hubig, 2006, S. 15). Natur ist darum auch in der Naturwissenschaft ein Begriff, der nicht ausschließlich durch die Naturwissenschaft selbst kategorial formatiert ist. Sondern in der naturwissenschaftlichen Konstitution von Natur bleiben immer Spuren des gesellschaftlich-kategorial formatierten Begriffs von Natur erhalten. Umgekehrt fließen Teile der naturwissenschaftlichen Kategorie der Natur in den von modernen Gesellschaften in Gebrauch genommenen Begriff der Natur ein. Ein zentraler, konstitutiver Aspekt der Begriffe Selbstzweck und Leistung ist der ihres teleologischen Gehaltes. Mit Beginn der klassischen Moderne lösen sich die bis dato vorherrschenden dualen gesellschaftlichen Verhältnisse auf zugunsten trialer, medial vermittelter Verhältnisse. Das die duale Struktur organisierende Moment der Kirche bzw. christlichen Weltanschauung wird in der triadischen Gesellschaftsordnung der Moderne insgesamt zu einem gesellschaftlichen Teilbereich unter anderen (vgl. Luhmann, 1987). Im Zuge dieser Ausdifferenzierung bleiben Aspekte oder mindestens Spuren religiöser Weltanschauung auch in anderen Teilbereichen außerhalb des explizit religiös-kirchlichen erhalten. So ist in der Moderne nicht mehr Gott Ursache und Ziel alles Lebendigen, sondern das Lebendige hat sein Ziel in sich selbst, es ist sich Selbstzweck. Die Moderne insgesamt kommt, das soll dieser Beitrag prototypisch anhand der Naturwissenschaft Biologie zeigen, nicht ohne die Annahme zielgerichteter und damit sinnstiftender Entwicklung aus.

N ATURWISSENSCHAFTEN : D ER E INFLUSS AUF DIE SICH ENTWICKELNDE B IOLOGIE

DER

P HYSIK

In der Renaissance bilden sich Theorien heraus, die wesentlich zum Entstehen moderner Naturwissenschaften beitragen. Im Zuge der Einsicht in eine heliozentrische Struktur des Weltalls können Mensch, Natur und Kosmos herausgelöst aus einem rein religiösen Referenzsystem betrachtet werden. Naturforschung wird (vor allem durch Newton) wissenschaftlich, indem die Bewegung von Natur durch das Verfahren der Messung und des dadurch möglichen Vergleichs von Zuständen von Naturkörpern, theoretisch zugerichtet wird. In der Neuzeit ist der Prozess des geistigen Umbruchs von Substanzdenken auf Funktionsdenken (und

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damit eine radikale Umstellung von Ontologie) abgeschlossen. Es geht um die „kategoriale [...] Fassung substantivierten Verhaltens“ (statt der antiken Fassung substantivierter Eigenschaften): das Wirken der Gegenstände ist nunmehr ihr Sein (Wahsner, 1998, S. 13). Natur wird in der Naturwissenschaft, vor allem im Sinne der Physik, als (messbare) Bewegung bestimmt. Dadurch rückt die wissenschaftlich messbar gemachte Bewegung, verstanden als Veränderung bestimmter Messgrößen und deren Beziehung (und nicht mehr verstanden als bewegliche Gegenstände), ins Zentrum des Interesses (vgl. ebd., S. 13). Damit sind Erkenntnisse nicht mehr das Abbild der sinnlichen Wirklichkeit, sondern die Begriffe der Erkenntnisse erscheinen „als ‚Symbole‛ für Ordnungen, funktionale Verknüpfungen und Verhältnisse innerhalb der Wirklichkeit“ (ebd.; vgl. auch Wahsner, 2006, S. 32). Neben der Physik mit ihren Untersuchungen zu den Bewegungen unbelebter Körper gibt es im Übergang von der Neuzeit zur Moderne ein zunehmendes Interesse an der lebendigen Natur bzw. dem Phänomen des Lebens. Diese Entwicklung geschieht jedoch unter problematischen Voraussetzungen, denn das Vorbild dieser neuen Wissenschaften ist die Bewegungslehre der Mechanik. Diese wird in der Aufklärung kulturgeschichtlich fehlgedeutet als Prinzip des Mechanizismus, dass das Gravitationsgesetz als das eine Prinzip (anstelle des Schöpfergottes) ausgibt und somit einen naturwissenschaftlichen Begriff mit Empirie gleichsetzt. „Es wird etwas, was einer spezifischen Wissenschaft entstammt, einer Wissenschaft, die die Welt unter die Form des Objekts fassen muß, ausgedehnt auf die Welt als Ganzes. Somit wird das Ganze als Objekt gefasst.“ (ebd., S. 38) Des Weiteren ist Physik diejenige Wissenschaft, die durch Messung Bewegung fasst, jedoch Entwicklung (z.B. eines Lebewesens oder einer Population) nicht fassen kann. Natur jedoch entwickelt sich beobachtbar, die Phänomene der Natur wirken aufeinander ein und verändern sich entsprechend. Damit existieren reale Naturphänomene nie isoliert, sondern bedingen einander in einem Prozess. Reale Phänomene der Natur sind nichts Konstantes und bilden keine statischen Systeme. Reale Phänomene der Natur sind darum das Gegenteil physikalischer Gegenstände (vgl. Wahsner, 1993, S. 34). Die Wirklichkeit im Sinne des Zusammenhangs realer Naturphänomene kann durch Messung nicht gefasst werden, weil durch Messung nur voneinander getrennte Objekte bestimmt werden können. Physikalische Gesetze bilden darum nicht die Wirklichkeit, sondern sind auf spezifische Art mit der Wirklichkeit verbunden und zwar durch diejenige, die durch die Charakteristika der Messung bedingt ist. Physikalischem Messen „kommt ein eigener epistemologischer Status zu“ (ebd., S. 37) und innerhalb desselben sind Erkenntnisse über die sich entwickelnde Natur

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bzw. das Leben unzureichend, wenngleich es eine grundlegende Voraussetzung für Entwicklungstheorien ist. Grundlegend für die Entwicklung der Biologie bzw. die Konstituierung ihres Forschungsgegenstandes lebender Organismen sind das von Aristoteles eingeführte Charakteristikum der Selbstbewegung von Lebewesen sowie das Charakteristikums der Selbsterhaltung von Lebewesen, welches sich in der Renaissance (unter anderem durch Überlegungen von Paracelsus) ausgebildet hat. Wesentlich für die Entwicklung der Biologie jedoch sind die Überlegungen Kants zur belebten Natur in der Kritik der Urteilskraft. Zuvor werden Lebewesen − entsprechend dem mechanizistischen Weltbild − mit Maschinen verglichen, da beide über einen gegliederten Aufbau verfügen und ihre Leistung durch das Zusammenwirken ihrer Teile erbringen. Die Organisation wird das zentrale Bestimmungsmerkmal eines Lebewesens; ungeklärt bleibt hingegen die Abgrenzung des Lebewesens von der Maschine. Kant setzt hier an und weist den Lebewesen im Gegensatz zu Maschinen eine „bildende Kraft“ zu (Kant, 1790/93, S. 373f.). Für Kant wird ein Lebewesen nicht durch einen äußeren Eingriff hervorgebracht wie es bei Artefakten der Fall ist, sondern es ist ein „organisirtes und sich selbst organisirendes Wesen“ (ebd.). Kants Konzept einer Kosmogonie scheitert zwar, weil es (aufgrund seines Rahmens der Mechanik) Entwicklung nicht als Aktion zur Erhaltung des Systems, die zugleich eine Aktion zu seiner Veränderung ist, fassen kann (vgl. Wahsner, 1993, insb. S. 31-33). Dennoch ist seine Definition des Lebewesens grundlegend für die Forschungen der Physiologie und Entwicklung der Biologie in der Moderne, so dass schließlich das Bild des Lebewesens als Organismus im Sinne der Biologie empirisch fundiert wird (vgl. Toepfer, 2005, S. 162).

D IE B EGRIFFE L EBEN

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O RGANISMUS

Der Begriff Leben hat in der Biologie einen prekären Stellenwert. Aufgrund der „spontanen Zugänglichkeit des Bezeichneten“ sind die deskriptiven und normativen Konnotationen im (gesellschaftlichen) Vorverständnis des Begriffs eng verwoben, was in der Biologie eine eigenständige Definition von Leben erschwert (Toepfer, 2005b, S. 157f.). Der Begriff des Lebens gilt in der Biologie deshalb als ein vorausgesetzter Begriff, eine direkte Definition innerhalb der Biologie erfolgt zumeist nicht. Durchgesetzt hat sich zwar die auf Kant aufbauende Auffassung des Lebens, aber die charakterisierenden Merkmale −Selbstorganisation, Selbstbewegung und Selbsterhaltung sowie seit dem 19. Jahrhundert Stoffwechsel und Fortpflanzung – sind keine exklusiven Merkmale von Lebewesen.

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Sie können unbelebten System wie Kristallen ebenfalls zugeschrieben werden (vgl. Dawkins, 1987). Zumeist wird der Begriff Leben in der Biologie daher über Listen von Kriterien zu definieren versucht, dies jedoch geht einher mit dem Risiko, dass Leben als einheitlicher Gegenstand nicht mehr erfasst werden kann – ebenso wie die Physik Entwicklung nicht zu erfassen mag. In diesem Sinne spiegelt der Begriff Leben eine „reale Vagheit“, die sich im Kontinuum der Natur findet und ist als relativer Begriff zu fassen: nur im Vergleich mit etwas Unlebendigem ist Leben zu definieren (Toepfer, 2005b, S. 166). Der Begriff des Organismus ist neutraler in der Weise, dass er ein Begriff ist, der aus der sich entwickelnden Biologie selbst stammt und nicht in gleicher Weise allgemein in Gebrauch genommen ist und darum normativ weniger aufgeladen zu sein scheint. Die Biologie konzipiert daher Lebewesen als Organismen, als organisierte Systeme (vgl. Laubichler, 2010). Das Konzept organisierter Systeme ermöglicht das Erforschen von Entwicklung, da – anders als bei physikalischen Gegenständen − Naturgegenstände aus dem Naturprozess ausgegliedert werden und zwar indem sie als Einheiten sich wechselseitig bedingender Prozesse gefasst werden, die aufgrund ihrer Wechselseitigkeit ein geschlossenes System bilden. Die Wechselseitigkeit ist zugleich Bedingung und Bestimmung des jeweiligen Prozesses innerhalb des Systems. So ist das Herz die Komponente eines Organismus, weil die anderen aktiven Komponenten des Organismus von seiner Wirkung abhängen, ebenso ermöglichen die anderen Komponenten durch ihre Aktivität die Aktivität des Herzens. Innerhalb eines solchen Organismuskonzepts wird das Herz funktional bestimmt als Komponente eines Systems (= Organismus) (vgl. Toepfer, 2005b, S. 166f.). Da sich organisierte Systeme auch bei unbelebten Naturkörpern feststellen lassen, bedarf es allerdings auch für den Organismus-Begriff weiterer Kriterien zur Abgrenzung. Ein Kriterium ist dasjenige der Regulation: ein System besteht nicht nur, sondern es erhält sich, indem es Beziehungen zu seiner Umwelt unterhält (z.B. Ernährung). Die im Rahmen der Kybernetik entwickelten Modelle von Regulation und Steuerung ermöglichen die Beschreibung von Regulationsmechanismen im Prozess der Natur (vgl. Pickering, 2007; Bateson, 1981). Ein weiteres Kriterium ist dasjenige der Evolution: ein System behauptet sich gegenüber anderen Systemen, verändert sich dabei und wird komplexer – durch Fortpflanzung. Jede Theorie von Evolution setzt darum ein Konzept von Organismus voraus (vgl. Toepfer, 2005b, S. 167f.). Durch eine starke Konzentration auf Gene und Chromosomen und deren Evolution bleiben diese Konzepte jedoch innerhalb der Biologie meistens implizit bzw. werden durch ein vorrangiges Konzept von Evolution in den Hintergrund gestellt (vgl. Dawkins, 2010). Andere Theorien wie die Developmental Systems Theory (DST) versuchen, das Organismus-

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Konzept zu stärken, indem die Trennung von System (= Organismus) und Umwelt ganz aufgehoben wird zugunsten der Charakterisierung von OrganismusUmwelt-Systemen, in denen Genen eine Teilfunktion, jedoch keine privilegierte Funktion zukommt (vgl. Stotz, 2005). Um Leben, und das heißt immer auch Entwicklung, fassen zu können, ist die Biologie also bemüht, die aus dem Prozess der Natur herausgenommenen Einheiten weitest möglich zu erweitern, indem nicht mehrere Teile durch ihre wechselseitige Funktion zu einem System gefügt werden, sondern Interaktionen zwischen Systemen und ihrer Umwelt als Einheiten gefasst werden. Zugrunde liegt diesen Konzepten jedoch immer die Annahme einer Selbstbezüglichkeit von organisierten Systemen.

T ELEOLOGIE Diese Selbstbezüglichkeit in den Konzepten des Organismus (wie auch in Konzepten der Population), z.B. die Beschreibung von Ernährung oder Fortpflanzung als zielgerichtetes Verhalten, offenbart die Annahme, dass das Lebendige als Selbstzweck gilt und zielgerichtet ist (vgl. Toepfer, 2005a, S. 39). Dieser Selbstzweck ist in gewisser Hinsicht von außen an das Lebewesen, den Organismus heran getragen, denn das Leben eines Lebewesens ist dem Beobachter in seinen Zwecken entzogen: das eigene Leben ebenso wie das anderer Lebewesen mit ihren eigenen Zwecken. Damit tritt das Problem des teleologischen Anteils biologischer Konzepte auf: Auf der einen Seite ist ein Selbstzweck kein Naturgegenstand, sondern beschreibt einen reflexiven Akt menschlichen Bewusstseins: er impliziert die Bezugnahme auf ein Selbst. Auf der anderen Seite ist aber genau diese Selbstbezüglichkeit als zielgerichtetes Verhalten das, was Lebewesen von leblosen Naturgegenständen unterscheidet. Auch wenn ein Organismus sich offensichtlich und real beobachtbar selbst organisiert, erhält und fortpflanzt − das Konzept des Selbstzwecks beinhaltet damit gesellschaftstheoretische Vorannahmen zu Leben und seinem Zweck. Wichtig für die Diskussion des teleologischen Gehalts biologischer Begriffe ist eine genaue Bestimmung, um welche Art der Teleologie es sich handelt: für die Biologie ist eine spezielle, innere Teleologie von Bedeutung. Im Gegensatz zu einer universalen Teleologie (das Universum ist auf ein Ziel hin ausgerichtet) weist eine spezielle Teleologie nur bestimmten Naturkörpern eine Zweckmäßigkeit zu. Und im Gegensatz zu einer äußeren Teleologie (die den Naturkörper als Ganzem als Zweck für etwas anderes fasst) weist eine innere Teleologie den Teilen eines Naturkörpers Zwecke zu. Des Weiteren bezieht sich der teleologische Anteil im biologischen Konzept des Organismus auf die Zweckmäßigkeit des

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Naturgegenstandes. Anders als bei einer Zwecksetzung als mentaler Antizipation eines zukünftigen Zustandes wird bei einer Zweckmäßigkeit das Zukünftige genau nicht aufgrund mentaler Eigenarten zugeschrieben (vgl. Toepfer, 2005a, S. 36). Systeme wie Organe oder Zellen haben keine inneren Zustände, die zu intentionalem Handeln führen, dennoch kommt ihnen eine Zweckmäßigkeit zu. Die Biologie schreibt denjenigen belebten Naturgegenständen Zwecke zu, denen ein Wille oder eine Absicht fehlen (vgl. Zunke, 2014, S. 11). Um die Rede von Funktionen und Zweckmäßigkeiten in der Biologie von der Teleologie zweckgeleiteten Handelns abzugrenzen, haben Biologen den Terminus Teleonomie eingeführt (vgl. Toepfer, 2005a, S. 41). Bereits Kant, der als erster das Prinzip der Selbstbezüglichkeit als zentrales Unterscheidungsmerkmal der belebten von der unbelebten Natur ausweist, führt den Begriff des Zwecks nicht als reale Entität ein, die Naturprozesse leitet, sondern „als eine Idee, die in der Reflexion gewonnen wird und der Beurteilung einer besonderen Klasse von Gegenständen dient“ (ebd., S. 46). Die teleologische Beurteilung bestimmter Gefüge von Kausalprozessen ist unbedingt von der Grundlage dieser Gefüge, der Bestimmung von Ursache-Wirkungs-Ketten, zu unterscheiden. Der Zweckbegriff bildet daher die Voraussetzung für die Erkenntnis eines Naturgegenstandes als Organismus, denn erst durch den Zweck konstituiert sich die Einheit ‚Organismus‛, die sich durch die Wechselseitigkeit ihrer Teile auf sich selbst bezieht. Für Toepfer ist die Teleologie in der Biologie daher eine Methode, durch die ein Gegenstand gegeben wird, der anschließend durch kausale Bestimmungen erklärt wird: „Ohne die teleologische Reflexion würde die kausale Erklärung der Organismen über gar keinen spezifischen Gegenstand verfügen.“ (ebd., S. 46) Wie den durch Messung gewonnen physikalischen Gegenständen ihr eigener epistemologischer Status zukommt, so haben auch die durch die ‚biologische Teleologie‛ konstituierten Prozesse der Natur ihren eigenen epistemologischen Status.

D IE E VOLUTIONSTHEORIE D ARWINS Durch die Evolutionstheorie Darwins erhält das ‚restteleologische‛ Konzept des Organismus als Selbstzweck für die Mehrzahl der Biologen eine wissenschaftliche Fundierung (vgl. ebd., S. 41-45). Zunächst wird durch Darwins Theorie jeder universalen, äußeren Teleologie eine Absage erteilt. Mit seinen Überlegungen zur Entwicklung der Arten überführt Darwin die fortschrittliche moderne Weltanschauung, die Natur ohne Schöpfergott zu denken, und zwar ohne die Art Schöpfergott, welcher alle jemals existierenden Wesen erschaffen hat, in die Naturwissenschaft. Der zweite Schritt zur Fundierung ist die von Darwin konsta-

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tierte zufällige Variation und Auslese der Organismen via Umweltangepasstheit. Organismen bzw. Prozesse der belebten Natur sind nicht willentlich gestaltet, sondern zweckmäßig organisiert im Sinne einer bestmöglichen Anpassung an die Umwelt zur Selbsterhaltung und Fortpflanzung. Mit dem Wechselverhältnis von Variation und Selektion ist damit ein natürlicher Mechanismus für Zweckmäßigkeit und Entwicklung benannt: Die über Generationen greifende Formung durch die Selektion ist die Zweckmäßigkeit eines Prozesses. Darwin kommt zu Beschreibung der Entwicklung von Arten durch natürliche Auslese durch den methodischen Trick der Konstituierung eines Modells, dessen Ergebnisse dann auf die reale Natur als allgemeine Prinzipien übertragen werden. In Folge seiner Beobachtungen auf den Galapagosinseln über die spezifische Anpassung verwandter Arten an ihre jeweilige Umwelt sucht Darwin gezielt nach einem verallgemeinerbaren Prinzip zur Erfassung des Mechanismus der Ausdifferenzierung der Arten. Dieses Prinzip entdeckt er in der Vogelzüchtung, wo es Züchtern gelingt, signifikante (gewünschte) Veränderungen über einige Generationen zu erzeugen, in dem Züchter eine gezielte Auslese betreiben (vgl. Bowler, 2010, S. 91). Darwins konstatierter Evolutionsmechanismus der natürlichen Auslese ist also nicht empirisch beobachtet, sondern via Analogieschluss aus dem Modell der künstlichen Zuchtwahl abgeleitet. Durch diesen Dreh können die Konzepte der Züchtung ohne Züchter (Schöpfung ohne Schöpfer) und damit des Selbstzwecks von Organismen gedacht werden (kritisch zur naturwissenschaftliche legitimierten Gleichwertigkeit von Modell und Original z.B. Zunke, 2014, Engster & Schröder, 2014). Darwins Evolutionstheorie baut damit zugleich auf einem Teil-Konzept selbstbezüglicher Organismen auf wie es dieses wissenschaftlich zu einem Teil erklärt: Die Prinzipien von Selbstorganisation und Regulation müssen dem Prinzip der Fortpflanzung voraus gehen, da sich die Ausgerichtetheit der Organismen auf Fortpflanzung aus ihrer Reguliertheit ergibt. Und die Evolutionstheorie formuliert das Prinzip der Veränderung von Systemen (Organismen) durch Fortpflanzung (vgl. Toepfer, 2005b, S. 168). Der zu Darwins Zeit neue und provokante Aspekt seiner Evolutionstheorie ist die Zufälligkeit nach einem try-error-Prinzip: diejenigen Eigenschaften unter vielen, die in einer lokalen Umwelt nützlich sind, sichern denjenigen, die zufällig über diese nützlichen Eigenschaften verfügen. Dieses von Herbert Spencer als „survival of the fittest“ bezeichnete Prinzip unterscheidet Darwin von anderen Evolutionstheoretikern wie Lamarck, der von einer Vererbung nützlicher Eigenschaften ausgeht (vgl. Bowler, 2010). In seiner Entwicklung einer Evolutionstheorie ist Darwin vom Geist des ökonomischen Liberalismus und vom Utilitarismus und den sich in der Folge veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen

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in England beeinflusst. Durch die Umstellung auf republikanische Staatsverhältnisse gibt es weder personale Herrscher noch Abhängigkeitsverhältnisse im Sinne der Leibeigenschaft. Stattdessen konkurrieren (formal) freie und gleiche Bürger um gesellschaftliche Positionen. Neben Smiths Theorie der ‚Invisible Hand‛ wird zu Darwins Zeit im industriellen England auch die Theorie von Ricardo diskutiert, in der dieser das ‚freie Spiel der Kräfte‛ in der Marktwirtschaft als einen spontan ordnungsschaffenden Faktor sieht. Explizit Bezug nimmt Darwin auf die bevölkerungspolitischen Überlegungen von Malthus (die Menschen neigen dazu, mehr Nachkommen zu zeugen als Nahrung vorhanden ist, was unweigerlich zu Armut und Tod führt); dessen formuliertes Prinzip des ‚struggle for life‛ findet zentralen Eingang in Darwins Entstehung der Arten von 1859 (vgl. Zunke, 2014, S. 20; Rheinberger, 2007; Bowler, 2010, S. 91). Dieses ‚struggle for life‛ bedeutet ebenso wie ‚survial of the fittest‛ im Licht des Prinzips der Leistung nichts anderes als Leistung als Selbstzweck (und eben nicht mehr für einen Fremdzeck: Schöpfung). 1 Auf indirektem Weg jedoch −im Feld biologisch adaptierter Begründungen gesellschaftlicher Phänomene (nur vereinzelt im Feld der Biologie selbst) – wird dem Prinzip der Reduktion der Leistung als Mittel der Weg geebnet.

(S OZIAL -)D ARWINISMUS Im Kontext der Biologie selbst, so lange die Konzepte des ‚struggle for life‛ und ‚survial of the fittest‛ Teile des Modells der Evolutionstheorie sind und im biologischen Kontext ihren epistemologischen Status haben, der den rein deskriptiven Aspekt der Konzepte benennt, beschreiben die Konzepte Leistungen als Selbstzweck. Zu Prinzipien der Leistung als Mittel werden die Konzepte, wenn sie normativ aufgeladen werden. Dies geschieht in dem Moment, in dem Aspekte von Darwins Evolutionstheorie ihren im Sinne der Biologie eigenen epistemologischen Status erweitern. Dies geschieht über Analogie-Schlüsse: Wie Darwin mit den Konzepten des ‚struggle for life‛ und ‚survival of the fittest‛ gesellschaftstheoretische Annahmen auf den Bereich des Naturprozesses übertragen hat, wird auch das Modell der Evolutionstheorie Darwins bzw. bestimmte Aspekte derselben auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen (vgl. Sarasin,

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Dass auch dieser Selbstzweck letztlich als Fremdzweck interpretiert werden kann, weil der Organismus in seiner Selbstbezüglichkeit das Fortbestehen des Gesamtsystems, dessen Teil er ist, mit gewährleistet, veranschaulicht die literarische Figur des Bartleby von Melville (vgl. z.B. Deleuze, 1994; Agamben, 1998).

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2009). Darwins Theorie ist dabei ein wesentlicher Faktor dafür, dass solche Übertragungen in der Moderne wissenschaftlich legitim werden. Denn durch Darwins Abstammungslehre fällt die These vom Menschen als Krone der Schöpfung, der Mensch wird nun definiert als ein Tier neben anderen. Im Zuge dieser Angleichungen von Mensch und Tier bzw. natürlichen und gesellschaftlichen Mechanismen wird Gesellschaft mehr und mehr als Naturphänomen interpretiert. So strebt auch die sich entwickelnde Soziologie eine Anbindung an die Biologie an. Auguste Comte begründet eine positivistische Soziologie auf dem Boden der Biologie: „Wenn aber die Soziologie erst von dem positiven Geiste geleitet sein wird, wird man erkennen, wie nützlich die Vergleichung des Menschen mit den Thieren ist, und namentlich die mit den höheren Säugetieren; insbesondere dann, wenn die gesellschaftlichen Thiere, die man jetzt noch so wenig kennt, besser beobachtet sein werden.“ (Comte, 1883, S. 86; vgl. auch Lepenies, 1978, S. 174). In der Folge Comtes entwickelt die Soziologie ihren Gegenstand, die menschlichen Verhältnisse, indem sie diese formalisiert: sie abstrahiert die Formen vom Inhalt menschlicher Interaktion und macht verschiedene Handlungen so messbar und miteinander vergleichbar. Dieses wissenschaftliche Modell der Formen menschlicher Verhältnisse neigt jedoch dazu, ein enthistorisiertes Modell zu sein (vgl. Maus, 1981, S. 438 f.) Der Akt der Formalisierung menschlicher Interaktion ermöglicht einen Vergleich von Interaktion auch über die Grenzen des Gattungswesens Mensch hinaus, was es der Soziologie ermöglicht, an die Biologie anzuknüpfen. Die Analogien aus sozioökonomischen und evolutionsbiologischen Modellen werden so wechselseitig zu Erklärungsmustern der jeweiligen Wissenschaft. „Die Gesellschaft wird hierüber gleich zweifach zu einem Naturding – zunächst, weil ökonomische Prozesse als Analogon zur Erklärung von Evolutionsprozessen herangezogen werden, diese verstärkt sich im Resultat, wo dann umgekehrt gesellschaftliche Prozesse als natürliche Produkte der Evolutionsbewegung erklärt werden.“ (Zunke, 2014, S. 26) Menschliches Verhalten bzw. seine Organisation als Gesellschaft kann so naturhaft dargestellt werden; die Unterscheidung von Natur und Gesellschaft kann durch diesen Analogieschluss unterminiert werden. Konkret sind es drei Aspekte der Theorie Darwins, die in der Moderne auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen werden: 1. das Prinzip von Variation/ Selektion und das sich daran 2. anschließende Prinzip der fortschreitenden Entwicklung, nicht nur im Sinne der Ausdifferenzierung und optimalen Anpassung der Arten an ihre Umgebung, sondern auch der höheren Entwicklung der Organismen. Sowie 3. das sich an das Prinzip der Selektion anschließende Prinzip des „survial of the fittest“. Das Prinzip der fortschreitenden Entwicklung beruht auf einer bestimmten Interpretation Darwins. Denn On the Origin of species endet

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zwar mit der Aussage, dass am Ende von Selektionsprozessen das schrittweise Erscheinen höherer Lebensweisen steht. Jedoch gibt es für Darwin keine Notwendigkeit des Fortschritts, denn wenn niedere Arten optimal an ihre stabile Umwelt angepasst sind, gibt es keine Notwendigkeit, sich zu verändern. Bowles vermutet, dass das Moment der Zweckgerichtetheit, das Darwin am Ende seines Buches aufnimmt, ein Eingeständnis an seinen Zeitgeist ist, um die radikale Absage an ein sinnstiftendes Ziel der Evolution abzumildern (vgl. Bowles, 2010, S. 91-94). Eine erste Welle der Übertragung von Darwins Evolutionstheorie auf gesellschaftliche Zusammenhänge findet ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch Sozialutopisten und die Arbeiterbewegung statt. Im immer fortschreitenden Prozess der Evolution ist auch der Mensch und seine Gesellschaftsform ein Teil des Systems und muss sich folglich auch die Gesellschaft diesem Prinzip, als einer Art Naturgesetz entsprechend, immer höher entwickeln. Zusätzlich zu dieser Perspektive unaufhaltsamen sozialen Fortschritts sehen Marxisten mit Darwins Theorie die Möglichkeit einer „universalen Verwissenschaftlichung“ von Gesellschaft und Geschichte gegeben, die Gesellschaft naturwissenschaftlich erklärbar und damit rational steuerbar macht (Rheinberger, 2007, S. 42). Zur Ausbildung eines Sozialdarwinismus im engeren Sinn kommt es in zwei Phasen. In einer ersten Phase vor 1900 erstarken Positionen des ökonomischen Liberalismus, die sich auf das Schlagwort des „Recht des Stärkeren“ (des transformierten ‚survival of the fittest‛) berufen, um dadurch die von den sozialen Bewegungen geforderten sozialstaatlichen Maßnahmen abzuwehren. Gleichzeitig bildet sich im Rahmen des Diskurses um den Kampf ums Dasein aus rassentheoretischen, anthropologischen und zuchtwahltheoretischen Komponenten das Konzept eines ‚Volkskörpers‛ heraus. In der Folge wird die Körperhygiene, seit der Aufklärung als individuelle Aufgabe verstanden, zur ‚Rassenhygiene‛ umdefiniert (vgl. Rheinberger, 2007, S. 43; Sarasin, 2001; Weingart, Kroll & Bayertz, 1992). In einer zweiten Phase werden im Zuge von Eugenik-Diskursen zunehmend staatliche Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung einer „wie immer definierten biologischen Hochwertigkeit der Bevölkerung“ gefordert und mit der Hinderung als minderwertig betrachteter Menschen an der Fortpflanzung werden diese Forderungen umgesetzt (Rheinberger, 2007, S. 43). Das darwinsche Prinzip der natürlichen Auslese hat sich hier umgekehrt zu einem Prinzip der künstlichen Zuchtwahl. Dem Glauben an den evolutionär bedingten und sich daher natürlich einstellenden Fortschritt der Gesellschaft wird damit die Auffassung entgegen gestellt, dass künstlich in den Prozess der Evolution eingegriffen werden müsse, um evolutiven bzw. gesellschaftlichen Fortschritt zu erzeugen. Das Prinzip der Leistung als Selbstzweck ist dadurch umgedeutet zu einem Prinzip der Leistung als Mittel zum Zweck. Eine Existenzberechtigung haben im Kon-

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zept des Sozialdarwinismus nur jene, die bestimmte Kriterien erfüllen, Leistungen erbringen: Körperliche Gesundheit, korrekte ‚Rassenzugehörigkeit‛, etc. (vgl. Bayertz, 1982). Sozialdarwinismus steht daher in krassem Widerspruch zu den modernen Prinzipien der Gleichheit aller durch ihren Status als Rechtspersonen sowie des Prinzips der Würde der Person, die das Leben der Person als Selbstzweck definiert, fern jeder Leistungserbringung zur Legitimation eines modernen Rechtsstatus. Sozialdarwinismus hat explizit vorgeführt, was implizit im Leistungsversprechen der Moderne insgesamt enthalten sein kann: das Moment sozialer Kälte, wenn der Selbstzweck einer Person interpretiert wird als Appell, sich um sich selbst zu kümmern, für sich zu sorgen und zwar zur Erhaltung des Staates oder Entlastung der Gemeinschaft (vgl. Foucault, 1989 u. 2004). Würde der Person ist daher nur gegeben, wenn der Selbstzweck der Person als Zweckfreiheit bestimmt wird.

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Die Medialität des Agon. Sport und Spiel in der klassischen Antike A NDREAS H ETZEL

Als Agon wird im antiken Griechenland ein spielerischer, öffentlich inszenierter Wettstreit bezeichnet. Autoren wie Jacob Burckhardt (2003), Friedrich Nietzsche (1999a u. 2010) und Johan Huizinga (1956) sehen in diesem Wettstreit die organisierende Mitte des gesamten gesellschaftlichen Lebens der klassischen Polis. Während Burckhardt den Agon allerdings nur als zeitlich begrenztes Phänomen des Übergangs von der Archaik zur Klassik begreift, interpretiert Nietzsche ihn als Charakteristikum der gesamten vorchristlichen Antike. Huizinga schließlich erweitert ihn zu einem universalen Lebensprinzip, das für alle Kulturen mit Ausnahme derjenigen der westlichen Moderne prägend sei. In Geschichten des modernen Sports findet sich immer wieder die These, dass der Agon als das kulturelle Vorbild des Breiten- sowie insbesondere des Leistungssports der Moderne gelten könne (vgl. Gutsfeld & Lehmann, 2013), ja, dass der Agon im Sport fortlebe. In meinem Beitrag möchte ich, ausgehend von Johan Huizingas 1938 erschienener Studie Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, diese Deutung des Sports als Agon in Frage stellen. Dem Performiertwerden des Agons scheint mir eine andere Bedeutung zuzukommen als der medialen Inszenierung des modernen Spitzensports. Meine zentralen Fragen lauten also: Was bedeutet es für den antiken Wettstreit, dass er sich an ein Publikum adressiert? In welchen Medien wird er dargestellt? Welche kommunikativen und ästhetischen Effekte gehen vom Agon aus? Und schließlich: Worin bestehen Gemeinsamkeiten und Differenzen zu neuzeitlichen Sportinszenierungen? Zur Beantwortung dieser Fragen gehe in vier Schritten vor. In einem ersten Teil beschreibe ich den Agon in seiner allgemeinen Bedeutung für die antike Kultur (1). Ein zweiter Abschnitt klärt seine performative Struktur (2). Im Anschluss diskutiere ich Konvergenzen und Divergenzen von antikem Agon und modernem Sport (3). Abschließend argumentiere ich dafür, antike Körpertechni-

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ken nicht mit dem modernen Begriff des Sports zu belegen, sondern als Teil einer kulturellen Praxis der Selbststeigerung zu begreifen, die sich nicht in ihrem Inszeniertwerden erschöpft (4).

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ANTIKE

AGON

Der Agon, der sein Urbild im von Homer geschilderten Kampf zwischen Hektor und Achill hat, findet seinen öffentlichen Ausdruck in einer breiten Wettkampfkultur, die vom Ring- und Faustkampf über Leichtathletik, Wagenrennen und Regatten, also von Disziplinen, die wir heute dem Sport zurechnen würden, bis hin zu Dichter-, Tragöden-, Redner- und Philosophenkämpfen, Wettkämpfen im Rätsellösen, Musikwettbewerben sowie Schönheitswettstreiten von Männern reicht. Als Agone wurden sogar Wettessen und Wetttrinken (teilweise mit Todesfolge) ausgerichtet bzw. bezeichnet. Egal was die Griechen taten, es schien immer auch Teil eines Wettbewerbs zu sein, eines Sich-Messens und eines Übersich-Hinauswachsens in der Auseinandersetzung. Sich dem Agon aus Angst vor einer möglichen Niederlage nicht zu stellen, gilt den Griechen als Laster der Überlebenssucht (philopsychía vgl. etwa Platon, 2004: 37 c), die sie als eine Art Todsünde strikt ablehnen. In den zentralen panhellenischen Festen wie den Olympischen Spielen werden die Agone öffentlich inszeniert. Die klassische Kultur führt sich hier ihre eigenen Lebensprinzipien vor Augen und feiert sie. Wie alle zentralen Lebensprinzipien gilt den Griechen auch Agon als Gott, der an speziellen Altären verehrt wird (vgl. Pausanias, 1986, V 26, 3). Welcher Stellenwert dem Agon im Leben der antiken Gesellschaft zukommt, wird auch deutlich, wenn wir auf die Ruinen griechischer Städte wie Athen schauen. Ins Auge springt dabei zunächst der Gegensatz von Agora und Akropolis, von politischem und religiösem Zentrum. Doch noch ein weiterer Komplex von Gebäuden ist uns vertraut, die weder eine eindeutig politische noch eine religiöse Funktion erfüllt zu haben scheinen: die den Agonen gewidmeten Stadien, Arenen und Theater, die bis hin zum römischen Kolosseum das Bild der antiken Stadt prägen. Die Griechen kennen verschiedene Klassifikationssysteme von Agonen. Als Hauptformen werden zunächst der gymnische (auf körperliche Disziplinen wie Ringen, Laufen, Diskuswerfen etc. bezogene), der hippische (Pferde- und Wagenrennen) und der musische (Oden, Tragödien, Musik und Tanz) Agon unterschieden, also Wettkämpfe, die jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Wirklichkeitsbereiche betreffen; eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit besteht hinsichtlich der Fähigkeiten, die sich im Agon ausbilden und bewähren sollen,

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also zwischen Agonen „der Kraft, der Weisheit und dem Reichtum“ (Huizinga, 1956, S. 76). Eine dritte Möglichkeit der Klassifikation bezieht sich auf den zu erringenden Preis: Bei den Kranzagonen erhalten die Sieger, wie der Name bereits andeutet, einen Siegerkranz und damit eine bestimmte Form von öffentlicher Anerkennung und Ehre. Davon unterscheiden sich die Preisagone oder Geldspiele, die meist von einem Sponsor gestiftet wurden. Daneben etablierte sich noch eine Mischform, die Kranz-Preisagone, die aus dem Versuch hervorgingen, ehemalige Preisagone durch die zusätzliche Verleihung eines Kranzes aufzuwerten. Eine vierte Möglichkeit der Unterscheidung schließlich besteht hinsichtlich des Anlasses: so kann es sich beim Agon um einen Herausforderungs-, einen Hochzeits- oder ein Festagon handeln. In der Forschungsliteratur zu Anlässen des Agon wird immer wieder die Bedeutung des Totenagons, einer Sonderform des Festagons, diskutiert, so etwa vom Altphilologen Karl Meuli, dem zufolge der Agon anfänglich nur im Rahmen von Bestattungsritualen zur Ehrung von Verstorbenen inszeniert worden sei (vgl. Meuli, 1968). Der Agon erscheint in dieser Perspektive als Transformation des älteren Blutopfers, mit dem der Geist des Toten besänftigt werden sollte. Dieser „Brauch wandelte sich“, wie Robert Freidank im Anschluss an Meuli schreibt, „im Laufe der Zeit von dem tatsächlichen Tod durch Opferung oder Zweikampf, über eine Niederlage, bei der Blut fließen musste, bis hin zum kleinen Tod, also einem reinen Unterliegen von einem der beiden Kämpfer ohne zwingenden Blutverlust der Kontrahenten“ (Freidank, 2009, S. 24). An diesen Ursprungsmythos des Agon, der den Wettstreit als Ergebnis einer Transformation zerstörerischer Gewalt in eine Art von symbolisch abgefederter Gewalt interpretiert, knüpft heute noch Gunter Gebauer (1987) an, wenn er die von ihm analysierten „Feste des Sports“ im Anschluss an René Girard als schauspielhafte Aufführung einer mimetischen Gewalt interpretiert, in der dem Unterlegenen die Rolle des zu opfernden Sündenbocks zukommt. Auf Gebauers These werde ich weiter unten in kritischer Hinsicht zurückkommen. Im gymnischen Agon, der immer wieder als Vorläufer des modernen Sports angeführt wird, treten nicht nur einzelne Athleten in einen Wettstreit, sondern ganze Polis-Gemeinden, die die Athleten als Stellvertreter entsenden. Vor allem die vier Kranzagone der Spiele in Olympia, Delphi, Korinth und Nemea dienen diesem Wettstreit der Städte und werden somit zu einer der wichtigsten panhellenischen Institutionen. Die Spiele in Olympia und Delphi finden alle vier Jahre statt, diejenigen in Korinth und Nemea alle zwei Jahre. Der größte mögliche Erfolg, den ein Athlet erringen kann, besteht darin, innerhalb einer Periode bei allen vier panhellenischen Spielen den Sieg in seiner Disziplin zu erringen. Athleten, denen dies gelingt, werden Periodoniken genannt, ein Titel der im Verlaufe

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mehrerer Jahrhunderte (die Olympischen Spiele wurden, mit kurzen Unterbrechungen, von 776 v. Chr. bis 393 n. Chr. ausgetragen) nur 46-mal vergeben wird. Der Ringer Milon von Kroton (ca. 555-510 v. Chr.) führt dabei die ewige Bestenliste mit 6 Periodoniken-Titeln an. Wie bereits angedeutet, ist der Agon weit mehr als nur ein sportlicher Wettkampf; in ihm verdichtet und spiegelt sich vielmehr auch ein politisches Grundprinzip. Der französische Historiker Jean-Pierre Vernant führt die Geburt des griechischen Denkens und der griechischen Kultur insgesamt auf die Herausbildung eines agonalen Bewusstseins des Politischen zurück, welches mit der Krise der minoisch geprägten Palast-Ökonomie zu Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. entsteht. In der neuen Polis konzentriert sich die Macht nicht länger auf einen Fürsten, der die den Palast umgebende Stadt als Eigentum behandelt. Eine Schicht von Bürgern beginnt sich zu emanzipieren und gestaltet die Angelegenheiten des Gemeinwesens, spätestens seit den Reformen Solons, in öffentlich geführten Auseinandersetzungen. Politik nimmt hier „die Form des agón an: eines Redeturniers, einer mit Argumenten geschlagenen Schlacht“ (Vernant 1982: 42). Das gemeinsame Durchleben und Gestalten der gemeinsamen Angelegenheiten verknüpft sich den Griechen mit einer agonal verfassten öffentlichen Debatte, die sie seit Kleisthenes und Demosthenes mit dem Substantiv Demokratie belegen. Jede politische Meinung steht hier für eine partikulare Position in einem Kräftefeld, das von keiner Position aus als Ganzes überblickt werden kann. Der Konflikt gilt, wie Heraklit schreiben sollte, als „der Vater aller Dinge“ (Diels & Kranz, 1961, 22 B 53). Johan Huizinga führt den Agon vor diesem Hintergrund etymologisch auf die agorá zurück, den Ort und die Arena der politischen Auseinandersetzungen (vgl. Huizinga, 1956, S. 53), den leeren Platz in der Mitte der Stadt, der sich an die Stelle des alten Fürstenpalasts setzt. Mit der Geburt der sokratisch-platonischen Philosophie im 5. Jahrhundert vor Christi wird der Agon in gewisser Weise selbst umstritten. Während die Sophisten im Agon genau das Prinzip als gesellschaftsbildend anerkennen, das die Philosophen aus der Gesellschaft ausschließen und in einen Naturzustand verbannen wollen, bemühen sich letztere um die Ausarbeitung verbindlicher Kriterien zur Überwindung des Wettstreits. Im offen ausgetragenen Konflikt findet für die Sophisten eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe statt, die sich von Feindschaft und Gewalt abhebt und die zugleich die von den Philosophen angestrebte objektive Position ausschließt. In diesem Punkt antizipiert das sophistisch-rhetorische Ethos radikaldemokratische Konzeptionen der Gegnerschaft, die heute im Anschluss an Nietzsche den Dissens und den Widerstreit als unhintergehbar begreifen (vgl. etwa Lyotard, 1989; Rancière, 2002).

