Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht am Beispiel des Migrations- und Umweltrechts: Zu Letztentscheidungsrechten und -kompetenzen im mehrdimensionalen System der Europäischen Union und ihren Auswirkungen auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie [1 ed.] 9783428589395, 9783428189397

Bislang bestand nahezu Einigkeit, dass dem Europäischen Verwaltungsrecht die filigrane Differenzierung zwischen Beurteil

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Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht am Beispiel des Migrations- und Umweltrechts: Zu Letztentscheidungsrechten und -kompetenzen im mehrdimensionalen System der Europäischen Union und ihren Auswirkungen auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie [1 ed.]
 9783428589395, 9783428189397

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Schriften zum Europäischen Recht Band 212

Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht am Beispiel des Migrations- und Umweltrechts Zu Letztentscheidungsrechten und -kompetenzen im mehrdimensionalen System der Europäischen Union und ihren Auswirkungen auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie

Von Abdelkader Rbib

Duncker & Humblot · Berlin

ABDELKADER RBIB

Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 212

Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht am Beispiel des Migrations- und Umweltrechts Zu Letztentscheidungsrechten und -kompetenzen im mehrdimensionalen System der Europäischen Union und ihren Auswirkungen auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie

Von Abdelkader Rbib

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahr 2022 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI Books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-18939-7 (Print) ISBN 978-3-428-58939-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Lina

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2021 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Die Disputation fand am 21. November 2022 statt. Für die veröffentlichte Fassung wurden Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur bis Ende 2021 berücksichtigt. Vor allen anderen gebührt meiner Familie Dank für ihre fortwährende Unterstützung. Dies gilt ganz besonders für meine Eltern, die meinen gesamten Lebens- und Ausbildungsweg liebevoll und bedingungslos unterstützt haben. Dank von Herzen gilt meiner Verlobten Lina. Ihr Zuspruch ermutigte mich zur Promotion und ihr Rückhalt sorgte maßgeblich für die Fertigstellung dieser Arbeit. Ihr ist diese Arbeit gewidmet. Ebenfalls möchte ich meinen Schwestern Esma, Karima und Nadia danken, auf die ich mich schon mein ganzes Leben verlassen kann. Mein Dank gilt ebenfalls meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Klaus Ferdinand Gärditz für die Möglichkeit der Promotion, die gute Betreuung und seinen konstruktiven Anmerkungen. Bei Herrn Professor Dr. Dr. Wolfgang Durner LL. M. möchte ich für die schnelle Zweitbegutachtung meiner Dissertation danken. Den Herausgebern der „Schriften zum Europäischen Recht“ danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Die Konrad-Redeker-Stiftung sowie das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat haben die Veröffentlichung der Arbeit jeweils mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert. Beiden gilt meine Dankbarkeit. Bonn, im Februar 2023

Abdelkader Rbib

Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Teil 1

Allgemeiner Teil: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 32

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Beurteilungsspielräume im deutschen Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 II. Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 44 III. Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Teil 2

Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht 53

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 II. Differenzierungsversuch unter Heranziehung deutscher Parameter . . . . . . . . . . . 57 III. Relevanz der Parameter für Letztentscheidungsrechte auf Rechtsfolgenebene . . 92 IV. Zusammenfassendes Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Normstrukturelle Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 II. Der unbestimmte Rechtsbegriff als genereller Unsicherheitsfaktor . . . . . . . . . . . 98 III. Komplexität als wesentliche Begründung justiziabler Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 99 IV. Ausgestaltung der gerichtlichen Prüfung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 V. Bestand des konvergenten Konzepts administrativer Letztentscheidungsrechte . 103

10

Inhaltsübersicht Teil 3



Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht 108

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung . . . . . . . 108 I. Analysierende Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 II. Der ökologische Verwaltungsfreiraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum im System unionaler Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 I. Systematisierung des ökologischen (Verwaltungs-)Freiraumes . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Europäischer Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 C. Ergebnis im Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I. Ausgangslage im nationalen Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 II. Fehlübertragung des Europäischen Kompetenzzuordnungsrahmens . . . . . . . . . 208 III. Beurteilungsspielraumkonzept im Europäischen Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . 209 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Teil 4

Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte 212

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I. Gesetzliche Steuerung durch Regelungsstrategien mit Entmaterialisierungs­ charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 II. Freiverantwortliche Letztentscheidungskompetenz im Raum der Transnationalität 244 III. Adressaten der Letztentscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 IV. Teilergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 I. Nationale Kontrolldichterücknahmepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 II. Vollzugs- und Kontrollprobleme auf der nationalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 C. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 I. Entmaterialisiertes (deutsches) Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 II. Transnationalität des Migrationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 III. Mitgliedstaatliche Exekutive als ebenenübergreifender Adressat . . . . . . . . . . . . . 324 IV. Kontrolldichteverbindlichkeit des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Inhaltsübersicht

11

Fazit und Thesen 327

A. Beurteilungsspielraumdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 B. Referenzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 C. Letztentscheidungsrechtskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 I. Zuweisungsadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 II. Zuweisungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 D. Kompetenzgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 I. Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 II. Primärrechtliche Kompetenzausübungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 E. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Teil 1

Allgemeiner Teil: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 32

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I. Beurteilungsspielräume im deutschen Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Entwicklung und Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 a) Verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Skalierungsgrenzen und Mindestprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 c) Funktionale Anerkennung von Letztentscheidungsrechten . . . . . . . . . . . . 38 2. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Administrative Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Funktionsgrenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 c) Autonome Kollegialorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Verwaltungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Resultierende Problemkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 a) Einschränkung gerichtlicher Kontrolldichte durch das Unionsrecht . . . . . 45 b) Unionsrechtliche Grundsätze versus Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . 47 c) Normative Programmierung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Weitere Probleme des Europäischen Verwaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Europäisches Rechtsetzungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) Terminologische Präzisionslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 III. Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Analyse des europäischen Spielraumkonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2. Europäische Letztentscheidungsrechte im Gesetzgebungssystem . . . . . . . . . 50 3. Europäische Letztentscheidungsrechte im System der Judikative . . . . . . . . . 51 4. Normprogrammierung im Kontext europäischer Letztentscheidungsrechte . . 51 5. Prozeduralisierung als Quelle europäischer Letztentscheidungsrechte . . . . . . 51 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

14

Inhaltsverzeichnis Teil 2



Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht 53

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. VO (EG) Nr. 810/2009 (Visakodex) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. RL 2004/114/EG (Studenten- und Austausch-RL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Weitere EU-Migrationsrechtsakte auf Sekundärrechtsebene . . . . . . . . . . . . . 56 4. Primärforschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 II. Differenzierungsversuch unter Heranziehung deutscher Parameter . . . . . . . . . . . 57 1. Tatbestandsbezug des administrativen Letztentscheidungsrechts . . . . . . . . . . 58 2. Relevanz und Wirkung des unbestimmten Rechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Visakodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 aa) Bestimmte Rechtsbegriffe am Beispiel von Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) 60 bb) Modifikation der bestimmten Rechtsbegriffe durch Art. 21 . . . . . . . . 60 cc) Unbestimmte Rechtsbegriffe am Beispiel von Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (vi) Visakodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 b) RL 2004/114/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 aa) Art. 6 Abs. 1 RL 2004/114/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (1) 14. Erwägungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (2) 15. Erwägungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 bb) Art. 7 Abs. 1 RL 2004/114/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 (1) Art. 7 Abs. 1 lit. a RL 2004/114/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 (2) Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/114/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 (3) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3. Unionsgesetzgeberische Befugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4. Grammatische Auslegung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 5. Komplexität, Risiko- und Prognosecharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a) Die (Risiko-)Prognose als komplexitäts(mit)begründender Faktor . . . . . . 73 b) Komplexe Faktoren innerhalb der Verwaltungsentscheidungsmatrix . . . . 75 c) Die Rolle der Komplexität für das administrative Letztentscheidungsrecht 76 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6. Indifferenz der unionsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 a) Herleitung eines unionsgerichtlichen Mindestprüfungsmaßstabes . . . . . . 78 b) Feststellung des Prüfungsmaßstabes durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . 79 aa) Inhomogenität der präjudizierten Letztentscheidungsprogramme . . . 80

Inhaltsverzeichnis

15

(1) Rs. ERG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 (2) Rs. Gauweiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 (3) Rs. Technische Universität München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 (4) Rs.  Bertelsmann / Sony BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (5) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 bb) Übernahme des administrativen Letztentscheidungsrechts durch die deutsche Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 7. Teilergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 III. Relevanz der Parameter für Letztentscheidungsrechte auf Rechtsfolgenebene . . 92 1. Paradebeispiel unionsdogmatischer Symmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 2. Partielle Parallelität letztentscheidungsrechtsstatuierender Parameter . . . . . . 93 IV. Zusammenfassendes Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 I. Normstrukturelle Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Tatbestandlichkeit und Skalierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Multilingualität / Ergiebigkeit der grammatischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . 97 II. Der unbestimmte Rechtsbegriff als genereller Unsicherheitsfaktor . . . . . . . . . . . 98 III. Komplexität als wesentliche Begründung justiziabler Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 99 IV. Ausgestaltung der gerichtlichen Prüfung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 V. Bestand des konvergenten Konzepts administrativer Letztentscheidungsrechte . 103 1. Divergierendes Verständnis „gebundener“ Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Zufällige Kumulation unionsrechtlicher und deutscher Indikatoren . . . . . . . . 106 3. Ausschließlich unionsrechtliche Konklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Teil 3

Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht 108

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung . . . . . . . 108 I. Analysierende Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1. RL 92/43/EWG (Flora- und Fauna-Habitat-Richtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 a) Gebietsausweisungsverfahren, Art. 4 FFH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 aa) Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 bb) Europäische Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 b) Habitatschutz, Art. 6 FFH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen, Art. 6 Abs. 1 FFH-RL . . 111 (1) Gebietsprioritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

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Inhaltsverzeichnis (2) Fachliche Verbundenheit der Regelungskomplexe . . . . . . . . . . . . 112 bb) Schutzmaßnahmen, Art. 6 Abs. 2 FFH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 (1) Notwendigkeit flexibilisierter Ermächtigungsgrundlage . . . . . . . 113 (2) Fachliche (Regelungs-)Komplexität, insbesondere Prognose­ bedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 cc) Verträglichkeitsprüfung, Art. 6 Abs. 3 FFH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (1) Vorprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (2) FFH-Verträglichkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 (a) Beschränkte judizierbare fachliche Maßstab- und Methodenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (b) Entgegnen von Unsicherheitsfaktoren der Auswirkungs­ prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (aa) Spielraum der erheblichen Beeinträchtigung qua Methodenwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (bb) In dubio pro naturae bei ökologischer non liquet . . . . . . 120 dd) Abweichende Plan- oder Projektzulassung, Art. 6 Abs. 4 FFH-RL . . . 122 (1) Punktuell rechtsfolgenbezogene Letztentscheidungsrechte . . . . . 122 (2) Gegenüberstellung administrativer Entscheidungssphären in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 (3) Ausbleiben tatbestandlicher Entscheidungsspielräume . . . . . . . . 124 c) Artenschutz, Art. 12 FFH-RL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 bb) Akzente der Ule’schen Vertretbarkeitslehre und funktionale Grenzen der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 cc) BVerfG zum fachwissenschaftlichen Erkenntnisvakuum . . . . . . . . . . 128 2. RL 2009/147/EG (Vogelschutzrichtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. RL 2000/60/EG (Wasserrahmenrichtlinie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Vorhabenzulassungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 aa) Das Verschlechterungsverbot, Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) WRRL, und das Verbesserungsgebot, Art. 4 Abs. 1 lit. 1 Ziff. (ii), (iii) . . . . . . . . . . 132 bb) Heavily Modified Water Bodies, Art. 4 Abs. 3 WRRL . . . . . . . . . . . . 134 b) Planung der Wasserbewirtschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Bewirtschaftungspläne, Art. 13 WRRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) Maßnahmenprogramme, Art. 11 WRRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 cc) Freiräume innerhalb der Wasserbewirtschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (1) Rechtsschutzmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (2) Reduzierung gerichtlicher Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 II. Der ökologische Verwaltungsfreiraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Inhaltsverzeichnis

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1. Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Normstrukturelle Einordnung und Skalierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 aa) Vereinfachte Differenzierung von Tatbestands- und Rechtsfolgenebene 141 bb) Dualismus unionaler und nationaler Normstrukturen . . . . . . . . . . . . . 142 cc) Aufspaltung der Verwaltungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (1) Gegenstände der Verwaltungsfreiräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 (2) Indifferenz tatsachenbezogener Verwaltungsfreiräume . . . . . . . . 145 (3) Wirkung und Skalierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Die Rolle des unbestimmten Rechtsbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 aa) Unbestimmte Rechtsbegriffe als Schleusenbegriffe metajuristischer Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 (1) Am Beispiel des Gebietsausweisungsverfahrens nach Art. 4 VRL und Art. 4 FFH-RL bzw. § 32 BNatSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 (2) Übertragung auf die Vorschriften der FFH-RL und WRRL bzw. des BNatSchG und WHG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 (a) Unbestimmte Rechtsbegriffe der Art. 6 und 12 FFH-RL . . . . 151 (b) Unbestimmte Rechtsbegriffe der Art. 4 Abs. 1 lit. a und Abs. 3 lit. a WRRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 bb) Vermeintliche Auslegungssicherheit durch Schleusenbegriffe . . . . . . 154 (1) Ausnahme: Auslegungseinschränkende Wirkung . . . . . . . . . . . . 155 (2) Grundsatz: Vielzahl der Auslegungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . 156 (a) Gebietsausweisungsverfahren, Art. 4 VRL . . . . . . . . . . . . . . 156 (b) Tatbestände in der FFH-RL und WRRL . . . . . . . . . . . . . . . . 156 (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 cc) Abgrenzung: Tatsachenbezogene Verwaltungsfreiräume . . . . . . . . . . 158 (1) Wirkung tatsachenbezogener Verwaltungsfreiräume . . . . . . . . . . 158 (2) Einordnung in Jestaedts Drei-Ebenen-Modell . . . . . . . . . . . . . . . 159 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 c) Gerichtliche Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 aa) Spannungsfeld: Vorsorgegrundsatz und gerichtliche Kontrolle . . . . . 162 bb) Ausgestaltung gerichtlicher Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (1) Vertretbarkeits- und Plausibilitätskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (2) Kontrolldichtedynamik basierend auf wissenschaftlichen ­Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (3) Zusätzliche Voraussetzungen bei Prognoseelementen . . . . . . . . . 170 d) Begründungsstränge ökologischer Verwaltungsfreiräume . . . . . . . . . . . . . 171 aa) Objektive Grenzen gerichtlicher Kontrolle durch unsichere wissenschaftliche Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 bb) Ökologische Risiko- und Prognoseentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 173

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Inhaltsverzeichnis (1) Der allgemeine Risiko- und Prognosefreiraum . . . . . . . . . . . . . . . 173 (2) Prognosebeeinflusste naturschutzfachliche Freiräume . . . . . . . . . 175 (3) Ausuferungsgefahr bei Lockerung des Vorsorgegrundsatzes . . . . 177 2. Überführung in die deutsche Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Disruption des deutschen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 aa) Keine Rolle des unbestimmten Rechtsbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 bb) Kaum bis schwache Anwendung der normativen Ermächtigungslehre 179 cc) Uneinheitliche Normstruktur und nicht eingrenzbare Skalierung . . . . 180 dd) Fehlgehende Systematisierung der Begründungsstränge . . . . . . . . . . 181 b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum im System unionaler Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 I. Systematisierung des ökologischen (Verwaltungs-)Freiraumes . . . . . . . . . . . . . . 184 1. Administratives Letztentscheidungsrecht des Art. 4 FFH-RL bzw. Art. 4 VRL 184 a) Reziproke Feststellung von Freiräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 b) Herkömmliche Letztentscheidungsrechte des Unionsrechts . . . . . . . . . . . 186 aa) Bezugnahme durch Verweisungsketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 bb) Begründung und Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 cc) Inhaltliche und strukturelle Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 dd) Gerichtliche Kontrolle des wissenschaftlichen Letztentscheidungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 c) Zuweisungen im Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungsverfahren 191 aa) Das Vertragsverletzungsverfahren als Kompetenzzuweisungsverfahren 192 bb) Legislativ- und Administrativzuweisung europäischer Rechtsakte . . . 195 2. Modifizierung legislativer Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 II. Europäischer Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Grundlegende Letztentscheidungsrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Differenzierungsversuch aufgrund Trennschärfe und Konzept der Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 a) Gegenüberstellung von rechtsfolgeseitigem Letztentscheidungsrecht . . . . 200 b) Unionsgesetzgeberische Intention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 c) Nationale und unionsrechtliche Perspektiveinstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 203 aa) Unionsrechtliche Zuweisung an die Administrative . . . . . . . . . . . . . . 203 bb) Lediglich nationale Zuweisung an die Administrative . . . . . . . . . . . . 205 3. Scheitern des Differenzierungsversuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 C. Ergebnis im Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 I. Ausgangslage im nationalen Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 II. Fehlübertragung des Europäischen Kompetenzzuordnungsrahmens . . . . . . . . . 208

Inhaltsverzeichnis

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III. Beurteilungsspielraumkonzept im Europäischen Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . 209 IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Teil 4

Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte 212

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I. Gesetzliche Steuerung durch Regelungsstrategien mit Entmaterialisierungs­ charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 1. Relevanz der Gesetzesakzessorietät und Probleme im mehrdimensionalen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Grundsatz der Vollkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Administrative Kompetenzzuweisung als Ausnahmefall mittels normativer Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 c) Methoden- und Kompetenzprobleme im europäischen Mehrebenensystem 218 aa) Methodenproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 bb) Kompetenzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Europäische Regelungsintensität bzw. -dichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Geringe Regelungsintensität bzw. mangelnde normative Konkretisierung 221 b) Verschiebung politischer Entscheidungsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Regelungsdichte als Instrument der Kompetenzwahrnehmung und -verteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Unionsrechtliche Programmwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Zielerfüllung als Strukturmerkmal des Umweltrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 226 aa) FFH-RL und VRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 bb) WRRL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 b) Finale Rechtssetzung versus konditionale Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . 228 aa) Gebot sachlicher Kontrolle trotz Finalprogrammierung . . . . . . . . . . . 230 bb) Finalsteuerung als Kompetenzzuweisung in einfacher Rolle . . . . . . . 232 c) Konditionalisierung finaler Richtlinienstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4. Prozeduralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 a) Formeller Eigenwert als Kontrollreduktionsmechanismus . . . . . . . . . . . . 235 b) Freiraumentfaltung durch prozedurale Regelungsstrategien . . . . . . . . . . . 237 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 a) Materielle Ausgestaltung als Ursprungsquelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 b) Dysfunktionalität durch Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 c) Dysfunktionalität durch fehlende Fixierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 d) Mitgliedstaatliche Leistungs- bzw. Nachbesserungspflicht . . . . . . . . . . . . 243

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Inhaltsverzeichnis II. Freiverantwortliche Letztentscheidungskompetenz im Raum der Transnationa­ lität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Abgeschwächte Prozeduralisierungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a) Wissensgenerierung und -verifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 b) Vereinheitlichung von Verwaltung und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . 247 c) Zusammenarbeit vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 d) Kontrolle gemeinsamer Visumpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2. Funktionale Störung politischer Steuerungseffekte durch dezentralisierten Gerichtszugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3. Letztentscheidungskompetenzzuweisung in transnationalen Systemen . . . . . 252 III. Adressaten der Letztentscheidungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Grundsätzliche Kompetenzverteilungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 2. Diagonale Verschiebung mittels Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 a) Ungewillkürte Verschiebung durch unzureichende Richtlinientransformation und unmittelbare Richtlinienanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Gewillkürte Verschiebung durch Richtlinienverweise . . . . . . . . . . . . . . . . 258 IV. Teilergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 1. Fachbezogenheit der Zuweisungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Rechtsaktabhängigkeit des Zuweisungsadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 I. Nationale Kontrolldichterücknahmepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1. Gewillkürte Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 a) Unionsgesetzgeberische Kompetenzübertragungsbefugnis . . . . . . . . . . . 263 b) Der Grundsatz der Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 aa) Reichweite des „Verfahrens“ in relevanten Ausnahmefällen . . . . . . . 266 bb) Rechtsnatur der Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 (1) Lesart als Kompetenzverteilungsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 (2) Lesart als institutionelle Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 (3) Abwägungspflicht im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 (a) Abwägungsrelevante Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 (b) Grenzen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie . . . . . 275 (c) Veränderung durch Art. 291 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . 277 (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 cc) Deutsche Kontrolldichtekonzeption im Migrationsrecht . . . . . . . . . . . 278 (1) Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 (a) Prüfung konstruierter Kontrollfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 (b) Prüfungsauftrag des BVerwG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 (aa) Auslegungsregel „effet utile“ (praktische Wirksamkeit) 281

Inhaltsverzeichnis

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(bb) Acte-claire-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 (c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 (2) Die Verfahrensautonomie als abwägungsfähiges Prinzip . . . . . . . 286 (a) Vorprüfung: Kontrolldichtekonzeption als Identitätsfaktor . . 287 (b) Unionsverfassungsrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 (aa) Das PSPP-Urteil im System unionsrechtbezogener Judikatur des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (bb) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 (cc) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 (dd) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 (α) Mitgliedstaatliches Ausnahmekonzept des Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 (αα) Subjektiv-öffentliche Rechte . . . . . . . . . . . . . . 296 (ββ) Subjektiv-öffentliche Rechte im Visakodex . . 299 (γγ) Eingriff und Einschränkungsgrenzen des Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 (β) Unionsrechtliche Grenzen der Kompetenzausübung Art. 47 GRCh und Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . 303 (αα) Eingriff und gewährleistete Garantien . . . . . . . 304 (ββ) Verbleibende Rechtsposition . . . . . . . . . . . . . . 306 (γ) Abfederung durch das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 (c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 2. Ungewillkürte Letztentscheidungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 a) Keine mitgliedstaatliche Transformationspflicht oder unionale Kontrollrücknahmepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 b) Restriktive Voraussetzungen für fachwissenschaftliche Freiräume . . . . . . 310 II. Vollzugs- und Kontrollprobleme auf der nationalen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 1. Amtsermittlung und „iura novit curia“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 2. Ausreizung der Funktionsgrenzen der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 3. Entkoppelung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 4. Vorbehalt des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 a) Gesetzesvorbehalt im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 aa) Bankenregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 bb) Netzregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 b) Divergierende Systemverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 c) Folgeprobleme eines divergierenden Systemverständnisses . . . . . . . . . . . 319 C. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

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Inhaltsverzeichnis I. Entmaterialisiertes (deutsches) Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 II. Transnationalität des Migrationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 III. Mitgliedstaatliche Exekutive als ebenenübergreifender Adressat . . . . . . . . . . . . . 324 IV. Kontrolldichteverbindlichkeit des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Fazit und Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 A. Beurteilungsspielraumdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 B. Referenzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 C. Letztentscheidungsrechtskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 I. Zuweisungsadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 II. Zuweisungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 D. Kompetenzgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 I. Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 II. Primärrechtliche Kompetenzausübungsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 E. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht a. E. am Ende a. F. alte Fassung ABl. Amtsblatt Abs. Absatz AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Anm. Anmerkung AnwBl. Anwaltsblatt AöR Archiv des öffentlichen Rechts Art. Artikel BayVBl. Bayrische Verwaltungsblätter Bd. Band BeckOK Beck’scher Online Kommentar BNatSchG Bundesnaturschutzgesetz BR-Drs Bundesratdrucksache bspw. beispielsweise BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts CML Common Market Law CMLR Common Market Law Review DÖV Die Öffentliche Verwaltung DV Die Verwaltung DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EG Europäische Gemeinschaft Einl. Einleitung ELJ European Law Journal EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EnWZ Zeitschrift für das gesamte Recht der Energiewirtschaft ERA Forum Academy of European Law Europäisches System der Zentralbanken ESZB Europäische Union EU EuArbRK Europäischer Arbeitsrechtskommentar Gericht der Union EuG EuGH Gerichtshof der Eurpäischen Union EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuR. Europarecht EurUP Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht Vertrag über die Europäische Union EUV

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Abkürzungsverzeichnis

Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht EuZA Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG Europäische Zentralbank EZB f. folgende ff. fortfolgende Flora und Fauna-Habitat FFH Flora und Fauna-Habitat Verträglichkeitsprüfung FFH-VP FKVO Fusionskontrollverordnung FS Festschrift GewArch Gewerbearchiv GG Grundgesetz GK Großkommentar Charta der Grundrechte der Europäischen Union GRCh Handbuch des Staatsrechts HdBStR HG Hochschulgesetz Hs Halbsatz Important Bird Area IBA Immobilien- und Baurecht Rechtsprechung IBRRS IE-RL Industrieemissionen-Richtlinie Ius Publicum Europaeum IPE Juristische Arbeitsblätter JA Jahrbuch des öffentlichen Rechts JöR Juris Praxis Report jurisPR Juristische Schulung JuS JZ JuristenZeitung Kommunikation und Recht K&R lit. Buchstabe Landes- und Kommunalverwaltung LKV m. mit mit weiteren Nachweisen m. w. N. MedR Medizinrecht Maastricht Journal of European and Comparative Law MJ Neue Juristische Wochenschrift NJW Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland NordÖR NRW Nordrhein-Westfalen Naturschutz und Landschaftsplanung NuL Natur und Recht NuR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter NWVBl. OVG Oberverwaltungsgericht Secondary Markets Public Sector Asset Purchase Programme PSPP Recht der Energiewirtschaft RdE Recht der Landwirtschaft RdL Review of European Administrative Law REALaw RL Richtlinie Rn. Randnummer Rs. Rechtssachennummer

Abkürzungsverzeichnis Rspr. Rechtsprechung S. Seite Slg. Sammlung Sog. sogenannt SRM-VO Single Resolution Mechanism-Verordnung SUP-RL Strategische-Umweltprüfungs-Richtlinie TKG Telekommunikationsgesetz UAbs. Unterabsatz UmwR Umweltrecht UmwRG Umweltrechtsbehelfsgesetz UPR Umwelt- und Planungsrecht UVP Die Umweltverträglichkeitsprüfung UVP-RL Umweltverträglichkeitsprüfung-Richtlinie v. von VerwArch Verwaltungsarchiv VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleiche VIS-VO Visa-Informationssystem Verordnung VO Verordnung VRL Vogelschutzrichtlinie VRÜ Verfassung und Recht in Übersee VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WHG Wasserhaushaltsgesetz WiVerw Wirtschaft und Verwaltung WRRL Wasserrahmenrichtlinie WuW Wirtschaft und Wettbewerb ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZAR Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zentrum für Europäische Integrationsforschung ZEI Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht ZfU Ziff. Ziffer Zeitschrift für neues Energierecht ZNER Zeitschrift für öffentliches Recht ZÖR Zeitschrift für Umweltrecht ZUR

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Einleitung Das Europäische Recht stellt das nationale Recht der Mitgliedstaaten bereits seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor Herausforderungen. Bereits Art. 189 Abs. 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verschaffte dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission ein Rechtsetzungsinstrumentarium um die Integration des Europä­ ischen Rechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten voranzutreiben.1 Nach der Umbenennung fand sich das Rechtsetzungsinstrumentarium in Art. 249 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Ihr Rechtsnachfolger, die Europäische Union wurde in Art. 288 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union mit diesem Instrumentarium ausgestattet. Dadurch übt das Europäische Recht einen erheblichen Einfluss auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten aus. Das Europäische Recht bezeichnet die Rechtsordnung, die in Europa auf supranationaler und zwischenstaatlicher Ebene gilt. Dabei kann zwischen Primär- und Sekundärrecht unterschieden werden. Das Primärrecht besteht aus den Verträgen, die von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterzeichnet wurden, einschließlich dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Das Primärrecht bildet die Grundlage für die EU-Institutionen, die Mitgliedstaaten und die Bürgerinnen und Bürger der EU. Das Sekundärrecht wird von den EU-Institutionen auf der Grundlage des Primärrechts erlassen und umfasst Verordnungen Richtlinien Entscheidungen und Empfehlungen. Diese Regelungen ergänzen und konkretisieren das Primärrecht Aufgrund der Gesetzgebungs- und Regelungskompetenzabgabe in bestimmten Gebieten des ursprünglichen nationalen Rechts an die Europäische Union (beispielsweise Arbeitsrecht, Datenschutz, Umweltrecht, Verbraucherschutz) entstand eine mehrdimensionale Rechtsordnung. Die logische Konsequenz der Kompetenzabgabe an den Unionsgesetzgeber ist die Beschränkung von Souveränitätsrechten der Mitgliedstaaten. Im Rahmen der mehrdimensionalen Rechtsordnung wird der administrative Vollzug gemäß Art. 291 Abs. 1 AEUV den Behörden der einzelnen Mitgliedstaaten, unter Anwendung der jeweiligen Verwaltungsrechtsordnung überlassen. In Anbetracht der übernationalen Systemverschiedenheit droht die erhöhte Gefahr der Kollision des Europäischen Verwaltungsrechts mit dem gesamten nationalen Allgemeinen Verwaltungsrecht (Verwaltungsverfahrens-, Verwaltungsorganisations- und materielles Verwaltungsrecht)2. 1 2

Hierzu, Nenstiel, JR 1993, S. 222; jetzt Art. 288 Abs. 1 AEUV. Frenz, Handbuch Europarecht Band 5, Wirkungen und Rechtsschutz, Rn. 1777.

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Einleitung

Es ist zu beachten, dass ein einheitliches kodifiziertes Europäisches Verwaltungsrecht, das die einheitliche Anwendung durch die nationalen Behörden der Mitgliedstaaten sicherstellt, nicht existiert.3 Die Herausbildung gestaltet sich durch diverse Möglichkeiten der Einflussnahme des Europäischen Rechts auf das nationale Verwaltungsrecht.4 Die Entwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts beruht dabei im Wesentlichen auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,5 welche wiederum auf dieser Grundlage zur Änderung von nationalen Verwaltungsvorschriften im Umgang mit dem Europarecht führte.6 Des Weiteren finden sich, wenn auch bruchstückhaft, verwaltungsrechtliche Regelungen im Rahmen des primären und sekundären Unionsrechts.7 Mithin besteht zumindest eine faktische Existenz eines Europäischen Verwaltungsrechts. Bei dem Europäischen Verwaltungsrecht ist zwischen direkter und indirekter Verwaltung zu unterscheiden.8 Die jeweiligen nationalen Verwaltungsrechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union bieten eine Fülle an Normen zur Durchsetzung des Unionsrechts, was vor allem für die Bereiche, in denen das Unionsrecht selbst keine direkten Regelungen vorsieht, unabkömmlich ist.9 Im Rahmen des Europäischen Verwaltungsrechts ist die jeweilige nationale Verwaltungsrechtsordnung somit berechtigterweise als Teil des Systems zu verstehen.10 Bei der Schaffung, Formung und Weiterentwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts handelt es sich somit um eine wichtige verwaltungsrechtliche Zukunftsaufgabe, welche die Herausforderungen, die mit der Vielzahl der verschiedenen Verwaltungsrechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union einhergehen, zu bewältigen vermag.11 Insoweit kann die Berücksichtigung der Grundsätze des allgemeinen nationalen Verwaltungsrechts der Mitgliedstaaten zur Kohärenz eines solchen Europäischen Verwaltungsrechts beitragen. Es verbietet sich daher die pauschale Aussage, dass das Europäische Verwaltungsrecht gänzlich anders zu behandeln ist als das jeweilige nationale. Vielmehr ist eine Wechselwirkung zwi 3 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht S. XCV; Frenz, Handbuch Europarecht Band 5, Wirkungen und Rechtsschutz, Rn. 1770, 1778. 4 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht S. XCV; Frenz, Handbuch Europarecht Band 5, Wirkungen und Rechtsschutz, Rn. 1770, 1778; Sydow, JuS 2005, 97, 98 f. 5 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht S. XLVIII, 6 f.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 141; v. Danwitz, DVBl. 1998, S. 421, 423. 6 v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 141; v. Danwitz, DVBl. 1998, S. 421, 423. 7 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht S. C., der die zunehmende Tendenz des europäischen Gesetzgebers dahingehend sieht, verwaltungsverfahrensrechtliche Ausgestaltung im Rahmen des Sekundärrechts zu regeln, bspw. besonders im Bereich des Umweltrechts und Wettbewerbsrechts; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 38 ff. 8 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 381, Rn. 7; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht S. CI, 27, 33. 9 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 385, Rn. 13. 10 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 385, Rn. 13. 11 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 377, Rn. 1; Thürer, VVDStRL Bd. 50, S. 97, 101 ff.

Einleitung

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schen nationalem und Europäischem Verwaltungsrecht festzustellen, die sich durch die Adaption von Grundsätzen und Dogmatik des nationalen Verwaltungsrechts und andersherum bemerkbar macht.12 Diese Interpendenz erfordert eine präzise und eingängige Untersuchung des europäischen Rechts und insbesondere der europäischen Judikate, da die Fortentwicklung über das Richterrecht dynamisch ist.13 Im Zuge der Erörterung des Europäischen Verwaltungsrechts stellt sich stets die Frage der Verwaltungskontrolle, die im System einer rationalisierten Verwaltungsrechtsordnung14 durch die grundsätzlich nachträgliche Überprüfung der Exekutive15 einen rechtstaatlich unerlässlichen Gegenpol zum Verwaltungshandeln innerhalb des Verwaltungsvollzugs bildet.16 Die Aufgabe, das Gleichgewicht zwischen Exekutive und Judikative sicherzustellen und gleichzeitig einen effektiven Rechtsschutz zu garantieren, trifft die. Die Hauptverantwortung der Verwaltungskontrolle übernehmen dabei die Verwaltungsgerichte.17 Maßgeblich für die Bewältigung dieser Aufgabe ist die Frage der judikativen Kontrollintensität, welche aufgrund der zunehmenden Verrechtlichung und Komplexität einiger Referenzgebiete ständig Gegenstand des Diskurses in Rechtsprechung und im Schrifttum ist.18 Dies führte im Laufe der Zeit unter Berücksichtigung des gesetzlichen Auftrages der Gerichte und vor dem Hintergrund der garantierten Rechtsschutzeffektivität in Art. 19 Abs. 4 GG zu der Entwicklung dezidierter Kontrolldichtegrundsätze in der deutschen Verwaltungsrechtsordnung und im Rahmen dessen zur Anerkennung des behördlichen Beurteilungsspielraums, welcher zu einer Reduzierung gerichtlicher Kontrollintensität führt. Da 12

Bachof, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung VVDStRL, Bd. 30, S. 193 ff.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. CXIII ff.; vgl. auch Gärditz, Funktionswandel in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 100; Gärditz, NJW-Beilage 2016, S. 266; Rennert, DVBl. 2015, S. 793; SteinbeißWinkelmann, NVwZ 2016, S. 713; Wegener, JZ 2016, S. 829; Franzius, UPR 2016, S. 281; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielräume, S. 173 ff., dagegen a. A.: Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO vor § 113 Rn. 2. 13 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. XLVIII, 6 f.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 141; v. Danwitz, DVBl. 1998, S. 421, S. 423. 14 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 212, Rn. 57. 15 BVerwGE 132, 64 Rn. 26, NVwZ 2009, 525; Mehde, Die Verwaltung 43 (2010), S. 379; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO vor § 113 Rn. 1. 16 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 212, Rn. 57, S. 213, Rn. 59. 17 Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 214, Rn. 58. 18 Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO vor § 113 Rn. 16; zum Diskurs vgl. Aschke, in: Selbstbestimmung und Gemeinwohl, S. 118; Ramsauer, GS Kopp, S. 72: „seit mehr als 100 Jahren“; Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz, S. 187 ff.; Schlecht, Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern, S. 90 f.; Einleitung Rn. 181; zur Kontrolldichte unter dem Aspekt des Funktionswandels Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielräume, S. 173 ff.; zum Kontrolldichtebegriff vgl. Gärditz, Funktionswandel, S. D 54; Börger, Gerichtliche Kontrolldichte, S. 29 ff.; Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz, S. 52 ff.

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Einleitung

durch wurde das dichotome Konzept administrativer Letztentscheidungsrechte konstatiert, das zwischen Beurteilungsspielräumen auf Tatbestandsseite und Ermessen auf Rechtsfolgenseite differenziert. Die Identifizierung und Anerkennung von Beurteilungsspielräumen wird angesichts der Abweichung des in Art. 20 Abs. 2, 3 GG festgeschriebenen und in Art. 19 Abs. 4 GG fortgeschriebenen Gewaltenteilungsgrundsatzes, der der Judikative grundsätzlich Letztentscheidungsrechtskompetenzen im Rahmen ihres verfassungsrechtlichen garantierten Kontrollauftrags zuschreibt, methodisch und kompetenziell restriktiv gehandhabt. Trotz zunehmender Kritik, vor allem durch unionale Einflüsse, wird an dieser Dichotomie der administrativen Letztentscheidungsrechte festgehalten. Im Europäischen Verwaltungsrecht sind vergleichbare Untersuchungen hinsichtlich der Kontrolldichte im Hinblick auf die Existenz von Beurteilungsspielräumen nur in unzureichendem Umfang vorhanden. Insbesondere die Frage, ob das dogmatische Verständnis dichotomer Letztentscheidungsrechte der Administrative, das dem nationalen Verwaltungsrecht immanent ist, auf das europäische Verwaltungsrecht übertragen werden kann oder sich eine freilich andere Anerkennung der Existenz der Beurteilungsspielräume auf anderem Wege im Europäischen Recht findet, muss referenzgebietsspezifisch erfolgen und kann damit nicht allgemeingültig für das gesamte Unionsrecht beantwortet werden. Sektorale Besonderheiten der zum Teil diametral auseinandergehenden Referenzgebiete des Europäischen Verwaltungsrechts sind verschiedenen regelungsspezifischen Einflüssen ausgesetzt, die eines unterschiedlichen methodischen Zugangs bedürfen. Versucht man, die Rechtsschutzdogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG auf die unionale Ebene zu importieren, offenbart der strukturgleiche Art. 47 GRCh einen vielversprechenden Ansatzpunkt. Das nationale Konzept findet damit grundsätzlich einen fruchtbaren Anwendungsbereich. Bislang hat der Europäische Gerichtshof davon abgesehen, ein umfassendes Rechtsschutzkonzept zu judizieren. Ausführungen zur Kontrolldichte gelingen allenfalls bruchstückhaft und erst recht nicht vor dem Hintergrund des Art. 47 GRCh. Der Bedeutung der unionalen Rechtsschutzgarantie fehlt es bislang an einem Art. 19 Abs. 4 GG entsprechenden Stellenwert, insbesondere im Kontext zu Letztentscheidungsrechten. Unter Berücksichtigung der im Unionsrecht zunehmenden Freisetzung des Verwaltungshandelns gegenüber der Legislative und der Judikative etwa im Telekommunikationsregulierungs- und Datenschutzrecht ist dies aus demokratischer sowie rechtstaatlicher Perspektive bedenklich.19 Die Verfassungsgerichte demokratischer Mitgliedstaaten werden dies nicht dauerhaft über sich ergehen lassen werden. Das „PSPP-Urteil“ des BVerfG ist die erste Konsequenz einer schwach konturierten und wenig weiterentwickelten Prüfungsdogmatik des Unionsgerichts.20 19

Vgl. BVerfG, Urteil vom 30. 7. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn.138, NJW 2019, 3204. 20 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 124 ff., 127, 132, NJW 2020, 1647; zuvor bereits BVerfG, Urteil vom 30. 7. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn.138, NJW 2019, 3204.

Einleitung

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Vorstehende Differenzierungsaufgabe bildet nur die Oberfläche des Untersuchungsumfanges ab. Ungeachtet der Feststellung eines dichotomen oder konvergenten Konzepts sind mit der Identifizierung von administrativen Letztentscheidungsrechten im mehrdimensionalen System des Europäischen Verwaltungsrechts fundamentale Probleme verbunden. Die Zuweisung von Letztentscheidungsrechten ist eine legislative Kompetenzzuweisung. Diese Kompetenz stellt in einem rechtsstaatlichen System die genuine Aufgabe der Judikative dar.21 Mit der Installation des Art. 19 Abs. 1 EUV und des Art. 47 GRCh ist ein solches Verständnis primärrechtlich anerkannt. Der Europäische Gerichtshof rekurriert seit geraumer Zeit auf die unionsgesetzgeberische Intention der Letztentscheidungszuweisung. Durch die Mehrdimensionalität des Europäischen Verwaltungsrechts ist die Erarbeitung eines methodischen und kompetenziellen Letztentscheidungsrechtskonzepts daher einem erhöhten Schwierigkeitsgrad ausgesetzt. Es wirken verschiedene souveräne Akteure zusammen, die in dem EU-Primärrecht einen für Rechtssetzungsfragen kompetenziellen, allerdings keinen hierarchischen Ordnungsrahmen finden. Für rechtsebenenübergreifende unionale Letztentscheidungsrechte, die nun auf die nationale Judikative einwirken, bleiben Vollzugsprobleme, die durch den Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie abgewehrt werden sollen. Derartigen Vollzugsproblemen im Bereich unionaler (administrativer) Letztentscheidungsrechte kann mit einem methodischen Ansatz zur Auffindung der Letztentscheidungsrechtszuweisungen begegnet werden. So schafft ein methodischer Unterbau, der nach dem deutschen Modell an die Rechtssetzungskompetenz der jeweiligen Legislative anknüpft, Transparenz und kompetenzielle Schranken.

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BVerwG, Urteil vom 29. 06. 1957  – II C 105.56  – BVerwGE 5, 153 (162 f.) mit Anm. ­Bachof, JZ 1958, 288; BVerfG, 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07; BVerfGE 129, 1.

Teil 1

Allgemeiner Teil: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung Bei öffentlich-rechtlichen Normen ist nach deutschem Grundverständnis zwischen gebundenen Verwaltungsentscheidungen und Ermessensentscheidungen zu differenzieren. Dabei wird die Unterscheidung, ob es sich um eine gebundene Verwaltungsentscheidung oder eine Ermessensentscheidung handelt, durch den Normaufbau bestimmt.1 Sofern die öffentlich-rechtliche Norm nur eine bestimmte Rechtsfolge für das Erfüllen der Voraussetzungen auf der Tatbestandsseite vorsieht, handelt es sich dabei um eine gebundene Entscheidung.2 Die Tatbestandsvoraussetzungen werden durch bestimmte oder unbestimmte Rechtsbegriffe konstruiert, deren Vorliegen im Rahmen der Auslegung bestimmt werden muss.3 Hierbei handelt es sich um einen Bewertungsvorgang im Sinne eines Erkenntnisvorgangs, der nur eine richtige Entscheidung hervorbringen kann.4 Für die Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen auf der Tatbestandsebene ergibt sich mithin vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 GG eine grundsätzlich uneingeschränkte gerichtliche Überprüfbarkeit der Auslegung und Subsumtion der öffentlich-rechtlichen Normen durch die Verwaltung im Rahmen des Erkenntnisvorgangs.5 Den Ausnahmefall bildet ein der gerichtlichen Kontrolle nur eingeschränkt zugänglicher 1 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 4; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 9 f.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 4, 14 f.; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 16; Reuß, DVBl. 1953, S. 649; DÖV 1954, S. 557. 2 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 4; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 7 f.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 4, 16; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn.  13, 55; Reuß, DVBl. 1953, S. 649; DÖV 1954, S. 557. 3 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 5; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 16; zu unbestimmten Rechtsbegriffen Rennert, in: Eyermann, § 114, Rn. 55; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11 f., S 35 f.; Koch, in: Juristische Begründungslehre 1982, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, S. 14 ff. 4 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 5, 28; zum Rechtserkenntnisakt vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 55; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11; Ossenbühl, Die Weiterentwicklung der Verwaltungswissenschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. V, 1987, S. 1143, 1146 f. 5 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 7; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 16; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51, 56; Schmidt-Aßmann / Schenk, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO Einl. Rn. 183; Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 216, Rn. 62; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11; BVerfG, Beschluss vom 05. 02. 1963 – 2 BvR 21/60, BVerfGE 15, 275, 282.

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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Beurteilungsspielraum der Behörde.6 Soweit die Rechtsfolgen für das Erfüllen der Tatbestandsvoraussetzungen nicht zwingend vorgeschrieben sind und der Verwaltung stattdessen ein Wahlrecht eingeräumt wurde, handelt es sich um eine Ermessensentscheidung.7 Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dem Ermessen um eine Erscheinung, die lediglich auf Rechtsfolgenebene einzuordnen ist.8 Auch hier besteht ein weiterer Ausnahmefall der uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Kontrolle.9

I. Beurteilungsspielräume im deutschen Verwaltungsrecht Der Beurteilungsspielraum ist die auf gesetzgeberischer Ermächtigung basierende Freiheit der Verwaltung, bei der Rechtsanwendung unter bestimmten Voraussetzungen letztverantwortlich und letztverbindlich zu entscheiden.10 Folglich handelt es sich um einen Bereich eigener Wertung und Verantwortung der Exekutive, welcher unter bestimmten Voraussetzungen durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe begründet wird.11 Unbestimmte Rechtsbegriffe umfassen in ihrer konkreten Verwendung keinen engeren Kreis möglicher Bedeutungsinhalte,12 sodass im Rahmen konkreter Exekutivanwendung die Voraussetzungen für das Verwaltungshandeln undurchsichtig werden und bei Hinzutreten weiterer Umstände13 ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Freiraum der Verwaltungsentscheidung anzuerkennen ist. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit muss im Rahmen ihres beschränkten Prüfungsprogramms sicherstellen, dass die Grenzen des eröffneten Entscheidungsfreiraums gewahrt worden sind.14 6

Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 28; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 16, 32 ff.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 4; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 55; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11 f. 7 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 4; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 8a; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn.  16; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 55, 62. 8 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 6; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 8a; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 4; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 55. 9 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 15, 16; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 17; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 1 ff.; Rennert, in: Eyermann § 114 Rn. 3 f., 10 f.; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 6; i. d. S. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 10. 10 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11 f.; zum unbestimmten Rechtsbegriff, derselbe, S. 35 f.; Redeker, in: Redeker / von Oertzen; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 286; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  56. 11 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 12; A. Decker, in: Posser / Wolff, § 114 Rn. 32 f.; m. w. N. Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn.  303. 12 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 12; Wolff, in: Sodan /  Ziekow, Rn. 303; Gerhard, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  62. 13 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 12. 14 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 12.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

1. Entwicklung und Herleitung Konstitutiv für die Terminologie „Beurteilungsspielraum“ und die „Lehre vom Beurteilungsspielraum“ nach dem heutigen Verständnis waren hauptsächlich die Ausführungen zu dem Diskurs über Ermessen und unbestimmte Rechtsbegriffe von Otto Bachof im Jahr 1955.15 Ausschlaggebend hierfür war die Bezeichnung von unbestimmten Rechtsbegriffen als „Ermessensbegriffe“ unter Verweigerung einer vollumfänglichen Überprüfbarkeit der Verwaltungsentscheidung und der Begrenzung des Prüfungsumfangs auf Ermessensfehler in der damaligen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts.16 Hinzu kamen die gesetzgeberischen Bemühungen, den verwaltungsgerichtlichen Prüfungsumfang von unbestimmten Rechtbegriffen in der Verwaltungsgerichtsordnung (im Folgenden VwGO) zu regeln.17 In Anlehnung an Reuß, der mit seinen Überlegungen eine unbeschränkte Überprüfung unbestimmter Rechtsbegriffe bezweckte,18 führte Bachof die Unterscheidung zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessen fort, indem er zwischen der Freiheit der Verwaltung, einen Willen zu bilden, und der Freiheit der Verwaltung im Rahmen des Erkenntnisakts relevante Unterschiede herausarbeitete.19 Darüber hinaus forderte er auch eine sprachliche Differenzierung zwischen Ermessen (damals Handlungsermessen) und Beurteilungsspielraum (damals Beurteilungsermessen). Diese Überlegungen waren für die Etablierung der Unterscheidung von Ermessen und Beurteilungsspielraum in der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft prägend.20

15

Bachof, JZ 1955, S. 97 ff.; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 56; Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, S. 363 f.; grundlegend zur Unterscheidung von unbestimmtem Rechtsbegriff und Ermessen, Tezner, Das freie Ermessen der Verwaltungsbehörden 1924, S. 17 ff.; Bühler, Die subjektiv öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung 1914, S. 29 ff.; Reuß, DVBl. 1953, S. 649; DÖV 1954, S. 557. 16 BVerwG, Urteil vom 10. 03. 1954, JZ 1954, S. 575; a. A. damals annähernd alle obersten Verwaltungsgerichte der Länder vgl. Bachof, JZ 1955, S. 97; dargestellt in: Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 54. 17 BR-Drs. 2/462; zu § 114a VwGO vgl. auch Bachof, JZ 1955, S. 97 f.; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 55. 18 Reuß, DVBl. 1953, S. 649; DÖV 1954, S. 557; zusammenfassend Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 57 f. 19 Bachof, JZ 1955, S. 98; zusammenfassend Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 58 f.; Rennert, in: Eyermann, § 114, Rn. 54. 20 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 58.

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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a) Verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung Nachdem das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 195721 sowohl die Lehre vom Beurteilungsspielraum als auch die Ule’sche Vertretbarkeitslehre22 billigte, schloss es sich im Jahr 1959, nachdem das Oberverwaltungsgericht Münster diesen Weg einschlug,23 der Lehre vom Beurteilungsspielraum an:24 „Der Senat verkennt nicht, daß unter bestimmten, eng begrenzten Voraussetzungen die Anerkennung eines ‚gerichtsfreien Beurteilungsspielraums‘ der Behörde zweckmäßig und auch verfassungsrechtlich vertretbar sein kann. Das gilt gerade bei unbestimmten Rechtsbegriffen wertenden Inhalts, wie dem der Eignung, bei deren Beurteilung in Grenzfällen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit natürliche Schranken gesetzt sind. Dem trägt die Lehre vom Beurteilungsspielraum der Verwaltungsbehörde, die ‚Vertretbarkeitslehre‘, Rechnung (vgl. Bachof, JZ 55 S. 97; Ule in der Gedächtnisschrift für Jellinek Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht 1955, S. 309).“25

Insbesondere arbeitete das Bundesverwaltungsgericht schon früh heraus, dass ein Spannungsfeld zwischen der normativen Einräumung von Beurteilungsspielräumen der Exekutive und dem verfassungsrechtlichen Kontrollauftrag der Judikative gemäß Art. 19 Abs. 4 GG existiert, das zur Gewährleistung der Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung zugunsten des Kontrollauftrages der Gerichte aufgelöst wird: „Daß das Verwaltungsgericht hierbei unter Umständen sein Urteil an die Stelle des Urteils der Verwaltungsbehörde setzt, ist keine Verletzung des im geltenden Recht ohnehin nicht lückenlos verwirklichten Grundsatzes der Gewaltenteilung, vielmehr offenbart sich darin gerade der Rechtsstaat mit seiner wechselseitigen Kontrolle der Gewalten und der dadurch gewährleisteten Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. […] Das Verfassungsrecht könnte eher dadurch verletzt werden, daß die Gerichte sich an die Beurteilung der Verwaltungsbehörden rechtlich gebunden fühlten und sich einer Prüfung insoweit enthielten (vgl. Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes).“26

Vor dem Hintergrund der Unrechtserfahrungen in der NS-Zeit, vor allem durch die Exekutive mit Unterstützung der Justiz,27 diente die Entscheidung zugunsten Art. 19 Abs. 4 GG in der Nachkriegszeit vornehmlich der Konstitutionalisierung 21

BVerwG, Urteil vom 29. 06. 1957 – II C 105.56 – BVerwGE 5, 153 (162 f.) mit Anm. ­Bachof, JZ 1958, 288. 22 Ule, Gedächtnisschrift Jellinek, S. 309 ff.; dargestellt in: Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, S. 360 ff. 23 OVG Münster, Urteil vom 22. 09. 1958 – VA 1568/57 – DVBl. 1959, S. 72; dargestellt in: Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, S. 360 ff. 24 BVerwG, Urteil vom 24. 04. 1959 – VII C 104.58 – BVerwGE 8, 272; dargestellt in: Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, S. 360 ff. 25 BVerwG, Urteil vom 29. 06. 1957 – II C 105.56 – BVerwGE 5, 153 (162 f.) mit Anm. ­Bachof, JZ 1958, 288. 26 BVerwG, Urteil vom 29. 06. 1957 – II C 105.56 – BVerwGE 5, 153 (162 f.) mit Anm. ­Bachof, JZ 1958, 288. 27 Müller, Furchtbare Juristen, S. 175 ff.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

des Verwaltungsrechts und der Begrenzung der Verselbstständigung der Exekutive durch Rechtsformen des autonomen Verwaltungshandelns.28 In der Folgezeit richteten das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesverfassungsgericht die Überprüfung von Beurteilungsspielräumen daher an dem Vorbehalt des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG und dem effektiven Rechtsschutz des Art. 19 Abs. 4 GG aus. Zwar gelang es der Lehre des Beurteilungsspielraums, Impulse für die Rationalisierung des Normprogramms mit Blick auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite zu schaffen, allerdings fehlte es an der verfassungsrechtlich abgesicherten methodischen Herleitung der Letztentscheidungskompetenz gegenüber der Judikative sowie der Konturierung der verfassungsrechtlichen Grenzen exekutiver Verselbstständigung zum Schutz vor unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffen. Dass – unter anderem wegen des Vorbehaltes des Gesetzes – eine Kompetenzzuweisung verfassungsrechtlich nur dann beanstandungslos erfolgen kann, wenn sich eine derartige Zuweisung im materiellen Recht findet, ließ auch das Bundesverwaltungsgericht frühzeitig erkennen: „[…] Ob ein solcher Beurteilungsspielraum aber besteht, ist für jedes Rechtsgebiet besonders zu entscheiden. Die Entscheidung hängt davon ab, ob in das jeweils zur Anwendung gelangende Gesetz ‚hineingelesen‘ werden kann, daß die Behörde über das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen nach pflichtgemäßer Beurteilung entscheiden darf […].“29

In der Literatur bildete sich, von dem Topos ausgehend, dass im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich jede Verwaltungsentscheidung samt Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffes gerichtlich voll überprüfbar ist,30 der Konsens, dass Letztentscheidungsrechte der Exekutive, die zur Anerkennung eines behördlichen Beurteilungsspielraums führen, methodisch mithilfe der herrschenden normativen Ermächtigungslehre31 ermittelt werden müssen. Danach ist zu untersuchen, ob das Gesetz eine Beurteilungsermächtigung der Exekutive vorsieht. Somit beurteilt sich die Existenz eines Beurteilungsspielraums nach dem materiellen Recht.32 Bereits im Jahr 1957 von dem Bundesverwaltungsgericht an-

28

Siehe dazu Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 115. 29 BVerwG, Urteil vom 29. 06. 1957 – II C 105.56 – BVerwGE 5, 153 (162 f.) mit Anm. ­Bachof, JZ 1958, 288. 30 BVerfG, Urteil vom 16. 01. 1957 – 1 BvR 253/56, JZ 1957, 167, 169. 31 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11 f.; zum unbestimmten Rechtsbegriff, Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 35 f.; Redeker, in: Redeker / von Oertzen; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51; Wolf, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn.  286; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn. 56; im Planungsrecht Durner, Konflikte räumlicher Planungen. Verfassungs-, verwaltungs- und gemeinschaftsrechtliche Regeln für das Zusammentreffen konkurrierender planerischer Raumansprüche, S. 316. 32 BVerwG, 13. 12. 1979 – 5 C 1.79, BVerwGE 59, 213; BVerwG, 07. 10. 1975 – I C 16.73, BVerwGE 72, 195; vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 303 ff.; Schmidt-Aßmann, Das Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 218 f., Rn. 67 f.; ­Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 30.

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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gedeutet,33 stellte dies das Bundesverfassungsgericht mit der Entscheidung zum Investitionszulagengesetz von 1999 klar. Danach heißt es: „[…] Von Gerichten nicht oder nur eingeschränkt überprüfbare Letztentscheidungsbefugnisse über Rechte des Einzelnen dürfen der vollziehenden Gewalt nur aufgrund eines Gesetzes eingeräumt werden. Dabei hat es der Gesetzgeber in der Hand, den Umfang und Gehalt der subjektiven Rechte der Bürger zu definieren und damit mit entsprechenden Folgen für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle auch deren Rechtsstellung gegenüber der Verwaltung differenziert auszugestalten. […] Will der Gesetzgeber gegenüber von ihm anerkannten subjektiven Rechten die gerichtliche Kontrolle zurücknehmen, hat er zu berücksichtigen, dass die letztverbindliche Normauslegung und die Kontrolle der Rechtsanwendung im Einzelfall grundsätzlich den Gerichten vorbehalten ist. […]. Nehmen Gerichte eine gesetzlich nicht vorgesehene Bindung an behördliche Entscheidungen an, verstößt dies gegen Art. 19 Abs. 4 GG.“34

Zunächst wird damit eine grundlegende verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zwischen der Exekutive und Judikative dargestellt. Für den Ausnahmefall der Letztentscheidungsermächtigung der Ermittlung einer solchen wird daraufhin ein methodischer Zugang bereitgestellt. So hebt das Bundesverfassungsgericht die verfassungsimmanente Kompetenzzuweisung des Art. 19 Abs. 4 GG hervor. Denn den Gerichten ist im Einzelfall die letztverbindliche Kontrolle des Verwaltungshandelns vorbehalten. Daraus wird abgeleitet, dass jede Letztentscheidungsermächtigung der Exekutive sich ausdrücklich im jeweiligen normativen Programm wiederfinden muss. Nur dann werde die Letztentscheidungsbefugnis der Exekutive auch sichtbar und die verfassungsrechtliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und Judikative nicht gefährdet.35 Sofern eine normative Verankerung gegeben ist, bedarf es schließlich eines Sachgrundes für die Freistellung von einer judikativen Vollkontrolle.36 Daneben führte das Bundesverfassungsgericht auch Art. 20 Abs. 3 GG ins Feld. Führt die Annahme eines Letztentscheidungsrechts, das wegen der fehlenden normativen Ermächtigung nicht besteht, zu einer Zurücknahme oder zu dem Unterlassen einer vollumfänglichen Überprüfung einer Behördenentscheidung, dann steht dies im Widerspruch zur Gesetzesbindung der Gerichte.37 Da auch die Exekutive der Gesetzesbindung untersteht, steht ebenfalls die Verselbstständigung der Verwaltung ohne gesetzlich eingeräumtes Letztentscheidungsrecht im Widerspruch zur Gesetzesbindung. 33

BVerwG, Urteil vom 29. 06. 1957 – II C 105.56 – BVerwGE 5, 153 (162 f.) mit Anm. ­Bachof, JZ 1958, 288. 34 BVerfG, 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07; BVerfGE 129, 1. 35 „[…] Andernfalls könnten diese ‚in eigener Sache‘ die grundgesetzliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und Judikative verändern. […]“, BVerfG, 31. 05. 2011  – 1 BvR 857/07, Rn. 74; BVerfGE 129, 1. 36 „[…] Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrundes. […]“, BVerfG, 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07; BVerfGE 129, 1. 37 BVerfG, 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 74; BVerfGE 129, 1.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

b) Skalierungsgrenzen und Mindestprüfung Wie zuvor erwähnt, bedurfte es neben einer kompetenziellen Klarstellung des Letztentscheidungsrechts und einem methodischen Zugang zur Auffindung dessen auch einer Beschränkung des Gesetzgebers hinsichtlich der Skalierung von Letztentscheidungsrechten sowie der Aufrechterhaltung einer Mindestprüfung durch die Gerichte. Dazu führte das Bundesverfassungsgericht wie folgt aus: „Die in Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Wirksamkeit gerichtlichen Rechtsschutzes darf der Gesetzgeber nicht durch die Gewährung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse für ganze Rechtsgebiete oder Sachbereiche aufgeben. […]“38

Der Gesetzgeber kann etwaige Letztentscheidungsrechte der Verwaltung nicht beliebig weit skalieren. Einem solchen Vorgehen steht das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG entgegen. Gleichzeitig bedeutet dies, dass ein Mindestprüfungsauftrag der Gerichte verbleiben muss.39 Allerdings können die Grundsätze der Ermessenfehlerlehre nicht ohne weiteres für die Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe gelten.40 Vielmehr bleibt der gerichtliche Prüfungsauftrag in Bezug auf Letztentscheidungsrechte, die nicht der klassischen Kategorie des Verwaltungsermessens zugeordnet werden können, dynamisch. Dies ist vor allem abhängig von der fachlichen Einbettung des Letztentscheidungsrechts41 sowie den für die Verwaltungsentscheidung neben dem Gesetz zur Verfügung stehenden sonstigen Grundlagen. Hierbei handelt es sich allenfalls um weitere Gegenstände der gerichtlichen Kontrolle, aufgrund der Gesetzesbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG allerdings nicht um einen Maßstab der gerichtlichen Kontrolle.42 c) Funktionale Anerkennung von Letztentscheidungsrechten Demgegenüber wird in der Literatur angeführt, dass sich Beurteilungsspielräume auch mithilfe des funktionsrechtlichen Ansatzes herleiten lassen.43 Dieser Ansatz differenziere bei der Aufgabenverteilung zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit (nachträgliche Kontrolle) und der Verwaltung (verantwortliches Gestalten), sodass bei der Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen stets zu hinterfragen 38

BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 75; BVerfGE 129, 1. BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 68 ff.; BVerfGE 129, 1. 40 BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 70; BVerfGE 129, 1. 41 „[…] Dies schließt nicht aus, dass bei der Kontrolle der Verwaltung deren Eigenverantwortung Rechnung getragen und die gerichtliche Kontrolle – wie etwa im Planungsrecht – als eine nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet wird.“, BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011  – 1 BvR 857/07, Rn. 70; BVerfGE 129, 1. 42 BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 71; BVerfGE 129, 1. 43 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76 f.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 54, Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 33; Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 411; Gerhardt, NJW 1989, S. 2233, 2236; Brohm, DVBl. 1986, S. 321, 326; P. Kirchhof, 39

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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sei, ob die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Rahmen einer uneingeschränkten Kontrolle noch ihre Funktionsgrenzen gegenüber der Verwaltung wahre und ob die konkrete Verwaltungsentscheidung aufgrund rechtsstaatlicher Gesichtspunkte der vollumfänglichen Überprüfung funktional verwehrt sein müsse.44 Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn für die Exekutiventscheidung ein sachdien­liches Verwaltungsverfahren existiere und ein Verwaltungsgerichtsverfahren dieser Sachdienlichkeit abträglich wäre, indem zwar eine andere Entscheidung getroffen werden könne, diese jedoch keine bessere sei.45 Ein solcher Ansatz findet in der Rotmilan-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Anerkennung. Gegenstand der Entscheidung war eine von dem Bundesverwaltungsgericht gebilligte Einschätzungsprärogative der Verwaltung hinsichtlich des Tötungsrisikos von Rotmilanen im Rahmen eines Bauvorhabens. Dazu führte es wie folgt aus: „Wenn die gerichtliche Kontrolle nach weitestmöglicher Aufklärung an die Grenze des Erkenntnisstandes der ökologischen Wissenschaft und Praxis stößt […] zwingt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG das Gericht nicht zu weiteren Ermittlungen, sondern erlaubt dem Gericht, seiner Entscheidung insoweit die Einschätzung der Behörde zu der fachlichen Frage zugrunde zu legen, wenn diese auch aus gerichtlicher Sicht plausibel ist. […] Stößt das Verwaltungsgericht bei der Kontrolle naturschutzrechtlicher Entscheidungen an die objektiven Grenzen der Erkenntnisse der ökologischen Wissenschaft und Praxis, folgt das eingeschränkte Kontrollmaß nicht etwa aus einer der Verwaltung eigens eingeräumten Einschätzungsprärogative, sondern schlicht aus dem Umstand, dass es insoweit am Maßstab zur sicheren Unterscheidung von richtig und falsch fehlt. Es handelt sich damit nicht um eine gewillkürte Verschiebung der Entscheidungszuständigkeit vom Gericht auf die Behörde, sondern um eine nach Dauer und Umfang vom jeweiligen ökologischen Erkenntnisstand abhängige faktische Grenze verwaltungsgerichtlicher Kontrolle. Dafür bedarf es nicht eigens der gesetzlichen Ermächtigung, wie sie für die Einräumung administrativer Letztentscheidungsrechte bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe erforderlich ist (dazu BVerfGE 129, 1 ).“46

Der Ausgangspunkt der Argumentation sind wiederum Art. 19 Abs. 4 GG und die verfassungsrechtliche (verpflichtende) Aufgabe der Gerichte. Die Aufgabe der NJW 1986, S. 2275, 2279; Franßen, in: FS Zeidler, S. 429, 442; zur Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit Schmidt-Aßmann, in: FS Menger, S. 107; eine Hypertrophie dieses Ansatzes könne dagegen zur Austrocknung der Kontrolle in den jeweiligen Rechtsgebieten führen so Gärditz, NJW-Beilage 2016, S. 41, 43. 44 Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76; Rennert, in: Eyer­ mann, § 114 Rn. 54; Ossenbühl, in: Götz / K lein / Starck, Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, S. 200 f.; Schulze-Fielitz, JZ 1993, S. 778 f.; ­Schuppert, DVBl. 1988, S. 1197 ff. 45 Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 54; Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 411; Gerhardt, NJW 1989, S. 2233, 2236; Brohm, DVBl. 1986, S. 321, 326; P. Kirchhof, NJW 1986, S. 2275, 2279; F ­ ranßen, in: FS Zeidler, S. 429, 442; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76; kritisch Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1, Rn. 35, 36 f., 46. 46 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, insbesondere Rn. 18 und 23 – BVerfGE 149, 40.

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Gerichte beschränkt sich dabei auf die vollständige Überprüfung des Verwaltungshandelns in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.47 Dies erfolgt grund­sätzlich anhand des normativen Programms. Sofern das zugrundeliegende normative Programm im Rahmen einer fachlichen Beurteilung extrajuristisches Wissen abverlangt, das unterhalb der gesetzlichen Vorgabe keine normative Konkretisierung erfahren hat, müssen Gerichte sich zur Überprüfung des Verwaltungshandelns der jeweiligen Fachwissenschaft bedienen.48 Probleme entstehen dann, wenn das für die Kontrolle notwendige Fachwissen auch in der spezifischen Wissenschaft fehlt: „[…] Fehlt es in den einschlägigen Fachkreisen und der einschlägigen Wissenschaft an allgemein anerkannten Maßstäben und Methoden für die fachliche Beurteilung, kann die gerichtliche Kontrolle des behördlichen Entscheidungsergebnisses mangels besserer Erkenntnis der Gerichte an objektive Grenzen stoßen. Sofern eine außerrechtliche Frage durch Fachkreise und Wissenschaft bislang nicht eindeutig beantwortet ist, lässt sich objektiv nicht abschließend feststellen, ob die behördliche Antwort auf diese Fachfrage richtig oder falsch ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. Juli 2008 – 9 A 14.07 –, juris, Rn. 65). Dem Gericht ist durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht auferlegt, das außerrechtliche tatsächliche Erkenntnisdefizit aufzulösen. Gerichte sind nicht in der Lage, fachwissenschaftliche Erkenntnislücken selbständig zu schließen, und auch nicht verpflichtet, über Ermittlungen im Rahmen des Stands der Wissenschaft hinaus Forschungsaufträge zu erteilen […].“

In diesem Kontext verpflichtet Art. 19 Abs. 4 GG die Gerichte nicht nur zur vollständigen Kontrolle, sondern gewährleistet auch ihre Funktionalität, die aufgrund des grundsätzlich nur vorhandenen juristischen Sachverstandes im Zuge von fachspeziellen Beurteilungen eingeschränkt wäre.49 Die Gerichte können in derartigen Fällen auf eine Einschätzungsprärogative der Verwaltung verweisen, ohne Gefahr zu laufen, dass die verfassungsrechtliche Rollenverteilung zwischen Exekutive und Judikative verkannt wird. Eine Erleichterung gewährt das Bundesverfassungsgericht außerdem dadurch, dass vergleichbare Einschätzungsprärogativen keiner eigenen gesetzlichen Ermächtigung bedürfen, wie sie aus der Entscheidung zum Investitionszulagengesetz bekannt ist.50 In Bezug auf die Kontrolle der Verwaltungsentscheidung sowie der Einschätzungsprärogative verweist das Bundesverfassungsgericht auf eine Plausibilitätskontrolle durch die Gerichte.51 47

BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, Rn. 19 – BVerfGE 149, 40. 48 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, Rn. 19 – BVerfGE 149, 40; zum Spannungsverhältnis zwischen extrajuristischem Sachverstand und gerichtlicher Kontrolle, Kamil Abdulsalam, JöR 69 (2021), S. 491 ff. 49 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, Rn. 23 – BVerfGE 149, 40. 50 Dies dürfte daran liegen, dass für den Gesetzgeber nicht immer von vornherein erkennbar sein wird wo sich fachwissenschaftliche Lücken verbergen. Darüber hinaus ist der wissenschaftliche Stand dynamisch. Vermeintliche sichere Erkenntnisse können in der Folgezeit als überkommen gelten, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, Rn. 23 a. E. – BVerfGE 149, 40. 51 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, Rn. 25 – BVerfGE 149, 40.