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Für Huizinga gilt es als ausgemacht, dass „der Weisheitssucher von den ältesten Zeiten an bis zu den späten Sophisten und Rhetoren als ein typischer Kämpfer auftritt. Er fordert seine Mitbewerber heraus, er greift sie mit heftiger Kritik an und verherrlicht seine Meinungen als die wahren [...]. Stil und Form der frühen [= vorsokratischen] Proben der Philosophie sind polemisch und agonal.“ (Huizinga, 1956, S. 115) In der klassischen griechischen Kultur geht es immer wieder darum, sich in öffentlichen Auseinandersetzungen als áristos, als Bester, hervorzutun. Insbesondere die Rhetorik ist sich dieser Agonalität ständig bewusst (vgl. Hetzel, 2011, S. 124 ff.), was seinen Niederschlag etwa darin findet, dass die rednerischen Auseinandersetzungen in den Lehrbüchern häufig in Bildern beschrieben werden, die dem Bereich des körperlichen Zweikampfs entlehnt sind. Quintilian verwendet, wenn er rednerische Auseinandersetzungen beschreibt, Metaphern aus dem Umfeld des Faust- und Ringkampfes sowie der Fechtkunst; die vom Redner während seiner Ausbildung zu habitualisierenden Strategien entsprechen den Stellungen und Stellungswechseln, die die Gladiatoren einüben: „Weiter beim Waffenzweikampf und aller Ringkunst, was kann da ein Kämpfer im richtigen Verteidigen und Angreifen zuwege bringen, dem nicht die kunstgerechten Bewegungen und bestimmte feste Fußstellungen die nötigen Hilfen liefern?“ (Quintilian, 1995, IX 4, 8) Wie bei den Gladiatoren hätten wir es in der Rhetorik mit „Kämpfen“ zu tun, „die um die Entscheidung gehen“ (Quintilian, 1995, X 5, 20). Beide Typen von Kämpfen haben ein spielerisches, inszenatorisches Moment und sind an ein Publikum adressiert. Doch zugleich kann es in Gericht und Senat wie in der Arena um Leben und Tod gehen. In beiden Bereichen ist die Entscheidung der eigentliche Fluchtpunkt. Eine Niederlage im Senat oder vor Gericht wäre genauso irreversibel wie die Niederlage in der Arena. An den Kampfkünsten interessiert die Rhetoriker nicht nur das Moment der Agonalität, sondern auch ein funktionalistisches ästhetisches Ideal. So schreibt Cicero – ein, wie wir aus seinem Briefwechsel wissen, regelmäßiger Besucher der „Spiele und Gladiatorenkämpfe“ (vgl. etwa Cicero, 1994a, I 16) –: „Denn wie wir sehen, daß die Boxer und nicht viel anders die Gladiatoren keine Bewegung machen, weder bei vorsichtiger Deckung noch bei energischem Angriffe, die nicht eine bestimmte Schulung erkennen ließe, so daß auf diesem Gebiet alles, was zum Kampfe förderlich ist, zugleich auch einen anziehenden Anblick bietet, ebenso landet auch der Redner keinen erfolgreichen Schlag, wenn seine Attacke nicht kunstgerecht geführt ist.“ (Cicero, 1994b, S. 228). Die antiken Kampfkünste, die Cicero und Quintilian zum Vorbild dienen, dürften weniger unseren modernen Sportarten wie Boxen und Ringen geglichen haben, als vielmehr den japanischen Budo-Künsten, die, indem sie die Kraft des Gegners gegen diesen selbst zu richten suchen, jede körperliche Bewegung einem immer auch

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ästhetischen Ideal der Effizienz und Eleganz unterstellen (vgl. Poliakoff 2004). Allein aus den Andeutungen, die in rhetorischen Traktaten gemacht werden, lässt sich rekonstruieren, dass insbesondere der richtigen Atmung, der richtigen Stellung und dem Timing eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde. Philosophisch drückt sich die Allgegenwart des Agon, zumindest vor Platon, in einem Bewusstsein der Unhintergehbarkeit widerstreitender Perspektiven aus. Jede Äußerung muss sich gemäß sophistischer Lehre dem Agon aussetzen, im und am Agon bewähren. Protagoras bemerkt in diesem Zusammenhang: „Zwei Reden, die einander zuwiderlaufen, gibt es zu jeder Sache.“ (Diels & Kranz, 1961, B 6a) Diese Aussage verstößt scheinbar gegen das Aristotelische Axiom vom ausgeschlossenen Widerspruch, mit dem jede Logik anhebt. Doch nur scheinbar: Die Formulierung „Zwei Reden“ besagt nämlich nicht, dass Protagoras von einem logischen Widerspruch ausgeht. Man sollte den Satz ganz wörtlich lesen: Zu jedem Problem finden sich zwei mögliche Meinungen, zu jeder Sache lassen sich mindestens zwei sich widersprechende Reden halten. Die Sache wird gewissermaßen erst dadurch konstituiert, dass sie in zwei sich widerstreitenden Perspektiven erscheint, als Kreuzungspunkt zweier Linien, die in unterschiedliche Richtungen verlaufen. Aus der Perspektive des einzelnen Subjekts, das sich kontemplativ zur Welt verhält, kann sich keine Wirklichkeit ausbilden. Nur in der Pluralität widerstreitender Perspektiven tritt uns eine eigenständige Realität entgegen. Der (einen Gemeinsinn allererst stiftende) Widerstreit der Perspektiven dient der Sophistik als Garant jeglicher Objektivität. Die Polis wird so zu einem Raum strittiger Ansprüche und Gründe. Weder die Stadtmauern noch das gemeinsame Blut garantieren ihre Identität, sondern das permanente, öffentlich geführte Gespräch. Die Definition des Menschen als zoon politikón besagt immer auch, dass sich die einzelnen Bürger im Modus der Agonalität begegnen, dass sie keinen gemeinsamen Raum bewohnen, sondern diesen Raum immer wieder neu definieren und aushandeln müssen.

2. AGON

ALS

D ARSTELLUNG

UND I NSZENIERUNG

Die wohl differenzierteste Theorie des Agon, die insbesondere seinen medialen Charakter betont, hat der 1872 in Groningen geborene Kulturhistoriker Johan Huizinga vorgelegt. Unter dem Titel Homo ludens skizziert Huizinga eine faszinierende Kulturanthropologie des spielenden Menschen, die die Begriffe Spiel und Agon weitgehend synonym verwendet. Das Spiel definiert er vor allem durch drei Züge:

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„Alles Spiel ist zunächst und vor allem ein freies Handeln. Befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr.“ (Huizinga, 1956, S. 15) „Spiel ist nicht das ‚gewöhnliche‘ oder das ‚eigentliche‘ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz.“ (ebd.) „Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer. Seine Abgeschlossenheit und Begrenztheit bildet sein drittes Kennzeichen.“ (ebd., S. 17)

Durch die Betonung der Freiheit, Abgeschlossenheit und Selbstzweckhaftigkeit rückt Huizinga den Agon auch in eine große Nähe zur Aristotelischen Praxis, einer kollektiven Tätigkeit, die sich dadurch definiert, dass sie ihren Zweck in sich selbst hat. Die drei von ihm herausgearbeiteten Kennzeichen zusammenfassend schreibt er weiter: „Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‛ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt hervorheben.“ (Huizinga, 1956, S. 20) Spiel ist für Huizinga zugleich „Kampf um etwas“ und „Darstellung von etwas“ (ebd.) Etwas „Unsichtbares und Unausgedrücktes nimmt“ im Spiel eine „schöne, wesenhafte Form an“ (ebd., S. 21). Der Agon kann insofern auch als ein „Kultspiel“ verstanden werden, in dem die „Ordnung der Gemeinschaft selber“ (ebd., S. 23) dargestellt wird. Mit der Betonung einer Gleichzeitigkeit von Kampf um und Darstellung von etwas fasst Huizinga im Begriff des Spiels zusammen, was George Herbert Mead etwa zur gleichen Zeit als play und game trennt: ein nachahmendes oder mimetisches Spielen des Kindes, das etwas oder jemanden darzustellen versucht und ein regelgeleitetes Spielen von Gegnern, das sich über Sieg und Niederlage definiert (vgl. Mead, 1973, S. 194 ff.). Seine mediale Außenseite, sein Dargestellt-Werden, ist dem Spiel aus Huizingas Sicht wesentlich; es wird damit zu einer performativen Praxis, die dadurch, dass sie sich vollzieht, zugleich etwas auf- und vorführt. Seine Performativität entschärft das gewaltsame Potenzial des Agon. Ein sich an Dritte adressierender, ein einem Publikum sich darstellender Konflikt ist kein Konflikt mehr, der bis zur letzten Konsequenz ausgetragen, in dem der Gegner vernichtet werden muss. Darin unterscheidet er sich (bis auf wenige Ausnahmen, etwa dem

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Pankration oder Allkampf, in dem es immer wieder zu Todesfällen kam) vom wirklichem Kampf und Krieg. Das letzte Ziel des Agon ist nicht die Überwindung des Gegners selbst, sondern die öffentliche Anerkennung und Ehre, die dem Sieger zuteilwird. Für den Agon gilt, was Horkheimer und Adorno zu den Gewaltdarstellungen in der Homerischen Odyssee sagen: Als Darstellung von Gewaltverhältnissen begibt sich das Epos selbst zugleich in eine Distanz zu ihnen. Es „entragt“ der fatalen Kette von Gewalt und Gegengewalt in einer darstellerischen „Selbstbesinnung, welche Gewalt innehalten läßt im Augenblick der Erzählung. Rede selber, die Sprache in ihrem Gegensatz zum mythischen Gesang, die Möglichkeit, das geschehene Unheil erinnernd festzuhalten, ist das Gesetz des Homerischen Entrinnens.” (Horkheimer & Adorno, 1987, S. 102) Als Erzähler seiner Taten tritt Odysseus in eine Distanz zur bloßen Reproduktion von Gewaltverhältnissen, als deren Verkettung sich die Odyssee ansonsten lesen ließe. „Das Innehalten in der Rede aber ist die Zäsur, die Verwandlung des Berichteten in längst Vergangenes, kraft deren der Schein von Freiheit aufblitzt, den Zivilisation seitdem nicht mehr ganz ausgelöscht hat.” (ebd.) Der Agon (etwa zwischen Odysseus und den mythischen Ungeheuern, die ihm auf seiner Irrfahrt begegnen) wird in den homerischen Epen besungen und damit in gewisser Weise humanisiert, im Medium der Erzählung verwandelt er sich vom Krieg in einen Wettkampf. Er ist wesentlich dazu dar, gesehen und dargestellt zu werden. Besonders deutlich spürbar wird das in den Oden Pindars, die allesamt Siegern der panhellenischen Wettkämpfe gewidmet sind. In der 11. Olympischen Ode spricht Pindar davon, dass er mit den Worten dieser Ode „dem Kranz des goldenen Ölbaums“, den Hagesidamos im Faustkampf der Knaben errungen hat, „einen Schmuck“ hinzufügen möchte, der „sanftlautend ertönt“ (Pindar 1992: XI Olymp. 13), einen Schmuck aus Worten. Im Gegensatz zur späteren christlichen Hymnenliteratur, in der sich der Gesang gegenüber dem Besungenen zurücknimmt bzw. selbst durchstreicht, um so ex negativo von der Größe des Besungenen Zeugnis abzulegen, formuliert Pindars Odenliteratur eine Poetologie der Fülle. Die Leistungen des Siegers, der mythologische Hintergrund seines Herkunftsorts und der Gesang, der beide aufeinander bezieht und lobt, spiegeln und verstärken sich wechselseitig. Huizinga führt die Entstehung von Poesie, Drama und Musik insgesamt auf den spielerischen Agon zurück. „In dieser Sphäre des heiligen Spiels sind das Kind und der Dichter zusammen mit dem Wilden zu Hause.“ (Huizinga, 1956, S. 32) Die Tätigkeiten des Kindes und des Dichters ähneln derjenigen des Wilden gerade darin, dass sie nicht einfach ein Projekt verfolgen oder einen Plan umsetzen. Der Sinn der spielerischen Tätigkeit scheint vielmehr in ihrem Vollzug

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selbst zu liegen. Ausgehend vom alltäglichen Sprachgebrauch schreibt Huizinga: „Man spielt ein Spiel. Mit anderen Worten: um die Art der Tätigkeit auszudrücken, muß der im Substantiv enthaltene Begriff wiederholt werden, um das Verbum zu bezeichnen. Das bedeutet allem Anschein nach, daß die Handlung von so besonderer und selbständiger Art ist, daß sie aus den gewöhnlichen Arten von Betätigung herausfällt: Spielen ist kein Tun im gewöhnlichen Sinne.“ (Huizinga, 1956, S. 43) Ich selbst würde dies so formulieren, dass agonales Spielen kein Handeln im Sinne der neuzeitlichen Philosophie ist, das immer von einem dem Vollzug des Handelns vorgängigen Subjekt regiert wird. Als Handlungen interpretiert etwa Donald Davidson Ereignisse, die von einem Subjekt verursacht werden: „Wenn man von jemandem sagt, er habe etwas verpfuscht, seinen Onkel beleidigt oder die Bismarck versenkt, erklärt man ihn automatisch zum Urheber dieser Ereignisse.“ (Davidson, 1985, S. 74) Die Absichtlichkeit dieser Verursachung wird dabei als eine notwendige wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür angesehen, dass ein Ereignis als Handlung beschrieben werden kann. Statt von Absichten bevorzugt es Davidson insofern, von Handlungsgründen zu sprechen. Eine Handlung kann aus seiner Sicht mehrere Gründe haben, von denen sich in der Regel ein Grund als der primäre isolieren lässt. Diesen primären Grund zeichnet Davidson als die kausale Ursache der Handlung aus. Er gibt damit eine Terminologie und ein Erklärungsmuster vor, dem weite Teile der heutigen Philosophie folgen. Eine Kritik am klassischen philosophischen Handlungsmodell, dem sich Davidson unreflektiert anschließt, findet sich dagegen bereits in Austins 1956 gehaltenem Vortrag Ein Plädoyer für Entschuldigungen. Austin entfaltet hier eine zugleich genealogische und nominalistische, an Nietzsche gemahnende Lektüre des Handlungskonzepts. Er verweist darauf, „daß ‚eine Handlung vollziehen‘ im philosophischen Sprachgebrauch ein äußerst abstrakter Ausdruck ist. Dieser Ausdruck ist ein Ersatz oder Double für jedes (oder beinahe jedes?) Verb mit persönlichem Subjekt, so wie ‚Ding‘ ein Double für jedes (oder, wenn wir uns besinnen: fast jedes) Substantiv und ‚Eigenschaft‘ ein Double für ein Adjektiv ist.“ (Austin, 1986, S. 233) Wenn wir von einer Handlung im Sinne einer Entität sprechen, fallen wir „auf den Mythos des Verbs herein“, was, wie Austin weiter ausführt, „selbst in diesen halbwegs raffinierten Zeitläuften nicht so häufig erkannt wird“ (ebd.). Austin stellt explizit die Frage, ob „etwas sagen [...] eine Handlung“ (ebd., S. 234) ist und verneint dies letztlich. Unser Leben zerfällt nicht in eine Sequenz von isolierbaren Handlungen, die sich wie Perlen auf eine Kette reihen ließen. Das Leben, so Austin, ist einfach nicht so, „daß man jetzt Handlung A, als nächstes Handlung B und danach Handlung C usw. vollzieht, geradeso, wie man

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sich sonst die Welt so vorstellt, als bestünde sie aus diesem, jenem und noch einem Stoff oder materiellen Gegenstand, ein jeder mit seinen Eigenschaften.“ (ebd.) Das gewöhnliche Leben zeichnet sich vielmehr durch ein hohes Maß an Kontinuität und Prozesshaftigkeit aus. Ausgehend von Aristoteles und Huizinga könnten wir auch formulieren: Wir stehen immer schon in Praxiszusammenhängen und -sequenzen, die der Perspektive des intentional handelnden Subjekts vorausgehen. Huizinga beschreibt das Spiel ebenfalls nicht als Handlung, sondern als Vollzug, der seinen Zweck in sich selbst hat: „Wie jedes andere Spiel muß man den Wettkampf als bis zu einem gewissen Grade zwecklos bezeichnen. Das will heißen: er läuft in sich selber ab, und sein Ausgang ist nicht an dem notwendigen Lebensprozess der Gruppe beteiligt“ (Huizinga, 1956, S. 54), d.h. nicht an Arbeit und materieller Reproduktion. Das Ziel des Agon „besteht in erster Linie im Ablauf als solchem ohne direkte Beziehung zu dem, was hinterherkommt“ (ebd.). Wie die aristotelische praxis und die neuzeitliche Performativität wäre also auch der Agon nicht teleologisch zu denken, er findet seine Erfüllung nicht in einem Resultat oder einer Konsequenz, sondern in seinem bloßen Vollzug. „Der Agon in seiner tatsächlichen Zwecklosigkeit und Sinnlosigkeit bedeutet schließlich ‚Aufhebung aller Schwere des Lebens, Denkens und Handelns, Gleichgültigkeit gegenüber aller fremden Norm‘“ (ebd., S. 78). Zugleich bringt „die Gemeinschaft im Spielen ihre Deutung des Lebens und der Welt zum Ausdruck“ (ebd., S. 51), der Agon ist also vor allem Darstellung.

3. AGON

UND

S PORT

Huizinga sieht im agonalen Spiel den Ursprung und die Quelle aller Kultur: „Kultur beginnt nicht als Spiel und nicht aus Spiel, vielmehr in Spiel. Die antithetische und agonistische Grundlage der Kultur ist im Spiel gegeben, das älter und ursprünglicher ist als alle Kultur.“ (Huizinga, 1956, S. 78) Seine Kulturentstehungstheorie hat dabei auch kulturkritische Implikationen. Die Entdifferenzierungs- und Verdinglichungstendenzen der Moderne haben ihre Ursache letztlich darin, dass die moderne Kultur ihren Bezug zum Spiel verloren habe. Der Sport gilt ihm in diesem Kontext zugleich als eine Verkörperung und als eine Verfallsform des Agon. Im modernen Sport, dem er drei kleinere Kapitel innerhalb seiner Monographie widmet, sieht Huizinga einerseits eine Art Höhepunkt, andererseits aber auch einen Zerrspiegel des antiken Agon. In manchen Hinsichten ähnele der Sport dem Agon. Auch der Sport kenne ein spielerisches Moment und adressiere

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sich an ein Publikum. In anderen Hinsichten sei der Sport allerdings von Tendenzen moderner Gesellschaften überformt, die dem antiken Agon gänzlich fremd seien. Huizinga weist darauf hin, dass etwa „die großen Ballspiele geübtes Zusammenspielen dauernd gleichbleibender Mannschaften“ (ebd., S. 187) erfordern und damit eine „Systematisierung und Disziplinierung des Spiels“, die auf Dauer dazu führe, dass der „reine Spielgehalt“ (ebd.) verloren gehe. Der Sport werde im Verlaufe des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses immer ernster, immer mehr zu einer Art Wissenschaft, der jede Spontaneität fehle. Im Sport drücken sich insofern die Effizienzideale einer hochgradig professionalisierten und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft aus, insbesondere ein Wille zur Naturbeherrschung und Selbstoptimierung, wie er der Antike fremd war. Gunter Gebauer interpretiert, wie bereits angedeutet, eine Mimesis der Gewalt als das grundlegende gesellschaftliche Prinzip antiker wie moderner Gesellschaften. Genau diese Mimesis der Gewalt werde in sportlichen wie agonalen Wettkämpfen inszeniert: „Wettkämpfe sind […] Mimesis von Kämpfen um die Macht in einer Gesellschaft oder dem, was dieser vorhergeht“ (Gebauer, 1987, S. 285). Was uns die Spektakel des Sports vorführen, sind Krisen der Gewalt und gleichzeitig Formen der Lösung dieser Krise, die allerdings letztlich selbst gewaltförmig bleiben. Auch Gebauer betont, dass der Sport „darstellenden Charakter“ (ebd.) habe; der öffentliche inszenierte sportliche Wettkampf sei eine „Mimesis von Wunsch-Gewalt, die kaum je in dieser Weise irgendwo anders als im Sport verwirklicht werden kann“. Und weiter: „Die Wettkämpfe des Sports stehen unter Ausnahmeregelung, sie erteilen Sondererlaubnis zum gewaltsamen Durchbrechen wichtiger gesellschaftlicher Gesetze und Gebote: zur offenen Gegnerschaft gegen andere.“ (ebd., S. 281) Dieser Deutung, die von einer Kontinuität zwischen antikem Agon und modernem Sport ausgeht, ließe sich entgegenhalten, dass die von ihr bemühte Anthropologie einer Mimesis der Gewalt einen Zeitkern hat und eher auf eine moderne Gesellschaft der Konkurrenz von Marktteilnehmern verweist als auf den antiken Agon, in dem nicht nur Gewalt herrscht, sondern etwas, was Gebauer selbst als „völlige Offenheit des Ausgangs“ beschreibt, als ein Moment, das als „unwahrscheinlich“ oder gar als „ein Wunder“ (ebd.) empfunden wird. Dieses Moment wird auch von Huizinga betont und scheint mir über das Gewaltmoment hinauszuweisen. Das agonale Spiel zeichnet sich durch „Spannung und Unsicherheit“ (Huizinga, 1956, S. 52) aus. Spiele inszenieren insofern nicht primär Gewalt, sondern Situationen der Unsicherheit. Diese Unsicherheit steht dabei allerdings selbst noch einmal in einer Spannung zu „Gewandtheit, Kenntnissen und Geschicklichkeit“ (ebd., S. 53), mit deren Hilfe sie bewältigt wird bzw. bewältigt werden könnte. Genau diese Schwierigkeit der Bewältigung von Unsi-

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cherheit ist für Huizinga der Grund für „die Spannung bei den Zuschauern“ (ebd.) im antiken Agon, die sich zum Beispiel bei einem reinen Glücksspiel wie dem Würfelspiel nicht einstellen würde. Im Spiel geht es vor allem darum, dass etwas glückt und dass sich dieses Glücken einem Publikum mitteilt. „Dies ‚Geglücktsein‘ verschafft dem Spieler eine Befriedigung“ (ebd., S. 54), die sich „vom einzelnen auf die Gruppe überträgt“ (ebd., S. 55), die sich also auch dem Publikum mitteilt. Huizinga verbindet dieses Geglücktsein mit der areté, einem „in seiner Art echt und recht und vollkommen sein“ (ebd., S. 67), das noch in unserem Fremdwort arretieren anklingt. Jeder Vollzug findet in etwas seine höchste Vollendung, ohne dass dafür ein außerhalb des Vollzugs liegendes Maß angegeben werden könnte. Das Gewinnen ist nur ein Aspekt, der neben dieser areté in der kollektiven Bewältigung einer Unsicherheit zurücktritt. Auch der moderne Sport scheint mit dieser Unsicherheit zu spielen, das heißt die Offenheit und Kontingenz des modernen gesellschaftlichen Lebens insgesamt zu spiegeln, zugleich aber zu suggerieren, dass sich diese Offenheit mittels Techniken und Formen der Professionalisierung reduzieren lasse.

4. D IE

KULTURELLE P RAXIS DER IN DER KLASSISCHEN A NTIKE

S ELBSTSTEIGERUNG

In ihrem Beitrag Natur und Leben aus moderner Sicht thematisiert Janine Böckelmann den modernen Sport als Verkörperung eines Leistungsdenkens und eines performativen Selbstvollzugs (vgl. Böckelmann, 2015). Den Leistungsaspekt führt sie ideengeschichtlich vor allem auf sozialdarwinistische Ansätze zurück. Ich möchte diese Deutung des modernen Sports dadurch unterstützen, dass ich ihn mit körperlichen Übungen im Kontext des klassisch-antiken Agon kontrastiere, von dem ich denke, dass sie keinem Prinzip der Leistung folgen, sondern einem solchen der Selbststeigerung und des Erlangens von Ruhm, dass sie mit anderen Worten nicht als „Sport“ bezeichnet werden können. Das Leistungsdenken, von dem auch ich sagen würde, dass es für den Sport wesentlich ist, sehe ich vor allem als Ergebnis einer frühneuzeitlichen Transformation des älteren Strebens nach Ruhm und Ehre in Interessen, wie sie von Albert O. Hirschman überzeugend beschrieben wurde. Die physis, die Weise und Richtung des Wachstums des Körpers, auf die sich die antiken Körpertechniken richten, lässt sich durch das lateinisch-neuzeitliche Konzept einer natura nur sehr unzureichend übersetzen. Physis meint kein (der Kultur zu kontrastierendes) Sein, sondern ein Werden, den Weg einer Entwick-

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lung oder Bildung, der die menschliche Welt mit umfasst, in ihr aber keineswegs aufgeht. Nietzsche spricht in diesem Sinne vom „griechische[n] Begriff der Cultur [...] als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention“ (Nietzsche, 1999b, S. 334). Er sieht deutlich, dass die als Selbststeigerung aufgefasste Kultur der Griechen vor Platon nicht zwischen Steigerung des Geistes und Steigerung des Körpers unterschied, dass sie sich nur bedingt auf ein Wissen abbilden lässt. Ausgehend von Foucault (1986) können wir vielleicht auch sagen, dass das Wissen um die Übungen wie das Wissen um die Lust von Körper zu Körper wanderte und noch nicht in einem methodos kodifiziert war. Die antiken Autoren kennen Kultur noch nicht als diskontinuierlichen und somit verobjektivierbaren Bereich des Seins, sondern nur eine Selbstkultivierung als Prozess: als paideusis oder paideia (Bildung, Erziehung). Paideia geht auf das Verb paideuein (erziehen, bilden) zurück, welches sich nicht nur aktivisch und passivisch gebrauchen lässt, sondern auch die dem Lateinischen und den modernen Sprachen fremde, sich zwischen Aktiv und Passiv situierende Form des Mediums zulässt. Das Medium I würde in deutscher Übersetzung lauten ich erziehe mir, das Medium II ich erziehe mich. Die griechische Sprache begünstigt damit die Denkmöglichkeit einer Selbstkultivierung, einer Tätigkeit, die zwischen Aktiv und Passiv angesiedelt ist. Das Ergebnis dieser Selbstkultivierung wäre weder ein passiv erlittenes Ereignis, noch eine aktive Handlung. Paideia erscheint vielmehr abhängig von einem Tun, das zulässt, einem medialen Tun. Die physis, die bereits aus sich heraus in eine bestimmte Entwicklungsrichtung tendiert, muss, um sich entwickeln zu können, gelassen werden. Das Zulassen ihrer je eigenen Tendenz bedeutet gleichzeitig ein partielles Auslassen derjenigen Elemente des paideuein, die der jeweiligen Entwicklungstendenz der physis entgegenstehen könnten. Paideia verweist somit auf eine mit keinem Leistungsprinzip zu vermittelnde Praxis, die sich selbst auszulassen bereit ist. Arbeit an der eigenen physis, die den Griechen selbstverständlich war, zielt niemals auf einfache Selbstbeherrschung. Insofern lässt sich im griechischen Bewusstsein auch der Erfolg bei den olympischen Wettkämpfen nur bedingt planen. Diese Wettkämpfe werden weniger um des Sieges willen aufgenommen, sondern gelten, wie wir weiter oben gesehen haben, dem Einzelnen als Gelegenheit, sich in der Auseinandersetzung mit anderen zu steigern. Die Wettkämpfe inszenieren nicht, wie diejenigen des modernen Sports, die vom Athleten investierte Leistung und Selbstausbeutung (vgl. dazu Heinecke, 2014). Das Leben des modernen Sportlers ist, wie das Leben des von Agamben beschriebenen mittelalterlichen Mönchs, ein Leben, das mit der Regel identisch geworden ist, eine reine Lebensform (vgl. Agamben, 2012); es

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ist soweit professionalisiert, das es aufhört, Leben zu sein. Die antiken Athleten sind sich demgegenüber der Týche, der schicksalhaften Offenheit des Ausgangs, bewusst. Pindar verweist, immer wieder auf die Unverfügbarkeit der Siege in den sportlichen Wettkämpfen. Der Erfolg steht weniger in der Konsequenz einer methodisch geplanten Lebensgeschichte, sondern ist als göttliche Gabe zu verstehen: „Sein Leben zu rüsten durch geradeplanende Mittel; das aber liegt nicht bei den Menschen; ein Gott gewährt es.“ (Pindar, 1992, VII Pyth. 75-76) Die antiken Athleten strebten vor allem eine gewisse kulturelle Unsterblichkeit an, das also, was wir als Ruhm bezeichnen. Dieser Ruhm hat in der Neuzeit eine schlechte Presse, er wird, wie Albert O. Hirschman (1987), gezeigt hat, in einer kapitalistischen Gesellschaft von Interessen abgelöst. Von der Antike bis zur Renaissance, so Hirschmans Ausgangsthese, richte sich das Begehren der Menschen weniger auf Geld und Besitz als auf Ruhm. Der Ruhm, so könnte man Hirschmans Analysen ergänzen, beerbt dabei das antike ethos, die öffentlich sichtbare Lebensgeschichte einer Person, die uns einerseits in Form von Erzählungen vertraut ist, die sich andererseits aber auch in ihrem Habitus körperlich manifestiert. Die Neuzeit beginnt für Hirschman regelrecht mit einer Entzauberung des Ruhms, der von Hobbes als „Form bloßer Selbsterhaltung“, von La Rochefoucauld als „Eigenliebe“ und von Pascal als „Eitelkeit“ denunziert wird (Hirschman, 1987, S. 19). Ruhm werde mit einer höfischen Kultur assoziiert und, in der Verbindung Ruhmsucht, vor allem auch ethisch desavouiert. Mit der neuzeitlichen Abwertung des Ruhms gehe eine Abwertung der Leidenschaften insgesamt einher, die nicht nur von Rationalisten wie Empiristen als Gefahr für die Erkenntnis, sondern von den Klassikern der Politischen Philosophie auch als Gefahr für das Zusammenleben begriffen und entsprechend pathologisiert werden. Für das soziale Band suchen die Politischen Philosophen der frühen Neuzeit einen Grund, der über ein wechselseitiges affektives Verhaftet-Sein hinausgeht und finden ihn letztlich in einer instrumentellen Konzeption von Vernunft. Auch der moderne Sport lässt sich als eine Weise der Bewältigung von Leidenschaften, ihrer Transformation in Interessen, lesen. Er verkörpert eine Wendung zur Leistung und zum Erfolg, zu vollständigen Vermessung und Optimierung des menschlichen Körpers, der seine Gelassenheit verliert. Ich denke insgesamt, dass die frühkapitalistische Kategorie des Interesses einen stärkeren Einfluss auf das Leistungs-Paradigma und damit auf die Entstehung des Sports hatte als der von Janin Böckelmann betonte Sozialdarwinismus (vgl. Böckelmann, 2015, S. 33 ff.). Im modernen Sport inszeniert sich das Leistungsprinzip selbst. Um auch nur ein wenig erfolgreicher zu sein als andere, muss extrem viel Arbeit in den eigenen Körper investiert werden. Auch der Freizeitsport ist heute leis-

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tungsdominiert, Freizeitradsportler etwa nutzen EPO und stellen sich unter einen extremen Selbstoptimierungsdruck. Gerade diese Optimierung wird im medial inszenierten Massensport öffentlich ausgestellt Der doppelgleisigen Definition des Sports, die Janine Böckelmann vorschlägt, kann ich mich also nur zur Hälfte anschließen. Ich denke, dass sich moderner Sport durch ein Leistungsprinzip auszeichnet, aber gerade nicht durch Selbstzweckhaftigkeit oder Performanz. Gerade die performative Dimension scheint mir mit dem Übergang vom Agon zum Sport verloren zu gehen.

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Vereinssport: Zwischen Kontinuität und Wandel – Sportvereine als Institutionen (zivil-)gesellschaftlichen Handelns

Was bedeuten Werte und Wertewandel im Sport? S VEN G ÜLDENPFENNIG

1. E INLEITUNG Mittlerweile spielt der Sport in der ersten Liga jener Themengebiete, welche die Agenda der weltweiten Kultur- und sogar Politikentwicklung mitbestimmen. Gleichwohl ist das Medium, in welchem er seine kulturell beachtenswerten Leistungen erbringt, durch ein Paradoxon gekennzeichnet, aufgrund dessen man ihn buchstäblich „nicht ganz ernstnehmen kann“ – und vor allem in den Ergebnissen seiner einzelnen Ereignisse auch nicht übermäßig ernstnehmen sollte. Denn es wird zwar oft gesagt: Bei bestimmten sportlichen Ereignissen gehe es „um Alles oder Nichts“. In dieser aus dem gesellschaftlichen Ernstleben übernommenen rhetorischen Formel jedoch wird der spezifische Witz des sportlichen Handelns aufgelöst und zerstört: In Wirklichkeit nämlich geht es „auf‘m Platz“, dem zentralen Ort des sportlichen Geschehens, im Hinblick auf seinen gesamtgesellschaftlichen Rang um ein Nichts (so etwa, wenn ein zur Bewältigung des gesellschaftlichen Alltagslebens völlig nutzloser Speer einen Zentimeter weiter fliegt als bei einem Konkurrenten), um welches, unter der Perspektive des persönlichen Einsatzes gesehen, allerdings so gerungen wird, als ginge es um ein Alles. Der Witz des Sports besteht in diesem Als-Ob, das ihn zu einem der vielen seriösen Akteure in der Sphäre des Spiels macht. Und genau dies nimmt dem sportlichen Geschehen zugleich jenen Ernst, den das realgesellschaftliche Leben ansonsten oft bestimmt. Natürlich bedeutet das nicht zugleich, dass das Gesamtfeld des Sports dadurch in seinem gesellschaftlichen Rang geschmälert würde. Es hat nur eben Teil an jener Sphäre ästhetisch-schöpferischen Handelns, welche Wendy Steiner (1995) unter dem Titel The Scandal of Pleasure zusammengefasst hat, deren gesellschaftlicher Rang mit der gängigen Unterscheidung zwischen einer E- und einer U-Kultur, einer Hoch- und einer Trivialkultur nicht an-

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gemessen erfasst werden kann, sondern als insgesamt kulturell anspruchsvolle „Unterhaltung“ vielmehr eine tragende Säule der conditio humana ausmacht. Auch im Sport wird viel von „Werten“ gesprochen, die ihn ausmachen bzw. die den Ablauf seiner Ereignisse ebenso wie das Gewicht seiner gesellschaftlichen Bedeutung mutmaßlich ausmachen sollen. Die Einschätzung über die herausragende Bedeutung von Werten für die Moderne, ja über deren konstitutive Bedeutung für jeden gesellschaftlichen Bereich ebenso wie für jede menschliche Gesellschaft insgesamt gilt gleichermaßen für einen kulturellen Bereich wie den Sport. Auch er ist von Werten gesteuert, und er muss es sein. Dies gilt allerdings nur unter zwei Vorbehalten: dass zum einen diese Werte gleichsam valide sind für die Erfassung des spezifischen Eigensinns, von dem dieses Handlungsfeld getragen ist; und dass sie zum anderen erst dadurch auch praktische Geltung und motivierende Wirksamkeit bei der Steuerung des wirklichen Geschehens entfalten können. Andernfalls bleibt die Beschwörung von Werten nicht mehr als ein sinnfreies und praktisch folgenloses Gerede. Diese Kernüberlegungen zur Bedeutung und Einordnung von Werten im Sport bilden den Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags, der in einer Verbindung von reflektierender Analyse und normativem Plädoyer sowohl der Frage nach ihren Potenzialen als auch den Grenzen für die wissenschaftliche Forschung im Allgemeinen und für die Entwicklung einer Gesellschaftstheorie im Besonderen nachgeht.

2. T HEORETISCH - BEGRIFFLICHER

RAHMEN

Bei einer Analyse der Werte des Sports wird es darauf ankommen, den das sportliche Geschehen leitenden Wertekanon genauer in Augenschein zu nehmen. In welchem Wertehorizont bewegen wir uns überhaupt, wenn von Werten des Sports gesprochen wird? Als Referenzebenen für die entsprechende Suche kommen verschiedene Bezugsräume in Frage. Sehr verbreitet ist dabei der selbstgenügsame Weg, sich auf allgemeine, gesellschaftlich anerkannte Werte zu berufen und sich dabei darauf zu verlassen, dass diese schon irgendwie auch im Sport ihre Bedeutung haben werden. Dass damit gerade die Spezifika, die den Sport von seiner Umwelt unterscheiden, unbeachtet bleiben und ihm damit für die Entscheidung sport-spezifischer Konflikte nichts Hilfreiches sagen können, wird dabei stillschweigend in Kauf genommen bzw. bleibt meist gänzlich unbemerkt. Bei diesem Weg bieten sich besonders die vielbeschworenen politischen Werte der westlichen Welt an. Bei dem Historiker Heinrich August Winkler z.B. sind diese maßgeblichen westlichen

W ERTE UND W ERTEWANDEL

IM

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Werte, in fünf Punkten zusammengefasst als das, „was den vielfach gespaltenen Westen im Innersten zusammenhält“ (Winkler, 2009, S. 13): Menschen- und Bürgerrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Volkssouveränität und repräsentative Demokratie. Was hier bei aller überzeugenden Gesamtdarstellung fehlt, weil Winkler seinen Blick fast exklusiv auf die im engeren Sinne politische Geschichte fokussiert, ist genau jener Aspekt, welcher die maßgebliche Grundlage für jegliche begründete Arbeit am Sport-Projekt ausmacht: der Autonomieanspruch des selbstzweckhaften kulturellen Handelns sowie, darauf gegründet, der Schutzanspruch des Weltkulturerbes, in welchem das geistige Fundament und das Gedächtnis der menschlichen Welt verkörpert sind und so weit wie möglich tradiert werden. Aber kann mit der Beschwörung dieser Werte auch nur ein einziges sportspezifisches Problem sachgerecht erfasst oder gar gelöst werden? Zweifellos bilden diese Werte den allgemeinen Hintergrund des sportlichen wie jedes gesellschaftlichen Handelns, so dass diese auch in den satzungsmäßig verfassten sportpolitischen Institutionen Beachtung finden. Die Ebene der Spezifika des sportpraktischen Handelns als Kern des Sportsystems jedoch erreichen diese allgemeinen Leitwerte nicht. Deshalb bietet sich ferner eine Berufung auf den sogenannten Wertewandel an, der sich weniger auf die Ebene der staatlichen Verfassung und mehr auf die gesellschaftliche Ebene des sozialen Zusammenlebens bezieht und so seit den 1970er Jahren die öffentlichen Debatten mit bestimmt. Sportbezogen wird in diesem Kontext gern auf die innere Ausdifferenzierung des Sports verwiesen, in welcher sich dieser allgemeine Wertewandel besonders auffällig spiegele, indem die allgemeine Abkehr von bürgerlichen Leistungswerten und die stärkere Hinwendung zu hedonistischen Selbstverwirklichungs- und Umweltwerten ihren Niederschlag in dem massenweisen „Exitus“ aus dem Leistungs- hin zum Freizeitsport gefunden habe. Aber ist der sportbezogene Entwicklungsprozess der vergangenen Jahrzehnte in diesem Beschreibungsversuch wirklich angemessen erfasst? Wir werden darauf zurückkommen, dass die mit dem in Deutschland so genannten „Zweiten Weg des Sports“ eingeleitete Aufwertung von leistungssport-skeptischen Formen der Körper- und Bewegungskultur weniger als Ausdruck eines Wertewandels und einer entsprechenden Abwendung vom klassischen Sportmodell, denn vielmehr als eine komplementäre Ergänzung dieses klassischen Sportkanons interpretiert werden kann. In dem Ansinnen, den sog. Wertewandel für ein Verstehen des Sports fruchtbar zu machen, steckt ein logisches Paradox: Man kann eine Sache wohl kaum durch ihren Wandel erklären. Einen wichtigen Ansatz zur Präzisierung dessen, was zu unserem Thema überhaupt mit „Werten“ gemeint ist, bietet die sprachphilosophische Annäherung an den Wertbegriff, welche Paul Tiedemann im Zu-

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ge seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Menschenwürde beschreibt. Würde leitet er vom Adjektiv „wert“ ab: „Man hat Würde, wenn man für die Gesellschaft einen Wert hat. (…) Mit der Würde ist ein Status verbunden, der prinzipiell nicht in Frage gestellt werden darf. Dignitas steht also für den Wert eines menschlichen Individuums, der über jede Relativierung erhaben ist. So wird dignitas im lateinischen Sprachgebrauch zu einem absoluten Wertbegriff, während die Lateiner für einen relativen Wertbegriff das Wort pretium (Preis) zur Verfügung haben“ (Tiedeman, 2014, S. 69-70). Von Bedeutung ist hier ferner die im alltäglichen Sprachgebrauch oft zu Unrecht nivellierte und eingeebnete Differenz von Wert und Norm, wie Tiedemann sie vorschlägt. Er geht der Frage nach, „wie man aus Werten Normen ableiten kann“, und betont die – eben – kategoriale Differenz zwischen Werten und Normen: „Werte sind das, was wir wollen, Normen handeln von dem, was wir sollen. (…) Das Problem besteht also darin zu klären, wie man von dem, was jemand will, auf das schließen kann, auf das jemand Anspruch hat“ (ebd., S. 163-164). In einem ähnlichen Sinne also wird es darauf ankommen, zu einer weiterführenden theoretischen Fundierung der Diskussion um Werte des Sports zu gelangen über das hinaus, was hier nur angedeutet wurde. Der „Umweg“ über einen hinreichend plausibel begründeten theoretischen Rahmen, der in diesem Abschnitt mehr angedeutet als ausgeführt worden ist, bleibt schließlich auch für jede empirische Untersuchung ebenso wie für einen gehaltvollen öffentlichen Diskurs sowie insbesondere auch für eine tragfähige Begründung praktischen sportbezogenen Handelns, sei es auf dem Platz, sei es in den Institutionen, unerlässlich als eine Art von „Versicherung“ gegen die Anfälligkeit jeglicher theorieloser Empirie für eine gewisse Beliebigkeit und entsprechende Belanglosigkeit ihrer Fragestellungen sowie für Irrwege in der Deutung ihrer Befunde.

3. P RÄMISSEN FÜR DIE I DENTIFIKATION VON W ERTEN DES S PORTS Inwiefern nun ist dieser kurz skizzierte Ertrag der theoretischen Debatte fruchtbar zu machen für Klärungen zur Bedeutung sowie zur Auswahl von für den Sport relevanten Werten? Während die angedeuteten inhaltlichen Bezüge zu verschiedenen Ebenen des Wertediskurses offensichtlich kaum ergiebig sind, um spezifische sporttypische Werte ausfindig zu machen, so ist zumindest der prozedurale Vorschlag von Paul Tiedemann hilfreich. Denn er verweist zum einen darauf, dass für die Diskussion um sportbezogene Werte offensichtlich nicht der relative Wertbegriff in Betracht kommt, da es ja nicht um den Preis von Sportak-

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teuren, -ereignissen oder -leistungen geht, sondern nur der absolute Begriff, weil es um den Wert der Sportidee geht. Er verweist zudem mit der Zugehörigkeit der Werturteile zur Sphäre der subjektiven Urteilskraft darauf, dass – im Gegensatz zu Tatsachenurteilen, welche der objektiven Sphäre zuzurechnen und damit nicht auf Zustimmung angewiesen sind – die Geltung solcher Werte nicht gleichsam sowieso gegeben ist, sondern von der Zustimmung der sportbezogenen Kommunikations- und Kooperationsgemeinschaft abhängt. Die Werte, welche das sportbezogene Handeln leiten, motivieren und befeuern in dem Sinne, den Paul Tiedemann im Allgemeinen angedeutet hat, ihn aber auch in seinem Entfaltungsstreben sowie in seiner möglichen über ihn selbst hinausweisenden Bedeutung als Vorbild für andere Felder begrenzen, – diese Werte können nicht einfach aus dem für die übergeordnete Gesellschaft oder aus nebengeordneten anderen gesellschaftlichen Bereichen abgeleitet oder übernommen werden. Denn sie berühren dessen Sinn- und Handlungsebene überhaupt nicht. Die einen sinngerecht gelingenden Sport leitenden Werte fliegen gleichsam unterhalb des Radars übergeordneter Werte hindurch, weil ihre Geltung jene übergeordneten Werte zwar voraussetzt, aber durch sie nicht erschöpft wird. Oder sie folgen einer anderen Begründung ihrer Geltung, als dies bei den Werten dem Sport nebengeordneter Sinnfelder der Fall ist. Der Grund für diesen prima vista sicherlich überraschenden Befund ist einfach: Diejenigen Werte, welche das praktische Sportgeschehen tatsächlich tragen und leiten können und insofern wohlbegründete Geltung beanspruchen können, kommen überhaupt nicht gewissermaßen von außen. Sie beziehen ihren geltenden Sinn vielmehr gewissermaßen von innen, nämlich aus dem kulturellen Eigensinn der Sportidee. All dies gilt allerdings nahezu ausschließlich für das, was man den elaborierten Sport im engen Sinne nennen kann. Es gilt allenfalls vereinzelt auch in den Feldern eines Sports im weiten Sinne. Was meint Legitimation von innen? Die maßgebliche Referenzgröße zur Bestimmung dieser sportspezifischen Werte ist der kulturelle Eigensinn, wie er innerhalb der Idee im engen Sinne gleichsam des klassischen Sports kodifiziert ist. Dieser Eigensinn kann, so ein in den Schriften des Verfassers immer wieder weitergeführter Annäherungsversuch, in einem Set von mindestens 15 Kriterien eines elaborierten Sportbegriffes erfasst werden (vgl. Güldenpfennig, 2015). Es bedeutet selbstverständlich keine autoritative Festlegung, sondern einen Vorschlag zu einer gehaltvolleren Weiterführung des Sportdiskurses, als dies bislang in der Regel der Fall gewesen ist. Die Werte, welche hinter diesem Verständnis von Sport stehen und ihm die erforderliche Triebkraft verleihen, die er benötigt, um im Sportgeschehen Kontinuität zu gewährleisten, das sportgerechte Streben seiner Protagonisten heraus-

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zufordern und eine ebenfalls sportgerechte öffentliche Rezeption und Promotion des Geschehens zu ermöglichen, – diese Werte beziehen sich direkt auf den in diesem Begriff konzentrierten kulturellen Eigensinn der Sportidee, und zwar auf den Sportbegriff in allen seinen konstitutiven Komponenten, sowie der darauf gegründeten Ereignisse. Man könnte sie Ermöglichungs-Werte nennen. Denn sie beziehen ihren Status als – auf dem Platz und gleichsam bei der Bereitstellung des Platzes – unbedingt geltende Werte des Sports aus der Aufgabe, sinngerecht ablaufende Sportereignisse zu ermöglichen. Diese Aufgabe läuft auf einen zweifellos ungemein schlicht anmutenden Imperativ hinaus, der lautet: play the game – and play it well. That’s all. In diesem Diktum, das allerdings die Vielfalt der je für sich schon ungemein gehaltvollen Kriterien des Sportbegriffes inkorporiert, kulminiert im Grund die gesamte Botschaft und Leistung, welche der Sport der Gesellschaft zu vermitteln hat. Das ist der Grund dafür, dass der sportbezogene Wertekanon keineswegs die ganze Litanei dessen umfasst, was den öffentlichen Sportdiskurs notorisch als eine Art Hintergrundrauschen begleitet. Einige der Werte, die jene Botschaft tragen sollen, lauten: Respekt vor der unantastbaren Würde des ideellen Kulturgutes Sport sowie vor dem Gegner als personellem Träger und Treuhänder dieser Würde; Demut und Askese als Bereitschaft zur unbedingten Unterwerfung unter das quasi-mönchische Prinzip des „Gehorsams“ im Dienst an der Sportidee; Egalität als Nicht-Diskriminierung im Sinne des gleichen Zugangs zum sportlichen Wettbewerb für alle, die im Sinne des sportlichen Regelwerks qualifiziert sind; Chancengerechtigkeit im Wettkampfablauf, die durch eine entsprechende Gestaltung und praktische Durchsetzung von Regeln zu garantieren ist; Fairness im Wettkampfverhalten der Protagonist/innen durch sowohl strikten Einsatz aller durch das Regelwerk erlaubten wie Verzicht auf alle durch das Regelwerk ausgeschlossenen Mittel, also ein Streben nach Wettbewerbs- und „Produktions“-Gerechtigkeit, nicht jedoch nach sozial motivierter Verteilungs-Gerechtigkeit; Regeltreue – allerdings weder als bloßes moralfreies Regelfolgen im Sinne eines blinden „Kadavergehorsams“ aus Furcht vor gegen Regelverletzungen angedrohten Sanktionen, noch im Sinne der staatsbürgerlichen Verpflichtung zur allgemeinen Gesetzestreue, sondern aus Respekt vor der konstitutiven Bedeutung der Regeln für die Sinnhaftigkeit des sportlichen Spiels überhaupt, der gegenüber Regelverletzungen Verrat an einem fragilen Kulturgut bedeuten; sehr eng gefasste Gewaltbegrenzung, welche in der Geltung strafbewehrter Regeln kodifiziert ist, wodurch Sport zu einem Beispielfall – wenn auch nicht zum verallgemeinerbaren Modell – für die Möglichkeit friedlichen Wettstreits wird; Einhaltung der Balance zwischen der Härte der Austragung des Wettbewerbs zwischen den Gegnern und dem Bewusstsein ihrer

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Zusammenarbeit an der Schaffung eines gemeinsamen Werkes; Unbestechlichkeit im Sinne eines Engagements für die Geltung des uneingeschränkten Primats der Sportidee auf dem Platz, das heißt im Sinne der Nicht-Verführbarkeit durch Primats-Ansprüche konkurrierender, meist weitaus mächtigerer Sinnfelder wie Politik, Recht, Wirtschaft, Sozialhilfe, Moral, religiöser Glaube und Pädagogik. Für alle diese Werte gilt, dass ihr Geltungsbereich, ja ihr Geltungsanspruch strikt auf die Ermöglichung des sinngerecht-sportlichen Geschehens beschränkt ist, sie also weder als Vorreiter noch als Vollstrecker außersportlich-allgemeiner Werte, auch wenn diese ganz ähnlich klingen und auch wohlbegründet sein mögen, zu verstehen und gleichsam als Werbemittel zu reklamieren sind. Bei näherem Hinsehen wird schnell deutlich, dass der Sport hierfür überhaupt nicht taugt und bei einer Missachtung dieser Einsicht selbst Schaden nehmen kann. Diese begrifflichen Präzisierungen und Grenzziehungen provozieren ein genaueres Hinsehen auf das sportbezogene Geschehen und haben damit eine wichtige praktische Konsequenz: Das sportpraktische Geschehen berührt zwar notorisch Gegebenheiten seiner gesellschaftlichen Umwelt und scheint an diesen Berührungspunkten affiziert zu sein von den dort im gesellschaftlichen Umland geltenden allgemeinen Werten, Normen und Imperativen: Frauensport berührt Gender-Forderungen, die Begegnung von Aktiven unterschiedlicher ethnischer Herkunft auf dem Platz Anti-Rassismus- und Integrations-Forderungen, die egalitäre Struktur der Sportregeln Forderungen nach gesamtgesellschaftlicher Gleichberechtigung und Gerechtigkeit usf. Und fast automatisch ergibt sich daraus die Erwartung, Sport müsse sich schon aus Eigeninteresse und aus in seiner Sinnstruktur implizierter Pflicht zum Mit- oder gar Vorkämpfer für entsprechende allgemein-gesellschaftliche Ziele erheben. Doch eine solche Erwartung beruht auf einer Über- oder gar Fehlinterpretation der entsprechenden Sinn-Korrespondenz: Auf dem Feld des Sports haben diese den allgemein-gesellschaftlichen ähnlichen sportlichen Prinzipien keinen universal-prinzipiellen und damit über-geordneten, sondern lediglich einen partikular-funktionalen und damit nach-geordneten Stellenwert (was nicht zugleich bedeutet, dass das Letztere dem Ersteren zugleich im Sinne einer direkten Abhängigkeit unter-geordnet sein müsste). Sie dienen dort „nur“ und ausschließlich dazu, das sportliche Spiel sinngerecht zu ermöglichen und jedermann die Teilhabe daran zu eröffnen, das heißt, allen denjenigen Zugang zu gewährleisten, die nach dem sportlichen Regelwerk qualifiziert sind. Gegen den vordergründigen Anschein kann der Sport folglich überhaupt nicht legitimerweise die Rolle eines Vorreiters gesellschaftspolitischer Forderungen beanspruchen. Und er sollte es auch deshalb nicht tun, weil er dabei sein sachbedingtes Privileg, als gewollt luxuriöses Kulturgut von außersportlichen Verpflichtungen freigestellt zu sein,

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mutwillig und gegen seinen besonderen gesellschaftlichen Auftrag aufs Spiel setzen würde. Das gilt erst recht, weil diese Sonderstellung, das Primat des sporteigenen Sinns „auf dem Platz“ sogar durchaus zu Konflikten mit allgemeingesellschaftlichen Werten führen kann und umgekehrt: Das einst vom Arbeitersport erklärte Primat der politisch-ökonomisch-sozialen Emanzipation der Arbeiterklasse vor den Imperativen der Sportidee z.B. hat zu einer hinhaltenden Behinderung der Sport-Entwicklung auf diesem Feld geführt. Und das Primat der Sportidee kann, um ein weiteres Beispiel anzuführen, zum Ausschluss von Behinderten vom sportlichen Wettbewerb mit Nicht-Behinderten führen, auch wenn deren Integration oder sogar Inklusion bereits zum gesellschaftspolitisch leitenden Wert avanciert ist (vgl. Güldenpfennig, 2014, Kap. 9). Sportlerinnen, selbst wenn sie den freien Zugang zu allen sports erkämpft haben, können sich mit guten Gründen gegen eine Vereinnahmung ihres allein auf den Sport bezogenen Kampfes für allgemeine Werte des Feminismus verwahren (vgl. Güldenpfennig, 2011, Kap. 2). Es ist demnach völlig legitim und gleichsam Kampf genug, wenn Frauen sich den Zugang zu ihrem gewünschten Sport gegen das falsche, aber offenbar nur schwer aufzulösende Stereotyp vom „männlichen Sport“ erkämpfen und sich nicht darüber hinaus für die Schlacht gegen allfällige allgemeine Misogynie rekrutieren lassen. Auf die beharrliche Weigerung, diese Präzisierungen und Grenzziehungen zur Kenntnis zu nehmen, geht die notorische Hypostasierung des Sports zum vermeintlichen Alleskönner und Allverantwortlichen zurück, durch die der öffentliche und z.T. auch der wissenschaftliche Sportdiskurs so nachhaltig deformiert worden ist und auch weiterhin in seinem Aufklärungswert beeinträchtigt wird, indem man aus ihr eine scheinbare Pflicht des Sports zu allgemeinpolitischen Engagements bis hinauf zur Phantasievorstellung vom Sport als vermeintlichem Friedensengel (vgl. Güldenpfennig, 2012, Kap. 2) herleitet und scheinbegründet, die sich allzu oft als ein autodestruktiver Irrweg erwiesen hat. Jene Grenzbefestigung bewahrt auch vor fatalen, für die ideologische Vereinnahmung anfälligen Selbstüberschätzungen, wie sie mit dem Beginn der Moderne in Visionen vom „Neuen Menschen“ und von der Katalysator-Rolle dabei für die vermeintlich allbefreiende Körperkultur postuliert worden sind (vgl. Wedemeyer-Kolwe, 2015). Der Sport ist eine wichtige, weil gehaltvolle Bereicherung, nicht jedoch die Rettung der menschlichen Welt, vor welchem Übel auch immer. Der politische Skandal liegt in der ideologischen Instrumentalisierbarkeit solcher Utopien. Der kulturelle „Skandal“ des Sports hingegen liegt in seiner Selbstbescheidung auf die intensive Pflege und Kultivierung eines außergewöhnlichen (Körper-)Kulturmusters.

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Der Sport ist eine Kultur- und keine Sozialreform-Bewegung. Er beteiligt sich damit, wenn er seinem besonderen gesellschaftspolitischen Mandat gerecht werden soll, auch weder an der Ablehnung der modernen Gesellschaft wie die diversen einstigen Lebensreform-Bewegungen bis hin zu den heutigen Ökofreaks, noch an der Moderne-Verherrlichung etwa der einstigen Futuristen bis zu den heutigen Wachstums- und Beschleunigungs-Freaks. Statt solcher aus Sicht des Sports ins Abseits führender Engagements nutzt er vielmehr „egoistisch“ und nahezu „autistisch“ jene Entfaltungsräume, welche die Moderne bietet, für seine eigene Entwicklung. Dies macht ihn, entgegen der ausgetretenen Pfade der Festreden-Rhetorik, zu allem anderen als einem barmherzigen Samariter und Musterschüler allgemeingesellschaftlich erwünschter Tugenden. Die bisweilen sogar skrupellos anmutenden sportspezifischen Werte machen ihn eher zu einem eigensinnigen Außenseiter als zu einer Wohlfühloase, in welcher alle Mühseligen und Beladenen dieser Welt Tröstung und wohlwollende Aufnahme erfahren.

4. S PORTBEZOGENER W ERTEWANDEL DURCH G ESELLSCHAFTSWANDEL ? Innerhalb des heutigen Sportdiskurses sind immer wieder Statements etwa dieser Art zu hören: Sport verstehe sich als Kulturgut, dem zu Beginn der Moderne eine gemeinsame Wertebasis zugrunde lag. Durch die Entwicklungen der Moderne komme es in Abhängigkeit zur Gesellschaft jedoch zu einem Wandel dieser Werte. Diese beiden Sätze suggerieren das Bild einer Kette von Gleichungen. Bei näherem Hinsehen erweist sich hingegen, dass es sich in Wirklichkeit eher um eine Kette von Ungleichungen handelt. Der Grund für diese Annahme liegt in der Doppel- bzw. Mehrdeutigkeit der in den beiden Sätzen miteinander verknüpften Begriffe, die nahezu im gesamten Sportdiskurs auf Kosten der Genauigkeit der Argumentation keine Beachtung findet. Die allgegenwärtigen Verwirrungen im Sportdiskurs haben eine maßgebliche Ursache in der Tatsache, dass der zugrunde gelegte eine Begriff des Sports zwei sehr deutlich unterscheidbare disparate Sachverhalte zu erfassen versucht: Er meint zum einen die elaborierte Form von Körperkultur, wie sie sich im frühmodernen England herausgebildet hat als ein Typ von spielerischer Selbstherausforderung zu höchstmöglichen körperlichen Leistungen, welche in regelgesteuerter wettbewerblicher Auseinandersetzung mit in dieser Hinsicht Gleichgesinnten angestrebt werden, dabei den Körper als Instrument der Leistungsproduktion einsetzen und dadurch selbstzweckhafte kulturelle Ereignisse hervorbringen. Man könnte diesen Typ Sport I nennen. Der Begriff meint zum anderen eine

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Vielzahl von weitaus weniger anspruchsvollen oder gänzlich anders strukturierten Formen der Körperkultur, die sich nicht bzw. kaum den Ambitionen von Sport I unterwerfen, meist den Körper und seine hygienisch oder ästhetisch motivierten Veränderungen als Zweck setzen, allenfalls nachrangigen Wert auf eine sport-asketische Lebensführung legen sowie auf die ernsthafte Austragung eines Wettbewerbs legen und folglich kaum die kollektive Hervorbringung eigenständiger selbstzweckhafter Ereignisse anstreben, sondern primär instrumentellen Charakter haben und der wenig geregelten individuellen Körperertüchtigung oder außersportlichen Zwecken dienen. Diesen Typ, der sich weniger aus dem Typ des Sport I ausdifferenziert, sondern sich eher neben und zum Teil in Konkurrenz zu diesem entwickelt hat, könnte man Sport II nennen. Diese Doppeldeutigkeit des Sportbegriffs zieht eine Reihe von Folgekorrekturen nach sich. Da ist zum ersten eine korrespondierende Doppeldeutigkeit der Zugehörigkeit des Sports zur Sphäre der Kultur. Die Sportidee überhaupt der Sphäre der Kultur zuzurechnen, ist insbesondere im deutschen Diskurs erst eine jüngere – und heute scheinbar schon fast wieder für überholt erklärte – Errungenschaft. Ursprünglich eher einer pädagogischen Sphäre der Sozial- und Moralerziehung und der Persönlichkeitsbildung sowie den Sphären der Wehrertüchtigung und der nationalen Repräsentanz im Wettbewerb der Völker zugerechnet, wird der Sport inzwischen weithin eher als Wirtschaftsfaktor und Instrument der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen. Tatsächlich jedoch ist der logische Ort des autonomen Eigensinns der Sportidee in der Sphäre der Kultur angesiedelt. Unbeschadet der Tatsache, dass Sportpraxis und Sportinstitutionen selbstverständlich in vielfältigen Kommunikationszusammenhängen mit allen anderen gesellschaftlichen Sphären stehen. Damit aber ist noch nicht alles gesagt. Denn die genannte Doppeldeutigkeit des Sportbegriffs spiegelt sich in einer entsprechenden Differenzierung auch in dieser Zuordnungsfrage. Das heißt: Sport I als der sinnstiftende Kernbereich dieses Sinnfeldes kann mit guten Gründen dem über- bzw. umgreifenden Bereich der Großfamilie der Künste zugerechnet werden. Er steht als eine der Kunstgattungen insbesondere neben performativen Künsten wie Theater, Ballett und Musik. Er ist somit Teilhaber der Sphäre der Hochkultur, auch wenn die Inszenierungsformen und das Verhalten des Publikums seiner Ereignisse häufig damit nur schwer vereinbar erscheinen mögen. Sport II hingegen ist mit seinen vielfältigen Formen der – im Unterschied zu Sport I auch auf seiner Akteurs-Seite wirklich massenwirksamen – weithin instrumentell orientierten und motivierten Körperertüchtigung Teilhaber der Sphäre der Alltagskultur. Die noch immer anzutreffende analoge Unterscheidung zwischen E- und UKultur findet in diesen beiden Feldern keinen Anknüpfungspunkt, weil beide in

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ihren Sinnkernen primär der Sphäre der Unterhaltung zuzurechnen und dadurch gegen in der Sache unbegründete Überbewertungen gefeit sind. Allerdings verläuft – bei aller Anerkennung der breiten Grau- und Übergangszone zwischen beiden Sportsphären – doch immerhin eine strikte Trennlinie zwischen ihnen beiden: An dem oben skizierten Wertekanon des Sports hat tatsächlich nur die Sphäre von Sport I vollgültigen Anteil. Die in Sport II versammelten, inhaltlich außerordentlich disparaten Formen der Körperkultur folgen je für sich einem eigenen Wertekanon, der bisweilen sehr weit von dem im Feld von Sport I geltenden Kanon entfernt sein kann. Zum zweiten ist deshalb auch das Attribut gemeinsam in den beiden einleitenden Sätzen dieses Abschnittes von der „gemeinsamen Wertebasis“ irritierend: Da schon zu Beginn der Moderne mit dem englischen Sport auf der einen und z.B. mit dem deutschen Turnen oder der schwedischen Gymnastik auf der anderen Seite gleichsam zwei Prototypen dessen aufgetreten sind, was hier für die spätere Zeit als Sport I und Sport II unterschieden wird (die allerdings institutionell bis heute aus guten Gründen oft unter dem gemeinsamen Dach anzutreffen sind), war von vornherein ebenjene gemeinsame Wertebasis auch für diese Großfelder der beginnenden modernen Körperkultur nicht gegeben. Denn die insbesondere durch die Kriterien der selbstzweckhaften Autonomie bzw. der instrumentellen Heteronomie des jeweiligen körperkulturellen Handelns markierte Scheidelinie trennte auch damals schon den beiderseits dieser Linie sinngebenden Wertekosmos deutlich voneinander. Zum dritten ist die oft als selbstverständlich unterstellte Annahme über den Sport und seine Wertebasis als integralem Teilhaber der Moderne weitaus problematischer, als es zunächst erscheint. Das hat seinen Grund nicht nur darin, dass der Moderne-Begriff selbst einer der umstrittensten des gegenwärtigen gesellschaftswissenschaftlichen Diskurses ist. Es hat seinen maßgeblichen Grund darin, dass selbst dann, wenn man diesen Moderne-Begriff und seine Attribute als unbestritten gegeben voraussetzen könnte, die Stellung des Sports innerhalb dieser Moderne ambivalent bleibt. Es ist gerade ein maßgebliches Kennzeichen der Sportidee, dass sie sowohl ein Kind wie auch ein Opponent der Moderne ist. Die ambivalente Stellung der Sportidee zu technische Errungenschaften, die ja gemeinhin als Indikatoren der Modernität gelten, ist bereits angesprochen worden. In gewisser Hinsicht kann man von einer regelrechten Archaik der Sportidee sprechen. Der sportwissenschaftliche Diskurs hingegen nimmt den Sport meist wahr als Inbegriff, ja Vorreiter der Modernisierungsdynamik: Ausdruck oder Spiegel, ja Motor von Rationalisierung, Technisierung und Beschleunigung. Dieses Urteil nimmt zwar tatsächlich sinntragende Elemente der Sportidee auf, verabsolutiert

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sie aber in unbegründeter Weise. Jenes Urteil beruht mithin auf einem selektiven Blick auf das Sportgeschehen. Dieser war exemplarisch und besonders prägnant zu besichtigen in der Kunstrichtung des italienischen Futurismus und in seinen faschistischen Adepten, die bezeichnenderweise starke, allerdings ideologisch „verbogene“ sportbezogene Komponenten enthielten. Jenes Fehlurteil beruht auf der Totalisierung von Teilaspekten und Epiphänomenen. Tatsächlich verkörpert und verteidigt die Sportidee im Kern, in den primären Attributen ihres kulturellen Eigensinns eine ausgesprochen antimoderne bzw. gegen die Vereinnahmung durch die Moderne resistente Archaik. Ähnlich wie alle Kunstgattungen ist der Sport, wohlverstanden, eine Form romantischer Rationalitäts- und damit auch partieller Modernitätsverweigerung, ein Gegenmodell zur Technik sowie ein Feld der Entschleunigung. Lediglich in Bezug auf sekundäre Attribute, z.B. die eingesetzten Sport- und Messgeräte oder Trainingsmethoden, aber auch in Bezug auf Rücksichtnahmen gegenüber den wichtigen Umweltmächten wie Wirtschaft, Politik und Recht, folgt das Sportgeschehen einem Anpassungsdruck des Modernisierungsfortschritts. Dies alles, und damit wird abermals die Unverzichtbarkeit der oben begründeten innsportsportlichen Unterscheidung unterstrichen, gilt vor allem für Sport I. Im Zentrum steht dabei dessen autotelischer Charakter, seine konstitutive Selbstzweckhaftigkeit und Abwehr gegen die Instrumentalisierung für außersportliche Nutzenerwartungen, mit denen er sich gegen die Übermacht der instrumentellen Vernunft als eines der maßgeblichen Attribute der Moderne sperrt. Scheinbar paradox, erweisen sich hingegen viele Formen von Sport II, die aufgrund des dort meist schwach ausgeprägten, grundsätzlich der Moderne zuzurechnenden Leistungs- und Wettbewerbsstrebens eher als „Aussteiger“ aus den Anforderungen des Modernisierungsdrucks erscheinen könnten, in ihrem Sinnkern eher als Adepten der Moderne, insofern viele der dort praktizierten Formen der Körperkultur außersportlich-instrumentellen Zielen unterstellt werden. Sportwerte können mithin nur partiell als Werte der Moderne identifiziert und klassifiziert werden. Zum vierten erweist sich noch eine weitere scheinbare Gleichsetzung tatsächlich eher als eine Ungleichung. Eben weil der Sport nur in der beschriebenen partikularen und ambivalenten, sperrigen und widerstrebenden Weise Teil der Moderne – genauer: Teilhaber an der romantischen Seite der Moderne – ist, kann der seit längerem beobachtbare und weiter fortschreitende Wandel des Sports nur sehr ungenau als eine einfache Folge von „Entwicklungen der Moderne“ beschrieben und gedeutet werden. Der Wandel des Sports ist grundsätzlich, und so auch hier, kein bloßer Ausfluss des Wandels der Gesellschaft. Er folgt keineswegs nur dem Einfluss sportexterner Mächte, sondern primär stets einer sportei-

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genen internen Entwicklungsdynamik. Dies wird in der verbreiteten kurzschlüssigen Unterstellung, dass Sportwandel auch Gesellschaftswandel sei, beharrlich übersehen. Der übliche Diskurs über Werte des Sports und deren Affinität zur gesellschaftlichen Modernisierung impliziert bei genauerem Hinsehen nicht nur eine, sondern sogar zwei unbegründete Gleichsetzungen: Erstens ist festzuhalten: Natürlich steht die Sportidee nicht gänzlich außerhalb der Modernisierungstrends der Gesellschaft insgesamt. Sie steht vielmehr, wie ihre Verwandten in der Sphäre der Kunst, insgesamt auf der Seite des romantischen „Sehnens“ innerhalb von Joseph Hubers Beschreibung der Moderne als konkurrierender Einheit von rationalistischem „Herrschen“ und romantischem „Sehnen“. Die Sportidee bezieht ihre Dynamik, ihre Rechtfertigung, ihre Ressourcen und ihre Faszinationskraft aus der Tatsache, dass die modernen Gesellschaften sich den „Luxus“ leisten (und aufgrund ihres fortgeschrittenen sozioökonomischen Entwicklungsstandes leisten können), erhebliche gesellschaftliche Ressourcen mit Investitionen für nichtproduktive kulturell-ästhetische Schöpfungen z.B. in Werke der Künste einschließlich des Sports zu „verschwenden“. Diese wiederum können sich auf diese Weise von einigen der maßgeblichen weiteren, „materialistisch“ auf Rationalität, Effizienzstreben, Ökonomisierung, Nützlichkeit und Fortschritt gerichteten Triebkräfte der Moderne emanzipieren. Die Sportidee folgt somit allein schon deshalb nicht einfach dem allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandel, weil sie selbst nur eine selektive Verkörperung einiger Werte der gesellschaftlichen Moderne darstellt. Zudem verwandelt sie sich diese ohnehin schon selegierten Werte noch einmal so weit an, dass diese in die Struktur des kulturellen Eigensinns der Sportidee „hineinpassen“. Diese Feststellungen gelten erneut nur für das Sinnfeld von Sport I. Zweitens ist festzuhalten: Auch die innersportliche Ausdifferenzierung in die hier grob unterschiedenen Sinnfelder von Sport I und Sport II selbst folgt weder direkt aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandel, noch ist sie überhaupt sinnvoll als innersportlicher Wertewandel im Sinne einer Verdrängung von etwas Hergebrachtem durch etwas Neues zu beschreiben. Wir haben es vielmehr mit einer – nun in der Tat z.T. durch sportexterne Erwartungen wie z.B. die Abwehr von sozioökonomischen Belastungen aus sog. Zivilisations- und Bewegungsmangelkrankheiten induzierten – Pluralisierung der Formen von Körperkultur zu tun. Dabei behält die Sinnstruktur von Sport I im Wesentlichen die hergebrachte kulturelle Autonomie und antiinstrumentelle Widerständigkeit ihrer Idee, ihrer leitenden Werte sowie die Regeln und Inszenierungsformen ihrer Ereignisse bei. Die Vielfalt der Formen und der leitenden Werte von Sport II hingegen macht das eigentliche Potenzial jener Pluralisierung aus. Sie ergibt sich

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jedoch nur sehr partiell aus einer Ausdifferenzierung aus dem Sport I heraus (z.B. in Gestalt breitensportlicher „Schrumpfformen“ des Leistungssports), sondern in ihrer ganz überwiegenden Menge als Neubildungen körperkultureller Formen von Körperertüchtigung u.ä., die sich neben die davon unbeeinflusst bleibenden Formen von Sport I stellen und mit diesen nicht wirklich konkurrieren, sondern diese vielmehr komplementär ergänzen und insofern das Gesamtfeld körperkulturellen Handelns erweitern und damit die Gesellschaft insgesamt bereichern.

5. S PORTVEREIN

UND MATERIELLE

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Im Alltagsgebrauch des Begriffs von Sport sind zwei sehr unterschiedliche Aspekte zusammengefasst: die kulturelle Ebene sport-praktischen Handelns sowie die institutionelle Ebene sport-politischen Handelns. Die bisherigen Überlegungen zum Wertekanon des Sports beziehen sich weitgehend auf die erste dieser beiden Ebenen. Obwohl hierauf der Schwerpunkt der hier vorgetragenen Argumentation liegt, kann auch die zweite jener beiden Ebenen natürlich nicht gänzlich ausgespart bleiben. Auch hier gilt zwar die Sportidee als primäre Referenzgröße für das politische Handeln, in diesem Rahmen allerdings gelten andere und nun zumeist auch enger an die allgemeinen Werte politischen Handelns angelehnte Werte sportpolitischen Handelns. Für die vorstehenden Erörterungen ist folglich der Hinweis wichtig, dass diese theoretischen begrifflichen Unterscheidungen kein bloßes intellektuelles Glasperlenspiel bedeuten. Sie ziehen vielmehr Konsequenzen für das praktische Handeln nach sich. Das sportpraktisch-kulturelle Handeln „auf dem Platz“ unterscheidet sich im Bedeutungsraum von Sport I deutlich von dem von Sport II. Ebenso unterscheidet sich das sportinstitutionell-politische Handeln für die Förderung dieser beiden Bedeutungsräume deutlich voneinander. Vereinfacht gesprochen: Leistungs- und Freizeitsport-Förderungspolitik haben es mit sehr unterschiedlichen Sachverhalten und Schwerpunktsetzungen zu tun. Das heißt nicht, dass sie sich nicht innerhalb eines institutionellen Systems und unter Bezug auf dieses eine System vollziehen könnten, also etwa innerhalb der gemeinsam zuständigen öffentlichen Sportverwaltungen sowie innerhalb der nichtstaatlichen Sportvereine und -verbände. Für eine solche Zusammenarbeit unter einem Dach sprechen sogar sehr gewichtige pragmatische Gründe. Es muss nur durch innerinstitutionelle Abgrenzungen und Schwerpunktsetzungen gewährleistet werden, dass die beiden Felder mit ihren unterschiedlichen Aufgaben nicht miteinander vermischt, in ein sachlich unbegründetes hierarchisches Verhältnis und

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damit gegeneinander in eine unfruchtbare Konkurrenz um das Prestige sowie um die stets knappen materiellen Ressourcen versetzt werden. Im Sportdiskurs werden auch in dieser Hinsicht vielfach einschlägige Begriffe in das Verhältnis von scheinbaren Gleichungen versetzt, obwohl wir es hier ebenfalls eher mit Ungleichungen zu tun haben. So kann man z.B. Einschätzungen hören wie: Der Sportverein sei ein Ort, an welchem sich die Spannungen innerhalb der sportbezogenen Modernisierung niederschlagen, da er die wichtigste Zelle des organisierten Sports sei und als solcher gleichsam das gesamte gesellschaftliche Teilsystem Sport repräsentiere. Die Eliten des Sports der Moderne müssten sich zwangsläufig über die ökonomischen Seiten ihrer Tätigkeit verständigen, weil ein Verein zu einem Wirtschaftsunternehmen geworden ist, das einen bestimmten Markt-Wert besitzt. Im Fokus stünden in diesem Bezug das Spannungsverhältnis zwischen den ideellen und den materiellen Werten eines Vereins. Dazu ist folgendes festzuhalten. Wenn man den Sport erfassen will, muss man zwei weitere theoretische Unterscheidungen berücksichtigen. Die erste Unterscheidung bezieht sich auf die bereits angesprochene interne Doppeldeutigkeit des Sportbegriffs: Der Begriff Sport steht zum einen für das kulturelle Handeln auf dem Platz, und damit auch für die Elemente jenes Eigensinns sowie der darauf bezogenen sportspezifischen Werte. Zum anderen steht er für das institutionelle Handeln in den Organisationen, die gleichsam als Mandatsträger und Treuhänder der Sportidee den administrativen Rahmen für das sportpraktische Handeln schaffen. Die zweite Unterscheidung bezieht sich, korrespondierend dazu, auf die systemische Verfasstheit des Sports: Die Sport-Idee verkörpert das reine SinnSystem von Sport als kulturellem Handeln. Die Sport-Institutionen wie z.B. der Verein hingegen verkörpern ein sinngemischtes Sozial-System, in welchem der Eigensinn anderer Sinnsysteme mitwirkt und diese alle unter der Hegemonie der Sportidee und ihres kulturellen Eigensinns zusammenwirken. Während der Sport als Sinnsystem sich tatsächlich nur an seinen bereichsspezifischen Werten orientiert und orientieren darf, kommen im Sport als Sozialsystem die bereichsspezifischen Werte aller anderen mitwirkenden Sinnsysteme, also insbesondere auch politische, rechtliche, allgemeinmoralische, religiöse, pädagogische und ökonomische Referenzen zum Tragen. Dabei gilt allerdings stets – eben – die Hegemonie des kulturellen Eigensinns der Sportidee, der die anderen sich zu unterwerfen haben und durch welche diese in ihrer konkreten Ausrichtung und Einflussmacht beschränkt und gleichsam domestiziert werden. Mithilfe dieser theoretischen Unterscheidungen werden die im Kontext dieses Abschnitts sich stellenden Fragen genauer fassbar. In dem auf diese Weise

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differenzierter zu erfassenden Zusammenhang spielen selbstverständlich auch ökonomische Werte eine, aber eben eine der Sportidee untergeordnete Rolle. Diese bereichsspezifische Differenzierung und Hierarchisierung von Werten wird zumeist im Sportdiskurs durch salvatorische Klauseln überspielt und eingeebnet. Stattdessen wäre es die Aufgabe empirischer Forschung, mehr Klarheit in diese spannungsreiche Beziehung zwischen ideellen und materiell-ökonomischen Werten zu bringen, welche auf der Ebene in erster Linie der Vereine, aber auch der anderen sportpolitischen Institutionen ausgetragen werden. Ein Diskurs, welcher hier nicht mit trennscharfen Begriffen arbeitet, trägt nicht zur Klärung bei. Die auf einer so unklaren Grundlage herausgestellten und dann so genannten „Werte eines Sportvereins“, möglichst noch zusammengetragen in einem „Leitbild“ oder einer „Philosophie“ dieser Organisation, können kaum mehr sein als ein Sammelsurium von zwar Wünschenswertem, das aber weder nach außen durch seinen sportspezifischen Charakter abgegrenzt ist noch innersportlich die zwischen Sport I und II verlaufenden Grenzen berücksichtigt. Solche beliebigen Werte-Kataloge können dann bunt zusammengewürfelte Zielgrößen enthalten wie Verbindung von Körper, Geist und Wille (Leib-SeeleEinheit), Freude an Leistung, gesellschaftliche Verantwortung, Förderung einer friedlichen Gesellschaft, Wahrung der Menschenwürde, Sport als Menschenrecht, Freundschaft, Gemeinschaftserlebnis, Solidarität und Fairplay, Autonomie des Sports, Demokratie und die Gleichbehandlung aller Menschen und Völker und Toleranz. All diese Werte unterliegen zudem einem irgendwie gearteten Wertewandel. Neben bzw. sogar vor allen anderen Einwänden ist hier ganz grundsätzlich zu fragen, inwieweit man in unserem Zusammenhang überhaupt gehaltvoll und begründet von Werte-Wandel sprechen kann. Haben wir es tatsächlich mit einem – zudem zumeist offensichtlich als ergebnisoffen vorgestellten – semantischen Wandel von Wert-Inhalten zu tun? Wandelt sich also z.B. im Laufe der Geistes-, Politik- und Rechtsgeschichte die inhaltliche Bedeutung des Werts Menschenwürde? Oder haben wir es statt einer solchen semantischen Modifizierung nicht eher mit einer Werte-Ergänzung im Sinne einer inneren Ausdifferenzierung von ursprünglich zu grobschlächtig gegeneinander abgegrenzten Werten zu tun, innerhalb derer nun Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden, welche zuvor aus mangelnder Einsicht in die Vielfalt legitimer menschlicher Arten der Lebensführung tabuisiert worden sind? Und haben wir es schließlich nicht eher mit jeweils zielgerichtet angestrebten Schritten zur pragmatischen Universalisierung, also zur Geltungsausweitung jener Werte zu tun, die man sich als eine Art von asymptotischer Annäherung an die möglichst weltweite zunächst ideelle und schließlich auch praktische Geltung vorstellen könnte?

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6. W ERTE IM S PORT : WEDER ABBILD NOCH V ORBILD DER W ERTE DER G ESELLSCHAFT Die oben genannten Unklarheiten und Unstimmigkeiten gehen nicht zuletzt darauf zurück, dass der öffentliche und selbst der bisherige wissenschaftliche Sportdiskurs maßgeblich geprägt sind von einem notorischen Sich-zufriedenGeben mit solchen diffusen rhetorischen Beschwörungsritualen. Dazu haben insbesondere auch die schlecht begründeten Wunschvorstellungen in jenen grundlegenden Prinzipien beigetragen, die als eine Art von Präambel der Olympischen Charta vorangestellt sind (Güldenpfennig, 2004, Kap. 12). Statt deren innere Inkonsistenz in Frage zu stellen und an einer überfälligen Neubegründung der Olympischen Idee zu arbeiten, werden die dort formulierten hehren Zielvorstellungen immer wieder beschworen und – als gleichermaßen untaugliche Gegenreaktion – als Maßstab für die Kritik an vermeintlichen (und z.T. selbstverständlich auch an tatsächlichen) Fehlentwicklungen des internationalen Sports herangezogen. Als vermeintlicher Beleg für den sportbezogenen Wertewandel wird dann gern das Beispiel der Abschaffung der Amateurklausel in der Olympischen Charta 1981 herangezogen. Dabei ist dieser Amateurgedanke gar kein eigenständiger und schon gar kein sportspezifischer Wert. Er war vielmehr von vornherein nicht mehr als eine spezifische sozialhistorische Bedingungen geschuldete Chimäre, welche durch die IOC-Entscheidung von 1981 korrigiert wurde. Denn die Werthaltigkeit jeglicher ästhetisch-schöpferischer Kulturgüter, und damit des sportlichen ebenso wie irgendeines anderen künstlerischen Handelns, hängt nicht von den je akzidentiellen ökonomischen Bedingungen oder Folgen ihres Zustandekommens ab. So wie in den anderen Künsten, ja in jeder Art von Berufstätigkeit ist nichts Grundsätzliches dagegen einzuwenden, dass aus der entsprechenden Tätigkeit persönliche Einkommen entstehen. Mithin ist das aus dem 19. Jahrhundert hergebrachte Amateurgebot im Sport durch nichts als die damaligen sozial diskriminierenden Absichten zu erklären – und somit nicht zu rechtfertigen. Zu einer Wertminderung des sportlichen Geschehens kann Professionalismus nur dann führen, wenn weitere, und zwar mit dem Sportsinn tatsächlich nicht vereinbare Faktoren hinzutreten. Werte sind in ihrem logischen Status bestimmt durch Selbstreferenz und Autonomie. Das heißt: Sie beziehen sich zunächst nur auf sich selbst, begründen und rechtfertigen sich durch sich selbst. Folglich gelten sie idealerweise unbedingt, also unabhängig von situativen und akzidentiellen Gegebenheiten sowie von individuellen Motivationen. Ihre unbedingte Geltung kann allerdings zum einen im Fall von echten Wertkonflikten oder von unabweisbaren Opportunitätsabwägungen relativiert werden. Zum anderen kann sie unterschiedliche Reich-

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weiten haben. Das heißt, Werte können für universale bzw. für partikulare Bereiche gelten. Hier liegt zu unserem Thema ein wichtiger Unterschied zwischen allgemeinen gesellschaftlichen und besonderen sportlichen Werten vor. Auf dieser Grundlage und darüber hinausreichend haben Werte zudem einen pragmatischen Status. Das heißt: Ihnen kommt die Aufgabe zu, dem praktischen Handeln Orientierung durch Zielvorgaben und Herausforderungen zu ihrer Erreichung zu geben. In solchen Diskussionen ist oft auch von „materiellen Werten“ die Rede. Auch sie sind selbstverständlich wichtig, gehören jedoch kategorial in einen gänzlich anderen Zusammenhang. Der oben zitierte Paul Tiedemann hatte hier zwischen prinzipiell und graduell geltenden Werten, lateinisch zwischen dignitas (Wert oder Würde) und pretium (Preis) unterschieden. Der kategoriale Unterschied besteht allein schon darin, dass es bei den materiell-ökonomischen Werten stets um von äußeren Umständen abhängige Größen und deshalb um situative Ermessensabwägungen und Schwerpunktsetzungen geht. Bei den ideellen Werten z.B. des Sports hingegen geht es ausschließlich um solche nichtmateriellen, sich aus dem kulturellen Eigensinn ergebenden sozialmoralischen Werte, welchen eine verbindliche, verpflichtende, unabweisbare Geltung und Bedeutung als Orientierungsmarken für das individuelle und kollektive sportpraktische und sport-institutionelle Handeln zukommt. Unter dem Anspruch, über die allgemeinen Insuffizienzen des bisherigen Wertediskurses im Sport hinauszugelangen, werden abschließend noch einige weiterführende Überlegungen zu der Frage angeschlossen, womit wir es überhaupt zu tun haben, wenn wir von Werten des Sports sprechen. Anregungen zum Weiterdenken der Problematik seien in den folgenden Thesen umrissen. (1) Sport verstehen und verantworten: Nur wenn wir weit mehr als bisher darin investieren, zu verstehen – und das heißt: wohlbegründet zu unterscheiden –, was im Sport gilt und was nicht, können wir in unserem praktischen sportlichen und sportpolitischen Handeln dem gerecht werden, was es heißt, Sport zu verantworten. Der Sport hat, wie jeder andere gesellschaftliche Bereich, mit einer Vielzahl von gravierenden praktischen Problemen zu ringen, die, solange sie unverstanden und ungelöst vor sich hin schwären, seine Glaubwürdigkeit und damit Zukunftsfähigkeit beeinträchtigen. In einer solchen Lage aber ist die Sportpolitik in einer ähnlichen Lage wie die Medizin: Wenn die Diagnose nicht stimmt, kann die Therapie allenfalls zufällig erfolgversprechend sein, wird in aller Regel aber die Krisen unbewältigt vor sich her schieben. Hier liegt der Grund sowohl für eine wohlinformierte Mitverantwortung der Wissenschaft für jegliche sportbezogene Praxis, wie umgekehrt der Grund für

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eine aufgeschlossene Angewiesenheit der Praxis auf solide wissenschaftsgestützte Aufklärung. Diese wechselseitig befruchtende Abhängigkeit ist von beiden Seiten her nach wie vor zu wenig anerkannt und in gegenseitig hilfreiche nachhaltige Kooperation umgesetzt. Sport verstehen, um ihn verantworten zu können, bedeutet insbesondere auch die folgende Einsicht zu beherzigen. Der eine Sport ist bzw. sind in Wirklichkeit zwei: zum einen der Sport im engeren Sinn (Sport I) mit einem klar erkennbaren und unterscheidbaren kulturellen Eigensinn; zum anderen alle möglichen sportähnlichen Formen körperkultureller Betätigung mit sehr unterschiedlichen Sinngebungen (Sport II). Beide bilden verschiedene Welten, in deren Binnenraum sehr unterschiedliche Werte gelten. (2) Das Geflecht von universalen und partikularen Werten: Werte sind immaterielle, relativ zeitunabhängig geltende und wirksame Güter, die eine Gesellschaft reich und lebenswert machen und um deren Verteidigung daher gerungen werden muss. Sie bilden ein Geflecht von vorgeordneten universalen und nachgeordneten partikularen Werten, die einander ergänzen, aber nicht ersetzen. Innerhalb des Geltungsbereiches der partikularen Werte, so z.B. im Sport, kann diese Hierarchie unter bestimmten Bedingungen umgekehrt werden. (3) Destruktive Folgen von Vereinseitigungsversuchen: Eine Gesellschaft, die das Zusammenspiel innerhalb dieses Wertegeflechts zu vereinseitigen, zu vereindeutigen versucht, indem sie eine der beiden Ebenen zu Lasten der anderen bevorzugt, verarmt und bleibt damit unter ihren humanen Entfaltungsmöglichkeiten. Im schlimmsten Fall verfällt sie in einen destruktiven Tugend- oder Banalitäts-Furor. (4) Referenz auf den kulturellen Eigensinn und Eigenwert des Sports: Eine Diskussion über Werte im Sport kann dann gehaltvoll und mit Gewinn für die Praxis geführt werden, wenn sie stets der Rückbezug auf den kulturellen Eigensinn und Eigenwert der Sportidee sucht und diese als maßgebliche Urteilsbasis ernst nimmt. Der Wert des Sports liegt vor allem anderen darin, seinen kulturellen Eigensinn glaubhaft zu realisieren und zu publizieren. (5) Zu weit und zu kurz greifende Bewertungen: Die Rede ist hier vom Sport im engeren Sinne, nicht von der Vielzahl nur sportähnlicher Körperkultur-Formen, die anderen Werten folgen. Bei ersterem gelten nur partikulare, selbstreferente, dem Sportsinn selbst entspringende Werte. Bei letzteren geht es um Beiträge zur Verwirklichung von universalen, fremdreferenten, dem Sinn des jeweiligen Bezugssystems entspringenden, z.B. pädagogischen, sozialen, gesundheitlichen,

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fitnessorientierten oder ästhetischen Werten. Diese beiden Sphären sind durch eine relativ scharf markierte Grenze voneinander getrennt und erfordern eine je eigene Sportpolitik. Jenem Sport im engeren Sinne werden heute meist zu weit oder zu kurz greifende Bewertungen zugeschrieben. Er wird entweder zum wertemäßigen Alleskönner übersteigert. Oder er wird zum bloß minderwertigen Geschäft oder Unterhaltungsbetrieb herabgewürdigt. Die institutionalisierte Sportpolitik verzettelt sich allzu oft in der Verheißung utopischer außersportlicher Werte. Die publizistische Sportkritik hingegen erschöpft sich allzu oft in der Fixierung auf trivialisierende Oberflächenphänomene und unterschätzt dabei die Selbstbehauptungsfähigkeit der Eigenwerte des Sports. Der Sport im engeren Sinn verkörpert legitime eigenständige Werte. Sie machen ihn in seiner gesellschaftlichen Umwelt unverwechselbar und unersetzbar als ein Feld kulturellen Handelns, mit dem die menschliche Welt insgesamt reicher werden kann. Statt wie in der bisher gängigen Sportrhetorik als gesamtgesellschaftlicher Alleskönner überschätzt zu werden, sollten sich die Erwartungen an den Sport auf diese Aufgabe einer ästhetischen Bereicherung der Gesellschaft konzentrieren und beschränken. Schon eine solche Selbstbescheidung für sich genommen bleibt noch immer überaus anspruchsvoll und reizvoll und stellt höchste Anforderungen an alle Beteiligten. (6) Wert des Sports als gelingendes Spiel: Die Werte, die der Sport und nur er zu verantworten hat, kulminieren in der Idee vom gelingenden Spiel, in dem die nur durch die Spielidee und die dafür geschaffenen Regeln gebildeten Parteien sich einer Selbstherausforderung aussetzen, in einen künstlichen Wettbewerb miteinander eintreten, darin um den Sieg ringen und dadurch ein kulturelles, eben das Sport-Ereignis schaffen. Die so angestrebten Werte bedeuten nicht weniger, aber auch nicht mehr als ebendies. Das mag manchen als allzu trivial erscheinen. Aber entgegen den vielfältigen utopischen und oft gedankenlosen Versuchen, die gesellschaftliche Bedeutung des Sports durch die Zuschreibung weiterreichender Verantwortungen aufzuwerten, kann allein eine solche bescheidene Sicht dem realistischen Möglichkeitsspielraum des Sports gerecht werden. Zu hoch greifende Überschätzung entpuppt sich in Wirklichkeit als Ausdruck von Geringschätzung. (7) Vorbehalt universeller Werte: Alles, was im Sport geschieht, steht selbstverständlich wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen unter der Geltung und unter dem praktischen Vorbehalt allgemeiner, human begründeter und verfassungsmäßig institutionalisierter Werte. Alle verantwortlichen Träger der

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Sportidee sind in ihrem praktischen Handeln als Menschen und Staatsbürger zunächst an die vor- und übergeordnete Geltung dieser Werte gebunden. Genauer: Alles hier Gesagte, also insbesondere das Primat partikularer sportlicher Werte vor universalen gesellschaftlichen Werten, gilt nur für den durch den kulturellen Eigensinn der Sportidee abgegrenzten Raum des Handelns sportpraktischer und sportinstitutioneller Akteure. Also dann und nur dann, wenn Menschen als Sportakteure handeln. Wenn Menschen als Menschen im unbegrenzten gesellschaftlichen Raum handeln, gilt selbstverständlich die Hegemonie universaler über partikulare Werte. (8) Geltung partikularer Werte des Sports: Inner- und unterhalb der Ebene jener übergeordneten allgemeinen Werte jedoch sind die Verantwortungsträger der Sportidee und ihrer spezifischen, nicht austauschbaren Botschaften auf deren partikularen Werte verpflichtet und aufgefordert, ihnen innerhalb des Handlungsfeldes des Sports strikte Geltung zu verschaffen. Um dies zu rechtfertigen und praktisch zu ermöglichen, ist der Sport – räumlich begrenzt (Sportplatz) wie zeitlich befristet (Spieldauer) sowie durch die Gewähr strikter Gewaltlosigkeit seiner Handlungsabläufe (Spielregeln) – partiell freigestellt von der strikten Geltung allgemeiner Werte. Er darf und soll ein multiples „Un-Ding“ sein: unehrlich, un-friedlich, un-gerecht, un-sozial, un-gesund, un-ökonomisch, undemokratisch, un-nütz, ja un-sinnig. Aber er wird eben dadurch zu einem erwünschten Unding. Insofern kann und darf er entgegen notorisch anderslautenden Beschönigungen gerade kein Vorbild für die Gesellschaft sein. Eine Gesellschaft, welche die sportspezifischen Werte zur generellen Norm erhöbe, würde sich vielmehr selbst zerstören. Gerade durch jene legitime Frei- und Sonderstellung aber kann der Sport seiner zentralen Aufgabe nachkommen: das Gesamtmosaik der Gesellschaft um eine unverwechselbare und insofern unverzichtbare kulturelle Facette zu bereichern. Die Werte dieses Sports im engeren Sinn sind mithin so eigenständig, stehen vielfach so stark im Widerspruch zu allgemeinmenschlichen Werten und gelten außerhalb des Sports so sehr buchstäblich als Un-Dinge, dass er untauglich wird als Vorbild für das allgemeine Handeln in der Gesellschaft. (9) Begrenzte Reichweite aufgrund begrenzter Machtressourcen: Der Sport als Sport und die Träger seiner Idee sind gehalten, das in dessen Reichweite Liegende zu verwirklichen. Dazu gehören vorrangig nicht allgemeingesellschaftliche Werte. Denn hierfür verfügt er aufgrund seines eng begrenzten Sinnraumes weder über ein entsprechendes Mandat noch über hinreichende Machtressourcen. Er kann die Verwirklichung solcher allgemeinen Werte nur insoweit unterstüt-

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zen, wie sie sich funktional aus seinem Eigensinn ergeben und sich insofern an die Verwirklichung der partikularen sporteigenen Werte anschließen können. Das heißt: Nur in dem Maße, wie die in diesem Feld übergeordneten sportimmanenten Werte – so z.B. die Forderung nach rückhaltlosem Einsatz aller durch die Regeln zugelassenen Mittel im Wettkampf – verwirklicht werden, können sich weiterreichende, hier jedoch untergeordnete politische Ziele anschließen. Eine Umkehrung dieser Hierarchie jedoch führt in eine Lose-lose-Situation, die sowohl dem Sport wie den Sekundärzielen die Grundlage entzieht. Auf dem Platz sportliche Werte allgemeingesellschaftlichen Werten unterzuordnen, zerstört das Spiel und hilft den allgemeinen Werten nicht. Glaubwürdigkeit, Legitimität und gesellschaftliche Ausstrahlung können diese sporteigenen Werte allerdings nur dann gewinnen und nachhaltig behaupten, wenn alle personellen und institutionellen Träger der Sportidee ihr Handeln tatsächlich verlässlich an den Forderungen von dessen kulturellen Eigensinn sowie an den von den autonomen Sportorganisationen sich selbst gegebenen Regeln ausrichten. Die allgegenwärtige Tatsache notorischer Missachtung dieser Werte und ihrer Forderungen muss Gegenstand unnachsichtiger Kritik sein. (10) Leere symbolische Gesten und/oder sportpolitischer Schaden: Da der Sport für weiterreichende Ambitionen nicht über hinreichende Macht verfügt, erschöpfen sich – im positiven Fall – entsprechende allgegenwärtige Ansprüche im Hinblick auf ihre gesamtgesellschaftliche Wirkung in leeren symbolischen Gesten. Sie richten – im negativen Fall – im Verantwortungsbereich des Sports selbst sportpraktischen oder sportpolitischen Schaden an. Ein Großteil der Probleme des Sports, die er als scheinbar unlösbar vor sich herschiebt, entsteht nicht nur aus individuellen Verfehlungen oder externen Eingriffen, sondern aus einer notorischen und unreflektierten Verletzung der Grenze, die hierdurch markiert ist. Dies gilt nicht nur für sportwidrige Interessen und Intentionen, die den Sport für außersportliche und gesellschaftspolitisch fragwürdige Ziele zu instrumentalisieren versuchen. Es gilt grundsätzlich auch für wohlmeinende Versuche, den Sport für gesellschaftlich nützliche und anerkannte Ziele einspannen zu wollen. In dem Maße jedoch, wie der Sport und seine Ereignisse sinngerecht gelingen, also die sporteigenen Werte tatsächlich verwirklicht werden, können sich auch weitergehende allgemeine, über den Sport selbst hinausweisende Werte an ihn anschließen. Diese Chancen bleiben jedoch unaufhebbar abhängig vom Gelingen des Sports selbst. Sie ihm als eigenständige Verpflichtungen über seine engere sportbezogene Verantwortung hinaus aufzuerlegen oder diesen sogar überzuordnen, überfordert seine Wirkungsmöglichkeiten und gefährdet damit das sportliche Projekt insgesamt.