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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Daneben enthält die Entscheidung auch Ausführungen zu der Aufgabe des Gesetzgebers bei wissenschaftlichen Letztentscheidungsrechten, die aufgrund des Erreichens der objektiven Funktionsgrenzen der Gerichtsbarkeit anerkannt werden. Letztentscheidungsrechte der Exekutive, die aufgrund der Funktionalität der Gerichte anerkannt werden, sollen gegenüber Letztentscheidungsrechten, die aufgrund der normativen Ermächtigungslehre anerkannt werden, nicht dauerhaft Geltung beanspruchen. Die Einschätzungsprärogative dient nur der Überbrückung wissenschaftlicher Defizite. Grundsätzlich muss der Gesetzgeber bereits im Vorfeld etwaige Funktionshindernisse der Gerichtsbarkeit beseitigen, indem er untergesetzliche Maßstäbe für die Verwaltungsentscheidung implementiert, die sodann kontrollierbar sind. Anderenfalls korreliere ein anderweitiges Vorgehen mit den materiellen Grundrechten und dem Wesentlichkeitsgrundsatz. Dabei können kurzfristige Erkenntnislücken in der Wissenschaft im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG noch tolerierbar sein. Hingegen erfordern langfristige Erkenntnislücken ein Tätigwerden des Gesetzgebers in der Art, dass er für die untergesetzliche Maßstabsbildung fachkundige Gremien zur Festlegung einheitlicher Maßstäbe oder Methoden bemüht oder als Mindestmaßnahme Regeln für die behördliche Entscheidung zwischen mehreren vertretbaren Ansichten festlegt.52 2. Fallgruppen Mittlerweile hat sich eine bemerkenswerte Kasuistik herausgebildet, welche in verschiedene Fallgruppen eingeteilt werden kann.53 a) Administrative Gestaltungsfreiheit Unter die Fallgruppe der administrativen Gestaltungsfreiheit fallen politischwertende, planerische und prognostische Verwaltungsentscheidungen.54 Darunter können vor allem auch Verwaltungsentscheidungen fallen, die von der kommuna-

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BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, Rn. 24 – BVerfGE 149, 40. 53 Vgl. Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 48 ff.; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 32 ff.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 59, 76; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn. 66 ff.; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 314 ff.; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 125, 127; zur Handhabung durch die Rechtsprechung, BVerwG, Urteil vom 23. 06. 1993  – 11 C 12.92, BVerwGE 92, 340; Wolff, in: Sodan /  Ziekow, § 114 Rn. 312 ff., 316; im Rahmen von administrativen Letztentscheidungsermächtigungen typologisch differenzierend vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art.  19 Abs.  4 Rn. 191. 54 Vgl. Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 54 f., 57; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 32, 34; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 60 ff.; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor. § 113 Rn. 6; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 317, 345, 350.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

len Selbstverwaltung geprägt sind.55 Des Weiteren können auch Entscheidungen mit planerischem Einschlag mit einer Beurteilungsermächtigung zu Gunsten der Verwaltungsbehörde durch den Gesetzgeber versehen werden, insbesondere dann, wenn die Abwägung politisch oder fachwissenschaftlich beeinflusst wird.56 Nach der Rechtsprechung muss für die Anerkennung eines Beurteilungsspielraums bei einer prognostischen Verwaltungsentscheidung ein politisches oder fachwissenschaftliches Element innerhalb des Abwägungsvorgangs hinzutreten.57 b) Funktionsgrenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit Beurteilungsspielräume können auch daraus erwachsen, dass die Rechtsprechung an ihre Funktionsgrenzen stößt und eine vollumfängliche Überprüfbarkeit durch die Gerichte nicht gewährleistet werden kann. Dies ist dann anzunehmen, wenn die Entscheidung dysfunktional oder schlichtweg unmöglich ist.58 Unter diese Fallgruppe fallen vor allem Prüfungs- und Beurteilungsentscheidungen sowie hochkomplexe Verwaltungsentscheidungen.59 Zwar können im Rahmen der judikativen Kontrolle von Prüfungsentscheidungen wissenschaftliche Aspekte gerichtlich bewertet werden, prüfungsspezifische Wertungen hingegen, die aus der nicht rekonstruierbaren Prüfungssituation stammen und in der sich alle Prüfungskandidaten befanden, müssen der gerichtlichen Überprüfbarkeit verwehrt bleiben, nicht nur, um zuletzt die Chancengleichheit der anderen Prüfungskandidaten zu bewahren.60 Verwaltungsentscheidungen mit Beurteilungscharakter oder Verwal 55 Zum öffentlichen Zweck eines kommunalen Wirtschaftsunternehmens, BVerwG, Urteil vom 22. 2. 1972 – I C 24.69, BVerwGE, 39, 329/334; Bedürfnis zum Anschlusszwang, OVG Lüneburg, DVBl. 1991, S. 1004; m. w. N. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 61; Wolff, in: Sodan /  Ziekow, § 114 Rn. 334, 345; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 54 f. 56 Zur „geordneten städtebaulichen Entwicklung“ BVerwG, Urteil vom 30. 06. 1964 – I C 79.63, BVerwGE 19, 82/86; zum „städtebaulichen Missstand“ NVwZ 2010, S. 1490; zur „naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative“ BVerwG NVwZ 2001, S. 92; m. w. N. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 62; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 51, 57; Wolff, in: Sodan /  Ziekow, § 114 Rn. 342, 350; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 32 a. E. 57 BVerwG, Urteil vom 11. 12. 2008 – 7 C 6.08; BVerwGE 132, 372; BVerwG, Urteil vom 29. 01. 1991  – 4 C 51.89, BVerwGE 87, 332; BVerwG, Urteil vom 19. 01. 1989  – 7 C 31.87, BVerwGE 81, 185; m. w. N. Redeker, in: Redker / von Oertzen, § 114, Rn. 54; Rennert, in: ­Eyermann, § 114 Rn. 64; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 319. 58 Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 67; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 329, 332, 342; Redeker, in: Redeker  / von Oertzen, § 114 Rn. 56; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 34; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn.  60. 59 Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 68 ff.; zu hochkomplexen Verwaltungsentscheidung, Komplexität einer Verwaltungsentscheidung an sich nicht ausreichend, vielmehr muss diese Verwaltungsentscheidung in allen Einzelheiten hochkomplex sein vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. 4. 1991 – 1 BvR 419/81 und 213/83, BVerfGE 85, 36; BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992 – 1 BvR 167/87, BVerfG 88, 40; a. A. Gärditz, NJW-Beilage 2016, 41, 44. 60 BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991  – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34; BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991 – 1 BvR 1529/84, 1 BvR 138/87, BVerfGE 84, 59; BVerwG,

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tungsentscheidungen von hoher Komplexität erfordern grundsätzlich mangels der gesetzlichen Determination eine wertende Erkenntnis durch die Exekutive, sodass auch hier eine beschränkte gerichtliche Überprüfung geboten ist.61 Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, dass die gerichtliche Kontrolle aufgrund der Nachvollziehbarkeit der hochkomplexen Verwaltungsentscheidung an ihre Grenzen stößt.62 c) Autonome Kollegialorgane Wegen der gesetzlichen Einräumung einer weisungsunabhängigen Position durch den Gesetzgeber wird besonders fachkundigen Kollegialorganen ein Beurteilungsspielraum bei ihrer Entscheidungsfindung gestattet, sodass die spezifische Rationalität, die durch pluralistische Aufstellung dieser Organe, welche durch die Meinungsvielfalt in der jeweiligen Materie gewährleistet ist, nicht ad absurdum geführt wird.63 3. Verwaltungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab Die Beantwortung der Frage, wie die beschränkte Kontrollintensität durch die Gerichte aufgrund des Beurteilungsspielraums der Verwaltung ausgestaltet wird, lässt sich nur unter Schwierigkeiten für alle Fallgruppen (A. I. 2. a)–c)) einheitlich bestimmen. Maß und Reichweite des Prüfungsprogramms der Gerichte werden durch das dem Beurteilungsspielraum zugrundeliegende Fachgesetz beeinflusst.64

Urteil vom 09. 12. 1992 – 6 C 3.92, BVerwGE 91, 262; BVerwG, Urteil vom 24. 02. 1993 – 6 C 35.92, BVerwGE 92, 132; BVerwG, Urteil vom 12. 7. 1995 – 6 C 12.93, BVerwGE 99, 74; BVerwG, Beschluss vom 08. 03. 2012 – 6 B 36.11, NJW 2012, 2054; BVerfG, Beschluss vom 21. 12. 2009 – 1 BvR 812/09, NJW 2010, 1062; BVerwG, Bechluss vom 28. 06. 2018 – 2 B 57.17, JuS 2018, 1056; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 68 f.; Redeker, in: Redeker / von ­Oertzen, § 114 Rn. 49; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 338 ff.; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 32. 61 Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 32; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 332; Redeker, in: ­Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 56; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art.  19 Abs.  4 Rn. 184. 62 BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991  – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 85, 36; BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992 – 1 BvR 167/87, BVerfGE 88, 40; vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 71; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rn. 184a. 63 BVerwG, Urteil vom 16. 12. 1971 – I C 31.68, BVerwGE 39, 197; vgl. auch Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 33; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 53; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 73; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 331; Schenke / Ruthig, in: Kopp / Schenke § 114 Rn. 25. 64 BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992 – 1 BvR 167/87; NVwZ 1993, S. 666; BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34; BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991  – 1 BvR 1529/84; vgl. Schmidt-Aßmann / Groß, NVwZ 1993, S. 617, 618, ­Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 38; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 77; Schenke /  Ruthig, in: Kopp / Schenke, § 114 Rn. 28a; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 353.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

Strukturell würden Gemeinsamkeiten mit der Ermessensfehlerlehre65 und der Abwägungsfehlerlehre im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle bestehen.66 Dem Gericht ist es untersagt, eigene Beurteilungen an die Stelle der Beurteilung der Verwaltung zu setzen. Es hat lediglich die Beurteilung der Verwaltung auf die Einhaltung ihrer rechtlichen Grenzen nachträglich zu kontrollieren.67 Der uneingeschränkten Prüfung durch die Verwaltungsgerichte unterliegt jedenfalls für alle Fallgruppen, ob die maßgeblichen Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind und ob eine rechtsfehlerfreie Auslegung des Gesetzes durch die Behörde erfolgt ist. Des Weiteren ist zu überprüfen, ob eine vollständige und richtige Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes vorangegangen ist.68

II. Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht In der Literatur wird allgemein davon ausgegangen, dass das europäische Verwaltungsrecht nicht zwischen dem Beurteilungsspielraum auf Tatbestandsebene und dem Ermessen auf Rechtsfolgenebene unterscheide.69 Die mangelnde Differenzierung zwischen Tatbestand und Rechtsfolge führe mithin zu einem einheitlichen und weitergehenden Letztentscheidungsrecht der Verwaltung sowie auf Ebene der gerichtlichen Kontrolle zu einem einheitlichen Prüfungsmaßstab der Judikative, woran letztlich eine Qualifikation als Beurteilungsspielraum nach deutschem Verständnis an dieser dogmatischen Unebenheit scheitere.70 Insoweit würde das europäische Verwaltungsrecht Parallelen zu der französischen Verwal 65

Schenke, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 772; Herdegen, JZ 1991, S. 747. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 77. 67 Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 77; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 353 ff. 68 Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 56, 77 ff.; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 353 ff. 69 Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; Schoch, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 40 f.; Otting / Olgemöller AnwBl. 2010, S. 155, 161; Huber, NVwZ 2014, 293, 294; Schroeder / Sild, EuZW 2014, S. 12, 13; Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 247; Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht, S. 15; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielräume, S. 390 f.; Schwarze, in: Schwarze / Schmidt-Aßmann, Das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle im Wirtschafts- und Umweltrecht, 1992, S. 203 ff., 270 ff.; Schwarze, NVwZ 2000, S. 241, 249; Adam, Kontrolldichte-Konzeption, S. 197 ff.; Rausch, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 238 ff.; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 191; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR. Rn.  216; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 165, 167; Zuleeg / Kadelbach, in: Schulze / Zuleeg / Kadelbach, § 8, Rn.  41; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 361; Kreifels, Die Prioritätensetzung der Europäischen Kommission beim Aufgreifen kartellrechtlicher Fälle, S. 24 f. 70 Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor § 113 Rn. 32; Schmidt-Aßmann, in: Schoch /  Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 191 dahingehend Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 247; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 589 ff.; Götz, DVBl. 2002, S. 1, 4; Saurer, Die Rechtsstellung des Einzelnen im europäisierten Verwaltungsprozess, S. 381. 66

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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tungsrechtsordnung aufweisen.71 Sofern vereinzelt72 am Beispiel der RheingoldEntscheidung vorgebracht werde, dass der Europäische Gerichtshof inzwischen die Unterscheidung zwischen Beurteilungsspielraum und rechtsfolgenbezogenem Ermessen übernommen hätte, werde eingewandt, dass sich angesichts der Übersetzungsschwierigkeiten und der daraus resultierenden unpräzisen Terminologie eine Verallgemeinerung verbiete.73 1. Resultierende Problemkumulation Das dem Beurteilungsspielraum als wichtiges gesetzgeberisches Instrument innewohnende Konfliktpotential, insbesondere in Bezug auf das Verhältnis der Gewalten untereinander, sorgt für weitere Streit- und Diskussionspunkte, die im Rahmen der Erörterung von Beurteilungsspielräumen im Europäischen Verwaltungsrecht zwingend darstellungsbedürftig sind. a) Einschränkung gerichtlicher Kontrolldichte durch das Unionsrecht Auf Grundlage des dargestellten Meinungsstandes wird vertreten, dass justiziable Freiräume der Exekutive – teilweise auch unter Verwendung anderer Terminologien74 – in bestimmten Referenzgebieten des europäischen Verwaltungsrechts und im Eigenverwaltungsrecht der Europäischen Union bestehen,75 die zu einer reduzierten gerichtlichen Kontrollintensität exekutiver Entscheidungen führen würden.76 71 Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor. § 113 Rn. 32; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 589 ff.; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 253, 257 ff. 72 Zu EuGH, Urteil vom 10. 10. 1985 – Rs. 183/84 – Rheingold – Slg. 1985, S. 3352, 3354, vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 368 f. 73 Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  32; Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht, S. 14 f.; Schroeder / Sild, EuZW 2014, S. 12, 23. 74 v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 362; Dervisopoulos, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes, in: der Europäischen Union, 1. Teil 2. Abschnitt § 7 Rn. 103. 75 Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor. § 113 Rn. 30 ff.; Schwarze, DVBl. 2010, S. 1325, 1326; Schwarze, Strenge richterliche Verfahrenskontrolle bei weitem administrativem Ermessen, in: FS Heribert Franz Köck, S. 321; Schwarz, in: Fehling / Kastner / Strömer, § 114 Rn. 68; Classen, in: Schulze / Zuleeg / Kadelbach, § 4 Rn.  36; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 190; Dörr, in: Sodan / Ziekow, Einl. EVR Rn. 236; mit Zurückhaltung Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; a. A. Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80. 76 Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor § 113 Rn. 30, 32; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 190; U. Everling, WuW 1989, S. 877; Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 247; Pache DVBl. 1998, S. 380, 384 ff.; im Rahmen der Kontrollintensität zwischen direktem und indirektem Vollzug unterscheidend vgl. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 165 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn. 131; vgl. auch Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 220.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

Daran schließt sich die Frage an, ob mit der unionsrechtlichen Anerkennung von justiziablen Freiräumen das Kontrolldichteprogramm der nationalen Gerichte diktiert werden könne.77 Im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes, welches sowohl im Unionsrecht (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV, Art. 47 GRCh) als auch im deutschen Recht (Art. 19 Abs. 4 GG) verankert ist, bestehe die Möglichkeit der Herstellung eines Konsens hinsichtlich der Etablierung eines Mindestmaßes an gerichtlicher Kontrolle.78 Allerdings werde auch vorgebracht, dass aufgrund der Einschränkbarkeit von Art. 47 GRCh (Art. 52 Abs. 1 GRCh) ebenfalls die Möglichkeit bestehe, justiziable Freiräume der Exekutive im Rahmen des Unionsrechts anzuerkennen.79 Dagegen werde angeführt, dass sich in Bezug auf justiziable Freiräume in den jeweiligen Referenzgebieten eine verallgemeinernde rechtliche Einordung verbiete, da es sich lediglich um vereinzelte fachrechtliche Besonderheiten handle, die differenziert in ihrem jeweiligen Regelungskontext zu diskutieren seien, und kein unionsrechtliches Gebot bestehe, die gerichtliche Kontrolldichte dahingehend einzuschränken.80 Sofern der Europäische Gerichtshof im Telekommunikationsrecht81 Entscheidungsspielräume der Verwaltung gefordert hätte, beträfe dies lediglich das Verhältnis der Regulierungsbehörden zur Legislative und nicht zur Judikative.82 Von der unionsrechtlich anerkannten Autonomie der Re 77

Ohne auf diese Frage einzugehen, BVerwG Urteil vom 02. 08. 2008,  – 6 C 15/07, BVerwGE 131, 41; ebenfalls undifferenziert BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 − 1 BvR 1932/08; DÖV 2012, S. 282; bejahend und Lösungsvorschläge darstellend Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 218 f.; bejahend für das Telekommunikations- und Kartellrecht Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1163 f.; a. A. und m. w. N., Gärditz, DVBl. 2016, S. 399, 404; Dörr, DVBl. 2002, S. 1, 4 f.; Schoch, Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, S. 507, 522 ff. 78 Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 216; daraus könne ein Mindestmaß gerichtlicher Kontrolle entnommen werden, so Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1163, Kment, JuS 2015, S. 193, 196. 79 Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 216. 80 Mit Beispielen aus dem Migrations- und Regulierungsrecht, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; kritisch hinsichtlich des Regulierungsrechts, derselbe, NVwZ 2009, S. 1005, 1007; vgl. nur für das Umweltrecht Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1162 f.; Vallendar, UPR 2010, S. 1, 6; Zurückhaltung fordernd und sektorale Besonderheit hervorhebend Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn. 131 a. E.; zum unionsrechtlichen Gebot, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; vgl. auch Schoch, NVwZ 1999, S. 457, 466; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  220 f.; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; a. A. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Europäischen Union, 1996, S. 407 ff.; Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine des europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 176 ff. 81 EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 Rs. C-424/07 –Kommission / Deutschland; hierzu kritisch Gärditz, JZ 2010, S. 198 ff. 82 Gärditz, DVBl. 2016, S. 399, 404; derselbe, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; derselbe, Die Verwaltung 46 (2013), S. 257, 272 f.; Ludwigs, Die Verwaltung 44 (2011), S. 41, 68 f.; derselbe, RdE 2013, S. 297, 298; derselbe, in: Säcker / Schmidt-Preuß, Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, S. 251, 265; ­Pielow, in: Baur / Salje / Schmidt-Preuß, Regulierung, in: der Energiewirtschaft, Kapitel 56 Rn. 59.

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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gulierungsbehörde dürfe nicht zwingend auf die Beschränkung des gerichtlichen Kontrolldichteprogrammes geschlossen werden.83 Vor allem drohe das deutsche und unionsrechtlich bekannte Gebot der Rechtsschutzeffektivität unterlaufen zu werden. Darüber hinaus würde die Ausgestaltung der Kontrolldichte nach allgemeinen Grundsätzen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten unterliegen.84 Soweit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs den Anlass zur Annahme eines Rückgangs gerichtlicher Kontrolldichte geben, könne hilfsweise angeführt werden, dass aufgrund der Entscheidung über die ausschließlich aufgeworfenen Fragen im konkreten Verfahren eine Verallgemeinerung nur mit gebotener Zurückhaltung zu interpretieren sei. Ein fallübergreifender Informationsanspruch liege in der Regel nicht vor.85 b) Unionsrechtliche Grundsätze versus Verfahrensautonomie Weiterhin wird diskutiert, dass allgemein anerkannte europarechtliche Grundsätze die Rücknahme der Kontrolldichte auf deutscher Ebene rechtfertigen würden. Danach werde der unionsrechtliche Einfluss auf das deutsche Kontrolldichteprogramm anerkannt, soweit es dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz (Art. 4 Abs. 3 EUV) Rechnung trage.86 Die Gegenansicht führt an, dass die Ausgestaltung der Kontrolldichte nach allgemeinen Grundsätzen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten unterliege.87

83 Gärditz, DVBl. 2016, S. 399, 404; derselbe, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; Ludwigs, RdE 2013, S. 297, 301; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I § 10, Rn. 54 a. E. 84 M. w. N. Gärditz, DVBl. 2016, S. 399, 404; derselbe, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; derselbe, NVwZ 2009, S. 1005, 1008; Heller, EWerk 2012, S. 50, 53; Ludwigs, Die Verwaltung 44 (2011), S. 41, 68; derselbe, JZ 2009, S. 290, 294; derselbe, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; K. Bosch, Die Kontrolldichte der gerichtlichen Überprüfung von Marktregulierungsentscheidungen der Bundesnetzagentur nach dem Telekommunikationsgesetz, S. 115 ff. 85 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  211c; Thym, DÖV 2014, S. 941, 942 f.; Everling, EuR 1994, S. 127, 136 ff.; M. Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im europä­ ischen Privatrecht, S. 53 ff. 86 Soweit es dem Effektivitätsgrundsatz Rechnung trägt Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 216; Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtschutzes, S. 55; allgemein vgl. Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 206 ff.; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 381. 87 Gärditz, DVBl. 2016, S. 399, 404; derselbe, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 81; derselbe, NVwZ 2009, S. 1005, 1008; Ludwigs, Die Verwaltung 44 (2011), S. 41, 61; derselbe, JZ 2009, S. 290, 294; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 172 f.; K. Bosch, Die Kontrolldichte der gerichtlichen Überprüfung von Marktregulierungsentscheidungen der Bundesnetzagentur nach dem Telekommunikationsgesetz, S. 115 ff.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

c) Normative Programmierung des Unionsrechts Des Weiteren wird vorgebracht, dass schon der Regelungscharakter unionsrechtlicher Normen auf eine Reduktion gerichtlicher Kontrollintensität ausgelegt sei und zu einem Spannungsverhältnis zwischen dem deutschen Recht und dem Unionsrecht führe.88 Die unionsrechtliche Rechtssetzung würde final programmierte gegenüber konditional programmierten Normen präferieren, sodass sich im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle die Tendenz, Beurteilungsspielräume anzunehmen, verdichten würde.89 Vor allem lasse sich eine Übertragung dieser Programmierung auf nationaler Regelungsebene nicht ohne weiteres umsetzen.90 Insoweit würde die finale Rechtsetzung zu einer Zuweisung von justiziablen Freiräumen der Exekutive führen, um die Bewältigung gesetzgeberischer Vorgaben zu gewährleisten. Dadurch entscheide die Exekutive über das „Ob“ und „Wie“ der Zielerreichung. Bei der konditionalen Rechtssetzung, die dem tradierten deutschen Rechtsetzungsverständnis entspreche, ergebe sich das „Ob“ und „Wie“ der Zielerreichung unmittelbar aus dem Gesetz, da die Handlungspflicht der Verwaltung nur bei der Erfüllung verschiedener Tatbestandsmerkmale bestehe.91 Im Rahmen final-normativer Programmierung bestehe mithin eine geringere Gesetzesbindung der Exekutive.92 Diese Normstrukturierung finde sich aufgrund der gesetzgeberischen Intention, besondere Zielvorgaben zu verwirklichen, insbesondere im Umwelt- und Regulierungsrecht wieder.93 Darüber hinaus sieht sich das deutsche Verwaltungsrecht dem Vorwurf ausgesetzt, dass durch die normative Programmierung des Unionsrechts ein Rückgang materieller Maßstäbe für 88

Mit Lösungsansätzen zur Auflösung des Spannungsfeldes siehe Siegel, Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Rn. 231 f. 89 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 81; Saurer, Die Rechtstellung des Einzelnen im europäisierten Verwaltungsprozess, S. 381; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  218 ff.; Breuer, AöR 127 (2002), S. 523 ff.; derselbe, NVwZ 2004, S. 520, 523 ff.; derselbe, NVwZ 1997, S. 833, 837 ff.; Heydemann, in: FS Ehlers, S. 453, 461; Fonk, DVBl. 2010, S. 626 ff.; Hansmann, NVwZ 2006, S. 51, 52 ff.; Mit Blick auf das jeweilige Fachgesetz vgl. Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 217; Siegel, Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Rn. 231 f.; allgemein zur konditionalen Programmierung des Rechts N.  Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1999, S. 140 ff., 275 ff., 396 f. 90 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 80; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  218 ff. 91 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  218 f.; Breuer, AöR 127 (2002), S. 523 ff.; derselbe, NVwZ 2004, S. 520, 523 ff.; derselbe, NVwZ 1997, S. 833, 837 ff.; Heydemann, in: FS Ehlers, S. 453, 461; Fonk, DVBl. 2010, S. 626 ff.; Hansmann, NVwZ 2006, S. 51, 52 ff.; allgemein zur konditionalen Programmierung des Rechts N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1999, S. 140 ff., 275 ff., 396 f. 92 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  219; Hwang, AöR 136 (2011), S. 553, 561. 93 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  218 f.; Hansmann, NVwZ 2006, S. 51, 52 ff.; Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 216; Siegel, Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Rn. 232; Breuer, NVwZ 2004, S. 520, 523 ff.

A. Beurteilungsspielraumdogmatik und Problemstellung

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die Exekutive in unionsrechtlich beeinflussten Bereichen zu verzeichnen sei und vermehrt formelle Maßstäbe installiert würden, die bei Einhaltung die Richtigkeit der behördlichen Entscheidung gewährleisten sollen.94 2. Weitere Probleme des Europäischen Verwaltungsrechts Von dem literarischen Meinungsstand abgekoppelt ergeben sich weitere Differenzen und Defizite des europäischen Rechts. a) Europäisches Rechtsetzungssystem Ein grundlegender und problembereitender Unterschied ist zunächst der Umstand, dass im europäischen Rechtsetzungssystem das Sekundärrecht verschiedene Adressaten besitzt.95 Im Rahmen des Richtlinienrechts steht zwischen der vollziehenden Behörde und dem Unionsgesetzgeber noch der jeweilige Mitgliedstaat, den die Verpflichtung trifft, das europäische Richtlinienrecht mittels Gesetzgebungsorganen in nationales Recht umzusetzen.96 Europäische Verordnungen hingegen gelten unmittelbar und werden ohne Umsetzung in nationales Recht von der zuständigen Behörde vollzogen. b) Terminologische Präzisionslosigkeit Darüber hinaus ist unabhängig von dogmatischen Begrifflichkeiten und mithilfe der Erarbeitung einer systematischen Struktur die Identifizierung von Differenzen im europäischen Verwaltungsrecht vorzunehmen, da in der Rechtsprechungslinie der europäischen Gerichtsbarkeiten zumindest keine begriffliche Unterscheidung von Ermessen und Beurteilungsspielraum wahrnehmbar ist.97 Sollte sich insbesondere in Judikaten der europäischen Gerichte die Verwendung von Termini wie „Ermessensbefugnis“, „Ermessen“, „Beurteilungsbefugnis“, „Beurteilungsspielraum“, „Gestaltungsspielraum“, „Prognosespielraum“ und „Abwägungsspielraum“ 94

Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn. 220; zur Prozeduralisierung Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 83 ff. 95 Grundsätzlich Reimer, JZ 2015, S. 910 ff. 96 Siehe Reimer, JZ 2015, S. 910, 912 f. 97 Im Bereich von Abgaben und Zöllen: EuGH, Urteil vom 10. 10. 1985 – Rs. 183/84 – Rheingold – Slg. 1985, S. 3352, 3354; im Kartellrecht: EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998 – Rs. C-68/94; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005, Rs. C-12/03; EuG, Urteil vom 25. 03. 1999 – T-102/96, Slg. II 1999, 753; EuG, Urteil vom 06. 06. 2002  – T-342/99, Slg. II 2002, 2585; EuG, Urteil vom 13. 05. 2015 – Rs. T-162/10, WuW 2015, 128; im Umweltrecht: EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-141/14, NuR 2016, 112; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2001 – Rs. C-67/99; EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

wiederfinden, ist eine präzise Untersuchung im Hinblick auf die systematische Herleitung der Freiräume geboten, um eine Struktur innerhalb der Rechtsprechung zu erarbeiten, da eine sprachliche Einordnung aufgrund der uneinheitlichen Handhabe der Terminologie durch die europäischen Gerichte zu indifferenten Ergebnissen führen würde. Sofern Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit der Analyse der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs stehen, sind diese im Hinblick auf den Vorwurf, dass der Europäische Gerichtshof zu einzelfallbezogenen Aussagen tendiere,98 genauer zu untersuchen, um daraus allgemeine Erwägungen ableiten zu können.

III. Forschungsfragen Unter Berücksichtigung der Diskussion in der Literatur und des Standes der Rechtsprechung entwickeln sich folgende wissenschaftliche Fragstellungen, die im Rahmen der Untersuchung aufzuarbeiten sind. 1. Analyse des europäischen Spielraumkonzepts Existieren im Europäischen Verwaltungsrecht Beurteilungsspielräume der Exekutive in Form von justiziablen Freiräumen, die im Rahmen der Rechtsetzung auf der Tatbestandsebene angesiedelt sind, oder existieren justiziable Freiräume lediglich in Form von einheitlichen Letztentscheidungsrechten der Exekutive, die weder zwischen Tatbestands- noch Rechtsfolgenebene unterscheiden? Können derartige unionale Letztentscheidungsrechte / Beurteilungsspielräume zu methodisch und kompetenziell eingegrenzt werden? 2. Europäische Letztentscheidungsrechte im Gesetzgebungssystem Sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Adressaten des europä­ ischen Sekundärrechts im Rahmen des Transformationsprozesses faktisch als Exekutivorgan anzusehen, sodass justiziable Freiräume in Form von Beurteilungsspielräumen oder in Form von einheitlichen Letztentscheidungsrechten nur an diese gerichtet sind und ausschließlich die Ausgestaltung des Transformationsprozesses betreffen, oder handelt es sich um justiziable Freiräume, die im Wege des Transformationsprozesses obligatorisch der Behörde zugewiesen werden müssen? Wie sind legislative Letztentscheidungsrechte von administrativen Letztentscheidungsrechten zu unterscheiden?

98

Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  211c; M. Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht, S. 53 ff.

B. Gang der Untersuchung

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3. Europäische Letztentscheidungsrechte im System der Judikative Führt die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen oder einheitlichen Letztentscheidungsrechten der Exekutive im europäischen Verwaltungsrecht zur Einschränkung des deutschen verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichteprogramms? Wie verhält sich in diesem Kontext der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie? Welche Rolle haben die Rechtsschutzgarantien, Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 47 GRCh? Handelt es sich bei der Installation von administrativen und rechtsebenenübergreifenden Letztentscheidungsrechten um ein Tätigwerden des Unionsgesetzgebers, das an Art. 5 EUV zu messen ist?

4. Normprogrammierung im Kontext europäischer Letztentscheidungsrechte Ist die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen oder einheitlichen Letztentscheidungsrechten der Exekutive im europäischen Verwaltungsrecht auf die normative Programmierung des Unionsrechts zurückzuführen, in dem Sinne, dass eine Finalprogrammierung eine Konditionalprogrammierung überwiegt und dadurch Beurteilungsspielräume oder einheitliche Letztentscheidungsrechte der Exekutive installiert werden?

5. Prozeduralisierung als Quelle europäischer Letztentscheidungsrechte Ist die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen oder einheitlichen Letztentscheidungsrechten im europäischen Verwaltungsrecht und die daraus resultierende Begrenzung europäischer und eventuell nationaler Kontrolldichte auf die Prozeduralisierung unionsrechtbeeinflusster Rechtsgebiete und den Rückgang materiellen Verwaltungsrechts zurückzuführen?

B. Gang der Untersuchung Das Migrationsrecht und das Umweltrecht sind Referenzgebiete des Europä­ ischen Verwaltungsrechts, die hinsichtlich ihrer Regelungsmaterie und Regelungsziele diametral auseinandergehen. Während das europäische Umweltrecht unter anderem durch habitatschutz-, artenschutz-, und wasserrechtliche Vorgaben primär naturwissenschaftliche Akzente setzt, die mit verschiedenen planungsrechtlichen oder ordnungsrechtlichen Regelungsinstrumenten angereichert sind, ist das europäische Migrationsrecht weitgehend linear und zielt auf die Bewältigung der durch die Migration veranlasste Massenverwaltung in einem kohärenten Umfang ab.

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Teil 1: Beurteilungsspielräume im Europäischen Verwaltungsrecht 

Folglich sind beide Referenzgebiete voneinander getrennt auf die Übernahme der Beurteilungsspielraumdogmatik zu untersuchen. Zunächst werden die jeweiligen Besonderheiten des Migrationsrechts (Teil 2) und des Umweltrechts (Teil 3) und der deutschen sowie unionalen Rechtsprechung herausgearbeitet. Im Rahmen dessen werden funktionale und normative Elemente vermeintlicher Beurteilungsspielräume dargestellt und mit der deutschen Beurteilungsspielraumdogmatik abgeglichen. Nach der Identifizierung des Verbleibs eines konvergierenden Spielraumkonzepts für administrative Letztentscheidungsrechte im Migrationsrecht und der Identifizierung lediglich legislativer Letztentscheidungsrechte im Umweltrecht werden auf der Ebene des nationalen Umweltrechts begründete Verwaltungsspielräume, die angesichts der unionalen Letztentscheidungsrechte extrahiert worden sind, zusätzlich an der Beurteilungsspielraumdogmatik gemessen und im Kern erschüttert (Teil 3). Im Anschluss wurden funktionale oder positivrechtliche Ursprungsquellen herausgearbeitet und insbesondere aus deutscher Perspektive vor dem Hintergrund der deutschen Rechtsschutzdogmatik im europäischen Mehrebenensystem methodisch greifbar gemacht. Vor allem ist der Unterschied der unionsgesetzgeberischen Handhabe von legislativen und administrativen Letztentscheidungsrechten im Mehrebenensystem anhand der verschiedenen Rechtsakte zu eruieren. An dieser Stelle werden ebenfalls Parallelen zwischen den untersuchten Referenz­ gebieten dargestellt und über das Umweltrecht und Migrationsrecht hinausgehende Referenzgebiete, insbesondere das Telekommunikationsregulierungsrecht, mit entsprechenden funktionalen oder normativen Merkmalen einbezogen. Die im Migrationsrecht intendierten Kontrolldichtereduzierungspflichten durch etwaige administrative Letztentscheidungsrechte, welche ebenenübergreifend auf die nationale Judikative einwirken sollen, müssen vor dem Hintergrund der Aushöhlung des abwägungsfähigen Grundsatzes der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie sowie der unverhältnismäßigen Überschreitung unionaler Kompetenzausübungsschranken im Wege mehrdimensionaler Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisungen für den deutschen Verwaltungsvollzug diskutiert werden (Teil 4).

Teil 2

Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung Die Diversität der Interessen, welche unter dem Oberthema Migration austariert werden müssen, bildet die Grundlage für die Problematik bei der Schaffung einer abstrakt-generellen Regelungsmaterie auf europäischer Ebene, woraus das Bedürfnis einer Flexibilität der Verwaltung im Einzelfall erwächst.1 Abhängig von der Art des Sekundärrechtsakts und dem mittelbar oder unmittelbar anwendenden Adressaten, handelt es sich um administrative oder legislative Letztentscheidungsrechte, wobei bei Letzterem fraglich ist, ob dieses Letztentscheidungsrecht auf die administrative Ebene transferiert werden kann.2 In Anbetracht der einzelnen Regelungsinteressen, welche politischen, soziologischen, ordnungsrechtlichen und ökonomischen Faktoren zugrunde liegen und im Wege des mehrdimensionalen Verwaltungsrechts umgesetzt werden müssen, liegt die Komplexität der Materie auf der Hand,3 die aus einer rein legislativ-funktionellen Perspektive die Installation von Letztentscheidungsrechten, sei es auf Rechtsfolgen- oder Tatbestandsebene, begünstigt. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts eignet sich das Referenzgebiet des EU-Migrationsrechts, um Letztentscheidungsrechte herauszuarbeiten und tradierten verwaltungsrechtlichen Instituten gegenüberzustellen.

I. Bestandsaufnahme 1. VO (EG) Nr. 810/2009 (Visakodex) Mit der Entscheidung in der Rechtssache „Koushkaki“ hat der europäische Gerichtshof den gemäß Art. 4 Abs. 1 bis Abs. 4 VO EG (EG) Nr. 810/2009 (im Folgenden „Visakodex“) zuständigen Behörden im Rahmen der Entscheidung über die Beantragung eines Schengen-Visums einen weiten tatbestandlichen Entschei 1

Vgl. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 105; Wahl, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, S. 177, 190 ff. 2 Mit dieser Annahme VGH Baden-Württemberg, 22. 07. 2009  – 11 S 2289/08, Rn. 36, DÖV 2009, 920. 3 Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 105.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

dungsspielraum hinsichtlich der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 32 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 6 Visakodex zugesprochen, welcher sich ebenfalls auf die Würdigung der Tatsachen erstreckt, die zur Feststellung maßgeblich sind, ob die in diesen Bestimmungen genannten Gründe der Erteilung eines Visums entgegenstehen.4 Zusätzlich stellt der Gerichtshof fest, dass die zuständigen Behörden ein solches Schengen-Visum nur dann verweigern dürfen, wenn dem Antragsteller einer der in den Regelungen des Visakodex aufgezählten Gründe für die Verweigerung des Visums entgegengehalten werden könne.5 Zu diesen Ergebnissen kommt der Gerichtshof unter Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden in Bezug auf die Unionsvorschriften nach Wortlaut, Telos und Systematik.6 Dabei geht der Gerichtshof ebenfalls auf die Erwägungsgründe der Richtlinie ein und setzt diese in relevanten Bezug zum Sinn und Zweck der auszulegenden Vorschrift.7 Im Bereich des Visakodex beziehe sich der herausgearbeitete Spielraum auf die Beurteilung des Vorliegens der Verweigerungsvoraussetzungen des Art. 32 Abs. 1 und des Art. 35 Abs. 6 Visakodex.8 In concreto kanalisiert der Gerichtshof seine Erwägungen auf die Voraussetzung des Art. 32 Abs. 1 lit. d Ziff. (iv) Visakodex, namentlich auf das Vorliegen einer „Gefahr für die öffentliche Ordnung“, und leitet daraus universelle Überlegungen für die anderen Verweigerungsgründe des Art. 32 Abs. 1 und des Art. 35 Abs. 6 Visakodex ab.9 Im Rahmen der Feststellung, ob ein Verweigerungsgrund vorliegt, müsse die zuständige Behörde eine Beurteilung von erhöhter Komplexität vornehmen,10 die eine Prognose notwendig mache, welche besonderes Sachwissen und Erfahrungswerte der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates erfordern würde.11 Der hohe 4

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63, NVwZ 2014, S. 289, 292 (m. Anm. Huber). 5 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; dies zutreffend als problembehafteten gebundenen Anspruch qualifizierend, VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; vgl. zum gebundenen Anspruch auch BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 15, NVwZ 2016, 161. 6 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 34 ff.; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 30 ff. 7 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 34 ff.; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 30 ff. 8 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 60. 9 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56–60. 10 „[…] Einschätzung der Persönlichkeit des Antragstellers, dem Integrationsgrad seines Herkunftsstaates, der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lage des Herkunftsstaates sowie die mit der Einreise des Antragstellers verbundene Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats beziehen.“, EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 57. 11 „Solche komplexen Bewertungen erfordern eine Prognose über das voraussichtliche Verhalten des betreffenden Antragstellers und müssen u. a. auf einer vertieften Kenntnis seines Wohnsitzstaats sowie auf der Analyse verschiedener Dokumente, deren Echtheit und Wahrheitsgehalt zu überprüfen sind, und der Aussagen des Antragstellers, deren Glaubwürdigkeit zu beurteilen ist, beruhen […]“, EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 58.

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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Grad der Komplexität der behördlichen Beurteilung zeichne sich bereits an der umfangreichen Bandbreite der durch die zuständige Behörde zu verwertenden Belege gemäß Anhang II des Visakodex und der Möglichkeit der Einschätzung durch ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller gemäß Art. 21 Abs. 8 Visa­kodex ab.12 Schließlich hebt der Gerichtshof hervor, dass sich bereits eindeutig aus dem Wortlaut der Art. 21 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Visakodex ergibt, dass den zuständigen Behörden ein Beurteilungsspielraum zustehe.13 2. RL 2004/114/EG (Studenten- und Austausch-RL) In den Rechtssachen „Ben Alaya“14 und „Fahimian“15 weitet der EuGH die für den Visakodex erarbeiteten Grundsätze hinsichtlich des tatbestandlichen Entscheidungsspielraums in Bezug auf die Richtlinie 2004/114/EG16 aus. Es wird zum einen festgestellt, dass Art. 12 RL 2004/114/EG trotz der Verwendung von „kann“ im Wortlaut der Norm nach systematischer und teleologischer Auslegung kein behördliches Ermessen eröffnet.17 Darüber hinaus wird festgestellt, dass die Art. 6 und Art. 7 RL 2004/114/EG den zuständigen Behörden einen weiten Beurteilungsspielraum einräumen.18 Dieses tatbestandliche administrative Letztentscheidungsrecht erstreckt sich ebenfalls auf die Würdigung der Tatsachen, die für eine Feststellung maßgeblich sind, ob die in den genannten Artikeln aufgezählten Bedingungen erfüllt sind, darunter insbesondere für die Feststellung, ob der Zulassung des Drittstaatsangehörigen Gründe entgegenstehen, aus denen sich eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ergibt. Die Verwaltungsentscheidung nach Art. 12 RL 2004/114/EG umfasst die Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen in Art. 6 und Art. 7 RL 2004/114/EG. Dies wird mit Kompelexitätserwägungen und telelogischen Argumenten begründet. Der Entscheidung sei aufgrund der damit einhergehenden (Risiko-)Prognose eine hohe Komplexität inhärent und in teleologischer Hinsicht, insbesondere im Hinblick auf die Erwägungsgründe 14. und 15. der RL 2004/114/EG,19 sei ein weiter Beurteilungsspielraum der zuständigen Behörde erforderlich.20 12

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 59. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61. 14 EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya. 15 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian. 16 Studenten- und Austausch-RL RL 2004/114/EG des Rates vom 13. 12. 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst, ABl. L 375 vom 23. 12. 2004, S. 12–18. 17 EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 36. 18 EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014  – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 33; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 50. 19 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 50; so auch schon EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Rn. 61 Koushkaki. 20 EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014  – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 35; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 44. 13

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

Schließlich geht der EuGH in der Rechtssache „Fahimian“ ausführlicher auf die gerichtliche Kontrolldichte ein. Dabei stellt der Gerichtshof fest, dass die gerichtliche Kontrolle auf offenkundige Fehler begrenzt sei und dahingehend kontrolliert werden müsse, ob die Verfahrensgarantien gewahrt worden sind. Zu den Verfahrensgarantien gehöre die Verpflichtung der Behörden, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, sowie die Verpflichtung, ihre Entscheidung hinreichend zu begründen, um dem nationalen Gericht im Rahmen des Rechtsbehelfs nach Art. 18 Abs. 4 RL 2004/114/EG die Prüfung zu ermöglichen, ob die für die Ausübung des administrativen Letztentscheidungsrechts maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben.21 3. Weitere EU-Migrationsrechtsakte auf Sekundärrechtsebene Ebenfalls räumt der EuGH in anderen Sekundärrechtsakten Letztentscheidungsrechte ein. Betrachtet man die RL 2003/86/EG (sog. FamilienzusammenführungsRL),22 EG/109/2003 (sog. Daueraufenthalts-RL),23 2009/50/EG (sog. Hochqualifizierten-RL)24 oder RL 2001/40/EG (sog. Rückführungs-RL),25 so werden bereits aufgrund der normativen Beschaffenheit einzelner Regelungen rechtsfolgenbezogene (legislative)  Letztentscheidungsrechte sichtbar,26 welche partiell durch den EuGH bestätigt wurden.27 Trotz der nur in unterdurchschnittlichem Umfang bestehenden Judikatur des EuGH hinsichtlich der entsprechenden Richtlinien judizierte der Gerichtshof in der Rs. „Khachab“, dass die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Antragsvoraussetzungen gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. c Familienzusammenführungs-RL oder des Integrationskriteriums gemäß Art. 4 Abs. 1 UAbs.  2 Familienzusammenführungs-RL über tatbestandliche Letztentscheidungsrechte verfügen, welche jedoch eine erhebliche Begrenzung durch die GRCh erfahren.28 4. Primärforschungsgegenstand Gemessen an den Entscheidungen in den Rs.  „Koushkaki“ und „Fahimian“ wird die mangelnde Begründung des tatbestandlichen Letztentscheidungsrechts in der Rs. „Khachab“ evident. Bei der für den Untersuchungsfortgang erheblichen 21

EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46. ABl. L 251 vom 03. 10. 2003, S. 12–18; Art. 6 und Art. 16. 23 ABl. L 16 vom 23. 01. 2004, S. 44–53; Art. 6, 9, 12, 17, 18 und 22. 24 ABl. L 155 vom 18. 06. 2009, S. 17–29; Art. 5, 10, 11. 25 ABl. L 149 vom 02. 06. 2001, S. 34–36; Art. 3, 6, 7. 26 Vgl. ebenfalls Wedel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 125. 27 Bezüglich Art. 16 Abs. 1 Familienzusammenführungs-RL bestätigend, EuGH, Urteil vom 21. 04. 2016 – Rs. C-558/14, Rs. Khachab, Rn. 38. 28 EuGH, Urteil vom 06. 12. 2012 – Rs. C-356/11, Rs. C-357/11, O. und S. Rn. 82; EuGH, Urteil vom 21. 04. 2016 – Rs. C-558/14, Khachab, Rn. 27 ff. 22

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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Begründung des offensichtlich legislativen Letztentscheidungsrechts handelt es sich vermutlich um den Verbleib der (Rest-)Souveränität der Mitgliedstaaten in den entsprechenden Angelegenheiten. Für den Bereich der Daueraufenthalts-RL, Hochqualifizierten-RL und der Rückführungs-RL stellt die fehlende Deduktion des EuGH eine unzureichende Forschungsgrundlage dar. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Urteile in den Rs. „Koushkaki“, „Fahimian“ und „Ben Alaya“. Dies liegt zum einen daran, dass sich die europäische Migrationsrechtsprechung im Bereich der Letztentscheidungsrechte lediglich auf diese Judikate erstreckt, und zum anderen an der argumentationskonstituierenden Bedeutung der Rechtsprechung für die Ansicht, die einen Beurteilungsspielraum behauptet.29 Die umfassende rechtliche Stellungnahme des Gerichtshofs zu den Letztentscheidungsrechten bietet jedoch ein geeignetes Fundament für den Versuch, eine Dogmatik des unionsrechtlichen Beurteilungsspielraumes herauszuarbeiten.

II. Differenzierungsversuch unter Heranziehung deutscher Parameter Fraglich ist, ob die von dem Gerichtshof identifizierten administrativen Letztentscheidungsrechte im Visakodex und der RL 2004/114/EG in ihrer Grundkonstruktion dem Teil der Dichotomie deutscher Verwaltungsrechtsdogmatik zuzuordnen sind, welcher auf die Beurteilungsspielräume zutrifft.30 Die Verwendung des Terminus „Beurteilungsspielraum“ in der deutschen Übersetzung kann, wie bereits aufgezeigt, höchstens als Indiz für diese Überlegung herangezogen werden.31 Vielmehr müssten im Wege der normtheoretischen Würdigung und der Auslegung des materiellen Rechts32 oder durch andere wissenschaftliche Überlegungen wesentliche Charakteristika des nationalgeprägten Beurteilungsspielraums sichtbar 29

BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015  – 1 C 37/14 Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; BVerwG, Beschluss vom 06. 04. 2016 – 1 B 22/16 –, Rn. 4, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05. 04. 2017 – OVG 3 B 20.16 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 05. 2019 – 3 B 64.18 –, Rn. 30, juris; nun als nationalen Modus bezeichnend VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 30 Zur Dichotomie Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2, Rn. 12; Reuss, DVBl. 1953, S. 649 ff.; Bachof, JZ 1955, S. 97 ff.; Ule, in: GS Jellinek, 1955, S. 309 ff.; Jesch, AöR 82 (1957), S. 163 ff.; zustimmend OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, juris; VG Berlin, Urteil vom 08. 09. 2017 – 19 K 414.17 V –, juris. 31 Siehe Teil  1 A. II. 2. b). 32 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2, Rn. 45 a. E.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, § 10 Rn. 61 f.; BVerwG, 13. 12. 1979  – 5 C 1.79, BVerwGE 59, 213; BVerwG, 07. 10. 1975 – I C 16.73, BVerwGE 72, 195; vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 303 ff.; Schmidt-Aßmann, Das Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 218 f., Rn. 67 f.; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 30.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

werden, die eine dogmatische Grenzziehung zwischen Beurteilungsspielraum oder Ermessen innerhalb des Unionsrechts ermöglichen. Aufgrund des vornehmlich deutschen Ursprungs des Beurteilungsspielraums erscheint der Differenzierungsversuch innerhalb der administrativen Letztentscheidungsrechte unter Heranziehung tradierter deutscher Parameter der Beurteilungsspielraumdogmatik zunächst vorzugswürdig.33 1. Tatbestandsbezug des administrativen Letztentscheidungsrechts Zunächst ist das dem Beurteilungsspielraum immanente Alleinstellungsmerkmal der reinen Tatbestandsbezugnahme hervorzuheben, da die zuständige Behörde gemäß Art. 4 Abs. 1 bis 4 Visakodex lediglich das Vorliegen der positiven und negativen Tatbestandsvoraussetzungen (Anwendungsvoraussetzungen) für die Erteilung eines Schengen-Visums gemäß Art. 32 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 6 Visakodex34 im Wege der administrativen Letztentscheidung beurteilt. Im Rahmen der RL 2004/114/EG erstreckt der Entscheidungsspielraum sich ebenfalls nur auf den Tatbestand, folglich auf das Vorliegen der „Bedingungen“ der Art. 6 und Art. 7 RL 2004/114/EG.35 Für den Fortgang der Untersuchung ist der dogmatische Grundstein zunächst gegeben.36 Es handelt sich jedoch in beiden Fällen um eine besonders „weite“ Skalierung des administrativen Letztentscheidungsrechts,37 was auch der EuGH feststellt.38 Indem die Tatsachenwürdigung ausschließlich der zuständigen Behörde obliegt und gerichtlich nicht vollständig nachprüfbar ist, hat die Behörde es in der Hand, die Rechtsfolge zu setzen.39 Die resultierende gesetzliche Konstruktion führt zu einer Janusköpfigkeit, da der tatbestandliche Entscheidungsspielraum faktisch einem Ermessen der Behörde nahekommt. Allerdings muss eingewendet werden,

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v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 361. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61. 35 EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014  – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 36; hier nur für Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG herausgearbeitet EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH, 29. 11. 2016 – Rs. C-544/15, Rn. 40 ff.; EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts vom 12. 06. 2014, Rs. C-491/13, Rn. 49 f. 36 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2, Rn. 44; vgl. auch Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11 f.; Redeker, in: Redeker /  von Oertzen; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 286; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  56. 37 Freilich keine Ungewöhnlichkeit, vgl. v. Danwitz, Europäisches Recht, S. 364 f. 38 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 60. 39 So auch VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; kritisch zu der Vornahme einer bloßen Plausibilitätskontrolle durch die Gerichte hinsichtlich der Tatsachenkontrolle der Verwaltung, Gärditz, DV 46 (2013), S. 257, 267; BVerwG, Urteil vom 22. 3. 2012, 7 C 1/11, NVwZ, S. 750, 756. 34

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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dass eine willkürliche Handhabung bei der Erteilung von Visa abgelehnt wird,40 was das Verbot der Verweigerung der Erteilung bei Vorliegen aller Erteilungsvoraussetzungen bestätigt.41 Darüber hinaus ist bei der Wahrnehmung der Aufgaben durch die zuständigen Behörden gemäß Art. 39 Visakodex und dem 5. Erwägungsgrund der RL 2004/114/EG die Menschenwürde zu achten. Zusätzlich gilt das Diskriminierungsverbot. Schließlich zielen die Erwägungsgründe des Visakodex auf seine einheitliche Handhabung durch die Mitgliedstaaten ab,42 sodass der unionsgesetzgeberische Wille dahingehend auszulegen ist, dass zumindest eindeutig kein behördliches Ermessen im Rahmen der Visaerteilung beabsichtigt ist. Letztlich verbleiben dennoch Probleme in Hinblick auf die Praktikabilität so umfangreicher Entscheidungsspielräume. 2. Relevanz und Wirkung des unbestimmten Rechtsbegriffs Aufgrund der undifferenzierten Aussage des Gerichtshofs in den Rechtssachen „Koushkaki“ und „Ben Alaya“ im Hinblick auf alle Verweigerungsgründe des Visakodex besteht der Verdacht,43 dass die judizierten Freiräume für alle Tatbestandsvoraussetzungen nebst Tatsachenwürdigung für die selbigen Tatbestandsvoraussetzungen angenommen werden. Diese Pauschalaussage des Gerichtshofs kann bei Analyse des Gesetzeswortlautes und des Urteils am Beispiel des unbestimmten Rechtsbegriffes logisch differenziert werden,44 sodass gleichzeitig die Relevanz und Wirkung des unbestimmten Rechtsbegriffs im Unionsrecht als vermeintlicher positivrechtlicher Unsicherheitsindikator des administrativen Letztentscheidungsrechts sichtbar45 und die fragliche Funktion des unbestimmten Rechtsbegriffs bei der Entwicklung des Beurteilungsspielraumes entsprechend dem deutschen Verwaltungsrechtsverständnis46 festgestellt wird.

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EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30. 41 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 55; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30 f. 42 Erwägungsgrund Nr. 18, 22 Visakodex: insbesondere sollen Weisungen ausgearbeitet werden, um die einheitliche Handhabung zu gewährleisten. 43 Dahingehend zweifelnd auch VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, juris. 44 Aufgrund der nicht unproblematischen Abgrenzung zwischen unbestimmtem und bestimmtem Rechtsbegriff soll nur im Rahmen der Anerkennung von Beurteilungsspielräumen zwischen den Rechtsbegriffen differenziert werden, so Erichsen, DVBl. 1985, S. 22. 45 Vgl. Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655; Stelkens, DVBl. 2010, S. 1078, 1084 ff. 46 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 1 Rn. 10 f.; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn.  307; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 195; BVerwG, Urteil vom 21. 12. 1995 – 3 C 24.94, BVerwGE 100, 221, 225.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

a) Visakodex aa) Bestimmte Rechtsbegriffe am Beispiel von Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) In diesem Kontext kann es sich zunächst bei der Würdigung von Tatsachen nur um solche handeln, die bei bewiesenen Umständen noch keinen Rückschluss auf das Vorliegen von Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Normen geben und noch eine darüber hinausgehende Einschätzung durch die Behörde erfordern.47 Im Rahmen des Verweigerungsgrundes gemäß Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) Visakodex müsste das Reisedokument bewiesenermaßen „falsch, verfälscht oder gefälscht“ sein, sodass sowohl der Raum für eine behördliche Beurteilung der Tatsache (Echtheit des Reisedokuments) als auch eine behördliche Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzung, die zwingend miteinander verflochten sind, konsequenterweise auf null reduziert ist.48 Insoweit gibt es nur ein einziges Würdigungs- und Auslegungsergebnis der Behörde,49 welches selbstverständlich gerichtlich nachvollziehbar und überprüfbar ist.50 Es handelt sich um bestimmte Rechtsbegriffe im Rahmen der Verweigerungsgründe des Visakodex, die keinen justiziablen Freiraum erlauben. bb) Modifikation der bestimmten Rechtsbegriffe durch Art. 21 Die vorstehende Auslegung des Visakodex bezugnehmend auf das angeführte Urteil in der Rechtssache „Koushkaki“ ist ebenfalls unter systematischen Gesichtspunkten genauer zu eruieren. Wie der Gerichtshof hervorhebt, ist bei der Auslegung von Unionsvorschriften insbesondere der systematische Zusammenhang der entsprechenden Vorschrift zu berücksichtigen.51

47

In EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61, differenziert der EuGH nicht, sondern nimmt ein Letztentscheidungsrecht für alle Anwendungsvoraussetzungen an. 48 Ebenfalls zutreffende Argumentation für Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (ii), (iii), (iv), (v), (vi), (vii) Visakodex. 49 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 5, 28; zum Rechtserkenntnisakt vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 55; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11; Ossenbühl, Die Weiterentwicklung der Verwaltungswissenschaft, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. V, 1987, S. 1143, 1146 f.; differenziert zu (un-)bestimmten Rechtsbegriffen Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, § 11 IV 1 Rn. 24. 50 Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 7; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 16; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51, 56; Schmidt-Aßmann / Schenk, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO Einl. Rn. 183; Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 216, Rn. 62; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11; BVerfG, Beschluss vom 05. 02. 1963 – 2 BvR 21/60, BVerfGE 15, 275, 282. 51 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61; Zu der Schwäche des systematischen Arguments im Unionsrecht A. E. Mertens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 412.