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Was ist ein Sportverein „wert“? Vereine als Seismographen der Werteforschung P IA K LEMS Ihr kennt von allem den Preis, aber von nichts den Wert! OSCAR WILDE

„Respekt“, „Toleranz“, „Fairness“, „Teamfähigkeit“, „Verantwortung“. Dies alles sind Werte, die unweigerlich mit dem Sport und seinen Institutionen verbunden sind (Elflein & Huh, 2013). Sie gestehen dem Sport in der Gesellschaft eine wichtige Rolle zu und sind teilweise sowohl Legitimation für die Förderung des Sports als auch Grund für dessen Ausübung und bieten zudem die Möglichkeit einer erzieherischen Komponente (vgl. Klein, 2006). Sport ist dabei durch seine im Sinne der Verwertbarkeit unproduktiven Handlungen besonders geeignet, mit Werten aufgeladen zu sein (Messing & Emrich, 1996). Medienberichte über Ausschreitungen von Fans, Gewalttätigkeiten von Spielern und Trainern, Doping oder Matchfixing zeigen jedoch auch einen anderen Werteraum innerhalb des Sports auf. Dieser Wertekonflikt wird durch unterschiedliche Erwartungen an den Sport sichtbar. Zentral für diesen Konflikt sind die teilweise im Spannungsverhältnis zueinanderstehenden Wünsche nach moralischen Werten und einer ökonomischen Verwertbarkeit des Sports (vgl. weiterführend Emrich, Pitsch & Papathanassiou, 2001). In diesem „Kräftespiel“ (Niedermann, 1986, S. 11) um die ihm eigenen Werte, gerät der Sport in Gefahr, sein Selbstverständnis zu verlieren. Um dem Sport die Möglichkeit zu geben, ein eigenes Selbstverständnis darzustellen, muss daher ermittelt werden, welche prägenden Werte dem Sport eigen sind und wie sie wirken. Durch diese kann sich der Sport ein eigenes Profil schaffen und sich von anderen Teilbereichen der Gesellschaft abgrenzen. Die Forschung über Werte hat aufgezeigt, dass sich Werte in der Gesellschaft im zeitlichen Verlauf verändern. Dieser Wertewandel ist auch im Sport zu diagnos-

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tizieren, wobei in populären wie wissenschaftlichen Darstellungen bislang weitgehend unklar geblieben ist, in welcher Form sich ein Wertewandel vollzogen hat. Bisher ist von der Forschung nicht herausgearbeitet worden, ob die Werte des Sports bzw. diejenigen des wichtigsten Anbieters für organisierte Sportaktivitäten, des Sportvereins (Nagel & Schlesinger, 2012), eine seismographische Funktion übernehmen können. Ob die Werte als Spiegelbild der gesellschaftlichen Werte gelten können, ist damit zunächst fraglich. Ungewiss ist zudem, welche Werte sich wie wandeln und ob nur bestimmte Werte einen verzögerten Wandel vollziehen. Der vorliegende Aufsatz zielt darauf, beispielhaft Problemfelder und Analysedimensionen einer Untersuchung über die Werte des Sports und der Sportvereine zu veranschaulichen. Dabei wird nicht das Ansinnen verfolgt, die eigentliche empirische Analyse durchzuführen, sondern vielmehr Bereiche und mögliche Zugänge zu skizzieren, die einer solchen Analyse zugrunde liegen. Verbunden werden diese Prolegomena mit einem Plädoyer für die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer stärkeren Wertorientierung der Vereinsforschung als Korrelat zur dominanten struktur-funktionalen Perspektive.

ANNÄHERUNGEN

AN DEN

B EGRIFF „W ERT “

Der Begriff „Wert“ bzw. der Plural „Werte“, synonym zu Werthaltung oder Wertorientierung zu verstehen, wird je nach Kontext und wissenschaftlicher Fachrichtung unterschiedlich interpretiert und zeigt je nach Kontext unterschiedliche Konnotationen auf (Regenbogen, 2013). Der vorliegende Aufsatz richtet sich an der sozialwissenschaftlichen Sichtweise von Kluckhohn aus, welche einen Konsens über Werte bildet und bei der der Begriff wie folgt definiert wird: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action“ (Kluckhohn, 1951, S. 395 zitiert in: Dorsch et al. (Hrsg.), 1994, S. 871) „Ein Wert ist eine explizite oder implizite für das Individuum kennzeichnende oder für eine Gruppe charakteristische Konzeption des Wünschenswerten, die die Selektion von vorhandenen Arten, Mitteln und Zielen des Handels beeinflusst.“ (Übersetzung von Kmieciak, 1976, S. 148)

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Das zirkuläre Element „wünschenswert“ wird von Kluckhohn als moralisch, rationales und/oder ästhetisches Kriterium verstanden, welches unerklärt bleibt und keine inhaltliche Unterscheidung bietet (Albert, 2008). Daher wird hier unter „wünschenswert“ ebenso „begehrenswert“ bzw. auch als „begehrt werden sollen“ verstanden. Die Forschungen über Werte bilden ein interdisziplinäres Feld, das sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet und entwickelt hat (Regenbogen, 2013). Sozialwissenschaftlichen Ansätzen kommt dabei besondere Bedeutung zu. Die Werteforschung geht Fragen der Entstehung von individuellen und gesellschaftlichen Werten nach und erkundet, wie sich diese verändern (Klages, Hippler & Herbert, 1992). Hierbei werden diese Veränderungen durch gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst (Apelt, Jesse & Stache, 2012). Kritisch wird die Definition von Kluckhohn in Bezug auf ihr zirkuläres Element gesehen (vgl. Scholl-Schaaf, 1975, S. 58; van Deth, 2001). Darüber hinaus wird die Definition in Bezug auf den Bewusstseinszustand beanstandet. So hat etwa Kmieciak (1976) den Ansatz von Kluckhohn kritisiert und betont, dass Werte latent bewusst sind. Diesen definitorischen Debatten über Werte steht eine Reihe von Disparitäten in Bezug auf ihre empirische Operationalisierung gegenüber (Bachleitner, 1983). Als wichtigsten Grund nennt Kleiner (1992, S. 469) Fragestellungen, die nur partiell thematisch überlappende Schnittmengen aufweisen. Eine lebhafte und kontrovers geführte Diskussion findet seit den 1970er Jahren – mit einer Hochphase in den 1980er Jahren – über den Wandel von Werten statt. Durch die Medien vermittelt, diskutiert eine breite Öffentlichkeit über die gesellschaftlichen Werte und den Wertewandel. Ob das Interesse an dieser Debatte eher auf eine gewisse gesellschaftliche Orientierungslosigkeit zurückzuführen ist (Knapp, 1990) oder ob es Folge des sozialen und technischen Wandels ist (Graumann & Willig, 1983), steht nur zu vermuten. Am wahrscheinlichsten ist auch hier ein ganzes Bündel von Ursachen und Gründen heranzuziehen. Inhaltlich folgten die Diskussionen den Befürchtungen um einen Wandel oder einem Verfall der bürgerlichen Werte. Forschungen von Inglehart (1971) ließen einen Wandel von materialistischen zu postmaterialistischen Werten vermuten. Noelle-Neumann (1978) vertrat die These des Werteverfalls. Klages (1984) stellte mit seinem Ansatz einen mehrdimensionalen Wandlungsprozess von Werten da. Kritisch wurden diese Ansätze von verschiedenen Wissenschaftlern betrachtet (vgl. Gabriel, 1986; Thome, 2010; Roßteutscher, 2004) und teilweise auch verworfen, so dass bis heute eine Debatte über den Wertewandel anhält. Werte, also begehrt zu werdende Zustände, sind einem Wandel unterworfen. Dieser Wandel wird durch gesellschaftliche Entwicklungen beim Individuum

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implizit hervorgerufen. Ebenso, wie die Werte der Gesellschaft durch Entwicklungen beeinflusst werden, wird der Sport durch die Gesellschaft beeinflusst. Als Beispiel gilt hier der Wert „Fair Play“ bzw. „Fairness“, der seinen Anfang im gesellschaftlichen Teilbereich Sport genommen hat und mittlerweile auch in andere gesellschaftliche Bereiche Einzug gehalten hat. Der Begriff „Fairness“ bedeutet im sportlichem Handeln die gegenseitige Achtung von Mitspielern, Gegnern und anderen Akteuren des sportlichen Umfelds, welches über das Einhalten des Regelwerks hinausgeht (Emrich, Pitsch & Papathanassiou, 2001, S. 48). In anderen Teilbereichen der Gesellschaft beschreibt er hingegen eine nicht formal oder rechtlich geregelte Vorstellung von einer individuellen Gerechtigkeit (vgl. weiterführend Gerhardt & Lämmer, 1995; Wilke, 2009). Deutlich wird durch die weite Verbreitung des Begriffs Fairness die Prägung anderer gesellschaftlicher Teilbereiche durch den Sport. Gesellschaft und Sport sind als soziale Kategorien durchaus interdependent und zeigen eine gegenseitige Beeinflussung in Bezug auf Werteentwicklung auf (Digel, 1986). Wie stark dieser gegenseitige Einfluss sein kann, ist jedoch unklar und hängt von verschiedenen Faktoren, so u.a. der existierenden Gesellschaftsund Rechtsform oder dem Stellenwert des Sports in der Gesellschaft ab.

W ERTE IM S PORT UND DEM S PORTVEREIN DER M EDIALEN M ODERNE Das Konzept der Medialen Moderne zielt auf eine Gesellschaftstheorie, die u.a. durch die kategorisierte Grenze der Allgemeinen Deklarationen der Menschenrechte (1948) definiert wird (Böckelmann, Johnen & Schürmann, 2013). Das Konzept betont vor allem die Umstellung auf eine Vermittelbarkeit von Verhältnissen: Absprachen, Rechte und Pflichten erfolgen nicht aus einer „Face-toFace-Kommunikation“, sondern u.a. durch Satzungen und Rechtsordnungen, die ihrerseits in letzter Konsequenz wieder auf den Menschenrechten beruhen. Der Einfluss von Individuen und Systemen wird dabei durch verschiedene Medien wechselseitig geprägt und formt Entwicklungen und Kontinuitäten im Werteverständnis der Gesellschaft und seiner Teilbereiche. Neben anderen gesellschaftlichen Teilbereichen werden auch der Sport und seine wichtigste organisatorische Ausdrucksform, der Sportverein, von den Entwicklungen in der Medialen Moderne geprägt. Der Sportverein organisiert seine Vereinsstruktur nicht durch persönliche Gespräche, sondern durch Satzungen und Ordnungen. In diesen Rechtsordnungen werden – ebenso wie in Vereinsfestschriften, die stärker als inoffizielle Vermittler von Werten dienen –, die Werte

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eines Vereins verdeutlicht (Klems, 2015). Dadurch schaffen Vereine eine gemeinsame Wertebasis ihrer Mitglieder, die sich an die Rechtsordnung und auch an der durch andere mündliche oder schriftliche Kommunikationsmittel wie Festschriften vermittelten Wertebasis orientieren und das soziale Leben im Sportverein formen. Die hier festgelegten und verpflichtenden Werte prägen in erheblichem Maße den Alltag des Vereinslebens. Dabei werden sie durch „gelebte“ Werte ergänzt. Abhängig sind diese Werte von allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen und den Akteuren eines Sportvereins; im Sport werden sie zudem besonders von der Olympischen Bewegung und der Körperkultur beeinflusst. Diese Werte werden mündlich, aber auch durch Schriftgut wie Festschriften, Vereinszeitungen und Presseartikel gegenüber den Mitgliedern und der Öffentlichkeit kommuniziert. Als Medium der Vermittelbarkeit von Werten im Sportverein können infolgedessen auch Satzungen und Festschriften von Sportvereinen als Quellengattungen in Bezug zur Medialen Moderne herangezogen werden. Zentrale Werte des Sports sind die Werte der Olympischen Bewegung, da diese erheblichen Einfluss auf den Sport ausüben. Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) als Dachverband des organisierten Sports orientiert sich an den Werten der Olympischen Bewegung (DOSB, 2015). Diese prägen in vielerlei Hinsicht das sportliche Geschehen und bilden damit eine zentrale Orientierungsmarke der Akteure des Sports. Als Olympische Werte gelten die Werte „Verbindung von Körper, Geist und Wille (Leib-Seele-Einheit)“, „Freude an Leistung“, „gesellschaftliche Verantwortung“, „Förderung einer friedlichen Gesellschaft (Frieden)“, „Wahrung der Menschenwürde“, „Sport als ein Menschenrecht“, „Freundschaft, Solidarität und Fairplay“, „Autonomie des Sports“ und der Wert „Demokratie und die Gleichbehandlung aller Menschen und Völker (Toleranz)“ in der Olympischen Charta (DOSB, 2014). Neben den Werten der Olympischen Bewegung wird der Sport auch durch seine Bezüge zur Körperkultur geprägt. Der Körper steht im Zusammenhang mit der Gesellschaft (Claessens, 1970) und wird zu einem Träger der „somatischen Kultur“ (Boltanski, 1976). Er kann die Gesellschaft spiegeln bzw. die Gesellschaft wird durch den Körper gespiegelt. Kleiner (1992) spricht in diesem Zusammenhang von Bidirektionalität bzw. Interdependenz. Die Projizierung der Außenwelt auf den Körper und die Prägung der Gesellschaft durch den Körper (vgl. Kleiner, 1992) stehen im Zusammenhang zum Verständnis über den (eigenen) Körper. Nach Rittner (1983) und Klein (1984) korreliert dieses Verhältnis des Individuums zum Körper mit der Haltung zur Umwelt. Dies bedeutet Kleiner zufolge (1992), dass die Menschen in einer Art und Weise handeln, die durch die Umwelt geprägt ist. Der wesentliche körperbezogene Wert der Moderne ist der-

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jenige der „körperlichen Fitness“. Dabei bezeichnet „körperliche Fitness“ einen Begriff, der je nach Sportverständnis höchst spezifisch, im allgemeinen Verständnis jedoch als eine gesunde, aktive Körpereigenschaft verstanden wird. Nicht außer Acht zu lassen ist, dass der menschliche Körper zum eigenen Werteträger wird. Er ist Ausdrucksmöglichkeit bestimmter Wertevorstellungen und nach Kleiner (1992) im sportlichen Spiel unabdingbare Voraussetzung zum sozialbezogenen Leistungsvergleich. In diesem Sinne stehen die Werte der Olympischen Bewegung und der Körperkultur in enger Verbindung. Der menschliche Körper ist Voraussetzung, um die Werte der Olympischen Bewegung auszudrücken. Beide sind Abbild der Gesellschaft und wirken auf die gesellschaftliche Entwicklung ein. In den Quellen von Sportvereinen finden sich die dargestellten Werte nicht kontinuierlich wieder; zudem unterliegen sie teilweise einem unterschiedlichen Verständnis. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es in der (Medialen) Moderne in Bezug auf die Werte, die in einem Sportverein herrschen, zu einem Wandel gekommen ist. Dieser Wandel ist auf „Wertinnovationen“ zurückzuführen; mithin darauf, dass „neue“, vorher nicht aufgeführte Werte in Quellen von Sportvereinen auftreten, während andere Werte nicht mehr so häufig erwähnt werden oder vollständig verloren gehen. Zudem werden bestimmte Werte unterschiedlich interpretiert, wie der Kontext, in dem die Werte angeführt werden, verdeutlicht. Die dargestellten Werte, die durch Sportorganisationen genannt werden, können als Werte des Sports erschlossen werden. Als ein differenziertes Teilsystem der Gesellschaft stellt sich aber weiterführend die Frage, welches Grundverständnis vom Sport in welcher Organisationsform praktiziert und reproduziert wird. Die nachfolgenden Beispiele können diese Entwicklung verdeutlichen: Als ein Beispiel ist für den (Olympischen) Sport der Wert des „Amateurgedankens“ anzuführen, der in den 1970er Jahren zwar bereits gelockert, gleichwohl noch bis in die 1990er Jahre bei den Olympischen Spielen hochgehalten wurde. Nach Krüger (2010) spiegelt dies die Anerkennung einer lang anhaltenden Entwicklung wider, die zugleich eine Beschleunigung des Prozesses bewirkt. Beispielhaft ist ebenso der Wert „Frieden“, der unterschiedliche Bedeutungen aufweist. Während zu Zeiten Coubertins der Wert Frieden als aktive Völkerverständigung oder, wie Coubertin (1915) schreibt, auch als „Burgfrieden“, verstanden wurde, bezeichnet er in heutiger Zeit den fairen und sportlichen Wettkampf ohne Ausschreitungen. Baumhöver zufolge (1992) ist von einer Differenzierung zwischen Sport, sportlichem Wettkampf und Kriegseinsatz auszugehen, vor allem nach dem Ende des Ost-West Konflikts (Strohmeier 2008).

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Digel (2013, S. 216) betont, dass sich der Wertewandel keineswegs universell in allen gesellschaftlichen Teilbereichen im gleichen Maße vollzieht und der Sport davon nicht ausgenommen ist. Als Ursache für diesen ungleichen Wertewandel in der Gesellschaft verweist Klages (1984, S. 341-352) in erster Line auf Prozesse funktionaler Differenzierung in modernen Industriegesellschaften. Als Teilsystem der Gesellschaft ist der Sport anderen Einflüssen ausgesetzt, bzw. bestimmten Einflüssen stärker oder weniger stärker ausgesetzt als andere Teilsysteme.

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Zu Beginn des modernen Sports, der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den entwickelten Industrienationen Europas und Nordamerikas verbreitete (Luh, 2010), wird Sport in der Regel durch eine Wertebasis geprägt, die auf bestimmte Merkmale gründet. Der Weg zum modernen Sport und seiner Wertebasis führte über England (Eichberg, 1979; Holt, 1989) und wurde durch die dort vorherrschenden gesellschaftlichen Konventionen geprägt (Luh, 2010). Die durch die englische Gesellschaft geformte Wertebasis bezieht sich auf den Eigenwert des Sports im Rahmen von spielerischer Ertüchtigung, der durch den Leistungs- und Wettkampfcharakter geprägt wurde und durch das Prinzip des Fortschritts angetrieben wurde (vgl. Beckers, 1995). Heute kann Sport als ein Kulturgut definiert werden, das eine Vielzahl von verschiedenen Ausprägungen beschreibt und durch seinen Erlebnischarakter geprägt ist. Sport wird dabei als eine „Sammelbezeichnung“ (Luh, 2010) verschiedener Leibesübungen gewählt, welche eine „allgemeine Lebenshilfe“ (Digel, 2013) bieten. Das Wertesystem des Sports von heute basiert daher nur noch zu Teilen auf dem traditionellen Wertemuster des englischen Sports und wird wesentlich stärker durch eine eigenständige Struktur geprägt. Diese eigenständige Struktur zeichnet sich durch einen Prozess der Wertedifferenzierung aus (Digel, 2013). Der Begriff „Sport“ ist dabei ein mehrdeutiger Begriff, der nach Güldenpfennig (2013) in zwei Typen gegliedert wird. Der erste Typus umfasst den hier verstandenen Rahmen, in dem Sport einer elaborierten Form von Körperkultur entspricht, die Werte wie Leistungsfähigkeit und Fairness vertritt. Dieses Konzept orientiert sich an einem Wettkampf- und Leistungsgedanken, der zu Beginn der Moderne durch die englische Oberschicht vertreten worden ist. Ein zweiter Typus von Sport steht in Zusammenhang mit hygienischen und ästhetischen Anspruch und besitzt einen stärker instrumentellen Charakter. Dieser Ty-

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pus weist vordergründig keine gemeinsame Wertebasis mit den Werten des Sports des anderen Typus auf. Güldenpfennig zufolge steht er sogar in Konkurrenz zu diesem (Güldenpfennig, 2013). Der Wert der „Fitness“ entspricht diesem Aspekt des Sporttyps. Zu fragen ist mit Blick auf die Überlegungen von Güldenpfennig (2013), wo der Sporttypus einzuordnen ist, der einen sozialen, friedensstiftenden Charakter aufweist, wie er im Ursprungsgedanken der Olympischen Spiele zu finden ist (Strohmeier, 2008). Die durch die Schriften von Coubertin vertretenen und in der heutigen Zeit durch die Olympische Charta propagierten Werte der Olympischen Bewegung (DOSB, 2014) orientieren sich an den Werten Freundschaft und Frieden, deren Einteilung weder in den ersten noch den zweiten Sport-Typus fällt. Den Ausführungen Güldenpfennings folgend erscheint es daher sinnvoll, darzustellen, dass Sport nicht gleich Sport ist und je nach Motivation zur Beschäftigung mit dem Sport und der Ausübung des Sports eine unterschiedliche Wertebasis aufweist (Kleiner, 1992). Als Indizien für diese unterschiedliche Wertebasis gelten die Ausdifferenzierung des Sports, die Potenzierung der Komplexität des Sports, die hohe Einstufung (Rangplatz) von Sport in der kulturellen Werteskala, die Anerkennung von Sport als Kultur, der Wandel von sportlichen Inhalten, veränderte Mitgliederstrukturen in Sportvereinen, der Wandel der Motive des Sporttreibens (vielseitiger und differenzierter), der vermehrte Wunsch nach Thematisierung der eigenen Bedürfnisse, Sozialkontakte, Kreativität, Spontanität, neue Körperkultur und neues Körperverständnis (z.B. Verringerung der Scham- und Peinlichkeitsschwellen, Schlankheitsideale, Gesundheitsstreben), Abwertung pflichtethischen Handelns im Sport, die Kommerzialisierung und Professionalisierung (vgl. Heinemann, 1989; Digel, 1986; Kleiner, 1992). Diese Indizien zeugen von einem Wandel der Wertebasis im Sport. Als Beispiele für den Wandel können neue Bewegungskulturen angeführt werden (vgl. Digel, 2013). Die anhaltende Popularität von Abenteuersportarten (Leistung ohne Wettbewerb), wie Skaten, Inlinern, Mountainbiken, Extrembergsteigen oder Felsklettern und neue Formen von Körperlichkeit und gesundheitsorientierten Bewegungsmustern zeigen dies beispielhaft. Diese Sportarten werden nicht immer im Verein organisiert, sondern oft selbständig durch die Sporttreibenden durchgeführt. Der These einer Ausdifferenzierung des Sports folgen Heinemann (1989), Rittner (1984), Digel (1986) und Kleiner (1992), indem sie die Einheitlichkeit des Sports aufbrechen und ein differenziertes Sportmodell anstreben. Hierbei ist das klassische Pyramidenmodell, in dem der Leistungssport die Spitze bildet und der Breitensport den Sockel, zu verwerfen und ein differenziertes Modell heranzuziehen. Ein solches differenziertes Modell muss auch auf die Sportvereine an-

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gewendet werden. Als mögliches Modell erweist sich die von Nagel (2006) entwickelte Einteilung, die anhand der Merkmale Mitgliederzahl, Abteilungszahl, Gründungsjahr, Haushaltsvolumen und Mitgliedsbeitrag eines Erwachsenen neun Vereinstypen darstellt. Die Vereine gliedern sich dabei in die Kategorien „Typische Einspartenvereine“, „Alte Einspartenvereine“, „Junge Einspartenvereine“ ,„Teure Einspartenvereine“, „Kleine Mehrspartenvereine“ „Mittlere Mehrspartenvereine“, „Große Mehrspartenvereine“ und „Umsatzstarke Vereine“. Mit Hilfe dieses seitens der Forschung bereits eingehender rezipierten Modells können angesichts der Bezüge zu Größe, zum Kostenniveau und zur Bandbreite der Angebote in Ansätzen auch Wertestrukturen von unterschiedlichen Vereinstypen untersucht werden und in Bezug auf ihren Wandel dargestellt werden. Zu diskutieren bliebe jedoch, welche weiteren Merkmale heranzuziehen sind, um die Veränderungen von Werten zu analysieren. Ein allgemeiner Wandel von Wertstrukturen im Sportverein ist bereits durch Digel (2013), Rittner (1984), Kurz & Brinkhoff (1989) untersucht und in Bezug auf die Herausforderungen an einen Verein dargestellt worden. Die Betrachtung der durch den Verein vertretenden Werte zeigt nach Rittner (1984), dass Vereine länger an traditionellen Werten festhalten als andere gesellschaftliche Teilbereiche. Dagegen konstatieren Kurz & Brinkhoff (1989), dass dieser Befund nicht für Jugendliche zu bestätigen ist. Diese orientieren sich weniger an den traditionellen Werten, sondern bringen neue in den Verein, sodass von einer Werteanreicherung gesprochen werden kann. Digel (1986) betont, dass der Sportverein im Vergleich zur allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung eine zeitliche Verzögerung aufweist. Als Indizien für einen angestrebten Wandel kann untersucht werden, inwieweit ein Verein auf die neuen Herausforderungen reagiert und welche Werte der Verein durch Satzungen und Festschriften verbreitet. Jedoch ist dabei zu beachten, dass es ebenso, wie es „den Sport“ nicht gibt, es auch nicht „den Sportverein“ gibt. Digel (2013) sieht für den Verein einen Wachstum der Organisation, neue Mitgliedergruppen und eine veränderte Einstellung zur Bindung und Verpflichtungsfähigkeit als Bereiche, die als Problemfelder aus diesem Wertewandel entstehen. Der Verein steht dadurch vor den Herausforderungen, neue Mitglieder zu gewinnen und sie für das Ehrenamt zu binden sowie der Mitgliederfluktuation, insbesondere im Kinder- und Jugendbereich, entgegenzuwirken (Nagel & Schlesinger, 2012; Breuer, 2011). Ein flexibles Angebot für das Engagement für den Verein, neue Sportangebote und die ungebundene Ausübung des Sports im Verein, wie z.B. in einem Kurssystem oder durch freie Übungsflächen, sind Möglichkeiten, die sowohl in der Praxis erprobt als auch in der Wissenschaft diskutiert werden.

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Im Zusammenspiel von Werten des Sports und des Sportvereins mit anderen gesellschaftlichen Teilbereichen wie z.B. der Wirtschaft oder dem Justizwesen kommt es vielfach zu Spannungen. Im gesellschaftlichen Teilbereich der Wirtschaft gilt Sport beispielhaft als ein Gut, welches ökonomisch verwertbar sein muss (Emrich, Pitsch & Papathanassiou, 2001). Als Gründe für den Wandel der Werte im modernen Sport und im Sportverein sind auch gesellschaftliche Entwicklungen heranzuziehen, die den Trends zur Technologisierung und Modernisierung unterliegen (Digel, 1986). In Abhängigkeit zu weiteren Entwicklungen in der Gesellschaft, wie z.B. einem geänderten Freizeitverhalten durch Reduzierung der Arbeitszeit, verändern sich die Bedürfnisse und Möglichkeiten eines Individuums. Zu konstatieren ist, dass sich der Sport in der Medialen Moderne durch gesellschaftliche Einflüsse verändert hat und weiter verändern wird; zugleich ist es hier zu einem Wertewandel im Sport gekommen, der differenziert betrachtet werden muss. Das traditionelle Pyramidenmodell, bei dem der Spitzensport oben und der Breitensport unten steht, ist in Frage zu stellen zugunsten eines Sportmodells mit differenzierteren Strukturen. In Bezug auf den Verein müssen weitere Untersuchungen zeigen, ob Modelle wie das von Nagel zu Untersuchungen von Wertstrukturen verschiedener Vereine relevante Daten bieten, da mit dem Wertewandel im Sport und im Sportverein vielfältige Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen angesprochen werden.

D ER (S PORT -)V EREIN ALS S OLIDARGEMEINSCHAFT DER M EDIALEN M ODERNE Die Arbeiten von Stein (1869) und Gierke (1868) stellen den Beginn des akademischen Interesses an Vereinen dar, denen in den Sozialwissenschaften bis zum Ersten Weltkrieg eine Vielzahl an Studien folgte. Besonders die Arbeiten von Simmel (1911) und Weber (1910, S. 441 ff) betrachten Vereine als spezifischen Zusammenhang von Geselligkeit und modernen Gesellschaften. Bis zum Ende der 1970er Jahre blieb das Interesse an Vereinen indes gering. Best & Arthus (1993, S. 8 f) sehen den Grund darin, dass Vereine als „Ausdrucksformen gesellschaftlicher Selbstorganisation quer zu einer sozialwissenschaftlich inspirierten Kultur und Gesellschaftskritik“ zu verstehen sind. Nipperdeys Studien führten Ende der 1980er Jahre innerhalb der Geschichtswissenschaft jedoch zu einer verstärkten Beachtung von Vereinen in historischer Perspektive, denen weitere Arbeiten folgten (vgl. z.B. Dannk, 1976; Hardtwig, 1997; Scheuch, 1993; Hoffmann, Kocka & Bauerkämper, 2003).

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Empirische Studien über Sportvereine setzten in den 1970er Jahren ein. Lenk (1972) erforschte die Mitglieder von Vereinen und die Funktionen, die ein Sportverein für seine Mitglieder übernimmt. Linde untersuchte 1972 die Sportvereine in der Bundesrepublik mit besonderem Augenmerk auf das Verhältnis von Breiten- und Leistungssport sowie den finanziellen Aspekten von Vereinen. Die Finanz- und Strukturanalyse von Sportvereinen (FISAS) folgte den Untersuchungsansätzen von Linde ab 1978. Weitere Untersuchungen, wie beispielhaft diejenigen von Rittner & Breuer (2000), von Baur & Braun (2003) und von Nagel (2003) befassten sich mit der gesamten Bandbreite von Vereinsstrukturen und -funktionen. So wurden Vereine in Bezug auf die Mitwirkung der Mitglieder, ihre sozialintegrative Leistung, ihre gemeinschaftsfördernde Kraft oder ihr demokratisches Verhalten untersucht. Eine Betrachtung von Vereinen im Lichte des Wertewandels, bei der der Sportverein als Ort und Medium gesellschaftlichen Wandels verstanden wird, erscheint ein verfolgenswertes Ziel. Dies auch mit Blick auf Merkle & Rüthers (1995), die in Anlehnung an Beck die besondere Relevanz von Vereinen betonen, da andere Sozialfelder wie die Familie weniger Relevanz haben als früher. Ein Teil der Wertevermittlung an jüngere Menschen erfolgt durch und über den Verein. Als Herausforderung ist dabei zu sehen, dass weitere Akteure wie Schule, Medien oder die Peergroup andere Werte als wichtig erachten und entsprechend vermitteln. Die Wertevermittlung erfolgt zudem auf informellem Weg (Schiele, 2013), der eine eindeutige Zuweisung erschwert. Der Verein ist als Reflex auf soziale Differenzierungsprozesse zu sehen (Emrich et al., 2001). Als freiwillige Organisationsform steht er zwischen Staat, Markt und der Privatsphäre. Im Modell von freiwilligen Vereinigungen gilt er als Organisationsform des Dritten Sektors. Dies heißt, dass der Verein als organisatorisch unabhängig vom Staat, nicht gewinnorientiert, mit einer eigenständigen Verwaltung besetzt, zu einem gewissen Grad aus freiwilligen Beiträgen finanziert wird und demzufolge keinen Zwangsverband darstellt. Historische Studien zeigen die enge Verknüpfung von Vereinen mit dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland (Conze, 1960; Heinemann & Schubert, 1994). Vereine sind dabei eine gesellschaftliche Kraft im öffentlichen Leben und ein zentrales Moment demokratischer Gesellschaft. Der Verein kann teilweise als kleine Gesellschaft verstanden werden (Elflein & Huh, 2013). Nicht nur die große Zahl an Vereinen, die es in Deutschland gibt, spricht dafür, sondern ihr Einfluss und ihre Bedeutung für das Individuum, die Gesellschaft und den Staat. Sowohl im Kulturellen als auch im Sozialen und im Politischen bringen sie Veränderungs- und Reformimpulse (Hardtwig, 1997, S. 9).

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Der Sportverein zeichnet sich – belegt durch die oftmals große Anzahl verschiedener Vorstandsämter – durch eine strukturelle Differenzierung aus, die innere Bindungen und solidarisches Handeln hervorbringt. Eine Vielzahl an Sportvereinen ist dabei durch gegenseitige Hilfe und Unterstützung geprägt und verfolgt in der Regel ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Wertebasis, welche in der Satzung festgelegt ist. Die Sportvereine können somit als eine Form von Solidargemeinschaft bezeichnet werden (vgl. Danwerth, 2012). Die Studien von Baur & Braun (2000) zeigen, dass Sportvereine, die als Solidargemeinschaft charakterisiert werden, durch ein höheres freiwilliges Engagement ihrer Mitglieder geprägt sind. Dieses freiwillige Engagement stellt insbesondere für zahlreiche traditionell geprägte Vereine die einzige Möglichkeit dar, den Verein zu organisieren und zu leiten, da die Kosten für hauptamtliche Stellen nicht ausreichend von den Einnahmen des Vereins (Mitgliedsbeitrag, Sponsoren) gedeckt werden können. Andere Sportvereine der Gegenwart orientieren sich in ihren Angeboten teilweise an Fitnessstudios und werden durch hauptamtlich Tätige verantwortlich geleitet. Hierbei ist der Eintritt in den Sportverein zur Nutzung des Angebots nicht mehr in jedem Fall notwendig, sondern auch durch das Entrichten einer Kursgebühr möglich. Diese Beispiele zeigen erneut, dass die Untersuchung der Werte von Sportvereinen eine differenzierte Betrachtung notwendig macht, die Strukturen und gesellschaftliche Entwicklungen in Beziehung stellt. Grundlegend müssen des Weiteren die Motive geprüft werden, die zum Eintritt in einen Verein führen. Fast immer weisen diese unterschiedliche Beweggründe auf, sie sind aber in der Regel allesamt zweckorientiert. Neben z.B. dem Wunsch nach Fitness, dem Erlernen einer Sportart oder dem Erbringen einer bestimmten Leistung belegen historische Studien insbesondere den Wert von Gemeinschaft und Geselligkeit in Bezug auf (Sport)vereine. Dabei dokumentiert der Eintritt in einen Sportverein die Zustimmung zu den Werten des Vereins, jedenfalls in dem Rahmen der für das Individuum bedeutsamen Werte. Aus diesen Handlungen können soziale Bindungen unter den Mitgliedern jedoch auch zum Verein entstehen. Diese sozialen Bindungen bilden die Grundlage für solidarisches Handeln.

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Die Auseinandersetzung mit dem Thema Werte im Sport und im Sportverein hebt auf den Wertewandel ab. Dieser Wandel erfolgt sowohl hinsichtlich der Konnotation, da bei bestimmten Begriffen heute ein anderes Verständnis vor-

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herrscht, als auch in Bezug auf die Geltung. Hinsichtlich der Geltung ist zwischen der Gesellschaft im Allgemeinen und dem gesellschaftlichen Teilbereich Sport des Sports im Besonderen zu differenzieren. Zu bilanzieren ist, dass es „den Sport“ nicht gibt, sondern dass dieser sich in verschiedene Formen, Typen und Ausprägungen gliedern lässt. Diesen liegen unterschiedliche Kategorien und Zugänge zugrunde. Ebenso verhält es sich mit den Sportvereinen, die durch eine Vielzahl an Varianten gekennzeichnet sind. In Folge der Umstellung der Vermittelbarkeit der Verhältnisse in der Medialen Moderne können schriftliche Zeugnisse wie Satzungen und Festschriften Informationen über die Wertebasis von Vereinen vermitteln. Hierbei scheint es notwendig, in Anlehnung an die bisherige Vereinsforschung zwischen den verschiedenen Typen von Sportvereinen zu unterscheiden und diese dann in Bezug zu den Werten des Sports zu untersuchen. Die hier dargestellten Annahmen, welche potenziellen Werte denn die „Werte des Sports“ sind, fußen auf den Werten der Olympischen Idee, der Körperkultur bzw. den Werten, die durch Organisationen und Institutionen des Sports (z.B. der DOSB) vermittelt werden. Hierbei ist zu prüfen, ob diese Werte wirklich die „Werte des Sports“ sind oder ob es sich um Werte handelt, die dem Sport zugeschrieben wurden und nicht dem Selbst des Sports entsprechen. Inwieweit der Sportverein schließlich als Seismograph des gesellschaftlichen Wandels dienen kann und damit auch einen Schlüssel zur Medialen Moderne darstellt, muss Ziel entsprechender Untersuchungen sein. Das Ergebnis einer derartigen Studie kann nicht nur in einem differenzierten Vereinsmodell bestehen, das struktur-funktionale und wertgebundene Ansätze verbindet, sondern auch in einer vorsichtigen Antwort auf die Frage, was – über die rein kostenbezogene Perspektive hinaus – den Wert eines Vereins bzw. des Vereinswesens beziffert.

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W AS IST

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S PORTVEREIN „WERT “?

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Alive and Kicking? Fußballvereine in Deutschland und England als Orte von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung D ANIEL Z IESCHE Community has become virtually co-extensive with the study of football. You might say that of all the key concepts used to develop some reliable insights into contemporary developments of the game it is the only one that now seems necessary. TONY BLACKSHAW

1. S ETTING THE S CENE : S PORTVEREINE

IM

W ANDEL

Die zahlreichen Wandlungsprozesse, welche die spätmoderne Gesellschaft prägen, konfrontieren Fußballvereine mit großen Herausforderungen hinsichtlich ihrer zukünftigen Entwicklung. Gleichermaßen werden einige der Funktionen, die Fußballvereine vermeintlich traditionell erfüllten, zunehmend hinterfragt. 1 So lässt sich ein Legitimationsdiskurs konstatieren, der im weitesten Sinne das Verhältnis von öffentlichen Zuwendungen zu gesellschaftlichen Erträgen zum Gegenstand hat. Vor dem Hintergrund einer zu beobachtenden verstärkten Hinwendung zur aktiven Mitgestaltung und Initiierung sozialer Projekte durch semi-/ professio-

1

Besonders populär ist hierbei der Sozialkapital-Ansatz, der sowohl im Sinne Putnams (2004) als auch Bourdieus (1980) für die Vereinsforschung nutzbar gemacht wurde. Vgl. hierzu: Braun (2003a), Blackshaw/Long (2005).

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nelle Fußballvereine der unteren Ligen in England und Deutschland, beschäftigtige ich mich im vorliegenden Beitrag mit einer theoretischen Einordnung der sozialen Funktionen, die (Fußball-)Vereine erfüllen und frage, wie die Trends vereinsseitiger aktiver sozialer Engagements als Beitrag innerhalb des Legitimationsdiskurses gesehen werden können. Als Arbeitshypothese dient mir hierbei die Annahme, das Vereine eine gesellschaftliche Doppelfunktion innehaben, indem sie als Lernorte von Gemeinschaft und Gesellschaft fungieren, sprich: sowohl eine vergemeinschaftende als auch eine vergesellschaftende Funktion haben. Der Beitrag nimmt gemäß dieser Annahme zunächst eine Differenzierung der Grundkonzepte vor, die dem Vereinswesen in Deutschland und dem Prinzip der clubs in England zugrunde liegen. Hierauf folgt eine Erörterung der Genese des hier zugrunde gelegten Verständnisses von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung, bevor eine Einordnung der Sozialprojekte in dieses theoretische Konzept vorgenommen wird. Abschließend wird diskutiert, wie anschlussfähig diese Entwicklungen im Vereinswesen an den Gesellschaftsentwurf Sport der Medialen Moderne sind.

2. C LUB VS . V EREIN : G RUNDKONZEPTE UND I MPLIKATIONEN Fußballvereine in England 2 und Deutschland sind von grundsätzlichen Unterschieden hinsichtlich des jeweils zugrundeliegenden Vereinsverständnisses geprägt. Während das deutsche Modell des Vereins von seinem caritativen Ansatz, der ehrenamtlichen Mitarbeit und Mitbestimmung sowie einer non-profitKlausel getragen wird, ist die große Mehrheit englischer Fußballvereine gänzlich anders – und zwar im Sinne von Unternehmen – aufgestellt. Ist es in jüngerer Zeit im Bereich des Profifußballs auch in Deutschland zunehmend zu Bestrebungen und Tendenzen gekommen, Kapitalgesellschaften aus den Vereinen auszugliedern, um insbesondere die non-profit-Klausel zu umgehen, waren die ersten englischen Clubs bereits kurz nach ihrer Gründung auf einer Unternehmensstruktur basierende Gebilde. Diese wurden Ende des 19. Jahrhunderts häufig von lokalen Unternehmern innerhalb ihrer jeweiligen Fabriken und Industriezweige gegründet und dienten somit zunächst im aktiven und passiven Sinne dem Freizeitausgleich der Belegschaft sowie im weiteren historischen Verlauf und mit

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„England“ bezieht sich im Folgenden ausschließlich auf den so bezeichneten Landesteil des Vereinigten Königreiches.

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der Einführung des Eintrittsgeldes, zunehmend als zusätzliche Einnahmequelle des Betriebs. Schon bald waren die lokalen Stadien samstäglicher Pilgerort nach Ende der Schicht und wurden die „Kirchen“ der Arbeiterklasse (vgl. Hopkins, 1992). Ohne an dieser Stelle die konkrete Ausdifferenzierung der Clubs im Zuge der Professionalisierung des englischen Fußballs en detail vornehmen zu wollen, ist festzuhalten, dass sich Tendenzen einer solchen im englischen Fußball bereits vor der Jahrhundertwende vollzogen. Der daraufhin erfolgte Bruch zwischen amateurs und professionals, der zunächst vor allem einen Bruch zwischen Nord und Süd des Landes bedeutete sowie die Existenz eines parallelen Amateurbetriebs (mit eigenen Liga- und Pokalwettbewerben) bis spät in die 1970er Jahre hinein, prägte die weitere Entwicklung des Fußballs und das Sportverständnis im Vereinigten Königreich bis heute massiv (vgl. Holt, 1989; Giulianotti, 1999; Redhead & Wagg, 2009). Gleichsam zeigen sich beide Modelle – Club und Verein – als ausgesprochen resilient gegenüber gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Sowohl die englischen Clubs als auch die deutschen Vereine bestehen seit der Zeit ihrer Gründung im Kern ihrer Struktur nahezu unverändert fort. 3 Die angesprochene Unterschiedlichkeit in den „Vereinskonzeptionen“ zieht sich jedoch nicht durch alle Vereine innerhalb der Sportstruktur des Vereinigten Königreichs. So können bspw. die britischen Cricketclubs bis zu einem gewissen Grade durchaus als äquivalent zum deutschen Vereinstypus gelten. Ursache hierfür dürfte der unterschiedliche Ausgangspunkt der Gründung sein. Auf der anderen Seite deutet vieles darauf hin, dass die Verfasstheit der football clubs durchaus exemplarischen Charakter für Vereine hat, die in den sonstigen populären Zuschauersportarten aktiv sind. Insofern müssen die Cricketclubs als Ausnahme der Regel verstanden werden und nicht umgekehrt. Dies bedeutet gleichermaßen, dass innerhalb der Clubs in diesen Sportarten kein dem deutschen Vereinswesen ähnliches Modell von Mitgliedschaft existiert, welches ein (demokratisches) Mitbestimmungsrecht im engeren Sinne einschließt. Dementgegen hat es vor allem in England (und anderen Teilen des Vereinigten Königreichs, vornehmlich Schottland) in jüngerer Zeit Bestrebungen gegeben, gegen die bestehenden Eigentumsverhältnisse in Fußballvereinen vorzugehen und, ausgehend von einer

3

Dieser „Kern“ bezieht sich auf das jeweilig unternehmensbasierte bzw. mitgliedergetragene Modell. Ausdifferenzierungen hinsichtlich einer Erweiterung der Unternehmensstruktur in Form von Aktiengesellschaften wie sie in England seit Mitte der 1990er Jahre populär sind, berühren diesen Kern nicht.

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grass-roots-Bewegung, alternative Unternehmensmodelle, die sich stark am Genossenschaftsprinzip orientieren, einzuführen. 4

3. V ERGEMEINSCHAFTUNG UND V ERGESELLSCHAFTUNG IM ORGANISIERTEN S PORT Um die dem Beitrag zugrundeliegende These der Doppelfunktion von Vereinen als Träger von Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsprozessen zu erläutern, wird im Folgenden eine Begriffsgenese und -differenzierung vorgenommen. Ferdinand Tönnies definierte in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft (1887) das Unterscheidungskriterium zwischen diesen beiden Formen von sozialen Verbindungen wie folgt: „Das Verhältnis [der Verbindung von Menschen] selber, und also der Verbindung, wird entweder als reales und organisches Leben begriffen– dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle und mechanische Verbindung – dies ist der Begriff der Gesellschaft“ (S. 3).

Tönnies führt diese Unterscheidung weiter aus, doch im Wesentlichen bestimmt er die Gemeinschaft als einen von persönlichen Bindungen geprägten Zusammenschluss von Individuen (prototypisch Haus- und Dorfgemeinschaften) und die Gesellschaft als eine Verbindung zwischen Individuen, die keine oder nur zufällig persönliche Bindungen aufweist. Stattdessen ist für die Mitglieder von Gesellschaften eine gemeinsame, abstrakte, ideelle Wertebasis grundlegend (vgl. Lichtblau, 2000, S. 426 f.). Tönnies‘ (und später Max Webers) idealtypische Unterscheidung wurde seitdem vielfach weiterentwickelt und dabei der Tatsache Tribut gezollt, dass der Großteil sozialer Verbindungen teils gemeinschaftlicher und teils gesellschaftlicher Natur sind (vgl. Weber, 1921/22, S. 29-30). Georg Simmel stellt der Gesellschaft wiederum das Individuum als tatsächlichen Antagonismus entgegen und sieht die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Individuum (und nicht das eine oder das andere) als den eigentlichen Untersuchungsgegenstand der Soziologie (vgl. Simmel, 2011, S. 8 ff.).

4

Vgl. hierzu die Arbeit von Supporters Direct. Beispielhaft zu nennen sind hier die Vereine Hearts of Midlothian (Schottland) oder FC United of Manchester (England). Auch der FC Portsmouth (England) wurde kürzlich von seinen Fans übernommen.

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In diesem Zusammenhang sind weiterhin die Studien von Benedict Anderson und Anthony P. Cohen betrachtenswert. Die Gemeinschaft der Mitglieder eines Vereins lässt sich, ähnlich der nationalen Gemeinschaft eines Landes, im Sinne Andersons als eine „imaginierte“ Gemeinschaft denken (vgl. Anderson, 1983, S. 5-6). Dies heißt nicht, dass die Gemeinschaft nicht real wäre, sondern bezieht sich auf die Tatsache, dass Indivoduen in der Lage sind, sich als Teil dieser Gemeinschaft zu denken bzw. sich diese vorstellen zu können ohne zwangsläufig alle Mitglieder kennen zu müssen (vgl. ebd., S. 6). Gleichwohl ist Andersons Begriff der imaginierten Gemeinschaft erst in Bezug auf Gemeinschaften ab einer gewissen Größe (bspw., und mit Blick auf Andersons nationalen Bezugsrahmen naheliegend, die Fans einer Nationalmannschaft) wirklich anwendbar (vgl. King, 2006, S. 250-51). Für kleinere Gemeinschaften und die Vereinsebene ist hingegen Anthony P. Cohens (1985) Begriff von symbolisch konstruierten und im kulturellen Sinne imaginierten Gemeinschaften griffiger: „[…] whether or not its structural boundaries remain intact, the reality of community lies in its members’ perception of the vitality of its culture. People construct community symbolically, making it a resource and repository of meaning, and a referent of their identity“ (S. 118).

Nun ist dieser Ansatz nicht gänzlich verschieden von Tönniesʼ bereits um die Jahrhundertwende formuliertem Konzept. Die kulturell imaginierten Gemeinschaften in Cohens Überlegungen weisen starke Überschneidungen mit der von Tönnies formulierten Vorstellung von Gemeinschaften als organische, reale Konstrukte auf. Der besondere Beitrag Cohens liegt aber darin, dass ihm zufolge Gemeinschaft nicht zwangsläufig räumlich (oder familiär) begrenzt sein muss, sondern sich die Existenz der Gemeinschaft durch eine geteilte und gelebte Gemeinschaftskultur unter den Mitgliedern, sprich: eine gemeinsame Symbolik, gemeinsame Bedeutungszugehörigkeiten und ein implizites, lokales Wissen ausdrückt (vgl. Blackshaw, 2008, S. 328; vgl. hierzu auch: Ziesche, 2011). Adam Brown, Tim Crabbe und Gavin Mellor (2006) formulieren die Vorzüge von Cohens Konzept mit Blick auf Identifikation mit einer Vereinsgemeinschaft, wie folgt: „In this sense football clubs can themselves be regarded as symbols around which the rituals of community and belonging are played out […]. At the same time, the symbolism which surrounds football clubs can itself be contested and generates different meanings to different people in different historical periods. In this sense symbolic communal identifi-

156 | DANIEL ZIESCHE cations need to be regarded as fluid and adaptable since clubs do move, change strip and attract new generations of supporters“ (S. 55).

In diesem Sinne ist die Konstruktion und Rekonstruktion der jeweiligen Gemeinschaft und ihrer Identitätsbezüge Teil eines kontinuierlich ablaufenden Prozesses, der die vermeintliche, gemeinsame Grundlage der Gemeinschaft permanent in Frage stellt, unter den Mitgliedern neu verhandelt und – ganz im Sinne Hobsbawms – schlussendlich fortlaufend neu „erfindet“ (Hobsbawm, 1983). 5 3.1 Vergesellschaftung Es sind ebendiese zuvor beschriebenen Wechselwirkungen und Teilvorgänge zwischen Individuen und Gruppen von Individuen, die Simmel unter dem Begriff der „Vergesellschaftung“ verstanden wissen will (vgl. Simmel, 1983, S. 7). In einer weiter gefassten Konzeption des Begriffs kann hierunter ebenso die Einstudierung bzw. das Erlernen gesellschaftlicher Prinzipien und Ordnungen, so etwa des Leistungsprinzips, des Demokratieprinzips oder des Gentlemen-Ideals, verstanden werden. Im übertragenen Sinne ließen sich weiterhin die Vermittlung ökonomischer Prinzipien oder gesellschaftlicher Schichtung bzw. Klassenverständnisse unter einem Vergesellschaftungsprozess, der mutmaßlich auch innerhalb von Sportvereinen abläuft, subsummieren. Nach Simmel wäre jedoch jeglicher Kontakt von zwei oder mehreren Individuen bereits als eine Form von Vergesellschaftung zu betrachten, auch die jeweiligen Motive und Interessen der in Wechselwirkungen zueinander tretenden sind für ihn unerheblich (vgl. Lichtblau, 2000, S. 427-28). Dieser Auffassung zu folgen ist freilich möglich, allerdings soll dem Begriff der Vergesellschaftung im vorliegenden Beitrag der Begriff der Vergemeinschaftung wenngleich nicht entgegen- aber doch zumindest an die Seite gestellt werden. Ausgangspunkt ist hierbei der Ansatz, dass in der Tönnies‘schen Unterscheidung der Begriffe ein für die Spätmoderne nicht unerheblicher Grund bzw. ein reizvoller Aspekt liegt: eben jener der unterschiedlichen Qualität der Beziehungsgeflechte. Dieser qualitativen (hier nicht im Sinne einer normativen Auffassung zu verstehenden) Abstufung kann die Begriffsdeutung in der Lesart von Simmel jedoch nicht gerecht werden. 6 Die hier vorge-

5

Ebenso lassen sich Vereine, die in stärkerem Maße oder gar explizit als politische Symbole konstruiert werden, auf diese Weise erfassen.

6

Gleichwohl ist Simmels Vergesellschaftungsbegriff per definitionem unendlich dehnbar und in diesem Sinne bspw. auch anschlussfähig an den Entwurf einer Weltgesellschaft.

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nommene Unterscheidung zwischen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung wurde auch von Weber in Anlehnung an Tönnies fortgeführt (vgl. Weber, 1921/22; Lichtblau, 2000, S. 428-29). Im Unterschied zu Weber soll aber hier keine Differenzierung hinsichtlich eines universellen (Vergemeinschaftung) und eines speziellen (Vergesellschaftung) Begriffs vorgenommen werden, sondern eben eine qualitative Unterscheidung hinsichtlich ihrer Charakteristika. 3.2 Vergemeinschaftung In derselben Lesart wie zuvor unter dem Begriff der Vergesellschaftung beschrieben, kann unter dem Begriff der Vergemeinschaftung gleichermaßen sowohl die Bildung von Gemeinschaften als auch das Erlernen gemeinschaftlicher Verhältnisse, Symbole und Codes verstanden werden. Schlussendlich stellt sich jedoch die Frage, ab wann Vergesellschaftungsprozesse in Vergemeinschaftungsprozesse übergehen, et vice versa, bzw. ab wann jeweils von dem einen oder dem anderen gesprochen wird. Entscheidender Faktor in dieser Frage dürfte der Grad der Universalität des vermittelten Prinzips bzw. seines jeweiligen Geltungsbereichs im gesamtgesellschaftlichen Rahmen sein. So ist der Begriff der Vergemeinschaftung, da kleinteiliger, stärker in einer kulturwissenschaftlichen Denktradition verortet, wohingegen der Begriff der Vergesellschaftung eher im sozial- und politikwissenschaftlichen 7 Bedeutungsrahmen verankert ist. Gerade mit Blick auf die football clubs im englischen Raum, wo der Begriff der community innerhalb von club-policies und Entwicklungsprogrammen von zentraler Bedeutung ist und eine vielschichtige Differenzierung aufweist, scheint eine Unterscheidung und konsequente Anwendung beider Prozesse angebracht. Denn obgleich die englische Sprache in dem Wort society ihr Pendant zum deutschen Wort der „Gesellschaft“ hat, erfuhr der community-Begriff in jüngerer Zeit (und womöglich ganz ähnlich dem Begriff der „Gemeinschaft“ im Deutschen) eine starke Renaissance, was nicht zwangsläufig zu einer Konkretisierung des damit Bezeichneten geführt hat. Diese Renaissance wird von Zygmunt Baumann ganz direkt in einen Zusammenhang mit einem vermeintlichen Bedeutungsverlust traditioneller Verbindungen in der Spätmoderne gestellt:

7

Die Verwendung des Begriffs im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne als Unternehmensbildungsprozess ist im vorliegenden Beitrag nicht explizit relevant, kann bspw. mit Blick auf Ausgliederungsprozesse bei professionellen Fußballvereinen jedoch ebenfalls mitgedacht werden.

158 | DANIEL ZIESCHE „In short, ‚community‛ stands for the kind of world which is not, regrettably, available to us but which we would dearly wish to inhabit and which we hope to repossess. […] ‚Community‛ is nowadays another name for paradise lost – but one to which we dearly hope to return and so we feverishly seek the roads that may bring us there“ (Baumann, 2001, S. 12).

Im Folgenden soll diese hier vorgestellte (vermutete) Doppelfunktion von Vereinen – als Träger von sowohl Vergemeinschaftungs- als auch Vergesellschaftungsprozessen – mit Blick auf die sozialen Aktivitäten von Fußballvereinen in Deutschland und England näher beleuchtet werden.

4. F USSBALLVEREINE UND C LUBS „ SOZIALER V ERANTWORTUNG “

IM

L ICHTE

Die Maßnahmen, die deutsche und englische Fußballvereine hinsichtlich ihrer Rolle als Träger sozialer Verantwortung in jüngerer Zeit übernommen haben, folgen unterschiedlichen Motivationslagen. Während die (klassischen) englischen Vereine ihre Investments in die Gesellschaft tatsächlich als solche sehen – ganz im Sinne einer CSR-Strategie, die zwar nicht monetär begründet sein muss 8 aber zumindest der Imagebildung des Clubs beträgt – sind die deutschen Vereine aus unterschiedlichen Gründen, insbesondere aus Anpassungsdruck heraus gezwungen, diese Projekte anzugehen. Dieser Druck wird in England wiederum von autoritärer Stelle erzeugt. Auf Grundlage eines Regierungsberichts der Football Task Force aus dem Jahr 1998 sind die britischen Clubs per Regierungsdekret verpflichtet, einen Teil ihrer Umsätze in die lokale Gemeinschaft – die Community – zurückzuführen (vgl. McGuire, 2008; APFG, 2009). Diese Football in the Community (FITC)Programme, die unter dem Motto „giving something back“ (Taylor, 2004, S. 47) firmieren, sind seit den 1990er Jahren in allen englischen Vereinen der ersten vier Spielklassen zu finden und auch in den Ebenen weit darunter verfügt nahezu jeder Verein – freilich in unterschiedlichen Ausprägungen hinsichtlich des Umfangs – über ein solches Programm. Grund hierfür ist vor allem die finanzielle Förderung dieser charities 9 durch den Football League Trust seit 2007 und kürz-

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Interview mit Chris Taylor, Geschäftsführer von Chesterfield FC, durchgeführt am 08. Oktober 2014.

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Hierbei handelt es sich um Wohltätigkeitsorganisationen, die von den Vereinen ausgelagert werden.

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lich, in den Ligen unterhalb der Football League, durch den Football Conference Trust, welche jeweils die aus der Premier League abgeführten Mittel an die Clubs verteilen. 10 Basis dafür bildet die Annahme, dass Fußballvereine und ihre Gemeinschaften in einem Verhältnis der gegenseitigen Unterstützung stehen (Vgl. ebd.). Neben den finanziellen Anreizen kann diese Entwicklung durch institutionelle mimicry erklärt werden: Ein Ansatz aus den oberen Ligen (oder von vorbildhaften Vereinen) wird – aus unterschiedlichen Gründen und von unterschiedlichen Stellen – als vielversprechend bewertet und nachgeahmt. Der Anpassungsdruck für die deutschen Vereine ergibt sich aus der Organisationsform der Vereine und aus gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, welche die direkten Abläufe in den Vereinen nachgelagert treffen: In einem begrenzten Markt stehen die Vereine unter dem Druck, die potenziell für sie erreichbaren personalen Ressourcen zunächst zu akquirieren und nachfolgend in Form von Mitgliedern und insbesondere Ehrenamtsträgern langfristig zu binden (vgl. Schlesinger & Nagel, 2011; Nagel, 2006). Jüngere Entwicklungen wie der starke Ausbau der Ganztagschulen und die mehr oder minder erfolgreiche Einbindung von Sportvereinen in diese ressourcenintensiven neuen Strukturen sind dabei nur die Spitze des Eisbergs und haben den Anpassungsdruck beträchtlich erhöht: 11 Weiterhin stellen die negativen Effekte einer „Touch-and-Go“Gesellschaft Sportvereine gerade im Bereich der Gewinnung dauerhafter ehrenamtlicher Mitarbeiter vor enorme Herausforderungen. Die oft recht statischen Strukturen, insbesondere hinsichtlich der Nutzung der vereinseigenen Infrastrukturen stehen zudem in einem Missverhältnis zu den Anforderungen heutiger Arbeitnehmer mit flexiblen Arbeitszeiten und einem hohen Pendelaufkommen. Drittanbieter machen den Vereinen hier seit Jahren erhebliche Konkurrenz, da sie sehr viel besser in der Lage sind, den Bedürfnissen der modernen Arbeitswelt zu entsprechen.

10 Das englische Fußballligensystem gliedert sich wie folgt: Die von der Football Association (ff. FA) selbst verwaltete und vermarktete Premier League stellt die Spitze dar, hierauf folgen drei Spielklassen unter Verwaltung der Football League. Darunter wiederum folgen sieben Spielklassen unter der Ägide der National League, die wiederum der FA unterstehen. Ab der fünften Spielklasse wird von Non-League Fußball gesprochen, wobei die fünfte bis siebte Ebene als Conference-Fußball bezeichnet werden. In den Ligen der Conference nehmen sowohl professionelle als auch semiprofessionelle Teams teil, ab der achten Ebene gibt es maximal semiprofessionelle Teams. Eine regionale Aufteilung gibt es in England erst ab der sechsten Ebene. 11 Vgl. zu den Krisen des Vereinswesens: Baur & Braun, 2003, S. 54ff.

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Auf die Fußballvereine wirkt sich dieser Gesichtspunkt, bedingt durch die vergleichsweise hohe Zahl passiver Mitglieder (zumindest ab einem gewissen Grad der Professionalisierung), nicht in gleichem Maße aus. Dennoch haben auch in Deutschland insbesondere Fußballvereine in den vergangenen Jahren verstärkt sozialpädagogische Projekte initiiert und begleitet, gleichsam findet sich der Anspruch sozial integrierend (oder inkludierend) in der jeweiligen lokalen Umgebung aktiv zu sein in den Vereinsagenden und Selbstverständnissen der Fußballvereine bis weit in untere Ligenregionen. Das „sozial fördernde“ und „verbindende“ Potential des Fußballs in diesem Bereich sozialen Engagements zu nutzen wird hier ebenso betont, wie die starke Fokussierung auf (aus ganz unterschiedlichen Gründen) sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Der gleiche Ansatz findet sich auch in England und in beiden Fällen stehen diese Bestrebungen in einem – wenn nicht direkten, so doch zumindest indirekten – Bezug zur Gewinnung von Nachwuchs mit dem schlussendlichen incentive, talentierte Fußballer gewinnen und längerfristig binden zu können. Zusätzliche Anreize für die Vereine wurden dabei sowohl in Deutschland als auch in England in Form von Integrationspreisen und ähnlichen, an die sozialen Aktivitäten eines Vereins geknüpften, Auszeichnungen seitens der Verbände geschaffen. 12 Vereine und Clubs werden in sind in diesem Sinne sowohl vergesellschaftend als auch vergemeinschaftend aktiv. Die Vermittlung von gesamtgesellschaftlich gültigen Prinzipien erfolgt sowohl im Sinne der vereinsinternen Arbeit bezüglich der aktiven Mitglieder (bspw. (assoziative) Demokratiefunktion, Leistungsprinzip, Verständnis ökonomischer Prinzipien) als auch im Zuge der pädagogischen Ansätze, die in den sozialen Projekten verfolgt werden (bspw. Inklusion, respektvoller Umgang, Schulung sozialer Kompetenzen, Förderung sozialer Chancengleichheit). In gleicher Weise bilden sich innerhalb der Vereinsstrukturen unterschiedliche Gemeinschaften heraus, welche allesamt eigenen Codes und Symbolen unterliegen. Am augenfälligsten sind in diesem Zusammenhang die Fangemeinschaften, die sich wiederum unterschiedlich ausdifferenzieren, aber in direktem Zusammenhang mit dem Vereinsgebilde zu sehen sind (und die darüber hinaus ebenfalls in starkem Maße sozial aktiv sind 13). Doch auch darüber hinaus, im direkten Vereinsumfeld, bildet sich eine imaginierte bzw. symbolisch konstruierte Gemeinschaft aller Mitglieder mit einem generellen Solidari-

12 Beispielhaft sei hier auf den „DFB- und Mercedes-Benz-Integrationspreis“ sowie den „FA Respect Award“ verwiesen. 13 So laufen die Ultragruppen einiger Vereine den traditionellen sozialpädagogischen Einrichtungen der Jugendhilfe hinsichtlich Angebotsvielfalt und der Zahl betreuter Jugendlicher mittlerweile den Rang ab. (vgl. Ruf, 2013).

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tätsempfinden sowie einer gemeinsamen, identitätsstiftenden Verbindung über nostalgische Anknüpfungspunkte. Dass diese Prozesse sich wechselseitig beeinflussen und Vergesellschaftungsprozesse gleichermaßen auch die Vergemeinschaftungsprozesse innerhalb von Vereinen beeinflussen (und umgekehrt) liegt hierbei auf der Hand. So ist bspw. die Anerkennung einer wachsenden Pluralität von Individuen sowohl im gesamtgesellschaftlichen Sinne als auch im unmittelbaren Vereinsumfeld in erheblichem Maße für die Neuaushandlung von Gemeinschaftsbildern und -konzepten innerhalb des Vereins von Bedeutung. Vereine nehmen in diesem Zusammenhang eine wichtige Scharnierfunktion ein, insbesondere, wenn es darum geht, jene Gruppen zu erreichen, die für traditionelle Einrichtungen der öffentlichen Kinder- und Jugendarbeit nicht unmittelbar erreichbar sind. Gleichwohl zeigt die bisherige Forschung insbesondere hinsichtlich der Erfüllung einer vermeintlichen Integrationsfunktion von Sportvereinen deutliche Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. 14 Hier bilden Fußballvereine dennoch eine Ausnahmegruppe. Die hohe Popularität des Sports, auch über die Kulturkreise der westlichen Hemisphäre hinaus, führt grundsätzlich zu einer höheren Heterogenität innerhalb der (aktiven) Mitglieder (vgl. Breuer & Wicker, 2011). Fußballvereine sind somit vor allem durch die hohe gesellschaftliche Relevanz des Sports sowohl innerhalb der jeweiligen Gesellschaften in Deutschland und England als auch hinsichtlich der enormen globalen Verbreitung des Sports von zivilgesellschaftlich hoher Bedeutung. Die unternommenen aktiven Schritte sozialer Verantwortung (zusätzlich zur gegebenen „passiven“ gesellschaftlichen Relevanz) stellen somit auch einen Weg dar, dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck gerecht zu werden, den Legitimationsdiskurs mitzugestalten und gleichzeitig neue Wege und Mittel zu nutzen, Ressourcen zu binden. Die Arbeitsbereiche variieren hierbei stark und reichen von Kinderbetreuung über Erwachsenenbildung bis hin zu unmittelbar sportrelevanten Programmen im Bereich der Trainer- und Führungskaderausbildung. Nicht alle diese Bereiche lassen sich ganzheitlich auf die zuvor genannten Handlungsmotivationen zurückführen. Insbesondere am Beispiel des englischen Sechstligisten FC United of Manchester (FCUM) lässt sich das Grundverständnis des Vereins mitsamt seiner starken Einbettung in die und Einbindung der local community an seinem sozialen Engagement ablesen. Hier wird auch deutlich, wie sich eine andersartige Grundstruktur auf diesen Aktivitätsbereich auswirkt:

14 Diverse Studien beschäftigen sich mit der Nichterfüllung sozialer Integration in Vereinen im Zuge sozialer Exklusionsmechanismen. Vgl. exemplarisch: Baur & Braun, 2003; Theeboom, Schaillée & Nols, 2012; Collins, 2004).

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Das genossenschaftliche Modell 15 des FCUM zwingt ihn dazu, hinsichtlich seiner sozialen Aktivitäten enorme Anstrengungen zu unternehmen, um den Verein langfristig und nachhaltig aufzustellen und in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu verankern. Dieser Gemeinwohlzweck bildet auch den Kern der Zielstellungen innerhalb der Satzung (vgl. FC United of Manchester, 2015: S. 2 (insbes. 2.i.). Folgerichtig unterhält der Club eine Vielzahl an Sozialprogrammen in unterschiedlichsten Aufgabenfeldern, von Schulprojekten über Erwachsenenbildung bis hin zu Angeboten für vulnerable Menschen. Bei Rot-Weiss-Essen (RWE) wird hingegen ein klar auf Kinder und Jugendliche ausgerichteter Bildungsansatz verfolgt: „Dieser Verein [Essener Chancen e.V. 16] soll sich um Kinder und Jugendliche, insbesondere aus sozial schwächeren Strukturen kümmern und zwar da, wo es um Bildungs- und Ausbildungschancen geht. Das knüpft daran an, dass der Bildungsbericht der Stadt Essen identifiziert hat, dass es aus dem Essener Norden von Schulanfängern 20 Prozent bis zum Abitur schaffen, im Essener Süden sind es 80 Prozent. Es gibt also große strukturelle, soziodemographische Unterschiede und wir haben gesagt: Wir wollen genau da was tun, wollen Bildungsimpulse setzen, etc. und wollen dabei die integrative und insbesondere auch die motivatorische, die aufmerksamkeitsorientierte Kraft des Fußballs nutzen.“ 17

Die Zielgruppeneinengung auf Kinder und Jugendliche und die Gesamtheit der unterschiedlich von RWE initiierten Projekte lassen sich im Sinne einer neuen Nachhaltigkeitsstrategie im Rahmen der Neuorientierung des Vereins seit der Insolvenz- und Rekonsolidierungsphase ab 2010 lesen. Der Fokus liegt hier klar darauf, einen möglichst breiten Zuspruch innerhalb der für RWE relevanten Gruppe der Sechs- bis Vierzehnjährigen Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Dies einerseits, um den Verein nachhaltig in der lokalen Gemeinschaft zu verankern und andererseits, um einen breiteren und direkteren Zugriff auf potentielle

15 Gegründet wurde der FCUM 2006 als Industrial and Provident Society (IPS). Die Wahl dieser Organisationsform stand im Vereinigten Königreich bis August 2014 solchen Vereinigungen offen, die sich als Genossenschaften oder gemeinwohlorientierte Organisationen begriffen. Seitdem müssen sich Organisationen zwischen einem der beiden Primärzwecke entscheiden. Vgl. House of Parliament (2014). 16 Der Verein „Essener Chancen“ wurde von Rot-Weiss-Essen zusammen mit städtischen Partnern gegründet, um den unterschiedlichen sozialen Engagements ein Dach zu geben. 17 Interview mit Michael Welling, Geschäftsführer von Rot-Weiss-Essen, Interview durchgeführt am 26. März 2014.

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Talente zu ermöglichen und sich somit langfristig als Ausbildungszentrum etablieren zu können.

5. V EREINSSPORT

DER

M EDIALEN M ODERNE

In Deutschland nehmen die Vereine ihre „neue“ soziale Rolle sowohl aufgrund des eigenen Selbstverständnisses als auch aufgrund veränderter gesamtgesellschaftlicher Anforderungen wahr. Die football clubs in England folgen in den unteren Ligen einem ähnlichen Antriebsmuster. Gleichsam werden Vereine und Clubs in beiden Ländern in dieser Rolle stärker in Anspruch genommen und in Aufgabengebiete „dirigiert“, die nicht zwangsläufig zum traditionellen „Kerngeschäft“ bzw. Aufgabenbereich dieser Organisationen zählen. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Verortung von Vereinen und clubs im Gefüge Staat-MarktGesellschaft aus. Diskutiert werden müsste, inwiefern Prozesse erkennbar sind, denen zufolge sich Fußballvereine in Deutschland und England stärker hin zu dienstleistungsorientierten bzw. korporatistischen Organisationen entwickeln und beide Formen des organisierten Sports ihre klarere Verortung im Bereich des Marktes (England) bzw. der Zivilgesellschaft (Deutschland) dadurch schrittweise verlassen. Dies sind freilich lediglich in Ansätzen erkennbare Tendenzen und keine abgeschlossenen Prozesse. Gleichwohl prägen diese den Diskurs und die De- und Rekonstruktion dessen, was die Institution des Fußballvereins oder football clubs im jeweiligen Bedeutungsrahmen ausmacht, maßgeblich mit. Wenngleich, wie oben beschrieben, beide Formen in ihrem Kern nahezu unverändert fortbestehen, sind einerseits Umstrukturierungs- und andererseits Anpassungsprozesse erkennbar, welche die Institution – hier: der semi-/ professionelle unterklassige Fußballverein – nachhaltig verändern könnten. Mit Bezug auf einen Gesellschaftsentwurf der Medialen Moderne ergeben sich Fragen nach der Vorformatierung und den basalen Kategorien des Vereins- bzw. club-wesens und seiner spezifischen Strukturen, sprich: inwiefern diese sich pfadabhängig beständig neu konstituieren oder Kontingenz integrieren können und wandlungsfähig sind. Das angesprochene genossenschaftliche Modell, das aktuell bei ca. 30 Clubs in England Anwendung findet, stellt einen klaren Bruch mit den typischen Mustern englischer Fußballclubtradition dar. Die Orientierung am Mitglieds- und Stimmrechtprinzip des deutschen Vereinswesens lässt hier zumindest darauf schließen, dass institutionelle Veränderung auch durch den Diskurs innerhalb der

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Institution hervorgebracht werden kann. 18 In gleicher Weise sind die Fokussierung auf Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsaufgaben dies und jenseits des Kanals Indiz für ein gewandeltes Selbstverständnis der Institution semi/professioneller Fußballverein sein. Diese Trends können Seismographen breiterer gesellschaftlicher Transformationsprozesse sein: So ließe sich die Entwicklung in Deutschland etwa durch den graduellen Rückbau des Wohlfahrtsstaats und das Füllen dieses Vakuums durch zivilgesellschaftliche Institutionen interpretieren, in England kann der Rückzug in private, (vermeintlich) sichere, selbstkontrollierte Organisationsformen im Lichte wachsender Unsicherheit angesichts einer immer undurchsichtigeren Welt – einer „verflüssigten Moderne“ (Baumann, 2000) – gewertet werden. Innerhalb der Vereinsgemeinschaft konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert sich das bürgerschaftliche Subjekt: Vereine sind Orte gesellschaftlicher Selbstversicherung über geltende Normen, Werte, Prinzipien und Strukturen. Ich habe argumentiert, dass sich aus dieser Doppelfunktion, also der Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsfunktion, die Legitimität und Relevanz von Sportvereinen für das zivilgesellschaftliche Gefüge speist. Sportvereine bilden und bieten Solidargemeinschaften und Anknüpfungspunkte für Subjekt- und (kollektive) Identitätsbildung und verfügen über ein soziokulturelles Potential und Kapital, was nur schwerlich durch kommerzielle Sportanbieter oder im Rahmen des unorganisierten Freizeitsports geschaffen werden kann. Diese Potentiale auszuschöpfen fällt nicht immer leicht – die schichtenspezifische homogene Mitgliederstruktur, interne Gruppenbildung und die Exklusion von Minderheiten sind hierbei nur die bekanntesten nachgewiesenen Probleme. Die hier vorgestellten aktiven sozialen Projekte sind ein Weg für Vereine, diese Binnenschranken aufzubrechen und sich – um den Titel des Beitrags aufzugreifen – als sozial aktive und vor allem zeitgemäße zivilgesellschaftliche Organisationen aufzustellen. Gleichzeitig verändern sich hierdurch die Gemeinschaften innerhalb eines Vereins: Die Veränderungen hinsichtlich der Gemeinschaftsbindungen und die Differenzierung von Vergemeinschaftungsformen im Zuge gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse schlagen sich im Sinne Gebauers et al. (2004) somit auch auf Ebene der Vereine – hier der Fußballvereine – nieder. Gleichsam wird hierbei bewusst von einer Differenzierung und Veränderung von Formen der Vergemeinschaftung gesprochen und eben nicht von einer vermeintlichen Auflösung dieser.

18 Eine eingehende Übertragung des Discursive Instiutionalism-Ansatzes von Vivien A. Schmidt (2010) auf Transformationsprozesse innerhalb von Sportvereinen wird in meinem laufenden Dissertationsprojekt vorgenommen.

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Fußballvereine stellen hierbei einen Mikrokosmos dar, in dem diese Prozesse in besonders expliziter und – bedingt durch den besonderen gesamtgesellschaftlichen Status des Sports – in äußerst verdichteter Form zum Ausdruck kommen.

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Fußball und die Regulierung kollektiver Emotionen T IMM B EICHELT

1. E INLEITUNG Noch vor wenigen Jahren galt es ausschließlich als Domäne von – stets männlichen – Publizisten, sich dem Sport im Allgemeinen und dem Fußball im Beson1 deren in gesellschafts- und politiktheoretischer Absicht zuzuwenden . Schriften etwa von Norbert Seitz (1997) oder Dirk Schümer (1996) enthielten plausible Thesen, etwa hinsichtlich der Aussagekraft sportlicher Erfolge für eine Gesellschaft oder deren Politik. Sie wurden allerdings jenseits der Sportsoziologie kaum aufgegriffen und von Wissenschaftlern – wenn überhaupt – auf weihnachtlichen Gabentischen und nicht über wissenschaftliche Bibliotheken rezipiert. Warum ist dies heute anders? Haben wir es mit einer Folge der allseits als geglückt empfundenen Fußball-Weltmeisterschaft 2006 zu tun, die das Ansehen des Fußballs salonfähig gemacht hat? Hat die Spaß- oder Erlebnisgesellschaft (Schulze, 1997) ihren endgültigen Siegeszug angetreten und damit „ernsthaftere“ Gegenstände der Theoriebildung verdrängt? Spielen die Massenmedien mit ihren dominanten Strategien der Personalisierung und Trivialisierung dabei eine maßgebliche Rolle (Dörner, 2001)? Oder sollten wir eher unterstellen, die allseits unterstrichene Integrationsleistung des Fußballs werde mit einer gewissen Zeitverzögerung anerkannt und finde daher den Weg in die Mainstream-Sozialwissenschaft?

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Für inhaltliche Zuarbeit und Hilfe bei der Übersetzung einer früheren Version danke ich Dorothea Rheinhardt. Mein Dank gilt darüber hinaus Christiane Barnickel für hilfreiche Kommentare.

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Der vorliegende Text verwirft keine dieser Deutungen, setzt aber einen anderen Akzent. Meine These lautet, dass der Bedeutungszuwachs des Fußballs eine gesellschaftliche Funktion erfüllt: das in Ausgleich bringen von individuellen und kollektiven Anforderungen an das spätmoderne Subjekt. Auf der individuellen Ebene dieses Subjekts sind Selbstverwirklichung, Autonomiegewinn und Egoismus geboten, um im Wettbewerb der Lebensentwürfe bestehen zu können. Dagegen sind auf der kollektiven Subjektebene Gemeinschaftsbildung, Empathie und Altruismus gefragt, um der gesellschaftlichen Atomisierung entgegenzuwirken und (gesellschaftlich und individuell) nötige Identitäten zu pflegen oder zu entwickeln. Die beiden Anforderungen stehen offensichtlich in einem Reibungsverhältnis zueinander. Emotionale Projektionen auf den Fußball, so möchte ich im Folgenden argumentieren, erfüllen die Funktion, die gegensätzlichen Individual- und Kollektivanforderungen wenigstens zu einem gewissen Grade miteinander zu versöhnen.

2. F USSBALL ALS M EDIUM ZWISCHEN I NDIVIDUAL UND K OLLEKTIVANFORDERUNGEN Wenden wir uns zunächst der Vorstellung zu, das soziale Handeln von Menschen lasse sich über Anforderungen an das Subjekt verstehen. Hinter diesem Gedanken steht die Idee, dass soziales Handeln weder rein automatisiert stattfindet noch einer ausschließlich gesellschaftlich-funktionalen Logik folgt. Handeln geschieht, wie bei Max Weber grundlegend dargelegt, intentional und mit Blick auf eine bestimmte Wirkung (Weber, 1980). Anforderungen an das Subjekt, handelnd tätig zu werden, können dann aus zwei Richtungen kommen: dem individuellen Streben nach (zweck- oder wert-)rationaler Erfüllung sowie kollektiven Erfordernissen, die sich auf kulturelle oder soziale Nomen beziehen. Dem entsprechen mit dem individualzentrierten Liberalismus (z.B. Rawls, 1975) und dem gemeinschaftszentrierten Kommunitarismus bzw. Republikanismus(z. B. Putnam, 1993; 2000)wichtige Stränge der zeitgenössischen Gesellschaftsinterpretation. Subjekte müssen in dieser Logik einem doppelten Anforderungsprofil entsprechen. Zum einen müssen sie individuellen, zum anderen kollektiven (Selbst)Erwartungen genügen. In modernen und spätmodernen westlichen Gesellschaften stehen diese allerdings in einem inhärenten Spannungsverhältnis. Je stärker der Einzelne einer individuellen Bedürfnisbefriedigung folgt, etwa im Bereich des Arbeitslebens, desto stärker kommt es auf Wettbewerb und Durchsetzungsvermögen an. Je stärker jedoch gemeinschaftsrelevanten Anforderungen

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nachgegangen werden soll, etwa in verwandtschaftlichen Beziehungen, desto eher wird im Zweifelsfall eben jene Wettbewerbsposition gefährdet, die in der Arbeits- und Freizeitgesellschaft für eine hohe gesellschaftliche Reputation nötig ist. Die klassische Soziologie von Marx über Durkheim und Weber bis zu Georg Simmel kennt im Wesentlichen vier Instanzen, die zur Verknüpfung individueller und kollektiv-identitärer Bedürfnisse des Subjekts in der Lage sind: Arbeit, Familie, Kirche und Nation. Alle vier Sphären gelten als Arenen, in denen sich Subjekte sowohl mit individuellen und kollektiven Motiven einbringen. Individuelle Selbstverwirklichung, etwa beim Ausüben bestimmter Rollen (z. B. Arbeiter, Ernährer, Kirchgänger, Wehrpflichtiger, etc.), ermöglicht wenigstens potenziell die Entwicklung von gemeinschaftlichen Entitäten wie Gewerkschaften, Großfamilien, Kirchengemeinden, Armeen oder Staaten. Wie bereits vielfach registriert wurde, setzt allerdings die spätmoderne Gesellschaftsorganisation alle vier Sphären gehörig unter Druck. Die Arbeitswelt gestaltet sich fragmentiert und unsicher (Bude, 2008). Stabile Mehrgenerationenfamilien sind selten, Kirchen in vielen Ländern fast bedeutungslos geworden (Pollack, Müller & Pickel, 2012). In Europa hat auch der Nationalstaat als Regelungsinstanz politischer und wirtschaftlicher Belange an Bedeutung verloren. Somit ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass die vergangenen fünfzig Jahre von einer zunehmenden Krise traditioneller sowie moderner Kollektive geprägt waren. Es gehört zum Allgemeingut populärer und wissenschaftlicher Weisheiten, der Fußball werde in einem ganz unmittelbaren Sinne als Ersatzreligion angesehen: als Konstruktion, auf die andernorts verlorene Gemeinschaftsgefühle projiziert und überhöht werden (Wortmann, 2006; Markovits & Rensmann, 2010, S.3). Allerdings: Auch hinsichtlich der individuellen Ebene lässt sich nicht wirklich von stabilen Verhältnissen sprechen. Auch hier Krisendiagnosen. Die Lage des Subjekts in Zeiten des Neoliberalismus wird mit Begriffen wie Erschöpfung (Ehrenberg, 1998), Vereinzelung (Putnam, 2000) und Müdigkeit (Han, 2013) charakterisiert. Nicht zuletzt die Auflösung des Nationalstaats im Zuge der Globalisierung vergrößert die soziale Ungleichheit (Stiglitz, 2013). Es lässt sich festhalten, dass nicht nur Kollektive, sondern auch Individuen in der Spätmoderne unter permanentem Anpassungsdruck stehen. Subjekte sehen sich mit instabilen Identitätsangeboten und -erfordernissen konfrontiert. Da hergebrachte, traditionelle Sphären ihre Ausgleichfunktion nicht mehr erfüllen und die identitäre Spannung nicht mehr überbrücken können, wenden sich die Subjekte solchen Identitätssphären zu, die verfügbar sind oder zu denen keine Konkurrenz erwächst: eine davon ist der Fußball. Die Verstärkung des relativen Gewichts des

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Fußballs ist also nicht genuin aus dem Funktionssystem des Fußballs heraus begründet, sondern lässt sich durch die Krise anderer Teilsysteme (Familie etc.) erklären. Welche Rolle spielt der Fußball dabei nun genau? Mein Vorschlag lautet, diesen – und zwar sowohl sein Publikum als auch seine Spieler – als Feld zu begreifen, in dem die allgegenwärtigen Individual- und Kollektivanforderungen an das Subjekt abgeglichen werden. Für den Fußball spezifisch ist einerseits eine dezidierte Anerkennung des Individualziels der Maximierung persönlichen und partikularen Erfolgs, andererseits des Ziels des Einzelnen, in einer Gemeinschaft aufzugehen. Fußball stellt in diesem Sinne eine Sphäre dar, in der das Ich und das Wir im Ansatz widerspruchsfrei miteinander in Ausgleich gebracht werden können. Dies folgt aus der Eigenart des Fußballs als einer Sportart, die aus der individuellen Praxis des Spielers, seinen Fähigkeiten und seinem eigenen kunstvollen Zauber besteht (Gebauer, 2006). Gleichzeitig eröffnet Fußball das Feld für Mannschaften, Fanclubs, anonymisierte Fangemeinden bei Public Viewings und so fort. Fußball formt Gemeinschaften, indem er soziales Kapital zur Verfügung stellt und für kollektive Erinnerungen sorgt (Groll, 2007). In diesem Sinne stellt der europäische Fußball ein soziales Reibungsfeld dar, an dem unterschiedliche theoretische Gesellschaftsdeutungen anknüpfen können. Zum einen lassen sich Prozesse und Entwicklungen im Fußball im Rahmen (neo-)liberaler Theoreme deuten. Professioneller Fußball beruht auf der Fähigkeit des Spielers, seinem individuellen Geschick am Ball und im Gehaltspoker entsprechend vergütet zu werden. Den finanziellen Wert eines jeden Spielers bestimmt der Markt (Fees & Muehlheusser, 2003; Frick, 2007; Kesenne, 2007). Der monetäre Wert nicht nur von Spielern, sondern auch von Vereinen unterliegt der wirtschaftlichen Logik. Zudem werden Fans keineswegs als unschuldige Zuschauer mit Interesse an der Schönheit des Sports gesehen, sondern als Konsumenten (Mikos, 2007). Zum anderen bietet Fußball Anschauungsmaterial für alle Theorien, die dem Kern des Romantizismus folgen – der konstruktiven Überhöhung von Gemeinschaften, in die sich einzelne Subjekte im Sinne einer moralischen Identität einfügen können (Taylor, 1994). Anknüpfungspunkte bieten nicht nur der Republikanismus (erneut Putnam, 1993; Putnam, 2000), sondern auch der Kommunitarismus (Walzer, 1992) und der Konservatismus (Fukuyama, 1992; O'Hara, 2012). In all diesen Theorien wird postuliert, dass zum gedeihlichen gesellschaftlichen Zusammenleben (politische) Tugenden, patriotische Empfindungen sowie bürgerliches Engagement gehören. In diesem Sinne wird im Diskurs über den modernen Fußball die Bildung partikularer kollektiver Identitäten positiv bewertet. Beispiele finden sich in den

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Vereinen FC Barcelona und Athletic Bilbao, die als Repräsentanten pseudonationaler Einheiten (Katalonien und dem Baskenland) charakterisiert werden (Nili, 2009). Vielen europäischen Ländern wird nachgesagt, sie verdankten ihr Nationalgefühl ein Stück weit dem Fußball (Abell et al. 2007; Bzowski, 2006; Kersting, 2007; Tomlinson & Young, 2006; Vujosevic, 2006). Nicht nur nationale Erfolgsgeschichten, wie das „Wunder von Bern“ (Deutschland 1954) oder der unerwartete Gewinn der Europameisterschaft von Dänemark (1992) und Griechenland (2000), sondern auch Misserfolge können das Nationalgefühl eines Landes prägen. Dies war beispielsweise im Falle des frühen Ausscheidens Frankreichs während der Weltmeisterschaft 2010 ersichtlich, welches eine selbst-kritische Diskussion über das republikanische Modell sozialer Integration im Land auslöste (Beaud, 2011). Das letzte Beispiel zeigt, dass sowohl in liberalen wie post-romantizistischen Diskursen nicht einfach von einer Glorifizierung des Fußballs gesprochen werden kann. Die „dunklen Seiten“ der Gemeinschaftsbildung (Markovits & Rensmann, 2010: Kap. 4) kommen ebenso zur Sprache wie die destruktiven Seiten der Hyperindividualisierung. Spielern wird ihr effizienzmaximierendes Verhalten vorgehalten, wenn sie den Elementen der Marktwirtschaft des Fußballs allzu zu offenherzig gegenüberstehen, indem sie beispielsweise (häufig) ihren Arbeitgeber wechseln. Vereine sind häufig bemüht, ihren Charakter als Marktakteure zu verschleiern und inszenieren sich als Träger regionaler Identitätsbildung. Individuelle wie kollektive Entwicklungen, so lässt sich festhalten, werden nicht in einer Exklusivitätslogik, sondern in ihrer gegenseitigen Ambivalenz diskutiert.