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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Im Rahmen der Prüfung von Negativgründen für die Einreise der Art. 32 Abs. 1, 35 Abs. 6 Visakodex ist dafür auf Art. 21 Abs. 1,52 Abs. 7 und Abs. 8 Visakodex, welche die Antragsprüfung präzise regeln, einzugehen. Dabei ergibt sich eine Besonderheit für die identifizierten bestimmten Rechtsbegriffe in Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (i), (ii), (iii), (vi), (vii) Visakodex. Ein gemeinsames Charakteristikum der Regelungen in Ziff. (i), (iii), (vi), (vii) ist zunächst, dass der Antragsteller Nachweise erbringen muss, die die Annahme der Einreisetatbestandsvoraussetzungen im weiteren Subsumtionsvorgang der Behörde ausreichend rechtfertigen.53 Daher könnte angenommen werden, dass sich bestimmte Nachweise als Tatsachen gerieren, in einer Konstatierung der entsprechenden (bestimmten) Tatbestandsvoraussetzungen resultieren und dies einer objektiven Nachprüfung zugänglich ist.54 Allerdings statuiert Art. 21 Abs. 7 Visakodex zusätzlich die Überprüfung dieser nun vermeintlichen Tatsachen auf „Echtheit und Vertrauenswürdigkeit“ durch die zuständige Behörde, was eine Addition weiterer Prüfungseinzelprozesse innerhalb des Subsumtionsvorganges provoziert. Im Rahmen der Überprüfung der Echtheit dieser Nachweise lässt sich lediglich ein stringentes Subsumtionsergebnis der Behörde aufgrund signifikanter Tatsachen in Bezug auf die Authentizität der vorgelegten Unterlagen des Antragstellers finden, welche bei nüchterner objektiver Betrachtung keine andere Beurteilung offenbaren.55 Im Fall der Vertrauenswürdigkeit tritt hingegen mittels unbestimmten Rechtsbegriffs eine kumulative Tatbestandsvoraussetzung hinzu, die das grundsätzlich erheblich verminderte Maß an Vagheit und Offenheit der bestimmten Rechtsbegriffe (Ziff. (i), (iii), (iv) und (vii)) destabilisiert, sodass eine den unbestimmten Rechtsbegriffen ähnliche Unsicherheit56 ihres Vorliegens betreffend im Wege der Vertrauenswürdigkeitsbeurteilung,57 abhängig von dem genutzten Modus und der Erfahrungswerte der 52

Art. 21 Abs. 1 Visakodex nur in Bezug auf eine Risikoprüfung im Rahmen der Erteilung eines einheitlichen Visums. 53 Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) verlangt dagegen die Begründungspflicht von Anträgen. 54 Zur objektiven Nachrprüfbarkeit EuG, Urteil vom 12. 02. 2008 – T-289/03 Rn. 113, 114 ff., 213– 217, 267, BUPA / Kommission, – juris. 55 Stern, Das Staatsrecht der Republik in Deutschland, Bd. II, S. 763; aufgrund eines quantitativen, keinesfalls qualitativen Unterschieds zwischen den Rechtsbegriffen vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV Rn. 24; so auch schon Erichsen, DVBl. 1985, S. 22. 56 Zur Unbestimmtheit vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn 24; etwas anders Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 27 ff.; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 195; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 35 ff.; Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, § 10, Rn. 23; unter Literaturdarstellung noch tiefgehender rubrizierend Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessenermächtigungen im Verwaltungsrecht, S. 15–44; speziell unionsrechtlich Durner / Waldhoff, Rechtsprobleme der Einführung bundesrechtlicher Wassernutzungsabgaben, S. 54; Durner, NuR 2010, S. 452, 458; Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655. 57 Im Fall von Art. 32 Abs. 1 lit.  a Ziff. (ii) Visakodex i. V. m. Art. 21 Abs. 7 Visakodex: „Wahrheitsgehalt und Glaubwürdigkeit“.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

zuständigen Behörde, begründet wird. Diese Unsicherheit findet ihren Ursprung in der gesetzlichen Installation des unbestimmten Rechtsbegriffs in Art. 21 Abs. 7 Visakodex, welcher sich sodann auf Art. 32 Abs. 1 Visakodex ausdehnt. Insofern modifiziert Art. 21 Abs. 7 Visakodex die einschlägigen Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 32 Abs. 1 Visakodex, die einen justiziablen Freiraum allein durch die ihnen anhaftende Skalierung ihrer Bestimmtheit grundsätzlich nicht möglich machen.58 Konstruiert wird dies dadurch, dass eine vorgestufte Prüfung bezüglich des Vorliegens von weiteren Tatbestandsvoraussetzungen in Bezug auf die zugrunde zu legenden Tatsachen gemäß Art. 21 Abs. 7, Abs. 8 Visakodex installiert wird, die mit unbestimmten Rechtsbegriffen angereichert sind. cc) Unbestimmte Rechtsbegriffe am Beispiel von Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (vi) Visakodex Dagegen ist der Tatbestandsvoraussetzung gemäß Art. 32 Abs. 1 lit. a Ziff. (vi) Visakodex „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ selbst schon eine hohe Abstraktheit immanent.59 Dies erfordert eine abschließende Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles durch die Behörde,60 um die Intensität der Umstände für das Vorliegen einer begründeten Gefahr zu bewerten. In diese Bewertung sind wegen des Tatbestandsmerkmals „internationale Beziehungen“ auch außerrechtliche Maßstäbe wie einzubeziehen.61 Von bestimmten vorliegenden Umständen kann im jeweiligen Einzelfall nicht endgültig auf das tatsächliche Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ geschlossen werden.62 Insofern handelt es sich um die problembereitende Auslegung und Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs.63 Hierbei kann die Behörde im Rahmen der Einzelfallabwägung je nach Einschätzung des Intensitätsgrads bestimmter 58

Siehe Teil  2 A. II. 2. a) aa). Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 23; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn.  157. 60 Die eine Anwendungsanstrengung für den Rechtsanwender darstellt vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 23; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 195. 61 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 3, 23; außerrechtliche Maßstäbe als Fallgruppe von Beurteilungsermächtigungen Wolff, in: Sodan /  Ziekow, § 114 Rn. 325 f. 62 Folglich ein Unsicherheitsfaktor vgl. Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 64 f. 63 Führt man sich vor Augen, dass gerade die begriffliche Unschärfe des unbestimmten Rechtsbegriffs die Unsicherheit im Hinblick auf eine feste Skalierung der Begriffsdimensionen einleitet, so muss man eingestehen, dass die Überwindung der daraus resultierenden Interpretationsschwierigkeiten auf der ersten Stufe zumindest zu einer erhöhten Subsumtionssicherheit auf der zweiten Stufe führen, allerdings dürften grundsätzlich auch auf der zweiten Stufe Unsicherheiten verbleiben, sodass beide Ebenen betroffen sind, dahingehend vgl. Sieckmann, DVBl. 1997, S. 101; dennoch ist umstritten, ob der unbestimmte Rechtsbegriff Interpretationsoder Subsumtionsprobleme hervorruft, siehe m. w. N. Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, S. 44 ff. 59

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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Umstände, welche für die Tatbestandsvoraussetzung erheblich sein können, zu unterschiedlichen (vertretbaren) Auslegungsergebnissen kommen,64 die sich dem objektiv Rechtsanwendenden ohne Offenlegung des Abwägungsprozesses nicht automatisch erschließen.65 dd) Zwischenergebnis Insofern lassen sich die Erwägungen des Gerichtshofs in der Rechtssache „Koushkaki“66 unter Beachtung des Gesetzeswortlautes und der Gesetzessystematik tatsächlich so verstehen, dass das administrative Letztentscheidungsrecht die Gesamtheit der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 32 Visakodex umfasst. Fruchtbar macht das Letztentscheidungsrecht unter anderem die hinreichende Verankerung von Auslegungsunsicherheiten, entweder mittelbar (Art. 21 Visakodex) oder unmittelbar (Art. 32 Abs. 1 lit. a (vi) Visakodex) durch unbestimmte Rechtsbegriffe. Eine durch die bestimmten Rechtsbegriffe erzielte Auslegungssicherheit wird durch Vorschaltung von Einzelprüfungsprozessen nebst unbestimmtem Rechtsbegriff erheblich aufgeweicht. Daneben oktroyiert die Einspeisung der Einzelprüfungsprozesse im konkreten Fall die weite Skalierung des Letztentscheidungsrechts, da die Tatsachengrundlage durch Art. 21 Visakodex aufgenommen wird. b) RL 2004/114/EG aa) Art. 6 Abs. 1 RL 2004/114/EG Bei der Betrachtung von Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG fällt in Übereinstimmung mit Art. 32 Abs. 1 lit. a (vi) Visakodex die Verwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe „öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ auf.67 Die Offenheit dieser Begriffe stellt auch der Gerichtshof in der Rechtssache „Fahi 64

Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Republik in Deutschland, Bd. II, S. 763; dazu Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessenermächtigungen im Verwaltungsrecht, S. 14, 15; a. A. Reuss, DVBl. 1953, S. 586, 587; Reuss, DVBl. 1953, S. 649 ff.; Lerche, Ermessen in Staatslexikon, Bd. III, S. 12. 65 Aufschlussreich im Rahmen der Überprüfung nationaler Vorschriften auf Letztentscheidungsrechte siehe EuG, Urteil vom 12. 02. 2008  – T-289/03 Rn. 113, 114 ff., 213–217, BUPA / Kommission, – juris; vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 12; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114, Rn. 303; Gerhard, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn. 62; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, § 10 Rn. 65; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 23. 66 Vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki. 67 Vgl. Teil  2 A. II. 2. a) cc); Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 348 f.; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 23.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

mian“ fest68 und versucht, eine Eingrenzung durch Beispiele vorzunehmen.69 Hinzu kommt, dass der 14. Erwägungsgrund der RL 2004/114/EG ähnlich dem Art. 21 Abs. 1 Visakodex eine besondere Tatsachenbeurteilung durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten beschreibt, welche ebenfalls ein Beispiel für eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung umfasst, sodass ein ausreichender Bezug zu Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG hergestellt wird. Das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 lit a, b, c, e RL 2004/114/ EG kann hingegen festgestellt werden, da sich beispielsweise ein „gültiges Reisedokument“ gemäß lit. a oder die „Erlaubnis der Eltern“ gemäß lit. b verifizieren lässt. Hier gibt es nur ein gültiges Würdigungs- und Auslegungsergebnis der Behörde.70 Dies gilt ebenfalls für die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 lit. c und e. Bei der Prüfung der Voraussetzung des Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG muss die Behörde, wie auch der EuGH feststellt, eine Gesamtabwägung aller Umstände im Einzelfall,71 die ebenfalls eine Tatsachenwürdigung umfasst, vornehmen, wobei hier verschiedene Auslegungsergebnisse erzielt werden können. Fraglich ist nun, inwieweit der 14. und 15. Erwägungsgrund als Auslegungshilfe zu verstehen sind.72 Hinsichtlich ihrer mangelnden Rechtswirkung und ihrer rechtsunverbindlichen Formulierung73 erscheint es vorzugswürdig, die Erwägungsgründe des jeweiligen Rechtsakts im Rahmen der historischen Auslegung für die Ermittlung des unionsgesetzgeberischen Willens heranzuziehen.74 Die Konsequenz dessen ist eine Relevanzabstufung innerhalb des Auslegungskanons.75

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EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 38 ff. Vgl. Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 349 f.; zur Erläuterung des Begriffsinhalts von unbestimmten Rechtsbegriffen, Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 23; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 40. 70 Vgl. Teil  2 A. II. 2. a) aa). 71 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 43. 72 Es ist umstritten, ob es sich um eine historische, so Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, § 4 Rn. 24, oder teleologische Auslegung handelt, so Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 56; dazu Herberger, EuZA 2019, S. 310, 318. 73 Grundsätzlich EuGH, Urteil vom 19. 06. 2014  – Rs. C-345/13, Karen Millen Fahions, Rn. 31; EuGH, Urteil vom 24. 11. 2005 – Rs. C-136/04, Deutsches Milch-Kontor, Rn. 32; EuGH, Urteil vom 19. 11. 1998 – Rs. C-162/97; anders dagegen, wenn sich die Erwägungsgründe auf Interna der Union beziehen, A. E. Martens, Methoden des Unionsrechts, S. 487; EuGH, Urteil vom 20. 05. 2010 – Rs. C-365/08, Agrana Zucker, Rn. 35. 74 Vgl. A. E. Martens, Methoden des Unionsrechts, S. 487; EuGH, Urteil vom 27. 1. 2011 – Rs. C-168/09, Flos, Rn. 38. 75 Müller / Christensen, Juristische Methodik Bd. II, Europarecht, S. 343 f.; im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zu der Klagebegründung der Kommission, basierend auf Verstöße gegen die Erwägungsgründe konsequent, EuGH, Urteil vom 26. 04. 2012 – Rs. C-508/10, Kommission / Niederlade, Rn. 39; EuGH, Urteil vom 29. 11. 2001  – Rs. C-202/99, Kommission / Italien, Rn.  23 ff. 69

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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(1) 14. Erwägungsgrund Der 14. Erwägungsgrund weist auf die Ablehnungsmöglichkeit von Visa gemäß der RL 2004/114/EG hin, soweit besondere Gründe nach einer Tatsachenbeurteilung der zuständigen Behörde vorliegen, und nennt ein Beispiel zu der Voraussetzung des Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG. Dies könnte zum einen dahingehend ausgelegt werden, dass alle Voraussetzungen des Art. 6 RL 2004/114/EG mit besonderen Ablehnungsgründen nach besonderer Tatsachenbeurteilung versehen werden können, die eine ähnliche Intensität wie das angeführte Beispiel zu Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG aufweisen. Zum anderen auch damit, dass besondere Ablehnungsgründe lediglich in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/ EG angenommen werden können, was durch die Nennung des Beispiels mit Bezug zu lit. d bestätigt wird.76 Der 14. Erwägungsgrund wird sodann im Rahmen der zweiten Auslegungsmöglichkeit als Auslegungshilfe für den unbestimmten Rechtsbegriff in Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG verstanden. Soweit bei der Auslegung von Vorschriften mehrere Auslegungsergebnisse in Betracht kommen, ist das Ergebnis vorzugswürdig, das dem sogenannten „effet utile“ am meisten Rechnung trägt.77 Der Gedanke hinter dieser speziellen teleologischen Auslegung im Licht des Unionsrechts kann im Folgenden entsprechende Anwendung auf die Auslegung des 14. Erwägungsgrundes finden. Sofern berücksichtigt wird, dass die Ablehnungsgründe in der RL 2004/114/EG abschließend sind,78 da anderenfalls die Ziele der Richtlinie vereitelt werden,79 kann nur letztere Auslegungsmöglichkeit des 14. Erwägungsgrundes gelten, da die Mitgliedstaaten dadurch zumindest gesetzlich nicht vorgesehene Ablehnungsgründe kreieren oder gesetzlich vorgesehene Ablehnungsgründe über das unionsrechtlich vorgegebene Maß ausdehnen 76

Diese Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten, infolge dieser Rechtsprechung des EuGH wurden mit der Schaffung des Art. 20 Abs. 2 lit. f der Richtlinie (EU) 2016/801 des Europä­ ischen Parlaments und des Rates vom 11. 05. 2016 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit, welche die Schlüssigkeit- bzw. Missbrauchskontrolle auf alle Voraussetzungen der Antragstellung ausdehnt, aufgelöst, ABl. L 132/21 21. 5. 2016, S. 21; a. A. hinsichtlich der vorherigen Rechtslage, zustimmend bei der Auflösung durch die Neufassung der RL EU/2016/801 VG Berlin Urteil vom 29. 6. 2018 – 17 K 448.17 V –, Rn. 21 ff., Asylmagazin 2018, S. 327. 77 Sog. Auslegung im Licht des Unionsrecht, vgl. A. E.  Martens, Methoden des Unionsrechts, S. 464; EuGH, Urteil vom 7. 10. 2010  – Rs. C-162/09, Lassal, Rn. 51; EuGH, Urteil vom 19. 11. 2009 – Rs. C-402, Rs. 432-07, Sturgeon, Rn. 47; EuGH, Urteil vom 25. 10. 2007 – Rs. C-240/06, Fortum Project Finance, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 9. 3. 2006 – Rs. C-174/05, Stichting Zuid-Hollandse Milieufederatie, Rn. 20; EuGH, Urteil vom 24. 2. 2000 – Rs. C-434/97 Kommissio / Frankreich, Rn. 21; zum „effet utile“ Grundsatz Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, S. 437 ff. 78 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30. 79 16. Erwägungsgrund RL 2004/114/EG: Förderung der Mobilität von Drittstaatsangehörigen.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

könnten. Eine derartige Selbstprogrammierung der Verwaltung wäre danach nicht mehr ausdrücklich dem Gesetz zu entnehmen.80 Darüber hinaus müssen die Erwägungsgründe auch systematisch widerspruchsfrei ausgelegt werden, sodass der 16. Erwägungsgrund, der das Richtlinienhauptziel der Förderung der Mobilität von Drittstaatsangehörigen beinhaltet, nicht durch den 14. Erwägungsgrund der Richtlinie beeinträchtigt wird. Des Weiteren lässt sich rechtsvergleichend die Vorzugswürdigkeit der zweiten Auslegungsmöglichkeit auch mit den Ergebnissen zum Visakodex verifizieren. Die Möglichkeit der „Modifikation der bestimmten Rechtsbegriffe“81 durch die Schaffung eines vorgeschalteten Tatsachenbeurteilungsprozesses mittels unbestimmten Rechtsbegriffes hat der Unionsgesetzgeber im Rahmen des Visakodex expressis verbis in Art. 21 Abs. 1 Visakodex vorgesehen. Der EuGH kanalisiert auch seine Ausführungen zum 14. Erwägungsgrund mit und ohne Veranlassung durch die Vorlagefragen lediglich auf den Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG.82 Darüber hinaus betont der EuGH im Anschluss zu seinen Ausführungen zur gerichtlichen Kontrolle des Beurteilungsspielraumes, dass Gründe im Sinne des 14. Erwägungsgrundes „besondere Gründe“ darstellen müssen. Diese Besonderheit schlage sich in den Ablehnungsgründen des Art. 6 Abs. 1 lit. d RL 2004/114/EG nieder, da es sich um Gründe von nicht nur unerheblicher Bedeutung handle.83 (2) 15. Erwägungsgrund Nach dem 15. Erwägungsgrund sind die zuständigen Behörden nicht daran gehindert, zusätzliche Nachweise vom Antragsteller zu verlangen, um die Antragsgründe auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen.84 Dies kann bereits keinen „weiten“ Beurteilungsspielraum eröffnen, der sich sowohl auf das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung der Art. 6 Abs. 1 lit. a, b, c, e RL 2004/114/EG als auch auf die Tatsachenwürdigung der Tatbestandsvoraussetzungen erstreckt.85 In diesem 80

Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 44, 45. Vgl. Teil  2 A. II. 2. a) bb) 82 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 32; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 24. 83 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46 a. E. 84 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 44; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 34. 85 Diese Widersprüchlichkeiten und Unklarheiten, infolge dieser Rechtsprechung des EuGH wurden mit der Schaffung des Art. 20 Abs. 2 lit. f der Richlinie (EU) 2016/801 des Europä­ ischen Parlaments und des Rates vom 11. 05. 2016 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit, welche die Schlüssigkeit- bzw. Missbrauchskontrolle auf alle Voraussetzungen der Antragstellung ausdehnt, aufgelöst, ABl. L 132/21 21. 5. 2016, S. 21; a. A. hinsichtlich der vorherigen Rechtslage, zustimmend bei der Auflösung durch die Neufassung der RL EU/2016/801 VG Berlin Urteil vom 29. 6. 2018 – 17 K 448.17 V –, Rn. 21 ff., Asylmagazin 2018, S. 327. 81

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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Kontext ist zunächst an die Rechtsnatur und -qualität der Erwägungsgründe zu erinnern.86 Darüber hinaus stellt der EuGH fest, dass die gerichtliche Kontrolle sich bei dem vorliegenden Entscheidungsspielraum ebenfalls auf offenkundige Fehler erstreckt, welche konsequenterweise eine Schlüssigkeitskontrolle umfassen müsste, sofern die Begründung der Negativbescheidung auf mangelhaften Nachweisen der vorgebrachten Antragsgründe basiert.87 Insofern lässt sich die Annahme eines Entscheidungsspielraumes auf der Grundlage des 15. Erwägungsgrundes der RL 2004/114/EG für den Bereich der Tatbestandsvoraussetzungen, die mit einem bestimmten Rechtsbegriff versehen sind, angesichts der gerichtlichen Befugnis, die vorgenommene Offenkundigkeits- bzw. Schlüssigkeitskontrolle der Behörde zu kontrollieren, nicht begründen. (3) Zwischenergebnis In Bezug auf Art. 6 Abs. 1 RL 2004/114/EG kann der durch den EuGH identifizierte „weite“ Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzung und der Tatsachenwürdigung lediglich für Art. 6 Abs. 1 lit.  d RL 2004/114/EG gelten. Daneben findet sich in der RL 2004/114/EG keine mit Art. 21 Abs. 1 Visakodex vergleichbare Regelung88 oder ein anderer positivrechtlicher Faktor, sodass die für die Tatbestandsfeststellung der Voraussetzungen des Art. 6 RL 2004/114/ EG nötige Tatsachenbeurteilung nicht durch einen unbestimmten Rechtbegriff einer Auslegungsunsicherheit unterbreitet werden dürfte.89 bb) Art. 7 Abs. 1 RL 2004/114/EG Im Fall von Art. 7 Abs. 1 lit. c und d RL 2004/114/EG handelt es sich um bestimmbare Tatbestandsvoraussetzungen,90 sodass die vorstehende Argumentation zu Art. 6 Abs. 1 lit. a, b, c und e RL 2004/114/EG entsprechend gilt. Im Hinblick 86

Siehe Teil  2 A. I. 2. b) aa). „Da die zuständigen nationalen Behörden bei der Beurteilung des Sachverhalts über einen weiten Spielraum verfügen, ist die gerichtliche Kontrolle der Beurteilung auf die Prüfung offenkundiger Fehler beschränkt. Außerdem muss sich die Kontrolle insbesondere auf die Wahrung der Verfahrensgarantien beziehen, der eine grundlegende Bedeutung zukommt. Zu diesen Garantien gehören die Verpflichtung der Behörden, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, […], sowie die Verpflichtung, ihre Entscheidung hinreichend zu begründen, um dem nationalen Gericht im Rahmen des Rechtsbehelfs nach Art. 18 Abs. 4 der Richtlinie 2004/114 die Prüfung zu ermöglichen, ob die für die Ausübung des Beurteilungsspielraums maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben […].“ vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46; vgl. zur Kontrolle, Jestaedt, in: Ehlers / P ünders, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 54. 88 Teil  2 A. I. 2. a) bb) und dd). 89 Teil  2 A. I. 2. a) bb), cc) und dd). 90 Ausführlich zu bestimmten Rechtsbegriffen, Teil  2 A. I. 2. a) aa). 87

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

auf Art. 7 Abs. 1 lit. a und b RL 2004/114/EG ist dagegen eine genauere Untersuchung vorzunehmen. (1) Art. 7 Abs. 1 lit. a RL 2004/114/EG Generalanwalt Mengozzi erkennt im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 lit. a RL/114/2004 über Art. 2 Abs. 1 lit. e RL 2004/114/EG die Einräumung eines Beurteilungsspielraumes der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Anerkennung einer Bildungseinrichtung an, ohne dabei eine Differenzierung in Bezug auf den Adressaten des Entscheidungsspielraumes vorzunehmen.91 Nach Art. 7 Abs. 1 lit. a RL 2004/114/EG müsste der Antragsteller von einer höheren Bildungseinrichtung zu einem Studienprogramm zugelassen worden sein. Gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. a RL 2004/114/EG handelt es sich bei einer Einrichtung im Sinne der Richtlinie um „[…] eine öffentliche oder private Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat anerkannt ist und / oder deren Studienprogramme gemäß seinen Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis zu den in dieser Richtlinie genannten Zwecken anerkannt sind; […]“. Insoweit ergibt sich bereits aus der vorstehenden Legaldefinition, dass die Bestimmung einer Bildungseinrichtung im Sinne der Richtlinie durch den jeweiligen (aufnehmenden) Mitgliedstaat (konkreter: durch die dafür zuständige Behörde) vorgenommen wird,92 jedoch nicht von der zuständigen Behörde, welche über die Erteilung der Einreiseerlaubnis zu Studienzwecken entscheidet.93 Der Begriff „Einrichtung“ birgt somit keine für die zuständige Behörde gemäß RL 2004/114/EG spezielle Unbestimmtheit, da im Vorfeld bereits bekannt ist, ob es sich um eine Bildungseinrichtung im Sinne der Richtlinie handelt. Vielmehr begründet die Entscheidung der für die Akkreditierung von Bildungseinrichtungen und Studiengängen zuständigen Behörde respektive des Landesgesetzgebers (HG NRW) eine Bindungswirkung für die Tatbestandsvoraussetzung des Art. 7 Abs. 1 lit. a RL 2004/114/EG, an welche sich die zuständige Behörde im Sinne des RL 2004/114/EG zu halten hat.94 91

Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH, 12. 06. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 49 – 53. 92 Enumerativ aufgezählt für das Land NRW in § 1 HG NRW; private Bildungseinrichtungen müssen dagegen institutionell akkreditiert werden, § 75 HG NRW; für einzelne Programm- und Systemstudiengänge seit Etablierung des Akkreditierungsrats durch Akkreditierungsverfahren (im Wege der von ihm beauftragten Agenturen)§ 1 Gesetz über die Stiftung Akkreditierungsrat, siehe auch Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03. 12. 1998, in: Sammlung der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland. 93 So auch Huber, NVwZ 2017, S. 1160, 1161; dies führt zu einem Fehlgehen der Argumentation des Generalanwalts Mengozzi vgl. Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH, 12. 06. 2014 – Rs. C-491/13 Rn. 53, Ben Alaya. 94 Es ist daher nur noch das materielle Recht anzuwenden, dass nicht mehr für die bereits getroffenen Entscheidungen betrifft, entsprechender Mechanismus bei der Konzentrations-

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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(2) Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/114/EG Gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/114/EG muss der Antragsteller über die nötigen Mittel verfügen, um die Kosten für seinen Unterhalt, das Studium und seine Rückreise zu tragen. Diesbezüglich geben die Mitgliedstaaten bekannt, welchen Mindestbetrag sie als monatlich erforderliche Mittel im Sinne dieser Bestimmung unbeschadet einer Prüfung im Einzelfall vorschreiben. Im Rahmen der Richtlinie sind die „nötigen Mittel“ nicht definiert. Lediglich der 13. Erwägungsgrund der Richtlinie empfiehlt die Berücksichtigung von Stipendien bei der Beurteilung, ob die nötigen Mittel im Sinne von Art. 7 Abs. 1 lit b RL 2004/114/EG vorliegen. Dem Begriff der nötigen Mittel kommt in Bezug auf die diversen Sachverhalte, auf denen die Verwaltungsentscheidung im Rahmen der Richtlinie basieren kann, eine erhebliche Offenheit zu.95 Zwar kann, wie auch der Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/114/EG statuiert, ein Richtwert für die erforderlichen Mittel im Wege des arithmetischen Mittels vorgegeben werden, allerdings lässt sich am Beispiel des Bundesgebiets belegen, dass die benötigten finanziellen Mittel zum Bestreiten des Lebensunterhalts und des Studiums je nach Bundesland, Studienort und Hochschule erheblich variieren können und eine universelle Aussage dahingehend unmöglich ist. Hinsichtlich der Rückreisekosten hängt dies von Reiseziel, Reisezeitraum und der Flughafenanbindung ab und kann gravierende Reisekostendifferenzen, basierend auf dem individuellen Sachverhalt, nach sich ziehen.96 Dass der Behörde die Prüfung der erforderlichen Mittel des Antragstellers unbeschadet des festgelegten Richtwertes gemäß Art. 7 Abs. 1 lit. b RL 2004/114/EG vorbehalten bleibt, ist ein Indiz für die Auslegungsschwierigkeit des Begriffs „nötige Mittel“,97 welches die Annahme eines unbestimmten Rechtsbegriffes unterstreicht.

wirkung von Planfeststellungsbeschlüssen gemäß § 75 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 VwVfG Bund und Anlagengenehmigungen gemäß § 13 BImSchG, vgl. zur Planfeststellung Neumann / Külpmann, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 75 Rn. 10 f.; BVerfG, 15. 07. 1969 – 2 BvF 1/64, BVerfGE 26, 338, 373 f.; BVerwG, 29. 06. 1967  – IV C 36.66, BVerwGE 27, 253, 255 ff.; BVerwG, 14. 02. 1969 – IV C 215.65, BVerwGE 31, 263, 272 ff.; BVerwG, 10. 02. 1978 – IV C 25.75, BVerwGE 55, 220, 230; BVerwG, 14. 04. 1989 – 4 C 31.88, BVerwGE 82, 17, 22 f.; BVerwG, 11. 08. 2016 – 7 A 1.15 (7 A 20.11), 7 A 1.15, 7 A 20.11, BVerwG ZUR 2016, 665; Blümel, Die Bauplanfeststellung I, S. 91 ff.; Fickert, Planfeststellung für den Straßenbau, S. 435 ff.; ­Gaentzsch, NJW 1986, 2787, 2789; zum BImSchG Seibert, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BImSchG § 13 Rn. 32 ff. 95 Siehe zum unbestimmten Rechtsbegriff, Teil  2 A. II. 2. a) cc). 96 Einzelfallprüfung, vgl. Fleuß, in: BeckOK AuslR, § 16 AufenthG Rn. 9. 97 Siehe Teil  2 A. II. 1. b) bb) (1); Stern, Das Staatsrecht der Republik in Deutschland, Bd. II, S. 763; aufgrund eines quantitativen keinesfalls qualitativen Unterschieds zwischen den Rechtsbegriffen vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV Rn. 24; so auch schon Erichsen, DVBl. 1985, S. 22.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

(3) Zusammenfassung Die Untersuchung der relevanten Tatbestände resultierend aus den Rechtssachen „Ben Alaya“ und „Fahimian“ zeigt, dass nicht die Gesamtheit der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 7 RL 2004/114/EG in den Anwendungsbereich des Letztentscheidungsrechts einbezogen werden kann. Lediglich Art. 7 Abs. 1 lit.  b RL 2004/114/EG ist derart konstruiert, dass ein administratives Letztentscheidungsrecht auch eine ausreichende positivrechtliche Grundlage findet. Überdies lässt sich im Hinblick auf die von dem weiten justiziablen Freiraum umfasste Tatsachenwürdigung keine mit Art. 21 Abs. 1 Visakodex vergleichbare kodifizierte Regelung finden, sodass die für die Tatbestandsfeststellung der Voraussetzungen des Art. 7 RL 2004/114/EG nötige Tatsachenbeurteilung nicht durch einen unbestimmten Rechtsbegriff verzerrt werden dürfte. cc) Zwischenergebnis Reflektiert man die vorgenommene Abschichtung der Tatbestände unter Heranziehung des unbestimmten Rechtsbegriffs als positivrechtlichen vornehmlich deutschen Parameter der Beurteilungsspielraumdogmatik,98 so wird wahrnehmbar, dass die administrativen Letztentscheidungsrechte auf die Installation unbestimmter Rechtsbegriffe zurückzuführen sind. Nach einigen Literaturmeinungen99 handelt es sich bei dem unbestimmten Rechtsbegriff jedoch um keinen dogmatischen Grundpfeiler für eine Differenzierung des administrativen Letztentscheidungsrechts innerhalb des Unionsrechts. Durch diesen werden zunächst nur Rechtsanwendungsunsicherheiten konstatiert.100 Anknüpfend an diese Feststellung ist es erforderlich, strukturell verschiedene Letztentscheidungsrechte im Rahmen einer kontextualisierenden und differenzierenden Analyse gegenüberzustellen.

98 Sieckmann, DVBl. 1997, S. 101; Erichsen, DVBl. 1985, S. 22; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 27 ff.; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 93; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielräume, S. 35; darstellend allerdings a. A. hinsichtlich gesetzlicher Grundlage Wolff, Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 303–306; kritische Darstellung, vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 12 ff., § 11 IV 1 Rn. 23 ff. 99 Vgl. Durner / Waldhoff, Rechtsprobleme der Einführung bundesrechtlicher Wassernutzungsabgaben, S. 54; Durner, NuR 2010, S. 452, 458; Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655. 100 So auch Durner, NuR 2019, S. 1, 14; vgl. EuGH, Urteil vom 24. 02. 1965 – Rs. C-10/64 Julien / Kommission; EuGH, Urteil vom 16. 06. 1965 – Rs. C-48/64, Rs. Brus / Kommission.

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3. Unionsgesetzgeberische Befugnis Des Weiteren entnimmt der Gerichtshof den unionsgesetzgeberischen Willen der Zuweisung eines behördlichen Letztentscheidungsprogrammes durch Auslegung der einschlägigen Normen im Sinne der normativen Ermächtigungslehre,101 indem der Gerichtshof insbesondere den Wortlaut102 und den systematischen Zusammenhang103 der Vorschriften, folglich positivrechtliche Parameter, betont.104 Darüber hinaus finden sich in der Begründung des Gerichtshofs – trotz Feststellung der Komplexität der Verwaltungsentscheidung  – keine weiteren Anhaltspunkte dafür, dass Grundsätze im Hinblick auf die Herleitung des administrativen Letztentscheidungsrechts im Wege einer Differenzierung der spezifischen Leistungsressorts der Verwaltung einerseits und der Verwaltungsgerichtsbarkeit andererseits und ihrer Funktionsgrenzen abstrahiert werden.105 Insofern lässt sich dem Judikat nicht ausdrücklich entnehmen, dass der Gerichtshof die Prinzipien des funktionsrechtlichen Ansatzes rezipiert.106 Im Hinblick auf den Verweis, dass die Verwaltungsentscheidung im konkreten Fall eine hohe Komplexität aufweisen kann,107 kann dennoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass die mögliche Überforderung der Gerichtsbarkeit im Rahmen der Ermittlung des Entscheidungsspielraumes eingeflossen ist.108

101

So auch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 300; zur normativen Ermächtigungslehre, Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1 Rn. 34 f.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, § 10 Rn. 78, 90; J. Tettinger, DVBl. 1982, S. 421, 422. 102 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 45 a. E. 103 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 45 a. E. 104 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56–58, 61; vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian Rn. 30 f., 32 f., 38 ff.; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 22 f., 24 f., 32 f. 105 Die nationale Rechtsprechung bedient sich zur Konstatierung administrativer Letztentscheidungsrechte auf der Tatbestandsebene sowohl einer kasuistischen Typologie, als auch der Analyse wertender Elemente in Anbetracht einer fachlichen Legitimation unter Einhaltung institutionell-prozeduraler Gegebenheiten, dazu Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 46. 106 Zum funktionsrechtlichen Ansatz Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76 f.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 54; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 33; Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 411. 107 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 59; vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 30 f., 32 f., 38 ff.; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 22 f., 24 f., 32 f. 108 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 50 f.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 68 ff.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

4. Grammatische Auslegung des Unionsrechts Neben den ausführlichen systematischen Überlegungen führt der Gerichtshof an, dass das administrative Letztentscheidungsrecht bereits dem Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 und Art. 32 Abs. 1 Visakodex entnommen werden kann.109 Die Verwendung des Wortlauts „Beurteilung“ findet sich in Art. 21 Abs. 1 Hs. 2 Visakodex, welcher sich jedoch lediglich auf die Prüfung der (Negativ-)Voraussetzungen der Einreise in Art. 32 Abs. 1 Visakodex bezieht, sodass die weite Skalierung des justiziablen Freiraums vornehmlich aufgrund systematischer Erwägungen zu erschließen ist. In RL 2004/114/EG findet sich dagegen die Verwendung des Wortlauts „Beurteilung“ im 14. und 15. Erwägungsgrund, welche zwar im Wege der Auslegung für die Ermittlung des Letztentscheidungsrechts herangezogen werden kann, aufgrund der ihnen anhaftenden unverbindlichen Rechtsnatur kann ihrer grammatischen Auslegung allerdings nicht die entsprechende Priorität wie der Auslegung des eigentlichen Gesetzeswortlauts abgewonnen werden.110 Jedoch muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass der grammatischen Auslegung vor allem angesichts der Multilingualität des Unionsrechts insgesamt eine geringere Bedeutung zukommen muss.111 5. Komplexität, Risiko- und Prognosecharakter Der in der Judikatur bezeichnete Entscheidungsspielraum nähert sich aufgrund des von dem Gerichtshof zugesprochenen spezifischen Charakteristikums der Komplexität den Fallgruppen der anerkannten Beurteilungsspielräume des deutschen Verwaltungsrechts an.112 Besonders in Anbetracht des deutschen Diskurses, ob die Komplexität einer Verwaltungsentscheidung allein zu einem Entscheidungsfreiraum der zuständigen Behörde führen könne,113 ist die Komplexität der Ent 109

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61; vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 30 f., 32 f., 38 ff.; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 22 f., 24 f., 32 f.; ebenfalls EuG, Urteil vom 25. 09. 2014  – Rs.  T-669/11, Deutschland / Kommission, Rn.  33. 110 Vgl. A. E. Martens, Methoden des Unionsrechts, S. 487; EuGH, Urteil vom 27. 1. 2011 – Rs. C-168/09, Flos, Rn. 38. 111 Die grammatische Auslegung vor dem Hintergrund der Mehrsprachigkeit macht lediglich einen Plausibilitätsraum sichtbar und senkt die senkt die normalerweise erlangte Rationalität durch den tradierten juristischen Umgang mit Rechtssprache, siehe Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, S. 254 ff., 267 ff. 112 Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 32; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 332; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 56; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rn. 184. 113 Rennert, in: Eyermann, § 114 VwGO Rn. 71; BVerfG, Beschluss vom 17. 4. 1991– 1 BvR 419/81 und 213/83, BVerfGE 85, 36; BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992  – 1 BvR 167/87, BVerfG 88, 40; a. A. Gärditz, NJW-Beilage 2016, 41, 44; die Komplexität kann zumindest nicht allein aus dem Prognosecharakter der Entscheidung resultieren vgl. Jestaedt, in: Ehlers /  Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 50 f.

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scheidungen in Bezug auf Art. 21 Abs. 1, Art. 32 Abs. 1 Visakodex sowie Art. 6 und 7 RL 2004/114/EG zu erörtern. a) Die (Risiko-)Prognose als komplexitäts(mit)begründender Faktor Von einer Prognoseentscheidung ist auszugehen, wenn das Gesetz voraussetzt, dass die behördliche Entscheidung – basierend auf anerkannten Erfahrungssätzen – auf der Grundlage nachweisbarerer Tatsachen auf den wahrscheinlichen Eintritt beziehungsweise Nichteintritt eines künftigen Sachverhaltes schließt.114 Insoweit schreiben Art. 21 Abs. 1 Visakodex und Art. 6 Abs. 1 lit. d vor, dass auf der Basis der vorgelegten Nachweise und Erfahrungswerte der Behörde ein risikobehaftetes Verhalten des Antragstellers auszuschließen ist. Die zuständige Behörde kann im Rahmen der Verwaltungsentscheidung hinsichtlich der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzung eine Prognose tätigen,115 welche auf der Analyse der vorgelegten Dokumente basiert. Dies kann bereits mit komplexen Bewertungen verbunden sein,116 was durch die Anzahl der verwertbaren Belege und die Möglichkeit des persönlichen Gespräches mit dem Antragsteller gemäß Art. 21 Abs. 8 Visakodex bestätigt wird. Diese (risiko-)prognostisch geprägte Entscheidung der Behörde kann unter Heranziehung weiterer Maßnahmen gemäß Art. 21 Abs. 7 und Abs. 8 Visakodex abgesichert werden.117 Für den Anwendungsbereich der RL 2004/114/EG wird dagegen die explizite Nennung eines entsprechend gewichtigen systematischen Arguments mit spezifischem Bezug zu den Regelungen der Richtlinie durch den EuGH unterlassen. Das Rekurrieren auf das Präjudiz in der Rechtssache „Koushkaki“ vermag ein solches Argument weder zu fingieren noch zu ersetzen.118 Zwar handelt es sich in der Sache um ähnliche Verwaltungsentscheidungen, ihnen sind 114

Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 317; W.-R. Schenke, in: Kopp / Schenke, § 114 Rn. 37. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 57; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41. 116 Prüfungsgegenstand, „[…] u. a. Persönlichkeit des Antragstellers, seine Integration in dem Land, in dem er lebt, die politische, soziale und wirtschaftliche Lage dieses Landes sowie die mit der Einreise des Antragstellers möglicherweise verbundene Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats […]“, EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41. 117 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56; insoweit ein abhängiger Prognosefreiraum, da der Prognosefreiraum zum Beurteilungsspielraum im Rahmen des Gesamtentscheidungsprozesses hinzutritt vgl. Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 319; BVerwG, 27. 11. 1980 – 2 C 38.79, BVerfGE 61, 176, 180; BVerwGE 80, 270, 275 f.; BVerwG, 19. 01. 1989 – 7 C 31.87, BVerwGE 81, 185, 191; Für den Anwendungsbereich der RL 2004/114/ EG dagegen nur „[…] sowie auf der Analyse verschiedener Dokumente und der Aussagen des Antragstellers beruhen […]“ mithin ohne systematischen Unterbau, welcher in der spezifischen Richtlinie verankert ist, EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41. 118 Zwar kann Präjudizien im Europarecht keine Bindungswirkung zugesprochen werden, allerdings fungieren diese argumentationssubstituierend, tiefergehend Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, S. 325, 326. 115

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jedoch verschiedene Gesetze zugrunde zu legen, weshalb der in der RL 2004/114/ EG installierte systematische Unterbau mangels einer mit Art. 21 Abs. 7, Abs. 8 Visakodex korrespondierenden entsprechenden Regelung fehlt.119 Hierin offenbart sich neben der Widersprüchlichkeit ein weiteres Defizit bei der Nutzung von Präjudizien, konkret: die fehlende Konvergenz der Gesetze, da ein reibungsloses schematisches Aufschichten von Judikatur bei vornehmlich systematischer Herleitung im Hinblick auf verschiedene gesetzliche Grundlagen dem erhöhten Risiko ausgesetzt ist, ins Leere zu laufen.120 Weiterhin kann der Wahrscheinlichkeitsmaßstab für diese (Risiko-)Prognose nicht expressis verbis dem Visakodex oder der RL 2004/114/EG entnommen werden.121 Maßgeblich für das Resultat dieser (Risiko-)Prognose sind damit zunächst die Erfahrung der zuständigen Behörde in der Sache sowie die Würdigung der Tatsachenrelevanz innerhalb des Prognoseprozesses, die ebenfalls von dem Erfahrungswert der zuständigen Behörde in der Sache abhängig ist und die normativ einer nicht fassbaren Richtigkeitskontrolle unterworfen werden kann, was für die Einräumung eines behördlichen Letztentscheidungsrechts sprechen kann.122 Von der Annahme der Prognoseentscheidung allein kann jedoch noch nicht bereits auf die Einräumung des behördlichen Letztentscheidungsrechts geschlossen werden.123 Vielmehr bedürfe es weiterer positiver Indizien, welche die Befugnis der Behörde zur Letztentscheidung rechtfertigen.124

119

Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, S. 326. Widersprüchlichkeit, vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, S. 294. 121 Unter Zugrundelegung der Erwägungsgründe des Visakodex, welche das Ziel der Bekämpfung illegaler Einwanderung in den Schengenraum anführen und unter Beachtung, dass die Erteilung eines einheitlichen Visums eine Mitentscheidung für alle anderen Mitgliedstaaten darstellt, könnte somit bei allen Abwägungsprozessen der zuständigen Behörden ein „sog. Rücksichts–, Sorgfältigkeits- oder Vorsichtsprinzip“ anzunehmen sein, in diese Richtung auch der EuGH vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 59; in den meisten Fällen wird der Wahrscheinlichkeitsmaßstab von Gesetzeswegen zumindest konkludent vorgegeben so Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 317; BVerfG, 10. 07. 1989 – 2 BvR 502/86, 2 BvR 961/86, 2 BvR 1000/86, BVerfG 80, 315. 122 EuG, Urteil vom 12. 02. 2008 – Rs. T-289/03, BUPA / Kommission, Rn. 267; vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 51 f.; W-R. Schenke / Ruthig, in: Kopp / Schenke, § 114 VwGO Rn. 24. 123 Siehe EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005. – Rs. C-12/03 P, C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 28, 38, 39, DVBl. 2005, S. 595; vgl. auch W-R. Schenke / Ruthig, in: Kopp / Schenke, § 114 VwGO, Rn. 24; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn 50, 51. 124 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56, 57; vgl. W-R. Schenke /  Ruthig, in: Kopp / Schenke, § 114 VwGO, Rn. 24; zu „(positiv-)rechtlichen Settings“ Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 50, 51. 120

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b) Komplexe Faktoren innerhalb der Verwaltungsentscheidungsmatrix Der Gerichtshof rechtfertigt die Komplexität der Verwaltungsentscheidung in der Sache unter anderem mit der eventuell vorzunehmenden (Risiko-)Prognose, welche mit vereinzelten komplexen Teilelementen der Gesamtentscheidung zusammenhängt, sofern diesen eine zukunftsorientiere Betrachtung inhärent ist,125 der Diversität und Vielzahl verwertbarer Belege sowie der Ermittlungsmöglichkeiten der zuständigen Behörde.126 Die Annahme hoher Komplexität muss sich grundsätzlich in den Einzelheiten der Gesamtentscheidung der Behörde manifestieren127 und kann nicht lediglich aus dem prognostischen Teil der Gesamtentscheidung abgeleitet werden.128 Im Rahmen der Beurteilung ist die spezielle Sachkenntnis der Behörde zur wirtschaftlich, politisch sowie sozial dynamischen Lage des jeweiligen Herkunftslandes129 in die Bewertung einzubeziehen und mit der individuellen Situation des Antragstellers zu verknüpfen.130 Darüber hinaus können Erfahrungswerte und Erkenntnisse der zuständigen Behörde als Anlaufstelle für das entsprechende Verfahren, die im Rahmen anderer Anträge gewonnen wurden, vor allem vor dem Hintergrund der Verifikation der Authentizität der Vielzahl und Diversität an Belegen aus vielen verschiedenen Herkunftsländern abgerufen werden. Die Kumulation der Prüfungs- und Bewertungsschritte sowie die Möglichkeit der (Risiko-) Prognose rechtfertigen im konkreten Fall die Annahme einer hohen Komplexität der Prüfungsentscheidung der zuständigen Behörde.131

125

An der Argumentation des Gerichtshofs wird dieser Zusammenhang sichtbar, da zunächst Verweigerungsgründe mit zukunftsorientiertem „komplexen“ Prüfungsverlauf aufgezählt werden und sodann das Prognoseerfordernis für diesen „komplexen“ Prüfungsverlauf genannt wird, EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56, 57; zutreffend daher Calliess, in: FS Götz, S. 250. 126 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56, 57, 58, 59; nicht ganz mit Koushaki korrespondierend EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41. 127 Grundsätzlich vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 VwGO Rn.71. 128 So EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56, 57; mittelbar durch das Außeracht lassen des Vorbringens der Kommission bei Rekurrieren auf die Komplexität, vgl. EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005. – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 28, Rn. 38, 39; vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 50 f. 129 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 59; ebenfalls EuG, Urteil vom 16. 05. 2018  – Rs. T-712/16, Verpflichtungszusagen, Rn. 35; vgl. Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 199; vgl. Nierhaus, DVBl. 1977, S. 19 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, Art. 19 Abs. 4, 2014, Rn. 199; Redeker, in: FS Scupin, 1983, S. 861, 875; kritisch Braun, VerwArch 76 (1985), S. 158, 182; Paefgen, BayVBl. 1986, S. 513, 551; Bauer, in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Allgemeiner Teil, S. 446 f. 130 Vgl. Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 VwGO Rn. 56. 131 Dahingehend vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14, Rn. 21, NVwZ 2016, S. 161; Hinsichtlich der besonderen Dynamik einer Materie, vgl. Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 199 f.; BVerwG, 28. 05. 2009 – 2 C 33.08, BVerwGE 134, 108 Rn. 11 f.; BVerwG, 24. 11. 2010 – 6 C 16.09, BVerwGE 138, 186 Rn. 42 ff.

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c) Die Rolle der Komplexität für das administrative Letztentscheidungsrecht Weiterhin wird sprachlich nicht ersichtlich, welche Dimension das Komplexitätskriterium im Rahmen der Herleitung des administrativen Letztentscheidungsrechts einnimmt, da die Argumentation des Gerichtshofs im Anschluss an die ausführliche systematische Erörterung erfolgt.132 Bei Betrachtung des Wortlauts der Ausführungen, welche die Komplexitätsbegründung einleiten,133 findet sich in der deutschen Abfassung des Urteils die Verwendung von „gleichwohl“, sodass aufgrund des Wortlauts davon ausgegangen werden kann, dass, unbeschadet einer vorausgehenden gegenteiligen Feststellung durch die systematische Auslegung, die Komplexitätsbegründung für die Annahme eines administrativen Letztentscheidungsrechts ausreicht.134 In der englischen und französischen Abfassung des Judikats findet sich ebenfalls der entsprechende Wortlaut durch die Verwendung von „however“ oder „toutefois“.135 Überdies kann der angestellten Herleitung, Begründung und Feststellung der Komplexität selbst bereits aufgrund ihres Ausmaßes und ihrer Prägnanz innerhalb des Judikats ein Vielfaches mehr abgewonnen werden als dem herkömmlichen Begründungsansatz des Gerichtshofs, was als bemerkenswerte Ausprägung der unionsgerichtlichen Rechtsprechung in Sachen Komplexitätsbegründung anzusehen ist.136 Insofern wird zumindest für das administrative Letztentscheidungsrecht in den vorstehenden Urteilen des Migrationsrechts deutlich, dass das universell eingesetzte Komplexitätskriterium des Gerichtshofs zumindest im Verhältnis zur systematischen und grammatischen Auslegung ebenfalls eine konstituierende Bedeutung für das administrative Letztentscheidungsrecht okkupiert.137

132

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56. 134 Siehe Duden, S. 448. 135 Vgl. „However“– in any way oder nevertheless, PONS Wörterbuch Englisch, S. 614, II (1) oder (2); „toutefois“ – PONS Wörterbuch Französisch, S. 1164. 136 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 57, NVwZ 2014, S. 289, 292; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41; EuGH, 15. 02. 2005. – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 28, 39, 42–44; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2017 – Rs. C-183/16 P, Tilly-Sabco / Kommission, Rn. 67; EuGH, Urteil vom 16. 05. 2017 – Rs. C-682/15, Berlioz Investment Fund, Rn. 71; EuGH, Urteil vom 18. 04. 2013 – Rs. C-463/11, L, Rn. 24; EuG, Urteil vom 17. 11. 2009 – T-143/06, MTZ Polyfilms, Rn. 46, 48; EuG, Urteil vom 12. 12. 1996 – Rs. T-380/94, AIUFFASS / Kommission, Rn. 119, 121; EuG, Urteil vom 27. 04. 2016 – T-463/14, Österreichische Post / Kommission, Rn. 38–41, 86 ff.; vgl. auch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 363; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 185; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 167; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 385. 137 Daher im Migrationsrecht zuzustimmen, Calliess, in: Ruffert / Calliess, AEUV, Art. 296 Rn. 10; Classen, Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV, Art.  197 Rn.  48; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 167; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 385; vgl. grundsätzlich 133

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d) Zwischenergebnis Es ist festzuhalten, dass die Annahme einer von der Behörde vorzunehmenden Prognoseentscheidung grundsätzlich nicht bereits die Komplexität der Verwaltungsentscheidung rechtfertigt. Vielmehr ist die Komplexität der Entscheidung anhand verschiedenster Faktoren, welche die Behörde in ihre Entscheidungsmatrix einstellen muss, herzuleiten. Soweit die Komplexität hergeleitet und festgestellt ist, nimmt der EuGH ebenfalls auf Grundlage der Komplexität ein administratives Letztentscheidungsrecht an.138 Dass die Komplexität eine für das Letztentscheidungsrecht konstituierende Rolle einnimmt, lässt sich aufgrund des Ausmaßes sowie insbesondere der sprachlichen Argumentation feststellen. Unter Berücksichtigung dessen, dass der EuGH auf die Entscheidung in der Rechtssache „Koushkaki“139 verweist und die Ausführungen hierzu unverändert übernommen wurden, lässt sich in Bezug auf die Komplexität der Verwaltungsentscheidung für die Rechtssache „Fahimian“ in der Sache selbst kein abweichendes Ergebnis feststellen.140 Dennoch bleibt zu erwähnen, dass in der Abfassung der Urteile unter Einsatz von Präjudizien positivrechtlich begründete Argumente bei Entscheidungen mit unterschiedlicher Gesetzesgrundlage fehlgehen. 6. Indifferenz der unionsgerichtlichen Kontrolle Der vorstehende administrative Entscheidungsspielraum müsste zu einem Rückgang gerichtlicher Kontrolldichte führen.141 Die Ausgestaltung der gerichtlichen Prüfung gibt dabei im Wesentlichen Aufschluss, ob der identifizierte Entscheidungsspielraum aufgrund des gerichtlichen Prüfungsmaßstabs in Richtung Beurteilungsspielraum differenziert werden kann.142 Maßstab und Reichweite des Prüfungsprogramms der Gerichte werden durch das dem Entscheidungsspielraum zugrundeliegende Fachgesetz beeinflusst, sodass die Bereiche gerichtlicher Kontrolle entzogen sind, auf welche sich der behördliche Entscheidungsspielraum er-

Rennert, in: Eyermann, § 114 VwGO Rn. 71.; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 50 f.; BVerfG, Beschluss vom 17. 4. 1991– 1 BvR 419/81 und 213/83, BVerfGE 85, 36; BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992 – 1 BvR 167/87, BVerfG 88, 40; kritisch Gärditz, NJW-Beilage 2016, 41, 44. 138 Im Migrationsrecht zu bejahen, vgl. daher zuzustimmen, Calliess, in: Ruffert / Calliess, AEUV, Art. 296 Rn. 10; Classen, Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV, Art.  197 Rn.  48; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 167; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 385. 139 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki. 140 Vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41 ff. 141 Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 286; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 54; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 31 f.; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 220 f. 142 Grundsätzliche Darstellung und a. A. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 30, 41, 54, 61.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

streckt.143 Weitere prüfungsrelevante Besonderheiten ergeben sich aus der Natur des administrativen Letztentscheidungsrechts.144 Bei Prognosespielräumen ist die wissenschaftlich gewählte Methode und richtige Anwendung ebenfalls der Prüfung unterworfen.145 a) Herleitung eines unionsgerichtlichen Mindestprüfungsmaßstabes Da der Europäische Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV nur abstrakte Fragen des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht beantwortet146 und das Verwaltungsgericht Berlin keine Frage im Hinblick auf den Prüfungsumfang gestellt hat, enthält das Judikat in der Rechtsache „Koushkaki“ keine direkte Aussage dahingehend. Durch Auslegung des Visakodex und Zugrundelegung des Urteils in der Rechtssache „Koushkaki“ finden sich jedenfalls Anhaltspunkte, die ein (europä­ isches) Mindestmaß des gerichtlichen Prüfungsumfangs sicherstellen.147 Zunächst muss der gerichtlichen Kontrolle schon für die Gewährleistung ihrer Funktion als kontrollierende rechtstaatliche Institution (1.) die Überprüfung der korrekten Sachverhaltsermittlung und (2.) der richtigen Auslegung des anzuwendenden Rechts vorbehalten bleiben.148 Wenn der Gerichtshof außerdem feststellt, dass der unionsrechtliche Beurteilungsspielraum der Behörde sowohl die Anwendungsvoraussetzungen als auch die Tatsachenwürdigung umfasst, subtrahiert das Unionsrecht das Maß gerichtlicher Kontrolle zusätzlich um die Tatsachenwürdigung.149 Die Herausarbeitung des gerichtlichen Prüfungsprogrammes findet mit 143

BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992 – 1 BvR 167/87; NVwZ 1993, S. 666; BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34; BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991  – 1 BvR 1529/84; vgl. Schmidt-Aßmann / Groß, NVwZ 1993, S. 617, 618; ­Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 38; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 77; Schenke /  Ruthig, in: Kopp / Schenke, § 114 Rn. 28a; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 353; Knauff, in: Gärditz, § 114 VwGO Rn. 32; Knauff, in: Gärditz, § 114 VwGO Rn. 32; Stelkens, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 220, 221; bei einer einheitlichen Betrachtung von administrativen Letztentscheidungsrechten sog. Abwägungsmodell vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 41, 54; Gehardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 VwGO, Rn. 62 ff.; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 240 Rn. 70 f.; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 195; Schoch, Jura 2004, S. 612, 614. 144 Vgl. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 240 Rn. 69. 145 Vgl. Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 323; im vorliegenden Fall trifft die zuständige Behörde ihre Prognose anhand erlangter Erfahrungswerte, sodass dieser Prüfungspunkt ausscheidet. 146 Schwarze / Wunderlich, in: Schwarze EU-Kommentar, Art. 267 AEUV Rn. 9, 15 ff. 147 A. A. BVerwG, Urteil vom 17. 9. 2015 – 1 C 37/14, Rn. 21, NVwZ 2016, S. 161. 148 Nolte, Die Eigenart des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 46 ff., 52 f.; Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, § 3 Rn. 13 f.; Lorenz, in: FS Menger, S. 143, 145 f.; Jestaedt, in: Ehlers /  Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 41, 54. 149 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 41.

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hin konkludent im Wege der Skalierung des Entscheidungsspielraumes statt. Dem Gericht bleibt dann nur (3.) die Überprüfung, ob alle relevanten Tatsachen aus dem erfolgreich ermittelten Sachverhalt von der Behörde überblickt worden sind. Der Gerichtshof betont weiterhin, dass zur Gewährleistung des 3. Erwägungsgrundes des Visakodex ein Mitgliedstaat nicht willkürlich über die Erteilung des Visums entscheiden darf, wenn der Antragsteller alle Erteilungsvoraussetzungen erfüllt, sodass (4.) eine grundsätzliche Willkürkontrolle der Behörde vorgenommen werden muss.150 Dies muss im Hinblick auf die Begründungspflicht der Behörde gemäß Art. 29 Abs. 2, Art. 34 Abs. 6, und Art. 35 Abs. 7 Visakodex (selbst bei der Verwendung von standardisierten Formblättern, vgl. Anhang VI) erst recht gelten, da die Begründungspflicht bei fehlender Kontrollmöglichkeit ihren Sinn verliert und damit wirkungslos bleibt.151 Des Weiteren findet sich im 7. Erwägungsgrund des Visakodex, dass dem Verwaltungsverfahren ein hohes Maß an Qualität zukommt, welches durch die Mitgliedstaaten gewährleistet werden muss und in Titel III Kapitel I bis III des Visakodex detailliert beschrieben ist. Neben die Willkürkontrolle des Gerichts tritt dann auch (5.) die Kontrolle der Einhaltung des Verwaltungsverfahrens und der Zuständigkeit der Behörde, da ein hoher Qualitätsstandard des Verfahrens konsequenterweise nur mit einer hinreichenden Kontrolle gewährleistet werden kann und im Rahmen der unionsgerichtlichen Kontrolle somit die erforderliche rechtstaatliche Kontrolle gewährleistet wird.152 b) Feststellung des Prüfungsmaßstabes durch den EuGH Im Gegensatz zu der Rechtssache „Koushkaki“153 veranlasst das vorlegende Gericht mit der ersten Vorlagefrage, dass der EuGH sich zu der gerichtlichen Kontrolle des administrativen Entscheidungsspielraumes äußert.154 Der Gerichtshof geht in der Rechtssache „Fahimian“ dezidiert auf die gerichtliche Kontrolle der mit dem Beurteilungsspielraum versehenen Verwaltungsentscheidung ein. Die gerichtliche Kontrolle ist auf offenkundige Fehler beschränkt. Darüber hinaus müsste das Gericht überprüfen, ob sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalles von der zuständigen Behörde untersucht worden sind sowie eine hinreichende Begründung der Behörde in Bezug auf die Verwaltungsentscheidung abgegeben worden ist. Anhand der Begründung kann das Gericht überprüfen, ob 150

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52. Calliess, in: FS Götz, S. 251; vgl. auch EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015  – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 70, EuZW 2015, S. 599; EuGH, Urteil vom 19. 11. 2013, Rs. C-63/12, Kommission / Rat, Rn. 98, 99; EuGH, Urteil vom 29. 02. 1996, – Rs. C-122/94, Kommission / Rat, Rn. 29, Slg. 1996, I–881; EuGH, Urteil vom 12. 07. 2005 – Rs. C-154/04, Rs. C-155/04, Alliance for Natural Health, Rn. 133; EuGH, Urteil vom 12. 12. 2006 – Rs. C-380/03, Deutschland / Parlament und Rat, Rn. 107. 152 Als Technik des EuGH betitelnd, Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 376 a. E. 153 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki. 154 Vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 28. 151

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

die sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben, die für die Ausübung des Beurteilungsspielraumes maßgeblich sind.155 Der Gerichtshof rekurriert auf Präjudizen unterschiedlicher Referenzgebiete des Europäischen Verwaltungsrechts, in denen er auf die gerichtliche Kontrolle der behördlichen Letztentscheidungsprogramme eingegangen ist.156 aa) Inhomogenität der präjudizierten Letztentscheidungsprogramme Des Weiteren sind die von dem EuGH zitierten Urteile heranzuziehen, welche aufgrund der Bezugnahme innerhalb der Äußerungen zur Überprüfung des administrativen Letztentscheidungsrechts nicht nur von unerheblicher Bedeutung sind. (1) Rs. ERG So beziehen sich beispielsweise die Ausführungen hinsichtlich der eingeschränkten Kontrolldichte in der Rechtssache „ERG“,157 ungeachtet der Verwendung der Terminologie „Ermessen“ durch den Gerichtshof, auf einen justiziablen Freiraum, der normstrukturell aufgrund der Positionierung auf der Rechtfolgeebene158 schon nicht dem Beurteilungsspielraum gleicht, sondern eher einem behördlichen Ermessen.159 Die Begründung erfolgt ebenfalls und primär aufgrund der komplexen Wertungen, die vorzunehmen sind.160 Für den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 RL 2004/35/EG161 lässt sich dies mit der deutschen Ermessensdogmatik

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Vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46. U. a.: EuGH, Urteil vom 11. 09. 2008  – Rs. C-279/06, CESPA; EuGH, Urteil vom 06. 11. 2008  – Rs. C-405/07 P, Niederlande / Kommission; EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015  – Rs. C-62/14, Gauweiler, EuZW 2015, S. 599; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG. 157 EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG, Rn. 59, 60. 158 Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 9; zur Dogmatik, ebenfalls kritisch Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 1 Rn. 10 f.; Schoch, Jura 2004, S. 462, 463; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 6; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 198 f.; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 VwGO Rn.  13 f.; Stuhlfauth, in: Bader / Funke-Kaiser / Stuhlfauth von Albedyll, § 114 VwGO Rn. 4 ff.; Rennert, in: Eyermann, § 114 VwGO, Rn. 1 ff.; Ehlers, in: Ehlers / Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, § 22 Rn. 81. 159 EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010  – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG, Rn. 59, 60; ebenfalls ausgehend von Ermessen in dieser Entscheidung vgl. Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR Rn. 218 f. 160 EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08 und C-380/08, ERG, Rn. 60. 161 Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, ABl. L 143 vom 30. 04. 2004, S. 56–75. 156

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durch die Verwendung von „kann“ mit Rechtsfolgenbezug partiell verifizieren.162 Dabei hat die Behörde sowohl ein Entschließungsermessen als auch ein Auswahlermessen innerhalb der Varianten lit. a bis lit. e.163 Im Hinblick auf den Art. 7 Abs. 2 RL 2004/35/EG kann allein aufgrund des Normwortlautes keine Differenzierung gelingen,164 allerdings zielt die Regelung darauf ab, dass Sanierungsmaßnahmen im Anschluss an Umweltschädigungen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 RL 2004/35/EG vorgenommen werden müssen. Gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b RL 2004/35/EG muss es sich hierbei um eine „erforderliche Maßnahme“ des Sanierungsmaßnahmenkatalogs in Anhang II handeln. Die zuständige Behörde trifft die Entscheidung über die Art der Sanierungsmaßnahme gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b i. V. m. Art. 7 Abs. 2 i. V. m. Anhang  II RL 2004/35/EG, sodass der zuständigen Behörde zumindest ein Auswahlermessen zukommt. Dabei steht Art. 6 Abs. 2 RL 2004/35/EG ebenfalls in einem solchen Zusammenhang zu Art. 6 Abs. 1 RL 2004/35/EG, da das behördliche Ermessen erst bei Vorliegen einer Umweltschädigung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 RL 2004/35/EG eröffnet ist. Weiterhin ist gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. a RL 2004/35/EG kumulativ eine praktikable Vorkehrung zu treffen, um Schadstoffe und bzw. oder sonstige Schadfaktoren unverzüglich zu kontrollieren, einzudämmen, zu beseitigen oder auf sonstige Weise zu behandeln, um weitere Umweltschäden und nachteilige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit oder eine weitere Beeinträchtigung von Funktionen zu begrenzen oder zu vermeiden, was ebenfalls einem Auswahlermessen gleicht. Darüber hinaus provoziert die Verwendung der konturlosen unbestimmten Rechtsbegriffe „praktikable Vorkehrungen“ sowie „erforderliche Maßnahmen“ aufgrund der ihnen immanenten Auslegungsunsicherheit hinsichtlich der zu ergreifenden Vorkehrungen bzw. Maßnahmen einen Gesamtabwägungsprozess im Rahmen der Verwaltungsentscheidung, welcher die zuständige Behörde zwingt, die Vorkehrungen bzw. die Maßnahmen des Sanierungskataloges in Anhang II an ihrer Praktikabilität bzw. Erforderlichkeit im konkreten Einzelfall zu messen. Zwar lässt sich durch die bloße Addition weiterer Einzelprüfungsprozesse im Rahmen der

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So ebenfalls EuGH, 24. 01. 2002 – Rs. C-500/99 P, Conserve Italia / Kommission, Rn. 67 f., 98; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2014 – Rs. C-358/12, Libor, Rn. 35; EuG, Urteil vom 19. 9. 2012 – Rs. T-265/08, Deutschland / Kommission, Rn. 85, 150; vgl. grundsätzlich Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, VwVfG § 40 Rn. 25; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 9; zur Dogmatik ebenfalls kritisch Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 1 Rn. 10 f.; Stuhlfauth, in: Bader / Funke-Kaiser / Stuhlfauth von Albedyll, § 114 VwGO Rn. 6; Schoch, Jura 2004, S. 462, 463; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 6; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 198 f.; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 VwGO Rn. 13 f.; Stuhlfauth, in: Bader / Funke-Kaiser / Stuhlfauth von Albedyll, § 114 VwGO Rn. 4 ff.; Rennert, in: Eyermann, § 114 VwGO, Rn. 1 ff.; Ehlers, in: Ehlers / Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, § 22 Rn. 81. 163 Zu den Begrifflichkeiten, Stuhlfauth, in: Bader / Funke-Kaiser / Stuhlfauth von Albedyll, § 114 VwGO Rn. 6; Rennert, in: Eyermann, § 114 VwGO, Rn. 1 ff. 164 Das „kann“ ist nicht zwingende Voraussetzung, sondern eher Indiz im Rahmen der Auslegung, vgl. Stuhlfauth, in: Bader / Funke-Kaiser / Stuhlfauth von Albedyll, § 114 VwGO Rn. 6.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

Rechtsfolgenwahl ein Letztentscheidungsrecht allein nicht deshalb statuieren,165 allerdings macht die Installation des Gesamtabwägungsprozesses das Bedürfnis von Zweckmäßigkeitserwägungen durch die zuständige Behörde erkennbar.166 Zusätzlich ist festzuhalten, dass der Tatbestand (Art. 6 Abs. 1 RL 2004/35/EG) und die Rechtsfolgen (Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 2 RL 2004/35/EG) unterscheidbar sind und sich bedingen, was dem klassischen Ermessensmodell zugeordnet wird.167 (2) Rs. Gauweiler Ebenfalls bezieht sich der EuGH auf die Entscheidung in der Rechtssache „Gauweiler“.168 Im Rahmen dieser Entscheidung stellt der EuGH fest, dass dem Europäischen System der Zentralbanken (siehe Art. 127 AEUV, im Folgenden „ESZB“) ein weiter justiziabler Freiraum bei der Ausarbeitung und Durchführung eines Programms für Offenmarktgeschäfte einzuräumen sei, da es sich um eine Entscheidung technischer Natur handle, die mit komplexen Beurteilungen und Prognosen verbunden sei.169 Die Feststellung des Ermessens durch den EuGH geschieht dabei nur punktuell und der Verhältnismäßigkeitsprüfung vorangestellt.170 Ausweislich der Ausführungen des EuGH bilden die Grundlagen des justiziablen Freiraums primär die Komplexität und der Prognosecharakter der Entscheidung durch das EZSB.171 Eine ausführliche Herleitung des justiziablen Freiraums auf der Grundlage des Gesetzes, namentlich der Art. 119, Art. 127 ff. AEUV, und an einem unbestimmten Rechtsbegriff, entsprechend der Judikate im Migrationsrecht, erfolgt dagegen nicht. Aufgrund der Funktion des ESZB und seiner Kompetenz gemäß Art. 127 Abs. 2 AEUV, die (Währungs-)Politik der Union festzulegen und auszuführen, ist der Entscheidung insoweit ein hoher politischer Gehalt immanent, sodass die Leistungsressorts der Gerichtsbarkeit auf der einen Seite und des politischen Entscheidungsträgers (ESZB) auf der anderen Seite bei der Nichtwahrung des funktionell begründeten justiziablen Freiraums Gefahr laufen, sich

165 Gefolgert aus den Erwägungen des BVerfG, da es sich hierbei nicht um einen gewichtigen Grund handelt, vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig / Schmidt-Aßmann, GG Art.  19 Abs. 4 Rn. 184; Das Gericht muss über die Befugnisse verfügen, alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen und Rechtsfragen zu prüfen, vgl. Jarass, in: Jarass, GrCh, Art. 47 Rn. 30a; EuGH, Urteil vom 06. 11. 2012 – Rs. C-199/11, Otis, Rn. 49; EuGH, Urteil vom 18. 07. 2013 – Rs. C-501/11, Schindler, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 17. 12. 2015 – Rs. C-300/14, Imtech, Rn. 38. 166 Sog. innere Bindungen des Ermessens, vgl. Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 15, 72. 167 Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 13. 168 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46; EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler. 169 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 68. 170 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 67–69. 171 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 68.

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zu verschieben.172 Der politische Charakter der Entscheidung zeigt sich ebenfalls am eingeschränkten Begründungserfordernis gemäß Art. 296  Abs.  2 AEUV173 und aufgrund der weiteren Verweisung auf die Rechtssache „Afton Chemical“. In dieser Rechtssache hat der Gerichtshof die Einschätzungsprärogative des Unionsgesetzgebers innerhalb der Beurteilung hochkomplexer wissenschaftlicher oder technischer und tatsächlicher Umstände bei der Festlegung der Art und des Umfangs der Maßnahmen betont.174 Entsprechendes gilt auch für die Verweisung auf die Rechtssache „Billerud Karlsborg / Billerud Skärblacka“, in der dem Unionsgesetzgeber ein weites Ermessen zugestanden wurde, wenn er in einem Bereich tätig wird, in dem von ihm politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt werden und er komplexe Beurteilungen vornehmen muss.175 Darüber hinaus lässt sich nicht präzisieren, worauf sich die Beurteilungen und Prognosen innerhalb der Entscheidung beziehen. Würde es sich um die Beurteilung der Frage handeln, welche mit Prognosen verknüpft sein kann, ob die Preisstabilität durch die Maßnahme gemäß Art. 127 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 AEUV beeinträchtigt oder gemäß Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV stabilisiert wird, könnte ein administratives Letztentscheidungsrecht auf der Tatbestandsebene angenommen werden, da dies die Voraussetzung für ein Handeln des ESZB statuiert. Dagegen würde es sich bei einer nur eingeschränkt judizierbaren Beurteilung der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der vorzunehmenden Maßnahme um ein administratives Letztentscheidungsrecht auf der Rechtsfolgenebene handeln. Zwar würde die Überprüfung des administrativen Letztentscheidungsrechts im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH nahelegen,176 dass es sich um ein administratives Letztentscheidungsrecht auf Rechtsfolgenebene handle. Allerdings wird innerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Ambivalenz der fraglichen Beurteilung durch den ESZB deutlich, da die Beurteilung einer Förderung oder Erhaltung der Preisstabilität einerseits als Tatbestandsvoraussetzung maßnahmenkonstituierend ist177 sowie gleichzeitig auf Rechtsfolgenebene für die Geeignetheit der Maßnahme erheblich ist.178 Diese Verquickung von Tatbestand und Rechtsfolge

172 Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76 f.; Rennert, in: Eyer­mann, § 114 Rn. 54, Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 33; Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 411; Gerhardt, NJW 1989, S. 2233, 2236; Brohm, DVBl. 1986, S. 321, 326; P. Kirchhof, NJW 1986, S. 2275, 2279; Franßen, in: FS Zeidler, S. 429, 442; zur Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit Schmidt-Aßmann, in: FS Menger, S. 107; eine Hypertrophie dieses Ansatzes könne dagegen zur Austrocknung der Kontrolle in den jeweiligen Rechtsgebieten führen so Gärditz, NJW-Beilage 2016, S. 41, 43. 173 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 70. 174 EuGH, Urteil vom 8. 7. 2010  – Rs. C-343/09, Afton Chemical, Rn. 28 ff.; Verweis auf EuGH, Urteil vom 15. 10. 2009 – Rs. C-425/08, Enviro Tech Europe, Rn. 47 ff. 175 EuGH Urteil vom 17. 10. 2013 – Rs. C-203/12, Billerud Karlsborg / Billerud Skärblacka, Rn. 34–36. 176 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 76, 79, 81, 84, 87, 88, 89–91. 177 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 75, 80. 178 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 81, 91, 92.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

begünstigt eine einheitliche Behandlung von justiziablen Freiräumen, ungeachtet deren Verortung innerhalb der Normstruktur. (3) Rs. Technische Universität München Im Hinblick auf die Überprüfung der Einhaltung der Verfahrensgarantien innerhalb des Verwaltungsverfahrens wird auf die Rechtssache „Technische Universität München“ verwiesen, in welcher der Europäische Gerichtshof der Kommission ohne positivrechtlichen Tiefgang bei der Erteilung von Zollbefreiungen gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. b EWG/1798/75179 aufgrund der technisch komplexen Entscheidung ein administratives Letztentscheidungsrecht einräumt180 sowie im Rahmen der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle die einzelnen Verfahrensgarantien benennt. Dazu gehöre insbesondere die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalles zu untersuchen, das Recht des Betroffenen, seinen Standpunkt zu Gehör zu bringen und das Recht auf eine ausreichende Begründung der Entscheidung.181 Für die Frage der Zollbefreiung als Rechtsfolge sind gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. b EWG/1798/75 zunächst die Tatbestandsvoraussetzungen festzustellen, ob ein wissenschaftliches Instrument, Apparat und Gerät, das nicht unter Art. 2 fällt und das ausschließlich für Lehrzwecke oder für die reine wissenschaftliche Forschung eingeführt wird und ob zurzeit kein Instrument, Apparat oder Gerät von gleichem wissenschaftlichen Wert in der Gemeinschaft hergestellt wird. Die Kommissionsentscheidung, ob die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, ist aufgrund des administrativen Letztentscheidungsrechts nur eingeschränkt justiziabel. Ausweislich der gesetzlichen Konstruktion lässt sich das administrative Letztentscheidungsrecht somit präzise auf der Tatbestandsebene lokalisieren. Darüber hinaus lässt sich in Art. 3 Abs. 1 lit.  b EWG/1798/75 der Rechtsbegriff „von gleichem wissenschaftlichem Wert“ finden, welcher aufgrund seiner nicht nur unerheblichen Abstraktheit einen unbestimmten Rechtsbegriff darstellt.182 Die Erschwernis bei der Auslegung dieses Rechtsbegriffes und Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des Tatbestandes zeigt bereits die Konsultation einer Sachverständigengruppe, um in erster Linie die nötigen technischen Informationen zu erhalten.183 Nach Konsultation der Sachverständigengruppe und Anhörung der Beteiligten ist sodann die Gleichwertigkeit der Instrumente, Apparate oder Geräte im Sinne 179

Verordnung des Rates vom 10. 07. 1975, ABl. L 184. EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München, Rn. 13. 181 EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München, Rn. 14. 182 Zur Unbestimmtheit vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 24; Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, § 10 Rn. 23; etwas anders Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 27 ff.; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 195. 183 Vgl. EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München, Rn. 19–22. 180

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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des Art. 3 Abs. 1 lit. b EWG/1798/75 festzustellen, was im Wege einer Gesamtbetrachtung des Forschungszwecks bzw. des Lehrzwecks und der komplexen technischen Informationen über die jeweiligen Instrumente, Apparate oder Geräte, die im Rahmen dessen zu vergleichen sind, durchzuführen ist.184 Insofern ergeben sich Parallelen zu dem normativen Aufbau und der Herleitung der administrativen Letztentscheidungsrechte aus dem Migrationsrecht und der deutschen Beurteilungsspielraumdogmatik.185 (4) Rs.  Bertelsmann / Sony BMG In der Rechtssache „Bertelsmann / Sony BMG“ erkennt der Gerichtshof einen justiziablen Freiraum der Kommission in Wirtschaftsfragen sowie bei der Anwendung der Grundregeln der FKVO an.186 Dieser bestehe insbesondere hinsichtlich der Feststellung des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzung der „beherrschenden Stellung“ gemäß Art. 2 Abs. 2 FKVO.187 Dabei handelt es sich ebenfalls um einen unbestimmten Rechtsbegriff.188 In concreto lässt sich das administrative Letztentscheidungsrecht auf der Tatbestandsebene einordnen, sodass bei rechtmäßiger Feststellung bzw. Nichtfeststellung einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des Art. 2 FKVO ein Unternehmenszusammenschluss zu untersagen bzw. zu genehmigen ist und somit kein justiziabler Freiraum hinsichtlich der Rechtsfolgen besteht. Damit besteht zumindest eine strukturelle Verwandtschaft zu dem administrativen Letztentscheidungsrecht aus dem Migrationsrecht. Der Gerichtshof betont außerdem, dass die gerichtliche Kontrolle nicht derart durchzuführen sei, dass die wirtschaftliche Beurteilung der Kommission durch die des Gerichts ersetzt werde.189 Eine über die bloße Komplexität hinausgehende Herleitung oder Begründung finde in früheren Grundsatzurteilen des EuGH nur begrenzt statt.190 Dem Vorbringen der Kommission lässt sich hingegen entnehmen, dass jeder Untersuchung einer voraussichtlichen Entwicklung („Prognose“) ein justiziabler Freiraum inhä 184

Vgl. EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München, Rn. 24–28. Vgl. Teil 2 A. II. 1. und A. II. 2. 186 EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06, Bertelsmann / Sony BMG, Rn. 69. 187 EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008  – Rs. C-413/06, Bertelsmann / Sony BMG, Rn. 69 ff., 121; EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998 – Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985  – Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuGH Urteil vom 22. 11. 2007  – C-525/04 P, Spanien / Lenzing, Rn. 56, 57; EuGH, 15. 02. 2005.  – Rs. C-12/03 P, C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131. 188 Vgl. N. Nolte, Beurteilungsspielräume im Kartellrecht der Europäischen Union, S. 72 f. 189 EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06, Bertelsmann / Sony BMG, Rn. 145. 190 EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998 – Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985 – Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuGH Urteil vom 22. 11. 2007 – C-525/04 P, Spanien / Lenzing, Rn. 56, 57; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131. 185

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

rent ist.191 Die stringente Fortführung dieser Aussage bedeutet somit, dass jede prognosebehaftete Verwaltungsentscheidung, ungeachtet ihrer Komplexität, mit einem justiziablen Freiraum versehen ist und folglich konsequenterweise zu einer Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle führt.192 Der Gerichtshof nimmt lediglich dahingehend Stellung, dass im Hinblick auf das administrative Letztentscheidungsrecht die gerichtliche Kontrolle nicht gänzlich unterlassen werden darf und insbesondere für den Fall des gerichtlichen Nachvollziehens einer prognostizierenden Verwaltungsentscheidung die Kontrolle der Tatsachengrundlage sowie der angeführten Beweise erst recht bestehen bleiben muss.193 Der Gerichtshof trifft somit berechtigterweise keine Pauschalaussagen zu der Relation von Prognoseentscheidungen und administrativen Letztentscheidungsrechten. (5) Zwischenergebnis Die Herleitung der justiziablen Freiräume in den verschiedenen Urteilen ist freilich von verschiedenem Umfang. Allen Urteilen ist zunächst das Anführen von Entscheidungskomplexität als Begründung des justiziablen Freiraumes inhärent. Im Vergleich mit den Urteilen in den Rechtssachen „Koushkaki“ und „Fahimian“ finden sich insgesamt deutlich weniger und schwächere Begründungsansätze für das administrative Letztentscheidungsrecht. Die Konsequenz dessen ist eine fehlende Überprüfungsmöglichkeit im Hinblick auf die Rezeption der normativen Ermächtigungslehre.194 In den Rechtssachen „Gauweiler“ und „Bertelsmann / Sony BMG“ kann die Anwendung des funktionalen Ansatzes aufgrund der Beteiligung politischer Organe im Rahmen der Verwaltungstätigkeit und der Ausführungen des Gerichtshofs hinsichtlich des politischen Charakters der Verwaltungsentscheidungen nicht restlos abgelehnt werden.195 Überdies lassen sich ebenfalls unbestimmte Rechtsbegriffe identifizieren, die eine Anwendung der jeweiligen Regelungen erschweren und Entscheidungsprozesse undurchsichtig machen. Aufgrund der nur sehr profanen Begründungen des Gerichtshofs kann insbesondere für die Verwaltungsentscheidungen mit politischem Gehalt keine genuine Relation von unbestimmtem Rechtsbegriff und administrativem Letztentscheidungsrecht auf Tatbestandsebene mit vergleichbarer

191

EuGH, 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 28. Anders siehe Teil 2 A. II. 5. ff.; so auch Calliess, in: FS Götz, S. 250. 193 EuGH, 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 39, 42–44. 194 Ebenfalls v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 185; Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 244; Nolte, Beurteilungsspielräume im Kartellrecht der Europäischen Union, S. 189, 192; Adam, Kontrolldichte-Konzeption, S. 224. 195 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 163; vgl. auch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 364; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 185; Bleckmann, Europarecht, Rn. 863; Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 60; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 385. 192

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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Qualität wie im deutschen Verwaltungsrecht ergründet werden.196 Dennoch trägt der unbestimmte Rechtsbegriff in den analysierten Rechtssachen allgemein und nicht nur in unerheblichem Maß zur Komplexität der Verwaltungsentscheidung bei, was innerhalb der analysierten Judikate als letztentscheidungsrechtbegründendes Kriterium von dem Gerichtshof angeführt wurde. Daher handelt es sich bei dem unbestimmten Rechtsbegriff um einen Faktor innerhalb der Untersuchung administrativer Letztentscheidungsrechte, der zwar eine unterschiedlich große Diskussionsbreite einnimmt, allerdings nicht stets als Begründungskern angesehen werden kann. Nichtsdestotrotz weist der unbestimmte Rechtsbegriff eine Wirkung von erheblicher Bedeutung auf.197 Bei Betrachtung der einzelnen Judikate wird erkennbar, dass es sich nicht immer um strukturgleiche administrative Letztentscheidungsrechte handelt. Teilweise wird im Gegensatz zu den analysierten Judikaten keine präzise Einordnung eines administrativen oder legislativen Letztentscheidungsrechts vorgenommen, sodass sich Erwägungen dahingehend nur aufgrund des zugrunde gelegten Primär- oder Sekundärrechtsakts, der konkreten Entscheidungsqualität sowie des tatsächlichen Entscheidungsträgers anstellen lassen.198 So gleicht das Letztentscheidungsrecht in der Rechtssache „ERG“ einem behördlichen Ermessen und in der Rechtssache „Gauweiler“ gelingt eine eindeutige Identifizierung und Lokalisierung nur schwer, weswegen das administrative Letztentscheidungsrecht eher als indifferent einzuordnen ist und somit auf Tatbestands- als auch auf Rechtsfolgenebene verstanden werden kann. Dagegen lässt sich in den Rechtssachen „Technische Universität München“ und „Bertelsmann / Sony BMG“ eine Strukturidentität mit den Letztentscheidungsrechten des Migrationsrechts feststellen. Diese administrativen Letztentscheidungsrechte werden dennoch, ungeachtet ihrer Struktur und Qualität, einem einheitlichen gerichtlichen Kontrollmaßstab unterworfen. Dieser sehr allgemein gehaltene Kontrollmaßstab kommt dem deutschen Prüfungsmaßstab für Beurteilungsspielräume nahe.199

196

Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn.  8, 163; Henrichs, EuR, S. 289, 291 f.; Bleckmann, EuGRZ 1979, S. 485, 488 f.; Calliess, in: FS Götz, S. 249, 250. 197 Durner, NuR 2019, S. 1, 14; spezifischer vgl. Calliess, in: FS Götz, S. 244 ff., 250. 198 Zwar deutlich als „administratives Letztentscheidungsrecht“ beschrieben, allerdings ohne Konsequenz, siehe EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG, Rn. 59, 60; EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46; weniger deutlich, in: EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München, Rn. 13; vgl. dazu Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn. 217; Buchheim, JZ, S. 630, S. 632 a. E.; Calliess, in: FS Götz, S. 240, 242, 250; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 373 a. E.; Bleckmann, Europarecht, S. 488; Schwarze, in: Schwarze / Schmidt-Aßmann, Das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht- und Umweltrecht, S. 203, 204. 199 BVerwG, 16. 05. 2007  – 3 C 8.06 Rn. 38, BVerwGE 129, 27; BVerwG, 02. 04. 2008  – 6 C 15.07 Rn. 21, BVerwGE 131, 41; vgl. auch: BVerfG, 10. 12. 2009 – 1 BvR 3151/07, Rn. 59, BVerfGK 16, 418.

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bb) Übernahme des administrativen Letztentscheidungsrechts durch die deutsche Gerichtsbarkeit Weiterhin trifft das dem EuGH in den Rechtssachen vorlegende VG Berlin in seinen Folgeurteilen Aussagen zu den Feststellungen des Gerichtshofs.200 Zunächst wird beleuchtet, dass der die Vorlagefrage provozierende § 6 Abs. 1 AufenthG aufgrund seiner normstrukturellen Ausgestaltung als nationale Ermessensnorm nach unionskonformer Auslegung definitiv nicht als eine solche Ermessensnorm zu klassifizieren sei.201 Ebenfalls vermittle die Pflicht zur Gewährung eines Visums bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen nach nationaldogmatischem Verständnis einen Anspruch des Antragstellers.202 Die umfangreiche Skalierung des administrativen Letztentscheidungsrechts kollidiere mit der Vermittlung einer anspruchsbegründenden Rechtsposition, da das Bestehen dieser Rechtsposition stets hinter dem Argument der justiziablen Freiheit, folglich dem Abschirmen intensiver gerichtlicher Kontrolle und der Zuweisung des Anspruchs durch die Gerichte, zurücktrete.203 Insofern würde es sich um einen problembehafteten Rechtsanspruch handeln, welcher im Rahmen von Art. 47 GRCh erörtert werden müsse, da die unionsrechtlich garantierte Effektivität des Rechtsbehelfs durch die gesetzliche Konzeption vereitelt werde.204 Das OVG Berlin-Brandenburg bestätigt die anspruchsbegründende Konzeption des Unionsrechts, ohne die vermeint­ liche Vereitelung der durch Art. 47 GRCh gewährleisteten Rechtsposition des Anspruchsinhabers zu rügen, da es sich um einen Ausnahmefall des Art. 47 GRCh handle.205 Es verweist dabei auf die Argumentation im Rahmen der Einschränkung gerichtlicher Kontrolle durch Beurteilungsspielräume, bei der eine Kollision mit Art. 19 Abs. 4 GG im deutschen Recht stattfinde.206 Hinsichtlich des prozessualen Umgangs mit dem durch die unionskonforme Auslegung zugewiesenen administrativen Letztentscheidungsrecht rekurriert das OVG Berlin-Brandenburg sodann auf die tradierte und national geprägte Vorgehensweise bei auf der „Tatbestandsebene“ lokalisierten administrativen Letztentscheidungsrechten, da unter Ein-

200

VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; VG Berlin, Urteil vom 08. 09. 2017 – 19 K 414.17 –, Rn. 60, juris; nicht direkt aber infolge dessen, VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 201 VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; siehe auch Teil 2 B. I. 1. b) aa). 202 VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, 27, juris. 203 VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, 27, juris. 204 VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, 28, juris. 205 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015  – OVG 3 B 5.14  –, Rn. 23, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. 11. 2014 – OVG 6 B 20.14 –, Rn. 26–28. 206 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. 11. 2014 – OVG 6 B 20.14 –, Rn. 26–28; Richtigerweise bedarf es daher einer kritischeren Auseinandersetzung mit dem Gebot effektiven Rechtsschutz, Gärditz, in: Scheurle / Mayen, Einf. Rn. 146 a. E.; zu Art. 19 Abs. 4 GG siehe BVerfG, Beschluss vom 05. 02. 1963 – 2 BvR 21/60, BVerfGE 15, 275, 282; Beschluss vom 22. 10. 1986  – 2 BvR 197/83  – BVerfGE 73, 339, 373; Beschluss vom 17. 04. 1991  – 1 BvR 419/81, BVerfGE 84, 34, 49; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 184.

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haltung des Äquivalenz- und des Effektivitätsprinzips vorrangig die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten zu beachten sei.207 Das BVerwG bestätigte diese Rechtsprechung mehrfach.208 Im Hinblick auf den hergeleiteten209 und dem unionsrechtlich angelegten210 Kontrollmaßstab ergeben sich jedenfalls zum deutschen, herkömmlich angewendeten211 Kontrollmaßstab kaum bis keine erheblichen Unterschiede.212 Eine Auseinandersetzung mit Art. 47 GRCh erfolgt nur in unzureichender Weise. Vielmehr hätte dezidiert herausgearbeitet werden müssen, was dieser genau voraussetzt und ob diese Voraussetzungen, folglich ein Individualrecht bzw. ein subjektiv-öffentliches Recht,213 im konkreten Fall gegeben sind und inwieweit eine Einschränkung des Art. 47 GRCh unter Bezugnahme der weiten Skalierung des unionsrechtlichen Letztentscheidungsrechts möglich ist.214 Zusätzlich hätte es einer Klärung bedurft, ob bei einer Berufung auf die vorrangig geltende und angewendete Verfahrensautonomie, vor allem aufgrund des national vorgesehenen Rechtsbehelfs, nicht Art. 19 Abs. 4 GG angewendet werden müsste und somit insgesamt ein deutsch geprägtes verwaltungsprozessuales Verständnis für den national konzipierten Rechtsbehelf vorgesehen werden müsste.215 cc) Zwischenergebnis Aufgrund der Verweisung auf die Rechtssache „Koushkaki“ ist davon auszugehen,216 dass der Gerichtshof offensichtlich von einer Strukturidentität der Letztent-

207 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015  – OVG 3 B 5.14  –, Rn. 24, juris; OVG  Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05. April 2017  – OVG 3 B 20.16  –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 05. 2019 – 3 B 64.18 –, Rn. 30, juris; nun als nationaler Modus VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 208 BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; BVerwG, Beschluss vom 06. 04. 2016 – 1 B 22/16, Rn. 4, juris. 209 Siehe Teil  2 B. I. 6. a). 210 Siehe Teil  2 B. I. 6. b). 211 BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015  – 1 C 37/14 Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; BVerwG, Beschluss vom 06. 04. 2016 – 1 B 22/16 –, Rn. 4, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, Rn. 24, juris. 212 Bereits in Teil 2 B. I. 6. b); feststellend auch VG Berlin, Urteil vom 08. 09. 2017 – 19 K 414.17 –, Rn. 60, juris; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 Rn. 20 ff., NVwZ 2016, 161. 213 Zu den Schwierigkeiten im Unionsrecht, Classen, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 197 Rn. 42 ff.; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 234. 214 Dazu Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 216. 215 Mit Verweis auf die nationale Rechtsordnung bereits EuGH, 19. 12. 1968 – 13/68, S. 693, 694, Salgoil; Ausführliche Auseinandersetzung in Teil 4 B. 216 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41.

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scheidungsrechte ausgeht, sodass die vorstehenden Ausführungen und Überlegungen, welche der Rechtssache „Fahimian“ extrahiert wurden, eine entsprechende Anwendung finden.217 Bei Zugrundelegung der vorstehenden Feststellungen, insbesondere der Feststellungen, die auf dem unionsgerichtlichen Präjudizienverweis und seiner Untersuchung gründen, wird allerdings ersichtlich, dass der Gerichtshof die Transition von prädefinierten Prüfungsmaßstäben nicht von einer Strukturidentität abhängig macht, sondern lediglich von einer Strukturähnlichkeit. Diese Ähnlichkeit besteht in der Vermittlung eines justiziablen Freiraums, ungeachtet der gesetzlichen Grundlage, des Referenzgebietes, der Beschaffenheit und der Lokalisierung innerhalb der Normstruktur. In Ansehung dieses Modus ist eine Differenzierung zwischen Beurteilungsspielraum und Ermessen, die gerade auf der Grundlage der Strukturbeschaffenheit des Letztentscheidungsrechts vornehmlich auf der dogmatischen Kategorisierung von Tatbestands- oder Rechtsfolgenebene und der daraus resultierenden Zuführung verschiedener Kontrollmaßstäbe basiert, rein unionsrechtlich nicht möglich. Sofern von einer Übertragung des in der Rechtssache „Fahimian“ konstatierten Prüfungsmaßstabs abgesehen wird, lässt sich freilich kein anderes Ergebnis finden, da die Herleitung eines Prüfungsmaßstabes, basierend auf primär gesetzlichen Indikatoren, lediglich einen sehr unspezifischen Prüfungsmaßstab auswirft, welcher mit dem Prüfungsmaßstab in der Rechtssache „Fahimian“ aufgrund der ihm immanenten Allgemeingültigkeit218 korrespondiert. 7. Teilergebnis Die administrativen Letztentscheidungsrechte sind präzise auf der Tatbestandsebene zu lokalisieren und zumindest partiell durch die Installation von unbestimmten Rechtsbegriffen provoziert, da der Tatbestand dadurch mit Auslegungs- und Rechtsanwendungsunsicherheiten versehen wird, was wiederum die Annahme eines justiziablen Freiraums generell begünstigt. Des Weiteren vollzieht sich die Herleitung durch den EuGH vornehmlich an positivrechtlichen Indikatoren, insoweit besteht eine Nähe zur normativen Ermächtigungslehre,219 welche sich im deutschen Verwaltungsrecht in Bezug auf Beurteilungsspielräume erhöhter Beliebtheit erfreut.220 Da die Begründung des Letztentscheidungsrechts teilweise auch an die Komplexität der Entscheidung anknüpft, bestehen Parallelen zu dem

217

Entsprechend anwendend jedenfalls, VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 218 Richtig daher Sachs, in: Stelkens / Bonk, VwVfG, § 40 Rn. 8. 219 Siehe v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 300; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 384; kritisch Buchheim, JZ 2017, S. 630, 434. 220 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1 Rn. 34, 35; Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 410 ff.; Schmidt-Aßmann, in: FS Scholz, S. 539, 449–552.

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funktionsrechtlichen Ansatz.221 Die Komplexität der Verwaltungsentscheidung als letztentscheidungsrechtsstatuierender Faktor wird anhand verschiedener Kriterien bestimmt, die der Verwaltungsentscheidung inhärent sind. Dem deutschen Verwaltungsrecht entsprechend führt die bloße Pflicht zur Vornahme einer Prognose nicht bereits zur Entscheidungskomplexität,222 vielmehr muss die Verknüpfung verschiedener (zukunftsgerichteter) komplexer Einzelprüfungsprozesse oder weiterer positiver Indikatoren  – wie besonderem Fachwissen bzw. besonderen Erfahrungswerten – innerhalb der Entscheidung insgesamt zur Komplexität führen. Bemerkenswert ist außerdem die Formulierung eines explizit administrativen im Gegensatz zu einem n Letztentscheidungsrecht, welche derart in vergleichbaren oder den zitierten Präjudizien des EuGH nicht stattgefunden hat. Die vorstehenden Kriterien zu den tatbestandlichen administrativen Letztentscheidungsrechten fügen sich in das dogmatische Muster des deutschen Beurteilungsspielraumes ein, allerdings geht diese ihnen scheinbar anhaftende Integrations- und daraus resultierende Differenzierungswirkung innerhalb der administrativen Letztentscheidungsrechte fehl, sofern der unveränderte unionsgerichtliche Kontrollmaßstab angelegt wird.223 Dies gilt aufgrund der fehlenden materiellen Kontrolltiefe ebenfalls für einen unabhängig von der Rechtsprechung des EuGH hergeleiteten Kontrollmaßstab. Die Analyse der deutschen Rechtsprechung betreffend das administrative Letztentscheidungsrecht im Migrationsrecht, erwachsend aus der Judikatur des EuGH, macht vorerst deutlich, dass der Titel des vermeintlichen „unionsrechtlichen Beurteilungsspielraums“224 durch die Unterwerfung des administrativen Letztentscheidungsrechts unter die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie erzwungen wird. Die Verwaltungsgerichte sind dabei von dem Bedürfnis angetrieben, unionsrechtlich begründete Rechtsfiguren in das nationale Recht zu transferieren und im Rahmen der eigenen Verfahrensautonomie einer gerichtlichen Kontrolle zuzuführen, sodass die unionsrechtliche Betrachtung und Verfahrensweise nur peripher Berücksichtigung findet.225 Den maßgeblichen 221

Ebenfalls Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 163; Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, S. 390 f.; Bleckmann, Europarecht, S. 216 f.; mit Verweis auf, EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991  – Rs. C  – 269/90, TÜ München; EuGH, Urteil vom 22. 01. 1976 – Rs. C-55/75, Balkan-Import-Export, Rn. 8; EuGH, Urteil vom 12. 07. 1979 – Rs. C-166/78, Italien / Rat, Rn. 19. 222 Ähnlich Calliess, in: FS Götz, S. 249, 250; Pache, DVBl. 1998, S. 382; für das nationale Recht Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 50, 51. 223 So grundsätzlich Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor. § 113 Rn. 32; Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 191; dahingehend Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 247; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 589 ff.; Götz, DVBl. 2002, S. 1, 4; Saurer, Die Rechtsstellung des Einzelnen im europäisierten Verwaltungsprozess, S. 381. 224 Siehe OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05. 04. 2017 – OVG 3 B 20.16 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 05. 2019 – 3 B 64.18, Rn. 30, juris; VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 225 Näher befasst sich VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V Rn. 26, 28, juris.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

Anknüpfungspunkt bildet daher lediglich die tatbestandliche Einordnung des Letztentscheidungsrechts,226 ungeachtet anderer struktureller Transformations­ defizite, namentlich der abnormalen Skalierung des Letztentscheidungsspielraums, welche zur Verwischung der Grenzen zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum im nationalen Recht führt.227 Vor dem Hintergrund einer nüchternen unionsrechtlichen Betrachtung des EuGH, welche im Hinblick auf administrative Letztentscheidungsrechte grundsätzlich keinem Differenzierungszwang ausgesetzt ist, lässt sich hauptsächlich mit Blick auf den unveränderten Kontrollmaßstab keine Differenzierung vornehmen.

III. Relevanz der Parameter für Letztentscheidungsrechte auf Rechtsfolgenebene Neben der sich vornehmlich auf das tatbestandliche administrative Letztentscheidungsrecht konzentrierenden Betrachtung ist ebenfalls eine sich auf unionsrechtliche Parameter administrativer Letztentscheidungsrechte der Rechtsfolgenebene konzentrierende Untersuchung vorzunehmen, sodass im Rahmen der konsolidierenden Reflexion beider Ebenen eine etwaige Differenzierungskraft erzielt werden kann. Die Parallelen zwischen den administrativen Letztentscheidungsrechten unter den tradierten Merkmalen wie der Normstruktur, dem unbestimmten Rechtsbegriff, der Komplexität und dem gerichtlichen Kontrollmaßstab wurden bereits ansatzweise innerhalb der inkorporierten Analyse der unionsgerichtlichen sowie urteilsbegründenden Präjudizien deutlich, welche im Zuge der Untersuchung des tatbestandlichen Letztentscheidungsrechts vorzunehmen war. 1. Paradebeispiel unionsdogmatischer Symmetrie Im Hinblick auf die Rechtssache „ERG“ handelt es sich freilich nicht um einen Einzelfall für eine dogmatische Unebenheit innerhalb der unionsgerichtlichen Rechtsprechung.228 Es handelt sich vielmehr um ein Paradebeispiel des unionsrechtlichen Verständnisses der dogmatischen Symmetrie der Letztentscheidungsrechte untereinander, welchem als Präjudiz innerhalb der Judikate des EuGH eine begründungsgleiche Wirkung zukommt.229

226

Siehe OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, Rn. 24, juris. Ebenfalls VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V Rn. 26, 28, juris. 228 EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08 und C-380/08, ERG, Rn. 59, 60. 229 Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 365, 367, 415. 227

A. Das Migrationsrecht als Raum gelockerter Gesetzesbindung

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2. Partielle Parallelität letztentscheidungsrechtsstatuierender Parameter Legt man die positivrechtlichen und funktionellen Indikatoren der tatbestandlichen Letztentscheidungsrechte, entspringend den Rechtssachen „Koushkaki“ und „Fahimian“, und der Letztentscheidungsrechte auf der Rechtsfolgenebene übereinander, lassen sich zumindest punktuell miteinander korrespondierende unionsgerichtliche Begründungsansätze für eine gelockerte Gesetzesbindung feststellen. Hierbei handelt es sich entweder um den unbestimmten Rechtsbegriff als Unsicherheitsfaktor innerhalb des Tatbestandes respektive der Rechtsfolge230 oder der Komplexität respektive dem Politcharakter der (Verwaltungs-)Entscheidung als konstitutioneller Faktor.231 Ein paralelles Zusammenwirken sowohl positivrechtlicher als 230 Ebenfalls möglich vgl. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 – Rs. C-551/13, SETAR, Rn. 45; EuGH, Urteil vom 21. 12. 1954 – Rs. C-1/54, Frankreich / EGKS Hohe Behörde; vgl. EuGH, Urteil vom 12. 04. 2018 – Rs. C-541/16, Kommission / Dänemark, Rn. 44; EuGH, Urteil vom 24. 02. 1965 – Rs. C-10/64, Julien / Kommission; EuGH, Urteil vom 16. 06. 1965 – Rs. C-48/64, Brus / Kommission; EuGH, Urteil vom 11. 11. 1975 – Rs. C-37/75, Bagusat / Hauptzollamt Berlin Packhof, Rn. 18 ff.; EuGH, Urteil vom 02. 03. 1978 – 12/77, Debayser / Kommission, Rn. 20– 23; EuGH, Urteil vom 22. 05. 1980  – Rs. C-131/79, Santillo, Rn. 15; zumindest in Bezug auf das Letztentscheidungsrecht betreffend der „angemessenen Sanktion“ nicht ablehnend vgl. EuG, Urteil vom 31. 05. 2018  – Rs. T-352/17, Korwin-Mikke, Rn. 35 ff.; EuGH, Urteil vom 27. 04. 2017 – Rs. C-559/15, Onix Asigurari, Rn. 45 ff.; EuG, Urteil vom 24. 06. 2015 – Rs. T-847/14, GHC / Kommission, Rn. 64; EuGH, Urteil vom 10. 04. 2014  – Rs. C-485/12, Maatschap T. van Oosterom en A. van Oosterom-Boelhouwer, Rn. 63; EuGH, Urteil vom 22. 12. 2010 – Rs. C-77/09, Gowan Comércio Internacional e Serviços, Rn. 82. 231 EuGH, Urteil vom 18. 07. 2007 – Rs. C-326/05 P, Industrias Químicas del Vallés, Rn. 75, Slg. 2007, I–6557; EuG, 28. 06. 2005 – Rs. T-158/03, Industrias Químicas del Vallés, Rn. 95, Slg.  2005, II–2425; EuG, 26. 09. 2014  – Rs. T-630/13, DK Recycling und Roheisen / Kommission, Rn. 60; EuGH, Urteil vom 26. 06. 1990  – Rs. C-152/88, Sofrimport / Kommission, Rn. 14; EuG, Urteil vom 12. 10. 1999 – Rs. T-216/96, 102, Conserve Italia / Kommission, Rn. 93; EuGH, 24. 01. 2002  – Rs. C-500/99 P, 98, Conserve  Italia / Kommission, Rn. 67 f.; EuGH, Urteil vom 15. 09. 2005 – Rs. C-199/03, Irland / Kommission, Rn. 27, 30; EuGH, Urteil vom 19. 01. 2006 – Rs. C-240/03 P, Comunità montana della Valnerina / Kommission, Rn. 140; im Kontext zu EuGH, Urteil vom 15. 09. 2005 – Rs. C-199/03, Irland / Kommission, Rn. 27, 30; EuG, Urteil vom 12. 07. 2018 – Rs. T-356/15, Österreich / Kommission, Rn. 160; EuGH, Urteil vom 30. 10. 1980 – Rs. C-3/80, Milchfutter GmbH & Co. / Hauptzollamt Gronau, Rn. 9, 11; EuG, Urteil vom 21. 02. 1995 – Rs. T-29/92, Vereniging van Samenwerkende / Kommission, Rn. 11, 288; EuG, Urteil vom 15. 06. 1999 – Rs. T-288/97, Reginen Autonome Friuli-Venezia Giulia /  Kommission, Rn. 74; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2014  – Rs. C-358/12, Libor, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 22. 12. 2010  – Rs. C-77/09, Gowan Comércio Internacional  e Serviços, Rn. 82; mehrheitlich werden (Letztentscheidungsrechte der Kommission im Hinblick auf konkrete Rechtsfolgen konsequenterweise politisch begründet vgl.  EuGH, 14. 02. 1990  – Rs. 350/88, Declare / Kommission, Rn. 32; EuGH, Urteil vom 15. 07. 1982 – Rs. 245/81, Edeka / Deutschland, Rn. 19, 23, 27; EuGH, Urteil vom 28. 10. 1982 – Rs. 52/81, Faust, Rn. 9; EuGH, Urteil vom 14. 07. 2005 – Rs. C-41/03 P, Rica Foods / Kommission, Rn. 52; dazu konkreter EuGH, Urteil vom 22. 11. 2001 – Rs. C-110/97, Niederlade / Rat, Leitsatz, Rn. 67; EuGH, Urteil vom 14. 11. 1985 – Rs. 227/84, Texas Instruments / Hauptzollamt München-Mitte, Rn. 10, 16; EuGH, Urteil vom 25. 01. 1979 – Rs. 98/78, Racke, Rn. 5; EuGH, Urteil vom 22. 10. 1991 – Rs. C-16/90, Nölle, Rn. 12 f.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

auch funktioneller Indikatoren ist ebenfalls möglich. Darüber hinaus begrenzt sich der Gesetzeswortlaut nicht nur auf ein striktes „Können“ oder „Dürfen“ der Behörde bzw. des Mitgliedstaates, denn die Herleitung rechtsfolgenbezogener Letztentscheidungsrechte orientiert sich insgesamt an der Semantik des verwendenden Wortlautes.232 Infolge der Statuierung dieses Letztentscheidungsrechts, ungeachtet seiner Normstruktur, erfolgt grundsätzlich die Feststellung einer weiten Skalierung. Die Unterwerfung unter einen einheitlichen unionsgerichtlichen (Mindest-) Prüfungsmaßstab korrespondiert allerdings bei jedem Letztentscheidungsrecht.233

IV. Zusammenfassendes Zwischenergebnis Bei Einstellung des Untersuchungsfokus auf die unionsrechtliche Herleitung lediglich tatbestandlicher Letztentscheidungsrechte des Migrationsrechts kann ein Anschluss an die tradierten nationalen dogmatischen Parameter des Beurteilungsspielraumes erzielt werden, wobei keine eindeutige Inklination des Gerichtshofs zu normativen oder funktionellen Parametern ersichtlich ist. Vornehmlich gewährleistet der unbestimmte Rechtsbegriff das normative Milieu für die hinreichende Rechtsanwendungsunsicherheit, daneben konstituiert die funktionelle Begründung die Komplexität der Entscheidung. Sofern jedenfalls eine ausführliche normative Herleitung vorangegangen ist, kann die Klassifizierung funktioneller Argumente als bloße Hilfsargumente konstatiert werden. Infolge der Einbeziehung rechtsfolgenbezogener administrativer Letztentscheidungsrechte in den Untersuchungskontext ist der zuvor behauptete Anschluss an die deutsche Dogmatik, basierend auf der singulären Betrachtung lediglich tatbestandlicher Letztentscheidungsrechte, zu widerrufen, da die vorgegebenen Parameter ebenfalls auf rechtsfolgenbezogene (administrative) Letztentscheidungsrechte angewendet werden. Im Rahmen der Heranziehung des angewendeten Prüfungsmaßstabes durch den EuGH, insbesondere der Eruierung angeführter Präjudizien, zeichnete sich ein derartiges Ergebnis bereits ab, da ein einheitlicher Prüfungsmaßstab genutzt wird und der Gerichtshof ungeachtet der genauen normstrukturellen Klassifizierung des Letztentscheidungsrechts auf die eigene Rechtsprechungslinie rekurriert.

232

EuGH, Urteil vom 30. 06. 2011 – Rs. C-271/10 –VEWA, Rn. 36. U. a. EuGH, Urteil vom 22. 12. 2010  – Rs. C-77/09, Gowan Comércio Internacional  e Serviços, Rn. 82; EuGH, Urteil vom 25. 01. 1979 – Rs. 98/78, Racke, Rn. 5; EuGH, Urteil vom 22. 10. 1991 – Rs. C-16/90, Nölle, Rn. 12; EuGH, Urteil vom 14. 07. 2005 – Rs. C-41/03 P, Rica Foods / Kommission, Rn. 32; EuGH, Urteil vom 22. 11. 2001 – Rs. C-110/97, Niederlade / Rat, Leitsatz, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 24. 01. 2002 – Rs. C-500/99 P, Conserve Italia / Kommission, Rn. 102.

233

B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht

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B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht Bei Betrachtung der analysierten Judikate und der daraus resultierenden Ergebnisse im Kontext lassen sich nun gefestigtere Aussagen hinsichtlich der Existenz eines Beurteilungsspielraumes im Referenzgebiet des Migrationsrechts treffen.

I. Normstrukturelle Erwägungen 1. Tatbestandlichkeit und Skalierung Die im Unionsrecht erstmalig zusammenfallenden Aspekte, wie der auf der Tatbestandsebene (Ablehnungsgründe) identifizierte judizielle Freiraum und die scheinbar gebundene Verwaltungsentscheidung beschreiben höchstens im deutschen Recht einen Beurteilungsspielraum.234 Der tatbetandliche Entscheidungsspielraum wird vermeintlich dadurch abgegrenzt, dass sowohl der Visakodex als auch die RL 2004/114/EG keine Möglichkeit der Behörde vorsehen, bei Nichtvorliegen eines Ablehnungsgrundes die Visabeantragung negativ zu bescheiden.235 Insofern besteht nach dem deutschem Rechtsverständnis eine gebundenen Verwaltungsentscheidung,236 mithin der unionsgesetzgeberische Wille dahingehend, dass kein administratives Letztentscheidungsrecht auf der Rechtsfolgenebene (hinsichtlich einer Positiv- oder Negativbescheidung) installiert werden soll. Dies gilt jedenfalls nur, soweit die unionsrechtliche Skalierung, welche die deutsche dogmatische Grenzziehung zwischen Ermessen und Beurteilungsspielraum komplett auflöst, ausgeklammert wird. Diese unionsrechtlich singuläre Kombination aus Tatbestandlichkeit, Gebundenheit der Verwaltung und einer daraus nach tradiertem und prozessrechtlichem Rechtsverständnis erwachsenden anspruchsbegründenden Rechtsposition,237 wobei fraglich ist, ob korrespondierend mit dem deutschen Recht daraus ein subjektiv-öffentliches Recht erwächst,238 sowie das Bestreben der deutschen Gerichte, ein europäisches Rechtsinstitut im Wege der eigenen Verfahrensautonomie einer gerichtli 234

Ebenfalls EuGH, Urteil vom 06. 12. 2012 – Rs. C-356/11 und C-357/11, O. und S., Rn. 82; EuGH, Urteil vom 21. 04. 2016 – Rs. C-558/14, Khachab, Rn. 27 ff. 235 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya; ebenfalls VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V – juris; vgl. zum gebundenen Anspruch auch BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 15, NVwZ 2016, 161. 236 Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG, Rn. 12; diese Struktur auch schon in EuGH Urteil vom 10. 10. 1985 – Rs. 183/84, Rheingold, Rs. 23 ff. 237 Wahl / Schütz, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 42 Abs.  2 Rn.  84. 238 Dazu Teil 4 B. ff.; speziell Huber, NVwZ 2014, 289, 293 ff.; Thym, NVwZ 2014, 129, 131 ff.; im Asylrecht vgl. EuGH Urteil vom 14. 11. 2013 – Rs. C-4/11, Puid; generell ­Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  217; Stelkens, DVBl. 2010, 1078, 1085; Classen, EuR 2016, 529, 539 f.; zum subjektiven Recht Classen, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art.  197 Rn.  43.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

chen Prüfung zuzuführen, tragen im Wesentlichen zu dem einseitigen Abstrahieren des unionsrechtlichen Letztentscheidungsrechts bei.239 Die deutsche Rechtsprechung verkennt, dass es sich lediglich um eine zufällige Kumulation von Indikatoren handelt, die bei Berücksichtigung der weiten Skalierung erkennbar wird; hierdurch droht das grundsätzlich tatbestandliche Letztentscheidungsrecht die Rechtsfolgen zu tangieren.240 Folglich lassen sich die unionsrechtliche Konzeption der vermeintlich gebundenen Verwaltungsentscheidung in verwaltungsgerichtspraktikabler Hinsicht sowie die Deklaration des administrativen Letztentscheidungsrechts als Beurteilungsspielraum nach deutschem und europäischen Recht durchaus infrage stellen.241 Daneben müsste diese vermeintlich unionsrechtlich eingeleitete und sich national auswirkende Fehlkonzeption aufgrund der Auflösung der Grenzen zwischen Beurteilungsspielraum und Ermessen einer etwaigen Überprüfung gemäß Art. 47 GRCh jedoch zumindest nach Art. 19 Abs. 4 GG standhalten.242 Die bloße Tatbestandsbezugnahme stellt aufgrund der grundsätzlich kaum vorhandenen Konturierung von Tatbestands- und Rechtsfolgenebene im Unionsrecht kein differenzierungsfähiges Kriterium innerhalb der Letztentscheidungsrechte dar.243 Insbesondere die Existenz der weiten administrativen Letztentscheidungsrechte, die über die Tatbestands- oder Rechtsfolgenebene hinaus ihre Wirkung entfalten, ungeachtet der ursprünglichen Lokalisierung des administrativen Letztentscheidungsrechts, belegt die geringe Intensität der normstrukturellen Konturierung generell. Die Einräumung derartig weiter Letztentscheidungsrechte ist freilich kein Einzelfall244 und findet ebenfalls im Rahmen unionsrechtlicher Letztentschei 239

BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015  – 1 C 37/14 Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; BVerwG, Beschluss vom 06. 04. 2016  – 1 B 22/16  –, Rn. 4, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015  – OVG 3 B 5.14  –, Rn. 24, juris; OVG  Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05. 04. 2017 – OVG 3 B 20.16 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 05. 2019 – 3 B 64.18 –, Rn. 30, juris; nun als nationaler Modus VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 240 Ebenfalls VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 –, V Rn. 26, juris; vgl. Riese, in: Schoch /  Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 11. 241 BVerwG, Urteil vom 17. 9. 2015 – 1 C 37/14 Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; BVerwG, Beschluss vom 06. 04. 2016 – 1 B 22/16 –, Rn. 4, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05. 04. 2017 – OVG 3 B 20.16 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 05. 2019 – 3 B 64.18 –, Rn. 30, juris; nun als nationaler Modus VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 242 Siehe dazu Teil 4, mit gutem Ansatz bereits VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, 28, juris. 243 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  216 ff.; Hatje, Deutschland in der Europä­ ischen Union: Innovationen durch europäisches Verwaltungsrecht, in: FS Scheuing, S. 323, 336; Hofmann / Rowe / Türk, S. 492 ff.; Kalintiri, CML 53 (2016), 1283 ff.; Mendes, CML 53 (2016), 419 ff.; v. Vormizeele, Die Kontrolldichte bei der Würdigung komplexer wirtschaftlicher Sachverhalte durch die europäischen Gerichte – zugleich eine kritische Analyse zur Effektivität des Rechtsschutzes in der europäischen Fusionskontrolle, in: FS Schwarze, 2014, S. 771, 777 ff. 244 Vgl. v. Danwitz, Europäisches Recht, S. 364 f.; Gärditz, in: Scheurle / Mayen TKG, Einf., Rn. 146.

B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht

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dungsrechte auf Rechtsfolgenebene statt,245 weshalb dem Unionsrecht eine weniger schwache Gesetzesbindung der Verwaltung attestiert werden muss.246 2. Multilingualität / Ergiebigkeit der grammatischen Auslegung Der Zuhilfenahme des Wortlautes im Rahmen der Herleitung des administrativen Letztentscheidungsrechts darf aufgrund der Multilingualität im Unionsrecht nur ein subsidiärer Stellenwert eingeräumt werden. Fraglich sind die exakte Übersetzung des Wortlautes sowie die konsequente Übertragung des Bedeutungsgehalts der entsprechenden Regelungen. Daneben variiert der Stellenwert des Wortlautes innerhalb der unionsgerichtlichen Judikatur. In Anbetracht der Rechtsprechung zu Art. 2 VO (EG) Nr. 139/2004247 (im Folgenden „FKVO“), welchem ebenfalls der Wortlaut „Beurteilung“ inhärent ist, wird deutlich, dass der EuGH ohne Rekurs auf den Wortlaut zur Herleitung des administrativen Letztentscheidungsrechts auskommt.248 Dies kann zwar daran liegen, dass an die Herleitung eines administrativen Letztentscheidungsrechts, als Ausnahme uneingeschränkter Judizierbarkeit,249 für die Europäische Kommission – wie in diesem Fall – als pluralistisch zusammengesetztes Organ, im Rahmen einer exekutiven Tätigkeit, die eine wertende Entscheidung mit fachlicher Beurteilung unter Einhaltung wesentlicher formeller Gesichtspunkte abverlangt,250 geringere Anforderungen zu stellen sind und folglich positivrechtliche Parameter angesichts vermeintlich hinreichender demokratischer Legitimation in den Hintergrund rücken. 245 Vgl. v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 368; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 184; EuGH, 29. 10. 1980 – Rs. 138/79, Roquette Freres, Rn. 19 f. 246 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn. 216 ff.; vgl. Classen, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Verwaltung  – zu einer Anforderung des Europarechts an das nationale Verwaltungsrecht, in: FS Scheuing, S. 293, 303 ff.; Classen, EuR 2016, 79, 83 ff.; Hatje /  Mankowksi, EuR 2014, 155, 159 ff. 247 Verordnung des Rates vom 21. 12. 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. L 395, S. 1, berichtigt im ABl. 1990, L 257, S. 13 und in ABl. 1998, L 3, S. 16; aktuell, aber relevante Stellen noch wortgleich Verordnung EG/139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. L 24 vom 29. 01. 2004, S. 1–22. 248 Vgl. EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuGH Urteil vom 22. 11. 2007 C-525/04 P, Rs. Spanien / Lenzing, Rn. 56, 57; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06, P Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131. 249 Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO, Rn. 286; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 54; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 31 f.; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 220 f. 250 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 46; vgl. nationale Rspr. dazu, BVerwG, Urteil vom 23. 01. 2008 – 6 A 1.07, Rn. 43, BVerwGE 130, 180, 194 f.; BVerwGE 39, 197, 203; BVerwG, Urteil vom 16. 12. 1971 – I C 31.68; BVerwG, 13. 12. 1979 – 5 C 1.79, BVerwGE 59, 213, 217; BVerwG, Urteil vom 07. 11. 1985 – 5 C 29.82, BVerwGE 72, 195, 201; BVerwG, Urteil vom 26. 11. 1992 – 7 C 20.92; BVerwGE 91, 211, 215 f.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

Nichtsdestotrotz ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein hinreichend prägnanter Gesetzeswortlaut im Rahmen der grammatischen Auslegung regelmäßig zu generell justiziablen Freiräumen der Verwaltung bzw. der Mitgliedstaaten führt. Allerdings handelt es sich bei der reinen Betrachtung des Wortlautes nicht um ein maßgeb­ liches Differenzierungskriterium für den Beurteilungsspielraum, da eine „Beurteilung“ im Normwortlaut ebenfalls im Hinblick auf die Rechtsfolgen verlangt werden kann. Aufgrund des undefinierten und uneinheitlichen Modus des Wortlauts bei rechtsfolgenbezogenen und tatbestandlichen Letztentscheidungsrechten kann eine grammatische Auslegung nur in Verbindung mit anderen Indikatoren, konkret normstrukturellen Erwägungen, zu einem sicheren Auslegungsergebnis führen. Eine dogmatische Grenzziehung scheidet somit bereits an diesem Punkt aus.

II. Der unbestimmte Rechtsbegriff als genereller Unsicherheitsfaktor Markant ist des Weiteren die Lokalisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen im Rahmen der von dem administrativen Letztentscheidungsrecht umfassten Vorschriften. Die Pauschalaussagen des EuGH lassen sich dahingehend, wenn auch unter etwas Reibung, differenzieren und, zumindest gesichert für den Visakodex, auf die Installation eines unbestimmten Rechtsbegriffes im Unionsrecht zurückführen. Für die RL 2004/114/EG darf aufgrund der mangelnden normativen Mechanismen ein administratives Letztentscheidungsrecht für Tatbestände, die keinen unbestimmten Rechtsbegriff aufweisen, konsequenterweise nicht angenommen werden. Entsprechende Kollisionspunkte in den Judikaten werden jedenfalls mit und ohne Veranlassung durch die Vorlagefragen251 von dem EuGH lediglich am Beispiel der Tatbestände mit unbestimmtem Rechtsbegriff erörtert. Hierin könnte ein Zusammenhang in der Art bestehen, dass unbestimmte Rechtsbegriffe administrative Letztentscheidungsrechte auf der Tatbestandsebene einleiten,252 sodass die Aussage, dass dem Unionsrecht der Zusammenhang zwischen Beurteilungsspielraum als administrativem Letztentscheidungsrecht und unbestimmten Rechtsbegriff fremd sei,253 zu undifferenziert ist. Allerdings ist darin kein Kriterium zu 251 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 32; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 24. 252 So lassen sich bereits mit „erforderlich“ und „übermäßig zusätzliche Belastungen“ unbestimmte Rechtsbegriffe in Art. 2 Abs. 2 lit.  a und  b Verordnung (EWG) Nr. 1608/74 der Kommission vom 26. 06. 1974 über Sonderbestimmungen für die Währungsausgleichsbeträge feststellen und ebenfalls ein administratives Letztentscheidungsrecht, welches sich auf Tatbestandsebene befindet, EuGH Urteil vom 10. 10. 1985  – Rs. 183/84, Rheingold, Rn. 23 ff.; ungeachtet dessen können unbestimmte Rechtsbegriffe keine Kompetenzkonflikte zwischen Judikative und Exekutive durch eine finale Kompetenzverteilung auflösen, vgl. Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006. 253 Vgl. Jaestedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1 Rn. 28; Schwarze, in: Schwarze / Schmidt-Aßmann, Das Ausmaß der gerichtlichen Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht, 1992, S. 203, 204 ff.; v. Danwitz, Verwaltungsrechtli-

B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht

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sehen, dass das tatbestandliche administrative Letztentscheidungsrecht für sich allein beansprucht, da im Unionsrecht ebenfalls behördliches Ermessen mit unbestimmten Rechtsbegriffen versehen wird.254 Es handelt sich bei dem unbestimmten Rechtsbegriff im Unionsrecht um einen generellen Unsicherheitsfaktor, der sowohl bei tatbestands- als auch bei rechtsfolgenbezogenen administrativen Letztentscheidungsrechten von Relevanz sein kann und im Rahmen des Auslegungs- und Anwendungsprozesses von Gesetzen, ungeachtet dessen, ob ein klassischer Subsumtionsprozess im deutschen Sinne vorhanden ist oder nicht,255 Schwierigkeiten in Form von Erkenntnisproblemen bereitet.

III. Komplexität als wesentliche Begründung justiziabler Freiheit Auffällig, aber nicht unüblich,256 ist die von dem Gerichtshof angeführte Begründung der Entscheidungskomplexität. Die Ausführungen in den analysierten Rechtssachen257 können allerdings nur so verstanden werden, dass die mit einem administrativen Letztentscheidungsrecht versehene Verwaltungsentscheidung in ihrer Gesamtheit grundsätzlich eine erhöhte Komplexität aufweisen kann.258 Dies führt jedoch nicht zwangsläufig und unmittelbar zur Begründung eines administrativen Letztentscheidungsrechts, da die Intention des Unionsgesetzgebers der Gewährung eines administrativen Letztentscheidungsrechts bereits unmittelbar aus dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften sowie aufgrund der systematischen und teleologischen Auslegung geschlussfolgert wird.259 ches System und europäische Integration, 1996, S. 184 ff.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 299 f., 361–371; Bleckmann, Europarecht, Rn. 862 ff.; Pache, DVBl. 1998, 380, 384 ff.; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielräume, S. 390; Groß, ZÖR 61 (2006) 625 ff.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen Bd. I, § 10 Rn. 66; Streinz, EuR, Rn. 644. 254 Siehe EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 – Rs. C-551/13, SETAR, Rn. 45; vgl. auch Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655. 255 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  216. 256 Vgl. auch Börger, Die gerichtliche Kontrolldichte bei der Überprüfung von Entscheidungen der Europäischen Kommission auf dem Gebiet der Fusionskontrolle, S. 337 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 863; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 286; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 296; Nicholson / Cardell / McKenna, European Compition Journal 2005, S. 123 ff.; EuGH, Urteil vom 14. 02. 1989  – 247/87, Star Fruit; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991  – Rs. C-269/90, TU München, Rn. 13; EuGH, Urteil vom 14. 07. 2005  – Rs. C-180/00, Niederlande / Kommission; EuG, Urteil vom 07. 11. 2007 – Rs. T-374/04, Deutschland / Kommission, Rn.  81. 257 Vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki; vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 32. 258 „Die Beurteilung der individuellen Situation des Visumantragstellers kann mit komplexen Bewertungen verbunden sein, […]“, EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 41, NVwZ 2014, S. 289, 292. 259 Vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

Nach Durchsicht der angeführten Präjudizien des EuGH lässt sich teilweise feststellen, dass das Komplexitätskriterium auch mehr als nur ein Hilfsargument zur Herleitung eines solchen darstellen kann; insbesondere im Fall einer schwächeren normativen Begründung ist dies auffällig. Für die komplexitätsstatuierenden Kriterien führt der Gerichtshof in einigen Judikaten zwar fachspezielle Erwägungen an.260 Diese Ausführungen sind jedoch derart allgemein gehalten, dass daraus universelle Gedanken abgeleitet werden können, welche im Rahmen einer Kontextualisierung mit den Rechtssachen „Bertelsmann / Sony BMG“, „Tetra Laval“, „Spanien / Lenzing“, „Koushkaki“ und „Fahimian“ nur so zu verstehen sind, dass sich die Feststellung der Komplexität einer Verwaltungsentscheidung anhand diverser Kriterien mit unterschiedlich hoher Signifikanz vollzieht. Von dem Bestehen einer solchen Komplexität lässt sich allerdings nicht pauschal auf die Existenz eines administrativen Letztentscheidungsrechts schließen und erst recht nicht darauf, dass es sich um einen Beurteilungsspielraum handelt. Komplexitätsstatuierende und -potenzierende Kriterien sind unter anderem der unbestimmte Rechtsbegriff als Auslegungsunsicherheit und -schwierigkeit schaffender Aspekt innerhalb des Entscheidungsfindungsprozesses sowie die Untersuchung voraussichtlicher Entwicklungen, Zustände oder Gegebenheiten (Prognose), die dem Entscheidungsträger eine zukunftsorientierte Analyse unter Einbeziehung aller relevanten oder möglicherweise relevanten Faktoren abverlangt. Deutlich wird dies beispielweise anhand der Begründung der Komplexität im Migrationsrecht durch den EuGH, die vornehmlich am Beispiel des unbestimmten Rechtsbegriffs nachvollzogen werden kann. Diese Rolle des unbestimmten Rechtsbegriffs wird ebenfalls am Beispiel anderer administrativer Letztentscheidungsrechte sichtbar. Bei der Untersuchung voraussichtlicher Entwicklungen, Gegebenheiten oder Zustände, die gegebenenfalls im Rahmen der vorzunehmenden Verwaltungsentscheidung von der Behörde durchgeführt werden müssen, handelt es sich darüber hinaus um ein komplexitätsstatuierendes Kriterium von hoher Signifikanz, welches unter Umständen zu der Begründung eines administrativen Letztentscheidungsrechts führt.261

260

EuGH, 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 28, 39, 42–44. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 57, NVwZ 2014, S. 289, 292; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 41; EuGH, 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 28, 39, 42–44; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2017 – Rs. C-183/16 P, Tilly-Sabco / Kommission, Rn. 67; EuGH, Urteil vom 16. 05. 2017 – Rs. C-682/15, Berlioz Investment Fund, Rn. 71; EuGH, Urteil vom 18. 04. 2013, Rs. C-463/11, L, Rn. 24; EuG, Urteil vom 17. 11. 2009  – Rs. T-143/06, MTZ Polyfilms, Rn. 46, 48; EuG, Urteil vom 12. 12. 1996  – Rs. T-380/94, AIUFFASS / Kommission, Rn. 119, 121; EuG, Urteil vom 27. 04. 2016 – Rs. T-463/14, Österreichische Post / Kommission, Rn. 38–41; vgl. auch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 363; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 185; C. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 167; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 385. 261

B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht

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Die Heranziehung der Entscheidungskomplexität dient jedoch generell der Begründung administrativer Letztentscheidungsrechte und stellt keine Singularität des tatbestandlichen administrativen Letztentscheidungsrechts dar.262 Die präzisere Untersuchung dieses Kriteriums vermittelt zwar ein besseres Verständnis des universell eingesetzten Argumentationsbausteins durch den EuGH, allerdings keine Differenzierungsmöglichkeit eines Beurteilungsspielraumes, da da die resultierenden Ergebnisse an bereits bestehende administrative Letztentscheidungsrechte angeschlossen werden können.

IV. Ausgestaltung der gerichtlichen Prüfung durch den EuGH Im Rahmen der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle der identifizierten administrativen Letztentscheidungsrechte lässt sich keine markante Differenzierung zwischen tatbestands- und rechtsfolgenbezogenem Letztentscheidungsrecht feststellen. Bei der Identifizierung von Abweichungen innerhalb des Prüfungsprogramms zwischen administrativen Letztentscheidungsrechten auf Tatbestandsoder auf Rechtsfolgenebene handelt es sich insoweit um das gewichtigste Differenzierungskriterium, als es den administrativen Letztentscheidungsrechten eine unterschiedliche Rechtswirkung verleiht und folglich erhöhter Aufmerksamkeit im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung bedarf. Dies gilt erst recht, wenn bei der Untersuchung der Herleitung durch den EuGH keine kategorialen Unterschiede263 innerhalb der administrativen Letztentscheidungsrechte festgestellt werden können und schließlich nur die normstrukturelle Einordnung der administrativen Letztentscheidungsrechte verbleibt. Darüber hinaus prägt eine Unterscheidbarkeit innerhalb des gewählten gerichtlichen Prüfungsmodus den Rationalisierungscharakter der grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Ermessen und dem Beurteilungsspielraum in erheblicher Art und Weise.264 Zwar kann im Migrationsrecht mit Präzision eine Lokalisierung des administrativen Letztentscheidungsrechts in der Normstruktur vorgenommen werden, die in Kumulation mit der ausführlichen und positivrechtlichen Herleitung durch den EuGH, der Installation unbestimmter Rechtsbegriffe an signifikanten Stellen sowie der Ausgestaltung der Rechtsnatur der Verwaltungsentscheidung den Verdacht eines Beurteilungsspielraumes aufkommen lässt, allerdings führen diese

262

Insbesondere EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG, Rn. 60; Hinsichtlich der Maßnahmen EuGH, Urteil vom 15. 10. 2009, Enviro Tech, Rs. C-425/08, Rn. 46. 263 Entsprechend feststellend für das nationale Recht, Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1 Rn. 27 ff. 264 Dahingehend Gerhardt, Schoch / Schneider / Bier, VwGO, 35. EL September 2018, § 114aa; dagegen Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 43.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

Charakteristika im Unionsrecht singulär betrachtet und im Kontext rechtsfolgenbezogener administrativer Letztentscheidungsrechte zu keiner Änderung des gerichtlichen Kontrollmodus. Die zufällige Verdichtung einer Kumulation verschiedener Charakteristika kann zudem ebenfalls keine Abweichung des Kontrollmodus begründen kann. Der Vorwurf, dass administrative Letztentscheidungsrechte einem einheitlichen und generellen Kontrollmodus unterworfen werden, verdichtet sich hinreichend – zumindest für das Referenzgebiet des Migrationsrechts – sodann bei genauerer Betrachtung der Präjudizien in den Verweisungsketten des EuGH, da ungeachtet der Installation administrativer Letztentscheidungsrechte innerhalb der Normstruktur, der Art und Weise ihrer Herleitung sowie ihrer Begründung, eine einheitliche gerichtliche Behandlung vorgenommen wird, an welche die Letztentscheidungsrechte des Migrationsrechts sich anschließen. Trotz der erhöhten Anfälligkeit der Widersprüchlichkeit innerhalb der Präjudizien265 ist der Verweisungstechnik des EuGH eine argumentationssubstituierende Wirkung systematischer Qualität zuzugestehen,266 welche Anwendung findet, wenn die gerichtliche Praxis des EuGH bekannt ist.267 Insofern besteht unter dem Hyperonym des administrativen Letztentscheidungsrechts eine kohärente und konventionelle Verweisungstechnik des EuGH,268 welche im Fall der lediglich auf der Tatbestandsebene liegenden administrativen Letztentscheidungsrechte des Visakodex und der RL 2004/114/EG keinen gesonderten Kontrollmodus bereitstellt. Der angelegte Kontrollmaßstab korrespondiert mit einer Herleitung eines Mindestprüfungsumfangs basierend auf der positivrechtlichen Einbettung des administrativen Letztentscheidungsrechts, wobei es sich letztlich nur um einen sehr allgemeinen Prüfungsmaßstab handelt269, der ebenfalls auf die Überprüfung von Ermessensentscheidungen übertragen werden kann. Insbesondere ist bei der Statuierung dieses gerichtlichen Prüfungsmaßstabes durch den EuGH oder der Herleitung des entsprechenden Mindestprüfungsmaßes am Beispiel des jeweiligen Fachgesetzes die Allgemeinheit des Kontrollprogrammes zu unterstreichen, welche sich partiell an das deutsche Beurteilungsspielraumkontrolldichteprogramm (ausgenommen der Tatsachenkontrolle) annähert.270

265

Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 369. Zum systematischen Argument der zweiten Ordnung siehe Müller / Christensen, Juris­ tische Methodik, Bd. I, Rn. 365, 367, 415. 267 Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 367 a. E., Rn. 368. 268 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 367. 269 Siehe Gärditz, Europäisches Planungsrecht, 2009, S. 85 ff. 270 Vgl. dazu Gärditz, in: Scheurle / Mayen, TKG, Einf. II, Rn. 146 a. E.; Koenig / Meyer, K&R 2013, S. 236, 237 ff.; ebenfalls v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 186; EuGH, Urteil vom 11. 7. 1985 – Rs. 42/84, Remia, Rn. 34; EuG, Urteil vom 17. 9. 2007 – Rs. T-201/04, Microsoft; EuG, Urteil vom 3. 3. 2010 – Rs. T-163/05, Bundesverband deutscher Banken, Rn. 38; ebenfalls können gesetzgeberische Wertungen aus § 4a Abs. 2 UmwRG abgeleitet werden. 266

B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht

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V. Bestand des konvergenten Konzepts administrativer Letztentscheidungsrechte Die Ergebnisse in Deutschland vorangetriebener Differenzierungsbestrebungen,271 welche den Diskurs auf die unionsrechtliche Ebene treiben,272 werden maßgeblich durch die betrachtende Rechtsperspektive273 und die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten274 beeinflusst. Unter der Prämisse, dass die Ausgestaltung des gerichtlichen Prüfungsprogramms von der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie gewährleistet sei,275 ist lediglich die Identifizierung des administrativen Letztentscheidungsrechts aufgrund der Lokalisierung auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenebene durch den EuGH zu beachten und stellt eine finale Kompetenzzuweisung an die Exekutive dar,276 sodass sich die Voraussetzungen für die Annahme eines Beurteilungsspielraums durch die deutsche Judikatur bereits ab diesem Punkt hinreichend verdichten.277 Bei Anwendung des deutschen Filters wird somit ein Beurteilungsspielraum entsprechend der deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik aufgefangen. In Anbetracht der generell weit skalierten Letztentscheidungsrechte, welchen eine Wirkungsbegrenzung innerhalb der Normstruktur fremd ist, und des fehlenden unionsrechtlichen Subsumtionskonzepts deutscher Art und Güte278 tendiert das Unionsrecht, konkret das europäische Migrationsrecht, 271

Insbesondere, BVerwG, Urteil vom 17. 9. 2015 – 1 C 37/14, Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; BVerwG, Beschluss vom 06. 04. 2016 – 1 B 22/16 –, Rn. 4, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015  – OVG 3 B 5.14  –, Rn. 24, juris; OVG  Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05. 04. 2017  – OVG 3 B 20.16  –, Rn. 24, juris; OVG  Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 05. 2019  – 3 B 64.18  –, Rn. 30, juris; nun als nationaler Modus VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 272 Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, Vor § 113 Rn. 31; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; Schmidt-­ Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 191; ausführlich VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, 28, juris. 273 A. A. Buchheim, JZ 2017, S. 630, 633. 274 Hierzu, EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170; hierzu auch ­Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; insbesondere, BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 –, Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; zu dem Begriff und der Reichweite Verfahrensautonomie generell, Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 12 ff., 30 f. 275 BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 –, Rn. 19 ff.; NVwZ 2016, S. 161. 276 Angesichts der Entscheidung der Rechtssache Arcor verbleibt dennoch die Frage, wem derartige Letztentscheidungsrechte entgegengehalten werden, EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170; hierzu auch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; insbesondere, BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; dazu Teil 4. 277 BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 –, Rn. 19 ff.; NVwZ 2016, S. 161; VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26 –, juris; BVerwGE 131, 41, 47; BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14, Rn. 21; NVwZ 2016, S. 161; BVerfG, 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07; BVerfGE 129, 1. 278 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  216 ff.

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Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

jedoch eher bzw. weiterhin zu einem konvergenten Letztentscheidungsrechtskonzept der Exekutive.279 Letztentscheidungsrechte im Rahmen des europäischen Richtlinienrechts sind trotz ihres Umsetzungscharakters zwar grundsätzlich als legislativ zu qualifizieren, können aber unter Umständen unmittelbar an die Exekutive der Mitgliedstaaten adressiert sein, sodass ihre Umsetzung für die Legislative lediglich einen formellen Akt darstellt.280 Die Konsequenz eines solchen administrativen Letztentscheidungsrechts ist die Einschränkung der Gestaltungsmacht des Umsetzungsgesetzgebers. Eingriffe in den fachlichen Kernbereich des Letztentscheidungsrechts dürften damit dann zu einem punktuellen Wegfall der Gestaltungsmacht führen. Das Rekurrieren des EuGH auf das administrative Letztentscheidungsrecht,281 welches einer unmittelbar anwendbaren Verordnung zugrunde liegt, innerhalb der Entscheidung basierend auf Richtlinienrecht, bestätigt dies und darüber hinaus, dass die Natur des Sekundärrechtsakts und die daraus resultierende Verschiedenheit der Adressaten für das administrative Letztentscheidungsrecht unter Umständen durchaus unbeachtlich sein kann.282 Ob es sich um Letztentscheidungsrechte innerhalb des Eigenverwaltungsrechts der EU handelt, ist ebenfalls unerheblich.283 Grosso modo differenziert der EuGH selbst bei administrativen Letztentscheidungsrechten im untersuchten Referenzgebiet allenfalls zwischen Tatbestandsund Rechtsfolgenebene, um den Bereich, der einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt, visibel zu machen und ein evident willkürliches Verwaltungshandeln im Rahmen dieser gerichtlichen Kontrolle zu identifizieren.

279

Vgl. Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor § 113 Rn. 32; Schmidt-Aßmann, in: Schoch /  Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 191; dahingehend Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 247; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 589 ff.; Götz, DVBl. 2002, S. 1, 4; Saurer, Die Rechtsstellung des Einzelnen im europäisierten Verwaltungsprozess, S. 381. 280 Maßgeblich ist hier die normative Regelungsintensität, welche im Bereich der diskutierten Richtlinie des Letztentscheidungsrecht wohl hinreichend vorhanden ist, sodass auf Basis dessen in ausreichender Weise subsumiert und nachträglich gerichtlich kontrolliert werden kann; im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 lit. d Familienzusammenführungs-RL, besteht die Freiheit des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers die Überprüfung eines Integrationskriteriums eigenverantwortlich umzusetzen, gleichzeitig besteht Verpflichtung zur Installation eines administrativen Letztentscheidungsrechts der Exekutive hinsichtlich des Integrationskriteriums; siehe auf Art. 7 Abs. 1 lit. c Familienzusammenführungs-RL; exemplarisch vgl. EuGH, Urteil vom 05. 03. 2015 – Rs. C-463/12, Copydan Båndkopi, Rn. 57; zur materiellen Schwäche im Rahmen gerichtlicher Kontrolle genauer Teil 3 und 4. 281 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian; mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61. 282 Kein Einzelfall siehe Präjudizienverweis, EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG, Rn. 60; auf EuGH, 06. 11. 2008 – Rs. C-405/07 P, Niederlande / Kommission. 283 Im Eigenverwaltungsrecht einheitlicher Modus, vgl. EuGH, Beschluss vom 16. 10. 1997 – Rs. C-140/96 P, Dimitriadis / Rechnungshof, Rn. 61.