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ALS V ERMITTLER ZWISCHEN INDIVIDUELLEN UND KOLLEKTIVEN I DENTITÄTEN

Wie allerdings geschieht nun der Abgleich zwischen den individual- und kollektivorientierten Werten? Die Existenz von gegenläufigen Sprechakten im öffentlichen Raum führt schließlich nicht automatisch zu deren Versöhnung. In der sich stetig ausdifferenzierenden Gesellschaft ist vielmehr häufig von Parallelargumenten auszugehen, die sich in mehr oder weniger abgeschotteten Diskursgemeinschaften vollziehen. Warum also wirkt der Fußball für das Subjekt integrierend, obwohl diese Subjekte doch in immer mehr, und immer unterschiedlicheren, Gesellschaftsschichten zu verorten sind? Literaturwissenschaftler und Philosophen, die sich mit dem Fußball beschäftigen, halten auf diese Frage eine einfache Antwort bereit: Fußball verfügt, nicht

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zuletzt aufgrund seiner körperlichen und kinetischen Komponente, über ein ho2 hes emotionales bzw. Affektpotenzial . Sport im Allgemeinen, und Fußball als europäischer Hegemonialsport, affiziert Individuen und Gesellschaften, indem er fasziniert (Gumbrecht, 2006). Das Konsumieren und Praktizieren von Sportarten stellt – nicht bei allen, aber bei vielen – einen essentiellen Teil individueller Lebensführung dar. Dabei entsteht ein Gefühl des „Verlorenseins in fokussierter Intensität“ (Gumbrecht 2006, S. 204): „Immer, wenn wir Fußballspielen zusehen oder selbst mitspielen, bricht ein imaginäres Leben aus unserer Einbildungskraft hervor (…) Was an der Oberfläche des Fußballspiels sichtbar wird, ist sein Eigensinn und Charakter, der es in Opposition zu allen Errungenschaften unserer Kultur stellt“ (Gebauer, 2006).

Das Argument, durch Bewegung und passiven Sportkonsum (als Zuschauer) geschehe ein Herauslösen aus dem Alltag, lässt sich zu dem niederländischen Historiker Johan Huizinga zurückverfolgen. Dieser stellte vor mehr als 75 Jahren die These auf, die Fähigkeit zu spielen sei als anthropologische Konstante im Gemeinschaftsleben anzusehen. Der spielende Mensch – der homo ludens (Huizinga, 2004 (1938) – betreibe Spiele als Form einer kulturellen Erscheinung, welche das gesamte menschliche Leben umfassten und spezifische Bedeutungen in sich trügen. Demzufolge stellen Sport und Spiel bei Huizinga sowohl eine Sphäre der Alltagsferne als auch eine Form der Verhandlung und Schlichtung von sozialen Konflikten dar. Wenn nun die kollektive Bedeutung des Fußballs in der Bildung und Bewahrung von Identitäten besteht, wenn durch das an sich alltagsferne Spiel zugleich gesellschaftliche Bedeutungen transportiert werden, dann besteht ein hohes Potenzial für das Freiwerden individueller und kollektiver Emotionen. Sport gilt als eine der wenigen Domänen in spätmodernen Gesellschaften mit hoher affektiver Komponente – als letzte Bastion, in der Affekte und Emotionen weitgehend ungezügelt ausgelebt werden können (Markovits & Rensmann, 2010, S. 216). Der Weg zum Verstehen des Bedeutungsaufschwungs von Fußball muss folglich über eine vertiefte Auseinandersetzung mit Affekten und Emotionen führen. Offensichtlich sind diese in zweifacher Hinsicht wichtig. Zum einen lässt sich kaum ausblenden, dass Fußball in Europa wie wenige andere Phänomene geeignet ist, individuelle und kollektive Emotionen zu aktivieren. Je nach Stellung des Beobachters können diese als „barbarisch“ (Perelman, 2012), als „über-

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In diesem Text werden Affekte und Emotionen als Synonyme betrachtet. Häufig werden die Begriffe allerdings unterschieden, siehe z.B. Hartmann (2005, S. 27-37).

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all gültige Leitwährung des Sozialen“ (Schümer, 1996, S. 15) oder als hässlich und integrativ zugleich charakterisiert werden (Markovits & Rensmann, 2010, S. 45 und 207). Die These jedenfalls, Fußball sei in Europa als sozial bedeutungslos einzustufen, findet sich nirgends. Zum anderen verfügen Emotionen indes über eine symbolische Bedeutung, die folglich der Interpretation offensteht. Die sozialwissenschaftliche Emotionenforschung verfügt dabei über mehrere Deutungsangebote, die sich produktiv verwenden lassen. Zunächst bieten sich Anknüpfungspunkte bei der verhaltensorientierten Handlungstheorie. Ihr in den letzten Jahren breit rezipierter – und erneut auf Max Weber zurückgehender – Befund lautet, menschliches Handeln sei nie ausschließlich rational, sondern häufig von Inkonsistenz und Launenhaftigkeit geprägt (Ariely, 2008; Elster, 1999; Kahnemann, 2011; Thaler & Sunstein, 2008). Hier bestehen inhaltliche Verknüpfungspunkte mit der Fanforschung, die sich seit langem mit dem keineswegs immer rationalen Verhalten von Fans auseinandersetzt. In einer sehr instruktiven Arbeit hat z. B. Cornel Sandvoss dargelegt, wie volatil Stimmungen, aber auch Identitätsfiguren, von Fußballfans beschaffen sind (Sandvoss, 2005). Im Zusammenhang mit jenem Strang der Handlungstheorie, der Irrationalität als handlungskonstitutiv zulässt, verfügen Fans nicht über besonders erklärungswürdige Eigenschaften. Eher verhält es sich umgekehrt. Fans, die Emotionalität ausleben, können als bevorzugtes Objekt einer ganzheitlichen Verhaltenstheorie angesehen werden. Weiterhin werden in jüngeren Jahren Emotionen in die Sozialtheorie eingebunden. Dabei lässt sich erneut der Unterscheidung zwischen Liberalismus und gemeinschaftszentrierten Theorien folgen. Felix Heidenreich und Gary Schaal haben vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass Emotionen in beiden Denkschulen einen sehr unterschiedlichen Rang einnehmen (Heidenreich, 2012; Schaal & Heidenreich, 2013). Im Liberalismus, z. B. bei John Rawls oder Jürgen Habermas, werden Emotionen als Hemmnis der menschlichen Vernunft portraitiert. Emotionen werden dort regelmäßig als Einbruch der Irrationalität in eine Welt verstanden, in der Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Wohlstand auf Rationalität basieren. Leidenschaften sollen aus dieser Perspektive aus der öffentlichen Sphäre zurückgedrängt werden. Konflikte können entdramatisiert werden, indem an die Stelle emotionaler Auseinandersetzung ein vernünftiger Diskurs tritt, in dem Argumente frei ausgetauscht werden können. Ein solcher Diskurs ist auf einen neutralen Staat sowie ein von diesem ausgehendes neutrales Recht angewiesen. Sowohl öffentliche Auseinandersetzungen als auch deren Voraussetzungen erfordern Bürger, für die die „rationale Akzeptanz von Rechtsnormen“ zur Grundausstattung

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gehört. Gefühle sind daher im Liberalismus am besten in der Privatsphäre aufgehoben (Argument und Zitat bei Schaal & Heidenreich, 2013, S. 4f.). Die Sportforschung nimmt die liberale Perspektive zum einen in der Sportökonomie auf. Dort werden viele Bereiche im Kontext von Rationalität, Effizienz und Berechenbarkeit gesehen. Die Sportökonomik, die eigentlich eine Betriebswirtschaft des Sports ist, wurde bereits erwähnt (Dobson & Goddard, 2006). Sie zeichnet sich dadurch aus, das vermeintlich Unkalkulierbare des Spiels berechenbar zu machen. Das gilt nicht nur für die wirtschaftlichen Aspekte wie Sponsoring, Spielermarkt oder die Konsumentenseite der Zuschauer. Auch das Spiel selbst wird auf seine Regelmäßigkeiten hin untersucht, indem Spielzüge, Taktik, Schusstechniken und ähnliches auf ihre Optimierbarkeit hin untersucht werden (Biermann, 2009). Emotionen erscheinen hier, etwas verschoben zum politischen Liberalismus, nicht per se durch das Leidenschaftliche und Unberechenbare problematisch. Eher legt die Sportforschung nahe, mit welchen Techniken affektuelle Ausbrüche und nicht erklärbare Zufälle so eingehegt werden, dass sie dem wirtschaftlichen und sportlichen Erfolg dienen können. Dem liberalen Ansatz gegenüber stehen die oben – unter Berufung auf Charles Taylor – als romantizistisch bezeichneten gemeinschaftszentrierten Theorien. In ihnen stehen unterschiedliche communities im Mittelpunkt, deren Zusammenhalt sich politisch (Republikanismus), lokal (Kommunitarismus) oder traditional (Konservatismus) bestimmt. Ohne Werte kommen weder die Bildung noch der Erhalt der respektiven Gemeinschaften aus. Diese Werte werden über Emotionen aktiviert und stabilisiert. In der spätmodernen Gesellschaft werden Gemeinschaften im Republikanismus dabei zu Rückzugsorten vor den kalten Konsequenzen der freien Marktwirtschaft. Die Interessen des Individuums allein reichen in diesem Zusammenhang nicht aus, um Gemeinschaften zu stabilisieren. Stattdessen werden Emotionen kanalisiert und mit der jeweiligen imaginierten Gemeinschaft verknüpft. Dabei kommen durchaus nicht nur positiv integrierende Emotionen wie etwa Vertrauen oder Liebe in Frage (einschlägig Nussbaum, 2013). Auch der Angst wird eine erhebliche gemeinschaftsbildende Kraft zugeschrieben, wenngleich sie in der Regel mit expliziter Abgrenzung verbunden ist (Selk, 2012). In der Sportsoziologie und Sportphilosophie finden sich viele Bezugspunkte. So argumentiert zum Beispiel Hans Ulrich Gumbrecht, dass die von Angst und Hoffnung geprägte Atmosphäre von Sportstadien regelmäßig in Gesellschaften wiedererzeugt wird. Demzufolge reichen kollektive Emotionen, die in Stadien ausgelebt werden und von Fans getragen werden, weit über die Tribünen hinaus. Konkret erlebte Kollektivität wird über die Massenmedien in die Öffentlichkeit getragen. Aus lokalen Emotionsgemeinschaften entstehen Massengefühle wie

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kollektive Frustration und gemeinschaftlicher Enthusiasmus. Emotionen werden dabei mit bereits existierenden kollektiven Deutungsrahmen verknüpft, insbesondere mit Nationen (Gumbrecht, 2006, S. 164-615). Eine wichtige Rolle spielen auch Sportvereine, die Personen unterschiedlicher Herkunft integrieren und so größere Gruppen miteinander verbinden können. Besonders in Ländern mit starker republikanischer Tradition, wie etwa in Frankreich, wird ein direkter Bezug zu nationalen Tugenden und Gesinnungen gesehen. So schreibt etwa der französische Soziologe Pascal Duret, der sportliche Wettbewerb konstituiere einen Ort, an dem sich die Homogenität und Einheit der Staatsbürgerschaft zeige (Duret, 2004, S. 105). Allerdings findet sich in der Sportforschung auch die These der Emotionenforschung wieder, dass die gemeinschaftsbildende Funktion von sportgebundenen Emotionen nicht nur Zusammenhalt, sondern auch Grenzen schafft. Bereits in seinen Wurzeln war die Praxis des Fußballs darauf angelegt, gesellschaftliche Spaltungen hervorzubringen oder zu verstärken. Fußball galt anfänglich als aristokratischer Sport jener Gesellschaftsschichten, die ihren Unterhalt nicht selbst erarbeiten mussten und daher Zeit für eine freie Freizeitgestaltung hatten (Bausenwein, 2006). Erst etwas später, mit dem Beginn des Profifußballs, entfaltete sich ein Feld der Imagination auch für die Arbeiterklasse. Erst ab den späten 1870er-Jahren entstammten die Spieler englischer Fußballvereine (die in der Regel an Unternehmen gebunden waren) größtenteils der Arbeiterschicht. Die wachsende Projektionsmacht des Fußballs führte zu einem Aufschwung des Betriebssports, was wiederum im Interesseder Arbeitgeberwar, denn so ließen sich gesunde und belastbare Arbeitnehmer an die Unternehmen binden (ebd., S. 258267). In beiden Fällen diente Fußball offensichtlich dazu, die gesellschaftlichen Klassenstrukturen – in diesem Fall des 19. Jahrhunderts – zu festigen. Weitere Querverbindungen zwischen Emotionen- und Fußballforschung existieren bei der Betrachtung von Identitätsbildung im globalen Kontext. Einerseits vollzieht sich mit Fußball eine Entgrenzung von Lebenswelten, etwa wenn Spieler und Fans länderübergreifend aktiv sind und Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Fußball wird entsprechend als Hilfsmittel der Zivilisierung von Gesellschaften betrachtet. Durch seine einfach zu verstehenden Regeln helfe Fußball dabei, Emotionen in zivilisierter Weise zu erfahren und zu artikulieren (Markovits & Rensmann, 2010). Zugleich jedoch stellen Markovits und Rensmann fest, dass das kosmopolitische Element des sich ausbreitenden Zivilisationsfußballs Gegenbewegungen hervorruft. Nationalismus, Lokalismus, Homophobie und Gewalt – kurz: eine Mikropolitik der Exklusion – sind Begleitmomente der transnationalen Ausbreitung des Fußballs (ebd., Kap. 5). Erneut spielen kollektive Emotionen eine zentrale Rolle bei der Stabilisierung der

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entstehenden Ausgrenzungsgemeinschaften, und erneut überwiegen ambivalente Elemente. Gerade sie sind es, die den Fußball anschlussfähig für unterschiedliche, ja gegenläufige, Deutungen der gegenwärtigen Gesellschaft machen.

4. F AZIT Ich habe argumentiert, dass die rasant gewachsene Bedeutung des Fußballs in Gesellschaft und Wissenschaft auf ein doppeltes Funktionserfordernis zurückgeht. Erstens ermöglicht Fußball der Gesamtgesellschaft eine Reihe von kollektiven Rückversicherungsprozessen, die traditional in anderen Gesellschaftssegmenten (Familie, Arbeit, Kirche, Nation) stattgefunden hat. Der Fußball als Spiel und der öffentliche Diskurs über ihn stellen Felder dar, in denen Subjekte ihre individuellen Zielvorstellungen mit kollektiven Erwartungen versöhnen können. Es wurde dargelegt, dass es sich dabei um die Aktivierung nationaler Identität, um die Begründung sozialer Trennlinien, zugleich aber um deren partielle Überwindung handelt bzw. handeln kann. Zweitens reicht der reine Verweis auf strukturale Funktionszusammenhänge nicht aus, um die Bedeutungsaufladung des Fußballs – gewissermaßen seine Projektionsfähigkeit – zu erklären. Mein Vorschlag lautet, dass eine verstärkte Auseinandersetzung mit Emotionen dazu dienen kann, den konkreten Zusammenhang zwischen Individual- und Kollektiverfordernissen in spätmodernen Gesellschaften besser zu ergründen. Zentral ist dabei die Einsicht, dass die im Fußball – wie in allen anderen gesellschaftlichen Sphären – erzeugten Symbole vielfältig deut- und interpretierbar sind. Einzelne Spieler, Vereins- und Nationalmannschaften und viele andere Fußballphänomene symbolisieren die Möglichkeit von Erfolg. Damit sind sie hoch kompatibel mit dem (neo-)liberalen Motiv, durch die Entfesselung individueller oder unternehmerischer Kräfte zur Selbstverwirklichung zu finden. Diese emotionalen Projektionsmöglichkeiten lassen sich aber zugleich mit solchen kollektiven Ideen verknüpfen, die (zunächst) nicht in lebensweltlichen Konflikt mit den Individualanfordernissen geraten. Während Unternehmen heute häufig keine sicheren Arbeitsplätze garantieren können, während Familien unter den Mobilitätsanforderungen an ihre Mitglieder leiden und während die Kirchen ihre Moralvorstellungen nur nachholend an die Spätmoderne anpassen, können Fußballspieler und -fans ihrer Leidenschaft mit vergleichsweise geringem Gegenwind nachgehen. Zwar gibt es immer wieder Protestaktionen gegen die Kommerzialisierung des Spiels, die z. B. Ticketpreise in die Höhe treiben oder den Fanbesuch von Auswärtsspielen bedrohen. Angesichts des allgemeingesellschaftlichen Bedeutungsgewinns des Fußballs erschei-

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nen solche Bedrohungsszenarien jedoch unter dem Strich nachrangig. Als Sphäre, in der Subjekte ihre individuellen Neigungen ausleben können und zugleich nicht mit mächtigen Identitätsträgern in Konflikt geraten, erfüllt der Fußball eine emotional integrierende Funktion, die nur schwer zu ersetzen ist. Die Fähigkeit des Fußballs, über emotionale Signale das Individuelle und das Gemeinschaftliche zu verknüpfen, reicht somit weit über ein Phänomen der Freizeitgestaltung hinaus. Es handelt sich um ein „hidden game“ (Blutner & Wilkesmann, 2008), um ein zugleich funktionales und emotionales Spiel, das mit den zentralen Erfordernissen spätmoderner Gesellschaften kompatibel ist – und dies möglicherweise in größerem Umfang als bei vielen traditionellen Stützpfeilern der Gesellschaft. In dem Maße, in dem sich die Transnationalisierung und weitere Ausdifferenzierung von Gesellschaften fortsetzt, kann auch mit weiterem Bedeutungsaufschwung des Fußballs gerechnet werden.

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Sportentwicklung und Medienwandel – Konzeptionelle Überlegungen und empirische Befunde zum Mediensport

Medialisierung des Sports – ein Untersuchungsmodell H OLGER I HLE /J ÖRG -U WE N IELAND /S IMON R EHBACH

Sport ist von zentraler Bedeutung für die Medien. Als Gegenstand der Berichterstattung steigert er Auflagen sowie Einschaltquoten und verspricht sowohl Werbekunden als auch einen Imagegewinn. Die Rolle der Medien für den modernen Zuschauersport 1 und ihre damit einhergehende gesellschaftliche Relevanz sind durch Mediennutzungsdaten gut belegt. Sportübertragungen, v. a. die des Fußballs und der Olympischen Spiele, sind seit Jahren die reichweitenstärksten Sendungen des deutschen Fernsehens (vgl. Geese & Gerhard, 2012; Gerhard & Zubayr, 2014). Hinzu kommt die anhand des Umfangs der Berichterstattung quantifizierbare Bedeutung von Sport als Medieninhalt (vgl. Rühle, 2012; Horky & Nieland, 2013). Nutzung und Umfang der Sportberichterstattung haben in den vergangenen Jahrzehnten stetig zugenommen. Auch der Sport zieht einen Vorteil aus dieser Beziehung, denn seine Akteure erhalten Aufmerksamkeit und Einnahmen. Um von den Leistungen der Massenmedien, die in der Herstellung von Öffentlichkeit liegen, zu profitieren, wurden in der Vergangenheit verschiedene Strategien ausgebildet und kontinuierlich professionalisiert (vgl. Schierl, 2004). Die enormen Erlöse aus der Vergabe der TV-Rechte zeugen davon, dass der Sport zur Ware geworden ist: Mit drei Spielzeiten generiert die englische Premier League 9,5 Milliarden Euro, während das IOC allein von NBCUniversal für die Übertragungen der Olympischen Spiele im US-amerikanischen Fernsehen von 2018 bis 2024 4,9 Milliarden Dollar erhält. Diese Investitionen scheinen sich für die Medienanbieter zu lohnen, denn die Zuschauerzahlen wachsen, v. a. die Eröffnungsfeiern der Olympischen Spiele erzie-

1

Zum Verhältnis von Präsenz- und Medienpublikum in der Entstehung des modernen Sports vgl. Werron (2010).

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len weltweit höchste Publikumswerte (vgl. Horne & Whannel, 2012, S. 55; auch Geese & Gerhard, 2012). Laut Gebauer (1996a, S. 22) ist Olympia ohne das Fernsehen nicht mehr denkbar, Billings (2008, S. 1) bezeichnet die TV-Präsenz des Ereignisses gar als „the biggest show on television“. Damit gestaltet sich insbesondere das Verhältnis von olympischem Sport und Medien offenbar als Winwin-Situation. Während diese Situation hinsichtlich ihrer ökonomischen Dimension sowohl im öffentlichen als auch im akademischen Diskurs eine umfangreiche Beachtung findet, ist sie aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive bislang wenig untersucht worden. Der vorliegende Beitrag soll helfen, diese Forschungslücke zu schließen. Er knüpft an die Arbeiten zur Medialisierung des Sports an (vgl. Dohle & Vowe, 2006; Meyen, 2014; Frandsen, 2014; Heinecke, 2014) und richtet den Fokus auf den olympischen Sport sowie das IOC als seine oberste Institution. Um ein Modell für die empirische Untersuchung der – vermutlich gewachsenen – Medialisierung des olympischen Sports zu entwickeln, wird auf einen Ansatz von Bruns, Marcinkowski, Nieland, Ruhrmann und Schierl (1996) zurückgegriffen, der es erlaubt, die Beziehung von Sport und Medien im Kontext von Medienwandel und sozialem Wandel (vgl. Imhof, 2006; Saxer, 2012; Hjarvard, 2013; Kinnebrock, Schwarzenegger & Birkner, 2015) zu bestimmen.

T HEORETISCHER Z UGANG UND U NTERSUCHUNGSINTERESSE Sucht man nach Merkmalen, anhand derer sich der Wandel der Gesellschaft zur Mediengesellschaft beschreiben lässt, kann mit Saxer (2012) neben Komplexität, Funktionalität und Intervention als ein weiteres „Basiskonzept“ Medialität genannt werden. Diese stellt einen Kommunikationsmechanismus dar, der „manifest und latent, stabilisierend und labilisierend, eu- und dysfunktional in die wachsende Komplexität von Mediengesellschaften interveniert.“ (ebd., S. 43) Angesichts einer anhaltenden Pluralisierung von Lebensstilen und massiver Differenzierungsprozesse, denen auch der Sport unterworfen ist, lässt sich eine Vielfalt an Phänomenen beobachten, die in einer zunehmenden Verflechtung zwischen medialer Kommunikation und verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen gründet. Dies führt zur Frage, inwiefern der herausragende Stellenwert von demokratischer Partizipation, sozialer Teilhabe und Mündigkeit als die selbsterklärten Schlüsseldimensionen der klassischen Moderne in der medialen Moderne noch Bestand hat. Als Prototyp des modernen Sports sowie Spiegel der bürgerschaftlichen Gesellschaft wird der olympische Sport angesehen und einer Untersuchung

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der Veränderungen von Sport- und Bewegungskulturen zugeführt (vgl. Böckelmann, Johnen & Schürmann, 2013, S. 135f.; Schürmann, 2011, S. 607f.). Die zentrale Bedeutung von Massenmedien für die Vermittlung menschlicher Weltverhältnisse lässt sich anhand der Berichterstattung über die Olympischen Spiele insofern besonders gut nachvollziehen, als dass gerade hier die unumkehrbare, wechselseitige Abhängigkeit zwischen Sport und seinen benachbarten Teilbereichen der Gesellschaft deutlich wird. So haben soziale, ökonomische und technologische Umwälzungen zu tiefgreifenden Veränderungen der Struktur und Gestalt der Spiele geführt, die von einem regionalen, elitären Sportfest zum globalen TV-Event aufgestiegen sind (vgl. z.B. Whannel, 2012, S. 7f.; Steinbrecher, 2012, S. 161ff.) und gleichzeitig eine Folie bilden, auf der regelmäßig gesellschaftliche Themen diskutiert werden. Dass die Berichterstattung früh als wesentlicher Bestandteil in die Austragung der Wettkämpfe einbezogen wurde, spiegelt sich im Bau einer Pressetribüne für die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit in Athen wider (vgl. Waldstein, 1998, S. 572, zit. n. Bauer & Mirbach, 2015, S. 4). In den folgenden Jahrzehnten haben sich die Arbeitsbedingungen für Medienvertreter aus aller Welt erheblich verändert (vgl. Horne & Whannel, 2012, S. 50ff.; Steinbrecher, 2009, S. 171ff.). Einen Ausgangspunkt für diese Entwicklung bildet der Anspruch des IOC, die Ideale der olympischen Bewegung in die Öffentlichkeit zu bringen. Kodifiziert findet sich die Forderung in der Olympischen Charta. Somit gibt eine historische Sicht auf das fortlaufend überarbeitete Gründungsdokument der olympischen Bewegung Aufschluss über die sich im Laufe der Zeit wandelnde Bewertung, welches Potenzial Medien für den Sport haben: Wie Adi (2013, S. 49ff.) nachzeichnet, sind erstmals 1930 Anweisungen zur fotografischen und filmischen Aufnahme der Olympischen Spiele festgehalten worden. Als das Bewusstsein für die Leistungen der Massenkommunikation insbesondere mit dem Aufkommen des Fernsehens stieg, wurde unter der Überschrift „Publicity“ ein eigener Artikel in die Charta aufgenommen, der technische sowie rechtliche Rahmenbedingungen der Berichterstattung regeln sollte. Seit 1996 wird in der Charta explizit die Absicht genannt, ein möglichst großes Publikum zu adressieren, um den Vorstellungen, die der olympischen Bewegung zugrunde liegen, zur Durchsetzung zu verhelfen (vgl. ebd, S. 54). Dort heißt es noch heute in einer Durchführungsbestimmung: „It is an objective of the Olympic Movement that, through its contents, the media coverage of the Olympic Games should spread and promote the principles and values of Olympism.“ (IOC, 2013, S. 92) Ein solch programmatisch formuliertes Ziel wirft die Frage auf, in welchem Ausmaß die Leitgedanken des Projekts Olympismus tatsächlich (mediale) Resonanz finden.

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In diesem Sinne ist auch die Ankündigung des Präsidenten des DOSB Alfons Hörmann zu verstehen, „einen Sportsender für Deutschland“ aufzubauen (Uhrig, 2014). Über den 2014 zugelassenen Online-Kanal Sportdeutschland.TV werden Bewegtbildinhalte einer Vielzahl von Sportarten als Livestream sowie On-demand-Video zur Verfügung gestellt. Mit der Investition in Sportdeutschland.TV reagiert der DOSB auf die wachsende gesellschaftliche Bedeutung des Sports, dessen „mediale Vergegenwärtigung […] mittlerweile eine ingeniöse Qualität erreicht [hat]“, insofern das Sportgeschehen durch Medien „konzentriert, dramatisiert und ästhetisiert“ wird (Saxer, 2012, S. 798). In diese Richtung weist auch die Olympic Agenda 2020, mit der das IOC (2014, S. 9ff.) u. a. den Bewerbungs- und Vergabeprozess einfacher, kostengünstiger und nachhaltiger gestalten sowie die Vielfalt der Sportarten im olympischen Programm vergrößern und ihre mediale Präsentation verbessern möchte. Die internationale Sportorganisation plant ebenfalls die Einrichtung eines eigenen Online-Kanals, um die Aufmerksamkeit für den olympischen Sport zu erhöhen und die neuen medientechnologischen Möglichkeiten in Eigenregie umzusetzen (vgl. ebd., S. 56f.). 2 Aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive auf die gesellschaftliche Bedeutung der Annäherung zwischen olympischer Bewegung und Massenmedien ist zu überlegen, auf welche Weise die Darstellung des Sports zum einen sport- und medienspezifische Veränderungen sichtbar machen und zum anderen einen sozialen Wandel anzeigen kann. 3 Falls die Berichterstattung als ein solcher Indikator fungiert, gilt es zu ermitteln, ob gesellschaftliche Prozesse nachträglich aufgegriffen, gleichzeitig verarbeitet oder vorweggenommen werden, dem Mediensport somit ein prognostischer Gehalt zukommt.

2

Einen wichtigen Schritt unternahm das IOC im Juli 2015, als die europäischen Übertragungsrechte für die Olympischen Spiele an Discovery Communications, seit 2014 Mehrheitseigner des Spartensenders Eurosport, vergeben wurden.

3

Mit Definitionsvorschlägen und Analysen von „Mediensport“ vgl. Stiehler (2007) und Horky (2009), aus einer historischen Sicht auf den österreichischen Mediensport Dimitriou (2010).

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M EDIENWANDEL UND SOZIALER W ANDEL Wird die Evolution der Medien unter einem mediensoziologischen Blickwinkel betrachtet, ist ihr Verlauf nicht als isolierter technologischer Prozess zu verstehen, sondern im Kontext von gesellschaftlichen Strukturen, Anforderungen und Problemen zu situieren (vgl. Ziemann, 2011; Hjarvard, 2013). So steht der Bedeutungsgewinn (digitaler) Medien im Zusammenhang mit anderen, teils langfristig wirkenden Entwicklungen wie Individualisierung und Globalisierung (vgl. Krotz, 2012). Zu berücksichtigen ist, dass auch die Kommunikations-, Informations- und damit die Mediennutzungsgewohnheiten in der Bevölkerung nicht konstant bleiben. An dieser Stelle rücken die Wechselwirkungen zwischen dem Wandel von Medien, kulturellen Praktiken sowie Kulturen und der sich potenzierenden Dynamisierung gesellschaftlicher Verhältnisse in den Fokus (vgl. Imhof, 2006; Saxer, 2012). Dabei „[wird] [d]as Verständnis der Rolle von Medienkommunikation in im Wandel begriffenen gesellschaftlichen und kulturellen Teilbereichen [...] mitunter als Schlüssel zur Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen insgesamt angesehen.“ (Kinnebrock et al., 2015, S. 12) Um die Bezugnahmen der Teilbereiche zu differenzieren, wurde im Rahmen eines Projekts zum Stellenwert des Fernsehens ein analytisches Modell entwickelt (vgl. Bruns et al., 1996). Unter der Annahme, dass sich das Bedürfnis „FernSehen“ inzwischen im Leitmedium Fernsehen manifestiert, ging man davon aus, dass das „Fernsehen evoluiert im Zuge intern motivierter, selektiver und wechselseitiger Austauschprozesse mit seinen vier wichtigsten gesellschaftlichen Umweltbereichen, nämlich Politik/Recht, Wirtschaft, Kultur und Technologie.“ (ebd., S. 26) Die Modellkonstruktion stützt sich auf Theorien nichtlinearer, komplexer Systeme und konzipiert Einflussfaktoren nicht als direkte Beziehung(en), sondern im Sinne von „selektiver Irritation“ (Marcinkowski, 1993, S. 227). Das Veränderungsmodell des Fern-Sehens in Abbildung 1 stellt die Wechselbeziehungen der zentralen gesellschaftlichen Teilbereiche dar.

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Abbildung 1: Veränderungsmodell des Fern-Sehens (vgl. Bruns et al., 1996, S. 27) B B

B B

Politik

Wirtschaft

B

B P2

W2 P1 T1

T2

Veränderungen des Fern-Sehens

W1 A1 A2

B B

B

Technik

B

Alltag/ Kultur

B B

Die mit dem Index 1 gekennzeichneten Pfeile beschreiben die Einflüsse bestimmter Bedingungskonstellationen in den gesellschaftlichen Teilbereichen, die das Fern-Sehen verändern, während sich die Pfeile mit dem Index 2 auf jene Einflüsse beziehen, durch die das Fern-Sehen seine eigenen Randbedingungen beeinflusst (vgl. Bruns et al., 1996, S. 29). Konzentriert man sich etwa auf die Wechselbeziehung zwischen Fernsehen und Wirtschaft, kann erstens gesagt werden, dass das Fernsehen ökonomische Trends durch seine Programme sowie selektiv zugeteilte Werbe- und Investitionsmöglichkeiten für ökonomisches Kapital promoviert oder restringiert (W2). Zweitens zielt die Wirtschaft auf eine umfassende Ökonomisierung aller vermarktungsfähiger Phänomene im Fernsehbereich (W1) (vgl. ebd., S. 36). Im Anschluss an die Bestimmung der Wechselbeziehungen zwischen den vier ausgewählten gesellschaftlichen Teilbereichen und dem Wandel des Fernsehens identifizieren Bruns et al. (1996, S. 46ff.) mit „Komplexität“, „Institution“, „Globalität“ und „Organisation“ die wesentlichen Veränderungsdimensionen. Das analytische Modell wurde so konzipiert, dass sich mit anderen Forschungsfragen weitere Teilbereiche integrieren lassen. Somit können der Sport in das Veränderungsmodell aufgenommen und – unter der Perspektive des fortschreitenden Medienwandels – Medien ins Zentrum gerückt werden (vgl. Abbildung 2). Weil Sport Gegenstand der Berichterstattung ist und Aufmerksamkeit verspricht (S2), gleichzeitig Medien Finanzmittel und Publizität zur Verfügung stellen (S1), ist

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der Mediensport als Wechselwirkung von Medien und Sport Motor ebenso wie Objekt gesellschaftlicher Veränderungen und lässt gleichzeitig Entwicklungen des sozialen Wandels sichtbar werden. Beim hier dargestellten Verhältnis handelt es sich um eine lukrative, aber für beide Seiten auch problemintensive Beziehung, die maßgeblich durch Professionalisierung und Ökonomisierung bestimmt wird. 4 „[...] [S]o wie die Medienunternehmen ständig mehr an Technologie und Knowhow in die Steigerung der Attraktivität ihrer Vergegenwärtigung des Sportgeschehens für Massenpublika und damit auch für die Werbewirtschaft investieren“, konstatiert Saxer (2012, S. 794), „so bemüht sich auch das Sportsystem, sein Produkt Sportveranstaltungen immer mediengerechter zu gestalten. Auf diese Weise setzen sich die beiden Systeme gegenseitig unter starken Innovationsdruck, was der Popularität des Kulturmusters Sport insgesamt und vor allem in der Gestalt von Mediensport zugute kommt.“ (ebd.) Abbildung 2: Veränderungsmodell des Mediensports (eigene Darstellung)

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Politik

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Sport

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Medien(wandel)

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Wirtschaft

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Zur Beschreibung der engen und umfangreichen Interdependenzen zwischen Sport und seinen Umweltsystemen hat Grimmer (2014, S. 53) jüngst das im deutschsprachigen Diskurs vorherrschende Konzept des „Sport-Medien-Wirtschaft-Komplexes“ (vgl. z.B. Schauerte, 2007) zum „Medien-Wirtschaft-Politik-Sport-Tetraeder“ erweitert.

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M EDIALISIERUNG 5 Nimmt man die nachhaltigen Bemühungen des Sports in den Blick, Medienpräsenz zu erlangen, kann an das Konzept der Medialisierung angeknüpft werden, welches die Anpassungsleistungen gesellschaftlicher Teilbereiche an die Regeln des Mediensystems umfasst (vgl. Schulz, 2004, S. 89f.; Hjarvard, 2013, S. 17f.). Von Autoren wie Meyen (2009, S. 377ff.) auf das Feld der Kommunikationswissenschaft eingegrenzt, steht die Frage nach einer Ausrichtung an der Logik der Medien trotz inhaltlicher Überschneidungen v. a. der Forschung zur Mediatisierung im Sinne von Krotz (2012, S. 26f.) gegenüber, die untersucht, „wie sich das Wechselverhältnis von medienkommunikativem und sozialkulturellem Wandel in der alltagsweltlichen Kommunikationspraxis von Menschen konkretisiert und wie dies in Beziehung steht zu veränderten Prozessen der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit.“ (Hepp, 2013, S. 187) Im Unterschied dazu beschreibt der von Meyen (2014, S. 377; auch Meyen, Strenger & Thieroff, 2015, S. 150ff.) favorisierte Medialisierungsbegriff „Medienwirkungen 2. Ordnung“, die dadurch entstehen, dass sich das Verhalten und der Alltag von Menschen, Organisationen, Institutionen und Systemen ändert, wenn Akteure davon ausgehen, dass Massenmedien nicht wirkungslos sind (Medienwirkungen 1. Ordnung). Es handelt sich also um die Reaktionen in sozialen Funktionssystemen auf die Konstruktion der Realität durch Print-, Funk- und Online-Angebote. Die Grundannahme lautet: „Öffentliche Aufmerksamkeit und öffentliche Legitimation sind zu knappen Ressourcen geworden, die in allen sozialen Funktionssystemen benötigt werden.“ (Meyen, 2014, S. 378) Medialisierung ist vornehmlich für den gesellschaftlichen Teilbereich Politik untersucht worden, insbesondere hinsichtlich Veränderungen, die sich aus Veränderungen der Medien erklären lassen (vgl. Vowe, 2006, S. 442). Die Orientierung an den Medien und eine öffentlichkeitswirksame Ausrichtung politischer Vorgänge werden häufig negativ als Bedeutungsverlust genuin politischer Strukturen und Prozesse beschrieben (vgl. z.B. Kepplinger, 2002, 2005). So ist vielfach zu beobachten, dass sich die Politik an die Logik des Fernsehens anpasst, was zu einer zunehmenden Entertainisierung auf der Ebene der Akteure und der medialen Aufbereitung führt. Zahlreich sind Beispiele von Politikern, die den Medien Einblicke in ihr Privatleben gewähren – ein Versuch, die eigene Medienpräsenz zu erhöhen, der sich auf die Annahme stützt, dass Medien eine Wirkung (beim Wähler) haben (vgl. Meyen, 2009; Meyen, et al., 2015). Eine solche Anpassung dient zunächst einem Publizitätszuwachs, dem andere Ziele wie eine

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Die beiden folgenden Abschnitte beruhen auf Ihle & Nieland (2013, S. 161-163).

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Steigerung von Popularität und Wählersympathien sowie schließlich Machtgewinn nachgelagert sind. Dem systemtheoretischen Ansatz folgend sehen Marcinkowski und Steiner (2010) Medialisierung als aktiven Zugriff von Umweltsystemen auf die Leistungen des Mediensystems, welche in der Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit liegen. Sie benennen drei Mechanismen, die den aktiven Zugriff auslösen und verstetigen: erstens die Existenz und die Allgegenwart der Medien, zweitens ihre Abläufe und Gesetzmäßigkeiten – also die „Medienlogik“ – und drittens der Aufmerksamkeitsbedarf der Systeme (vgl. Marcinkowski & Steiner, 2010, S. 53f.; auch Heinecke, 2014, S. 44). Medialisierung ist somit eines von zahlreichen Interdependenzphänomenen, die als Folge einer fortschreitenden funktionalen Differenzierung zunehmen und sich in gleicher Weise in einer Ökonomisierung sowie Verrechtlichung äußern (vgl. Marcinkowski & Steiner, 2010, S. 72). Sie tritt dann verstärkt auf, wenn gesellschaftliche Systeme auf öffentliche Aufmerksamkeit angewiesen sind, um ihre eigenen Funktionen und Leistungen zu erbringen (vgl. ebd.). Sofern dieser Bedarf auf Dauer besteht, „kann es zur strukturellen Absicherung von Zugriffschancen kommen, die sich empirisch als Medialisierungsfolgen beobachten und beschreiben lassen.“ (ebd., S. 73) Marcinkowski und Steiner wenden sich dezidiert gegen eine Annahme von Medienkausalität, vielmehr begrenzen sie die Wirkmacht der Medien darauf, Themen gesellschaftlicher Kommunikation mit öffentlicher Aufmerksamkeit ausstatten zu können und zwar besser als andere Systeme (vgl. ebd., S. 72). Aufbauend auf diesen Überlegungen können die Bedingungen der Medialisierung des Sports näher betrachtet werden.

M EDIALISIERUNG DES S PORTS – EINE ERSTE ANNÄHERUNG Durch die Inanspruchnahme der spezifischen Leistungen von Massenmedien für den betroffenen gesellschaftlichen Teilbereich entsteht ein Mehr an Publizität (oder zumindest die Möglichkeit, wahrgenommen zu werden). So lässt sich u. a. erörtern, ob eine verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit den Sport positiv beeinflussen kann und zwar in dem Sinne, dass eine größere Publizität auch zu einer Steigerung von Transparenz und Rechtfertigungsdruck innerhalb sportpolitischer Strukturen führt. Die letzten beiden Effekte scheinen in den vergangenen Jahren zunehmend in den journalistischen Blickpunkt zu geraten. Zu nennen sind hier neben der Korruption in der FIFA im Sommer 2015 die Vergabeprozesse der

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Olympischen Spiele (vgl. z.B. Ihle & Nieland, 2012) und das Thema „Doping“ im Sport (vgl. z.B. Ihle & Nieland, 2013). Darüber hinaus wurden Medialisierungsprozesse in Bezug auf den Sport im engeren Sinne untersucht (vgl. Dohle & Vowe, 2006; Meyen, 2014; Heinecke, 2014; Frandsen, 2014). Im Unterschied zur Politik bildet der Zuschauersport zunächst ein Unterhaltungsprodukt; dabei erzeugen Medialisierungsstrategien Interdependenzphänomene, insofern sie primär ökonomischen Zielen dienen (vgl. Schierl, 2004), die den Sport als Medieninhalt und Werbeträger wirtschaftlich „verwertbar“ machen sollen – für die Medien ebenso wie für die Sportveranstalter. In beiden Fällen wird öffentliche Aufmerksamkeit nicht als Selbstzweck gesucht, sondern unter der Annahme, dass sie ökonomisch positive Folgen zeitigt bzw. der Sport diese Leistung besser erbringen kann, wenn er dafür auf Medien zur Herstellung von Öffentlichkeit zugreift. So schlagen Dohle und Vowe (2006) das Modell einer „Mediatisierungstreppe“ vor, die verschiedene Stufen des Medieneinflusses auf den Sport beschreibt. Weniger modellhaft, im Ansatz aber ähnlich fasst auch Stiehler (2007, S. 6ff.) das Einwirken der Medien auf den Sport. Dabei geht es primär um eine Steigerung der Attraktivität des Sports (bzw. einzelner Disziplinen) für das Medienpublikum. Der Sport wird demnach so verändert, dass er für die ökonomisch begründete Verwertung durch Medien besser geeignet erscheint. Dies geschieht im Wesentlichen durch Versuche, das Unterhaltungserleben der Fernsehzuschauer anzuheben. Hinzu kommt die Nutzbarmachung des Sports für Werbepartner und Sponsoren (vgl. Schierl, 2004). Hierbei handelt es sich um ein relativ komplexes Gefüge gegenseitiger Abhängigkeiten, da Medialisierung einerseits durch ökonomische Kalküle vorangetrieben wird, andererseits wirtschaftlichen Profit ermöglicht (vgl. Dohle & Vowe, 2006, S. 25). Dieses Gefüge lässt sich nach den Handlungsebenen, auf denen Veränderungen beobachtbar sind, sowie der sportartspezifischen Ausprägung der Medialisierung gliedern. So kann Meyen (2014, S. 391) in seiner Studie zur Medialisierung des Fußballs nachzeichnen, dass sich die Sportakteure auf verschiedenen Ebenen an die Logik des Systems der Massenmedien angepasst haben, die v. a. durch eine Verschiebung in Richtung Kommerz geprägt ist. Auf der Mikroebene stellt Meyen fest, dass der Fußball schneller und ästhetischer geworden ist, Akteure um die Anwesenheit von Kameras wissen und ein intensives Medientraining erhalten. Auf der Mesoebene konstatiert er, dass Vereine fernsehtaugliche Stadien errichtet bzw. eingerichtet haben und außerdem professionelle PR betreiben. Schließlich sind es auf der Makroebene FIFA und DEL, die mediengerechte Spielregeln und Ansetzungsrhythmen entwickelt haben (vgl. ebd.). Die Medialisierung des Sports zeigt sich für Meyen im Fall des Fußballs auf besondere

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Weise, da hier „sowohl individuelle als auch kollektive Akteure auf die Ausdifferenzierung des Massenmediensystems reagieren.“ (ebd., S. 392) Orientiert am Konzept von Meyen sowie Marcinkowski und Steiner hat den bislang weitreichendsten Bestimmungsvorschlag der Medialisierung des Sports Heinecke (2014, S. 438ff.) vorgelegt. Durch einen Vergleich von verschiedenen Sportarten gelingt es ihr, in Hinblick auf „Anpassungsbereitschaft“, „TV-Präsenz“ (in Deutschland) und „Medialisierungsgrad“ eine Systematik für die weitere Forschung zu entwickeln (vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band). Trotz dieser Befunde ist die Medialisierung jedoch kein unausweichlicher und allumfassender Prozess, vielmehr sind ihr Grenzen gesetzt. Diese bestehen im Bereich des Sports nach Dohle und Vowe (2006) in der Kontroversität, der Ökonomisierung und den sportlichen Eigenlogiken (vgl. ebd., S. 25f.). Damit ist gemeint, dass eine mediengerechte Veränderung des Sports innerhalb der verschiedenen Einflussgruppen (Vereine, Verbände, Fans etc.) nicht unumstritten ist und insbesondere aus Reihen der Anhänger und Traditionalisten als Kommerzialisierung kritisiert wird, etwa durch Faninitiativen, die sich für den Erhalt von Stehplätzen in Fußballstadien einsetzen (vgl. auch Ihle & Nieland, 2012). Ökonomische Grenzen entstehen v. a. durch Bindung an Kosten-Nutzen-Kalküle, Medialisierung müsse „sich rechnen“. Diese Rechnung geht z.B. dann nicht auf, wenn in einer Sportart keine nationalen Stars (mehr) hervorgebracht werden, wie der Rückzug von RTL aus der Übertragung von Tennis, Skispringen und Beachvolleyball gezeigt hat. Die wichtigste Grenze entsteht laut Dohle und Vowe (2006, S. 26) aus der sportspezifischen „Handlungslogik von Sieg und Niederlage“, denn „[n]ur der authentische Sport bindet die Aufmerksamkeit der Sport-Interessierten.“

U NTERSUCHUNGSMODELL : M EDIALISIERUNGANGEBOTE UND M EDIALISIERUNGSFOLGENPRODUKTE Eine weitere Differenzierung kann vorgenommen werden, wenn die Annäherung der Olympischen Spiele an die Medien fokussiert wird. So setzt das oben vorgestellte Veränderungsmodell des Mediensports (vgl. Abbildung 2) eine (hohe) Medialisierbarkeit des Sports voraus, die sich in Medialisierungsangeboten von Seiten des Sports bzw. seiner Organisationen niederschlägt. Dies gilt in besonderer Weise für den olympischen Sport und das IOC als seiner obersten Entscheidungsinstanz. Denn um die fundamentalen Prinzipien der olympischen Bewegung zu verbreiten, setzt die Organisation auf die Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit in Form einer Berichterstattung über die Wettkämpfe. Zur Siche-

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rung der Zugriffschancen auf die Leistungen der Massenmedien macht das IOC (fortlaufend) neue Offerten an die Medien. Da nicht nur die grundsätzliche Medialisierbarkeit gegeben ist, sondern sich das IOC ausdrücklich dafür ausspricht, die Leistungen des Mediensystems zu nutzen, können als eigener Gegenstand der Untersuchung der Medialisierung die konkreten Medialisierungsangebote abgegrenzt werden. Diese lassen sich u. a. in der Ausweitung des Kanons der Sportarten sowie Disziplinen, der Änderung von Regeln zur Steigerung der Attraktivität einzelner Sportarten (z.B. Moderner Fünfkampf) und der Anpassung von Wettkampfzeiten erkennen. Hinzu kommen weitere verbandspolitische Aktivitäten und Entscheidungen wie die Vergabe von Sportgroßereignissen und der Kampf gegen Doping sowie andere Fehlentwicklungen (vgl. IOC, 2014, S. 9ff.). Schließlich bietet das IOC aus einer produktpolitischen Sicht ein „Produktionsbündel aus Sport, Integrität und olympischer Idee“ an, „das in seinem Marktwert bestimmt wird durch die direkte und die mediale Nachfrage nach absoluten sportlichen Höchstleistungen und spannenden Wettbewerben unter Einhaltung ethischer olympischer Produktionsstandards (Fair Play, Dopingfreiheit, Toleranz, Bescheidenheit, Respekt vor dem Gegner usw.).“ (Emrich, Pierdzioch & Pitsch, 2014, S. 92) Führt man die Beobachtungen zur intersystemischen Bezugnahme von Sport am Beispiel der olympischen Bewegung und Medien zusammen, lassen sich zwei Formen der Medialisierung unterscheiden, die voneinander unabhängig erforscht werden können: die Medialisierungsangebote des olympischen Sports (Medialisierung 1) und der Umgang der Medien mit den Medialisierungsangeboten, verstanden als Medialisierungsfolgenprodukte (Medialisierung 2). Während sich Medialisierung 1 auf das Ergebnis der Strategien des IOC bezieht und in den schriftlich fixierten Entscheidungen des Verbandes zum Ausdruck kommt, ist Medialisierung 2 als Auswirkung der Strategien in der journalistischen Auseinandersetzung mit dem Sportgeschehen nachzuweisen. Die Ausprägung von Medialisierung 1 kann somit über eine Dokumentenanalyse erforscht werden, die Untersuchung von Medialisierung 2 erfordert eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung. Unterschiedlich konzipiert kann diese im Querschnitt einem Vergleich von Sportarten, Events, Mediengattungen oder Medienanbietern dienen oder im Längsschnitt zeitliche Veränderungen erheben. Um eine auf dem vorgeschlagenen Modell basierende Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen olympischem Sport und Massenmedien durchzuführen, wurde ein Kategoriensystem entwickelt, das die Medialisierungsfolgenprodukte in den Blick nimmt. Eine Pilotstudie lieferte erste empirische Befunde (vgl. den Beitrag von Rehbach, Ihle & Nieland in diesem Band).

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Da die Olympia-Berichterstattung Themen stets nach einer eigenen Rationalität verarbeitet, von gesellschaftlichen Entwicklungen aber ebenso wenig entkoppelt ist wie der journalistische Gegenstand Sport selbst, das heißt der übergreifende soziale Wandel Einfluss auf beide Teilbereiche ausübt, sind drei Analysedimensionen zu unterscheiden, auf denen sich Veränderungen in der Berichterstattung manifestieren können.

ANALYSEDIMENSIONEN Der Anspruch der Inhaltsanalyse der Olympia-Berichterstattung besteht darin, voneinander getrennt sowohl die vom IOC geforderte Thematisierung der Ideale des Olympismus als auch Wandlungsprozesse der Gesellschaft und mediale Konstruktionsprinzipien zu erfassen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das in Abbildung 3 dargestellte Untersuchungsmodell. Abbildung 3: Untersuchungsmodell zur „Medialisierung des olympischen Sports“ (eigene Darstellung)

Olympia-Berichterstattung Thematisierung von olympischen Prinzipien Ausprägung von Nachrichtenfaktoren

Untersuchung der Medialisierung des olympischen Sports

IOC-Entscheidungen

Medialisierungsangebot Dokumentenanalyse Medialisierungsfolgenproduk Inhaltsanalyse der Berichterstattung

Zuschreibung von Werthaltungen

Pluralisierung der Sportwerte

Sozialer Wandel (Wertewandel)

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Eine erste Analysedimension bilden die olympischen Prinzipien, welche der Charta entnommen werden können (vgl. IOC, 2013, S. 11) und „die ideellen und normativen Grundlagen für ein komplexes Versprechen [liefern], wonach Athleten den Geist des olympischen Sports achten und sich an die Regeln halten wollen und an dessen Erfüllung die Zuschauer im Idealfall glauben.“ (Emrich et al., 2014, S. 91). Ihre Gültigkeit und Reichweite haben im wissenschaftlichen Diskurs der jüngeren Vergangenheit eine breite Diskussion erfahren (vgl. Gebauer, 1996b; Güldenpfenning, 2004; Schürmann, 2011). Ob sich auch die Berichterstattung mit den olympischen Prinzipien befasst oder das Medialisierungsangebot des IOC nicht angenommen wird und Medialisierungseffekte ausbleiben, gilt es aufzudecken. Denkbar ist auch, dass die Thematisierung der Prinzipien im Zeitverlauf zu- bzw. abnimmt, wenn sich ihr Öffentlichkeitsbedarf durch Entscheidungen des IOC verändert, neue Kommunikationsmöglichkeiten genutzt werden, wie die Pläne zum Aufbau des DOSB-eigenen Sportsenders belegen, oder eine sich verschiebende Präferenz von Medien für spezifische Ereignisse das Vorkommen von Prinzipien in der Berichterstattung wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher macht. Eine zweite Analysedimension berücksichtigt daher die mediale Eigenlogik. Sie bezieht sich auf den journalistischen Umgang mit Sportereignissen (und den damit verbundenen Medialisierungsangeboten des Sports). Um in diesem Zusammenhang Veränderungen der Berichterstattung im Zeitverlauf inhaltsanalytisch zu erfassen, bietet sich die Nachrichtenwerttheorie an, welche Merkmale bereitstellt, die zur Erforschung der von Journalisten unterstellten Publikationswürdigkeit von Ereignissen genutzt werden können. Anhand von Nachrichtenfaktoren und ihrer journalistischen Gewichtung, dem jeweiligen Nachrichtenwert, lässt sich in Quer- und Längsschnittanalysen auf die Nachrichtenselektion schließen. Loosen und Ravenstein (2000, S. 204) betonen, dass sich dieser Ansatz besonders gut für die Untersuchung der Sportberichterstattung eignet. Auf das Untersuchungsmodell der Medialisierung des Sports angewendet ist danach zu fragen, ob die der Olympia-Berichterstattung zugrunde liegende Nachrichtengewichtung durch Journalisten konstant bleibt oder einem Wandel unterworfen ist. Eine dritte Analysedimension betrachtet den sozialen Wandel, der in der Sportberichterstattung zum Ausdruck kommen kann. Einen in der soziologischen Forschung etablierten Indikator bildet dabei die im Laufe der Zeit variierende Haltung von Mitgliedern einer Gesellschaft gegenüber bestimmten Werten (vgl. Bürklin, 1988, S. 101). So konzipiert Klages (1984, S. 21) den in den 1960erJahren beginnenden Umbruch gesellschaftlicher Vorstellungen als Bedeutungsverschiebung von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten. Danach können traditionelle und freiheitsorientierte Haltungen jeweils unterschied-

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lich starkes Gewicht erhalten und in eine Synthese von alten und neuen Werten münden. Auch den Inhalten von Medien, die als gesellschaftliche Beobachtungsinstanzen innerhalb eines zeitlichen Kontextes fungieren, kann ein sozialer Wandel eingeschrieben sein, insofern Akteuren im Zeitverlauf eine bestimmte Haltung gegenüber einem Wert zugeschrieben wird. 6 Sport in den Massenmedien wäre dann zum einen in der Lage, Auskunft über die Verhandlung von olympischen Prinzipien und der Ausprägung des Profils von journalistischen Selektionskriterien zu geben, und zum anderen, Anhaltspunkte für einen sozialen Wandel zu liefern.

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Der Medialisierungsgrad des Spitzensports – eine Typologie S TEPHANIE H EINECKE

Die enge Verbindung von Sport und Medien hat eine lange Tradition. Schon früh reichten die Bezugspunkte über die alleinige Berichterstattung hinaus: Die Tour de France etwa wurde im Jahr 1903 durch die französische Sportzeitung L’Équipe, damals noch L’Auto, ins Leben gerufen, um die Nachrichtenlage im Sommer aufzubessern (vgl. Schimank, 1988, S. 217; Schwier & Schauerte, 2008, S. 27). Das Ereignis entstand somit auf Initiative der Medienschaffenden, heute gehört es zu den etablierten Großevents im Radsport. Trotz solcher frühen Kooperationen besteht Grund zu der Annahme, dass die Beziehung von Sport und Medien in den letzten Jahrzehnten einen Wandel durchlaufen hat. Vor dem Hintergrund eines neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit (vgl. Imhof, 2006) wird angenommen, dass sich die Verschränkungen bedeutend verstärkt haben und der Sport sich immer mehr an den Bedingungen der Medien orientiert. Die Folgen dieser Anpassung werden in der Kommunikationswissenschaft unter dem Begriff Medialisierung diskutiert (vgl. Donges, 2008; Hjarvard, 2008; Marcinkowski & Steiner, 2010; Meyen, 2009 sowie 2014; Neuberger, 2013; Strömbäck & Esser, 2014). Nicht nur der Sport, auch andere gesellschaftliche Teilbereiche sind von einem solchen Prozess betroffen. Die Frage nach Medialisierung und der dadurch bedingte gesellschaftliche Wandel werden in der Kommunikationswissenschaft seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Trotz unterschiedlicher Herangehensweisen und theoretischer Ansätze (für eine ausführliche Diskussion der Konzepte sei auf folgende Literatur verwiesen: Hepp, 2011, S. 41ff.; Meyen, 2009, S. 25; Neuberger, 2013, S. 224f.; Reinemann, 2010, S. 279f.) besteht Einigkeit, dass dieses Thema von zentraler Bedeutung für das Fach ist. Hier können Antworten auf Fragen gegeben werden, die für die ganze Gesellschaft hoch relevant sind

206 | STEPHANIE H EINECKE

und die der Kommunikationswissenschaft erhöhte Legitimation verleihen (vgl. Marcinkowski & Steiner, 2010, S. 51; Vowe, 2006, S. 543).

1. S PORT

UND

M EDIALISIERUNG

ALS

F ORSCHUNGSFELD

Versteht man Medialisierung vor dem Hintergrund eines neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit als langfristige Medienwirkung zweiter Ordnung (vgl. Meyen, 2009, S. 2f. sowie 2014, S. 377), so lassen sich in diesem Rahmen Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Teilsystemen und dem ausdifferenzierten Mediensystem untersuchen. Meyen nimmt in einer solchen Perspektive unter Berufung auf Schimanks Akteur-Struktur-Dynamik an, dass individuelle und kollektive Akteure ihr Verhalten ändern, weil sie von der Wirksamkeit der Massenmedien ausgehen (vgl. Meyen, 2014, S. 377ff.; Schimank, 2010). Die Anpassung an die Bedingungen der Medien wird also zu einem Kriterium für erfolgreiches Handeln im eigenen System. Traditionell konzentrierte sich die Kommunikationswissenschaft bei der Erschließung des Forschungsfeldes zunächst auf Studien zur Politik, schnell wurden jedoch Forderungen laut, die Untersuchungen auch auf andere Bereiche auszudehnen (vgl. Imhof, 2006, S. 208). Es sprechen einige Gründe dafür, dass der Sport für diese Art von Fragestellung nicht nur ein spannendes, sondern darüber hinaus auch ein besonders geeignetes Untersuchungsfeld darstellt: 1) Zugänglichkeit: Sport zeichnet sich dadurch aus, dass er im Vergleich zu einigen anderen Teilsystemen gut zugänglich ist. Sportwettkämpfe finden öffentlich statt. Auch wenn einige strategische Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden, so ist anzunehmen, dass sich Sport in einem deutlich geringeren Maße abschottet als bspw. das politische System. Viele Materialien sind öffentlich, sei es im Rahmen der Berichterstattung oder durch Verbandsdokumente. Die Rekrutierung von Gesprächspartnern verläuft oft vergleichsweise unkompliziert, vielmehr sind Interviews verschiedenster Art im Sport Teil des Spiels. 2) Anfälligkeit: Sport ist anfällig für Medialisierung. Das liegt für den Spitzensport – auf diesen konzentrieren sich die vorliegenden Ausführungen – v. a. in der Abhängigkeit von Leistungsbezügen aus Wirtschaft und Politik (vgl. Schimank, 2008, S. 72). Zuwendungen durch Sponsorenverträge oder Fördergelder sind essenziell, sei es bei der Durchführung von Veranstaltungen, der Sicherstellung optimaler Trainingsbedingungen oder dem Aufbau von Athleten. Voraussetzung dafür ist jedoch die Medienpräsenz des Sports. Nur so können

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Wirtschaft und Politik ihrerseits Nutzen aus der Zusammenarbeit ziehen, nämlich durch die Generierung von Aufmerksamkeit und idealerweise einen positiven Imagetransfer (vgl. Cachay & Thiel, 2000, S. 149). Für den Sport ist die Zusammenarbeit mit den Medien daher systemrational. Im Gegenzug profitieren auch die Medien von Sport als attraktivem Programminhalt. Medialisierung kann also nicht einfach als eine Art feindliche Übernahme gesehen werden, vielmehr liegt eine wechselseitige Beziehung vor. 3) Passung mit der Medienlogik: Sport entspricht in einem hohen Maße der sogenannten Medienlogik. Diese wird als Zusammenspiel von Akteuren und Strukturen im Mediensystem verstanden (vgl. Meyen, 2015, S. 24ff.). Neuberger (2013, S. 222ff.) etwa unterscheidet zwischen einer medialen und einer systemischen Logik des Journalismus, Esser (2013, S. 167) betrachtet die Medienlogik unter professionellen, kommerziellen und technologischen Aspekten. In vorliegendem Kontext ist insbesondere die mediale Logik relevant, also die Eigenschaften der Medien selbst und damit die „Selektion, Präsentation und Interpretation“ (Meyen, 2015, S. 28) der Inhalte. All diese Punkte lassen auf aussagekräftige Ergebnisse für die empirische Untersuchung der Medialisierung des Sports hoffen – sei es hinsichtlich der Maßnahmen auf Seiten des Sports oder der Medienberichterstattung. Die Medienlogik nimmt dabei einen zentralen Stellenwert ein: Die Eigenschaften von Sport erfüllen von sich aus viele Nachrichtenfaktoren, etwa Nähe zum Betrachter, kurze Dauer, Überraschungswert, Konflikthaftigkeit, ungewöhnliche Erfolge und Leistungen, Kriminalität, Personalisierung oder Prominenz (vgl. Loosen & Ravenstein, 2000; Meyer, 2003; Schwier & Schauerte, 2008, S. 68ff.). Meistens ist die Dauer eines Wettkampfes begrenzt, die Entscheidung Sieg/Niederlage kann überraschend ausfallen. Das Grobthema ist bekannt, ein Minimalwissen bspw. über das Prinzip von Fußball ist in Deutschland nahezu flächendeckend vorhanden. Der Kampf um den Sieg beinhaltet einen Konflikt und das Potenzial für herausragende Erfolge. Auch der Faktor Kriminalität wird etwa durch Dopingdiskussionen bedient. Die Athleten sind oft prominente Stars. Sport entspricht den Selektionskriterien der Medien folglich sehr gut. Zudem bietet Sport viele Ansatzpunkte, um die unterhaltenden Elemente zu betonen und zu inszenieren. Hier können journalistische Techniken bei der Aufbereitung von Informationen angewandt werden, etwa die von Stiehler (2012) beschriebenen Strategien der Personalisierung, Emotionalisierung, Relevanzzuschreibung und Interpretation. Je nach Medium erfolgen auch technische Eingriffe wie der Einsatz von Zeitlupen oder Grafiken im Fernsehen. So lässt sich

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der Unterhaltungswert nochmals steigern (vgl. Stiehler, 2003, S. 164ff. sowie 2012, S. 136ff.). Doch nicht nur die Eigenschaften von Sport an sich, auch die Reaktion der Medienkonsumenten unterstreicht die starke Eignung als Gegenstand der Berichterstattung. Sport ist eines der erfolgreichsten Programmformate im deutschen Fernsehen, das belegen Rekord-Einschaltquoten bei Großereignissen im Fußball (vgl. Zubayr & Gerhard, 2015, S. 119). Sport bedient dabei in einem hohen Maße Erwartungshaltungen und Nutzerverhalten der Rezipienten. Nach Digel und Burk (2001, S. 26) bietet er genau das, was die Menschen in der modernen Gesellschaft vermissen, etwa Zerstreuung, Zugehörigkeit, echte Helden und Emotionalität. Dabei steht Sport neben Unterhaltung auch für Wertevermittlung, gerade im olympischen Kontext. Zwar wird der Spitzensport als gesellschaftliches Teilsystem meist mit dem Code Sieg/Niederlage charakterisiert, der einen stetigen Konkurrenzdruck zur Folge hat, dennoch herrscht ein Fairnessgebot (vgl. Schimank, 2008, S. 69). Athleten üben insbesondere für Kinder und Jugendliche eine Vorbildfunktion aus, Fragen von Gerechtigkeit und Moral werden anhand des Sports exemplarisch erörtert (vgl. Schwier & Schauerte, 2008, S. 152f.). So reicht die Diskussion von Dopingskandalen oft über den Fall hinaus, wenn über eine gewisse Systemrationalität solcher Vorfälle debattiert wird und der Anschluss an den allgemeinen Wertekanon der Gesellschaft gesucht wird. Um zu erfassen, ob und wie Medialisierung den olympischen Sport verändert und dadurch zu einem gesellschaftlichen Wandel beiträgt, schlagen Ihle, Nieland und Rehbach im vorigen Beitrag ein Modell mit folgender analytischer Abgrenzung vor: •



Medialisierung 1 als Medialisierungsangebote des IOC, etwa zur Ausweitung des olympischen Kanons oder Regeländerungen. Diese sollen sicherstellen, dass eine möglichst große Medienresonanz hervorgerufen wird; Medialisierung 2 als Umgang der Medien mit solchen Angeboten, sprich der tatsächlichen Berichterstattung.

Medialisierung 1, also Veränderungen im Sport selbst als Anpassung an die Medienlogik, lassen sich empirisch durch Längsschnittstudien nachweisen. Wie dies konkret aussehen kann, soll nun anhand einer Studie dargestellt werden, die Medialisierung auf der Makroebene am Beispiel von sechs Sportarten untersucht hat. 1

1

Für weitere Hintergrundinformationen und umfassende Ergebnisse zu den folgenden Ausführungen vgl. Heinecke (2014).

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2. M ETHODISCHES V ORGEHEN ZUR E RFASSUNG M EDIALISIERUNG DES S PITZENSPORTS

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DER

Die grundlegende Frage der Untersuchung lautete: Welche Maßnahmen haben Sportarten ergriffen, um eine verbesserte Anpassung an die Erfordernisse der Medien – hier des Fernsehens – zu erzielen? Mit Hilfe eines qualitativen Forschungsansatzes aus Dokumentenanalyse und Experteninterviews sollten Medienwirkungen zweiter Ordnung für die Sportarten Badminton, Beach-Volleyball, Biathlon, Dressurreiten, Fußball und Moderner Fünfkampf nachgewiesen werden. Der analytische Schwerpunkt lag auf der Makroebene, also den Regelwerken und Rahmenbedingungen jeder Sportart. Daneben wurden auch die Mikroebene der individuellen Akteure (Sportler, Trainer) sowie die Mesoebene (Verbände, Vereine) als Hintergrundinformation abgefragt. Der Untersuchungszeitraum begann im Jahr 1984 in der Annahme, dass die Einführung des privaten Fernsehens in Deutschland einen wichtigen Anstoß für die Medialisierung des Spitzensports gab (vgl. Meyen, 2014, S. 5f.). Das Jahr 2012 schloss den Zeitraum ab. Bei den sechs für die Untersuchung ausgewählten Sportarten handelt es sich natürlich um grundverschiedene Einzelfälle. Voraussetzung für die Auswahl war der Status als olympische Disziplin. Darüber hinaus sollten die Vielfalt des Sportsystems und die damit verbundenen Problematiken repräsentiert werden: Fußball dominiert und beeinflusst (nicht nur) in Deutschland das gesamte Sportgeschehen. Badminton ist hierzulande eine Randsportart, in Asien jedoch höchst populär. Diese Diskrepanz bietet Konfliktpotenzial bei der Ausrichtung der Medienstrategie. Beach-Volleyball wurde erst im Untersuchungszeitraum in den olympischen Kanon aufgenommen und verfolgt einen starken Wachstumskurs. Biathlon wird oftmals als Paradebeispiel für Medialisierung herangezogen (vgl. Stiehler, 2012) und besitzt daher Vorbildcharakter. Dressurreiten steht stellvertretend für Sportarten, die ihre Sieger mittels eines subjektiven Richtverfahrens ermitteln. Moderner Fünfkampf schließlich ist eine „Exotensportart“ (Mazurkiewicz, 2006, S. 119), deren Situation durch das Wesen als Mehrkampf ganz eigene Problematiken mit sich bringt. Strukturgebend für den gesamten Forschungsprozess war ein Kategoriensystem. Die Entwicklung dieses Instruments erfolgte anhand von Kriterien, die in der Literatur im Kontext von Medialisierung genannt werden, jedoch bis dato kaum empirisch überprüft worden waren. 2 Ergänzt wurden Aspekte, die im For-

2

In diesem Kontext waren insbesondere folgende Arbeiten relevant: Bertling & Eggers (2004), Donges (2008), Dohle & Vowe (2006), Hjarvard (2008), Horky (2006), Hüther & Stiehler (2006), Imhof (2006), Marr & Macinkowski (2006), Mazurkiewicz

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schungsverlauf zutage traten. Entsprechend der Untersuchungsfrage hat das Kategoriensystem seinen Schwerpunkt auf der Makroebene mit folgenden Kernbereichen: Durchführung (Änderungen in den Regelwerken wie Zählweise, Sanktionen, Formate etc.), allgemeine Rahmenbedingungen (Spielfeld, Werbung, Ausrüstung) und die Planung von Veranstaltungen (Wettkampfrhythmen, Qualifikation etc.). Auch wenn Meso- und Mikroebene nur ergänzend betrachtet werden sollten, wurden auch hier Kategorien entwickelt in den Bereichen Organisation, Medienarbeit und Außendarstellung der Sportart beziehungsweise in Bezug auf die Anforderungen an individuelle Akteure. Mit diesem Werkzeug erfolgte zunächst die Dokumentenanalyse der internationalen Regelwerke, ergänzend wurden Verbandsunterlagen, Strategiepapiere und PR-Materialien analysiert. Über den gesamten Zeitraum wurden so Veränderungen herausgearbeitet, die sich auf einen gestiegenen Stellenwert der Medien für den Sport zurückführen ließen. Zur Verifizierung und Diskussion wurden in einem zweiten Schritt Experteninterviews mit Vertretern der deutschen Verbände geführt, die Gesprächspartner waren in ihren Positionen allesamt in die Medienarbeit eingebunden.

3. Z ENTRALE M EDIALISIERUNGSMASSNAHMEN Betrachtet man die auf diese Weise gesammelten Ergebnisse, so zeigt sich: In allen untersuchten Sportarten ist über die vergangenen 30 Jahre ein Einflussgewinn der Medien zu erkennen. Eindeutig lässt sich eine Anpassung an die Bedürfnisse und Anforderungen der Medien nachvollziehen, allerdings je nach Sportart in einem unterschiedlichen Ausmaß. Folgende zentrale Anpassungsstrategien sind im Vergleich über alle Sportarten hinweg zu beobachten: Veranstaltungsplanung: • • • •

Vermehrung von Veranstaltungen, Trend zu Großevents, engere Rhythmen; Enge Terminabstimmung mit dem Fernsehen; Einführung serieller Turniere (z.B. Weltcup), dadurch narrative Erzählstrukturen möglich, Spannungsaufbau im Saisonverlauf bis zum Finale; Sicherung ausreichender Startmöglichkeiten im Rahmen globaler Wachstumsstrategien;

(2006), Meyen (2009, 2012), Reinemann (2010), Schauerte & Schwier (2004), Schwier & Schauerte (2006, 2008), Stiehler (2012), Vowe (2006, 2008).

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Sicherung attraktiver Startfelder, Stars als Zugpferde für Zuschauer und Medien.

Rahmenbedingungen: • • • •

Anpassung der Sportstätten an Anforderungen der Medien; Eventisierung durch Rahmenprogramm, Show; Optimierung des Spielfelds zur Steigerung von Spannung und Nachvollziehbarkeit: gute Einsehbarkeit, Anzeigetafeln, Flutlicht; Anpassung der Bekleidung: Einheitlichkeit, jedoch Kenntlichmachung der Stars (Trikot, Armbinde), Steigerung des Wiedererkennungswertes, Personalisierung, teils Erotisierung.

Durchführung: • •

• • •

Modus: Trend zu Gruppenphase gefolgt von K.-o.-System, dadurch Vermeidung des zu frühen Ausscheidens der Stars; Einführung telegener Formate (Massenstart, Verfolgung im Biathlon oder Combined Event im Modernen Fünfkampf) und Zählweisen (Rallypoint in Badminton und Beach-Volleyball) zur Spannungssteigerung; Beschleunigung des Ablaufs, exakter Zeitrahmen in Abstimmung mit den TV-Sendern; Verbesserung der Nachvollziehbarkeit, Vergleichbarkeit, Visualisierung; Einführung von Mixed-Wettbewerben.

Für die Mesoebene lässt sich festhalten, dass sich Medienarbeit und Vermarktung im Untersuchungszeitraum stark professionalisiert haben. Entsprechende Abteilungen wurden organisatorisch verankert und mit hauptamtlichen Mitarbeitern ausgebaut. Alle untersuchten Sportarten denken konkret über eine Verbesserung der Medienpräsenz nach oder verfolgen bereits detaillierte Strategien, oft auch mit Blick auf globales Wachstum. Das Fernsehen hat eine hohe Bedeutung für die wirtschaftliche Situation und die Akquise von Sponsoren. Das Ausmaß dieser Abhängigkeit gestaltet sich jedoch je nach Fall unterschiedlich. Auch die Mikroebene ist von Medialisierung betroffen: In sämtlichen untersuchten Sportarten findet eine starke Personalisierung statt, die nicht nur die Athleten als Stars betrifft. Auch Trainer und weitere Verantwortliche stehen heute unter Beobachtung der Öffentlichkeit. Das Ausmaß unterscheidet sich natürlich je nach Sportart, ebenso die persönlichen Folgen im positiven Sinne (z.B. eine erhöhte Nachfrage von Sponsoren) wie auch im Negativen (z.B. sportfrem-

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de Pflichttermine, die das Training oder die Regeneration behindern). Medialisierung wirkt sich auch auf die sportlichen Anforderungen an die Akteure aus. Neue Formate oder Startzeiten erfordern Veränderungen hinsichtlich der Taktik oder der Anpassung des Biorhythmus.

4. ANPASSUNGSSTRATEGIEN IN VERSCHIEDENEN S PORTARTEN – EINE T YPOLOGIE Die individuelle Situation der Sportarten soll nun anhand einer Kategorisierung nach Medialisierungsgrad aufgezeigt werden. Für die Einordnung waren zwei Faktoren entscheidend, zum einen die in der Analyse ermittelte Anpassungsbereitschaft an die TV-Logik, zum anderen die tatsächliche Fernsehpräsenz 3 der Sportart in Deutschland. Auf dieser Basis wurden drei Gruppen gebildet: Verteidiger, Verfolger und Spezialisten. Abbildung 1: Medialisierungsgrad nach Anpassungsbereitschaft und TV-Präsenz Verfolger hoch

Anpassungsbereitschaft an die TV-Logik

Hohe bis mittlere Anpassungsbereitschaft, TV-Präsenz unterschiedlich

Spezialisten

Verteidiger

Wenig Eingriffe in Sport, TV- Wenig Eingriffe in Sport, bei Aufbereitung wenig Planung enge Abstimmung massentauglich mit TV

gering

gering

hoch

TV-Präsenz in Deutschland

Quelle: eigene Darstellung

3

Für eine Einordnung in Medien-, Rand- und Exotensportarten anhand der Fernsehpräsenz vgl. Mazurkiewicz (2006). Die Auswertung der Fernsehpräsenz war u. a. auch Thema der Experteninterviews.

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Die Verteidiger Fußball fällt in die Gruppe der Verteidiger. Die TV-Präsenz ist sehr hoch, der Spielplan wird aufs engste mit den Inhabern der TV-Rechte abgestimmt. Entsprechend professionell sind die Medienarbeit und die Ausstattung der Spielorte. Die Position als führende Mediensportart hält Fußball auch ohne starke Eingriffe in den Sport selbst. Statt einer Reform der Sportart fand im Untersuchungszeitraum vielmehr eine Optimierung des Erfolgskonzeptes statt, etwa durch die Belebung des attraktiven Angriffsspiels mit einigen Regeländerungen und dadurch einer Verbesserung des Spielflusses. Ein Beispiel dafür ist die 1992 von der FIFA eingesetzte Regelung zu Rückpässen, nach der ein Torwart den Ball nicht mit den Händen berühren darf, wenn er absichtlich von einem Spieler seiner Mannschaft angespielt wurde (vgl. dazu auch Meyen, 2014). Das eingeführte Behandlungsverbot von verletzten Spielern auf dem Platz beschleunigt den Ablauf, zudem werden allzu unschöne Bilder vermieden – auch wenn diese für einige Zuschauer einen Reiz von Fußball ausmachen. Im Austragungsmodus von Wettbewerben setzte sich im Zeitverlauf das Prinzip einer Gruppenphase gefolgt vom K.-o.-System durch. Kaum verwunderlich: In der Anfangsphase ist so ein relativ großes Teilnehmerfeld möglich, gleichzeitig wird jedoch sichergestellt, dass die favorisierten Mannschaften nicht bereits nach einem Spiel ausscheiden können. Für die übertragenden Sender besteht so die Sicherheit, für die teuren Rechtekosten eine Mindestanzahl von Spielen der im Zielmarkt favorisierten Mannschaft zeigen zu können. Das anschließende K.-o.System steigert dann die Spannung und damit den Unterhaltungswert auf das Finale als Höhepunkt. Technologischen Innovationen steht der Fußball eher konservativ gegenüber, die Einführung der Torlinientechnologie war höchst umstritten. Es ist zu vermuten, dass sich keine andere Sportart eine solche Blockade der einwandfreien Zuweisung des Codes Sieg/Niederlage leisten könnte. Medialisierung im Fußball bedeutet also die Wahrung des bewährten Erfolgsprinzips gekoppelt mit einer engen Zusammenarbeit mit den Medien. Zugute kommt der Sportart dabei ihre prinzipielle Telegenität. Das Spiel ist leicht verständlich, zeitlich exakt kalkulierbar und trifft auf eine breite Masse an interessierten Rezipienten. Um daraus ein erfolgreiches TV-Produkt zu kreieren, sind nur wenige Eingriffe in die Dramaturgie notwendig, wie auch die Literatur belegt: Der „flow“ muss nicht technisch hergestellt werden, es besteht eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung (vgl. Penz, 2010, S. 42). Das Verhältnis von Spielfeldgröße und Zahl der Spieler ermöglicht eine gute Übersichtlichkeit, der Ball ist auch auf dem TV-Bildschirm gut zu erkennen. Das Breitbildformat des Fernsehens bildet das Spielfeld zudem gut ab (vgl. Leder, 2011, S. 71).

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Die Verfolger Auch die Sportart Biathlon profitiert stark von ihrem telegenen Grundprinzip. Das Format eines Rennens ist leicht nachvollziehbar, das Schießen sorgt für Spannung und Überraschungsmomente. Dennoch war die Sportart zu Beginn des Untersuchungszeitraums kaum populär. Den heutigen Status als führende Wintersportart im deutschen Fernsehen hat sich Biathlon durch eine hohe Bereitschaft zur Anpassung an die TV-Logik erarbeitet. Wichtigste Innovation war dabei die Einführung der Formate Massenstart und Verfolgung in den 1990er-Jahren. Liefen die Athleten zuvor einzeln gegen die Zwischenzeit, so sind jetzt direkte Duelle auf der Strecke abgebildet, für die Zuschauer ein großer Gewinn an Nachvollziehbarkeit: Der Läufer, der als erstes das Ziel passiert, hat gewonnen. Durch den direkten Vergleich werden Spannung und Emotionalität gesteigert, der Massenstart mutet fast wie ein Rennen in der Formel 1 an. Die Einführung der gemischten Staffel ermöglicht zudem neue narrative Formate. Zusätzlich wurden Anstrengungen unternommen, den TV-Sendern möglichst optimale Bedingungen zu bieten, etwa durch die Abstimmung der Wettkampfzeiten mit anderen Wintersportarten, die Sicherung attraktiver Startfelder oder Neuerungen an den Wettkampfstätten wie die Verdichtung auf wenig Raum, Übersichtlichkeit, vermehrte Zugangsberechtigungen und einen optimalen Informationsfluss. Die Athleten sind bekannte Stars, in Deutschland fand besonders von 2009 bis 2012 eine starke Personalisierung in Bezug auf Magdalena Neuner statt. In die vorliegende Systematik wird Biathlon als Verfolger eingruppiert. Zwar ist der mediale Erfolg heute sehr hoch, er musste jedoch über Anpassungsleistungen im Untersuchungszeitraum erarbeitet werden. Es ist abzuwarten, ob sich der Erfolg künftig mit weniger Eingriffen halten kann. In diesem Fall könnte die Sportart sich zu einem Verteidiger entwickeln. Wie Abbildung 1 zeigt, werden noch drei weitere Sportarten der Gruppe der Verfolger zugeschrieben. Sie alle sind charakterisiert durch eine hohe bis mittlere Anpassungsbereitschaft, ihre Unterschiede liegen v. a. in den Auswirkungen auf die TV-Präsenz. Ihr gemeinsames Ziel ist eine Ausweitung der Sendezeit im Fernsehen und damit eine finanzielle und strukturelle Weiterentwicklung. Dafür werden umfangreiche Veränderungen auf der Programmebene in Kauf genommen, es besteht ein Bewusstsein um die Schwächen der eigenen Sportart in Sachen Telegenität. Beach-Volleyball ist eine junge Sportart, 1996 fanden erstmals olympische Wettkämpfe statt. Der Weltverband gibt als strategisches Ziel an, sich als führende Sommersportart etablieren zu wollen. Entsprechend deutlich ist im Unter-

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suchungszeitraum ein Trend zur Professionalisierung und Kommerzialisierung zu erkennen. Viele der zuvor erwähnten zentralen Maßnahmen zur Steigerung der Telegenität wurden hier angewandt: eine Vermehrung von Veranstaltungen mit gezielter Aufwertung einzelner Events sowie einer Differenzierung nach Preisgeld, ebenso die Einführung von Serien, anhand derer in der Berichterstattung Narration und Spannungssteigerung über die Saison möglich sind. Als Austragungsmodus hat sich auch hier die Gruppenphase gefolgt vom K.-o.-System durchgesetzt. Um die Attraktivität der Wettkämpfe zu steigern, setzt BeachVolleyball zudem auf attraktive oder spektakuläre Austragungsorte, etwa in Stadtzentren oder sogar in den Bergen. Konkret auf das Spiel bezogen wurden Spielfeld- und Ballgröße sowie der Ballinnendruck modifiziert, so dass lange und damit telegene Ballwechsel begünstigt werden. Die Zählweise wurde nachvollziehbarer gestaltet, seit 2002 gilt das Rallypoint-System. Es beschleunigt den Spielablauf, sorgt für mehr Spannung und ermöglicht eine bessere Zeitkalkulation, welche ein wichtiger Aspekt für die Zusammenarbeit mit dem Fernsehen ist. In Deutschland scheint der zweite Anlauf einer kontinuierlichen TV-Berichterstattung erfolgreich zu verlaufen: Seit der Saison 2013 berichtet der Pay-TV-Sender Sky Deutschland von der nationalen Serie, zugleich hat Sky die Zuständigkeit für die Vermarktung übernommen. Der einst im Jahr 2005 gestartete Versuch, Beach-Volleyball bei RTL zu positionieren, war bereits nach einer Saison gescheitert (vgl. Horky, 2006). Medienpräsenz verschiedenster Art erreichte Beach-Volleyball in seiner Geschichte oft anhand des Aufhängers Erotik und der knappen Bekleidung der Athleten. Zwar ließ sich damit Aufmerksamkeit generieren, der Fokus lag jedoch weniger auf der sportlichen Leistung. So wurde der Imageaufbau als ernstzunehmende Sportart erschwert. Heute ist die Betonung der Optik als Wiedererkennungsmerkmal zunehmend umstritten. Die Bekleidungsregelungen wurden – insbesondere mit Blick auf den globalen Markt – vor den Olympischen Spielen 2012 angepasst, wenngleich die Athleten davon vorwiegend keinen Gebrauch machen. Ebenfalls zu den Verfolgern zählt Badminton. In Sachen TV-Präsenz agiert die Sportart in Deutschland deutlich weniger erfolgreich als Beach-Volleyball. Medialisierungserscheinungen sind von der international stark unterschiedlichen Resonanz geprägt. Während der in Malaysia ansässige Weltverband im Untersuchungszeitraum eine klare Strategie zur Steigerung der Popularität ausgab und hohe Anforderungen an die Medienarbeit internationaler Turniere stellt, zählt Badminton in Deutschland zu den Randsportarten mit geringer Strahlkraft. In diesem Spannungsverhältnis wurden auch Innovationen zur Steigerung der Medientauglichkeit kontrovers diskutiert, insbesondere die Reform der Zählweise.