B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht

105

1. Divergierendes Verständnis „gebundener“ Verwaltung Die Konstatierung der unpräzisen normstrukturellen Konturierung von Tatbestands- und Rechtsfolgenebene innerhalb der administrativen Letztentscheidungsrechte erscheint infolge der unionsgerichtlichen Ablehnung einer mitgliedstaatlichen Ausgestaltung europäischen Richtlinienrechts als deutsche Ermessensvorschrift zunächst widersprüchlich,284 allerdings löst sich diese Kontradiktion auf, sofern man die Inkonsequenz des vermeintlich präzisen tatbestandlichen administrativen Letztentscheidungsrechts begutachtet. Im Rahmen dessen wird deutlich, dass das deutsche Konzept gebundener Verwaltung durch den EuGH nicht fehlrezipiert wurde, sondern ein gänzlich anderes Verständnis der vermeintlich „gebundenen Verwaltung“ im Unionsrecht vorherrscht.285 Im Zuge der Pflicht zur Umsetzung europäischer Zielvorgaben sind somit von dem Unionsgesetzgeber vorgesehene administrative Letztentscheidungsrechte auf der mitgliedstaatlichen Ebene durch den nationalen Gesetzgeber zu beachten und in den entsprechenden Gesetzen zu installieren, sofern das Richtlinienrecht eine ausreichende normative Konkretisierung und Regelungsdichte aufweist. Zwar betont der Gerichtshof, dass die Überprüfung willkürlichen Verwaltungshandelns innerhalb der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle dadurch gewährleistet bleiben müsse, dass nationale Vorschriften keine Handlungsinstrumente bereitstellen dürfen, die der Verwaltung die Generierung neuer Ablehnungsgründe ermöglichen.286 Dabei wird allerdings übersehen, dass die Gewährung eines derart weiten (und weitreichenden) Letztentscheidungsrechts ein willkürliches Verwaltungshandeln auf Grundlage der bestehenden Ablehnungsgründe gerade fruchtbar macht. Eine „gebundene Verwaltung“ (falls diese Terminologie überhaupt zutreffend ist) ist demnach unionsrechtlich gewährleistet, sofern ausschließlich normativ fixierte Ablehnungsgründe von dem Entscheidungsträger herangezogen werden. Ob durch das unionsgesetzgeberisch eingeräumte administrative Letztentscheidungsrecht die Feststellung des Vorliegens der gesetzlich normierten Gründe insgesamt dem Entscheidungsträger derart obliegt, dass dieser Einfluss auf die Rechtsfolgen nehmen kann,287 ist unerheblich.

284

EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, NJW 2017, 3287; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30. 285 Gärditz, JZ 2010, S. 198 ff.; Durner, DVBl. 2012, S. 299, 300. 286 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Rn. 36, Fahimian, NJW 2017, 3287. 287 Zu der Zurückweisung des BVerfG hinsichtlich weitgreifender Beurteilungsspielräume im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG im nationalen Recht, BVerfG, Urteil vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, S. 1, 22 f.; dazu Gärditz, DV 46 (2013), S. 257, 267.

106

Teil 2: Beurteilungsspielräume im Migrationsrecht

2. Zufällige Kumulation unionsrechtlicher und deutscher Indikatoren Bei der Berücksichtigung der festgestellten unionsrechtlichen Indikatoren des Letztentscheidungsrechts, insbesondere der Position innerhalb der Normstruktur und dem Einfluss des unbestimmten Rechtsbegriffs sowie der Konzeption der Verwaltungsentscheidung generell, sowohl im Hinblick auf den Visakodex als auch nach der RL 2004/114/EG, als gebundene Verwaltungsentscheidung,288 kann angenommen werden, dass es sich um einen Beurteilungsspielraum handelt. Folgerichtig müsste es dann zu einer eingeschränkten Verwaltungsgerichtskontrolle entsprechend deutscher Verwaltungsrechtsstandards kommen,289 da ein Ermessen faktisch ausgeschlossen wäre.290 Dies führt allerdings dazu, dass die Bedeutungsambivalenz der analysierten Indikatoren für auf Rechtsfolgenebene verortete Letztentscheidungsrechte verkannt wird. Eine vorrangig vorzunehmende unionsrechtliche Gesamtbetrachtung der vorstehenden Indikatoren, in welcher eine Kontextualisierung zu strukturverschiedenen Letztentscheidungsrechten hergestellt wird, zeigt gerade, dass die Singularitäten eines vermeintlich authentischen unionsrechtlichen Beurteilungsspielraums im europäischen Migrationsrecht dagegen nicht identifizierbar sind. Isoliert betrachtet handelt es sich um Auffälligkeiten, welche in der vorliegenden arbiträren Kumulation, aufgrund der Zusammenkunft fast jeglicher letztentscheidungsrechtstatuierender Indikatoren im Unionsrecht, der sehr ausführlichen systematischen Auslegung291 durch den EuGH,292 der direkten Zuweisung des Letztentscheidungsrechts an die Behörde selbst293 und gerade der Beschreibung einer vermeintlich gebundenen Verwaltungsentscheidung294 noch intensiver ausgeprägt erscheinen. 288

Ebenfalls EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; dies zutreffend als problembehafteten gebundenen Anspruch qualifizierend, VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V – Rn. 26, juris; vgl. zum gebundenen Anspruch auch BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14 –, Rn. 15; NVwZ 2016, 161. 289 So bereits in Bezug auf Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates unter Berücksichtigung von EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki; BVerwG, Urteil vom 29. 06. 2016 – 7 C 32/15 –, Rn. 34; NVwZ 2016, S. 1566. 290 Ebenfalls feststellend die nationalen Rspr. BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 –, Rn. 19 ff.; NVwZ 2016, S. 161; VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; BVerwGE 131, 41, 47; BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14, Rn. 21; NVwZ 2016, S. 161; BVerfG, 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07; BVerfGE 129, 1. 291 „Erster Ordnung“, vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 367. 292 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, NJW 2017, 3287. 293 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian. 294 Ausführliche Auseinandersetzung in Teil 4; im Unionsrecht bereits fraglich siehe S­ telkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn. 217; hierzu und zum Folgenden Stelkens, DVBl. 2010, 1078, 1085; Classen, EuR 2016, 529, 539 f.

B. Gesamtergebnis im Migrationsrecht

107

3. Ausschließlich unionsrechtliche Konklusion Die Auslegung des EuGH anhand beurteilungsspielraumkonstituierender Kriterien in derart ausführlicher Gestalt betreffend den justiziablen Freiraum innerhalb des Visakodex und der RL 2004/114/EG entspringt zunächst den gezielten Vorlagefragen vornehmlich deutscher Gerichte,295 welche durch das deutsche Verwaltungsrechtsverständnis geprägt sind und aufgrund des unionsrechtlich divergierenden Verständnisses partiell undifferenzierte Stellungnahmen des EuGH zur Konsequenz haben.296 Es handelt sich, die Herleitung des Letztentscheidungsrechts betreffend, vielmehr um eine neue Rechtsprechung des Migrationsrechts, die keinerlei Rekurrieren auf Präjudizen ermöglicht, sodass eine entsprechende Begründung an positivrechtlichen Faktoren nötig wird297 sowie aufgrund hinreichender gesetzlicher Determinierung des Visakodex und der RL 2004/114/EG möglich ist. Zusätzlich wird einer scheinbar unionsrechtlichen Neuerung kein spezieller und neuer Kontrollmaßstab vorausgesetzt, was sich durch die Analyse der Präjudizien verifizieren lässt, sodass selbst bei der Behauptung einer (marginalen) Differenzierung von einem einheitlichen Kontrollprogramm auszugehen ist.298 Folglich scheitert eine Differenzierung des Beurteilungsspielraumes einerseits und des Ermessensspielraumes andererseits daran, dass (1.) ein Anschluss an die bisherige Judikatur des Gerichtshofs zu (administrativen) Letztentscheidungsrechten stattfindet, (2.) darüber hinaus keine erweiterte Rationalität und kein disruptiver methodischer Ansatz für das Unionsrecht begründet wird sowie (3.) das deutsche Verständnis des gebundenen Anspruches, der bereits tatbestandlich gerichtlich nicht vollständig überprüfbar ist und durch die undurchsichtige, folglich mannigfaltige Interpretationsmöglichkeit im Rahmen der Schwerpunktsetzung der zugrundeliegenden Tatsachenbasis der Verwaltungsentscheidung durch den Entscheidungsträger ebenfalls hinsichtlich der Rechtsfolgen gerichtlich nicht ganz durchdringbar ist, ad absurdum geführt wird.299 Dies stellt eine Fehlkonzeption dar, die eine reibungslose Harmonisierung mit der deutschen Beurteilungsspielraumdogmatik grundsätzlich konterkariert. 295

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian. 296 So EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; ebenfalls zu der Skalierung des administrativen Letztentscheidungsrechts, siehe Teil 2 B. I. 1. b) aa). 297 Siehe Teil 2 A. II.; vgl. allgemein Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, Rn. 367. 298 Zumindest für das Migrationsrecht zuzustimmen, Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, Vor. § 113 Rn. 32; Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; Dörr / L enz, Europä­ ischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 191 dahingehend Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 247; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 589 ff.; Götz, DVBl. 2002, S. 1, 4; Saurer, Die Rechtsstellung des Einzelnen im europäisierten Verwaltungsprozess, S. 381. 299 Dies zutreffend problematisierend, VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; vgl. zum vermeintlich unionsrechtlich gebundenen Anspruch auch BVerwG, Urteil vom 17. 9. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 15; NVwZ 2016, 161; dieses Konzept ist im Unionsrecht grundsätzlich zu hinterfragen Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn. 217; hierzu und zum Folgenden Stelkens, DVBl. 2010, 1078, 1085; Classen, EuR 2016, 529, 539 f.

Teil 3

Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht Im Folgenden sind die einschlägigen Normen des Umwelt- und Planungsrechts und ergangene Entscheidungen unter Einbeziehung des dargestellten Meinungsstands und der sich daraus ergebenden Probleme zu analysieren. Hierbei sind sowohl Judikate der europäischen als auch der deutschen nationalen Gerichtsbarkeit von Relevanz. Sofern Entscheidungen der nationalen Gerichte auf der Grundlage transformierter europäischer Richtlinien ergehen, die justiziable Freiräume zugestehen, stellt sich mithin die Frage, ob das Unionsrecht diese justiziablen Freiräume vorsieht und wie diese zu kategorisieren sind. Zunächst sind allgemein Verwaltungsfreiräume zu erfassen und gegebenenfalls zu bewerten (Punkt A. I. und A. II.), die in der weitergehenden Untersuchung innerhalb des Systems deutscher und unionaler Letztentscheidungsrechte kritisch hinterfragt werden (Punkt B. I. und B. II.). Die Basis der Analyse bilden die unionsrechtlichen Vorschriften, die im Verdacht stehen, eingeschränkt kontrollierbare Verwaltungsfreiräume zu gewähren, ungeachtet ihres unmittelbaren oder mittelbaren Einflusses. Von einer Analyse im Hinblick auf etwaige Verwaltungsfreiräume werden deutsche und unionsgerichtliche Judikate sowie Auslegungsempfehlungen der Europäischen Kommission umfasst.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung Bereits die Vielzahl der in Abwägung zu bringenden Interessen macht das (europäische) Umweltrecht neben seiner naturwissenschaftlich dynamischen Prägung zu einer überaus komplexen Materie, sodass das Bedürfnis nach flexibilisierten Handlungsräumen aufkommt. Aufgrund der Absenz untergesetzlicher Handlungsanweisungen auf unionaler oder nationaler Ebene,1 judizieren deutsche Gerichte naturschutzfachliche Spielräume teilweise unter Berufung auf das geltende übergeordnete Unionsrecht.2 Fraglich ist, inwieweit dies von dem gesetzgeberischen Willen gedeckt ist.3 Die nur in unzureichendem Maß vorliegende Rechtsprechung 1

Wegener, in: Terhechte Verwaltungsrecht der Union, § 36 Rn. 29 f., 37 f. Siehe Beklagtenvortrag, vgl. BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013  – 7 C 40.11  –, Rn. 11; NVwZ 2014, 524. 3 Insoweit eine Kompetenzfrage, Gärditz, NVwZ, S. 1005, 1006; Hain, in: Festschrift Starck, S. 35, 42; Ossenbühl, in: Festschrift Redeker, S. 55, 63. 2

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

109

des EuGH in Sachen ökologische Verwaltungsfreiräume erschwert darüber hinaus einen Konsens. Daraus resultieren weitere Fragen für den Vollzug, die Vollzugskontrolle und insbesondere den Rechtsschutz. Daran angeknüpft ist die dogmatische Einordnung solcher Verwaltungsfreiräume; so fordert der deutsche Sonderweg bei den administrativen Letztentscheidungsrechten eine Differenzierung vermeintlich unionaler Letztentscheidungsrechte im Hinblick auf ihre Gültigkeit und Klassifizierung.4

I. Analysierende Bestandsaufnahme Im Folgenden ist betreffend die umweltrechtlichen Verwaltungsspielräume eine analysierende Bestandsaufnahme vorzunehmen, da zunächst nicht jeder Verdacht (unions-)gerichtlich bestätigt ist und somit anstandslos in den fortan zu eruierendem Bestand eingestellt werden kann. 1. RL 92/43/EWG (Flora- und Fauna-Habitat-Richtlinie) Die Richtlinie 92/43/EWG5 (im Folgenden: FFH-RL), welche auf einen effektiven Artenschutz europäischen Umfangs abzielt,6 enthält zahlreiche Flexibilisierungsinstrumente der Mitgliedstaaten,7 welche sich auf die Gebietsausweisung, die Erhaltungsmaßnahmen und die Schutzmaßnahmen erstrecken. a) Gebietsausweisungsverfahren, Art. 4 FFH-RL aa) Mitgliedstaaten Innerhalb des mehrphasig ausgestalteten Gebietsausweisungsverfahrens gemäß Art. 4 FFH-RL wird den Mitgliedstaaten unionsgerichtlich ein Freiraum bei der Gebietsauswahl für die Liste im Sinne des Art. 4 Abs. 1 FFH-RL zugebilligt.8 Der 4

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, BVerfGE 149, 407. 5 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. 05. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. L 206 vom 22. 07. 1992, S. 7–50. 6 Art. 2 Abs. 1 FFH-RL. 7 Partielle Rechtsprechungsübersicht transformierter Vorschriften, Aschke, in: BeckOK VwVfG, 45. Ed. 01. 10. 2019, § 40 Rn. 125 f. 8 EuGH, Urteil vom 11. 09. 2001  – Rs. C-67/99, Kommission / Irland, Rn. 29; nationale Rechtsprechung teilweise auf der Grundlage der EuGH Rechtsprechung zu Art. 4 VRL, vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. 08. 2000 – 6 B 23/00 –, Rn. 8, NVwZ 2001, 92; BVerwG, Urteil vom 27. 01. 2000 – 4 C 2/99 –, Rn. 23, BVerwGE 110, 302; BVerwG, Urteil vom 27. 10. 2000 – 4 A 18/99 –, Rn. 48, BVerwGE 112, 140; BVerwG, Urteil vom 31. 01. 2002 – 4 A 15/01 –, Rn. 48, DVBl. 2002, 990; BVerwG, Beschluss vom 14. 04. 2011 – 4 B 77/09 –, Rn. 39, IBRRS

110

Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten betrifft ausschließlich die Beurteilung der ökologisch-fachlichen Kriterien für die Auswahlentscheidung im Rahmen der Listung, welche der Kommission vorgelegt wird.9 Der EuGH postulierte, dass wirtschaftliche und soziale Belange nicht in die Beurteilung durch die Mitgliedstaaten einfließen dürfen.10 Sofern Gebiete nachgemeldet werden müssen, erstreckt sich der justiziable Freiraum ebenfalls auf die Nachmeldung dieser Gebiete, was im Hinblick auf die Dynamik äußerer und innerer Faktoren ökologischer Art nicht unwahrscheinlich ist11 sowie aufgrund der Monitoring- und Berichtspflichten der Mitgliedstaaten gemäß Art. 11 und Art. 17 FFH-RL unionsrechtlich korrekt erscheint.12 Darüber hinaus bestehe ein Letztentscheidungsrecht hinsichtlich der Deklassifizierungs- oder Verkleinerungsentscheidung der Mitgliedstaaten wegen bereits bestehender Schutzgebiete,13 wobei dieses aufgrund des Selbstbindungscharakters nicht dem Freiraum der Erstentscheidung entspreche.14

2011, 2162; BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013  – 9 A 22/11  Rn. 36  –, BVerwGE 146, 145; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14 –, Rn. 23, NuR 2015, 772; siehe auch Kahl /  Gärditz, NuR 2005, S. 555, 561; Spannowsky, UPR 2000, S. 41, 47 ff.; Möckl, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 30; Heugel, in: Lütkes / Ewer, § 32 Rn.  3; Epiney, UPR 1997, S. 303 ff.; ­Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, § 33 Rn. 11 ff.; Schumacher / Schumacher, in: Schumacher / Fischer-Hüftle, BNatSchG, § 31 Rn. 54; Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG § 32 Rn. 5; Frenz, in: Frenz / Müggenborg, BNatSchG § 32, Rn. 16. 9 Beurteilungsgrenzen determinierend siehe EuGH, Urteil vom 07. 11. 2000 – Rs. C-371/98, First Corporate Shipping, Rn. 17–25; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2001 – Rs. C-67/99, Kommission / I rland, Rn. 29; national BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22/11 Rn. 36 –, BVerwGE 146, 145; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14 –, Rn. 23, NuR 2015, 772. 10 EuGH, Urteil vom 07. 11. 2000 – Rs. C-371/98, First Corporate Shipping, Rn. 17–25; im Hinblick auf den Bezugsrahmen von Art. 2 Abs. 3 FFH-RL korrekt, Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 31; Berner, Der Habitatschutz im deutschen und europäischen Recht, S. 68 f.; Kerkmann, Natura 2000: Verfahren und Rechtsschutz im Rahmen der FFH-RL, S. 63 f. 11 Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 52; Eichhorn, Natural Systems – Composition and Structure of Habitats and Communities, 2016; Martin / Allgaier, Ökologie der Biozönosen, 2011. 12 Hinsichtlich der Nachmeldung, Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 30; BVerwG, Beschluss vom 14. 04. 2011 – 4 B 77/09 –, Rn. 39, IBRRS 2011, 2162; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14 –, Rn. 23, NuR 2015, 772. 13 Zur Terminologie Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 59, Meßerschmidt, NuR 2015, S. 2. 14 In Anbetracht der actus-contraius-Theorie lässt sich bereits bezweifeln, ob die Mitgliedstaaten die Kommissionsentscheidung im Rahmen der FFH-RL aufheben können, darüber hinaus drohen Naturschutzlücken, so jedoch auf der Grundlage der Entscheidung des EuGH zur VRL, EuGH, 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht, Rn. 20, NVwZ 1991, S. 559, Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 60; Gellermann, Natura 2000: europäisches Habitatschutzrecht und seine Durchführung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 129; zustimmend in Anbetracht der Entscheidung des EuGH, Urteil vom 03. 04. 2014 – Rs. C-301/12, Cascina Tre Pini, Rn. 26; siehe Meßerschmidt, NuR 2015, S. 8.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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bb) Europäische Kommission Außerdem wird in der Literatur und teilweise in der deutschen Rechtsprechung vertreten, dass die Entscheidung der Europäischen Kommission innerhalb der Phase 2 betreffend den Listenentwurf von gemeinschaftlicher Bedeutung gemäß Art. 4 Abs. 2 FFH-RL nur beschränkt judizierbar sei.15 b) Habitatschutz, Art. 6 FFH-RL Mit Abschluss der ersten Phase des Gebietsausweisungsverfahrens nach Art. 4 Abs. 2 FFH-RL und Ernennung zu Gebieten gemeinschaftlicher Bedeutung unterfallen diese dem Schutzregime des Art. 7 FFH-RL in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 bis 4 FFH-RL. Die dadurch begründeten konkreten Handlungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten dürfen aufgrund der Installation unbestimmter Rechtsbegriffe und dem damit einhergehenden Konkretisierungsbedürfnis nicht bereits von vornherein als frei von administrativen Letztentscheidungsrechten abgetan werden.16 Vor allem die Judikatur des Europäischen Gerichts erster Instanz gibt Anlass, die einzelnen mitgliedstaatlichen Handlungspflichten im Kontext der Rechtsprechung des Gerichtshofs sowie der deutschen Rechtsprechung im Hinblick auf administrative Letztentscheidungsrechte dezidiert zu dekomponieren.17 aa) Erhaltungsziele und Erhaltungsmaßnahmen, Art. 6 Abs. 1 FFH-RL (1) Gebietsprioritäten Zwar sind Erhaltungsmaßnahmen für Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung von dem Schutzregime des Art. 7 FFH-RL explizit ausgenommen, allerdings trifft die Mitgliedstaaten die Pflicht zur Vornahme von Erhaltungsmaßnahmen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 FFH-RL nach Ernennung zu besonderen Schutzgebieten oder nach sechsjährigem Fristablauf gemäß Art. 4 Abs. 4 FFH-RL ipso iure. Bereits für die Gebiete gemeinschaftlicher Bedeutung müssen Prioritäten 15

Ewer, NuR 2000, 361, 365; Halama, NVwZ 2001, S. 506, 507; Kahl / Gärditz, NuR 2005, S. 555, 561; Epiney, in: Epiney / Gammenthaler, Das Rechtsregime der Natura 2000–Schutzgebiete, S. 65 f.; Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 119; VG Frankfurt a. M., Beschluss vom 02. 03. 2001 – 3 G 501/01, NVwZ 2001, S. 1188, 1889; VG Oldenburg, Beschluss vom 31. 03. 2008 – 1 B 512/08, NVwZ 2008, 586, 588. 16 Zu dem Konkretisierungsbedürfnis und der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe vgl. Meßerschmidt, NuR 2013, S. 168, 170, 172. 17 EuGH, Urteil vom 23. 04. 2009 – Rs. C-362/06 P, Sahlstedt / Kommission; EuG, Beschluss vom 22. 06. 2006  – Rs. T-150/05, Sahlstedt / Kommission, Rn. 59 ff.; EuG, Beschluss vom 22. 06. 2006 – Rs. T-137/04, Mayer / Kommission, Rn. 30; EuG, Beschluss vom 19. 09. 2006 – Rs. T-122/05, Benkö / Kommission, Rn. 29; EuG, Beschluss vom 22. 06. 2006 – Rs. T-136/04, Rechtlerverband Pfronten / Kommission, Rn.  26; dazu Gärditz, ZUR 2006, S. 536 ff.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

gemäß Art. 4  Abs.  4  FFH-RL festgelegt werden,18 welche bei der Bestimmung der Erhaltungsziele und der umzusetzenden Erhaltungsmaßnahmen im Sinne des Art. 6 Abs. 1 FFH-RL zugrunde zu legen sind.19 In Ermangelung hinreichend konkretisierter unionsrechtlicher Vorgaben20 der Erhaltungsmaßnahmen für besondere Schutzgebiete und in Anbetracht der europäischen Judikatur betreffend Art. 6  Abs.  1 FFH-RL21 sowie den in unionsrechtlicher Hinsicht (ermessens-) offenen Wortlaut,22 ist ein Freiraum nicht undenkbar. Mit Freiheit der Wahl eines Ansatzes zur Durchführung der nötigen Erhaltungsmaßnahmen, ungeachtet normativer, administrativer oder vertraglicher Art, begrenzt sich dieser Freiraum somit nicht nur auf die legislative Ebene.23 Dieses Letztentscheidungsrecht beanspruche erst recht Geltung in Ansehung der die Erhaltungsmaßnahmen prädominierenden24 Erhaltungsziele, welche zur Bestimmung ebenfalls einem Letztentscheidungsrecht unterworfen würden.25 Jedenfalls würde der Ausfluss des Letztentscheidungsrechts auf der Stufe der Gebietsausweisung bedeuten, dass die Entscheidung, ob für jeden Lebensraumtyp oder jede vorkommende Art Erhaltungsziele festgesetzt werden, sogar, falls es sich um prioritäre Lebensraumtypen handelt, mit einem Letztentscheidungsrecht behaftet ist.26 (2) Fachliche Verbundenheit der Regelungskomplexe Eine derartige fachliche Verquickung von Gebietsprioritäten, Erhaltungszielen und Erhaltungsmaßnahmen unter Beachtung des Verschlechterungs- und Störungs-

18 Vermerk der Europäischen Kommission über die Ausweisung besonderer Schutzgebiete, endgültige Fassung vom 14. Mai 2012, S. 2, 3. 19 Vermerk der Europäischen Kommission über die Ausweisung besonderer Schutzgebiete, endgültige Fassung vom 14. Mai 2012, S. 2; siehe auch im Rahmen der Rüge durch die Europä­ ische Kommission, Europäische Kommission, Aufforderungsschreiben – Vertragsverletzung Nr. 2014/2262, 2015. 20 Siehe Vermerk der Europäischen Kommission über die Ausweisung besonderer Schutzgebiete, endgültige Fassung vom 14. Mai 2012, S. 6. 21 EuG,  Beschluss vom 22. 06. 2006  – Rs. T-150/05, Sahlstedt / Kommission, Rn. 59 ff., Slg. 2006, II–1851–1876. 22 Ernüchternd bereits zu Art. 6 Abs. 2 FFH-RL, vgl. EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016  – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; sowie allgemein vgl. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 – Rs. C-551/13, SETAR, Rn. 45. 23 Siehe Vermerk der Europäischen Kommission über die Ausweisung besonderer Schutzgebiete, endgültige Fassung vom 14. 05. 2012, S. 6. 24 Siehe Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 7 Rn. 15 ff., § 32 Rn. 78; ausdrücklich Vermerk der Europäischen Kommission über die Ausweisung besonderer Schutzgebiete, endgültige Fassung vom 14. Mai 2012, S. 6; Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 1. 2019, S. 12 ff. 25 So Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 7 Rn. 17. 26 BVerwG, Beschluss vom 14. 04. 2011 – 4 B 77.09 –, Rn. 43, juris.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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verbots des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL27 erfordere eine administrative – notwendig jedoch ökologische – Gestaltungssphäre28 zur Gewährleistung der vorausgesetzten Kohärenz und Effektivität der durchzuführenden Maßnahmen, gegebenenfalls unter paralleler Abwägung ökologisch fremder Belange nach Art. 6 Abs. 4 FFHRL in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 FFH-RL.29 Die Handlungspflicht aufoktroyierende Formulierung des Art. 6 Abs. 1 FFH-RL lässt zudem keinen Raum, für ein rechtsfolgenbezogenes Letztentscheidungsrecht bezüglich des „Ob“ der Ausführung von Erhaltungsmaßnahmen anzunehmen,30 vielmehr ist das „Wie“ der Erhaltungsmaßnahmen zu ermitteln. bb) Schutzmaßnahmen, Art. 6 Abs. 2 FFH-RL (1) Notwendigkeit flexibilisierter Ermächtigungsgrundlage Nach dem Gerichtshof impliziere bereits die Verwendung des Wortlauts „geeignete Maßnahmen“ innerhalb des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL, dass den Mitgliedstaaten bei der „Anwendung“ dieser Vorschrift im nationalen Recht ein Letztentscheidungsrecht zustehe.31 Der Wortlaut der allgemeinen Schutzpflicht gegenüber den besonderen Schutzgebieten gemäß Art. 6 Abs. 2 FFH-RL erschöpft sich nicht nur in präventiven Maßnahmen, sondern erfordere im Einzelfall auch repressive Maßnahmen durch die Mitgliedstaaten,32 die im Einzelnen noch konkretisierungsbedürftig seien.

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Siehe EuGH, Urteil vom 21. 07. 2016 – Rs. C-387/15, Rs. C-388/15, Ästuar von Schelde und Durme, Rn. 40. 28 „Die Richtlinie enthält keine Definition des Begriffs ‚ökologische Erfordernisse‘. Angesichts des Zwecks von Artikel 6 Absatz 1 und des dort gegebenen Zusammenhangs ist jedoch festzustellen, dass die ökologischen Erfordernisse alle ökologischen Anforderungen einschließlich biotischer und abiotischer Faktoren beinhalten, die als erforderlich betrachtet werden, um die Erhaltung der jeweiligen Lebensraumtypen und Arten einschließlich ihrer Beziehungen mit der physischen Umgebung (Luft, Wasser, Boden, Vegetation usw.) sicherzustellen.“, so Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 15. 29 Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 5 f. 30 Richtig daher Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 14. 31 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 1. 2019, S. 19; dazu auch Lau, NuR 2016, S. 149, 154. 32 EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007 – Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 208, NuR 2008, S. 101; Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 33 Rn. 2; Albrecht / Gies, NuR 2014, S. 235, 243; Epiney, in: Epiney / Gammenthaler, Das Rechtsregime der Natura 2000–Schutzgebiete, S. 25.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Ungeachtet dessen, dass der Gerichtshof nicht von Umsetzung, sondern Anwendung spricht, muss dieses Letztentscheidungsrecht logischerweise nicht nur auf der legislativen Ebene verbleiben, da der Gesetzgeber zunächst eine (normative)  Handlungsmöglichkeit schaffen muss, um die Veränderung oder Störung (antizipatorisch) zu verhindern, da die bloße nachträgliche Ahndung hinter den Anforderungen der Richtlinie zurück bleibt.33 Die sodann zu verhindernden Veränderungen oder Störungen menschlicher und insbesondere natürlicher Art34 betreffend die besonderen Schutzgebiete können sich im Hinblick auf ihre Erscheinung sowie Intensität freilich verschieden darstellen,35 sodass im Einzelfall eine flexibilisierte Handlungsgrundlage der Verwaltung benötigt wird.36 Eine normative Erfassung aller Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung für alle natürlichen bzw. menschlichen Veränderungen oder Störungen stellt sich im Hinblick auf die Bandbreite der Intensitätsabstufungen der unterschiedlichen Veränderungen oder Störungen als zu statisch dar. (2) Fachliche (Regelungs-)Komplexität, insbesondere Prognosebedürfnis Des Weiteren findet das bereits zuvor angesprochene Argument der fachlichen Verquickung des Regelungskomplexes des Art. 6 FFH-RL37 ebenfalls auf Maßnahmen nach Abs. 2 Anwendung.38 Daraus resultierende Schutzmaßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 2 FFH-RL dürfen mithin nicht derart eindimensional ausgerichtet sein, dass der Veränderung oder Störung im besonderen Schutzgebiet punktuell Einhalt geboten wird und diese gleichzeitig für den Status des besonderen Schutzgebietes an anderer Stelle abträglich sind, sodass eine relevante Verschlechterung bereits inzident auf der Ebene des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL festzustellen ist.39

33 Die lediglich nachträgliche strafrechtliche und bußgeldliche Ahndung von Störungen im Sinne des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL greifen zu kurz, vgl. EuGH, Urteil vom 10. 11. 2016  – Rs.  C-504/14, Kommission / Griechenland, Rn.  55 ff. 34 Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 109; EuGH, Urteil vom 20. 10. 2005  – Rs. C-6/04, Kommission / Vereinigtes Königreich, Rn. 34. 35 Siehe bereits Beispiele der EU-Kommission, Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement  – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 17 ff. 36 In Anbetracht der Wechselwirkung innerhalb der Regelungen des Art. 6 FFH-RL, vgl. Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 20 f.; dazu ausführlicher Gärditz, DVBl. 2010, S. 214, 217. 37 Siehe Erhaltungsmaßnahmen, Teil 3 D. I. 1. a) bb) (1) a. E. 38 Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 89. 39 Für Projekte oder Pläne grundsätzlich im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL, vgl. Gärditz, DVBl. 2010, S. 214, 217; allerdings anhand der Kriterien des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL, EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 54; Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 20.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Hinzu kommt, dass die Komplexität von Entscheidungen in der unionsgerichtlichen Judikatur zu Letztentscheidungsrechten keine nur untergeordnete Rolle einnimmt.40 Im Rahmen der unionsgerichtlichen Rechtsprechungslinie zu Letztentscheidungsrechten gelten prognostische Elemente innerhalb von Verwaltungsentscheidungen  – neben der fachlichen Ausgestaltung  – als primäre komplexitätskonstituierende Faktoren.41 Bereits aus dem mit Art. 6 Abs. 3 FFH-RL partiell korrespondierenden Wortlaut „[…] vermeiden […]“ und „[…] erheblich auswirken könnten“ lässt sich ableiten, dass die Veränderung oder Störung nicht bereits eingetreten sein darf und der Schutzpflicht der Mitgliedstaaten somit ein prognostisches Element innewohnt,42 welches mit der Überwachungsverpflichtung der Mitgliedstaaten in Art. 11 FFH-RL abgesichert wird. In Anbetracht der systematischen Verflechtung der Regelungen innerhalb des Art. 6 FFH-RL, der ökologisch-fachlichen Komponente, welche den Entscheidungen zugrunde zu legen ist, dem prognostischen Teil der Entscheidung, der teilweise auf den Erfahrungswerten der Behörde basiert, sowie fachlich-ökologischen Einschätzungen ist die Entscheidungskomplexität nicht von vornherein ausschließen. cc) Verträglichkeitsprüfung, Art. 6 Abs. 3 FFH-RL Nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL müssen Pläne oder Projekte vor der Erteilung der Genehmigung zwingend einer Verträglichkeitsprüfung unterzogen werden. Der voraussichtliche Plan oder das Projekt muss nicht unbedingt in einem geschützten Gebiet verortet sein bzw. sich auf dieses beziehen; erfasst werden ebenfalls Pläne oder Projekte, die nicht im geschützten Gebiet liegen und von denen dennoch eine erhebliche Beeinträchtigung für das geschützte Gebiet ausgehen kann.43 (1) Vorprüfung Im Mittelpunkt der im Evidenzurteil44 fallenden Entscheidung der Vorprüfung45 steht dabei das „offensichtliche“ Vorliegen bzw. Nichtvorliegen des Primärprüfungsgegenstandes der eigentlichen FFH-Verträglichkeitsprüfung,46 konkret die 40

Teil  2 A. II. 5. ff.; Teil  2 C. Teil  2 C. III. 42 Dazu EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007 – Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 208 NuR 2008; Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 18. 43 EuGH, Urteil vom 10. 01. 2006 – Rs. C-98/03, Kommission / Deutschland, Rn. 51; EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007 – Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 232, 233. 44 Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 58; Lambrecht  / ​ Trautner / Kaule / Gassner, Ermittlung von erheblichen Beeinträchtigungen, S. 30. 45 Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 10 Rn. 125. 46 Ausführlich Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 53 ff. 41

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Wahrscheinlichkeit des Eintritts erheblicher Beeinträchtigungen gegenüber der Gewissheit, dass solche Auswirkungen eintreten werden,47 was sich mit Blick auf den Wortlaut („beinträchtigen könnten“) und der effektiven Durchsetzung der Richtlinienzielen gemäß Art. 2 FFH-RL verifizieren lässt. Die von der deutschen und europäischen Judikatur konstatierten Anforderungen an die zu berücksichtigenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden für die Verträglichkeitsprüfung sind dabei nicht unbedingt identisch.48 Sofern die summarische Abschätzung innerhalb der Vorprüfung ergibt, dass das Ausbleiben erheblicher Beeinträchtigungen evident ist, kann von einer Verträglichkeitsprüfung abgesehen werden.49 Aufgrund der Tatsache, dass die Beurteilung der Eintrittswahrscheinlichkeit innerhalb der Vorprüfung nicht derart frei ausgestaltet sein darf, dass sogenannte Abschwächungsmaßnahmen bereits berücksichtigt werden können50 sowie der strengen Anforderungen an die Offensichtlichkeit des Ausbleibens erheblicher Beeinträchtigungen,51 ist die Einräumung eines justiziablen Freiraums des Entscheidungsträgers auf dieser Ebene zu verneinen.52 (2) FFH-Verträglichkeitsprüfung Die FFH-Verträglichkeitsprüfung gliedert sich in die Beschreibung des Plans oder Projekts und der jeweiligen Wirkfaktoren, die Bestandsaufnahme der Lebensraumtypen und Arten im Wirkbereich, die Prognose über die Auswirkungen auf das besonders geschützte Gebiet sowie die Berücksichtigung von Abschwächungsmaßnahmen.53

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EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 41. BVerwG, Urteil vom 26. 11. 2007 – 4 BN 46.07 Rn. 11, NuR 2008, S. 115, 116; Nichtgeltung der Anforderungen dagegen Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 56. 49 Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 56; Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 47; BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007  – 9 A 20/05, NVwZ 2007, S. 1054, 1061; Peters / Hartlik, Die Prüfung nach der FFH-Richtlinie S. 11 in: Storm / Bunge, Handbuch der Umweltverträglichkeitsprüfung; Steitz, Wissensbasiertes Aufgabenmanagement für die FFH-VP, S. 151; Michler, VBIBW 2004, S. 84, 88; BVerwG, Urteil vom 26. 11. 2007 – 4 BN 46.07 Rn. 10 f., NuR 2008, S. 115, 116. 50 EuGH, Urteil vom 12. 04. 2018 – Rs. C-323/17, People Over Wind and Sweetman, Rn. 40. 51 BVerwG, Urteil vom 26. 11. 2007 – 4 BN 46.07 Rn. 10, 11, NuR 2008, S. 115, 116. 52 Im Ergebnis ebenfalls, Möckl, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 48 a. E.; Frenz, in: Frenz / Müggenborg, BNatSchG, § 34 Rn. 96; OVG Greifswald, Beschluss vom 10. 07. 2013 – 3 M 111/13, Rn. 32, NuR 2014, S. 494. 53 Siehe Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 1. 2019, S. 32 ff.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 192 ff. 48

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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(a) Beschränkte judizierbare fachliche Maßstab- und Methodenwahl Können Zweifel hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts erheblicher Beeinträchtigungen oder der bloßen Geringfügigkeit dieser Beeinträchtigungen54 im Vorfeld nicht ausgeräumt werden, ist eine FFH-Verträglichkeitsprüfung vorzunehmen. Als Maßstab der Feststellungen und Schlussfolgerungen beruhend auf der FFH-Verträglichkeitsprüfung sind die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse55 und aktuellsten Daten56 über das betroffene besondere Schutzgebiet zugrunde zu legen. Diese Feststellungen und Schlussfolgerungen müssen so vollständig, präzise und endgültig sein, dass sie geeignet sind, jeden vernünftigen wissenschaftlichen Zweifel hinsichtlich der Auswirkungen ausgehend von dem geplanten Plan oder Projekt im besonderen Schutzgebiet zu beseitigen.57 Bei Vorliegen einer in wissenschaftlicher Hinsicht gleichwertigen Methodenvielfalt besteht die Freiheit der Methodenwahl durch die zuständige Stelle, da jede fachlich legitime und zeitgemäße Methode grundsätzlich zulässig ist. Insoweit werde der zuständigen Stelle ein Letztentscheidungsrecht attestiert,58 was hinsichtlich der fehlenden Methodenpräferenz bzw. der konkreten Methodenangabe in der FFHRL59 sowie der Vielzahl anerkannter wissenschaftlicher Methoden, beispielsweise für die Bestandserfassung- und bewertung, oder der Prognosemethode,60 verglichen mit anderen Verwaltungsfreiräumen nicht im Vorfeld ausgeschlossen erscheint.61 (b) Entgegnen von Unsicherheitsfaktoren der Auswirkungsprognose Das Ausbleiben der erheblichen Beeinträchtigungen durch etwaige negative Auswirkungen des noch zu genehmigenden Plans oder Projektes muss im Wege der vorausschauenden Beurteilung durch die zuständige Stelle ermittelt werden.62 Es 54

Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 57, 58. EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 54; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73, 74, NuR 2008, S. 633; dazu Steeck / L au, NVwZ 2009, S. 616. 56 U. a. EuGH, Urteil vom 11. 09. 2012 – Rs. C-43/10, Nomarchiaki Aftodioiksi Aitoloakarnanias, Rn. 115. 57 EuGH, Urteil vom 20. 09. 2007 – Rs. C-304/05, Kommission / Italien, Rn. 69. 58 BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633; vgl. BVerwG, Urteil vom 16. 3. 2006 – 4 A 1075/04, Rn. 243, 517 ff., NVwZ-Beilage 2006, 1, 49 f.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 196, 197. 59 Vgl. BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633; siehe ausführlich Lau, UPR 2010, S. 169, 174; Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 248. 60 Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 196, 200. 61 Lau / Jacob, NVwZ 2015, S. 241, 245; Lau, UPR 2010, S. 169, 172–174; kritisch Valendar, UPR 2010, S. 1, 6 f.; Gellermann, DVBl. 2008, S. 283, 291. 62 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 46–48; Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 59 ff.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 199 ff.; Apfelbacher / Adenauer / Iven, NuR 1999, S. 63, 74; VGH Kassel, Urteil vom 02. 01. 2009 – 11 B 368/08, NuR 2009, S. 255. 55

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

muss anhand objektiver Umstände ausgeschlossen oder belegt werden, dass eine erhebliche Beeinträchtigung des geschützten Gebietes droht.63 Grundsätzlich ist der Natur von Prognoseentscheidungen – insbesondere bei komplexeren Sachverhalten – ein gewisses Maß an Unsicherheit inhärent,64 welchem dadurch Rechnung getragen wird, dass im Hinblick auf die Eintrittswahrscheinlichkeit der Grundsatz der umgekehrten Proportionalität anzuwenden ist.65 Dieser Grundsatz dient im Gefahrenabwehrrecht zur Ermittlung der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit. Da hieraus eine etwaige Eingriffsbefugnis der Gefahrenabwehrbehörden greift, orientiert sich der Grundsatz an dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Danach sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen, je ranghöher das betroffene Schutzgut, also schwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.66 In Anbetracht der strengen Gewissheits-Rechtsprechung des EuGH verfehlt dieser Grundsatz jedoch seine Wirkung, da im Falle eines bestehenden vernünftigen und wissenschaftlichen Zweifels, ungeachtet dessen, wie gering die ermittelte Eintrittswahrscheinlichkeit basierend auf der Beeinträchtigungsquantifizierung sein mag, nie Gewissheit – im Sinne der Rechtsprechung – über das Ausbleiben der erheblichen Beeinträchtigung für das Schutzgebiet erlangt wird, sofern wissenschaftlich vernünftige Restzweifel bestehen.67 Dagegen ist der Ansatz der nationalen Rechtsprechung, welcher in Auslegung des in Art. 6 Abs. 3 FFH-RL befindlichen Vorsorgegrundsatzes im Sinne des Art. 191 Abs. 2 Satz 2 AEUV68 relevante Unsicherheitsfaktoren dadurch abmildere, dass die FFH-Verträglichkeitsprüfung nicht auf ein „Nullrisiko“ ausgerichtet sein müsse, weil der wissenschaftliche Nachweis hierfür nie geführt werden könne, eher in Einklang mit der europäischen Rechtsprechung zu bringen. Es reiche danach aus, wenn unter Ausnutzung aller wissen 63

EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 44; Köck, ZUR 2005, S. 466, 467; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 207. 64 Vgl. Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 199 f. 65 Gassner, in: Gassner / Bendomir-Kahlo / Schmidt-Räntsch, BNatSchG, § 34, Rn. 9; Gassner / Winkelbrandt / Bernotat, UVP, S. 286; Apfelbacher / Adenauer / Iven, NuR 1999, S. 63, 74; Di Fabio, NuR 1991, S. 353, 354; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 200. 66 Siehe BVerwG, Urteil vom 22. 03. 2012 – 3 C 16.11, Rn. 32, BVerwGE 142, 205; OLG Hamm, Beschluss vom 28. 01. 2021 – III–4 RBs 3/21 –, Rn. 45, juris; VGH Mannheim, Urteil vom 12. 03. 2015 – 10 S 1169/13 –, Rn. 80, juris. 67 EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006 – Rs. C-239/04, Kommission / Portugal, Rn. 20; EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58, 59; EuGH, Urteil vom 09. 09. 2003 – Rs. C-236/01, Monsanto Agricoltura Italia, Rn. 106, 109. 68 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58; theoretische Risiken sind im Rahmen des Vorsorgeprinzips nicht berücksichtigungsfähig, EuGH, Urteil vom 09. 09. 2003 – Rs. C-236/01, Monsanto Agricoltura Italia, Rn. 106 f.; EuG, Urteil vom 11. 09. 2002 – Rs. T-13/99, Rn. 145, 152; Stokes, Environmental law review 2005, S. 206, S. 212; siehe dazu ebenfalls Käller, in: Schwarze EU-Kommentar, Art. 191 AEUV Rn. 29; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 208 ff.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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schaftlichen Mittel und Quellen69 nach Abschluss der FFH-Verträglichkeitsprüfung keine wissenschaftlich vernünftigen Zweifel mehr bestünden.70 (aa) Spielraum der erheblichen Beeinträchtigung qua Methodenwahl Nicht jede negative Auswirkung auf ein geschütztes Gebiet durch einen zuzulassenden Plan oder ein zuzulassendes Projekt bzw. bestehenden synergetisch wirkenden Plan oder wirkendes Projekt stellt eine erhebliche Beeinträchtigung dieses Gebiets dar.71 Die Erheblichkeit ist objektiv anhand von spezifischen Merkmalen und Umweltbedingungen des betroffenen und besonders geschützten Gebietes zu ermitteln.72 Dabei sind die Erhaltungsziele des jeweiligen Gebietes als kritisches Beurteilungskriterium heranzuziehen, sodass bei einer Beeinträchtigung der Erhaltungsziele des jeweiligen Gebietes stets die Erheblichkeit dieser Beeinträchtigung gegeben ist.73 Aufgrund der Zielsetzung der Gewährleistung eines einheitlichen Schutzniveaus für die besonderen Schutzgebiete und der Gewissheitsanforderung bei Ausschluss der erheblichen Beeinträchtigung wird teilweise vertreten, dass den Mitgliedstaaten kein Letztentscheidungsrecht bei der Auslegung bzw. Anwendung 69

Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin zu Rs. C-127/02, Rn. 97, Slg. 2004, I–7405; ebenfalls BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 35; EuGH, Urteil vom 11. 04. 2013 – Rs. C-258/11, Sweetman, Rn. 48. 70 BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22.11, Rn.41, BVerwGE, 146, 145; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 35, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 66, BVerwGE 128, 1; dazu Möckl, ZUR 2017, 195, 199; nicht nur „theoretische Besorgnis“ OVG Münster, Urteil vom 13. 12. 2007 – 8 A 2810/04, NWVBl. 2008, 271; Köck, ZUR 2005, S. 466, 467; Kremer, ZUR 2007, S. 299, 302; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 208. 71 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 46–48; siehe Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 33. 72 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 46–48; ausführlich Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement  – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 29. 73 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 46–48; BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20/05, Rn. 10 ff., NVwZ 2007, S. 1054, 1059; OVG Lüneburg, Urteil vom 01. 12. 2004 – 7 LB 44/02 –, Rn. 149, – juris; Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 33; Lorz / Konrad / Mühlbauer / Müller-­ Walter / Stöckl, Naturschutzrecht, § 34 Rn. 10; Lambrecht / Trautner / Kaule / Gassner, Ermittlung von erheblichen Beeinträchtigungen, S. 113; Koch, Die Verträglichkeitsprüfung der FFH-Richtlinie im deutschen und europäischen Umweltrecht, S. 144; Peters / Hartlik, Die Prüfung nach der FFH-Richtlinie, S. 41, in: Storm / Bunge, Handbuch der Umweltverträglichkeitsprüfung; ­Jarass, NuR 2007, S. 371, 374; Sobotta, ZUR 2006, S. 353, 358; Apfelbacher / Adenauer / Iven, NuR 1999, S. 63, 74; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 216; sofern keine Erhaltungsziele festgelegt wurde, würde der Erheblichkeitsmaßstab des Art. 6 Abs. 2 FFH-RL gelten, so Europäische Kommission, S. 33.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

des Begriffs „erheblich“ zugutekomme.74 Dies ist insoweit richtig, dass im Rahmen der Erheblichkeitsprüfung lediglich objektive ökologische Faktoren der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse75 berücksichtigt werden dürfen. Angesichts der Freiheit der Methodenwahl bis zur Grenze der wissenschaftlichen Unvertretbarkeit und des wissenschaftlichen Makels76 unter Berücksichtigung, dass verschiedene Methoden zu verschiedenen Überprüfungsergebnissen führen,77 erscheint die uneingeschränkte Ablehnung eines Letztentscheidungsrechts zu eindimensional. Die Kumulation von justiziablen Freiräumen in den Vorprozessen78 schafft zumindest in funktionaler Hinsicht einen auf diesen Freiräumen basierenden justiziablen Freiraum.79 (bb) In dubio pro naturae bei ökologischer non liquet In diesem Kontext ist nach einem naturschutzrechtlichen Zweifelsgrundsatz in fachwissenschaftlichen Patt-Situationen zu fragen. Bei Fehlen eines solchen Grundsatzes müsste den Mitgliedstaaten zur Vermeidung einer Lähmung der Verwaltung ein Letztentscheidungsgerecht zugestanden werden. Dieser Grundsatz würde für zwei verschiedene und denkbare Patt-Situationen gelten; (1.) die gewählte Methode ist im naturwissenschaftlichen Diskurs hinsichtlich des Vorliegens erheblicher Beeinträchtigungen in zwei divergierende, aber wissenschaftlich anerkannte Lager aufgespalten und (2.) die Erheblichkeit der Beeinträchtigungen steht fest, allerdings ist die Eintrittswahrscheinlichkeit streitig, jedoch wissenschaftlich vernünftig begründet.

74

So Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 89; ebenfalls Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 33; funktionale Schwächen werden hervorgehoben BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076. 75 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 54; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 45, BVerwGE 148, 373; EuGH, Urteil vom 17. 04. 2018 – Rs.  C-441/17, Kommission / Polen, Rn.  138. 76 Diese Parameter unterliegen grds. einer vollen gerichtlichen Kontrolle, siehe BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16, Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076. 77 BVerwG, Urteil vom 23. 04. 2014 – 9 A 25.12, Rn. 26, BVerwGE 149, 289; BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, NVwZ 2018, 1076; ebenfalls Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 196. 78 Erfassung und Bewertung, BVerwG, Urteil vom 23. 02. 2006  – 9 A 3.06, Rn. 74, 75, BVerwGE 130, 299; siehe dazu Lau / Jacob, NVwZ 2015, S. 241, 245. 79 In diese Richtung, i. E. jedoch ablehnend, BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076; funktionale und objektive Grenzen der gerichtlichen Kontrolle sind jedoch zu unterscheiden, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, NVwZ 2019, S. 52 (m. Anm. Helmes); anders dagegen in der italienischen Rspr. Consigilio di Stato, sez. IV, 22 luglio 2005, n. 3917; die italienische Richtung unter Unionsrecht befürwortend Füßer / L au / Nastasi, EurUP 2010, S. 156, 163.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Bei Zugrundelegung der vorstehend festgestellten Methodenfreiheit80 umfasst diese konsequenterweise die Freiheit der Wahl einer Bandbreite wissenschaftlich vertretbarer Standpunkte.81 Beschränkt wird dies lediglich durch die Stringenz der Wahlentscheidung, vor allem wenn die gewählte „Sub-Methode“ auf vorherigen Entscheidungen basiere,82 der Kohärenz der Methodenwahl innerhalb des Art. 6 FFH-RL,83 dem wissenschaftlichen Qualitätserfordernis84 sowie der Bezugnahme zu den spezifischen Erhaltungszielen des besonderen Schutzgebietes.85 Lediglich dieser Maßstab würde bei der Methodenwahl durch die zuständige Stelle regelmäßig der gerichtlichen Kontrolle unterfallen.86 Dagegen rührt die Frage nach der Existenz eines naturschutzrechtlichen Zweifelsgrundsatzes in Bezug auf das Verträglichkeitsprüfungsergebnis bereits aus den unterschiedlichen Voraussetzungen, welche die Rechtsprechung an das Ausbleiben (Gewissheit) und die Existenz (Wahrscheinlichkeit) erheblicher Beeinträchtigung stellt.87 Grosso modo korrespondiert die Annahme eines Zweifelsgrundsatzes pro Naturschutz innerhalb der Verträglichkeitsprüfung mit der Zielsetzung der Richtlinie. Die prognostischen Unsicherheiten vorbeugende und die Gewissheits-Rechtsprechung des Gerichtshofs relativierende deutsche Judikatur des „Nullrisikos“ basierend auf dem umweltrechtlichen Vorsorgegrundsatz88 bekräftigt dies, da bei Verbleiben vernünftiger wissenschaftlicher Zweifel stets eine erhebliche Beeinträchtigung anzunehmen ist.89 Unter der Schwelle des vernünftigen Zweifels ist im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG kein justiziabler Freiraum anzunehmen, da zumindest eine Ausermittlung des wissenschaftlichen Zweifels und der Unsicherheit erfolgen muss.90 80

Siehe Teil  3 A. I. 1. b) cc) (2) (a). EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52. 82 Siehe BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274. 83 Siehe ebenfalls Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 20; vgl. EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54. 84 EuGH, Urteil vom 24. 11. 2011 – Rs. C-404/09, Kommission / Spanien, Rn. 99. 85 EuGH, Urteil vom 17. 04. 2018 – Rs. C-441/17, Kommission / Polen, Rn. 90. 86 E contrario vgl. EuGH, Urteil vom 17. 04. 2018 – Rs. C-441/17, Kommission / Polen, Rn. 90; in der nationalen Rechtsprechung siehe BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018  – 9 B 43.16, Rn. 19, Ls. 1. 87 Bereits Teil  3 A. I. 1. b) cc) (1) und (2) (b); EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 39–44; EuGH, Urteil vom 08. 11. 2016 – Rs. C-243/15, Kommission / Deutschland, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006 – Rs. C-239/04, Kommission / Portugal, Rn. 24; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2007 – Rs. C-304/05, Kommission / Italien, Rn. 6; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2012 – Rs. C-43/10, Nomarchiaki Aftodioiksi Aitoloakarnanias, Rn. 115. 88 BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22.11, Rn. 41, BVerwGE, 146, 145; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 35, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 66, BVerwGE 128, 1; dazu auch Möckl, in: Schlacke, BNatSchG, § 34 Rn. 70; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 209. 89 Siehe Möckl, in: Schlacke, BNatSchG, § 34 Rn. 70 a. E. 90 Siehe Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM/2000/0001, S. 5 f. 81

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

dd) Abweichende Plan- oder Projektzulassung, Art. 6 Abs. 4 FFH-RL Trotz der Feststellung erheblicher Beeinträchtigungen besteht die Möglichkeit der Zulassung eines Plans oder Projektes nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL, sofern Gründe des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art vorliegen, keine Alternativlösung vorhanden ist und der jeweilige Mitgliedstaat alle notwendigen Ausgleichsmaßnahmen ergreift, um sicherzustellen, dass die Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist. Hierbei handelt es sich um eine Gesamtabwägung, in die sowohl Naturschutzgründe als auch naturschutzexterne Gründe unter zwingender Beachtung möglicher Planungsalternativen einzubeziehen sind.91 In Anbetracht der restriktiven Handhabe negativer Auswirkungen in besonderen Schutzgebieten (Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 FFH-RL) sowie der gesetzlichen Anordnung innerhalb des Art. 6 FFH-RL,92 handelt es sich bei der abweichenden Zulassung gemäß Art. 6 Abs. 4 FFH-RL um eine Ausnahmevorschrift93, deren Anwendung eine ultima ratio darstellt.94 Die Anwendung der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL erfolgt daher in entsprechend restriktiver Weise.95 (1) Punktuell rechtsfolgenbezogene Letztentscheidungsrechte Die zuständige Stelle verfügt im Rahmen des Abweichungsverfahrens nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL punktuell über rechtsfolgenbezogene Letztentscheidungsrechte. Etwa bei der Einleitung des Abweichungsverfahrens,96 bei Vorliegen der ausnahmegenehmigungskonstituierenden Voraussetzungen im Hinblick auf den Erlass der Abweichungszulassung im Sinne des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL97 sowie 91

BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 74, BVerwGE 148, 373; unter Berücksichtigung des Einzelfalls, Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 10, Rn. 129; Freytag / Iven, NuR 1995, S. 109, 114; Niederstadt, NuR 1998, S. 515, 524. 92 Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 1. 2019, S. 42. 93 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016  – Rs. C-399/14, „Grüne Liga Sachsen“, Rn. 73; EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006  – Rs. C-239/04, Kommission / Portugal, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2007 – Rs. C-304/05, Kommission / Italien, Rn. 83. 94 Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 1. 2019, S. 42; siehe auch Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 11 Rn. 123 a. E. 95 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016  – Rs. C-399/14, Rn. 73, Rs. „Grüne Liga Sachsen“, NVwZ  2016, 595; EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006  – Rs. C-239/04, Rn. 36, Rs. „Kommission / Portugal“, DVBl.  2007, 379; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2007  – Rs. C-304/05, Rn. 83, Rs. „Kommission / Italien“, Slg. I 2007, 7519; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013 – 4 C 3.12, Rn. 10, BVerwGE 146, 176; ebenfalls Möckl, in: Schlacke, BNatSchG, § 34 Rn. 137; a. A. Wolf, ZUR 2005, S. 449, 453 f. 96 Möckl, in: Schlacke, BNatSchG, § 34 Rn. 136. 97 Siehe EuGH, Urteil vom 04. 03. 2010 – Rs. C-241/08, Rn. 72, Rs. „Kommission / Frankreich“, Slg. 2010, I–1697; EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006 – Rs. C-239/04, Rn. 25, Rs. „Kommission / Portugal“, Slg. 2006, I–10183; Möckl, in: Schlacke, BNatSchG, § 34 Rn. 136; Mühl-

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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im Zulassungsfall die Eignung der sodann verpflichtenden Kohärenzsicherungsmaßnahmen betreffend.98 Eine unionsgerichtliche Anerkennung des Letztentscheidungsrechts erfolgte über die Attestierung einer Entschließungsfreiheit der Mitgliedstaaten bei der Erteilung einer solchen Genehmigung.99 Hinsichtlich der Kohärenzmaßnahme begründet die deutsche Rechtsprechung die Reduzierung gerichtlicher Kontrolle primär mit dem Regelungszweck des Art. 6 Abs. 4 FFH-RL sowie aufgrund der mit Unabwägbarkeiten verbundenen Prognose betreffend den Erfolgseintritt der Maßnahme, welche regelmäßig an dem „Gewissheitserfordernis“ scheitert.100 (2) Gegenüberstellung administrativer Entscheidungssphären in der Rechtsprechung Eine hinreichende Absetzung dieser Rechtsprechung des BVerwG von der Rechtsprechungslinie zu der gerichtlich vollständig überprüfbaren Entscheidung des Vorliegens erheblicher Beeinträchtigungen im Sinne des Art. 6 Abs. 3 FFHRL, die zumindest innerhalb des vorgegebenen Verfahrens partiell auch im Wege der vorausschauenden Beurteilung und Bewertung erfolgt101 sowie mit Unsicherheiten und Unabwägbarkeiten behaftet ist,102 lässt sich dagegen nicht feststellen. Das BVerwG kompensiert Unsicherheiten lediglich mithilfe des umweltrechtlichen bauer, in: Lorz / Konrad / Mühlbauer / Müller-Walter / Stöckel, Naturschutzrecht, § 34 BNatSchG, Rn. 19; Winter, NuR 1989, S. 197 f.; a. A. Ewer, in: Lütkes / Ewer, BNatSchG, § 34 Rn. 63; Wolf, ZUR 2005, S. 449, 455. 98 In Ansehung der FFH-RL ist die Frage, ob die Kohärenzsicherungsmaßnahmen Rechtsfolge oder Zulassungsvoraussetzung sind, umstritten, für die Rechtsfolgenqualität Schütz, UPR 2005, S. 137, 139; Durner, NuR 2001, S. 601, 609; als Zulassungsvoraussetzung, aufgrund der Einordnung als „Beurteilungsspielraum“ wohl Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1165; Möckl, in: Schlacke, BNatSchG, § 34, Rn. 182; Köck, ZUR 2005, 466, 469; Schumacher / Schumacher, in: Schumacher / Fischer-Hüftle, BNatSchG, § 34 Rn. 106; Steeck / L au, NVwZ 2009, S. 616, 621; offenlassend BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 148 und Ls. 22, BVerwGE 128, 1; Tendenz zur Zulassungsvoraussetzung zeigend, jedoch offenlassend BVerwG Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 197, BVerwGE 130, 299; logischerweise unterliegen Kohärenzmaßnahmen einem rein naturschutzfachlichen Beurteilungsmaßstab, BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 83, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 f., BVerwGE 130, 299; Lau / Jacob, NVwZ 2015, 241, 245 a. E.; Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 10 Rn. 131 a. E.; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1165. 99 U. a. EuGH, Urteil vom 04. 03. 2010  – Rs. C-241/08, Kommission / Frankreich, Rn. 72; siehe auch Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 42. 100 BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 f., BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 93, 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 83, BVerwGE 145, 40; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1165. 101 Bereits innerhalb des Art. 6 Abs. 3, vgl. Teil 3 A. I. 1. b) cc) (2) (b); grundsätzlich zur Prognose im Unionsrecht Teil  2 A. II. 5. ff. 102 Siehe Teil  3 A. I. 1. b) cc) (2) (b).

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Vorsorgegrundsatzes (Absehen vom „Nullrisiko“).103 Trotz Anerkennung einer etwaigen funktionalen Kollision der gerichtlichen Kontrolle erhält es diese jedoch aufrecht.104 Dies vollzieht sich wohl in Anbetracht der restriktiven GewissheitsRechtsprechung des EuGH.105 Das den Kohärenzmaßnahmen im Gegensatz zu den etwaigen Schutzmaßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL immanente Charakteristikum der Projekt- bzw. Planunabhängigkeit106 kann jedenfalls kein maßgebliches Kriterium für eine Differenzierung sein, da die relevante Beeinträchtigung innerhalb des Schutzgebietes letztlich ausgeglichen werden muss. Gerade unter Berücksichtigung des hohen Schutzniveaus des Art. 6 FFH-RL insgesamt lässt sich nicht nachvollziehen, weshalb nicht korrespondierend restriktive Anforderungen an „Beeinträchtigungszulassung“ und „Beeinträchtigungsausgleich“ zu stellen sind,107 sodass zumindest spiegelbildlich ebenfalls der Vorsorgegrundsatz herangezogen werden müsste und nur ein Absehen von dem „Nullrisiko“ verbleibt. (3) Ausbleiben tatbestandlicher Entscheidungsspielräume Allerdings sei der zuständigen Stelle im Rahmen der durchaus komplexen Abwägung ökologischer Bedürfnisse gegenüber wirtschaftlich bzw. sozial notwendigen Belangen unter Beurteilung möglicher Alternativen für das geplante Vorhaben grundsätzlich kein untersuchungsrelevantes Letztentscheidungsrecht einzuräumen.108 Anders hingegen judizierte die deutsche Rechtsprechung bei Vorhaben der Landesverteidigung.109 c) Artenschutz, Art. 12 FFH-RL Das in Art. 12 ff. FFH-RL kodifizierte Artenschutzrecht statuiere nach unionsgerichtlicher Auffassung nicht nur artenschutzrechtliche Verbote, sondern sei ebenfalls dahingehend zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten im Einzelfall aktive Handlungspflichten treffen können.110 Diese Handlungspflichten würden unter 103

Siehe Teil  3 A. I. 1. b) cc) (2) (b) a. E. Siehe Teil  3 A. I. 1. b) cc) (2) (b) (aa) bzw. (bb). 105 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 41. 106 Dazu allgemein siehe Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement  – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 42. 107 Siehe Definitionen und Voraussetzungen, Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 17, 27 42. 108 BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2009  – 4 C 12.07, Rn. 15, BVerwGE 134, 166; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013  – 9 A 14.12, Rn. 74 BVerwGE 148, 373; BVerwG, Beschluss vom 03. 06. 2010 – 4 B 54.09, Rn. 9, NVwZ 2010, 1289. 109 BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013 – 4 C 3.12, Rn. 19; BVerwGE 146, 176. 110 Konsequent, da der Artenschutz sonst nicht effektiv gewährleistet ist, EuGH, Urteil vom 09. 06. 2011  – Rs. C-383/09, „Kommission  /  Frankreich“, Rn. 18–20; EuGH, Urteil 104

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anderem umfassen, besondere, ortsbezogene Schutzmaßnahmen für geschützte Tierarten zu erlassen oder durchzusetzen, sodass im Rahmen der Zulassungsprüfung von Plänen und Projekten artenschutzrechtliche Verbote oder gegebenenfalls Handlungspflichten erst recht zu berücksichtigen seien.111 Im Zusammenhang mit Plan- oder Projektzulassungen hat die zuständige Stelle eine prognostische Risikoermittlung und -bewertung anzustellen.112 aa) Naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative Vor dem Hintergrund des weit verstandenen und streng zu praktizierenden Schutzregimes des Art. 12 FFH-RL113 und etwaigen daraus resultierenden Handlungspflichten ist die Einflussnahme des Art. 12 FFH-RL in jedem Raum und Flächen beanspruchenden Vorhaben114 auch praktisch von erhöhter Relevanz.115 Die deutsche Rechtsprechung judizierte, dass den zuständigen nationalen Stellen sowohl für die Bestandserfassung als auch für die daran anknüpfende Beurteilung der artenschutzrechtlichen Betroffenheit eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zustehe, welche eine Reduzierung der gerichtlichen Kontrolldichte nach sich ziehe.116 Da die FFH-RL ebenfalls für den Bereich des Artenschutzes – aus vom 11. 01. 2007  – Rs. C-183/05, Kommission / Irland, Rn. 30; Lau, in: Frenz / Müggeborg, BNatSchG, § 44 Rn. 2; EuGH, Urteil vom 10. 10. 2019 – Rs. C-674/17, Rn. 27, Rs. „Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola“, NuR 2019, 756. 111 Schlussanträge der Generalanwältin beim EuGH, 15. 12. 2005 – Rs. C-221/04, Kommission / Spanien, Rn.  64; Lau, in: Frenz / Müggeborg, BNatSchG, § 44 Rn. 2. 112 BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 17 a. E., NVwZ 2014, 524; Lau, in: Frenz / Müggeborg, BNatSchG, § 44 Rn. 2. 113 EuGH, Urteil vom 11. 01. 2007 – Rs. C-183/05, Kommission / I rland, Rn. 30; EuGH, Urteil vom 16. 03. 2006 – Rs. C-518/04, Kommission / Griechenland, Rn. 16. 114 Lau, in: Frenz / Müggeborg, BNatSchG, § 44 Rn. 4; Krone, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Umwelt- und Technikrecht, S. 21; siehe ausführlich Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 10 Rn. 142 ff. 115 Lau, in: Frenz / Müggeborg, BNatSchG, § 44 Rn. 4. 116 BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 14, BVerwGE 147, 118; BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn.14, NVwZ 2014, 524; BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16, Rn. 47, NVwZ 2018, 1076; BVerwG, Urteil vom 9. 7. 2008  – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 14. 7. 2011 – 9 A 12.10, Rn. 99, BVerwGE 140, 149; BVerwG, Beschluss vom 31. 01. 2015 – 7 VR 6.14, NVwZ-RR 2015, 250; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. 08. 2018 – 11 S 10.18 –, Rn. 10, juris; VGH München, Beschluss vom 02. 04. 2015 – 22 C 14.2701 –, Rn. 23, juris; VGH München, Beschlüsse vom 19. 08. 2015, 22 ZB 15.458, 22 ZB 15.457 –, Rn. 22, juris; VGH München, Beschluss vom 01. 12. 2014 – 22 ZB 14.1594, Rn. 34, NVwZ-RR 2015, 284; VGH München, Beschluss vom 17. 02. 2016 – 22 CS 15.2562 –, Rn. 26, juris; VGH München, Beschluss vom 13. 01. 2016 – 22 ZB 15.1506, Rn. 27, – juris; VGH Kassel, Beschluss vom 28. 01. 2014 – 9 B 2184/13 –, Rn. 14, juris; VGH Kassel, Beschluss vom 17. 12. 2013 – 9 A 1540/12.Z, Rn 31, NVwZ-RR 2014, 418; OVG Magdeburg, Urteil vom 13. 03. 2014 – 2 L 212/11 –, Rn. 29, juris; OVG Magdeburg, Beschluss vom 21. 03. 2013 – 2 M 154/12 –, Rn. 30, NVwZ-RR 2013, 797; OVG Münster, Beschluss vom 06. 11. 2012 – 8 B 441/12 –, Rn. 31, juris; Lau, in: Frenz / Müggeborg, BNatSchG, § 44 Rn. 7; Schütte / Gerbig, in: Schlacke, BNatSchG, § 44 Rn. 8; Bick, NuR 2016, S. 73 ff.; Gellermann, NuR 2014, S. 597 ff.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

den evidenten Gründen, dass der Naturwissenschaft eine besondere Agilität und Dynamik des Fortschritts inhärent ist117 – keine wissenschaftliche Methode vorgibt,118 korrespondiere die Begründung für die Einräumung eines administrativen Letztentscheidungsrechts bezüglich der Methodenwahl für die Bestandserfassung zunächst mit der im Rahmen der FFH-Verträglichkeitsprüfung.119 Die Begründung des Bundesverwaltungsgerichts stützt sich vornehmlich auf den Gesichtspunkt, dass die zuständigen Stellen verpflichtet seien, außerrechtliche Fragestellungen zu beurteilen, welche generell anerkannten fachwissenschaftlichen Maßstäben entzogen seien und für die standardisierten Erfassungsmethoden fehlen würden.120 Infolge der mangelnden ökologisch-wissenschaftlichen Erkenntnis fehle es den Gerichten an einer ausreichenden Grundlage „besseren Wissens“, um eine naturschutzfachliche Einschätzung der sachverständig beratenden zuständigen Stelle als „falsch“ und „nicht rechtens“ zu beanstanden.121 Des Weiteren sei im Gegensatz zu der FFH-Verträglichkeitsprüfung gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL kein streng formalisiertes Verfahren vorgegeben und es würde an einer untergesetzlichen Maßstabsbildung entsprechend anderen Bereichen des Umweltrechts fehlen, sodass das Gesetz die zuständigen Stellen auf die Erkenntnisse der ökologischen Wissenschaft und Praxis verweise.122 Ferner müsse eine Risikoermittlung vorgenommen werden, die eine vorausschauende fachliche Beurteilung abverlange.123 Bei der abschließenden Entscheidung über die artenschutzrechtliche Betroffenheit gegenüber der finalen Beeinträchtigungsentscheidung im Rahmen der FFHVerträglichkeitsprüfung ist die Entscheidung nicht ganz konsequent. Angesichts der kompensatorischen Funktion streng formalisierter Verfahren im Unionsrecht, wäre die Annahme eines Letztentscheidungsrechts bei einem Verfahren wie dem der FFH-Verträglichkeitsprüfung eher zu erwarten.124 Das fachwissenschaftliche 117 Vgl. Nolte, jurisPR-BVerwG 9/2014, Anm. 3, a. E.; vgl. Lau / Jacob, NVwZ 2015, S. 241, 243. 118 Bereits im Begründungsansatz BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013  – 7 C 40.11, Rn. 16, NVwZ 2014, 524; Krone, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Umwelt- und Technikrecht, S. 16. 119 Vgl. Teil  3 A. I. 1. b) cc) (2) (b) ff. 120 BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 14, NVwZ 2014, 524; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 64, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 14, BVerwG, Beschluss vom 23. 01. 2015 – 7 VR 6.14, Rn. 30, NVwZ-RR 2015, 250. 121 BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 14, NVwZ 2014, 524; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 64, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 14; BVerwG, Beschluss vom 23. 01. 2015 – 7 VR 6.14, Rn. 30, NVwZ-RR 2015, 250. 122 BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 16, NVwZ 2014, 524. 123 BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 17, NVwZ 2014, 524. 124 Lau / Jacobs, NVwZ 2015, S. 241, 247; Pöcker, DÖV 2003, S. 980, 982; dies würde erst recht bei einer unionsrechtlichen Betrachtung gelten, Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn. 220; zur Prozeduralisierung Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 83 ff.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Letztentscheidungsrecht ist allerdings durch den ökologisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand begrenzt. Sofern sich ein Meinungsstand in der Naturwissenschaft durchgesetzt hat und die gegenteilige Meinung nicht mehr als vertretbar angesehen werden kann, ist kein Raum mehr für ein solches Letztentscheidungsrecht.125 Insofern kann das Letztentscheidungsrecht im Rahmen des artenschutzrechtlichen Beeinträchtigungsüberprüfungsprozesses auch lediglich punktuell bestehen.126 Die gerichtliche Kontrolle umfasse sodann die Überprüfung der Einhaltung des Erfordernisses der aktuellsten und besten wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Beachtung des fachwissenschaftlichen Meinungsstandes, das Vorgehen in Ansehung des gewählten methodischen Ansatzes und die Wahrung ausreichender Ermittlungstiefe.127 bb) Akzente der Ule’schen Vertretbarkeitslehre und funktionale Grenzen der Rechtsprechung Die gerichtliche Kontrolle betreffend erlebe die Ule’sche Vertretbarkeitslehre128 ihre Renaissance,129 da ausschließlich die wissenschaftliche Vertretbarkeit der Verwaltungsentscheidung für die Richtigkeit relevant ist. Des Weiteren begegnet die Literatur der Einräumung scheinbar funktional130 begründeter tatbestandlicher Letztentscheidungsrechte mit verfassungsrechtlicher Skepsis.131 Die geäußerte Kritik ist trotz des nicht unbedeutenden europäischen Einflusses132 primär verfassungsrechtlicher und nicht unionsrechtlicher Natur.133 Die von dem BVerwG aufgestellte Herleitung des bzw. der administrativen Letztentscheidungsrechte würde sich in verschiedenen Punkten nicht mit den von dem BVerfG aufgestellten Grund 125

BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 19, NVwZ 2014, 524. E contrario vgl. BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 19, NVwZ 2014, 524. 127 BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 20, NVwZ 2014, 524. 128 Ule, Gedächtnisschrift Jellinek, S. 309 ff.; dargestellt in: Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, S. 360 ff.; damalige Kritik, Papier, DÖV 1986, 621 ff.; Rupp, in: Festschrift für Zeidler, Bd. 1, 1987, S. 455, 464 f. 129 Gellermann, NuR 2014, S. 597; dabei sehr kritisch Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24. 130 Storst, DVBl. 2010, S. 737, 740; Gellermann, NuR 2014, S. 597; dagegen ausdrücklich BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013  – 7 C 40.11, Rn. 14, NVwZ 2014, 524; anders Lau /  Jacobs, NVwZ 2015, S. 241, 246; jedenfalls als funktional erachtet, de Witt / Geismann Artenschutzrechtliche Verbote in der Fachplanung, S. 51; offengelassen BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 34 BVerfGE 149, 407. 131 Zutreffend Gellermann, NuR 2014, S. 597, 599; Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG § 40 Rn. 212; generell Gassner, DVBl. 2012, S. 1479; Meßerschmidt, EurUP 2014, S. 11 ff.; Jacob / L au, NVwZ 2015, 241, 243 ff.; Kahl / Burs, DVBl.  2016, 1157 ff.; Kahl / Burs, DVBl. 2016, 1222, 1227; Brandt, NuR 2013, S. 482, 483 f.; kurz darstellend Helmes, NVwZ 2019, S. 52, 56. 132 Dazu Storst, DVBl. 2010, S. 737, 738 f. 133 Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24; generell Gassner, DVBl. 2012, S. 1479; Gärditz, ZfU 2019, S. 369, 386 ff.; Brandt, ZNER 2019, S. 92, 93. 126

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

sätzen des Beurteilungsspielraumes verifizieren lassen.134 Es fehle etwa an einem hinreichend gewichtigen Sachgrund,135 die entsprechende nationale Vorschrift sei für ein derartiges Letztentscheidungsrecht zu unbestimmt136 und außerdem fehle bereits eine gesetzliche Ermächtigung zur administrativen Letztentscheidung im Sinne der normativen Ermächtigungslehre.137 Gemessen an der älteren Rechtsprechung des BVerfG, nach der unbestimmte Rechtsbegriffe eine derartige Komplexität und Dynamik vermitteln und ein Nachvollziehen der Verwaltungsentscheidung unter Umständen zu schwierig sei, sodass ein administratives Letztentscheidungsrecht aufgrund der Funktionsgrenzen der Rechtsprechung zuzubilligen sei, wird vereinzelt vorgebracht, dass es der artenschutzrechtlichen Einschätzungsprärogative an einer solchen Komplexität fehle.138 cc) BVerfG zum fachwissenschaftlichen Erkenntnisvakuum Das BVerfG stellte für den Fall eines (rein) fachwissenschaftlichen Erkenntnisvakuums klar,139 dass es sich nicht um den Fall handle, in dem der Behörde ein Letztentscheidungsrecht zugewiesen werde, da das Gericht im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe an seine funktionalen Grenzen gerate.140 Vielmehr handle es sich um einen Fall objektiver Grenzen der gerichtlichen Kontrolle mangels temporärer besserer Erkenntnis der Gerichte, welche keiner gesetzlichen Ermächtigung bedürfe.141 In Ansehung des Art. 19 Abs. 4 GG sind die Gerichte nicht wie im Rahmen der administrativen Letztentscheidungsrechte bereits von vornherein gezwungen, den gerichtlichen Prüfungsmaßstab zu reduzieren, dieser sei vielmehr grundsätzlich aufrechtzuerhalten.142 Bei Feststellung, dass keine 134

Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24; zur älteren Komplexitäts-Rechtsprechung des BVerfG, Gellermann, NuR 2014, S. 597, 599; Kahl / Burs, DVBl. 2016, 1222, 1227; a. A. de Witt / Geismann, Artenschutzrechtliche Verbote in der Fachplanung, S. 51. 135 Nur teilweise kritisch Lau / Jacobs, NVwZ 2015, S. 241, 247; Sachs, in: Stelkens / Bonk /  Sachs, VwVfG, § 40 Rn. 212; Kahl / Burs, DVBl. 2016, 1222, 1227; a. A. Möckl, NuR 2014, S. 381, S. 387; Meßerschmidt, EurUP 2014, S. 11, 17. 136 Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24; Lau / Jacobs, NVwZ 2015, S. 241, 245. 137 Neue Rechtsprechung BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011  – 1 BvR 857/07, Rn. 76, BVerfGE 129, 1; alte Rechtsprechung BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, Rn. 48, BVerfGE 84, 34. 138 Kahl / Burs, DVBl. 2016, 1222, 1227; Gellermann, NuR 2014, S. 597, 599; a. A. Storst, DVBl. 2010, S. 737, 740. 139 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, BVerfGE 149, 407. 140 Eindeutig offengelassene Konstellation, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018  – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 23, 34 BVerfGE 149, 407; Muckel, JA 2019, S. 156, 158. 141 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018  – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 23, Ls. 1, BVerfGE 149, 407. 142 Anders nur wenn das wissenschaftliche Erkenntnisvakuum evident ist, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 19, 25, 27 BVerfGE 149, 407.

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ausreichend gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisquelle vorhanden sei, zwinge Art. 19 Abs. 4 GG die Gerichte nicht zur weiteren Ermittlung.143 Im Anschluss an eine Plausibilitätsprüfung, die dem reduzierten Kontrollmaßstab bei dem behördlichen Letztentscheidungsrecht in etwa gleichkomme,144 können die Gerichte die Verwaltungsentscheidung im Fall der Plausibilität zugrunde legen.145 Dennoch rügt das BVerfG das Unterlassen einer zumindest untergesetzlichen Maßstabsbildung, da das Beibehalten eines solchen Zustandes auf Dauer mit dem Wesentlichkeitsgrundsatz kollidiere.146 Mangels Entscheidungserheblichkeit lässt das BVerfG die Frage hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines tatbestandlichen administrativen Letztentscheidungsrechts im Hinblick auf Entscheidungen, denen nicht ausschließlich naturwissenschaftliche Elemente immanent seien, ausdrücklich offen.147 Die Entscheidung des BVerfG bietet Anlass, genauer zu differenzieren, ob es sich konkret um eine rein naturwissenschaftliche Entscheidung handelt oder der Entscheidung auch wertende Elemente beiwohnen.148 Infolge dieser Differenzierung wird sichtbar, ob die gerichtliche Kontrolle aufgrund eines administrativen Letztentscheidungsrechts zu reduzieren ist oder sich das Gericht einer plausiblen Behördenentscheidung aufgrund der sowohl auf judikativer als auch auf exekutiver Seite bestehenden Aporie der naturschutzfachlichen Beurteilung anschließen kann. 2. RL 2009/147/EG (Vogelschutzrichtlinie) Nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL erklären die Mitgliedstaaten, insbesondere die für die Erhaltung dieser Arten (nach Anhang I) zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem diese Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind.149 Mit Ausweisung der Schutzgebiete werden die besonderen Schutzgebiete gemäß Art. 7 Flora-Fauna-Habitat-Richt­linie150 143

BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 20 f. BVerfGE 149, 407. 144 Hier jedenfalls die Parallele zu administrativen Letztentscheidungsrechten vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 27 BVerfGE 149, 407; Muckel, JA 2019, S. 156, 158. 145 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018  – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 17, 25, 29, BVerfGE 149, 407. 146 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 24 BVerfGE 149, 407. 147 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 34 BVerfGE 149, 407. 148 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 34 BVerfGE 149, 407; vgl. Dolde, NVwZ 2019, S. 1567, 1568; Reinhardt, NVwZ 2019, S. 195, 196. 149 Hierzu Füßer, NuR 2004, S. 701 ff.; Füßer / Albrecht / Esser, NuL 2005, S. 80. 150 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. 05. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. L 206 vom 22. 07. 1992, S. 7.

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(im Folgenden „FFH-RL“) unter das Schutzregime des Art. 6 Abs. 2, Abs. 3 und Abs. 4 FFH-RL gestellt und in das kohärente Netz „Natura 2000“ integriert. Entsprechend der Ausweisung im Rahmen der FFH-Richtlinie wird den Mitgliedstaaten ein Letztentscheidungsrecht im Rahmen der Auswahl der zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete im Sinne des Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL zugestanden.151 Dieses Letztentscheidungsrecht bezieht sich allein auf die Anwendung der ornithologischen Kriterien zur Bestimmung des geeignetsten Gebietes durch die zuständigen Fachbehörden. Der VRL lässt sich expressis verbis keine Definition zur Ermittlung der Geeignetheit solcher Schutzgebiete entnehmen oder eine Methode zur Konstatierung des geeignetsten Gebiets formulieren.152 Unter Berücksichtigung der Verwendung des Superlativs von „geeignet“ und des Wortlauts „insbesondere“153 in Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL sowie der Statuierung der Zielvorgabe in Art. 4 Abs. 4 S. 2 VRL, der Bemühung, auch Gebiete außerhalb der Schutzgebiete vor Verschmutzung und Beeinträchtigung zu schützen, ist anzunehmen, dass nicht jedes Gebiet als besonderes Schutzgebiet zu erklären ist.154 Bereits aufgestellte Listen wie das „Inventory of Important Bird Areas“ (IBA), welche fortschreitend wichtige avifaunistische Areale dokumentieren, sind als Mindeststandard zu beachten, sofern eine aktuelle Datenerhebung im jeweiligen Mitgliedstaat nicht stattfindet.155 Bei Betrachtung der Vorschriften und Erwägungsgründe der Vogelschutzrichtlinie156 (im Folgenden „VRL“) lässt sich ebenfalls die Zielbestimmung der Erhaltung der wildlebenden Vogelarten unter Anwendung der fortschrittlichsten wissenschaftlichen und technischen Methoden und Erkennt-

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EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90 –Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 – Rs. C-44/95, Lappel Bank; EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991  – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 25. 11. 1999  – Rs. C-96/98, Poitou-Sümpfe; EuGH, Urteil vom 07. 12. 2000  – Rs. C-374/98, Basses Corbieres; EuGH, Urteil vom 13. 06. 2002  – Rs. C-117/00, Kommission / Irland; EuGH, Urteil vom 06. 03. 2003  – Rs. C-240/00, Kommission / Finnland; EuGH, Urteil vom 05. 12. 2002  – Rs. C-324/01, Kommission / Belgien; EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006 – Rs. C-191/05, Kommission / Portugal; EuGH, Urteil vom 25. 10. 2007  – Rs. C-334/04, Kommission / Griechenland; BVerwG, Urteil vom 14. 11. 2002 – 4 A 15/02, BVerwGE 117, 149 ff.; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 C 11/96, NVwZ 1999, S. 528; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 A 9/97, BVerwGE 107, 1 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14, BVerwGE 154, 73 ff.; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06, BVerwGE 130, 299 ff.; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013 – 4 C 3/12 –, BVerwGE 146, 176 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14, NuR 2015, 772 ff. 152 Vgl. Füßer, NuR 2004, S. 701, 702. 153 Vgl. Füßer, NuR 2004, S. 701, 702. 154 Vor dem Hintergrund, dass nach Art. 14 VRL die Effektivität von Schutzmaßnahmen gewährleistet bleiben muss, ist dies auch konsequent, vgl. auch Füßer, NuR 2004, S. 701, 702. 155 Vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007 – Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 54; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 46 ff. 156 Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. 11. 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. L 20 vom 26. 01. 2010, S. 7–25.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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nisse radizieren.157 Darüber hinaus findet eine Schutzgebietsausweisung statt, die das Schutzregime des Art. 6 FFH-RL eröffnet. Insoweit sind die vorstehenden Ausführungen zu administrativen Letztentscheidungsrechten der FFH-Richtlinie hinsichtlich der Schutzgebietsausweisung und des Schutzregimes des Art. 6 FFHRL übertragbar.158 3. RL 2000/60/EG (Wasserrahmenrichtlinie) Mangels hinreichender Konkretisierung der den Mitgliedstaaten vorgegebenen Pflichten durch die Wasserrahmenrichtlinie159 (im Folgenden „WRRL“) ist diese der Kritik ausgesetzt.160 Die Installation unbestimmter Rechtsbegriffe spiele dabei keine unwesentliche Rolle.161 Etwaige daraus resultierende Letztentscheidungsrechte im Rahmen der Richtlinientransformationen würden auf europäischer Ebene zu einer nicht intendierten uneinheitlichen Umsetzung führen.162 Im mehrdimensionalen europäischen Rechtssetzungs- und Vollzugssystem schlägt sich dies zunächst auf Mitgliedstaatenebene nieder. Sofern jedoch ein föderalistisches Exekutivsystem betrieben wird, kann eine uneinheitliche Konkretisierungsgrundlage eine Aufsplitterung eines ursprünglich zentralisierten europäischen Ausgangspunktes provozieren.163 Schließlich lässt sich am Beispiel der final-prozeduralisierten Regelungsinstrumente darstellen, dass der unionsrechtliche Hang zur Prozeduralisierung und Finalisierung164 im Rahmen der WRRL in kumulierter Art und Weise besonders starken Einschlag gefunden hat165 und es sich bei der WRRL um ein fruchtbares Gebiet für Letztentscheidungsrechte handelt.

157

Vgl. 13., 17. Erwägungsgrund, Art. 2, 15, 16 VRL. Siehe Teil  3 A. I. 1. ff. 159 Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl. L 327 vom 22. 12. 2000, S. 1–73. 160 Federführend Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Durner, NuR 2010, S. 452; Durner / Waldhoff, Rechtsprobleme der Einführung bundesrechtlicher Wassernutzungsabgaben, S. 54; Durner, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht WHG § 27, Rn. 8, § 28, Rn. 7; siehe auch Köck, ZUR 2009, S. 227, 228 f., 231 f.; Möckl / Bathe, ZUR 2012, S. 651, 655. 161 Vgl. Durner / Waldhoff, Rechtsprobleme der Einführung bundesrechtlicher Wassernutzungsabgaben, S. 54; Durner, NuR 2010, S. 452, 458; Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Ekhardt /  Weyland, NuR 2009, S. 388, 394; Ekhardt / Weyland, NuR 2014, S. 12, 18. 162 Vgl. Durner, NuR 2010, S. 452, 457, 459; anders Breuer, NuR 2007, 503, 506. 163 Vgl. mit deutschem Beispiel Durner, NuR 2010, S. 452, 458 ff.; für Spanien darstellend, gleichzeitig Schaffung der konkurrierenden Gesetzgebung auf deutscher Ebene lobend, dennoch kritisch Gärditz, EurUP 2014, S. 141, 142; Eintritt der Konsequenz des Vertragsbruchs bereits bei fehlenden Gesetzen auf Länderebene EuGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – Rs. C-67/05– Rn. 9, Rs. „Kommission / Deutschland“, ZfW 2007, 98. 164 Siehe dazu ausführlich Teil 4. 165 Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 145, 146, 160. 158

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

a) Vorhabenzulassungsverfahren aa) Das Verschlechterungsverbot, Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) WRRL, und das Verbesserungsgebot, Art. 4 Abs. 1 lit. 1 Ziff. (ii), (iii) Bei dem Verschlechterungsverbot gemäß Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) WRRL und dem Verbesserungsgebot gemäß Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (ii), (iii) WRRL handelt es sich um Kernelemente der WRRL.166 Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Verschlechterung der Zustände von Oberflächenwasserkörpern zu verhindern und ihre Verbesserung voranzutreiben. Dies bedeutet, dass die Mitgliedstaaten dazu angehalten sind, Genehmigungen betreffend Vorhaben, die geeignet sind, den Zustand von Wasserkörpern zu verschlechtern oder die Erreichung eines guten Zustandes zu gefährden, zu versagen, soweit keine Ausnahme nach Art. 4 Abs. 7 WRRL vorliegt.167 Die Frage, wann eine Verschlechterung des Zustandes eines Oberflächenwasserkörpers im Sinne des Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) WRRL vorliegt, hat der Gerichtshof beantwortet168 und damit den Streit zwischen Verfechtern der Theorie der Zustandsklassen169 und der Theorie des status quo170 beendet. Eine Verschlechterung liegt danach vor: „[…] sobald sich der Zustand mindestens einer Qualitätskomponente im Sinne des Anhangs V der Richtlinie um eine Klasse verschlechtert, auch wenn diese Verschlechterung nicht zu einer Verschlechterung der Einstufung des Oberflächenwasserkörpers insgesamt führt. Ist jedoch die betreffende Qualitätskomponente im Sinne von Anhang V bereits in der niedrigsten Klasse eingeordnet, stellt jede Verschlechterung dieser Komponente eine ‚Verschlechterung des Zustands‘ eines Oberflächenwasserkörpers im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. A Ziff. I dar. […]“.171

Insofern wird den Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Kriterien des Anhangs V der WRRL, um eine etwaige Verschlechterung festzustellen, kein Spiel 166

Vgl. Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 153 ff. EuGH, Urteil vom 15. 12. 2005 – Rs. C-67/05, „Kommission / Deutschland“, Rn. 50. 168 EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, „Kommission / Deutschland“, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2. 169 OVG Hamburg, ZUR 2013, S. 357, 361; VG Cottbus, ZUR 2013, S. 374, 375; Czychowski /  Reinhardt, WHG, § 27 Rn. 14; Ekardt / Steffenhagen, NuR 2010, S. 705, 707; Köck / Möckel, NVwZ 2010, S. 1390, 1392; Laskowski, ZUR 2013, S. 131, 132; Reuter, ZUR 2013, S. 458, 465; Wabnitz, Das Verschlechterungsverbot für Oberflächengewässer und Grundwasser, 2010, S. 337. 170 Albrecht, Umweltqualitätsziele im Gewässerschutzrecht, 2007, S. 347; Breuer, NuR 2007, S. 503, 507; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 159 f.; Durner, in: Landmann / Rohmer Umweltrecht, § 27 WHG Rn. 27 ff.; Faßbender, EurUP 2013, S. 70, 80; Faßbender, NVwZ 2014, S. 476, 480; Schmid, in: Berendes / Frenz / Müggeborg, WHG § 27 Rn. 94 ff.; Spieth / Ipsen, NVwZ 2013, S. 391, 392. 171 EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2; nun wohl die „Qualitätskomponentenklassentheorie“, Durner, DVBl. 2015, S. 1049 oder „modifizierte Zustandsklassentheorie“ siehe Spieler, jurisPR-UmwR 8/2015 Anm. 4. 167

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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raum belassen.172 Hinsichtlich der Methode, um diese Kriterien zu bestimmen, wird den zuständigen Stellen aufgrund der Umsetzungsschwierigkeiten der WRRL, fehlender Standards und Fachkonventionen, ein Spielraum belassen.173 Ob hingegen eine konkrete Maßnahme im Licht des Verbesserungsgebotes geeignet und zielführend ist, muss naturschutzfachlich beurteilt werden und ist abhängig von dem gegenwärtigen Wissenschaftsstand sowie gewässerökologischer Prognosen, weshalb anknüpfend an den artenschutzrechtlichen Modus174 die gerichtliche Kontrolle einzuschränken ist.175 Die Annahme einer wissenschaftsfreien Sphäre kollidiert nicht mit der Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich des Verschlechterungsgebotes,176 denkbar wäre somit auch eine Anwendung in diesem Bereich.177 Darüber hinaus verbleibt die Frage nach der Existenz von Erheblichkeitsschwellen, Bagatellschwellen und Abschneidekriterien im Rahmen der Überprüfung von Vorhaben in wasserrechtlicher Hinsicht.178 Die deutsche Rechtsprechung erkennt die Existenz solcher Bagatellschwellen an, teils unter Berufung auf nichtmessbare Veränderungen und teils als sogar messbare Änderungen, wenn diese so marginal seien, dass sie nicht ins Gewicht fallen.179 Für die Festlegung der gebilligten Bagatellgrenze stehe der Verwaltung eine fachliche Einschätzungsprärogative zu.180 Aufgrund der mangelnden methodischen Festlegung des EuGH dürfte die Annahme von Bagatellschwellen nicht von vornherein ausgeschlossen sein.181

172

Zuvor anders VG Aachen, Urteil vom 15. 02. 2013 – 7 K 1970/09, Rn. 54 ff., ZfW 2013, 222. 173 BVerwG, Beschluss vom 02. 10. 2014 – 7 A 14.12, Rn. 6, DVBl. 2015, 95. 174 Siehe Teil  3 A. I. 1. c). 175 OVG Bremen, 24. 09. 2009 – 1 A 9/09, DÖV 2010, 150; Faßbender, ZUR 2016, S. 195, 200; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 164. 176 EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13 –, Ls. 2, Rs. „Kommission / Deutschland“, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner). 177 In analoger Anwendung des Arguments in Bezug auf die Bagatellschwellen, siehe Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 163. 178 Vgl. Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 45 a. E.; Durner, NuR 2019, S. 1, 5; Durner, in: Landmann / Rohmer UmweltR, § 27 Rn. 27; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 159, 163. 179 Mit der Annahme, dass der strenge habitatschutzrechtliche Vorsorgegrundsatz im Wasserrecht keine Anwendung finden würde, BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 479 ff., 496 ff., 506 f., 510 a. E., 515, 533, BVerwGE 158, 1, 91 f., 99, 103; sowie BVerwG, Urteil vom 02. 11. 2017  – 7  C  25.15, NVwZ 2018, 986 ff.; dazu Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 246; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 163; Dallhammer / Fritzsch, ZUR 2016, S. 340, 345; a. A. Faßbender, EurUP 2015, S. 178, 188. 180 Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 246; siehe OVG Bremen, 24. 09. 2009 – 1 A 9/09, ZUR 2010, 151, 153. 181 So Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 163; Dallhammer / Fritzsch ZUR 2016, S. 340, 345; anders Faßbender, EurUP 2015, S. 178, 188.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

bb) Heavily Modified Water Bodies, Art. 4 Abs. 3 WRRL Für erheblich veränderte und künstliche Wasserkörper im Sinne des Art. 4 Abs. 3 WRRL konstatiert Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (iii) WRRL im Gegensatz zu den anderen Oberflächenwasserkörpern ein herabgesetztes Qualitätsziel, mithin lediglich ein gutes chemisches Potential an Stelle eines guten ökologischen Zustandes. Zwar ergibt sich für das herabgesetzte Qualitätsziel keine Veränderung hinsichtlich des Vorliegens einer Verschlechterung, insoweit gilt die unionsgerichtliche Vorgabe, allerdings ist fraglich, wann erheblich veränderte und künstliche Wasserkörper als solche einzuordnen sind und ob den zuständigen Stellen für diese Beurteilung ein tatbestandliches Letztentscheidungsrecht zugestanden wird.182 Begründungsansätze liegen zwischen der Komplexität der für Ausweisungsentscheidungen zu erfassenden Daten183 und der Verwendung des konkretisierungsbedürftigen Wortlauts des Art. 4 Abs. 3 WRRL – welcher größtenteils wortgleich in das nationale Recht (§ 28 WHG) übertragen wurde – und der konkretisierungsbedürftigen Definitionen gemäß Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 und Nr. 9 WRRL.184 Dies ist vor allem von erhöhter Relevanz, da eine etwaige willkürliche Herabsetzung normativ vorgegebener und durchaus ambitionierter Qualitätsziele zwangsläufig zu einer Zerstreuung des Gewässerschutzniveaus innerhalb des örtlichen Anwendungsbereiches der WRRL führt.185 Unter Berücksichtigung der ebenfalls normativ zugestandenen Freiheit der Mitgliedstaaten Heavily Modified Water Bodies im Sinne des Art. 4 Abs. 3 WRRL überhaupt auszuweisen,186 besteht daher ein doppeltes Risiko des Auseinanderfallens eines einheitlichen europäischen Schutzniveaus. b) Planung der Wasserbewirtschaftung Die wasserwirtschaftliche Planung vollzieht sich nach Maßgabe der WRRL zweistufig.187 Die erste Stufe der Planung bilden die Bewirtschaftungspläne (Art. 13 WRRL) und die zweite Stufe die Maßnahmenprogramme (Art. 11 WRRL).188 Auf nationaler Ebene hat die Verpflichtung zur Aufstellung von Maßnahmenprogrammen und Bewirtschaftungsplänen in den §§ 82, 83 WHG Anklang gefunden.189 182 Für das transformierte und fast wortgleich übernommene Recht siehe Berendes, WHG Kurzkommentar, § 28 Rn. 4; Durner, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, WHG, § 28 Rn. 7. 183 Durner, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, WHG, § 28 Rn. 7. 184 Durner, NuR 2010, S. 452, 459; vgl. Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 94, 95. 185 Vgl. Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 94, 95; Irmer / Rechenberg / von Keitz, in: Rumm / von Keitz / Schmalholz, Handbuch des EU-Wasserrahmenrichtlinie, S. 485, 487. 186 Durner, in: Landmann / Rohmer Umweltrecht, WHG § 28 Rn. 5; vgl. Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 95; Möckl / Bathe, ZUR 2012, S. 651, 653. 187 Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 105. 188 Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 105. 189 Dazu Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 105 ff.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Hierbei handelt es sich zwar um eng miteinander verbundene Instrumente der wasserwirtschaftlichen Planung,190 welche allerdings isoliert nebeneinander stehen.191 aa) Bewirtschaftungspläne, Art. 13 WRRL Die Mitgliedstaaten sorgen gemäß Art. 13 Abs. 1 WRRL dafür, dass für jede Flussgebietseinheit, die vollständig in ihrem Hoheitsgebiet liegt, ein Bewirtschaftungsplan für die Einzugsgebiete erstellt wird. Die aufzunehmenden Informationen richten sich nach Art. 13 Abs. 4 in Verbindung mit Anhang VII WRRL. Die relevanten Informationen, die der Bewirtschaftungsplan dokumentiert, sind unter anderem solche, die bei der Bestandsaufnahme und dem Monitoring von Gewässern gewonnen werden.192 Die Kernelemente des Bewirtschaftungsplans bilden jedenfalls die Umweltziele im Sinne des Art. 4 WRRL sowie die Wahrnehmung von Ausnahmen gemäß Art. 4 Abs. 4 bis 7 WRRL.193 Die daraus resultierenden Bewirtschaftungsziele tangieren die Erforderlichkeit der festgelegten Maßnahmen innerhalb des Maßnahmenprotokolls.194 Dadurch offenbart sich die Verflochtenheit der Bewirtschaftungspläne mit den Maßnahmenprogrammen.195 bb) Maßnahmenprogramme, Art. 11 WRRL Darüber hinaus legen die Mitgliedstaaten für jede Flussgebietseinheit in ihrem Hoheitsgebiet ein Maßnahmenprogramm gemäß Art. 11 WRRL fest, welches die Ergebnisse der Analysen nach Art. 5  WRRL berücksichtigt. Diese festgelegten Maßnahmen sollen somit die Erreichung der Ziele des Art. 4 WRRL gewährleisten.196 Die Vorgaben der Bewirtschaftungspläne werden durch die Festlegung eines Maßnahmenprogrammes für den jeweiligen Bewirtschaftungsplan konkretisiert.197

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Vgl. Faßbender, NVwZ 2014, S. 476, 477; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 83 Rn. 8. 191 Vgl. BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 585, BVerwGE 158, 1; Ginzky, in: Giesberts / Reinhardt, BeckOK Umweltrecht, § 82 WHG Rn. 13; Cyzchowski / Reinhardt, WHG, § 82 Rn. 15; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 83 Rn. 8. 192 Siehe bereits Anhang VII WRRL; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 83 Rn. 3. 193 Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 105; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 83 Rn. 15; Sparwasser / E ngel / Voßkuhle, Umweltrecht, § 8 Rn. 221, 224. 194 Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 83 Rn. 15. 195 Vgl. Faßbender, NVwZ 2014, S. 476, 477; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 83 Rn. 8. 196 BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 585, BVerwGE 158, 1; Durner, in: Landmann / Rohmer, Umweltrecht, § 27 WHG Rn. 30. 197 Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 105; Schlacke, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 11 Rn. 32.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Mögliche festzulegende Maßnahmen können aufgrund des sehr weiten Maßnahmenbegriffes der WRRL Rechtssetzungsakte, Verwaltungsakte sowie informelles Verwaltungshandeln darstellen.198 cc) Freiräume innerhalb der Wasserbewirtschaftung (1) Rechtsschutzmöglichkeit Maßgeblich für die Rechtsschutzmöglichkeit gegen Bewirtschaftungspläne und Maßnahmenprogramme ist der ihnen immanente Rechtscharakter.199 Zumal gesetzlich nicht kodifiziert ist,200 in der Literatur keine Einigkeit herrscht201 und keine Rechtsprechung dahingehend vorliegt, welche Rechtsqualität Maßnahmenprogramme oder Bewirtschaftungspläne aufweisen müssen, können diese divers ausgestaltet sein. Allerdings ist die Festsetzung eines einheitlichen Rechtcharakters im Vorfeld nicht notwendig, vielmehr lässt sich anhand des Inhalts von Plänen oder Programmen objektiv ermitteln, welche Rechtsqualität gegeben sein muss.202 Die Verpflichtung zum Erlass einer Rechtsverordnung ist dann zwingend, wenn dem Plan oder Programm Außenwirkung zukommt; sofern lediglich Behördenverbindlichkeit begründet wird, ist eine Rechtsverordnung nicht erforderlich.203 Bei den lediglich informierenden und zielfestsetzenden Bewirtschaftungsplänen wird da-

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Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 82 Rn. 26. 199 Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 82 Rn. 86. 200 Auch nicht auf nationaler Ebene siehe Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 105. 201 Zu dem Maßnahmenprogramm als Rechtsverordnung oder Gesetz Kotulla, NVwZ 2002, S. 1409, 1415; Sparwasser / Engel / Voßkuhle, Umweltrecht, § 8 Rn. 228; a. A. Heiland, VBlBW 2004, S. 281, 284; Kloepfer, UmweltR, § 13 Rn. 194; möglich daher differenzierend Kahl /  Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107; Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 82 Rn. 5 a. E.; hinsichtlich der Bewirtschaftungspläne ebenfalls uneinheitlich siehe Appel, in: Berendes /  Frenz / Müggenborg, WHG, § 82 Rn. 5, 6; Rechtsatz fordernd Beaucamp, UPR 2001, S. 423, 425; Holtmeier, ZfW 1999, S. 69, 73; Hentschel, Die europäische Wasserrahmenrichtlinie, S. 175 f., Götze, ZUR 2008, S. 393, 395; mangels Regelungswirkung ablehnend Berendes, WHG, § 83 Rn. 6, Berendes, ZfW 2002, S. 197, 215; Knopp, in: Sieder / Zeitler / Dahme / K nopp, WHG, § 83 Rn. 3; Epiney / Felder, Implementierung der Wasserrahmenrichtlinie, S. 52; Breuer, NuR 2007, S. 503, 509; Köck / Unnerstall, in: Rumm / von Keitz / Schmalholz, Handbuch des EU-Wasserrahmenrichtlinie, S. 485, 487, 33 ff. 202 Richtig daher Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107; Ginzky, in: BeckOK Umweltrecht, § 83 WHG Rn. 12; Cyzchowski / Reinhardt, WHG, § 82 Rn. 12; anders Appel, in: Berendes /  Frenz / Müggenborg, WHG, § 82 Rn. 5 ff.; Faßbender, ZfW 2010, S. 189, 190, in Anbetracht der Rechtsprechung des EuGH, welche zwar an die Begründung von Rechten durch die nationale Umsetzung voraussetzt, jedoch an die Rechten des Einzelnen anknüpft, auch unionsrechtlich das richtige Verständnis EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 –, Kommission / Deutschland Rs. 131/88, Rn. 6, 8. 203 Siehe Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107; Kopp, NVwZ 2003, S. 275, 278.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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gegen regelmäßig keine Regelungswirkung anzunehmen sein.204 Im Fall der Maßnahmenprogramme wäre eine abstrakte Normenkontrolle gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Verbindung mit § 109a JustG NRW beispielsweise für das Land NRW damit nicht ausgeschlossen,205 da Maßnahmen angesichts des weiten Maßnahmenbegriffs206 unterschiedlich ausgestaltet sein können. (2) Reduzierung gerichtlicher Kontrolle Ungeachtet des direkten Rechtsschutzes gegen einen Bewirtschaftungsplan oder ein konkretes Maßnahmenprogramm wird im Rahmen der gerichtlichen Vorhabenzulassungsüberprüfung betreffend die Einhaltung des Verschlechterungsverbotes der konkrete Bewirtschaftungsplan oder betreffend die Einhaltung des Verbesserungsgebotes das konkrete Maßnahmenprogramm zugrunde gelegt.207 Dadurch lässt sich unter anderem die Ausübung des behördlichen Ermessens gerichtlich nachvollziehen.208 Insofern erfolgt inzident eine gerichtliche Überprüfung des Bewirtschaftungsplans oder des Maßnahmenprogramms.209 In Anerkennung eines Letztentscheidungsrechts erfolgt die gerichtliche Überprüfung der Bewirtschaftungspläne insoweit eingeschränkt, dass ihr Zustandekommen nach der WRRL, dem WHG und ggf. der OgewV sowie lediglich die Vertretbarkeit der ihnen immanenten fachlichen Bewertungen überprüft wird.210 Die Reduzierung gerichtlicher Kontrolle erfolgt ebenfalls im Rahmen der Inzidentprüfung von Maßnahmenprogrammen, da ein behördlicher Gestaltungsspielraum zu beachten ist.211 Das Maßnahmenprogramm ist dahingehend zu überprüfen, ob die zuständige Stelle von ihrem Gestaltungsspielraum in Übereinstimmung mit den normativen Vorgaben 204

Siehe Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 83 Rn. 6 f.; unter Berücksichtigung dessen, dass eine Einschränkung der Vorhabenzulassung für den Einzelnen droht, da im Rahmen der Zulassungsprüfung die festgeschriebenen Ziele des Bewirtschaftungsplans als Grundlage für ein etwaiges konterkarieren des Verbesserungsgebot herangezogen werden, jedoch grundsätzlich zu hinterfragen, siehe BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 488 ff., BVerwGE 158, 1. 205 Vgl. Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107; Götze, ZUR 2008, S. 393, 399; Faßbender, NVwZ 2014, S. 476, 482; a. A. Appel, in: Berendes / Frenz / Müggenborg, WHG, § 82 Rn. 86 a. E.; Durner, NuR 2009, S. 77, 84; Durner / Ludwig, NuR 2008, S. 457, 465; Seidel / Rechenberg, ZUR 2004, S. 213, 220; Cyzchowski / Reinhardt, WHG, § 82 Rn. 12. 206 Siehe Teil  3 A. I. 3. b) bb). 207 Vgl. BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 489, BVerwGE 158, 1; hinsichtlich des Rechtsschutzes gegen das Maßnahmenprogramm können auch darauf basierende Einzelakte angegriffen werden siehe Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107 a. E. 208 Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 8 Rn. 107; Hasche, Das neue Bewirtschaftungsermessen im Wasserrecht, S. 280 ff.; vgl. Durner, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, WHG, § 27 Rn. 31. 209 BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 489, 586, BVerwGE 158, 1; BVerwG, Beschluss 26. 01. 2017 – 7 B 3.16 –, Rn. 15, juris. 210 BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 489, BVerwGE 158, 1. 211 BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 586, BVerwGE 158, 1; siehe Durner, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, WHG, § 27 Rn. 30.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Gebrauch gemacht habe.212 Vor dem Hintergrund der flussgebietseinheitsbezogenen Bewirtschaftungsplanung, dem Erfordernis der umfangreicher Bestandsaufnahmen bei der Maßnahmenplanung (bspw. komplexe Risikoanalysen und -abschätzungen), überregionaler Strategien zur Erreichung von Umweltzielen sowie der innerhalb dieser Maßnahmenplanung notwendigen fachlichen Bewertung könne nur von einem fehlerhaft ausgeübten Gestaltungsspielraum die Rede sein, sofern der Plangeber in evidenter Art und Weise seinen Planungsauftrag verkenne.213 Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der notwendigen spezifischen wasserwirtschaftlichen und naturschutzfachlichen Bewertungssachverstandes im Rahmen eines dynamischen, von anthropogenen Eingriffen geprägten, vielfältigen Nutzungsansprüchen und natürlichen Einflüssen geprägten Flusssystems, welches dadurch mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sei, dass insbesondere die nachhaltige Wirksamkeit von Verbesserungsmaßnahmen beeinflusse. 4. Zwischenergebnis Die vorstehende Bestandsaufnahme zeigt, dass die dargestellten Richtlinien insbesondere in fachwissenschaftlich verflochtenen Bereichen nicht frei von (Verwaltungs-)Freiräumen sind. Diesen Verwaltungsfreiräumen ist die jeweilige absolute Fachbezogenheit im Arten-, Habitat- oder Wasserrecht immanent, weshalb sich die Benennung als ökologische Verwaltungsfreiräume besonders eignet. Wegen ihres fachbezogenen Maßstabs messen sich diese Verwaltungsfreiräume an der entsprechenden Fachspezialität des zugrunde liegenden Gesetzes. Markant ist jedenfalls die im deutschen Recht populär gewordene naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative, insbesondere im Hinblick auf die noch fehlende unionsgerichtliche Klarstellung dieser Einschätzungsprärogative und der verfassungsgerichtlichen Kritik ihre Rechtsqualität betreffend sowie der Justiziabilität naturschutzfachlicher sog. „Erkenntnisdefizite bzw. Erkenntnisvakua“.214 Als Ausformung dessen kann die naturschutzfachliche Auswahlprärogative bei mehreren zur Verfügung stehenden naturwissenschaftlich anerkannten Verfahren und Methoden unter Beachtung der Grundsätze zur Selbstbindung der Verwaltung untergliedert werden.215 Bei der Auswahl- und Einschätzungsprärogative handelt es sich nicht bloß um eine artenschutzrechtliche Singularität, da bei ökologischen Fragestellungen im Umweltrecht allgemein außerrechtliche Faktoren herangezogen und bei naturschutzfachlicher Meinungsvielfalt und Erkenntnisarmut einem 212

BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 586, BVerwGE 158, 1. BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 586 a. E., BVerwGE 158, 1. 214 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, BVerfGE 149, 407; sowie Teil  3  A. I. 1. c) cc) ff. 215 E contrario BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 16 ff., BVerfGE 149, 407; vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. 06. 2019, 12 ME 57/19, NVwZ-RR 2019, 1040. 213

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Vertretbarkeitsmaßstab unterstellt werden.216 Dies resultiert aus dem naturwissenschaftlichen Fundament der einschlägigen Verwaltungsentscheidungen und der fehlenden Verrechtlichung korrespondierender Maßstäbe, sodass die naturschutzfachliche Auswahl- und Einschätzungsprärogative zumindest im Umweltrecht universell einsetzbar ist und gerade bei Tatsachenfragen eingesetzt wird. Daneben sind prognostische Elemente in ökologischen Verwaltungsentscheidungen für derartige Verwaltungsfreiräume relevant. Das BVerwG setzt in weiten Teilen des Naturschutzrechts auf eine einheitliche Nutzung der naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative.217 Die universelle Geltung wird unter anderem erkennbar bei der Gebietsauswahl nach der FFH-RL und der VRL,218 Bestandsaufnahme und -bewertung im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung,219 der habitatschutzrechtlichen Bewertung von vorzunehmenden geeigneten Schutzmaßnahmen und Kohärenzsicherungsmaßnahmen,220 der wasserrechtlichen Erheblichkeitsbewertung von Bagatellschwellen,221 der Bestimmung von erheblich veränderten Gewässern222 sowie punktuellen Momenten in wasserrechtlichen Planungsentscheidungen,223 wobei bei Letzterem der Einfluss des in Deutschland anerkannten Planungsermessens224 nicht unberücksichtigt bleiben darf. Insofern erlaubt sich die allgemeine Bezeichnung als naturschutzfachliche Auswahl- und Einschätzungsprärogative, ohne ausschließlich Verwaltungsfreiräume des Artenschutzrechts zu adressieren, 216

Siehe Begründungsstränge bei Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1225. U. a. siehe BVerwG, Urteil vom 27. 02. 2003 – 4 A 59.01, BVerwGE 118, 15; BVerwG, Urteil vom 09. 06. 2004 – 9 A 11.03, BVerwGE 121, 72; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, BVerwGE 145, 40. 218 Siehe Teil  3  A. I. 1. a) und A. I. 2. 219 BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013  – 9 A 22/11  Rn. 4, BVerwGE 146, 145; Urteil vom 23. 04. 2014  – 9 A 25.12, Rn. 61, BVerwGE 149, 289; Urteil vom 12. 03. 2008  – 9 A 3.06, Rn. 74, BVerwGE 130, 299; ebenso BVerwG, Urteil vom 28. 12. 2009 – 9 B 26.09, Rn. 12, NVwZ 2010, 380; BVerwG, Urteil vom 14. 07. 2011 – 9 A 12.10, Rn. 62, BVerwGE 140, 149; OVG Münster, Urteil vom 18. 01. 2013 – 11 D 70/09.AK, DVBl. 2013, 374, 377; festgestellt in: Teil 3  A. I. 1. b) cc) (2) (a). 220 Siehe Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1158, 1165; ebenfalls in: Teil 3 A. I. 1. b) dd) (1); insbesondere BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 f., BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 13. 05. 2009 – 9 A 73.07, Rn. 70, NVwZ 2009, 1296; BVerwG, Urteil vom 03. 06. 2010 – 4 B 54.09, Rn. 21, NVwZ 2010, 1289; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 83, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 14.12, Rn. 421. 221 Festgestellt in Teil  3  A. I. 3. a) aa); insbesondere Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 246; siehe OVG Bremen, 24. 09. 2009 – 1 A 9/09, ZUR 2010, 151, 153. 222 Festgestellt in Teil  3  A. I. 3. a) bb). 223 Festgestellt in Teil  3  A. I. 3. b) cc). 224 Siehe zum Planungsermessen, BVerwG, Urteil vom 10. 02. 1978 – IV C 25.75, BVerwGE 55, 220; BVerwG, Urteil vom 12. 12. 1969 – IV C 105.66, BVerwGE 34, 301, 304 ff.; BVerwG, Urteil vom 05. 07. 1974  – IV C 50.72, BVerwGE 45, 309, 314 ff.; BVerwG, Urteil vom 07. 07. 1978 – 4 C 79.76, BVerwGE 56, 110, 116 ff.; BVerwG, Urteil vom 20. 08. 1992 – 4 NB 20.91, BVerwGE 90, 329, 331 f.; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 1281–1286; Durner, Konflikte räumlicher Planungen. Verfassungs-, verwaltungs- und gemeinschaftsrechtliche Regeln für das Zusammentreffen konkurrierender planerischer Raumansprüche, S. 269 ff. 217

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

da letztlich überwiegend die naturschutzfachliche Einkleidung des Verwaltungsfreiraums die prägnante Komponente der Beurteilung abbildet.

II. Der ökologische Verwaltungsfreiraum Als primäre Untersuchungsobjekte dienen die vorstehend herausgearbeiteten ökologischen Verwaltungsfreiräume bzw. naturschutzfachlichen Auswahl- und Einschätzungsprärogativen, welche maßgeblich unter Verdacht stehen, Ausfluss der Europäisierung nationaler Verwaltungsstrukturen und Regelungsstrukturen zu sein.225 An die Herausarbeitung der Rahmenbedingungen (A.II.1.) schließt die Evaluierung der Rechtsqualität auf deutsche Ebene (A.II.2.) an. 1. Rahmenbedingungen Für die deutsche und unionale Systematisierung der naturschutzfachlichen Verwaltungsfreiräume als Letztentscheidungsrecht administrativer Art bis hin zu der Evaluierung der Begründung einer Beurteilungsspielraumdogmatik im Unionsrecht sind zunächst die Rahmenbedingungen darzulegen. a) Normstrukturelle Einordnung und Skalierung Zumindest im deutschen Verwaltungsrecht spielt die Einordnung von Verwaltungsfreiräumen innerhalb der Normstruktur eine übergeordnete Rolle, die nur oberflächlich behandelt keine weiteren Fragen aufwirft. Diese Einordnungsergebnisse sind ein kritisches Differenzierungscharakteristikum für die herrschende Dichotomie der administrativen Letztentscheidungsrechte.226 Vereinzelt schaffen diametrale normative Anknüpfungspunkte auf unionaler und nationaler Ebene einen gewissen normstrukturellen Dualismus, welcher in der Ansehung unionaler und mitgliedstaatlicher Kompetenzen ausgeglichen werden muss. Daneben führen tatsachenbezogene Verwaltungsfreiräume zu Friktionen in Bezug auf die norm­ strukturelle Einordnung sowie Skalierung.227 225 Kersten, Die Verwaltung 46 (2013), S. 87, 94; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222; BVerwG Urteil vom 21. 11. 2013 – BVerwG 7 C 40.11 Rn. 11, 16, NVwZ 2014, 524. 226 Siehe u. a. Wolff, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 114, Rn. 287; grundsätzlich und im Anschluss kritisch Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 12; gerade für die nationale Rechtsprechung ergibt sich daraus scheinbar der richtige Umgang für die gerichtliche Überprüfung, vgl. VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; besonders jedoch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, Rn. 28, juris. 227 Insbesondere da in Teilen des Europäischen Verwaltungsrecht der Hang zu ausufernden und normstrukturell unabhängigen Letztentscheidungsrechten beobachtet werden kann, u. a. für die festgestellten Verwaltungsfreiräume im Migrationsrecht siehe Teil 2 C. I.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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aa) Vereinfachte Differenzierung von Tatbestands- und Rechtsfolgenebene Unter dem Aspekt, dass nicht unbedingt die gesamte Verwaltungsentscheidung der behördlichen Letztentscheidung obliegen soll, sondern teilweise nur naturwissenschaftliche Entscheidungselemente,228 vollzieht sich die klare normstrukturelle Einordnung nicht ganz ohne Schwierigkeiten.229 Bei den Entscheidungselementen handelt es sich um solche, die der Vorbereitung bzw. Aufbereitung der eigent­lichen Verwaltungsentscheidung dienen – mithin auch nur Entscheidungsfragmente darstellen, wie etwa die Methodenwahl für die Bestandsaufnahme und Bewertung innerhalb der Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL,230 die Heranziehung der Datenquelle und anschließende Eignungsbeurteilung der Gebietsausweisung gemäß Art. 4 FFH-RL bzw. Art. 4 VRL231 sowie die Bestimmung wasserrechtlicher Bagatellschwellen und Abschneidekriterien für die Überprüfung des wasserrechtlichen Verschlechterungsverbotes Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) WRRL232. Für eine vereinfachte Einordnung ist es hilfreich, die eigentliche Verwaltungsentscheidung als Ganzes zu begreifen und nicht lediglich vereinzelte Elemente, welche von einer gerichtlichen Vollkontrolle freigestellt werden, zu fokussieren. Bei naturschutzfachlichen Verwaltungsfreiräumen, die sich auf gesetzliche Pflichten zur Ergreifung von Maßnahmen erstrecken  – wie bei den habitatschutzrechtlichen Erhaltungs-, Schutz-, Kohärenzsicherungsmaßnahmen,233 der Einleitung des Abweichungsverfahrens sowie wasserwirtschaftsrechtlichen Maß­ nahmenprogrammen  –234 handelt es sich logischerweise um solche auf der Rechtsfolgenebene. Die Tatbestandlichkeit von Freiräumen ist hingegen bei Ver 228

Vgl. u. a. EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991  – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2001 – Rs. C-67/99, Kommission / I rland, Rn. 29; u. a. BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633; vgl. BVerwG, Urteil vom 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04, Rn. 243, 517 ff., NVwZ-Beil. 2006, 1, 49 f.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 196, 197; u. a. BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 14, BVerwGE 147, 118; BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 14, NVwZ 2014, 524. 229 Daher in Bezug auf das grundsätzliche Modell kritisch Jestaedt, Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 14; vgl. Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 150. 230 Siehe Teil 3 A. I. 1. b) cc) (2) und die angeführte Rechtsprechung. 231 Siehe Teil 3 A. I. 1. a) aa) und Punkt A. I. 2. und die angeführte Rechtsprechung. 232 Siehe Teil 3 A. I. 3. a) aa) und die angeführte Rechtsprechung sowie Literatur. 233 Nur mit Blick auf die FFH-RL, auf nationaler Ebene umstritten. 234 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. 04. 2011 – 4 B 77.09 –, Rn. 43, juris; EuGH, 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Rn. 40, 41, 54, Rs. „Grüne Liga Sachsen“, NVwZ 2016, 595; Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der HabitatRichtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 1. 2019, S. 19; dazu auch Lau, NuR 2016, S. 149, 154; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 83, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 f., BVerwGE 130, 299.; Lau / Jacob, NVwZ 2015, 241, 245 a. E.; Kahl / Gärditz, Umweltrecht, § 10 Rn. 131 a. E.; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12),

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

waltungsentscheidungen wie etwa der Gebietsausweisung, der Aufstellung von habitatschutzrechtlichen Erhaltungszielen und wasserrechtlichen Bewirtschaftungsplänen sowie bei der Feststellung einer habitatschutzrechtlichen Beeinträchtigung innerhalb der Verträglichkeitsprüfung,235 der Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des Abweichungsverfahrens bei Vorhaben der Landesverteidigung,236 der artenschutzrechtlichen signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos, der wasserrechtlichen Verschlechterung bzw. des Verstoßes gegen das Verbesserungsgebot237 und bei Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzung eines erheblich veränderten Wasserkörpers anzunehmen.238 bb) Dualismus unionaler und nationaler Normstrukturen Aufgrund des Richtlinienumsetzungserfordernisses kann es zu der Veränderung von ursprünglich rechtsfolgenseitigen Verwaltungsfreiräumen kommen. So herrscht Verwirrung hinsichtlich der Eignungsbeurteilung von Kohärenzsicherungsmaßnahmen. An den Streit, ob es sich bei der Kohärenzsicherung um eine Zulassungsvoraussetzung239 oder um eine bloße Rechtsfolge240 handle, schließt gleichzeitig die normstrukturelle Verortungsfrage des ökologischen Verwaltungsfreiraumes an. Die Zugrundelegung des auf der deutschen Vorschrift basierenden Art. 6 Abs. 4 FFH-RL einerseits, welcher für eine Rechtsfolge spricht, und bei Radizierung des Ziels der FFH-RL, namentlich des effektiven Gebietsschutzes, Rn. 586, BVerwGE 158, 1; siehe Durner, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, WHG, § 27 Rn. 30; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14 Rn. 146, NVwZ 2016, 844; VGH München, Urteil vom 22. 07. 2015 – 15 ZB 14.1285 –, Rn. 5, juris; OVG Lüneburg, Urteil 22. 04. 2016 – 7 KS 27/15  –, Rn. 439, juris; Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, § 15 BNatSchG 9 Rn. 40, BNatSchG § 15 Rn. 40. 235 Siehe Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 7 Rn. 15 ff., § 32 Rn. 78; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017  – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 489, BVerwGE 158, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633; vgl. BVerwG, Urteil vom 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04, Rn. 243, 517 ff., NVwZ-Beil. 2006, 1, 49 f.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 196, 197; betreffend Kohärenzsicherungsmaßnahmen ist zwischen der FFH-RL und dem BNatSchG in normstruktureller Hinsicht wohl zu differenzieren. 236 Jedoch nur als Ausnahme vgl. BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013  – 4 C 3.12, Rn. 19, BVerwGE 146, 176. 237 BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 14, BVerwGE 147, 118; BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn.14, NVwZ 2014, 524; BVerwG, Beschluss vom 02. 10. 2014 – 7 A 14.12, Rn. 6, DVBl. 2015, 95. 238 Siehe Berendes, WHG Kurzkommentar, § 28 Rn. 4; Durner, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, WHG, § 28 Rn. 7. 239 So Möckl, in: Schlacke BNatSchG, § 34, Rn. 182; Köck, ZUR 2005, S. 466, 469; Schumacher / Schumacher, in: Schumacher / Fischer-Hüftle, BNatSchG, § 34 Rn. 106; Steeck / L au, NVwZ 2009, S. 616, 621; Tendenz zur Zulassungsvoraussetzung durchdringend, mangels Entscheidungserheblichkeit jedoch offenlassend BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008  – 9 A 3.06, Rn. 197, BVerwGE 130, 299. 240 So Schütz, UPR 2005, S. 137, 139; Durner, NuR 2001, S. 601, 609.

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andererseits,241 welches für eine Zulassungsvoraussetzung spricht, erleichtern die Qualifizierung freilich nicht. Unter Berücksichtigung des mitgliedstaatlichen Umsetzungsermessens dürfte die normstrukturelle Einordnung dem nationalen Gesetzgeber überlassen sein, solange keine Vereitelung von Richtlinienzielen oder Harmonisierungsbestrebungen drohen.242 Aufbau und Wortlaut des auf nationaler Ebene umgesetzten § 34 Abs. 5 S. 1 BNatSchG sehen für eine Zulassung des Abweichungsvorhabens zwingend eine vorhergehende Kohärenzsicherungsmaßnahme vor, sodass die von dem naturschutzfachlichen Verwaltungsfreiraum umfasste Eignungsbeurteilung wohl auf Tatbestandsebene anzusiedeln ist.243 Durch die Vorverlagerung der Kohärenzsicherung wird das Richtlinienziel des Gebietsschutzes lediglich gefördert.244 Die Qualifizierung als Zulassungsvoraussetzung führt zu keiner Schlechter- oder Besserstellung des Vorhabenträgers, da (1.) die Richtlinie auch in der Rechtsfolgenkonstellation zur Kohärenzsicherung verpflichtet, sodass im Rahmen deutscher Ermessendogmatik ein Entschließungsermessen ausgeschlossen wäre,245 (2.) die fachwissenschaftliche Überprüfung der vorgenommenen Eignungsbeurteilung aufgrund der Ermessensfehlerlehre durchzuführenden Verhältnismäßigkeitsprüfung am Maßstab der gesetzlichen Direktive246 ohnehin (eingeschränkt) kontrollierbar bleibt247 und (3.) bereits die Einlei 241

Vgl. BVerwG Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 197, BVerwGE 130, 299. Vgl. Ruffert, in: Calliess / Ruffert / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 25; ebenfalls Lenaerts /  Desomer, ELJ 11 (2005), S. 744, 747; Frenz, Handbuch Europarecht, Band 5, Wirkungen und Rechtsschutz, Rn. 911; aus der Stellung im EG-Vertrag ableitend Hilf, EuR 1993, S. 1, 19; Härtel, Handbuch Europarecht, Band 4, Europäische Rechtsetzung, e contratio S. 27, Rn. 1 a. E., S. 178, Rn. 27, S. 180, Rn. 32; Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 132. 243 Tendenz zeigend BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 197, BVerwGE 130, 299, VGH Baden-Württemberg, 23. 09. 2013 – 3 S 284/11, Rn. 323, VBlBW. 2014, 357; daher auch Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1165; zu dem Gewicht des § 34 BNatSchG in der Fachplanung, Durner, Konflikte räumlicher Planungen. Verfassungs-, verwaltungs- und gemeinschaftsrechtliche Regeln für das Zusammentreffen konkurrierender planerischer Raumansprüche, S. 137. 244 Vgl. BVerwG Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 197, BVerwGE 130, 299, VGH Baden-Württemberg, 23. 09. 2013 – 3 S 284/11 Rn. 323, VBlBW. 2014, 357. 245 So schon der Wortlaut des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL; grundsätzlich zum Entschließungsermessen Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 17; BVerwG, Urteil vom 25. 07. 1985 – 3 C 25.84, BVerwGE 72, 38; BVerwG, Beschluss vom 21. 03. 2017 – 1 VR 2.17, 1 PKH 12.17 (1 A 3.17) Rn. 36 f., BVerwGE 158, 249; VGH München, Urteil vom 26. 11. 2014  – 10 B 14.1235 –, Rn. 29, juris; Beaucamp, JA 2006, S. 74, 75; Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 7; Mengering, Die Entgeltregulierung im Telekommunikations- und Energierecht, S. 355. 246 „[…] um sicherzustellen, dass die globale Kohärenz von Natura 2000 geschützt ist […]“ vgl. Art. 6 Abs. 4 FFH-RL; national entsprechend „[…] sind die zur Sicherung des Zusammenhangs des Netzes ‚Natura 2000‘ vorzusehen[…]“ vgl. § 34 Abs. 5 S. 1 BNatSchG; zu Ermessendirektiven Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 20 ff. 247 Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung vgl. Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 68 ff.; BVerwG, Urteil vom 15. 12. 2011 − 3 C 40/10, Rn. 17, BayVBl. 2012, 542; BVerwG, Urteil vom 20. 06. 2013 – 8 C 46/12, Rn. 42, BVerwGE 147, 81; BVerwG, Urteil vom 09. 09. 2015 – 6 C 28/14, Rn. 33, BVerwGE 153, 1; BVerwG, Urteil vom 22. 02. 2017  – 1 C 27/16 Rn. 24, BVerwGE 157, 356; OVG Lüneburg, Urteil vom 23. 02. 2018 – 11 LC 177/17 Rn. 59, NdsVBl. 2018, 236; Ermessensfehlerlehre, vgl. Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 64 f. 242

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tung des Abweichungsverfahrens und die Erteilung der Abweichungszulassung bei Vorliegen der Voraussetzungen im Ermessen der Mitgliedstaaten stehen,248 folglich die Gestaltung der Kohärenzsicherung als Zulassungsvoraussetzung im Wege der Richtlinientransformation a maiore ad minus möglich sein müsse. cc) Aufspaltung der Verwaltungsentscheidung Wie eingangs erwähnt, handelt es sich lediglich um einen vereinfachten Überblick, da nicht stets die gesamte Verwaltungsentscheidung einer behördlichen Letztentscheidung obliegt, sondern nur spezifisch wissenschaftliche Beurteilungsoder Bewertungsfragmente der eigentlichen Entscheidung betroffen sind, welche zum Teil auf der Tatsachenebene anzusiedeln sind und somit zunächst keinen finalen Tatbestands- oder Rechtsfolgenbezug aufweisen.249 Besonders im erkenntnisdefizitären Umweltrecht ist dies von Relevanz.250 (1) Gegenstände der Verwaltungsfreiräume Die Gegenstände der ökologischen Einschätzungsspielräume sind unterschied­ licher Natur und erstrecken sich teilweise auf vereinzelte Punkte innerhalb der Verwaltungsentscheidung. So bezieht sich die artenschutzrechtliche Einschätzungsprärogative des § 44 BNatSchG (Art. 12 FFH-RL) zum Teil nur auf die Wahl der Ermittlungsmethode für die Tatsachenbasis.251 Innerhalb des Gebietsausweisungsverfahrens nach Art. 4 VRL oder Art. 4 FFH-RL beziehen sich zugesprochene Verwaltungsfreiräume primär auf die Beurteilung ornithologischer bzw. ökolo­gischer Kriterien zur Feststellung der zahlen- und flächenmäßigen Geeignetheit bzw. zur Festlegung der Listungsentscheidung.252 Dabei besteht ebenfalls eine gewisse wissenschaftliche Freiheit bei der Wahl der Datenquelle, auf deren Grundlage die 248

EuGH, Urteil vom 04. 03. 2010 – Rs. C-241/08, Kommission / Frankreich, Rn. 72; EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006  – Rs. C-239/04, Kommission / Portugal, Rn. 2; Möckl, in: Schlacke, BNatSchG, § 34, Rn. 136; Mühlbauer, in: Lorz / Konrad / Mühlbauer / Müller-Walter / Stöckel, Naturschutzrecht, § 34 BNatSchG, Rn. 19; Winter, NuR 1989, S. 197 f.; a. A. Ewer, in: Lütkes /  Ewer, BNatSchG, § 34 Rn. 63; Wolf, ZUR 2005, S. 449, 455. 249 Siehe Teil  3  A. I. 1. a) und A. I. 2.; A. I. 1. b) cc) (2) (b) (aa); A. I. 1. c); A. I. 3. a) aa). 250 Vgl. Gärditz, ZfU 2019, S. 369, 386 a. E. 251 Siehe BVerwG, Urteil vom 18. 03. 2009 – 9 A 39.07, Rn. 45, BVerwGE 133, 239; ähnliche Formulierungen in BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 100, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22/11 Rn. 114 –, BVerwGE 146, 145; BayVGH, Urteil vom 06. 10. 2014 – 22 ZB 14/1079 Rn. 25, NuR 2014, 879; vgl. Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1223. 252 Beurteilungsgrenzen determinierend siehe EuGH, Urteil vom 07. 11. 2000 – Rs. C-371/98, First Corporate Shipping, Rn. 17–25; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2001 – Rs. C-67/99, Kommission / I rland, Rn. 29; EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 –

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Anwendung fachlicher Kriterien erfolgt.253 Dagegen wird für die Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL nur die Methode zur Bestandserfassung und -bewertung freigestellt.254 Im Bereich der Überprüfung einer wasserrechtlichen Verschlechterung diene die Einschätzungsprärogative lediglich zur Einrahmung des wissenschaftlich relevanten Bewertungsraumes.255 (2) Indifferenz tatsachenbezogener Verwaltungsfreiräume Bei genauerer Betrachtung ist eine Differenzierung und Klassifizierung in normstruktureller Hinsicht durch den fehlenden klassischen Tatbestands- oder Rechtsfolgenbezug256 aufgrund der Indifferenz der konkret eingeschränkt judizierbaren Einschätzung teilweise nicht möglich.257 Eingeschränkt kontrollierbare ökologische Methoden, Verfahren und Untersuchungen zur Feststellung der erforderlichen Tatsachenbasis werden sowohl auf der Tatbestandsebene als auch konsequenterweise auf der Rechtsfolgenebene herangezogen, um im Anschluss naturschutzfachliche Maßnahmen zu ergreifen. So ist einleuchtend, dass die artenschutzrechtliche Bestandserfassung die Grundlage für die Feststellung einer etwaigen artenschutzrechtlichen BetrofRs. C-44/95, Lappel Bank; EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 25. 11. 1999 – Rs. C-96/98, Poitou-Sümpfe; EuGH, Urteil vom 07. 12. 2000 – C-374/98, Basses Corbieres; EuGH, Urteil vom 13. 06. 2002 – Rs. C-117/00 Kommission / I rland; EuGH, Urteil vom 06. 03. 2003, Rs. C-240/00, Kommission / Finnland; EuGH, Urteil vom 05. 12. 2002 – Rs. C-324/01, Kommission / Belgien; EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006 – Rs. C-191/05, Kommission / Portugal; EuGH, Urteil vom 25. 10. 2007 – Rs. C-334/04, Kommission / Griechenland; national BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22/11, Rn. 36, BVerwGE 146, 145; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14 –, Rn. 23, NuR 2015, 772; BVerwG, Urteil vom 14. 11. 2002 – 4 A 15/02, BVerwGE 117, 149 ff.; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 C 11/96, NVwZ 1999, S. 528; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 A 9/97, BVerwGE 107, 1 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14, BVerwGE 154, 73 ff.; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06, BVerwGE 130, 299 ff.; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013 – 4 C 3/12 –, BVerwGE 146, 176 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14, NuR 2015, 772 ff. 253 EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / Irland, Rn. 54; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 46 ff. 254 BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633; vgl. BVerwG, Urteil vom 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04, Rn. 243, 517 ff., NVwZ-Beil. 2006, 1, 49 f.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 196, 197. 255 Zu marginalen und nicht messbaren Relevanzschwellen vgl. BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 479 ff., 496 ff., 506 f., 510 a. E., 515, 533, BVerwGE 158, 1, 91 f., 99, 103; sowie BVerwG, Urteil vom 02. 11. 2017 – 7 C 25.15, NVwZ 2018, 986 ff.; dazu Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 246; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 163; Dallhammer / Fritzsch, ZUR 2016, S. 340, 345; a. A. Faßbender, EurUP 2015, S. 178, 188. 256 Vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114, Rn. 55. 257 Tat- und Rechtsfragen müssen im Hinblick auf den tatrichterlichen Würdigungsvorbehalt gemäß § 108 Abs. 1 VwGO von Letztentscheidungsbefugnissen frei bleiben, zu Prognosefreiräumen und fachlichen Einschätzungen, insbesondere bei naturschutzfachlichen Methoden sei dies wohl nicht absolut, so Rennert, in: Eyermann, § 114, Rn. 55, 71a, 83.