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Erst nach mehreren Anläufen kam es im Rahmen des Maßnahmenpakets Presentation of the Game im Jahr 2005 schließlich zu einem Konsens (vgl. Deutscher Badminton-Verband, 2005): Ebenso wie im Beach-Volleyball wurde die Zählweise auf das Rallypoint-System umgestellt, zudem fand eine Anpassung der Pausenregelung an die TV-Bedingungen statt. Regelverstöße wurden fortan durch Karten visualisiert, der WM-Zyklus verkürzt. Auch im Badminton wurde über Erotisierung der Damenbekleidung und eine mögliche Rockpflicht nachgedacht. Vor den Olympischen Spielen 2012 jedoch scheiterten die Vorstöße an moralischen und kulturellen Bedenken. Blickt man auf die Veranstaltungen an sich, so haben sich Großevents etabliert und es kam zu engeren Rhythmen (z.B. Sudirman Cup sowie Thomas und Uber Cup). Mit der BWF Superseries besteht seit 2007 eine große internationale Serie. Eine gut gemeinte Formatänderung im olympischen Austragungsmodus jedoch sorgte 2012 für negative Schlagzeilen: Die neu eingeführte Gruppenphase führte zu Manipulationsfällen, bei denen bereits qualifizierte Doppel-Teams mit Absicht verloren, um in der K.-o.-Phase auf einfachere Gegner zu treffen. Insgesamt ist also festzustellen, dass sich auch Badminton durch Medialisierung verändert hat. Allerdings ist die mediale Popularität der Sportart in Deutschland noch immer gering. Die stärksten Eingriffe haben im Modernen Fünfkampf stattgefunden. Gleichzeitig ist hier jedoch nur geringer Erfolg bei der Ausweitung der TVPräsenz festzustellen, der zugleich eng an die sportlichen Erfolge einzelner Athleten gekoppelt ist. Die umfassenden Maßnahmen sind der Grund, warum die Sportart dennoch zu den Verfolgern gezählt werden kann. Getrieben wurden die Innovationen von der stetigen Bedrohung, aus dem olympischen Kanon gestrichen zu werden. Nur bei Olympischen Spielen gelingt es der Sportart überhaupt, breitere Aufmerksamkeit zu finden, der olympische Status ist somit existenziell. Die Forderungen des IOC nach Verbesserungen der Telegenität führten zum einen zu einer starken Verkürzung der Wettkampfdauer von anfangs vier bis fünf Tagen auf heute einen Tag. Zum anderen wurden auch die einzelnen Disziplinen umgestaltet: Seit 2009 werden Laufen und Schießen als Combined Event in Anlehnung an den medial erfolgreichen Biathlon ausgetragen, die Disziplin findet nun stets am Ende des Wettkampftages im Anschluss an das Springreiten statt. Diese Reihenfolge wurde in Hinblick auf mögliche TV-Berichterstattung optimiert: Eine Übertragung der Führenden als letzte Starter im Springen und der Abschluss im Combined Event soll begünstig werden. Vor dem Combined Event werden die Leistungen der Athleten in Zeitabstände umgerechnet, so dass derjenige, der als erster durch das Ziel läuft, auch der Sieger des gesamten Wettkamp-

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fes ist. Für die Zuschauer ist dies deutlich einfacher und spannender als ein Blick in die Punktetabellen. Auch das Schießen wurde zuschauer- und medienfreundlicher gestaltet. Statt scharfer Munition kommen seit 2010 Laserpistolen zum Einsatz. Durch die wegfallenden Sicherheitsaspekte sind eine größere Nähe sowie attraktivere Austragungsorte, etwa in Innenstädten, möglich. Klappziele und eine gute Einsehbarkeit des Schießstandes sollen ebenfalls eine verbesserte Nachvollziehbarkeit zulassen. In Hinblick auf die Olympischen Spiele 2016 wurde der Fechtmodus überarbeitet und verkürzt. Die Vision des Weltverbandes ist es, die fünf Disziplinen innerhalb von fünf Stunden in einem Stadion abzuhalten. Angesichts dieser starken Eingriffe in das Wesen des Modernen Fünfkampfs ist es kaum verwunderlich, dass die Notwendigkeit oftmals kontrovers diskutiert wird – insbesondere, da keine herausragenden Zugewinne in Bezug auf TVPräsenz zu verzeichnen sind. Solche wurden bei Olympia 2008 in Deutschland v. a. durch die Goldmedaille von Lena Schöneborn erzielt. Fakt ist: Medialisierung kann nur an den bereits vorhandenen Gegebenheiten einer Sportart ansetzen. Die Problematik eines Mehrkampfes, nämlich die Dauer sowie die schwer zu vermittelnde Leistung, in verschiedenen Disziplinen erfolgreich zu sein, ohne dabei jedoch auf dem Top-Niveau der jeweiligen Sportart agieren zu können, bleibt weiterhin bestehen. Die Spezialisten Die Diskussion um Authentizität ist im Dressurreiten wohlbekannt. Die Sportart wurde als einzige der Gruppe der Spezialisten zugeordnet. Diese Position ist durch wenig TV-Präsenz gekennzeichnet, gleichzeitig jedoch finden hier eher geringe Eingriffe in den Sport statt. In der Medienarbeit des deutschen Verbandes hat das Fernsehen deutlich geringere Priorität als Print, bei TV-Berichten wird Dressur v. a. als Beiwerk zum Springen übertragen. Der Sport finanziert sich zwar auch durch Sponsoren, diese jedoch stammen häufig aus der Szene und wollen genau dort investieren. Der Medialisierungsdruck scheint nicht so groß wie in anderen Sportarten. Dennoch finden sich auch hier Anpassungen an die Medienlogik. Als serielles Event wurde 1985 der Weltcup eingeführt, in diesem Fall in Verbindung mit einem neuen und telegenen Prüfungsformat, der Kür zu Musik. Diese hat sich bis heute stark professionalisiert, bei EM und WM werden mittlerweile Einzeltitel in dieser Prüfung vergeben. Die sportliche Entscheidung fällt im Dressurreiten in einem subjektiven Richtverfahren, entsprechend wurde das Regelwerk stetig in Hinblick auf die Qualitätssicherung der Notenvergabe sowie

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die Nachvollziehbarkeit der Bewertungen überarbeitet. Auch heute drehen sich viele Diskussionen um diesen Punkt, gerade bei der Frage, welche Art von Leistung belohnt werden soll: ein spektakulärer, mutiger Ritt oder ein braver, korrekter Ritt? IOC und Medien fordern attraktivere Formate, die Athleten jedoch fürchten um die pferdegerechte Ausgestaltung und sehen sich durch ein Abgleiten der Sportart in Richtung Show bedroht. Möglicherweise wird sich Dressurreiten in den kommenden Jahren zu einem Verfolger entwickeln müssen (weiterführend dazu vgl. Heinecke, 2015). Prinzipiell nimmt die Medienarbeit durchaus einen großen Stellenwert für den Sport ein, gerade in Hinblick auf die Vermittlung der Faszination der Partnerschaft von Pferd und Reiter. In Deutschland jedoch haben negative Erfahrungen wie der Dopingskandal im Springreiten bei Olympia 2008 gezeigt, dass der Spitzensport nicht zwingend im Zentrum der Berichte stehen muss. Er ist zwar nach wie vor wichtiger Bestandteil der Aktivitäten, der Schwerpunkt geht allerdings zunehmend zur Betonung der Rolle des Pferdes für die Gesellschaft sowie zum Breitensport. Hier erhofft man sich eine Stärkung des Rückhalts für den Pferdesport in der modernen Welt. Die Systematik der vorgestellten Sportarten ließe sich natürlich durch weitere Forschung ergänzen. Es ist zu vermuten, dass bspw. weitere global hoch erfolgreiche Sportwettbewerbe in die Gruppe der Verteidiger fallen, etwa der 100 Meter-Lauf, die Tour de France oder Formel 1. Zwar gab es auch hier mehr oder weniger Regeländerungen, doch alle beeinträchtigen das Grundprinzip der Sportart in Hinblick auf Medien und Zuschauer kaum. In der Formel 1 etwa geht es v. a. um Spannung, am Prinzip des Rennens ändert sich wenig, allen technischen Details zum Trotz. Im Zentrum steht die Qualitätssicherung des bereits erfolgreichen Produkts. In die Gruppe der Verfolger ließen sich weitere Rückschlagsportarten einordnen, die ihre Zählweise umgestaltet haben, etwa Hallen-Volleyball oder Tischtennis. Eine weitere relevante Entwicklung ist die Professionalisierung ehemaliger Fun-Sportarten, die sich stark an den Erfordernissen des Fernsehens orientieren und sich zu spektakulären Wettbewerben entwickelt haben. Beispiele dafür sind die mittlerweile olympischen Disziplinen Snowboard oder Skicross. Am schwierigsten ist eine Einstufung anderer Sportarten in die Gruppe der Spezialisten, da sie tiefe Einblicke in das Wesen der jeweiligen Sportart erfordert. Möglicherweise spielen hier die Faktoren „Geld“ und „Elite“ eine besondere Rolle und stellen eine gewisse Zugangsbeschränkung dar.

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5. AUSBLICK Am Ende dieser Ausführungen lässt sich festhalten: Medialisierung und damit eine Anpassung an die Anforderungen insbesondere des Fernsehens fand in allen untersuchten Sportarten statt, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß und mit unterschiedlichem Erfolg. Es ist weiter zu verfolgen, welchen Stellenwert die klassische Fernsehpräsenz künftig für den Spitzensport haben wird. Im Internet finden auch Randsportarten gezielt ihr Publikum, nach dem Aufbau von Sportdeutschland.TV durch den DOSB wurde im Juli 2015 der Einstieg des Medienkonzerns ProSiebenSat.1 in die Betreibergesellschaft DOSB New Media GmbH verkündet (vgl. Sportdeutschland.TV, 2015). Es ist zu erwarten, dass dadurch gerade für Randsportarten nochmals neue Impulse gesetzt werden. Daneben bestehen eigene Initiativen der Verbände, die Deutsche Reiterliche Vereinigung etwa hat im Laufe der Jahre ihre Zusammenarbeit mit der Plattform ClipMyHorse.TV sukzessive ausgebaut und ist heute selbst an dem Unternehmen beteiligt. Neben neuen Distributionswegen stellt sich jedoch auch die Frage, was diese Entwicklung für die Medialisierung bedeutet: Besteht dadurch weniger Druck zur Anpassung an die Medienlogik, da die Abhängigkeit von den klassischen TV-Sendern sinkt? Oder werden die Sponsoren weiterhin schwerpunktmäßig auf die Verbreitung im traditionellen Fernsehen bestehen und dort den Wettbewerb um Sendezeit aufrecht erhalten? Werden die an Online-Lösungen beteiligten Interessensgruppen auf Innovationen drängen? Und welchen Einfluss wird das IOC mit der Olympic Agenda 2020 zur Modernisierung der Olympischen Spiele nehmen? Klar ist: Medialisierung ist kein einzig und allein einseitiger Druck der Massenmedien. Sehr wohl bestehen auf Seiten des Sports Bereitschaft und Wille zur Anpassung, proaktiv wird versucht, die Erwartungshaltung aller Beteiligten zu erfüllen. Die Zukunft muss zeigen, auf welchen Plattformen und mit welchen Mitteln dieser Wettkampf in den kommenden Jahren ausgetragen wird.

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Olympische Prinzipien und gesellschaftliche Werte in der Printberichterstattung Ausgewählte Befunde einer Pilotstudie S IMON R EHBACH /H OLGER I HLE /J ÖRG -U WE N IELAND

1. E INLEITUNG Es besteht kein Zweifel, dass die Olympischen Spiele nicht nur „als Höhepunkt des Sportkalenders“ gelten, sondern auch zu den „bedeutendsten ‚Media Events‘ mit weltweiter Resonanz“ zählen (Stiehler, Mikos & Friedrich, 2004, S. 107). Entgegen der pessimistischen Diagnose einer medialen Vereinnahmung können aus einer funktional-strukturellen Perspektive Sport und Massenmedien als eigenständige gesellschaftliche Teilbereiche verstanden werden, zwischen denen sich wechselseitige Bezugnahmen beobachten lassen. In den Blick gerät somit, dass der Sport – neben anderen Teilbereichen – Strategien ausbildet, um Präsenz in den Massenmedien zu erlangen (Medialisierungsangebot), deren Leistung darin besteht, Öffentlichkeit zu schaffen. Inwiefern diese Strategien umgesetzt werden, ist auf der Ebene medialer Inhalte zu beurteilen (Medialisierungsfolgenprodukt). Einen Ausgangspunkt für die Untersuchung des Zugriffs der olympischen Bewegung auf Massenkommunikation bildet der Anspruch des IOC, die grundlegenden Ideale des Olympismus in die Öffentlichkeit zu bringen. 1 Um im Längsschnitt empirisch beantworten zu können, ob die fundamentalen Prinzipien im Sinne eines Medialisierungsangebots tatsächlich eine journalistische Beachtung erfahren, wurde ein Erhebungsinstrument für eine standardisierte Inhaltsanalyse der Printberichterstattung entwickelt. Zwei weitere Dimensionen sollten dabei Berücksichtigung finden: Es ist anzunehmen, dass die in ei-

1

Vgl. dazu den Beitrag von Ihle, Nieland und Rehbach im vorliegenden Band.

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nem bestimmten zeitlichen Kontext eingebettete Sportberichterstattung sowohl gesellschaftliche Charakteristika widerspiegelt als auch durch eigene mediale Gesetzmäßigkeiten geprägt wird. Damit ist die methodische Herausforderung umrissen, anhand von Indikatoren einerseits den sozialen Wandel und andererseits journalistische Selektionskriterien zu erheben, die sich im Zeitverlauf verändern können. In diesem Beitrag werden, anknüpfend an die bisherige Forschung zur Sportberichterstattung, methodische Überlegungen und Befunde einer Längsschnittanalyse der Olympia-Berichterstattung vorgestellt.

2. F ORSCHUNGSSTAND Olympische Prinzipien Ausgehend von Pierre de Coubertin entstand der moderne Olympismus als Lebensphilosophie und pädagogisches Projekt. In diesem werden Rückbezüge zur griechischen Antike hergestellt und mit ethischen, kulturellen sowie erzieherischen Zielsetzungen der Moderne verbunden. Die in der Olympischen Charta (vgl. IOC, 2013) kodifizierten Regeln besitzen deshalb eine gewisse Offenheit, die zum einen den Erfolg der Bewegung begründet und zum anderen eine kontinuierliche Auslegung der fundamentalen Prinzipien erfordert (vgl. Schantz, 1996, S. 75). Tavares spricht in Bezug auf die Olympische Charta von einer „eclectic construction“ (2004, S. 137), mit der eine Reformierung von Gesellschaft und Individuum angestrebt wird. Somit liefert die Charta Maßstäbe, anhand derer sich ein bestimmtes Verhalten beurteilen und im Fall eines Verstoßes ahnden lässt. 2 In der Fassung der Olympischen Charta von 2013 sind die sieben olympischen Prinzipien im Anschluss an die Präambel formuliert. Sie lassen sich in folgende Begriffe zusammenfassen: • •

Olympismus (Lebensphilosophie, Leib-Seele-Harmonie) Friedliche Gesellschaft (Sport im Dienst harmonischer Menschheitsentwicklung und Wahrung der Menschenwürde)

2

Aufgrund der schriftlichen Verfasstheit und ihrer zugrunde liegenden Intention sind die olympischen Prinzipien weniger als gesellschaftliche Werte denn als Normen zu verstehen. Diese können als sanktionsfähige Konkretisierungen beschrieben werden, insofern sich in verschiedenen Zusammenhängen aus gleichen Werten mehrere Normen präskriptiver Natur ableiten lassen (vgl. Schweitzer, 2011, S. 14).

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• • • •



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Autorität des IOC (IOC als oberste Organisation der weltweiten olympischen Bewegung) Sport als Menschenrecht (Ermöglichung jedes Menschen, Sport im Geist von Freundschaft, Solidarität und Fairplay auszuüben) Autonomie der Sportorganisationen (freie Aufstellung und Überwachung der Regeln des Sports durch Sportorganisationen ohne staatlichen Einfluss) Diskriminierungsverbot (Verbot der Diskriminierung von Ländern oder Personen aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder sonstigen Gründen) Zugehörigkeitsprinzip (Einhaltung der Olympischen Charta und Anerkennung durch das IOC als Voraussetzung, um Teil der olympischen Bewegung zu sein). 3

Bis Anfang der 1980er-Jahre fand sich in der Charta darüber hinaus noch das Amateurprinzip, welches später schrittweise gelockert und schließlich aufgegeben wurde. Während das Prinzip galt, sollten nur Athleten starten dürfen, die für die Ausübung ihres Sports nicht bezahlt wurden. Die wenigen vorliegenden kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen zur Verbreitung der olympischen Ideale in der Medienberichterstattung zeigen übereinstimmend, dass diese insgesamt selten und zudem oberflächlich behandelt werden. So kommen olympische Prinzipien in der Olympia-Berichterstattung der überregionalen Qualitätspresse (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung) zwischen 1952 und 1988 in insgesamt 15 Prozent der Artikel vor (vgl. Baumhöver, 1992, S. 211), in der lokalen Abonnementpresse (RheinZeitung) zwischen 1948 und 2004 nur in 8 Prozent der Artikel (vgl. Krechel & Schantz, S. 151). Laut Baumhöver (1992, S. 198, 202f.) finden olympische Prinzipien insbesondere Eingang in das Politikressort, während ihr Auftreten stark ereignisabhängig ist und v. a. die Friedensmission sowie die Unabhängigkeit der olympischen Bewegung thematisiert werden. Nachrichtenwertforschung und Sportberichterstattung Die journalistische Aussagenproduktion ist stets das Ergebnis eines Selektionsprozesses, in dem sich entscheidet, worüber und in welchem Ausmaß berichtet

3

Das Zugehörigkeitsprinzip wird erst ab 1991 innerhalb der „Fundamentalen Prinzipien“ in der Olympischen Charta aufgeführt, war zunächst aber Teil des Autoritätsprinzips. Daher wurde es im Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung nicht als alleinstehendes Prinzip miterhoben und bleibt im Weiteren unberücksichtigt.

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wird. Die Kriterien dieser Auswahl nimmt die Nachrichtenwerttheorie in den Blick. Sie basiert auf der Annahme, „dass die für die Publikation ausgewählten Ereignisse bestimmte Merkmale aufweisen, die ihren Nachrichtenwert und ihre Publikationswürdigkeit bestimmen. Diese Merkmale nennt man Nachrichtenfaktoren.“ (Maier, Stengel & Marschall, 2010, S. 18) Der Katalog der Nachrichtenfaktoren ist in der kommunikationswissenschaftlichen Forschungstradition stark erweitert und ausdifferenziert worden. So findet Östgaard (1965) drei Kriterien, während Galtung und Ruge (1965) in ihren Untersuchungen mit zwölf, Staab (1990) mit 22 und Fretwurst (2008) mit 19 Nachrichtenfaktoren arbeiten. Gemäß dem Zwei-Komponenten-Modell der Nachrichtenwerttheorie nach Kepplinger (1998) können Nachrichtenfaktoren unterschiedliche Nachrichtenwerte annehmen, insofern Journalisten ihnen eine eigene Bedeutung beimessen. Dies erklärt bspw. den Befund, dass Meldungen zu denselben Ereignissen für verschiedene Mediengattungen gattungsspezifische Nachrichtenwerte aufweisen können (vgl. Kepplinger & Bastian, 2000, S. 465). Trotz ihres hohen Stellenwerts für das Fach ist die Nachrichtenwerttheorie in der Vergangenheit kaum auf die Sportberichterstattung angewendet worden. Ausnahmen stellen die Studien von Loosen (1998) sowie Loosen und Ravenstein (2000) dar. Sie identifizieren als prägende Nachrichtenfaktoren der Sportberichterstattung Personalisierung, Elite, räumliche Nähe, Faktizität, Ethnozentrismus, Dauer und Eindeutigkeit (vgl. Loosen, 1998, S. 141ff.). Dabei bestehen sowohl Unterschiede zwischen verschiedenen Berichterstattungsanlässen als auch zwischen verschiedenen Zeitungstypen. So wird die „alltägliche“ Sportberichterstattung v. a. durch Personalisierung, Ethnozentrismus und Elite strukturiert, die Fußball-WM-Berichterstattung durch räumliche Nähe und Ethnozentrismus sowie Erfolg/Misserfolg (vgl. Loosen & Ravenstein, 2000, S. 195f.). In der Sportberichterstattung regionaler sowie überregionaler Abonnementzeitungen und Boulevardzeitungen weicht die Bedeutung der Nachrichtenfaktoren Dauer, Kontroverse und Personalisierung/Human Interest signifikant voneinander ab, wobei die Unterschiede der Nachrichtenfaktorenstruktur zwischen den Zeitungstypen während der Fußball-WM geringer ausfallen. Gesellschaftliche Werte Werte dienen als Orientierungsfaktoren auf individueller und kollektiver Ebene der Selbstverständigung einer Gesellschaft (vgl. Duncker, 2000, S. 3). Die von ihnen hervorgebrachten Ordnungsmuster sind das Ergebnis autodynamischer so-

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zialer Entwicklungen sowie persönlicher Lebensbiografien (vgl. ebd.). 4 Aus dieser gesellschaftlichen Relevanz von Werten erklärt sich eine lange Tradition der Wertewandelforschung in der Soziologie. Den Ausgangspunkt bildeten die in den 1960er-Jahren aufkommenden Kontroversen über eine dramatische Umwälzung etablierter Wertvorstellungen. Zahlreiche Autoren diagnostizierten eine Verdrängung von bürgerlichen Tugenden durch zunehmend freiheitsorientierte Haltungen (vgl. ebd.). International beachtet sind etwa die Arbeiten von Inglehart, der in seiner Untersuchung The Silent Revolution (1977) eine Ablösung von materialistischen durch postmaterialistische Werte ermittelte. Dieser Wandel ist laut Inglehart (1998, S. 158) Teil eines übergreifenden Trends der Postmodernisierung, der mit einer Expansion der Industriegesellschaft korrespondiert. Die methodischen Umsetzungen der Studien zum Wertewandel sind ebenso vielfältig wie die aus den Ergebnissen gezogenen Schlussfolgerungen. 5 Nachdem auf Umfragen basierende Zeitreihen zwischen Mitte der 1960er- und Mitte der 1970er-Jahre einen ersten Veränderungsschub – die Entfernung von traditionellen Vorstellungen und eine Hinwendung zur Verwirklichung eigener Wünsche – belegten, wurde in den folgenden Dekaden eine Rückkehr von konservativen Haltungen bzw. eine Pluralisierung von Werten beobachtet (vgl. Klages, 1984). Jenseits unterschiedlicher Interpretationen der Umfragedaten ist es Konsens in der Forschung, dass weniger ein Wert selbst als die Bedeutung, welche man ihm zuordnet, Veränderungen unterworfen ist. Medien sind im Rahmen ihrer Langfristwirkungen daran beteiligt, welche Wertvorstellungen sich in einem Individuum herausbilden und mit der Zeit wandeln (vgl. Wersig, 2001, o. S.). Der Zusammenhang zwischen Werte- und Medienwandel wurde sowohl in Bezug auf die Mediennutzer (vgl. Mahrt, 2010) als auch auf die Inhalte verschiedener Medien untersucht – z.B. anhand von politischen Leitartikeln in Tageszeitungen (vgl. Mohler, 1992), Fernsehserien (vgl.

4

Im Vergleich zu anderen Konstrukten wie Einstellungen haben Werte ein hohes Abstraktionsniveau und zeichnen sich „durch ihre größere Zentralität im individuellen Überzeugungssystem und eine höhere Änderungsresistenz“ aus (Klein & Arzheimer, 2000, S. 560).

5

Auf die zahlreichen Bezüge zwischen der Wertewandelforschung und Modernisierungstheorien wie den Arbeiten zur „Risikogesellschaft“ (Beck, 1986) und „Erlebnisgesellschaft“ (Schulze, 1992) kann hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden. Dies gilt auch für die Debatte über die Interpretation des Wertewandels (vgl. Roßteutscher, 2004; Thome, 2005; Roßteutscher, 2005) und die Konzeption von Umfragen (vgl. Klein & Arzheimer, 2000; Sacchi, 2000).

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Bruns, 1996; Jaklin, 1998), Werbeanzeigen (vgl. Roth, 1998) und Songtexten (vgl. Meier, 2000). Setzen sich Baumhöver (1992) sowie Krechel und Schantz (2008) in ihren Studien in erster Linie zum Ziel, die mediale Verbreitung der olympischen Prinzipien zu ermitteln, ist es Köstner (2005), die neben den sportspezifischen Idealen auch gesellschaftliche Werte in ihr Analysemodell integriert. Diese entnimmt sie im ersten Schritt einer von Rokeach (1974) aufgestellten Skala, die terminale, auf einen Endzustand im Leben ausgerichtete, und instrumentelle, auf das Verhalten ausgerichtete Werte, differenziert. Im zweiten Schritt gliedert Köstner die Werte, einer Einteilung von Klages (1984) folgend, in Pflichtkultur und Selbstverwirklichungskultur. Olympische Prinzipien ordnet Köstner den terminalen Werten zu. Als Ergebnis ihrer Inhaltsanalyse der „alltäglichen“ Sportberichterstattung von Bild-Zeitung und Süddeutscher Zeitung in den Jahren 1953, 1973 und 2003 beobachtet sie, dass der Hochleistungssport von Pflichtwerten dominiert wird und eine Pluralisierung im Sinne zunehmend gegenpoliger Wertprofile einsetzt. Zudem fehlt der Berichterstattung ein moralischer Anspruch (vgl. Köstner, 2005, S. 237). Kritisch anzumerken ist, dass olympische Prinzipien und gesellschaftliche Werte in dem Modell keine Konstrukte auf zwei voneinander unabhängigen Ebenen bilden. Indem sich Köstner auf den Sportteil der Zeitungen konzentriert, vernachlässigt sie außerdem Artikel mit Sportbezug in anderen Ressorts. Ob auch die Medienlogik einem Wandel unterworfen ist, bleibt ebenfalls ausgeblendet.

3. F ORSCHUNGSFRAGEN Das bisher allgemein umrissene Forschungsinteresse, gerahmt durch die übergreifende Perspektivierung eines Wandels der Berichterstattung über die Olympischen Spiele, kann in die folgenden konkreten Forschungsfragen differenziert werden: (F1) (F2) (F3) (F4)

Verändert sich die Struktur der Berichterstattung? Verändert sich die Thematisierung der olympischen Prinzipien? Verändern sich die Ausprägungen der Nachrichtenfaktoren? Verändern sich bestimmte Werthaltungen, die den Akteuren in der Berichterstattung zugeschrieben werden?

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4. O PERATIONALISIERUNG UND METHODISCHE U MSETZUNG Die Forschungsfragen enthalten einige Begriffe, welche auf Konstrukte verweisen, die sich nicht ohne weiteres als Merkmale der Berichterstattung ablesen lassen. Deshalb sind sie in Codierregeln zu „übersetzen“, anhand derer im Rahmen der hier vorgestellten Inhaltsanalyse das Vorkommen der Konstrukte in der Berichterstattung messbar wird. Die oben bereits erläuterten olympischen Prinzipien wurden zunächst in sportinhärente und gesamtgesellschaftliche Prinzipien unterschieden. Zur ersten Gruppe gehören Autorität des IOC, Autonomie der Sportorganisationen und das Amateurprinzip, die jeweils eine bestimmte Organisationsform des Sports zur Bedingung seiner Zugehörigkeit zur olympischen Bewegung machen. Die Prinzipien der zweiten Gruppe (Diskriminierungsverbot, Sport als Menschenrecht, friedliche Gesellschaft, Olympismus) sind nicht als dem Sport inhärente Prinzipien zu verstehen. Vielmehr charakterisieren sie eine von der olympischen Bewegung als wünschenswert erachtete Gesellschaft. Die Codierregeln folgen der Annahme, dass olympische Prinzipien nur dann die in der Olympischen Charta angestrebte Wirkung entfalten können, wenn sie explizit in der Berichterstattung auftauchen. Zwar ist es möglich, dass Leser der Olympia-Berichterstattung den Weltfrieden auch ohne ausdrückliche Nennung als erstrebenswert erachten. Dass aber der Olympismus als diesen Zielen verpflichtet wahrgenommen wird, bedarf der expliziten Erwähnung oder zumindest einer erklärenden Rahmung. Die Erhebung der Nachrichtenfaktoren wurde an das Kategorienschema von Loosen (1998) angelehnt 6 und um die drei Faktoren Veranstaltungsresonanz, Publikumsresonanz und Medienresonanz ergänzt. Mit der Erweiterung wird der Vorschlag von Fürst (2013) aufgegriffen, den Nachrichtenfaktorenkatalogen solche Variablen hinzuzufügen, mit denen messbar wird, inwiefern die Medienberichterstattung dadurch evoziert bzw. verstärkt wird, dass ein Geschehen bereits breite öffentliche Aufmerksamkeit erhalten hat (vgl. Fürst, 2014).

6

Das Kategorienschema von Loosen (1998) wurde dahingehend modifiziert, dass die aus der politischen Kommunikationsforschung stammende Variable persönlicher Einfluss ausgespart wurde, welche bei Loosen in über 70 Prozent der Fälle ohnehin keine Ausprägung hatte (vgl. ebd., S. 128). Die Variable räumliche Nähe wurde gemäß Loosens Vermutung, dass der Nachrichtenfaktor durch die Unterscheidung „Ereignis findet innerhalb/außerhalb Deutschlands statt“ operationalisiert werden kann, mit diesen beiden Ausprägungen erfasst.

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Die Erhebung der Werthaltungen von Personen, über die berichtet wird, orientiert sich am Modell der Speyerer Forschergruppe um Klages (1984). Der Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen wird demnach als Bedeutungsverschiebung von Pflicht- und Akzeptanzwerten (z.B. Gehorsam, Treue, Enthaltsamkeit) hin zu Selbstentfaltungswerten (z.B. Genuss, Kreativität, Ungebundenheit) konzipiert. Diesen Wandel lokalisiert Klages – anders als etwa Inglehart (1977) – auf zwei getrennten Ebenen. 7 Damit stellt er in Rechnung, dass traditionelle und freiheitsorientierte Haltungen jeweils unterschiedlich starkes Gewicht erhalten und in eine Synthese von alten und neuen Werten münden können (vgl. Klages, 1984, S. 165). Die von Klages getroffenen Charakterisierungen von Werten wurden im Abgleich mit der Berichterstattung über die Olympischen Spiele in ein Set von Werthaltungen übertragen, die Akteure in einem Artikel aufweisen können. Ein semantischer Rahmen und Beispiele sollten helfen, zu entscheiden, ob die entsprechende Werthaltung einer Person zugeschrieben wird oder nicht. Leitend ist die Annahme, dass das Erscheinen des latenten Konstrukts „Wert“ in der Tagespresse nicht von seiner expliziten Nennung abhängt. So ist z.B. der Wert Familiarität zu erheben, wenn die Bedeutung der Eltern für den Athleten als Rückhalt oder Vorbild betont wird, ohne dass der Begriff „familiär“ als solches auftauchen muss, nicht aber, wenn die Eltern nur mit Namen genannt werden. In Erweiterung der Untersuchungen von Baumhöver (1992) sowie Krechel und Schantz (2008) werden den olympischen Prinzipien gesellschaftliche Werte gegenübergestellt und im Unterschied zu Köstner (2005) als von den Prinzipien getrennt konzipiert und erhoben. 8 Demnach sind soziologische Werte als Merkmale von Personen (Variablenträger) zu verstehen, die diese Werte gutheißen oder ablehnen können (Variablenausprägung). Olympische Prinzipien sind Regeln, die u. a. dem Ziel dienen, Werthaltungen (im Sinne einer spezifischen Variablenausprägung) in die Gesellschaft zu vermitteln. Stichprobe und Untersuchungszeitraum Um die vier Forschungsfragen zu beantworten, wurde eine standardisierte Inhaltsanalyse der Berichterstattung über die Olympischen Sommerspiele in zwei deutschen Tageszeitungen (Kölner Stadt-Anzeiger, Frankfurter Allgemeine Zei-

7

Zur theoretischen und methodischen Kritik an Ingleharts Ansatz vgl. Klages (1992).

8

Da Köstner beides in eins setzt, lässt sich mit ihrem Zugang nicht erkennen, ob das Vorkommen bestimmter gesellschaftlicher Werte dem Berichterstattungsgegenstand „Olympia“ bzw. „Sport“ oder den dort dargestellten Personen geschuldet ist.

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tung) durchgeführt. Diese bewusste Auswahl von Zeitungstiteln umfasst damit eine regional sowie eine überregional verbreitete Abonnementzeitung, die als typische Vertreter angesehen werden. 9 Das Untersuchungsmaterial verteilt sich auf insgesamt drei Stichprobenzeiträume aus den Jahren 1956, 1976 und 1996. Die Stichprobentage umfassen in allen drei Jahren jeweils zwei Wochen der Wettkampfberichterstattung über die Olympischen Spiele, beginnend mit dem ersten Montag nach der Eröffnungsfeier. Konkret:   

26.11.1956 – 08.12.1956 10 19.07.1976 – 31.07.1976 22.07.1996 – 03.08.1996

Die Auswahl dieser drei Austragungszeiträume erfolgte ebenfalls bewusst. So wurde sichergestellt, dass drei unterschiedliche Spiele aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem gleichbleibenden Zeitabstand in die Untersuchung eingehen. Gleichzeitig wurde verhindert, Austragungen aufzugreifen, die aufgrund äußerer Umstände eine verzerrte Darstellung erwarten lassen (z.B. Attentat 1972, große Boykotte 1980 und 1984). 11 Auswahleinheit und damit Grundlage der Stichprobenziehung sind die innerhalb dieser Zeiträume erschienenen Ausgaben der untersuchten Zeitungen. Analyseeinheit Untersucht wurde jeweils die gesamte Zeitungsausgabe eines Tages. Als Analyseeinheiten der Inhaltsanalyse wurden alle Artikel innerhalb der Auswahleinhei-

9

Zu den unterschiedlichen Zeitungstypen und der Struktur der deutschen Presselandschaft vgl. Schütz (2012).

10 Da die Spiele in Melbourne (Australien) ausgetragen wurden, fanden sie während des mitteleuropäischen Winters, aber im australischen Sommer statt. 11 Letztlich bildet auch die getroffene Auswahl einen Kompromiss: Blieben bereits 1956 mehrere Staaten den Olympischen Spielen aus verschiedenen politischen Gründen fern, waren es 1976 zahlreiche afrikanische Staaten, die ihre Teilnahme absagten. 1996 stand indes ein Bombenanschlag im Fokus der Medien. Gleichwohl scheint die Erinnerung an diese Spiele nicht in dem Maße von den Ereignissen jenseits des sportlichen Geschehens bestimmt zu sein wie im Fall der Wettbewerbe von 1972, 1980 und 1984. Die Aufzählung zeigt aber auch, dass es kaum möglich ist, Spiele in ungefähr gleichen Zeitintervallen zu finden, die nicht durch das ein oder andere Sonderereignis beeinflusst sind.

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ten aufgegriffen, die sich mindestens als Nebenthema mit den Olympischen Spielen befassen. Insgesamt wurden 1.996 Artikel codiert und 10.034 Personen erfasst. Kategoriensystem Für die einzelnen Artikel wurden sowohl formale Merkmale wie Ressort, Platzierung, Darstellungsform, Umfang, Abbildungen als auch inhaltliche Merkmale wie sportspezifische Themenaspekte, berichtete Sportart/Disziplin, Nachrichtenfaktoren und das Vorkommen sowie ggf. die Bewertung von olympischen Prinzipien erfasst. In einem Artikel vorkommende Akteure wurden u. a. anhand ihres Alters, Geschlechts sowie der Gruppenzugehörigkeit kategorisiert. Anschließend wurden die ihnen zugeschriebenen Werthaltungen erhoben. 12

5. B EFUNDE Zu (F1): Struktur der Olympia-Berichterstattung Bevor die Frage nach dem Vorkommen der olympischen Prinzipien beantwortet wird, soll zunächst der Gesamtumfang der Berichterstattung über die Olympischen Spiele und seine Veränderung im betrachteten Untersuchungszeitraum dargestellt werden. Insgesamt lässt sich sowohl in Anzahl als auch Umfang der Artikel eine Zunahme der Olympia-Berichterstattung über alle drei Messzeiträume hinweg feststellen (vgl. im Folgenden Tabelle 1). Erschienen in beiden untersuchten Zeitungstiteln zusammen 1956 noch 380 Artikel mit einer mittleren Fläche von 98,1 cm², waren es 1976 schon 763 (167,2 cm²) und 1996 853 (201,2 cm²). Diese Artikel verteilen sich zunehmend diffundierend auf die unterschiedlichen Ressorts. Während 1956 noch 93,4 Prozent der Olympia-bezogenen Artikel im (überregionalen) Sportressort erschienen, waren es 1976 86,6 Prozent und 1996 86,3 Prozent. Dabei erhöht sich die Anzahl der berichtenden Ressorts. Von möglichen acht in der Inhaltsanalyse kategorisierten Ressortzuordnungen 13 werden die Olympi-

12 Das Codebuch ist auf Anfrage bei den Autoren erhältlich. 13 Codiert werden konnten sieben Ressorts, wobei Seite 1 immer zum Politikressort gezählt wurde. Die Ressortvariable wurde anschließend so recodiert, dass die Titelseite eine eigene Kategorie bildet.

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schen Spiele 1956 neben dem Sportressort und der Titelseite in vier weiteren Ressorts aufgegriffen, 1976 in fünf und 1996 in sechs. Zudem wächst die Anzahl der Olympia-Artikel auf den Titelseiten der Zeitungen bei gleichzeitiger Abnahme der mittleren Umfänge der dort abgedruckten Artikel. 1956 erschienen 13 Artikel bzw. 3,4 Prozent der Analyseeinheiten auf der ersten Seite, 1976 67 (8,8 Prozent) und 1996 67 (7,9 Prozent). Dies lässt sich – unabhängig von den möglicherweise im Ereignis liegenden Ursachen wie etwa erfolgreicher gewordenen einheimischen Sportlern – als Zunahme der Prominenz und medialen Beachtung der Olympischen Spiele interpretieren. Tabelle 1: Anzahl und Fläche der Zeitungsartikel nach Ressorts in der OlympiaBerichterstattung 1956 Anzahl Artikel (Anteil in %) Seite 1 Politik Wirtschaft Kultur Sport Lokalsport Vermischtes/ Gesellschaft Lokal/Regional Gesamt

1976 Mittelwert Fläche in cm²

Anzahl Artikel (Anteil in %)

1996 Mittelwert Fläche in cm²

Anzahl Artikel (Anteil in %)

Mittelwert Fläche in cm²

13 (3,4) 1 (0,3) 2 (0,5) 355 (93,4) 8 (2,1)

153,7 55,9 94,5 95,3 145,2

67 (8,8) 13 (1,7) 9 (1,2) 661 (86,6) 1 (0,1) 10 (1,3)

96,94 198,99 185,95 171,13 205,28 297,13

67 (7,9) 15 (1,8) 2 (0,2) 9 (1,1) 736 (86,3) 1 (0,1) 22 (2,6)

97,6 217,7 244,2 202,5 207,5 278,7 286,4

1 (0,3) 380 (100)

40,4 98,1

2 (0,3) 763 (100)

252,95 167,18

1 (0,1) 853 (100)

242,0 201,2

Zu (F2): Thematisierung der olympischen Prinzipien in der Olympia-Berichterstattung In der bisher betrachteten Zusammensetzung der Olympia-Berichterstattung machen Artikel, in denen olympische Prinzipen vorkommen, einen kleinen Teil aus. Insgesamt schwankt ihr Auftauchen in den Artikeln im Zeitverlauf zwischen 10 und 21 Prozent, wobei der höchste Wert 1976 erreicht wird (vgl. Abbildung 1). Dieser Trend manifestiert sich in beiden untersuchten Zeitungen. Lediglich 1956 finden olympische Prinzipien in der Lokalzeitung mehr Beachtung als im national verbreiteten Blatt.

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Abbildung 1: Häufigkeit des Vorkommens von olympischen Prinzipien in der Olympia-Berichterstattung 100%

80%

60%

40%

20%

0%

13

29

42

FAZ KStA Gesamt (n=186) (n=194) (n=380) 1956

83

74

157

FAZ KStA Gesamt (n=392) (n=371) (n=763) 1976

44

40

84

FAZ KStA Gesamt (n=437) (n=416) (n=853) 1996

Da olympische Prinzipien in der Berichterstattung nur selten auftreten, werden sie im Folgenden anhand der Haupteinteilung in sieben Prinzipien dargestellt. Die im Rahmen der Codierung vorgenommene Ausdifferenzierung in Unterkategorien (z.B. die Gliederung der Antidiskriminierungsgrundsätze in insgesamt fünf in der Olympischen Charta genannte Diskriminierungsgründe) wird nur unsystematisch aufgegriffen. Während 1976 olympische Prinzipien am häufigsten angesprochen werden, streut ihr Vorkommen in demselben Jahr auch am breitesten auf die einzelnen Kategorien (vgl. auch im Folgenden Abbildung 2). Finden bspw. 1956 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lediglich drei olympische Prinzipien überhaupt Erwähnung, werden 1976 alle Prinzipien durchgängig mehrfach thematisiert. Das in beiden Zeitungen und allen drei untersuchten Zeiträumen meistbehandelte Prinzip ist das des Sports als Menschenrecht. Dies erklärt sich zum ganz überwiegenden Teil aus der vergleichsweise häufigen Thematisierung von Freundschaft und Solidarität, die beide Teil der Formulierung dieses Prinzips in der Olympischen Charta sind. Daneben kommt das Ziel der friedlichen Gesellschaft als einziges weiteres Prinzip in beiden Zeitungen und in allen drei Jahren durchgängig in der Berichterstattung vor. Die im Gegensatz zu den anderen Jahren vergleichsweise häufige Nennung der Autorität des IOC im Jahr 1976 wird vor dem Hintergrund des in diesem Jahr stattgefundenen Olympia-Boykotts einer

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Reihe von afrikanischen Staaten verständlich. Dass das Amateurprinzip 1996 Erwähnung findet, obwohl es in der Charta nicht mehr aufgeführt wird, liegt v. a. in der – nun erlaubten – Teilnahme mehrerer professioneller Athleten begründet, die in der Berichterstattung hinterfragt wurde. Abbildung 2: Zusammensetzung des Vorkommens der olympischen Prinzipien in der Olympia-Berichterstattung 100% Amateurprinzip

80%

Diskriminierungsverbot 60%

Autonomie des Sports Sport als Menschenrecht

40%

Autorität des IOC 20%

1956

1976

Gesamt

KStA

FAZ

Gesamt

KStA

FAZ

Gesamt

KStA

Olympismus FAZ

0%

Friedliche Gesellschaft

1996

Zu (F3): Nachrichtenfaktoren in der Olympia-Berichterstattung Um zu erfahren, welchen Stellenwert die unterschiedlichen Nachrichtenfaktoren in der Olympia-Berichterstattung einnehmen, wurde im Rahmen der Datenerhebung im Sinne des Zwei-Komponenten-Modells der Nachrichtenwerttheorie zunächst das Vorkommen der Nachrichtenfaktoren in den möglichen Ausprägungen gemessen. Anschließend wurde berechnet, wie sich die einzelnen Faktoren in den Artikeln niederschlagen. Der so erhaltene Score-Wert zeigt an, welche Beachtung die berichtenden Redaktionen bestimmten Themen schenken. Da die Nachrichtenfaktoren auf ordinalem Skalenniveau erhoben wurden, lässt sich auf diese Weise ermitteln, ob einzelne Nachrichtenfaktoren den Beachtungsgrad erhöhen. Somit erhält man ein Maß für den Nachrichtenwert der Nachrichtenfakto-

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ren. 14 Falls sich der Wert im Zeitverlauf verändert, wäre dies ein Indiz für einen Wandel von Selektionskriterien und damit auch für eine veränderte Medienlogik. Auf einem Netzdiagramm abgetragen lässt sich ein Nachrichtenwertprofil der Olympia-Berichterstattung zeichnen (vgl. Abbildung 3). Der Radius entspricht der Höhe des Nachrichtenwerts des Nachrichtenfaktors, wobei der Wert „0“ den Mittelpunkt bildet. Es zeigt sich, dass im Vergleich der drei untersuchten Austragungszeiträume die Score-Werte der Nachrichtenfaktoren durchgängig eng beieinander liegen und das Profil nahezu deckungsgleich ist. Abbildung 3: Nachrichtenwerte der Nachrichtenfaktoren in der OlympiaBerichterstattung

Insgesamt Medienpublikumsreson anz Medienresonanz Veranstaltungsresonan z

1996 Regelwidrigkeiten

20

1976 Erfolg/Misserfolg Kontroverse

15 10

Schaden

5

Dauer

1956

Räumliche Nähe

0 Zeitform

Ethnozentrismus

Faktizität

Personalisierung 1 Personalisierung 2/Human Interest

Ungewissheit Überraschung

Eindeutigkeit

Elite

14 Der Nachrichtenwert eines jeden Nachrichtenfaktors ergibt sich aus dem Produkt der codierten Ausprägung des Nachrichtenfaktors (zwischen 1 und 4) und dem ScoreWert, der den journalistischen Beachtungsgrad angibt. Dieser Score-Wert wurde gebildet, indem zunächst die Artikel gemäß ihrem Umfang (Fläche), ihrer Platzierung auf der Seite und der Gesamtfläche der enthaltenen Abbildungen in eine jeweils vierstufige Rangfolge eingeordnet wurden (Quartilsbildung). Der Score-Wert ist die Summe der Quartil-Ränge der drei Merkmale. In einem Artikel, der jeweils zum Quartil der größten Artikel mit den größten Abbildungen gehört und zugleich im oberen linken Quadranten einer Zeitungsseite, d.h. „bestmöglich“ platziert ist, wird die Ausprägung der enthaltenen Nachrichtenfaktoren demnach mit 12 multipliziert.

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Diese per Eyeballing getroffene Aussage bestätigt sich mit Blick auf die tatsächlichen Werte für die Unterschiede sowohl zwischen den Jahren als auch den beiden Zeitungen. Um zu bestimmen, ob sich die Werte eines Nachrichtenfaktors zwischen allen drei untersuchten Zeiträumen signifikant unterscheiden, wurden zwei 15 multinomiale logistische Regressionen mit dem Erscheinungsjahr als abhängiger Variable und den Score-Werten als Prädiktoren durchgeführt. 16 Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von p