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fenheit im Sinne eines signifikanten Tötungsrisikos bildet.258 Darüber hinaus ist die artenschutzrechtliche Bestandsaufnahme ebenfalls für die Geeignetheitsund Erforderlichkeitsbeurteilung vorgezogener Ausgleichsmaßnahmen gemäß § 44 Abs. 5 S. 3 BNatSchG relevant.259 Nichts anderes gilt bei der Verträglichkeitsprüfung gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL und daran gekoppelte Schutzmaßnahmen in Form von Schadensminderungsmaßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 2 FFH-RL.260 Unter diesen Umständen sind naturwissenschaftliche Ermittlungs- und Entscheidungsfreiräume normstrukturell doppelt relevant. Vereinzelte ökologische Freiräume sind jedoch derart fest mit wissenschaftlichen tatsächlichen Feststellungen für den Tatbestand verbunden, wie etwa die Gebietsausweisungs- bzw. Listungsentscheidung oder die Aufstellung wasserrechtlicher Bagatellgrenzen, dass ihre Wirkung die Grenzen des Tatbestands nicht überschreitet.261 Die Entscheidung auf Tatbestandsebene unterteilt sich oft in einen spezifisch eingeschränkten (tatsächlich wissenschaftlichen) und einen uneingeschränkten (rechtlich) judizierbaren naturwissenschaftlichen Teil.262 Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass im Anschluss an die tatsachenrelevante Entscheidung auf Tatbestandsebene keine offene Rechtsfolge gekoppelt ist. Hingegen befinden sich Spielräume, die unmittelbar an die Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen anknüpfen, wie die artenschutzrechtliche Beurteilung des signifikanten Tötungsrisikos gemäß Art. 12 FFH-RL (§ 44 BNatSchG) oder die Geeignetheit von Kohärenzschutzmaßnahmen gemäß § 34 Abs. 5 BNatSchG, zumindest nach deutschem Normaufbau auf der Tatbestandsebene. Entsprechendes gilt etwa bei den Schutzmaßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 2 FFH-RL oder Kohärenzmaßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 4 FFH-RL nach unionsrechtlichem Normaufbau auf der Rechtsfolgenebene. 258

Siehe BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 14, BVerwGE 147, 118; ebenfalls für die Verträglichkeitsprüfung vgl. BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633. 259 Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der FFH-Richtlinie 92/43/EWG, Endgültige Fassung, Februar 2007, S. 53, Rn. 72 ff.; Grundsätzlich zu Ausgleichsmaßnahmen Gellermann, in: Landmann / Rohmer, BNatSchG, § 44 Rn. 54 ff.; Schütte / Gerbig, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 44, Rn. 56; kritisch Dolde, NVwZ 2008, S. 121, 124 f.; Gellermann, NuR 2007, S. 783, 787 f.; Möckel, ZUR 2008, S. 57, 62 f. 260 Vgl. Möckl, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 125 ff.; BVerwG, Urteil vom 23. 04. 2014 – 9 A 25.12, Rn. 60, BVerwGE 149, 289; BVerwG, 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12) Rn. 225 ff., BVerwGE 158, 1. 261 Bei der Gebietslistung und dem Gebietsausweisungsverfahren, vermittelt schon die Benennung als „naturschutzfachlicher Beurteilungsspielraum“ auf nationaler Ebene den Tatbestandsbezug in aphoristischer Art und Weise vgl. BVerwG, Urteil vom 14. 04. 2010 – 9 A 5.08, Rn. 38, BVerwGE 136, 291. 262 BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 22, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22.11, Rn. 36, BVerwGE, 146, 145; ebenso für die Meldung und Abgrenzung von Vogelschutzgebieten BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, Rn. 22 ff., BVerwGE 149, 229.

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(3) Wirkung und Skalierung Kahl und Burs differenzieren richtig. Es handle sich streng genommen bei den indifferenten tatsachenbezogenen Verwaltungsfreiräumen nicht um die Abschirmung der Tatsachenermittlung von gerichtlicher Kontrolle.263 Diese Verwaltungsfreiräume sind jedenfalls insofern tatsachenbezogen, dass sie sich unmittelbar auf Tatsachenebene, genauer, im Rahmen der Tatsachenermittlung, auswirken. Die Tatsachengrundlage bleibt damit zwar der Richtigkeitskontrolle durch die Verwaltungsgerichte – wie es § 86 VwGO vorsieht – unterworfen,264 allerdings dürfe die praktische Relevanz, an die Kahl und Burs in diesem Zusammenhang ebenfalls richtig erinnern,265 nicht unberücksichtigt bleiben.266 (1.) Soweit nicht grobe methodische Anwendungsfehler oder eine evident wissenschaftliche Unvertretbarkeit auf Seite der Administrative durch die prozedurale Gerichtskontrolle nicht identifiziert werden können,267 hat der Kläger in Ansehung der gerichtlich zugebilligten Freiheit in naturschutzfachlichem Maß bei der Methoden- bzw. Verfahrenswahl eigene Anstrengungen zur wissenschaftlichen Erschütterung der von der Behörde vorgebrachten Tatsachengrundlage vorzubringen,268 um zumindest das gerichtliche Zuziehungsermessen bezüglich Sachverständiger im Verwaltungsgerichtsprozess dahingehend zu reduzieren, dass ein fachkundiger Gutachter eingesetzt wird.269 Der nicht fachkundige Kläger ist gezwungen, durch eigene Beauftragung von Gutachtern wissenschaftliche Zweifel zu streuen,270 was 263

Siehe Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1223. Gerade bei Letztentscheidungsbefugnissen müssen die Tatsachen kontrollierbar bleiben, siehe Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 37. 265 Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1223. 266 Siehe auch Sachs / Jasper, NVwZ 2012, S. 649, 652; v. Danwitz, DVBl. 2003, S. 1405, 1411; Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 95, 118. 267 Siehe Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1223; grundsätzlich Beckmann, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 30. 268 Siehe Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1223; Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 169; u. a. deutlich BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 101, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22.11, Rn. 47, BVerwGE, 146, 145; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 534, BVerwGE 158, 1; BVerwG, Urteil vom 06. 04. 2017 – 4 A 16.16, Rn. 50, NVwZRR 2017, 1039; BVerwG, Urteil vom 23. 04. 2014 – 9 A 25.12, Rn. 44 ff., BVerwGE 149, 289; BVerwG, Urteil vom 20. 01. 2010 – 9 A 22.08, Rn. 43, NVwZ 2010, 1151; BVerwG, Urteil vom 14. 04. 2010 – 9 A 5.08, Rn. 76, BVerwGE 136, 291. 269 Grundsätzlich BVerwG, Beschluss vom 25. 3. 2009 – 4 B 63/08 –, Rn. 24, juris; BVerwG, Beschluss vom 23. 08. 2006 – 4 A 1067.06 –, Rn. 6, juris; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO § 86 Rn. 77; Rudisile, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 98 Rn. 103. 270 U. a. BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 58, 63, 63, 91, 146, BVerwGE 158, 1; da eine höhere Kontrolldichte durch Anführen des hinreichend aufgearbeiteten Wissenschaftsstandes durch den Kläger in der Fachinstanz hätte erreicht werden können wohl auch, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 –, Rn. 9, 13, juris. 264

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

einen finanziell leistungsschwächeren Kläger zunächst härter trifft und dadurch mittelbar Auswirkung auf die Rechtsschutzeffektivität hat. Das Aufbürden der Ermittlungslast führt insofern zu einem Quasi-Freiraum für die Tatsachengrundlage. (2.) Gerade bei wissenschaftlichen Patt-Situationen verschiedener naturschutzfachlicher Methoden oder Verfahren wird durch die Eröffnung einer naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative grundsätzlich den Tatsachenausführungen der Behörde entsprochen.271 Unter Berücksichtigung, dass verschiedene Methoden oder Verfahren bei gleichbleibender wissenschaftlicher Vertretbarkeit differenzierende Ergebnisse offenbaren können,272 hat die Behörde die Möglichkeit, auf die Verwaltungsentscheidung Einfluss zu nehmen.273 Dies macht die Installation punktueller Verwaltungsfreiräume, welche vornehmlich der flexibilisierten Eruierung einer hinreichenden Tatsachengrundlage dienen sollen, prekär. Damit können selbst konditional-programmierte Rechtsfolgen durch eine (eingeschränkt) freigestellte Tatsachenermittlung umgangen werden, was das klassische Verständnis der gebundenen Verwaltung erschüttert.274 Darüber hinaus kann die synergetische Wirkung einer Vielzahl hintereinander geschalteter punktueller275 und indifferenter Verwaltungsfreiräume mittelbar zu weiteren faktischen Verwaltungsfreiräumen auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite führen.276 Soweit jedenfalls von einer normativen Maßstabsbildung zur Tatsachengenerierung abgesehen wird,277 resultiert dies in einer nicht absehbaren 271

Siehe trotz schlüssigen Vorbringens des Klägers zu einer anderen Methode VGH Mannheim, Urteil vom 23. 09. 2013 – 3 S 284/11 –, Rn. 164 ff., 186 ff., 204, juris; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016  – 4 A 5/14 Rn. 149, NVwZ 2016, 844; dass die normative Verankerung einer Interessenprivilegierung (bspw. pro Natur) innerhalb wissenschaftlicher Patt-Situationen kritisch sein kann, etwa durch die strenge Handhabung des Vorsorgegrundsatz, zeigt die Feststellung von „erheblichen Beeinträchtigungen“ gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL, siehe Teil 3 A. I. 1. b) cc) (2) (b); aufgrund der strengen Geltung des Vorsorgegrundsatzes und der Mannigfaltigkeit der möglichen Ergebnisse durch verschiedene naturschutzfachliche Methoden bei gleichbleibender Bestqualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076), legt den syllogistischen Schluss nah, dass die Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Erfassungsmethode im Fall der Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL dementsprechend einzuschränken ist. 272 Siehe BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076. 273 Zu der Konzeption gebundener Verwaltung und Konditionalprogrammen grundsätzlich kritisch Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 16. 274 Siehe Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 12; sofern auf dem Unionsrecht beruhend wird generell eine geringe Gesetzesbindung attestiert, die auf die nationale Ebene transferiert wird, vgl. Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn. 216 ff.; vgl. Classen, Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Verwaltung – zu einer Anforderung des Europarechts an das nationale Verwaltungsrecht, in: FS Scheuing, S. 293, 303 ff.; Classen, EuR 2016, 79, 83 ff.; Hatje / Mankowksi, EuR 2014, 155, 159 ff.; die gesetzgeberische Intention und vorliegende Struktur widersprechen sich jedoch vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; EuGH, Urteil vom 10. 10. 1985 – Rs. 183/84, Rheingold, Rn. 23 ff. 275 Abgrenzung „selten“ und „punktuell“ in diesem Kontext, siehe Jestaedt, § 11 III 2 Rn. 17. 276 Qua Methodenwahl, siehe Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (b). 277 Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 15, BVerwGE 147, 118.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Skalierung punktueller Verwaltungsfreiräume, insbesondere dem Hintergrund, dass bestimmte Verwaltungsfreiräume aus der Kumulation anderer Freiräume und Wahlrechte der vollziehenden Administrativen erwachsen können.278 Besonders illustriert dies die artenschutzrechtliche Einschätzungsprärogative, da neben der eingeschränkt judizierbaren Bestandserfassungs- und -bewertungsmethode die letztliche naturschutzfachliche Beurteilung des signifikanten Tötungsrisikos gemäß § 44 BNatSchG (Art. 12 FFH-RL) ebenfalls einer naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative unterworfen wird.279 b) Die Rolle des unbestimmten Rechtsbegriffes Die Begründung hiesiger Verwaltungsfreiräume weist unter anderem aus, dass den Behörden ein flexibilisierter naturwissenschaftlicher Handlungsrahmen in Ermangelung normativer Grundlagen zugestanden wird.280 Verknüpft ist damit ebenfalls die Verarbeitung außerrechtlicher Maßstäbe durch den Rechtsanwender. Neben der Absenz einer klassischen statischen oder normkonkretisierenden dynamischen Verweisung innerhalb oder außerhalb der Richtlinie281 tritt der außerrechtliche Maßstab der Naturwissenschaftlichkeit als Determinante für die Rechtsanwendung in abstrakter Art und Weise mittels unbestimmten Rechtsbegriffes hinzu (sog. „Schleusenbegriff“).282 Naturschutzfachliche Fragestellungen orientieren sich daher vornehmlich an außerrechtlichen Gegebenheiten der Naturwissenschaft.283 In den jeweiligen Richtlinien radizierter Grundsatz der Erfordernis der Nutzung aktuellster und bester wissenschaftlicher Grundlagen ist ein unzureichender Ansatz intendierter positivrechtlicher Anknüpfung festzustellen.284 So lassen sich am Beispiel des Letztentscheidungsrechts der Mitgliedstaaten im Rahmen des Gebiets 278

Vgl. Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (b); im Ansatz erkennend BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076. 279 Zu den Gegenständen der Prärogative auch Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1223; ­Gärditz, ZfU 2019, S. 369, 386 a. E. 280 U. a. siehe BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008  – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633; vgl. BVerwG, Urteil vom 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04, Rn. 243, 517 ff., NVwZ-Beil. 2006, 1, 49 f.; BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 16, NVwZ 2014, 524; Krone, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Umwelt- und Technikrecht, S. 16; BVerwG, Beschluss vom 02. 10. 2014 – 7 A 14.12, Rn. 6, DVBl. 2015, 95; vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04–Rs. „Kommission / I rland“, Rn. 54, NuR 2008, S. 101. 281 Fehling, in: Trute / Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 472. 282 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 I 2, Rn. 3; Fehling, in: Trute / Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht  – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 473. 283 Bspw. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007  – Rs. C-418/04, Kommission / Irland, Rn. 54; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633. 284 Vgl. EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, „Herzmuschelfischerei“, Rn. 54; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73, 74, NuR 2008, S. 633; dazu Steeck / L au, NVwZ 2009, S. 616; vgl. auch 13., 17. Erwägungsgrund, Art. 2, 15, 16 VRL.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

ausweisungsverfahrens nach Art. 4 VRL unbestimmte Rechtsbegriffe entdecken, deren Erkenntnisproblematik285 scheinbar nur durch außerrechtliche wissenschaftliche Determinanten aufgelöst werden könne. aa) Unbestimmte Rechtsbegriffe als Schleusenbegriffe metajuristischer Standards (1) Am Beispiel des Gebietsausweisungsverfahrens nach Art. 4 VRL und Art. 4 FFH-RL bzw. § 32 BNatSchG Den Gebietsausweisungsvoraussetzungen in Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL „zahlen- und flächenmäßig geeignetste“ und „einschlägiger wissenschaftlicher Informationen“ in Art. 4 Abs. 1 S. 1 FFH-RL ist aufgrund des erhöhten Maßes an Vagheit und Offenheit eine hohe Abstraktheit immanent,286 da eine abschließende Gesamtbewertung aller relevanten Gebiete unter den zugrundeliegenden Umständen und den gesammelten Informationen vorgenommen werden muss.287 Der Mitgliedstaat kann im Rahmen der Gesamtbewertung je nach Einschätzung des Intensitätsgrads bestimmter Umstände und der zugrunde gelegten fachlichen Wertung im Rahmen des Ausweisungsprozesses zu einer Vielzahl von vertretbaren Ergebnissen kommen.288 Gegenüber dem objektiv Rechtsanwendenden erschließt sich nicht automatisch, folglich ohne Offenlegung des fachlichen Bewertungsprozesses, wie die zuständige Stelle die geeignetsten Gebiete ermittelt hat,289 dies zuletzt nicht deshalb, da keine weiteren normativen und bzw. oder untergesetz­ lichen Maßstäbe für eine solche Ermittlung vorgegeben sind. Dabei suggeriert die Verwendung von „zahlen- und flächenmäßig“ unter dem Aspekt des Grundsatzes bester und fortschrittlichster wissenschaftlicher Erkenntnis, dass in jedem Fall naturschutzfachlich haltbare Daten für die weitere Beurteilung der „Geeignetheit“ durch die Behörde herangezogen werden müssen.290 Bei dem Wortlaut „einschlägi 285

Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 II 2 Rn. 22; § 11 IV 1 23 f. Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 23; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 157; zur Offenheit von Rechtsbegriffen vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 24; Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2002, § 10 Rn. 23; etwas anders Maurer / Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 27 ff.; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 195. 287 Welche eine Anwendungsanstrengung darstellt vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 1 Rn. 23; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 195. 288 Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, Rn. 23, BVerwGE 149, 229. 289 Instruktiv EuG, Urteil vom 12. 02. 2008 – T-289/03 Rn. 113, 114 ff., BUPA / Kommission, – juris; vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 12; Wolff, in: Sodan /  Ziekow, Rn. 303; Gerhard, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  62; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, § 10 Rn. 65; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder Allgemeines, Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 23. 290 Insofern hat der Unionsgesetzgeber ein Abwägungsergebnis vorgegeben, Epiney, UPR 1997, S. 303, 306. 286

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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ger wissenschaftlicher Informationen“ in Art. 4 Abs. 1 S. 1 FFH-RL ist die naturwissenschaftliche Verweisung insbesondere in Verbindung mit den Kriterien des Anhangs III der FFH-RL und vor dem Hintergrund der Hinweise in Art. 4 Abs. 1 S. 2 FFH-RL noch eindeutiger. Sowohl nach der FFH-RL als auch nach der VRL hat die Qualifizierung solcher Gebiete ausschließlich naturschutzfachlich zu erfolgen,291 sodass naturschutzfremde Belange, beispielsweise wirtschaftliche, soziale und kultureller Art, zurückzustellen sind.292 Aufgrund der direkten Verweisung auf die Vorschriften der FFH-RL und der VRL in § 32 BNatSchG ergibt sich für das deutsche Recht nichts Abweichendes. (2) Übertragung auf die Vorschriften der FFH-RL und WRRL bzw. des BNatSchG und WHG Aufgrund der wortgleichen Transformation in das deutsche Recht sowie Verweisungen auf die FFH-RL und WRRL durch technische Begrifflichkeiten ist die Etablierung unbestimmter Rechtsbegriffe im nationalen Recht wenig abwechslungsreich, sodass eine direkte Bezugnahme zur Richtlinie offenkundig wird. Bei Heranziehung des europäischen Fundaments der ökologischen Verwaltungsfreiräume können im Anschluss an die vorstehenden Ausführungen derartige unbestimmte Rechtsbegriffe mit ökologischem Auslegungsbedürfnis festgestellt werden. (a) Unbestimmte Rechtsbegriffe der Art. 6 und 12 FFH-RL In Art. 6 Abs. 1 bis Abs. 4 FFH-RL sind unter anderem durch die Mitgliedstaaten „nötige Erhaltungsmaßnahmen“ festzulegen, welche den „ökologischen Erfordernissen“ der in natürlichen Lebensräumen vorkommenden Arten entsprechen, „geeignete Maßnahmen“ zu treffen, um Verschlechterungen der „natür­lichen Lebensräume und Habitate“ zu vermeiden, die Verträglichkeit von Plänen oder Projekten mit den festgelegten „Erhaltungszielen“ des jeweiligen Gebietes im Hin 291 So etwa zu Feuchtgebieten vgl. EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn.  26; Fisahn / Cremer, NuR 1997, S. 268, 274; Gellermann, NuR 1996, S. 548, 555; a. A. OVG Münster, Beschluss vom 11. 5. 1999 – 20 B 1464/98.AK, Rn. 51, NVwZ-RR 2000, S. 490. 292 EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996  – Rs. C-44/95, Lappel Bank; EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 25. 11. 1999 – Rs. C-96/98, Poitou-Sümpfe; EuGH, Urteil vom 07. 12. 2000 – Rs. C-374/98, Basses Corbieres; EuGH, Urteil vom 13. 06. 2002  – Rs. C-117/00, Kommission / Irland; EuGH, Urteil vom 06. 03. 2003, Rs. C-240/00, Kommission / Finnland; EuGH, Urteil vom 05. 12. 2002 – Rs. C-324/01, Kommission / Belgien; EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006 – Rs. C-191/05, Kommission / Portugal; EuGH, Urteil vom 25. 10. 2007 – Rs. C-334/04, Griechenland / Kommission.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

blick auf „erhebliche Beeinträchtigungen“ zu überprüfen und unter Umständen „notwendige Ausgleichsmaßnahmen“ zur Sicherstellung der „globalen Kohärenz von Natura 2000“ durchzuführen. Bei nötigen oder geeigneten Maßnahmen der Abs. 1, 2 und 4 FFH-RL handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die eine Vielzahl von Auslegungsergebnissen darbieten können,293 allerdings wird durch die Bezugnahme zu „ökologischen Erfordernissen“, „natürlichen Lebensräumen und Habitaten“ und der „globalen Kohärenz von Natura 2000“ sowie der generellen Heranziehung des 16. und 17. Erwägungsgrundes die Anknüpfung naturwissenschaftlicher Maßstäbe im Rahmen der Auslegung intendiert,294 sodass die Erkenntnisproblematik unbestimmter Rechtsbegriffe auf die naturwissenschaftliche Ebene beschränkt wird. Gleichzeitig ist im Fall der Verträglichkeitsprüfung gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL eine etwaige erhebliche Beeinträchtigung des Gebietes durch den Plan oder das Projekt nicht in genereller Hinsicht zu überprüfen, sondern anhand der im Vorfeld „festgelegten Erhaltungsziele“ des jeweiligen Gebietes, welche spezifischen naturwissenschaftlichen Anforderung an die Wiederherstellung und Erhaltung von besonderen Gebieten folgen.295 Die Beeinträchtigungsüberprüfung folgt daher ebenfalls einem rein naturwissenschaftlichen Maßstab,296 welcher anfällig für vertretbare wissenschaftliche Meinungsdiskrepanzen ist. Selbst die restriktive Gewissheits-Rechtsprechung des EuGH bezüglich der Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL verändert dies nicht, da das Erfordernis der Nutzung von „besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnissen“ keine Garantie für die verwaltungsrechtliche Idealentscheidung sein muss. Sogar bei Nutzung der besten Erkenntnisse in wissenschaftlicher Hinsicht verbleibt die Möglichkeit der Meinungsdiversität.297 Auf nationaler Ebene weist § 33 Abs. 1 BNatSchG den Rechtsbegriff „erhebliche Beeinträchtigung“ auf, welcher im Zusammenhang mit dem Natura-2000-Gebiet steht. Des Weiteren finden sich im Kontext zu Natura-2000 und in wortgenauer Anlehnung an die FFH-RL in § 34 Abs. 1, 2 und 4 BNatSchG „erhebliche Beeinträchtigungen“ und „notwendige Maßnahmen“. Die Anknüpfung an Natura-2000 erlaubt durch das Rekurrieren auf die VRL oder FFH-RL gemäß § 31 BNatSchG eine oben dargestellte naturwissenschaftliche Ausfüllung.

293

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, Rn. 23, BVerwGE 149, 229. Zur naturschutzfachlichen Komponente siehe Teil 3 A. I. 1. b) ff. 295 E contratio Art. 4 Abs. 4 FFH-RL; ausführlicher Prüfungsablauf in Teil 3 A. I. 1. b) cc) ff. 296 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 46–48; ausführlich Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement  – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 29; EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 54; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 45, BVerwGE 148, 373; EuGH, Urteil vom 17. 04. 2018 – Rs.  C-441/17, Kommission / Polen, Rn.  138. 297 Richtig daher zu § 34 Abs. 1 BNatSchG entsprechend für Art. 6 Abs. 3 FFH-RL Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 142 f. 294

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Nach Art. 12 FFH-RL haben Mitgliedstaaten die „notwendigen Maßnahmen“ zu treffen, um ein strenges Schutzsystem für das Verbot des absichtlichen Fangs oder der Tötung der in Anhang IV aufgelisteten Tierarten, jeder absichtlichen Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten, jeder absichtlichen Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur und jeder Beschädigung oder Zerstörung der Fortpflanzungs- und Ruhestätten zu gewährleisten. Überwiegend knüpft die Vorschrift an naturschutzfachliche Begriffe an, die nicht allein aus der Richtlinie erschlossen werden können und eine naturwissenschaftliche Betrachtung erfordern.298 Scheinbar simplere Tatbestandsvoraussetzungen wie „Tötung der geschützten Arten“ sind im Rahmen von Vorhabenzulassungsprüfungen insbesondere und angesichts des präventiven Schutzzwecks ebenfalls ausschließlich naturschutzfachlich zu würdigen.299 Im Anschluss an die deutsche Signifikanz-Rechtsprechung300 wurde im BNatSchG demgegenüber zur Tatbestandseingrenzung zusätzlich der unbestimmte Rechtsbegriff „Erhöhung des signifikanten Verletzungs- und Tötungsrisikos“ in § 44 Abs. 5 Nr. 1 BNatSchG installiert.301 Im Rahmen dessen sind verschiedene Wertungen vertretbar, da es sich um eine naturschutzfachliche Frage handelt.302 Hier besteht grundsätzlich auch keine verwaltungsrechtliche Ideal­entscheidung. (b) Unbestimmte Rechtsbegriffe der Art. 4 Abs. 1 lit. a und Abs. 3 lit. a WRRL Zwar finden sich in Art. 2 Nr. 8 und 9 WRRL Begriffsbestimmungen für die unbestimmten Kriterien „erheblich veränderte Gewässer“ und „künstliche Wasserkörper“ des Art. 4 Abs. 3 WRRL,303 allerdings bleibt eine signifikante semantische Erfassung dieser Begrifflichkeiten, welche zu einer einheitlichen Auslegung 298

Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. 03. 2009 – 9 A 39.07, Rn. 69, BVerwGE 133, 239; BVerwG, Urteil vom 13. 05. 2009  – 9 A 73.07, Rn. 90, NVwZ 2009, 1296; BVerwG, Urteil vom 23. 04. 2014 – 9 A 25.12, Rn. 104, BVerwGE 149, 289; zu diesen unbestimmten Rechtsbegriffen folglich ökologischer Auslegungsleitfaden, Länderarbeitsgemeinschaft Naturschutz (LANA), Hinweise zu zentralen unbestimmten Rechtsbegriffen des Bundesnaturschutzgesetzes, 2010. 299 BVerwG, Beschluss vom 08. 03. 2018 – 9 B 25.17, Rn. 90, DVBl. 2018, 1179. 300 BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06, Rn. 219, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 90 f., BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 14. 07. 2011 – 9 A 12.10, Rn. 99, BVerwGE 140, 149; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 98, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22.11, Rn. 118, BVerwGE 146, 145; BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 11, BVerwGE 147, 118; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12 Rn. 114, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Beschluss vom 23. 01. 2015 – 7 VR 6.14, Rn. 30, NVwZ-RR 2015, 250; vgl. dazu Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222; Möckel, NuR 2014, S. 381 (387). 301 Mit Gesetz zur Änderung des BNatSchG vom 15. 09. 2017, BGBl. I, S. 3434. 302 Bick / Wulfert, NVwZ 2017, S. 346, 348. 303 Durner, NuR 2010, S. 452, 458; Durner, NuR 2019, S. 1, 4.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

führen würde, aus.304 Die Definitionen „[…] ein von Menschenhand geschaffener Oberflächenwasserkörper“ sowie „[…] ein Oberflächenwasserkörper, der durch physikalische Veränderungen durch den Menschen in seinem Wesen erheblich verändert wurde […]“ bestärken lediglich die Vermutung der verpflichtenden hydrologischen Interpretation, welche den Begriffen selbst schon anhaftet. Diese Definition wurde in § 3 Nr. 4 und 5 WHG übernommen, worauf sich § 28 WHG zur Einstufung künstlich und erheblich veränderter Gewässer bezieht. Auch die Frage nach der „Verschlechterung“ und dem Ausbleiben einer „Verbesserung“ der Oberflächengewässer im Rahmen von Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (i) und Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (ii), (iii) WRRL bzw. § 27 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 WHG ist aufgrund der fachgesetzlichen Einbettung sowie der Verknüpfung mit Anhang V der WRRL rein hydrologisch zu beurteilen.305 Den Mitgliedstaaten wird jedoch für die Feststellung einer Verschlechterung bzw. der Unterschreitung einer Verbesserung mittels dieser Kriterien kein Spielraum belassen.306 Anhang V beschreibt den Zustand der Oberflächengewässer primär anhand gewässerökologischer Begrifflichkeiten und Standards, ohne dabei präzise zu beachtende gewässerökologische Methoden oder Verfahren festzusetzen, sodass der Weg zu Ermittlung der verschiedenen Qualitätskomponenten offen bleibt,307 allerdings eine hydrologische Interpretation verpflichtend ist. bb) Vermeintliche Auslegungssicherheit durch Schleusenbegriffe Fraglich ist, ob die Auslegungsmöglichkeiten durch die Kanalisierung des Bewertungsmaßstabes auf ein naturwissenschaftliches Fundament eingegrenzt werden können und somit die gerichtliche Nachprüfung aufrechterhalten werden kann, da im Grundsatz die naturwissenschaftliche Betrachtung nur ein logisches Auslegungsergebnis offenbare.308 Denkbar ist, dass die naturwissenschaftliche Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs (Schleusenbegriff) daher faktisch zu dem Korrespondieren mit den Dimensionen eines bestimmten Rechtsbegriffs führt und eine Invisibilität des Auslegungsprozesses verhindert.

304

Zu Problemen der Vereinheitlichung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, Durner, NuR 2010, S. 452, 458. 305 Vgl. EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, Rn. 30, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner); EuGH, Urteil vom 03. 10. 2013 – Rs. C-317/12, Rn. 19, Lundberg; EuGH, Urteil vom 14. 11. 2013 – Rs. C-187/12 bis C-189/12, C-187/12, C-188/12, C-189/12, SFIR, Rn. 24; EuGH, Urteil vom 12. 02. 2015 – Rs. C-114/13, Bouman, Rn. 32. 306 EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2. 307 Vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 02. 10. 2014 – 7 A 14.12, Rn. 6, DVBl. 2015, 95. 308 Davon ausgehend anscheinend auch BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 6.15, Rn. 28, BVerwGE 156, 136; BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2013, Rn. 15 – 4 C 1.12 – BVerwGE 147, 118; darstellend Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, S. 32 f.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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(1) Ausnahme: Auslegungseinschränkende Wirkung Die auslegungseinschränkende Wirkung stellt jedoch den Ausnahmefall dar. Dies wird besonders deutlich am Beispiel des „faktischen Vogelschutzgebietes“ bzw. „potentiellen FFH-Gebiet[es]“. Bei einem faktischen Vogelschutzgebiet handelt es sich um ein Gebiet, das nach ornithologischer Sicht für die Erhaltung der Vogelarten nach Art. 4 Abs. 1 oder Zugvogelarten nach Abs. 2 VRL von so erheblicher Bedeutung ist, dass es dem geeignetsten Gebiet im Sinne des Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL entspricht.309 Von einem potentiellen FFH-Gebiet ist dann auszugehen, wenn es die sachlichen Kriterien nach Art. 4 Abs. 1 FFH-RL erfüllt, die Aufnahme in ein kohärentes ökologisches Netz in Zusammenhang mit anderen, bereits unter förmlichen Schutz gestellten Gebieten naheliegt oder sich geradezu aufdrängt und der Mitgliedstaat weder die Richtlinie umgesetzt noch eine Liste nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 FFH-RL der EU-Kommission zugeleitet hat.310 Konsequenterweise ist der unionsrechtlich garantierte Entscheidungsspielraum in beiden Fällen aufgrund ökologisch besonders gewichtiger Gründe311 auf null reduziert.312 Ein mit dem faktischen Vogelschutzgebiet bzw. potentiellen FFH-Gebiet im Rahmen naturschutzfachlicher Einschätzungsprärogativen auf der Ebene der FFH-RL bzw. der WRRL hinsichtlich der auslegungseinschränkenden Wirkung übereinstimmendes Institut könnte die Selbstbindung der Verwaltung darstellen.313 Mit Blick auf die divergierenden Ansätze wissenschaftlicher und dem gegenüber grundrechtlicher Art sind diese Institute nicht vergleichbar. Die entsprechend ver-

309 EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90 – Rs. „Kommission / Spanien“, Rn. 26, Slg. 1993 I–4221 ff.; BVerwG, Urteil vom 31. 01. 2002 – 4 A 15.01 und 21.01 – DVBl. 2002, S. 990; OVG Koblenz, Urteil vom 09. 01. 2003 – 1 C 10393/01, NuR 2003, S. 438; BVerwG, Beschluss vom 12. 06. 2003 – 4 B 37.03 – NVwZ 2004, S. 98; ein faktisches Vogelschutzgebiet werde bis zur Ausweisung durch den Mitgliedstaat als besonderes Schutzgebiet gemäß Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL unter das restriktive Schutzregime des Art. 4 Abs. 4 VRL gestellt, vgl. EuGH, Urteil vom 07. 12. 2000  – Rs. C-374/9, Kommission / Frankreich, Rn. 51; EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007 – Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 173; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14 –, BVerwGE 154, 73–137, Rn. 56. 310 BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998  – 4 A 9.97, BVerwGE 107, 1; BVerwG, Urteil vom 27. 10. 2000 – 4 A 18.99, BVerwGE 112, 140; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59.14, NuR 2015, 772; Gellermann, NVwZ 2002, S. 1202 ff.; siehe Fisahn, Ausweisungspflicht von FFH-Gebieten – Verpflichtung der Mitgliedstaaten; Kontrollmöglichkeiten der Kommission; potentiell faktische FFH-Gebiete; kritisch Durner, Konflikte räumlicher Planungen. Verfassungs-, verwaltungs- und gemeinschaftsrechtliche Regeln für das Zusammentreffen konkurrierender planerischer Raumansprüche, S. 535, 536. 311 Abgeleitet aus EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993  – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26 ff. 312 So ebenfalls OVG Münster, Beschluss vom 11. 05. 1999 – 20 B 1464/98.AK –, Rn. 11, NVwZ-RR 2000, S. 490; OVG Schleswig, Urteil vom 15. 02. 2001 – 4 L 92/99 – ZUR 2001, S. 282. 313 Sofern eine Eigenprogrammierung vorgenommen wurde vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. 06. 2019, 12 ME 57/19, NVwZ-RR 2019, 1040; grundsätzlich siehe Scheuing, in: Gesetzgebung im Rechtsstaat. Selbstbindungen der Verwaltung, S. 155 ff., insbesondere S. 161.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

gleichbare wissenschaftlich basierte Auslegungseinschränkung bietet daher nur die Grenze der Unvertretbarkeit. (2) Grundsatz: Vielzahl der Auslegungsergebnisse Ungeachtet dessen handelt es sich bei dem Variieren der wissenschaftlichen Auslegungsergebnisse um den grundsätzlichen Fall der schlichten naturwissenschaftlichen Verweisung durch Schleusenbegriffe ohne eine weitere normative Konkretisierung bzw. Handlungsanweisung.314 (a) Gebietsausweisungsverfahren, Art. 4 VRL Die mitgliedstaatliche Entscheidung zur Bestimmung der geeignetsten Gebiete gemäß Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL beinhaltet ein dreigliedriges Pflichtenprogramm der Mitgliedstaaten,315 wobei mit jeder Pflicht eine Entscheidung verbunden ist. Es besteht die Pflicht, wissenschaftlich vertretbare Daten heranzuziehen (Entscheidung über die Datengrundlage), die Pflicht, wissenschaftliche Auswahlkriterien festzulegen (Entscheidung über Auswahlkriterien) und schließlich unter stringenter Anwendung der wissenschaftlichen Kriterien die geeignetsten Gebiete auszuwählen (Gebietsauswahlentscheidung).316 So können auf der ersten Stufe des Gebietsausweisungsverfahrens divergierende ökologische Datensätze abgerufen werden, welche die Tatsachengrundlage der nächsten Schritte bilden. Solange diese wissenschaftlich vertretbar sind, besteht somit die Möglichkeit verschiedener Auswahlkonzepte. Auf der dritten Stufe der Gebietsausweisungsentscheidung ist sodann eine vergleichende Bewertung der geeigneten Gebiete nach den statuierten avifaunistischen Auswahlkriterien der zweiten Stufe vorzunehmen, um die geeignetsten Gebiete zu bestimmen. Im Zuge dieses Bewertungsprozesses können divergierende fachliche Bewertungen vorgenommen werden, die nach den wissenschaftlichen Grundsätzen der Ornithologie bzw. Ökologie vertretbar sind.317 (b) Tatbestände in der FFH-RL und WRRL Bezugnehmend auf die erste Stufe der Gebietsausweisungsentscheidung gilt für die Bestandsaufnahme von Lebensraumtypen und Arten gemäß Art. 6 und 314

Insofern bleiben naturwissenschaftliche Kenntnisse erforderlich vgl. Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 33 ff. 315 Zu Rechtsschutzproblemen bei mehrstufigen Verwaltungsentscheidungen der Raumplanung sowie generell, Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 10. 316 Anders Füßer, NuR 2004, S. 701, 703; Möckel, NuR 2014, S. 381, 383. 317 BVerwG, Urteil vom 14. 11. 2002 – 4 A 15/02 –, Rn. 28, BVerwGE 117, 149.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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12 FFH-RL318 sowie von Gewässern nach Art. 13 Abs. 4 in Verbindung mit Anhang VII WRRL319 Entsprechendes. Datensätze, die einer Bestandsaufnahme zugeführt werden, können abhängig von den zugrunde gelegten Methoden freilich unterschiedlich sein, sofern dies außerrechtliche vertretbare wissenschaftliche Standards zulassen. Der ökologische Verwaltungsfreiraum erschöpft sich in einer naturschutzfachlichen Auswahlprärogative.320 Weiterhin sind für die Verwaltungsentscheidungen basierend auf Art. 6 und Art. 12 FFH-RL sowie Art. 4  WRRL entweder wissenschaftliche Kriterien bzw. Definitionen, teilweise unzureichend, vorgegeben321 oder müssen im Wege der Planungsinstrumente durch die Mitgliedstaaten aufgestellt bzw. konkretisiert werden,322 sodass lediglich partiell Parallelen zu der Gebietsausweisungsentscheidung auf der zweiten Stufe bestehen. Im Hinblick auf die beschriebene dritte Stufe des Gebietsausweisungsverfahrens ist weiter zu differenzieren, so sind beispielsweise bei der abschließenden hydrologischen Beurteilung einer Verschlechterung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 lit. A WRRL die wissenschaftlichen Kriterien des Anhangs V der WRRL zwingend heranzuziehen und im Wege der unionsgerichtlichen Vorgabe anzuwenden;323 doppelte oder mehrfache Beurteilungsergebnisse resultieren nur aufgrund der Aufnahme eines vorhergehenden divergierenden Bestandes unter Heranziehung anderer vertretbarer Methoden. Aufgrund der unionsgerichtlichen Judikatur entspricht Vorstehendes auch dem Modus im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFHRL, weshalb über eine „erhebliche Beeinträchtigung“ nicht durch einen irgendwie gearteten Verwaltungsfreiraum befunden werden darf.324 Darüber hinaus müssen unzureichend konkretisierte Definitionen bzw. nicht hinreichend kodifizierte Kriterien gegebenenfalls noch fachwissenschaftlich elaboriert werden, sodass an dieser Stelle wiederum ein Zugriff auf außerrechtliche wissenschaft­liche Maßstäbe erfolgt. In etwa müsste für die Frage des Vorliegens eines erheblich veränderten Wasserkörpers gemäß Art. 4 Abs. 3 lit. a WRRL eine hydrologische Aufarbeitung der unbestimmten Definition gemäß Art. 2 Nr. 9 WRRL erfolgen, weshalb ein uneinheitlicher naturwissenschaftlicher Meinungsstand zu befürchten ist.325 Schließ 318

Siehe u. a. BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013  – 7 C 40.11, Rn. 16, NVwZ 2014, 524; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633. 319 BVerwG, Beschluss vom 02. 10. 2014 – 7 A 14.12, Rn. 6, DVBl. 2015, 95; BVerwG, Beschluss 28. 04. 2016 – 9 A 9.15, Rn. 30, 128, BVerwGE 155, 91. 320 Siehe Teil  3  A. I. 3. ff. und A. I. 4. 321 Siehe Anhang V der WRRL zur Bestimmung von Verschlechterungen oder der Unterschreitung des Verbesserungsgebotes gemäß Art. 4 Abs. 1 lit. a WRRL; Art. 4 Abs. 3 lit. a i. V. m. Art. 2 Nr. 8 und 9 WRRL; Art. 12 FFH-RL bereits schon in den einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen. 322 Die Erhaltungsziele als wesentliche Grundlage der „erheblichen Beeinträchtigung“ im Sinne des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL. 323 EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2. 324 Siehe EuGH; in einer naturwissenschaftlichen Patt-Situation ist daher ein Zweifelsgrundsatz anzunehmen siehe Teil  3 A. I. 1. b) cc) (2) (b) (bb). 325 Vgl. Durner, NuR 2010, S. 452, 458.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

lich ist auch die Aufklärung der artenschutzrechtlichen Betroffenheit im Sinne des Art. 12 FFH-RL naturschutzfachlich nicht stets eindeutig.326 (c) Zwischenergebnis Die mit einem Letztentscheidungsrecht behaftete Gebietsausweisungsentscheidung der VRL bzw. der FFH-RL stellt aufgrund des dreigliedrigen Aufbaus ein hervorragendes Vergleichsobjekt dar. Wichtig ist nicht ein vollständiger Gleichklang der Entscheidungsstrukturen, ausreichend ist vielmehr die partielle Übereinstimmung bestimmter Momente der verschiedenen wissenschaftlichen Entscheidungen ausgehend von den Auslegungsunwägbarkeiten vermittelt durch naturschutzfachliche Schleusenbegriffe. Führt man sich nun die naturwissenschaftliche Meinungsvielfalt327 und Bedeutungsvielfalt unbestimmter Rechtsbegriffe328 vor Augen, bestehen Überschneidungen bei der Wirkung naturwissenschaftlicher „Schleusenbegriffe“. Insofern wird die eigentliche Erkenntnisproblematik unbestimmter Rechtsbegriffe,329 welche scheinbar durch die Installation von Schleusenbegriffen ausgehebelt werden soll, nicht aufgelöst.330 Es verbleibt auf allen Stufen zumindest eine wissenschaftliche Auslegungsunsicherheit. cc) Abgrenzung: Tatsachenbezogene Verwaltungsfreiräume Von Schleusenbegriffen nicht umfasst sind Verwaltungsfreiräume, die sich auf die Tatsachenermittlung bzw. -findung beziehen und eine nicht nur unbedenkliche Auswirkung auf die gesamte Verwaltungsentscheidung haben.331 (1) Wirkung tatsachenbezogener Verwaltungsfreiräume In concreto beeinflusst beispielsweise die Wahl der Methode zur artenschutzrechtlichen Bestandsaufnahme die daraus gewonnene Tatsachengrundlage, welche im Rahmen der Überprüfung einer artenschutzrechtlichen Betroffenheit heran 326

U. a. vgl. BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 14, BVerwGE 147, 118. Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, Rn. 23, BVerwGE 149, 229. 328 Vgl. Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 12; Wolff, in: ­Sodan / Ziekow, Rn.  303; Gerhard, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  62. 329 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 22. 330 Vgl. derartige Schleusenbegriffe sind im Naturschutz- und Technikrecht keine Seltenheit siehe, Fehling, in: Trute / Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 469 ff. 331 In Ansehung des § 86 Abs. 1 VwGO berechtigter Kritik Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24 f.; Gellermann, NuR 2009, S. 85, 90; darüber hinaus siehe auch Lenz, DVBl. 2018, S. 605; Berkemann, ZUR 2016, S. 323, 327; Riese, in: Schoch / Schneider /  Bier, § 114 Rn. 144. 327

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gezogen wird.332 Gleichzeitig greift die naturschutzrechtliche Einschätzungsprärogative für die Feststellung der artenschutzrechtlichen Betroffenheit.333 Nichts anderes gilt für das Gebietsausweisungsverfahren nach Art. 4 VRL, da die maßgeblichen Daten über die relevanten Gebiete als Tatsachengrundlage im Rahmen wissenschaftlicher Vertretbarkeit freistehen und die Anwendung der Kriterien zur Bestimmung dieser Gebiete auf der entsprechenden Tatsachengrundlage einem Letztentscheidungsrecht gehorchen. Bereits aufgestellte Listen wie das „Inventory of Important Bird Areas“ (IBA), welche fortschreitend wichtige avifaunis­ tische Areale dokumentieren, sind als empirischer Mindeststandard zu beachten, sofern eine aktuelle Datenerhebung im jeweiligen Mitgliedstaat nicht stattfindet oder nur in unzureichender Weise stattgefunden hat.334 Es ist bereits zu bezweifeln, ob diese tatsachenbezogenen Verwaltungsfreiräume aus den Schleusenbegriffen bzw. unbestimmten Rechtsbegriffen resultieren. Der Schleusenbegriff bietet zunächst eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten bei der Feststellung von Tatbestandsmerkmalen, allerdings beschränkt sich die Deutungsmöglichkeit aufgrnd seines inkorporierten naturwissenschaftlichen Auslegungsgehaltes wiederrum .335 Freiräume und Erkenntnisprobleme hinsichtlich der behördlichen Bestimmung der Tatsachen sind dem fachlichen Unterbau des Umwelt- und Technikrechts geschuldet sowie teilweise der fehlenden normativen Maßstabsbildung und Handlungsanweisung bei unsicherem oder defizitärem Erkenntnisstand betreffend die Tatsachenermittlung.336 (2) Einordnung in Jestaedts Drei-Ebenen-Modell Dass die in Rede stehenden tatsachenbezogenen Verwaltungsfreiräume als außerrechtliche verankerte Ermittlungsproblematik nicht in Verbindung mit dem unbestimmten Rechtsbegriff in Gestalt des Schleusenbegriffs stehen, sondern generell aus der Fachspezialität des Umweltrechts sowie einer in Ansehung dessen versäumten Standardisierung der Tatsachenermittlung erwachsen, veranschaulicht Jestaedts Drei-Ebenen-Modell.337 Dieses Modell dient vornehmlich der Entkräftung des unbestimmten Rechtbegriffs als maßgebliches Differenzierungsmerkmal für die Unterscheidung administrativer Letztentscheidungsrechte, indem es 332

Siehe BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 16, NVwZ 2014, 524. BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 14, NVwZ 2014, 524. 334 Vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 54; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 46 ff. 335 Vgl. Fehling, in: Trute / Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 472, insbesondere S. 473; vgl. zu offenem Wortlaut BVerfG, Beschluss vom 08. 08. 1978 – 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89, 145 ff.; Wolff, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 114 Rn. 33. 336 Hwang, Bestimmte Bindungen unter Unbestimmtheitsbindungen, S. 105 ff.; siehe Fehling, in: Trute / Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 473 a. E., 474. 337 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff. 333

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Frageebenen betreffend die Verwaltungsentscheidungsstruktur und ihre (gerichtliche)  Kontrolle aufwirft sowie den Problem- bzw. Identifikationsschwerpunkt administrativer Letztentscheidungsrechte auf der Kompetenzverteilungsebene zwischen Justiz und Verwaltung lokalisiert.338 Gleichzeitig bietet dieses Modell jedoch eine präzise Trennung der unterschiedlichen Problemebenen betreffend Verwaltungsentscheidung, Letztentscheidungsrecht und unbestimmten Rechtsbegriff. Dabei ist zu fragen, (1.) wie die konkrete Norm auszulegen ist und welche für die Rechtsanwendung maßgeblichen Determinanten der Norm entspringen, sog. Interpretationsebene, (2.) in welchem Umfang der Rechtsanwender zu eigener Rechts­ erzeugung im Sinne einer Vornahme eigener Rechtskonkretisierung- und -individualisierungsbeiträge ermächtigt ist und in welcher Weise diese Rechtserzeugung vorgenommen wird, sog.  Konkretisierungsebene, (3.)  ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die vom Rechtsanwender betriebene Rechtskonkretisierung und -individualisierung einer (Gerichts-)Kontrolle zugänglich ist, sog. Kontrollebene.339 Dies zugrunde gelegt, sind Schleusenbegriffe als modifizierte unbestimmte Rechtsbegriffe auf der Interpretationsebene einzuordnen.340 Aus ihnen kann lediglich abgeleitet werden, dass der Rechtsanwendungsakt vornehmlich naturwissenschaftlichen Determinanten folgt. Aus der Ermangelung eines absoluten oder herrschenden Erkenntnisstandes in der Naturwissenschaft erwachsende Frage, welcher der verschiedenen und vertretbaren wissenschaftlichen Meinungsstände herangezogen wird, ist dagegen ein Problem des vorzunehmenden Beurteilungsund Entscheidungsaktes an sich, also der der Interpretationsebene folgenden Konkretisierungsebene.341 Auf der Konkretisierungs- und Kontrollebene sind sodann beschränkte judizierbare Verwaltungsfreiräume anzusiedeln.342 Die vorstehenden Frage- bzw. Problemebenen lassen jedoch keinen Raum für tatsachenbezogene Ermittlungsprobleme oder tatsachenbezogene Verwaltungsfreiräume, vielmehr ist bereits auf der Interpretationsebene und allen folgenden Ebenen von einer hinreichenden Tatsachengrundlage auszugehen. Sofern die Formulierung einer neuen Problemebene forciert wird, müsste von einer Fakten- oder Tatsachenebene gesprochen werden, die danach fragt, wie die Tatsachen im Einzelfall zu ermitteln sind.

338

Siehe auch Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005. Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff. 340 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 22. 341 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff.; insofern verbleibt Raum, sodass eine Selbstprogrammierung fraglich ist Schoch, in: Trute /  Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht  – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 549. 342 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff. 339

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dd) Zwischenergebnis Allen analysierten Vorschriften ist die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen gleich, jedoch fungiert der unbestimmte Rechtsbegriff in Gestalt der Schleusenbegriffe in erster Linie zur Einspeisung außerrechtlicher naturwissenschaftlicher Standards. Zwar unterstützt die Installation von Schleusenbegriffen zunächst die Verringerung der Erkenntnisproblemintensität herkömmlicher unbestimmter Rechtsbegriffe in semantischer Hinsicht und auch für relevante Auslegungsfragen, sodass sich eine naturschutzfachliche Interpretationsmethode eingrenzen lässt,343 welche den ökologischen Sachverhalten in fachgerechter Art und Weise Rechnung trägt, allerdings verbleiben dem unbestimmten Rechts­begriff ähnliche Erkenntnishindernisse in naturwissenschaftlichen Bereichen mit fehlendem absoluten oder herrschenden Erkenntnisstand.344 Letztere Interpretationsunzulänglichkeit stellt jedoch den Grundfall dar, dem rechtssicher lediglich mit weiteren gesetzgeberischen Handlungsanweisungen abgeholfen werden kann. Der Verweis auf außerrechtliche Standards in Bezug auf Methoden, Verfahren und Untersuchungen, die auf die naturwissenschaftliche Ermittlung durch die Behörde zur Feststellung der Tatsachengrundlage abzielen, sind dagegen nicht mit Schleusenbegriffen in Bezug zu setzen und davon zu trennen. Diese Freiräume stehen mit dem fachspeziellen ökologischen Charakter der entsprechenden Richtlinie und Gesetze in Verbindung mit dem Makel (unter-)gesetzlicher Konkretisierung oder einer vergleichbaren behördlichen Handlungsanweisung, insbesondere in den Fällen wissenschaftlicher Erkenntnisdefizite in Zusammenhang.345 Eine derartige Freiheit bei der Tatsachenermittlung in Kombination mit der Teilabschirmung gerichtlicher Überprüfung der Tatsachen im Nachhinein ist vor dem Hintergrund des gerichtlichen Amtsermittlungsgrundsatzes sowie des Rechtsschutzauftrags der Verwaltungsgerichte nicht unbedenklich.346 Durch die Anwendung des DreiEbenen-Modells wird zunächst die fehlende Relation des Schleusenbegriffs (bzw. unbestimmten Rechtsbegriffs) und der tatsachenbezogenen Einschätzungs- bzw. Auswahlprärogativen erschlossen. Außerdem wird deutlich, dass die Konkre­ tisierungskompetenzverteilung zwischen Justiz und Verwaltung, welche für echte administrative Letztentscheidungsrechte relevant ist, durch die Schleusenbegriffe nicht begründet wird,347 sodass derartige Schleusenbegriffe in Gestalt von unbestimmten Rechtsbegriffen administrative Letztentscheidungsrechte freilich nicht 343 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff.; ­Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006. 344 Dazu mehr in Teil 4. 345 Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 117, 214. 346 Siehe Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24 f.; Gellermann, NuR 2009, S. 85, 90; Lenz, DVBl. 2018, S. 605; Berkemann, ZUR 2016, S. 323, 327; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  144. 347 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff.; ­Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

allein begründen können,348 sondern lediglich problemträchtige Interpretationsbzw. Konkretisierungssituationen schaffen. c) Gerichtliche Kontrolle Kontrolldichte und Kontrollmaßstab variieren aufgrund der normativen Externalisierung naturschutzfachlichen Wissens in erheblicher Weise.349 Dies liegt vor allem an der Dynamik des wissenschaftlichen Fortschritts,350 der wissenschaft­ lichen Meinungsdiversität351 sowie unionsgerichtlich auferlegter individueller Zulassungshürden. Da die gerichtliche Kontrolle im Grundsatz nicht weiter reicht als die materiell-rechtliche Bindung der Verwaltung,352 fehlt es bei einer naturschutzfachlichen Meinungsdiskrepanz sowie insbesondere in naturschutzfachlich erkenntnisfreien Sphären an der normativ extrahierbaren verwaltungsrechtlichen Idealentscheidung.353 Von der naturschutzfachlichen Einschätzungs- bzw. Auswahlprärogative getragen sowie gerichtlich gebilligt werden sodann lediglich naturwissenschaftlich vertretbare Verwaltungsentscheidungen, sofern sich kein anerkannter Standard herausbildet oder herausgebildet hat.354 aa) Spannungsfeld: Vorsorgegrundsatz und gerichtliche Kontrolle Einen wichtigen kontrolldichteregulierenden Faktor stellt der im Umweltrecht existierende Vorsorgegrundsatz dar.355 Das Spannungsfeld zwischen gerichtlicher Kontrolle und dem Vorsorgegrundsatz wird bei der Gegenüberstellung der Prüfungsmodi des Habitatschutzrechts mit denen des Artenschutz- und Wasserrechts 348

Siehe Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006. BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 15, BVerwGE 147, 118; BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 2.16, Rn. 35, BVerwGE 156, 148; BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 6.15, Rn. 28, BVerwGE 156, 136. 350 Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 42. 351 Vallendar, UPR 2008, 1 ff.; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008  – 9 A 14.07, Rn. 64, BVerwGE 131, 274; Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 243. 352 BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 6.15, Rn. 18, BVerwGE 156, 136; BVerwG, Urteil vom 28. 11. 2007 – 6 C 42/06 Rn. 29, BVerwGE 130, 39; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1008; Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 243. 353 Fehlende Befugnis der Gerichte „falsch“ und „nichts rechtens“ zu beanstanden, siehe u. a. BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; bspw. BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 109 a. E., BVerwGE 130, 299; vor allem bei Hinzutreten von Spezialwissen vgl. Hegele, Die Bedeutung von Sachverständigengutachten für die richterliche Rechtskonkretisierung im Umweltschutz, S. 97; Gusy, DVBl. 1987, S. 497, 504. 354 BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 66, BVerwGE 131, 274. 355 Es verbleiben jedoch offene Fragen, die zu Folgeproblemen führen, Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 44. 349

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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sichtbar.356 Dies lässt sich zunächst wegen der Kontrolldichtediskrepanz zwischen habitatschutzrechtlichen und artenschutzrechtlichen Wertungen darstellen. Markant ist dabei die wissenschaftliche Vernünftigkeitshürde innerhalb der Verträglichkeitsprüfung bei Zweifeln an der Beeinträchtigungsfreiheit von Vorhaben,357 bei dem es sich um den Ausfluss des Vorsorgegrundsatzes handelt.358 Das Ausbleiben einer konkreten und restriktiven Gewissheits-Rechtsprechung des EuGH359 als Leitlinie deutscher Gerichte im Bereich des Artenschutzes erklärt, weshalb gleichgelagerte vorbeugende Prüfungen,360 die zwar verschiedene Schutzgegenstände (Arten- und Habitatschutz) fokussieren, denen jedoch ein entsprechend hohes Schutzniveau durch die Richtlinie zugutekommt,361 im deutschen Recht unterschiedliche Kontrolldichtevorgaben aufweisen.362 In dem alleinigen Ausbleiben einer spezifischen unionsgerichtlichen Rechtsprechung kann jedenfalls kein 356 Fraglich bleibt, ob die im europäischen Umweltrecht verankerten Vorsorgeprinzipien bei der Anerkennung von administrativen Letztentscheidungsrechten gerichtlich hinreichend überprüft werden können, dazu in Bezug auf Pflicht zur Ausermittlung aller wissenschaftlichen Unsicherheiten, Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM/2000/0001, S. 5; jedenfalls noch im Habitatschutzrecht aufgrund der Gewissheitsrechtsprechung, grundsätzlich dazu Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 209; im Wasserrecht dagegen gelockert, EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015  – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl.  2015,  1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 489 ff., BVerwGE 158, 1.; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 164; OVG Bremen, Urteil vom 4. 6. 2009 – 1 A 9/09 Rn. 121, NordÖR 2009, 460. 357 BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 94, BVerwGE 130, 299; zum faktischen Zweifelsgrundsatz, siehe Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (b) (bb), aufgrund der europäischen Hoheit über die FFH-RL und dem vermeintlichen Wertungswiderspruch zwischen Habitat- und Artenschutz bietet sich hinsichtlich administrativer Letztentscheidungsrechte die Anrufung des EuGH an. 358 Zum Vorsorgegrundsatz EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Rs. Herzmuschelfischerei, Rn. 58; theoretische Risiken sind im Rahmen des Vorsorgeprinzips nicht berücksichtigungsfähig, EuGH, Urteil vom 09. 09. 2003 – Rs. C-236/01, Monsanto Agricoltura Italia, Rn. 106 f.; EuG, Urteil vom 11. 09. 2002 – Rs. T-13/99, 152, Rn. 145; Stokes, Environmental Law Review 2005, S. 206, 212; siehe dazu ebenfalls Käller, in: Schwarze EU-Kommentar, Art. 191 AEUV, Rn. 29; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 208 ff. 359 Vgl. im Habitatschutzrecht EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 41; zu dem Verbleib von Ungewissheiten im Rahmen der Prüfung des Art. 16 FFH-RL nun EuGH, Urteil vom 10. 10. 2019 – Rs. C-674/17, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, Rn. 66. 360 Vgl. Schütte / Gerbig, in: Schlacke, BNatSchG, § 44 Rn. 8 ff.; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222. 361 Vgl. Art. 2 Abs. 1 Abs. 2 FFH-RL; siehe auch Rechtsprechung zum Artenschutz EuGH, Urteil vom 09. 06. 2011  – Rs. C-383/09, Kommission / Frankreich, Rn. 18–20; EuGH, Urteil vom 11. 01. 2007  – Rs. C-183/05, Kommission / Irland, Rn. 30; Lau, in: Frenz / Müggeborg, BNatSchG, § 44 Rn. 2; EuGH, Urteil vom 10. 10. 2019 – Rs. C-674/17, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, Rn. 27. 362 Außerdem konterkariert die weniger strenge artenschutzrechtliche Risikoprüfung den letztlich strengen Maßstab der Verträglichkeitsprüfung; teilweise kritisch Lau / Jacobs, NVwZ 2015, S. 241, 245 f. insb. Fn. 87; begründend Schütte / Gerbig, in: Schlacke, BNatSchG, § 44 Rn. 9; Weidemann / Krappel, EurUP 2011, S. 2 f.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

unionsrechtliches Gutheißen einer divergierenden Kontrolldichte gesehen werden. Die dadurch verkürzte (nationale)  Rechtschutzmöglichkeit in artenschutzrechtlichen Angelegenheiten vermag in Anbetracht des restriktiver gehandhabten Habitatschutzrechts nicht ganz zu überzeugen.363 Dies gilt erst recht, sofern sich die Behandlung von artenschutzrelevanten Unsicherheiten durch den EuGH vor Augen geführt wird, der unter Berücksichtigung des Vorsorgegrundsatzes eine Unterlassungspflicht für die Durchführung von artenschutzrechtlichen Ausnahmen im Sinne des Art. 16 FFH-RL durch die Mitgliedstaaten judiziert, sofern nach Überprüfung der besten wissenschaftlichen Daten eine Ungewissheit darüber bestehe, ob der Erhaltungszustand geschützter Arten gewahrt oder wiederhergestellt werde.364 Hierbei handelt es sich nicht um den konkreten Sachverhalt, über den die nationalen Gerichte entscheiden mussten, allerdings gibt die Handhabung von artenschutzrechtlichen Ausnahmen Aufschluss über den restriktiven Charakter des Artenschutzrechts und die Anforderungen an die von dem Entscheidungsträger und gegebenenfalls den Gerichten vorzunehmende Überprüfung. Ein Vergleich des Prognosebedürfnisses der Art. 6  Abs. 2, Art. 6 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 4 FFH-RL unter Beachtung der unionsgerichtlichen und deutschen Judikatur macht erkennbar, dass es sich bei dem kritischen Faktor um die Herabsetzung der restriktiven Handhabe des Vorsorgegrundsatzes und der damit einhergehenden Gewissheitsanforderungen handelt, was das BVerwG betont.365 Dadurch wird die Berücksichtigung von prognostischen Unwägbarkeiten bis zu einem – zunächst – von der deutschen Rechtsprechung vorgegebenen noch fachlichen Maß ermöglicht. Des Weiteren wird die Rolle des Vorsorgegrundsatzes bei erneuter Heranziehung des habitatschutzrechtlichen Maßstabs im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL (Gewissheit) gegenüber dem wasserrechtlichen Maßstab bei der Überprüfung von Vorhaben und Plänen auf Verstöße gegen das Verschlechterungsverbot bzw. das Verbesserungsgebot (ordnungsrechtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab) deutlich. Die deutsche Rechtsprechung stellt in Anerkennung der unionsgerichtlichen Judikatur eine tatsächlich weniger restriktive Haltung gegenüber Beeinträchtigungen im Wasserrecht fest.366 Daraus lasse sich 363

Gegenüberstellend, Fellenberg, NVwZ 2019, S. 177, 184 f.; anders, jedoch ablehnend vgl. Gassner, DVBl. 2012, S. 1479 ff.; Meßerschmidt, EurUP 2014, S. 11, 17; vgl. Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1226; a. A. Bick, NuR 2016, S. 73, 75; de Witt / Geismann, Artenschutzrechtliche Verbote in der Fachplanung, S. 51. 364 EuGH, Urteil vom 10. 10. 2019  – Rs. C-674/17, Rs. Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, Rn. 27, 66 f.; anders dagegen bei nachweisbar neutralen Maßnahmen EuGH, Urteil vom 14. 06. 2007 – Rs. C-342/05, Kommission / Finnland, Rn. 29. 365 BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 a. E., BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 13. 05. 2009 – 9 A 73.07, Rn. 70, NVwZ 2009, 1296; BVerwG, Urteil vom 03. 06. 2010 – 4 B 54.09, Rn. 21, NVwZ 2010, 1289; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 35, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12 Rn. 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 14.12, Rn. 421, BVerwGE 158, 1. 366 BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 215 480, 489 ff., BVerwGE 158, 1; EuGH, Urteil vom 01. 7. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2, Rn. 51.

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eine weniger strenge Geltung des Vorsorgegrundsatzes im Wasserrecht ableiten, was vor allem den methodischen Umgang mit naturwissenschaftlichen Unsicherheiten betrifft.367 Konsequenz der Nichtgeltung oder weniger strengen Geltung des Vorsorgegrundsatzes und der Geltung des ordnungsrechtlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs im Wasserrecht gegenüber dem Habitatschutzrecht ist auch die mögliche Eröffnung von Verwaltungsfreiräumen infolge komplexer gewässerökologischer Prognosen.368 Dies gilt erst recht für die Tolerierung etwaiger Unsicherheiten.369 Zu berücksichtigen hierbei ist wiederum die Wahl der ökologischen Methoden, Datenerhebungen, Standards und des Verfahrens bis zur Grenze der Unwissenschaftlichkeit, welche durch die Behörde bestimmt werden können.370 bb) Ausgestaltung gerichtlicher Kontrolle Im Anschluss daran ist die zurückgefahrene Kontrolle von einer Offenkundigkeitskontrolle geprägt, welcher prozedurale Elemente inhärent sind. Der naturwissenschaftliche Teil der Verwaltungsentscheidung weist zusätzlich eine an dem außerrechtlichen Wissenschaftsstand ausgerichtete (besondere) dynamische Kontrolltiefe auf. Dies kann bei Vorliegen naturwissenschaftlich fundierter und gesicherter Erkenntnisse eine Plausibilitätskontrolle in eine vollständige Kontrolle umfunktionieren. (1) Vertretbarkeits- und Plausibilitätskontrolle Innerhalb der gerichtlichen Kontrolle ist wiederum zwischen den Verwaltungsfreiräumen zu unterscheiden. Tatsachenbezogene Verwaltungsfreiräume371 werden im Rahmen der prozeduralisierten Sachverhaltskontrolle überprüft.372 Hierbei stehen Ermittlungs- und Bewertungsdefizite im Fokus.373 Für die im Anschluss zu 367

BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 510 a. E., BVerwGE 158, 1. Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 164; OVG Bremen, Urteil vom 04. 06. 2009 – 1 A 9/09 Rn. 121, NordÖR 2009, 460. 369 Insofern wird von Überschätzungen abgesehen, BVerwG, Urteil vom 9. 2. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 510 a. E., BVerwGE 158, 1. 370 BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 533 ff., BVerwGE 158, 1; BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05 Rn. 109– BVerwGE 128, 1. 371 Hier bereits Teil  3  A. II. 1. a) cc) ff. 372 Kahl / Burs, DVBl. 2016, 1222, 1223; Brandt, Das neue Helgoländer Papier – Konsequenzen für die Rechtspraxis in Windenergienutzung aktuelle Spannungsfelder und Lösungsansätze, S. 148; grundsätzlich Brüning, Die Verwaltung 48 (2015), S. 155, 163 f.; Schmidt-­ Aßmann, DVBl. 1997, S. 281, 283. 373 Siehe BVerwG, Urteil vom 31. 01. 2002 – 4 A 15/01, Rn. 97 – NVwZ 2002, 1103; BVerwG, Urteil vom 09. 06. 2004 – 9 A 11/03, Rn. 129, 130, NVwZ 2004, 1486; BVerwG, Urteil vom 18. 03. 2009 – 9 A 40/07 Rn. 28, 32; NVwZ 2010, 66; BVerwG, Beschluss vom 07. 07. 2010 – 7 VR 2/10 –, Rn. 37, juris; BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 16, BVerwGE 147, 118; BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11 Rn. 20, NVwZ 2014, 524; erkennbar auch in 368

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kontrollierende konkrete Verwaltungsentscheidung können an dieser Stelle kausale Fehlerquellen identifiziert werden.374 Im Zuge der gerichtlichen Kontrolle von naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogativen versehenen Stellen im Bereich der Methoden- und Verfahrenswahl zur Ermittlung der Tatsachengrundlage und Bewertung naturschutzfachlicher Gegebenheiten wird die Richtigkeit durch die naturschutzfachliche Vertretbarkeit oder Plausibilität substituiert.375 Der entsprechende Vertretbarkeitsmaßstab gilt ebenfalls abseits tatsachenbezogener Verwaltungsfreiräume, also bei eingeschränkt judizierbaren Beurteilungen naturschutzfachlicher Art der Tatbestands- bzw. Rechtsfolgenseite.376 Da im Rahmen dieser naturschutzfachlichen Beurteilung zwangsläufig Tatsachen resultierend aus der Sachverhaltsermittlung eingestellt werden müssen, kann die Wechselwirkung zwischen der prozeduralisierten Kontrolle und der Vertretbarkeitskontrolle nicht abgetan werden.377 Verwaltungsentscheidungen mit tatsachenbezogenen sowie rechtsfolgenseitigen bzw. tatbestandlichen Verwaltungsfreiräumen führen BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12 Rn. 107, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), u. a. Rn. 234, 435, BVerwGE 158, 1; BVerwG, Urteil vom 06. 04. 2017 – 4 A 16.16 Rn. 58, DVBl. 2017, 1039; VGH München, Beschluss v. 15. 05. 2018 – 8 ZB 17.1341, Rn. 20, NuR 2019, 135; Kahl / Burs, DVBl. 2016, 1222, 1223; insofern mit den allgemeinen Mindestkontrollpflichten der Judikative korrespondierend, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 –, Rn. 17, 24, 25 ff., juris. 374 Siehe BVerwG, Beschluss vom 07. 07. 2010 – 7 VR 2/10 –, Rn. 37, juris. 375 BVerwG, Urteil vom 27. 06. 2013 – 4 C 1.12, Rn. 16, BVerwGE 147, 118; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 64 ff., insb. 68, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 18. 03. 2009 – 9 A 39.07, Rn. 115, BVerwGE 133, 239; BVerwG, Urteil vom 09. 06. 2004 – 9 A 11/03, Rn. 129, 130, NVwZ 2004, 1486. 376 BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12 Rn. 102, 107, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), u. a. Rn. 421, 464, BVerwGE 158, 1; BVerwG, Urteil vom 02. 11. 2017 – 7 C 25.15, Rn. 43 a. E., NVwZ 2018, 986 ff.; BVerwG, Urteil vom 28. 4. 2016 – 9 A 9.15, Rn. 128, BVerwGE 155, 9; BVerwG, Urteil vom 6. 4. 2017 – 4 A 16.16 Rn. 58, DVBl. 2017, 1039; BVerwG, Urteil vom 13. 03. 2008 – 9 A 3/06, Rn. 74, BVerwGE 130, 299; daran anschließend BVerwG, Urteil vom 28. 12. 2009 – 9 B 26/09, Rn. 12, NVwZ 2010, 380; BVerwG, Urteil vom 14. 07. 2011 – 9 A 12/10, Rn. 62, BVerwGE 140, 149; OVG Münster, Urteil vom 18. 01. 2013 – 11 D 70/09.AK, DVBl. 2013, 374, 377; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2010 – 9 A 5/08, Rn. 53 f., BVerwGE 136, 291; BVerwG, Urteil vom 23. 04. 2014 – 9 A 25/12, Rn. 61 BVerwGE 149, 289; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Ls. 5, Rn. 64, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 74, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 83 a. E., 84, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 18. 03. 2009  – 9 A 39.07, Rn. 105, BVerwGE 133, 239; BVerwG, Urteil vom 09. 06. 2004 – 9 A 11/03, BVerwGE 121, 72–86, Rn. 118; BVerwG, Urteil vom 12. 08. 2009 – 9 A 64.07 Rn. 38, BVerwGE 134, 308; vgl. Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 243; siehe dazu auch Teil  3  A. I. 1. c) bb); Beckmann, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 21 ff.; zur verwaltungsgerichtlichen Vorgehensweise in Ansehung der Entscheidung des BVerfG, Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 44; Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 174. 377 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 57, 58.

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aufgrund des Überprüfungsverlusts der absoluten Richtigkeit von Verwaltungshandlungen bzw. -entscheidungen durch die Verzahnung prozeduraler Kontrolle und Vertretbarkeitskontrolle zu weiterem Kontrolldichteverlust. Dem mit Nostalgie verbundenen gerichtlichen Modus, bedingt durch die damals konstatierten Grundsätze der Ule’schen Vertretbarkeitslehre, wissenschaftliche Methoden und Vorgehensweisen anhand der Akzeptanz und Vertretbarkeit innerhalb ihrer wissenschaftlichen Sphäre zu würdigen, kann jedenfalls in Anbetracht der gesetzlichen Beschaffenheit nicht widersprochen werden, da sich angesichts der gerichtlichen Funktionsgrenzen nur dieser Vertretbarkeitsmaßstab basierend auf naturwissenschaftlichen Gegebenheiten anbietet.378 Soweit auf unionaler Ebene analysierbar, findet am Beispiel des Gebietsausweisungsverfahrens nach Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 VRL durch den EuGH zunächst keine prozedurale Kontrolle statt. Es ist festzustellen, dass die Wissenschaftlichkeit der Daten, auf denen die Gebietsausweisungserwägungen basieren, an außerrechtlich anerkannten Maßstäben gemessen werden. Insofern führen Mängel der wissenschaftlichen Grundlage im Rahmen der Ausweisungserwägungen des Mitgliedstaats regelmäßig zu der Substituierung durch IBA-Vorgaben als wissenschaftliches Mindestmaß.379 Sofern der Gerichtshof diese Substituierung auf die (fehlerhafte bzw. nicht vorhandene) Datengrundlage beschränkt, ersetzt er dadurch noch keine den Mitgliedstaaten freigestellten Freiräume mit einer eigenen Beurteilung, was dem (unions-)gerichtlichen Modus bei der Überprüfung von Letztentscheidungsrechten fremd wäre.380 Dies liegt daran, dass der EuGH den justiziablen Freiraum für die Gebietsausweisung auf die Anwendung der in der Richtlinie festgelegten Kriterien eingeschränkt hat,381 sodass die Bezugnahme auf bloße Daten des IBA als Mindeststandard seitens des EuGH keinen Eingriff in das Letztentscheidungsrecht der Mitgliedstaaten darstellt. Anders ist dies hingegen, wenn der EuGH die bloße Ausweisungsentscheidung der IBA übernimmt, da parallel die freigestellte Beurteilung der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Anwendung der

378

Brüning, Die Verwaltung 48 (2015), S. 155, 163 f.; Beckmann, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 22 f.; es verbleiben jedoch offene Fragen, die zu Folgeproblemen führen, Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 44; Seibert, NWVBl. 2015, S. 372, 373; Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 281, 286. 379 Vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 54; vgl. auch EuGH, 19. 05. 1998  – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 46 ff.; EuGH, Urteil vom 20. 03. 2003  – Rs. C-378/01, Kommission / Italien, Rn. 10; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2007  – Rs. C-388/05, Kommission / Italien, Rn. 19; EuGH, Urteil vom 18. 03. 1999,  – Rs. C-166/97 Kommission / Frankreich, Rn.  38. 380 Vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 77; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 353 ff.; Calliess, in: FS Götz, S. 241, 242; ebenfalls EuGH, Urteil vom 20. 05. 2010 – Rs. C-583/08 P, Gogos, Rn. 11; EuGH, Urteil vom 18. 03. 1975 – Rs. 78/74, Deuka, Rn. 9; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG, Rn. 145; auch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 283. 381 EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 39.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

ornithologischen Kriterien übergangen wird.382 Sodann wird unter Bezugnahme der Kriterien des IBA oder unter Bezugnahme anderer von dem Mitgliedstaat genutzter wissenschaftlicher Kriterien das tatsächliche Vorliegen der vorgetragenen Eignungsfaktoren überprüft.383 Von übergeordneter Bedeutung und regelmäßig Gegenstand gerichtlicher Rüge von Ausweisungsentscheidungen sind die Zahl und die Fläche der ausgewiesenen Gebiete.384 Vor allem bei einer negativ abweichenden Flächenausweisung werden die IBA-Listen vergleichend als Bezugsgrundlage herangezogen.385 Gegenstand volljustiziabler Überprüfung ist darüber hinaus noch das Vorliegen der in die Ausweisungsentscheidung einfließenden Kriterien gemäß der VRL als prioritäre ornithologische Aspekte für den Vogelartenschutz, wie beispielsweise die Häufigkeit des Vorkommens besonders schutzbedürftiger Arten im jeweiligen Gebiet oder eine Klassifizierung eines Gebiets als Feuchtgebiet, die nach ornithologischen Aspekten eher zu berücksichtigen sind.386 Nach Feststellung dieser Kriterien greift für die Frage der Anwendung dieser der mitgliedstaatliche fachliche Freiraum, weshalb eine ornithologische Vertretbarkeitskontrolle stattfinden müsste.387 Aufgrund der Beteiligung von Kommission sowie Mitgliedstaaten im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens388 und der damit einhergehenden Möglichkeit der intensiveren Kontrolle, ausgerichtet an ornithologisch anerkannten Listen, ist eine ausführlichere Auseinandersetzung durch den EuGH möglich, sodass der Raum für die unionsrechtlich garantierte mitgliedstaatliche Freiheit zwar verbleibt,389 allerdings kaum spürbar ist.390 382

Soweit nichtwissenschaftliche bzw. wissenschaftlich unzureichende Erwägungen durch einen Mindeststandard ersetzt wurden, kommt es im Rahmen der unionsgerichtlichen Prüfung von ausweisungspflichtigen bzw. nichtausweisungspflichtigen Gebieten nicht mehr auf die Letztkonkretisierung hinsichtlich der Anwendung der wissenschaftlichen Kriterien durch den Mitgliedstaat an, vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 82, 142. 383 Vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 82, 142. 384 EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993  – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 29; EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, „Kommission / Niederlande“, Rn. 63 f. 385 U. a. EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96 Rs. Kommission / Niederlande, Rn. 39 ff. 386 EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, „Kommission / Spanien“, Rn. 26; Fisahn /  Cremer, NuR 1997, S. 268, 274; Gellermann, NuR 1996, S. 548, 555; a. A. OVG Münster, Beschluss vom 11. 05. 1999 – 20 B 1464/98.AK, Rn. 51, NVwZ-RR 2000, S. 490. 387 Der Teil der eingeschränkten Prüfung ist begrenzt, woran auch der Gerichtshof erinnert, vgl. EuGH, Urteil vom 23. 03. 2006 – Rs. C-209/04, „Kommission / Österreich“, Rn. 33; EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 54. 388 Vgl. insbesondere EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 82, 142; EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 50. 389 Zustimmend Meßerschmidt, Europäisches Umweltrecht, § 13, Rn. 57; N. Koch, Die FFHRichtlinie im Spannungsfeld ökologischer und nicht-ökologischer Belange, S. 139. 390 Vor allem, da die auf der Ausweisung bzw. Nichtausweisung basierenden wissenschaftlichen bzw. nichtwissenschaftlichen Erwägungen regelmäßig verworfen wurden, vgl. EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998  – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 39 ff.; EuGH, Urteil vom 23. 03. 2006 – Rs. C-209/04, Kommission / Österreich, Rn. 44 f.; EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007  – Rs. C-418/04 Kommission / Irland, Rn. 54; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993  – Rs.  C-355/90, Kommission / Spanien, Rn.  26.

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Auf deutscher Ebene lässt sich die Wahrung dieses Letztentscheidungsrechts dagegen stärker wahrnehmen.391 (2) Kontrolldichtedynamik basierend auf wissenschaftlichen Faktoren Die Vertretbarkeits- und Plausibilitätskontrolle offenbart das antiproportionale Verhältnis des justiziablen Freiraums und der Kontrolldichte. Dies zugrunde legend tritt mit der wissenschaftlichen Komponente im Rahmen der Verwaltungsfreiräume eine Variable hinzu, die sich reziprok proportional zur Kontrolldichte verhält,392 woraus sich wiederum ein proportionales Verhältnis zwischen der wissenschaftlichen Komponente und dem Verwaltungsfreiraum ergibt.393 Das Maß an gerichtlicher Kontrolldichte bei mit naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogativen behafteten Verwaltungsentscheidungen bewegt sich primär auf einer wissenschaftlichen Skala. Die Kontrolldichte kann aufgrund der dynamischen Ausgestaltung des naturschutzfachlichen Verwaltungsfreiraumes daher freilich verschieden intensiv ausfallen, was die Möglichkeit des „faktischen Vogelschutzgebiets“394, des „potentiellen Schutzgebietes“395 und die Reduzierung des „Beurteilungsspielraums auf null“396 innerhalb der Rechtsprechung zu der Gebietsausweisungsentscheidung bzw. dem Gebietsausweisungsverfahren gemäß Art. 4 VRL und Art. 4 FFH-RL bestätigen. Denknotwendig kann nichts anderes bei den naturschutzfachlichen Verwaltungsfreiräumen des Habitatschutz-, Artenschutz-, und Wasserrechts gelten, ungeachtet dessen, ob es sich um Ermittlungs- oder Bewertungsspielräume handelt, sofern diese auf einen mangelnden Erkenntnisstand 391

BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14 –, Rn. 58, BVerwGE 154, 73; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06 –, Rn. 202; BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 15. 07. 2016 – 9 C 3/16 –, Rn. 27, NVwZ 2016, S. 1631; OVG Sachen, Urteil vom 15. 12. 2011 – 5 A 195/09 –, Rn. 475, DÖV 2012, S. 692. 392 In diese Richtung vgl. BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14, Rn. 58, BVerwGE 154, 73; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06 Rn. 58, BVerwGE 130, 299. 393 E contrario, da eine höhere Kontrolldichte durch Darlegung des geklärten Wissenschaftsstandes hätte erreicht werden können, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 –, Rn. 9, 13, juris; zur Dynamik naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, welche sich auf das Kontrollprogramm auswirkt und daher eine normative Verdichtung notwendig macht, Bick /  Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für MaxJürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 42. 394 EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90 –Kommission / Spanien, Rn. 26; BVerwG, Urteil vom 31. 01. 2002 – 4 A 15.01 und 21.01 – DVBl. 2002, S. 990; OVG Koblenz, Urteil vom 09. 01. 2003 – 1 C 10393/01 – NuR 2003, S. 438; BVerwG, Beschluss vom 12. 06. 2003 – 4 B 37.03 – NVwZ 2004, S. 98; Schladebach, Der Einfluss des europäischen Umweltrechts auf die kommunale Bauleitplanung, S. 161; Iven, UPR 1998, S. 361; Schink, GewArch 1998, S. 41. 395 BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998  – 4 A 9.97, BVerwGE 107, 1; BVerwG, Urteil vom 27. 10. 2000 – 4 A 18.99, BVerwGE 112, 140; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59.14, NuR 2015, 772. 396 OVG Münster, Beschluss vom 11. 05. 1999 – 20 B 1464/98.AK –, Rn. 11; NVwZ-RR 2000, S. 490; OVG Schleswig, Urteil vom 15. 02. 2001 – 4 L 92/99 – ZUR 2001, S. 282.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

zurückgehen. Entwickelt sich der außerrechtliche Meinungsstand dahingehend, dass nur noch bestimmte Methoden und Bewertungen anerkannt sind, dürfte nur noch ein eingegrenzter Vertretbarkeits- bzw. Plausibilitätsraum bestehen oder die klassische Richtigkeitskontrolle sogar gänzlich wiederaufleben.397 Insofern bestehen rechtsstaatlich bedenkliche außerrechtliche Einwirkungsmöglichkeiten auf die gerichtliche Kontrolle durch externes Fachwissen.398 Daneben stellt das Instrument der Selbstbindung der Verwaltung einen weiteren Treiber dar, der die Intensität der gerichtlichen Kontrolle steigern kann,399 was durch das Begründungserfordernis besonders gut überprüfbar ist.400 (3) Zusätzliche Voraussetzungen bei Prognoseelementen Die gerichtliche Kontrolle von Prognoseentscheidungen und die Kontrolle von allgemeinen Entscheidungen mit naturschutzfachlichen Auswahl- bzw. Einschätzungsprärogativen nähern sich anstandslos an, wenn es um die Überprüfung der wissenschaftlichen Vertretbarkeit der Prognosemethode geht.401 Die übrige Nachprüfung entspricht dem allgemeinen Überprüfungsmodus der Verwaltungsgerichte bei eingeschränkter Justiziabilität.402 Dabei handelt es sich etwa um die Frage nach einem hinreichend ausermittelten Sachverhalt, die Nachvollziehbarkeit der Begründung, die Überprüfung auf den Einfluss sachfremder Erwägungen und die Verhältnismäßigkeit zwischen künftigem Ereignis und Eingriff.403 Überprüft wird somit lediglich der rechtliche Rahmen der vorgenommenen Prognoseentscheidung, sodass die Kontrolle stets dieses gleiche Muster erkennen lässt.404 Je nach Fachspezialität kann die gerichtliche Kontrolle von Prognosen strenger gehandhabt werden. Dies macht sich unter anderem im Naturschutzrecht bemerkbar und zwar insbesondere im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung, die Unsicherheiten wegen 397 Bei letzterem verbleibt die gerichtliche Kontrolle konsequenterweise lediglich auf dem ersten Schritt des zweischrittigen Vorgehens siehe dazu Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 43; ebenfalls Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-­ Jürgen Seibert, S. 174. 398 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13 –, Rn. 24, juris; vgl. Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 43. 399 Wallerrath, Die Selbstbindung der Verwaltung, S. 17, 18; Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, S. 237; vgl. BVerwG, Urteil vom 28. 02. 1961 – I C 54.57, NJW 1961, 796. 400 BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 40, BVerwGE 158, 1; BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05 Rn. 109, BVerwGE 128, 1. 401 BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 156, BVerwGE 131, 274; vgl. BVerwG, Beschluss vom 05. 10. 1990 – 4 CB 1.90, NVwZ-RR 1991, 129, 131; m. w. N. BVerwG, Urteil vom 27. 10. 1998 – 11 A 1.97, BVerwGE 107, 313, 326. 402 Wolff, in: Sodan / Ziekow, VwGO § 114 Rn. 323. 403 Siehe Tettinger, DVBl. 1982, S. 421, 427. 404 Wolff, in: Sodan / Ziekow, VwGO § 114 Rn. 323; Ossenbühl, in: FS Menger, 1985, 731, 744 ff.

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eintretender Beeinträchtigungen kaum toleriert.405 So wird zusätzlich überprüft, ob Prognosen und Abschätzungen innerhalb der Verwaltungsentscheidung deutlich gemacht und begründet worden sind.406 d) Begründungsstränge ökologischer Verwaltungsfreiräume Die Annahme ökologischer Verwaltungsfreiräume innerhalb der Judikatur zum Umweltrecht folgt größtenteils drei Begründungssträngen. Die von Kahl und Burs dargestellten Begründungsstränge, „[…] (1.) die Notwendigkeit einer naturschutzfachlich wertenden Betrachtung; (2.) die komplexe Risikoprognose und -bewertung sowie (3.) im Rahmen der Bestandserfassung in FFH-Gebietsschutz und Artenschutz die gezielte Verweisung auf unsichere wissenschaftliche Erkenntnisse […]“407 sind grosso modo zu verifizieren. Dies bedeutet gleichzeitig, dass die ökologischen Verwaltungsfreiräume unabhängig von den zugrundeliegenden naturschützenden Gesetzen einheitlichen Faktoren gehorchen. Die festgestellten Begründungsstränge sind jedoch nicht ganz frei von Problemen,408 die teilweise zu einer Kollision mit der bestehenden Kasuistik zu administrativen Letztentscheidungsrechten im deutschen Recht führen.409 aa) Objektive Grenzen gerichtlicher Kontrolle durch unsichere wissenschaftliche Erkenntnisse Verfassungsrechtlich klassifiziert das BVerfG die Fälle des defizitären Wissenschaftsstandes bereits nicht als beschränkt justiziable administrative Letztentscheidungsrechte, sondern als Fälle objektiver Grenzen der gerichtlichen Kontrolle.410 Beiden Rechtsfiguren ist der gerichtliche Kontrollmodus beschränkter Justiziabilität gemein, allerdings besteht der Unterschied zu administrativen Letztentscheidungsrechten, dass die Gerichte im Fall defizitären Wissenschaftsstands ihre gerichtliche Kontrolle nicht zwingend zurücknehmen müssen. Dies ist freilich keine artenschutzrechtliche Besonderheit und lässt sich auf alle Fälle übertragen, bei denen für die Ermittlung der Tatsachengrundlage außerrechtliche Parameter abgerufen werden müssen, die nicht hinreichend gesetzlich determiniert worden sind. 405

EuGH, Urteil vom 11. 09. 2012, Rs. C-43/10, Aftodioikisi Aitoloakarnanias, Rn. 112; Möckl, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 69. 406 BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013  – 9 A 22.11, Rn. 41, BVerwGE 146, 145; Möckl, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 70. 407 Vgl. Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1225. 408 So auch Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1225. 409 Vgl. Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 216. 410 Ausführlicher Teil 3 A. I. 2. c) cc); BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 19, 25, 27, BVerfGE 149, 407.

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Insofern lässt sich der dritte Begründungsstrang umweltrechtlich verallgemeinern und auch auf das Wasserrecht ausweiten. So judizierte das BVerwG im Rahmen der Elbvertiefungsentscheidung, dass aufgrund fehlender Rechtsmaßstäbe sowie Konkretisierungsmängeln der Praxis ein wohl bereits bestehender Spielraum wegen der methodischen Ausgestaltung des Bewertungssystems der Administrative erweitert werde.411 Vor dem Hintergrund der in Deutschland herrschenden normativen Ermächtigungslehre412 wird dadurch ein Verwaltungsrechtssystem erkennbar, das legislatorisch gewillkürte Gesetzesbindung bzw. -entbindung präferiert, sodass funktionelle Verwaltungsfreiräume aufgrund außerrechtlicher naturwissenschaftlicher Erkenntnisdefizite systemfremd sind und zufällige rechtsfreie Leerräume provozieren, welche insbesondere in Bezug auf Art. 19 Abs. 4 GG grundsätzlich bedenklich sind.413 Die fehlende Intention des nationalen Gesetzgebers, eingeschränkt justiziable Freiräume einzuräumen, wird daher mehrfach deutlich: (1.)  fehlt im Umkehrschluss an die Ausführungen des BVerfG bereits eine hinreichende gesetzliche Anknüpfung414 und (2.) kann die Vielzahl der naturwissenschaftlichen Sachverhalte, in denen es für eine rechtliche Entscheidung an einer ausreichenden Erkenntnis mangelt, unmöglich vorher abgeschätzt worden sein. Konsequenz eines Rubrizierens der Verwaltungsfreiräume als echte administrative Letztentscheidungsrechte wäre die Auflösung justiziabler Freiräume bei Aufholen des wissenschaftlichen Erkenntnisstands. Betrachtet man jedoch strukturähnliche auch vermeintlich mit den Funktionsgrenzen der Rechtsprechung zu begründende Letztentscheidungsrechte, wird erkennbar, dass diese jedenfalls auf Dauerhaftigkeit angelegt sind.415 Dagegen sind funktionell begründete bzw. aus negativen normativen Umständen gefolgerte Letztentscheidungsrechte im Unionsrecht keine Seltenheit.416 411

So etwa auch im Wasserecht BVerwG, Beschluss vom 02. 10. 2014 – 7 A 14.12, Rn. 6, DVBl. 2015, 95; siehe auch Teil 3 A. I. 3. a) ff. 412 BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1; siehe Eichberger, NVwZ 2019, 1560, 1563. 413 So offenbar Prüfungsfälle, jedoch hinsichtlich einer Verfassungsmäßigkeit offengelassen, BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 63 BVerfGE 129, 1; Gärditz, NJWBeil 2016, S. 41, 43; kritisch Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9; Stuckenberg, Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, 1998, S. 527 f. 414 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 34, BVerfGE 149, 407; zu bezweifeln ob bereits negative Umstände ausreichen, BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 16 a. E.; NVwZ 2014, 524; Gellermann, NuR 2014, S. 597, 598, 599. 415 Wie etwa Prüfungsfälle, BVerfG, Urteil vom 17. 04. 1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34; in naturwissenschaftlich-technischen Bereichen wohl dynamisch siehe ­Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241 243. 416 Siehe EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015  – Rs. C-62/14, Gauweiler; Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, VwVfG § 40 Rn. 163; vgl. auch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 364; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 185, Bleckmann, Europarecht, Rn. 863; Bleckmann, Ermessensfehlerlehre, S. 60; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 385; siehe auch das Gebietsausweisungsverfahren vgl. Teil 3 A. I. 1. a) ff.

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bb) Ökologische Risiko- und Prognoseentscheidungen Teilweise im Rahmen des Ermittlungs- und Entscheidungsprozesses der ökologischen Verwaltungsentscheidung integriert sowie mit fachwissenschaftlichen Bewertungen ausgestattet, würden ebenfalls Risikoentscheidungs- und Prognoseentscheidungen zu einer naturschutzfachlichen Einschätzungs- bzw. Auswahlprärogativen führen.417 Schon aufgrund der schlichten Existenz von Risiko- und Prognoseentscheidungen, die keinen Verwaltungsfreiraum offerieren, müssen prognosebeeinflusste Verwaltungsfreiräume genauer betrachtet werden.418 Für den Fall, dass der ökologische Verwaltungsfreiraum alleine auf den entsprechenden Risiko- und Prognoseentscheidungen des jeweiligen Fachgesetzes basiert, schließt sich sodann die Frage an, inwiefern sich die ökologische Risiko- und Prognoseentscheidung von der uneingeschränkt justiziablen Risiko- und Prognoseentscheidung abhebt.419 (1) Der allgemeine Risiko- und Prognosefreiraum Risikoabschätzungen und Prognosen sind allgemein Mittel zur Wissensgenerierung, die von Verwaltungsentscheidungen abverlangt werden können, also über das Umweltrecht hinaus Geltung beanspruchen.420 Zumindest im deutschen Verwaltungsrecht rechtfertigt die Annahme von Prognosen und Risikoeinschätzungen nicht stets einen Raum verringerter Justiziabilität.421 Dennoch sind Verwaltungsfreiräume insbesondere bei Entscheidungen mit planendem Einschlag 417 Darstellend und kritisch Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1225; insbesondere BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 f.; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 13. 05. 2009 – 9 A 73/07, Rn. 70, NVwZ 2009, 1296; BVerwG, Beschluss vom 03. 06. 2010  – 4 B 54/09, Rn. 21, NVwZ 2010, 1289; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17/11, Rn. 83, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14/12, Rn. 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017  – 7 A 14.12, Rn. 421, BVerwGE 158, 1; Ramsauer, in: FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 699, 715; zum FFH-Gebietsschutz Wegener, ZUR 2010, S. 227, 230 f. 418 Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 34. 419 Die Probleme erkennend Gassner, DVBl. 2012, S. 1479, 1481; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1160; vgl. Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 114 Rn. 154 f.; siehe in Teil  3  A. I. 1. b) dd) (1); Schoch, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, § 50 Rn. 289; Beaucamp, JA 2002, S. 314, 316 f.; differenzierend BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016  – 4 C 2.16, Rn. 32, BVerwGE 156, 136; BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 6.15 Rn. 26, BVerwGE 156, 136. 420 Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, S. 57; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtstaat, S. 115. 421 Beispielsweise die Gefahrenprognose im Polizei- und Ordnungsrecht, kritisch Gassner, DVBl. 2012, S. 1479, 1481; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1160; grundsätzlich Beckmann, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 25; Schönenbroicher, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, § 40 Rn.12 ff.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

vorgesehen.422 Aufgrund der Verflochtenheit von fachspeziellen Wertungen und Prognoseelementen gibt es jedenfalls Tendenzen zu Verwaltungsfreiräumen im Technik- und Umweltrecht.423 Bei dem (ökologischen) Risiko- und Prognosefreiraum handelt sich um einen schon im Verwaltungsrecht dagewesenen Abfederungsmechanismus für kognitive Unsicherheiten,424 welche selbst durch die nachträgliche Erhöhung der Regelungsdichte oder gar erstmaliger Implementierung fachbezogener Regelungsstrukturen nicht vollständig aufgelöst425 und somit stets einer vollumfänglichen retrospektiven Kontrolle zugeführt werden können. Unabhängig von der Abschirmung einer nachträglichen Kontrolle der eigentlichen Entscheidung wird der Exekutive ein Instrumentarium zur Bewältigung von zukunftsgerichteten Verwaltungsaufgaben bereitgestellt, welches isoliert betrachtet keine Neuerung im Verwaltungsrecht darstellt. Scheidepunkt und Ursprung sogenannter Prognosefreiräume426 sind nicht unbedingt spezifisch kognitive Mängel basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnislücken bzw. -defiziten oder die fehlende normative Konkretisierung, sondern mitunter Unsicherheiten tatsächlicher Art, die einer zukunftsgerichteten Perspektive stets immanent sind und einer Wertung bedürfen,427 folglich dem Risikoentscheidungsprozess oder Prognoseverfahren selbst anhaften.428 Die Untersuchung voraussichtlicher, spezifisch naturwissenschaft­ 422

Vgl. Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 152; siehe u. a. BVerwG, Urteil vom 29. 01. 1991 – 4 C 51/89, BVerwGE 87, 332; BVerwG Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, BVerwGE 158, 1; BVerwG, Urteil vom 24. 11. 1989 – 4 C 41/88, BVerwGE 84, 123; BVerwG, Beschluss vom 10. 12. 2014 – 6 C 18/13, BVerwGE 151, 56; BVerwG, Urteil vom 24. 08. 1988 – 8 C 26/86, BVerwGE 80, 113. 423 Riese, in: Schoch  /  Schneider  /  Bier, VwGO, §  114 Rn. 151; BVerwG, Urteil vom 14. 01. 1998 – 11 C 11.96, BVerwGE 106, 115, 120 ff.; BVerwG, Urteil vom 22. 03. 2012 – 7 C 1.11, Rn. 25 f., NVwZ 2012, 750; BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 2 A 9.14, Rn. 30, NVwZ 2016, 327; BVerwG, Urteil vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16, Rn. 47, DVBl. 2018, 1361; Brückner, LKV 2015, S. 534, 536. 424 Vgl. Bamberger, in: Wysk, VwGO, § 114 Rn. 14; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 151; Rennert, in: Eyermann, VwGO, § 114 Rn. 83; Aufzählung in Wolff, in: Sodan /  Ziekow, VwGO, § 114 Rn. 320a; u. a. BVerwG, Urteil vom 25. 07. 1985 – 3 C 25/84, BVerwGE 72, 38; BVerwG, Urteil vom 07. 10. 1988 – 7 C 65/87, BVerwGE 80, 270; BVerwG, Urteil vom 27. 11. 1980 – 2 C 38.79, BVerwGE 61, 176; Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, S. 57; teilweise wohl auch BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 f., BVerwGE 130, 299. 425 Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 238; Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 172. 426 Siehe Bamberger, in: Wysk, VwGO, § 114 Rn. 14; Wolff, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 114 Rn. 320. 427 Vgl. Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 172; Wolff, in: Sodan / Ziekow, VwGO, § 114 Rn. 319; allein die Wertungsabhängigkeit soll nicht ausreichen vgl. Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 151; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsaat, S. 115. 428 Siehe Teil 2 A.  II.  5.  ff. sowie Teil 2 C.  III.; außerdem vgl. BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 400, 547, 586, BVerwGE 158, 1; vgl. Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 199 f.; vgl. Hegele, Die Bedeutung von Sachverständigengutachten für die richterliche Rechtskonkretisierung im Umweltschutz, S. 96, 168 ff.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

175

licher Entwicklungen, Zustände oder Gegebenheiten kann angesichts diverser natürlicher sowie willkürlicher Einflüsse daher grundsätzlich nie mit an Sicherheit angrenzender Wahrscheinlichkeit erfolgen. Zu berücksichtigen innerhalb dessen ist die Bandbreite naturwissenschaftlicher sowie anspruchsvoller Methoden für Prognosen und Risikoabschätzungen,429 die jeweils unterschiedliche Ergebnisse und Unsicherheiten hervorbringen können.430 (2) Prognosebeeinflusste naturschutzfachliche Freiräume Evident ist, dass der Grundsatz des volljustiziablen Prognosefreiraums bei ökologischen Verwaltungsentscheidungen gelten muss, sofern die Verträglichkeitsprüfung gemäß § 34 BNatSchG (Art. 6 Abs. 3 FFH-RL), welche den Administrativen zur Bestimmung von etwaigen erheblichen Beeinträchtigungen von Schutzgebieten durch Pläne oder Projekte gerade keinen Freiraum gestattet,431 aber gleichzeitig eine Prognoseentscheidung hinsichtlich des Eintretens von Beeinträchtigungen verlangt, berücksichtigt wird.432 Selbst bei verkomplizierter Betrachtung der durch außerrechtliche Anknüpfung verursachten Methodenwahl innerhalb der Verträglichkeitsprüfung gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL433 sowie die sich ebenfalls nach außerrechtlichen Maßstäben vollziehende Eruierung von vorzunehmenden Schutzmaßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 2 FFH-RL434 wird die Differenzierung volljustiziabler Risiko- und Prognoseentscheidungen und die entsprechende gericht­ liche Kontrolle lediglich einem höheren Schwierigkeitsgrad ausgesetzt.435 Dies erst recht aufgrund der durch die Einbeziehung extrajuridischen Wissens stattfindende Verquickung436 von Unsicherheiten durch strukturelle Erkenntnisdefizite, die in erster Linie bei naturschutzfachlichen Verwaltungsfreiräumen anzusiedeln sind und den tatsächlichen Prognoseunsicherheiten aufgrund etwaig vorzunehmender

429

Siehe Hegele, Die Bedeutung von Sachverständigengutachten für die richterliche Rechtskonkretisierung im Umweltschutz, S. 96 ff. 430 Vgl. Veränderung von Kausalverläufen bei gleichbleibenden Tatsachen Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsaat, S. 162; Roßnagel, JZ 1986, S. 716, 717 f.; Lange, Rechtliche Aspekte eines „Ausstiegs aus der Kernenergie“, NJW 1986, S. 2459, 2463; Bender, DÖV 1988, S. 813, 817. 431 Siehe Teil  3  A. I. 1. b) cc); Möckl, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 32 Rn. 89. 432 BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22.11, Rn. 41, BVerwGE 146, 145; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2012, Rs. C-43/10, Rn. 112 Rs. „Aftodioikisi Aitoloakarnanias“; Möckl, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 69. 433 Siehe Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2). 434 Teil  3  A. I. 1. b) bb) (2). 435 Besonders deutlich vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – BVerwG 9 B 43.16 Rn. 19, NVwZ 2018, 1076; siehe Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1160; Beaucamp, JA 2002, S. 314, 316 f. 436 BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16, Rn. 19, NVwZ 2018, 1076; BVerwG, Urteil vom 23. 04. 2014  – 9 A 25.12, Rn. 26, BVerwGE 149, 289; BVerwG, Urteil vom 6. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 35, BVerwGE 145, 40.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

der Zukunftssimulationen.437 Das primär die Gerichtskontrolle punktuell einschränkende Element bleibt jedoch das Hinzutreten der Unsicherheit betreffend die fachwissenschaftliche Richtigkeit auf Ebene der Methodenwahl. Des Weiteren darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass hinsichtlich des Eintritts der erheblichen Beeinträchtigung gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL eine prognostizierende fachliche Einschätzung abverlangt wird,438 mithin eine solche Mischung prognostischer Elemente und fachlicher Beurteilung stattfindet und dennoch keine ökologische Einschätzungsprärogative bzw. ein Verwaltungsfreiraum attestiert wird.439 In Ansehung der Rechtsprechungslinie des BVerwG hinsichtlich der Geeignetheitsevaluierung von Kohärenzsicherungsmaßnahmen nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL ist fraglich, ob sich eine Ausnahme vom Grundsatz der volljustiziablen ökolo­ gischen Risiko- und Prognoseentscheidung etabliert hat.440 Das BVerwG stellt dabei in der Einleitung des vermeintlichen Prognosefreiraumes maßgeblich auf das prognostische Element der fachlichen Eignungsbeurteilung und der damit verbundenen Unwägbarkeiten für den Erfolg der Kohärenzmaßnahme ab,441 hilfsweise wird auch das Fehlen naturschutzfachlicher Verfahren und Standards angeführt, welches in der Folgerechtsprechung an Bedeutung verliert.442 Diese gerichtliche Herleitung wirkt wie die Konstatierung eines versteckten Prognosefreiraumes unter dem Deckmantel der naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative, ohne eine hinreichende Differenzierung zu herkömmlichen (komplexen) Prognose­ entscheidungen bereitzustellen.443 Gesichtspunkte wie die sehr fachspezifische 437

Siehe Hegele, Die Bedeutung von Sachverständigengutachten für die richterliche Rechtskonkretisierung im Umweltschutz, S. 171, 172; Bossel, Dynamik des Waldsterbens, S. 52 ff. 438 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 46–48; Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 59 ff.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 199 ff.; ausführlich in Teil 3 A. I. 1. b) cc) 439 Ausdrücklich BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – BVerwG 9 B 43.16 Rn. 19, NVwZ 2018, 1076; EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 46–48; Möckel, in: Schlacke, GK-BNatSchG, § 34 Rn. 59 ff.; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 199 ff.; Apfelbacher / Adenauer / Iven, NuR 1999, S. 63, 74; VGH Kassel, Urteil vom 02. 01. 2009 – 11 B 368/08, NuR 2009, S. 255; grundsätzlich Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 151, 152. 440 BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 201 f., BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013  – 9 A 14.12, Rn. 93, 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 83, BVerwGE 145, 40; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1165. 441 Vgl. Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1158, 1165; festgestellt in Teil 3 A. I. 1. b) dd) (1); insbesondere BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008, Rn. 201 f. 442 Vgl. Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1158, 1165; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 13. 05. 2009 – 9 A 73/07, Rn. 70, NVwZ 2009, 1296; BVerwG, Beschluss vom 03. 06. 2010 – 4 B 54/09, Rn. 21, NVwZ 2010, 1289; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17/11, Rn. 83, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14/12, Rn. 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 14.12, Rn. 421, BVerwGE 158, 1. 443 Spezifisch kritisch Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1225; grundsätzlich und ebenfalls zur Komplexität Nell, Beurteilungsspielraum zugunsten Privater, S. 203; Jestaedt, in: Ehlers /  Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 50 a. E.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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Vertretbarkeitskontrolle der behördlichen Bewertung unter vorhergehender gerichtlicher Hervorhebung der Fachspezialität des behördlichen Beurteilungs- bzw. Ermessensmaßstabes, die Erwähnung struktureller Defizite sowie die fehlende Bezeichnung als Prognosefreiraum kaschieren die Offenkundigkeit derartiger Differenzierungsdefizite lediglich. Zwar können die ersteren Gesichtspunkte im Einzelfall unter Berücksichtigung der positivrechtlichen Gegebenheiten durchaus beachtenswerte positivrechtliche Indikatoren für etwaige Freiräume darstellen,444 allerdings muss eine Verknüpfung derartiger Umstände innerhalb der Begründung des eingeräumten Freiraums erfolgen. Die anschließende Vertretbarkeitskontrolle vollzieht sich sodann durch Prüfung fachwissenschaftlicher Vertretbarkeit der in Kompensationsbilanz festgehaltenen Kohärenzmaßnahmen im Wege der Abrufung prognostischer Beurteilungen ökologischer Art in der Darstellung von SzenarienModellen.445 Dieser gerichtliche Überprüfungsmodus offenbart gleichzeitig den Dreh- und Angelpunkt des prognostischen Begründungsansatzes, bei dem es sich um die sich unter Zugabe prognostischer Elemente vollziehende naturschutzfachliche Bewertung innerhalb der Eignungsbeurteilung handelt.446 (3) Ausuferungsgefahr bei Lockerung des Vorsorgegrundsatzes Gerade in Gesetzen mit unionsrechtlichem Einschlag dürfte die Gefahr bestehen, dass deutsche Gerichte vorschnell zur Gestattung prognostisch geprägter Verwaltungsfreiräume neigen, wenn (1.) eine restriktive unionsgerichtliche Rechtsprechung betreffend die Gestattung von Letztentscheidungsrechten entsprechend der Verträglichkeitsprüfung ausbleibt oder ausgeblieben ist (scheinbare Lockerung des unionsrechtlichen Vorsorgegrundsatzes447), (2.) wenn bedacht wird, dass die Einräumung von Freiräumen in Verbindung mit Prognosen allgemein im Unionsrecht nicht unbekannt ist sowie der Erleichterung angesichts unvermeidbarer Unsicherheiten im Rahmen der komplexen Entscheidung dient448 und (3.) die bereits

444 Siehe positive Indizien bei Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2, Rn. 51 ff. 445 Gerichtliche Kontrolle Rn. und bespiele zitieren beziffern: BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 77 ff. BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 13. 05. 2009 – 9 A 73/07, Rn. 87 ff., NVwZ 2009, 1296; BVerwG, Beschluss vom 03. 06. 2010 – 4 B 54/09, Rn. 14 ff., NVwZ 2010, 1289; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012  – 9 A 17/11, Rn. 83 ff., BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013  – 9 A 14/12, Rn. 94, BVerwGE 148, 373; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 14.12, Rn. 421 ff., BVerwGE 158, 1; zum Szenarien-Modell siehe Hegele, Die Bedeutung von Sachverständigengutachten für die richterliche Rechtskonkretisierung im Umweltschutz, S. 176. 446 Siehe dazu Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 2 Rn. 51 ff.; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 151. 447 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 54 ff.; EuGH, Urteil vom 26. 04. 2017 – Rs. C-142/16, Kommission / Deutschland, Rn. 33. 448 Siehe Teil 2 A. II. 5.; Teil 2 A. III.; Teil 2 B. III.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

angesprochene Verquickung der kognitiven Defizite wissenschaftlicher und tatsächlicher Art mit anschließender Bewertung die gerichtliche Kontrolle unter Umständen an ihre Funktionsgrenzen bringen kann.449 In diesem Zusammenhang ist auf das analysierte Referenzgebiet des Migrationsrechts zurückzukommen, bei dem unter Heranziehung referenzgebietshinausgehender europäischer Judikatur besonders die Anführung von Entscheidungskomplexität beobachtet werden konnte;450 mithin ein Trend, der über Risiko- und Prognoseentscheidungen Einzug in das deutsche Recht gefunden hat.451 2. Überführung in die deutsche Dogmatik Bereits die Rahmenbedingungen der naturschutzfachlichen Prärogative setzen sich von dem herkömmlichen Muster deutscher administrativer Letztentscheidungsrechte ab. Für den im Rahmen dieser Untersuchung relevanten tatbestandlichen Verwaltungsfreiraum fällt der Anschluss der von der Rechtsprechung vorgebrachten Sachgründe und der identifizierten normstrukturellen sowie positivrechtlichen Gegebenheiten für derartige ökologische Verwaltungsfreiräume, insbesondere des unbestimmten Rechtsbegriffs, an die deutsche Beurteilungsspielraumdogmatik deutlich schwer.452 Ein Festhalten an der Einreihung ökologischer Verwaltungsfreiräume in die deutsche Dogmatik bekräftigt dagegen lediglich Zweifel an der Haltbarkeit des Beurteilungsspielraummodells.453 a) Disruption des deutschen Modells aa) Keine Rolle des unbestimmten Rechtsbegriffes Soweit man den unbestimmten Rechtsbegriff als maßgebliches Kriterium zur Identifizierung von tatbestandlichen Letztentscheidungsrechten aufrechterhalten will,454 mangelt es an der singulären auslegungsdiversifizierenden Wirkung selbiger, da ohnehin Auslegungsunsicherheiten durch die schwache normative Ver-

449

Erkennend BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16, Rn. 19, NVwZ 2018, 1076. Siehe Teil 2 A. II. 5.; Teil 2 B. II. 6.; Teil 2 C. III.; im Naturschutzrecht vgl. EuGH, Urteil vom 11. 09. 2012 – Rs. C-43/10, Aftodioikisi Aitoloakarnanias, Rn. 112. 451 Kritisch Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1160; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 54. 452 Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 214 ff.; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1123, 1124, 1227. 453 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht; Jestaedt, in: Ehlers /  Pünder, § 11 III 2 Rn. 18. 454 Grundsätzlich kritisch Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff. 450

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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dichtung bestehen.455 Unter Umständen können diese unbestimmten Rechtsbegriffe in Form von Schleusenbegriffen auslegungssteuernd und -einschränkend sein. Letztlich ist jedoch die außerrechtliche Dichte wissenschaftlicher Erkenntnisse relevant. Darüber hinaus ist selbst mit der Anerkennung unbestimmter Rechtsbegriffe als positivrechtlicher Faktor innerhalb ökologischer Verwaltungsfreiräume nicht die Zuweisung der Letztentscheidungskompetenz zwischen Judikative und Exekutive geklärt.456 Primärer Treiber bei tatsachenbezogenen, tatbestandlichen als auch bei rechtsfolgenbezogenen Verwaltungsfreiräumen ist daher die Ermangelung von normativ verankerten Standards, Methoden, Bewertungsverfahren und Regelwerken, da eben diese regelmäßig die Grundlage der naturschutzrechtlichen Verwaltungsentscheidung abbilden.457 Dadurch provoziert, überrascht die Vertretbarkeitskontrolle innerhalb der außerrechtlichen und naturwissenschaftlichen Sphäre als effektivstes Mittel zur Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes materieller Verwaltungskontrolle nicht sonderlich. bb) Kaum bis schwache Anwendung der normativen Ermächtigungslehre Kaum eine Geltung im Rahmen der Rechtsprechung zu den ökologischen Verwaltungsfreiräumen beansprucht die dogmatisch notwendige normative Ermächtigungslehre, sodass ebenfalls die Zuweisung der Letztentscheidungskompetenz zwischen Judikative und Exekutive keinen hinreichenden Diskurs innerhalb der Rechtsprechung findet.458 Das Rekurrieren auf negative normative Umstände,459 also das Nichtvorliegen gesetzlicher Vorgaben entsprechend anderen Tatbeständen, kann wohl kaum für eine hinreichende gesetzgeberische Zuweisung der Letztent-

455 Ebenfalls Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 117, 214. 456 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006; Schoch, Jura 2004, S. 612, 613 f. 457 Infolgedessen und angesichts des Ausbleibens anderweitiger gesetzlicher bzw. untergesetzlicher Konkretisierung werden naturschutzfachliche Freiräume im Rahmen der ihnen zugesprochenen wissenschaftlichen Grenzen gerichtlich gebilligt vgl. Fehling, in: Trute /  Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht  – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 474; siehe auch Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 117. 458 Zur Zuweisung von Letztentscheidungskompetenzen durch die normative Ermächtigungslehre Gärditz, NVwZ 2009, 1005; insofern fehlt es an einer starken Einbettung in die nationale Dogmatik siehe Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1123, 1227. 459 Es ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber nicht jedes Detail regeln kann, dennoch muss sich hinter einem Regelungs- bzw. Programmierungsminus nicht zwangsläufig eine Letztentscheidungskompetenzzuweisung verstecken. Angesichts des Art. 19 Abs. 4 GG müsste im Einzelfall kontrolliert werden, ob es sich bei einem gerichtlich nicht überprüfbaren Gesetz um ein verfassungswidriges Gesetz handelt.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

scheidungskompetenz an die Exekutive sprechen.460 Vor allem wird keine Koppelung mit den existierenden unbestimmten Rechtsbegriffen vorgenommen.461 Im Hinblick auf das Vorbringen der Gefahr, dass die gerichtlichen Funktionsgrenzen bei Aufrechterhaltung der gerichtlichen Vollkontrolle in erheblicher Art und Weise tangiert würden,462 fußt die Annahme gesetzgeberischer Zuweisung eher auf einem funktionsrechtlichen Begründungsansatz als auf der normativen Ermächtigung der Exekutive.463 Die eigentlich funktionale Begründung des BVerwG in Verbindung mit dem Rekurrieren auf normative Umstände dürfte in Anbetracht der Entscheidung des BVerfG, welches die Zulässigkeit von administrativen Letztentscheidungsrechten basierend auf der Grundlage der Wahrung der Funktionsgrenzen der Rechtsprechung eindeutig offenlässt,464 eine verfassungsrechtliche Vorsichtsmaßnahme sein. cc) Uneinheitliche Normstruktur und nicht eingrenzbare Skalierung Des Weiteren ist eine evidente und problembehaftete Begleiterscheinung der diskutierten Prärogative die nicht immer feste Skalierung normstrukturell indifferenter Verwaltungsfreiräume.465 Dies zeigt im Umkehrschluss die dynamische Kontrolldichte durch die Gerichte. Die Verortung solcher Einschätzungsprärogativen im Rahmen der naturschutzfachlichen Verwaltungsentscheidung droht die gerichtliche Kontrolle in kollusivem Wirken, insbesondere mit anderen Verwaltungsfreiräumen der Tatbestands- und Rechtsfolgenebene, auszuhöhlen.466 Dazu kommt, dass die indifferenten tataschenbezogenen Prärogativen im Grundsatz 460

So aber im Artenschutzrecht BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 16 a. E., NVwZ 2014, 524; Gellermann, NuR 2014, S. 597, 598, 599. 461 Dies verwundert nicht, da die unbestimmten Rechtsbegriffe nicht zentrale Ursache für die Potenzierung der Auslegungsergebnisse sind. 462 So BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 14, NVwZ 2014, 524; siehe auch Gellermann, NuR 2014, S. 597, 599. 463 Daher richtigerweise von einem fehlgehenden Zirkelschluss ausgehend Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 214; allgemein zum funktionsrechtlichen Ansatz siehe Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76 f.; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 54; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 33; Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 411; Gerhardt, NJW 1989, S. 2233, 2236; Brohm, DVBl. 1986, S. 321, 326; P. Kirchhof, NJW 1986, S. 2275, 2279; Franßen, in: FS Zeidler, S. 429, 442; zur Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit Schmidt-Aßmann, in: FS Menger, S. 107; eine Hypertrophie dieses Ansatzes könne dagegen zur Austrocknung der Kontrolle in den jeweiligen Rechtsgebieten führen so Gärditz, NJW-Beilage 2016, S. 41, 43. 464 BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 76, BVerfGE 129, 1; grundsätzlich Krone, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Umwelt- und Technikrecht, S. 67. 465 Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 216. 466 Dies konterkariert das restriktive Erfordernis der Begrenzung von Beurteilungsspielräumen vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1, 23; BVerfG,

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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hinterfragungswürdig sind und es in Ansehung des Art. 19 Abs. 4 GG zu einer grundrechtsrelevanten Rechtsschutzverkürzung kommen kann.467 Beachtlich ist in diesem Zusammenhang ebenfalls die Kumulierung vereinzelter punktueller behördlicher Freiräume, welche indirekt in grundsätzlich volljustiziablen Bereichen faktische Verwaltungsfreiräume schaffen.468 Insgesamt ist durch die Gefahr einer undichter werdenden gerichtlichen Kontrolle und der damit einhergehenden Kompetenzkonflikte zwischen Judikative und Exekutive das Konzept des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG auf nationaler Ebene durch nachträgliche (grundsätzlich) uneingeschränkte Verwaltungskontrolle noch mehr unter Druck, als es ohnehin durch justiziable Freiräume ist.469 dd) Fehlgehende Systematisierung der Begründungsstränge Schließlich sind die angeführten Sachgründe für die verschiedenen ökologischen Verwaltungsfreiräume zu oberflächlich dargelegt und lassen sich orientierend an der Kasuistik zu Beurteilungsspielräumen nicht hinreichend systematisieren. Zwar spricht nichts dagegen, dass neue Sachgründe neben der bekannten Kasuistik existieren können, allerdings muss sich vorab gefragt werden, ob es gerechtfertigt erscheint und der Sachgrund geeignet ist, um gerichtliche Kontrolle zu reduzieren. Auf dem Prüfstand steht insbesondere der Sachgrundes unsicherer wissenschaftlicher Erkenntnisse, da das wissenschaftlich beeinflusste Naturschutzrecht stets von Unsicherheit geprägt ist. Die Gerichte müssen damit umgehen können.470 Darüber hinaus setzt sich die Begründung des Prognosebedürfnisses nicht zur Genüge von herkömmlichen Prognoseentscheidungen ab.471 Sollte zusätzlich die Komplexität der retrospektiven gerichtlichen Kontrolle der prospektiv ausgestalteten naturschutzfachlichen Prognose angeführt werden, fehlt es in Ansehung der in der Literatur herrschenden Zweifel erst recht an einer ausführlichen Differen-

Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08 Rn. 25, NVwZ 2012, 694; Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 VwVfG Rn. 166; Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 68, 216. 467 Ebenfalls Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24; generell Gassner, DVBl. 2012, S. 1479; vgl. Gärditz, ZfU 2019, S. 369, 386 ff.; Brandt, ZNER 2019, 93; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1; Eichberger, NVwZ-Beilage 2013, S. 18, 23; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 194; Lenz, DVBl. 2018, S. 605; kritisch zur Rechtsfigur der naturschutzrechtlichen Einschätzungsprärogative auch Berkemann, ZUR 2016, S. 323, 327. 468 Dazu genauer A. I. 1. b) cc) (2) (b) (aa). 469 Siehe Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, S. 203, 204; Kahl / B urs, DVBl. 2016, S. 1158. 470 So Gassner, DVBl. 2012, S. 1479, 1481; zustimmend Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1123, 1227. 471 Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1123, 1227.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

zierung.472 Zudem ist die Begründung der Notwendigkeit einer naturschutzfachlich wertenden Betrachtung im Gegensatz zu anderen naturschutzfachlichen Wertungsfragen, die unter Zugrundelegung der unionsgerichtlichen Rechtsprechung keinen Verwaltungsfreiraum offerieren, nicht hinreichend substantiiert. Beispielsweise bei der artenschutzrechtlichen Frage des Vorliegens einer signifikanten Erhöhung des Tötungsrisikos gegenüber der Frage des Vorliegens einer erheblichen Beeinträchtigung durch Pläne bzw. Projekte.473 Die Anführung fehlender materieller Maßstäbe greift schließlich zu kurz, zumal die verfassungsmäßige Verpflichtung, nach Art. 19 Abs. 4 GG effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, leer läuft, sofern gerichtlich nicht nachvollziehbare Gesetze verabschiedet werden.474 Dazu kommt, dass auf dogmatische korrekte Ausnahmemöglichkeiten vom Grundsatz uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle verzichtet wurde. b) Bewertung Bei der naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative bzw. ökologischen Verwaltungsspielräumen handelt es sich zumindest auf der deutschen Ebene um verkappte Beurteilungsspielräume, die in dieser Form nicht den verfassungsrechtlichen Regeln für die Ausnahme uneingeschränkter Justiziabilität gehorchen. Von der vermeintlich besseren naturschutzfachlichen Expertise der Behörde bei komplexen Entscheidungsstrukturen wird vorschnell auf die gesetzgeberseitige Letztentscheidungsermächtigung der Administrative geschlossen.475 In den drei angeführten Begründungssträngen ist letztlich nichts anderes als die detaillierte Abschichtung einer groben Komplexitätsbegründung zu sehen.476 Insoweit hätte in erster Linie eine Orientierung an materiellen sowie dogmatischen Gegebenheiten erfolgen müssen.477 Dies bedeutet freilich nicht, dass funktionale Überlegungen

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Komplexität als Grund grundsätzlich verneinend, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 69; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1225; Nell, Beurteilungsspielraum zugunsten Privater, 2010, S. 202 f. m. w. N.; kritisch im Hinblick auf Polizeirechtsentscheidungen Kahl, in: 71. Deutschen Juristentages Essen, Diskussion und Beschlussfassung, S. N 220 f.; Hwang, Bestimmte Bindungen unter Unbestimmtheitsbedingungen, S. 105 f. 473 Dazu siehe ausführlich Teil 3 A. II. 1. d) aa) und bb). 474 Richtig daher Gärditz, NVwZ 2009, S, 1005, 1008, 1009. 475 Anhand der Sachgründe. 476 Darin eine richterliche Selbstbeschränkung erkennend Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 214; nicht unproblematisch, siehe Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 69; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1225; Nell, Beurteilungsspielraum zugunsten Privater, 2010, S. 202 f. m. w. N.; Kahl, in: 71. Deutschen Juristentages Essen, Diskussion und Beschlussfassung, S. N 220 f.; Hwang, Bestimmte Bindungen unter Unbestimmtheitsbedingungen, S. 105 f. 477 Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 215.

A. Gelockerte Gesetzesbindung aufgrund naturwissenschaftlicher Beurteilung

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gänzlich unberücksichtigt bleiben müssen, vielmehr können diese bei Vorliegen als Erwägungen zusätzlich herangezogen werden.478 Spätestens seit der Entscheidung des BVerfG479 bedarf es nun einer Kehrtwende im Bereich der ökologischen Verwaltungsfreiräume. Für diese Kehrtwende gibt es verschiedene Optionen: (1.) eine völlige Abkehr von derartigen ökologischen Verwaltungsfreiräumen, (2.) den Versuch einer dogmatisch korrekten Herleitung derartiger ökologischer Verwaltungsfreiräume oder (3.) im Anschluss an die verfassungsgerichtliche Entscheidung die Etablierung eines neuen dogmatischen Rechtsinstruments als aliud zu administrativen Letztentscheidungsrechten bei undichter Regelungsmaterie qua Erkenntnisdefiziten.480 Aufgrund der nur unter Verlust dogmatischer Grundlagen schwerlich erzwingbaren Begründung ökologischer Verwaltungsfreiräume als Beurteilungsspielräume481 ist Option (1.) naheliegend und unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten sinnvoll. Unter Berücksichtigung des europäischen Fundaments der entsprechenden Fachgesetze (BNatSchG, WHG) muss betreffend Option (3.) die Frage gestellt werden, ob es sachgerecht ist, einem Gesetzgeber, welcher die mittels der einschlägigen (Rahmen-)Richtlinien zugewiesenen, legislativen Umsetzungsspielräume nicht für eine Verdichtung der Regelungsmaterie genutzt hat, durch Neuschaffung dogmatischer Konstrukte mithilfe der Judikative den Rücken freizuhalten. Besser erscheint die Wahrung der Rechtstradition grundsätzlich uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle und eine Anzweiflung der Verfassungsmäßigkeit fehlender normativer Konkretisierung

478

Siehe Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 411; Gerhardt, NJW  1989, S. 2233, 2236; Brohm, DVBl. 1986, S. 321, 326; P. Kirchhof, NJW 1986, S. 2275, 2279; Franßen, in: FS Zeidler, S. 429, 442; zur Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit Schmidt-Aßmann, in: FS Menger, S. 107; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 VwVfG Rn. 160; Sieckmann, DVBl. 1997, 101, 102; Gärditz, Gutachten D zum 71. DJT, 2016, S. 70; siehe BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992 – 1 BvR 167/87 – BVerfGE 88, 40, 58; BVerwG, Urteil vom 25. 07. 2013 – 2 C 12/1, Rn. 25, BVerwGE 147, 244, 250; Kahl, in: 71. Deutschen Juristentages Essen, Diskussion und Beschlussfassung, S. N 220 f., Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 47; Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 172. 479 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, BVerfGE 149, 407. 480 So wohl Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 172; auch Buchheim, JZ 2019, S. 92, 94: „verfassungsgerichtlicher Wink mit dem Zaunpfahl“; Granges, RdL 2019, S. 93, 95: „Verwerfung“; Eichberger, NVwZ 2019, S. 1560, 1561; Sow, DÖV 2019, S. 317, 318; a. A. Sachs, JuS 2019, S. 184, 185. 481 „Es wird deutlich, dass die Rechtsprechung Mühe hat, eine stringente Anerkennung administrativer Letztentscheidungsrechte zu gewährleisten. Die Rechtsfigur des Beurteilungsspielraums wird vielmehr ‚zurechtgebogen‘, bis nur noch wenig von den dogmatischen Grundlagen und der historisch gewachsenen, verfassungsrechtlich begründeten, restriktiven Handhabung von Letztentscheidungsrechten auf Tatbestandsseite übrig bleibt. Nicht nur die Rechtssicherheit bleibt dabei auf der Strecke.“ so zutreffend Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 215.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

sowie die Bestimmtheit der relevanten Fachgesetze unter Heranziehung der im Grundgesetz garantierten Justizgrundrechte.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum im System unionaler Letztentscheidungsrechte Trotz des Scheiterns einer Anknüpfung ökologischer Verwaltungsfreiräume an die Beurteilungsspielraumdogmatik im deutschen Recht verbleibt die Frage nach der Existenz von Beurteilungsspielräumen im Unionsrecht. Von den deutschen Gerichten judizierte Verwaltungsfreiräume beruhen auf transformiertem Richtlinienrecht. Die entsprechenden unionsrechtlichen Normen werden in Auslegung der nationalen Vorschriften herangezogen. Dadurch, dass das administrative Flexibilisierungsbedürfnis in der Form nicht von der Intention des deutschen Gesetzgebers gedeckt ist, müssen die ökologischen Verwaltungsfreiräume auf der unionalen Ebene diskutiert werden. Der ökologische Verwaltungsfreiraum ist auf der Grundlage der herausgearbeiteten Rahmenbedingungen im System unionaler Letztentscheidungsrechte zu diskutieren (B.I.), woran die letztliche Leitfrage nach der Existenz von Beurteilungsspielräumen angeschlossen wird (B.II.).

I. Systematisierung des ökologischen (Verwaltungs-)Freiraumes Dem europäischen Recht ist die Dogmatik des deutschen Rechts fremd, sodass die diskutierten europäischen Merkmale bei der Konstatierung administrativer Letztentscheidungsrechte durchaus eine Rolle spielen können. Neben der Frage nach der Rechtsqualität solcher ökologischer Freiräume muss austariert werden, ob es sich lediglich um die Zuweisung von Spielräumen auf legislatorischer oder tatsächlich solcher auf administrativer Ebene handelt. 1. Administratives Letztentscheidungsrecht des Art. 4 FFH-RL bzw. Art. 4 VRL Unter Berücksichtigung des unionsrechtlich gebilligten mitgliedstaatlichen Letztentscheidungsrechts im Rahmen des Gebietsausweisungsverfahrens und der Anknüpfung an außerrechtliche normative nicht vorgegebene Maßstäbe, lässt sich dieser Modus auf unionsgerichtlicher Ebene wiederfinden.482 Das unionsgerichtlich mehrfach bestätigte fachliche (und tatbestandliche) Letztentscheidungsrecht im Rahmen des Gebietsausweisungsverfahrens nach Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL eignet sich auf unionsrechtlicher Ebene generell 482

Siehe Teil 3 A. I. 1. a); Teil 3 A. I. 2.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

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als vorzugswürdiger Untersuchungsgegenstand, da der EuGH dies in ständiger Rechtsprechung bestätigt. Im Rahmen der weitergehenden Untersuchung können die von deutschen Gerichten anerkannten ökologischen Freiräume daher nur peripher herangezogen werden. Sofern unionsrechtliche Erwägungen am Beispiel des Art. 4 FFH-RL bzw. Art. 4 VRL extrahiert werden können, sind diese auf die deutschen Freiräume anzuwenden. a) Reziproke Feststellung von Freiräumen Zwar sind die von der deutschen Rechtsprechung judizierten ökologischen Verwaltungsfreiräume, wie bereits dargestellt, überwiegend auf schwache innerstaatliche Transformationsprozesse zurückzuführen, welche europäische Regelungsstrukturen in ihrer Rohfassung in das deutsche Verwaltungsrecht transportieren,483 aufgrund dessen ist jedoch nicht ausnahmslos auf die Existenz administrativer Freiräume auf der unionalen Ebene zu schließen. Unter Berücksichtigung des Weservertiefungsurteils ist zunächst nicht ausgeschlossen, dass die fragliche Anwendung von Kriterien anhand der unionalen Normen ausgelegt werden kann.484 Des Weiteren postulierte der EuGH im Habitatschutzrecht die strenge Geltung des Vorsorgeprinzips gemäß Art. 191 Abs. 2 Satz  2 AEUV,485 insbesondere bezogen auf Art. 6 Abs. 3 FFH-RL.486 Ausfluss dessen sei, dass ein ökologischer Freiraum bei der Beeinträchtigungsfeststellung im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung nicht besteht. Demgegenüber ist mit der Gestattung von derartigen Freiräumen bezüglich der Methoden und Verfahrenswahl eine Einflussnahme auf die Beeinträchtigungsfeststellung nicht ausgeschlossen.487 483

Teil  3  A. II. 1. b) und A. II. 2. aa) Insofern besteht eine gerichtliche Konkretisierungsmöglichkeit, siehe Teil 3 A. I. 3. a) aa); vgl. EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2. 485 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58; theoretische Risiken sind im Rahmen des Vorsorgeprinzips nicht berücksichtigungsfähig, EuGH, Urteil vom 09. 09. 2003  – Rs. C-236/01, Monsanto Agricoltura Italia, Rn. 106 f., LMRR 2003, 31; EuG, Urteil vom 11. 09. 2002  – Rs. T-13/99, Rn. 145, 152; Stokes, Environmental law review 2005, S. 206, S. 212; siehe dazu ebenfalls Käller, in: Schwarze EU-Kommentar, Art. 191 AEUV, Rn. 29; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 208 ff. 486 Vgl. Schlussanträge der Generalanwältin zu Rs. C-127/02, Rn. 97, Slg. 2004, I–7405; ebenfalls BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 35; EuGH, Urteil vom 11. 04. 2013 – Rs. C-258/11, Sweetman, Rn. 48; EuGH, Urteil vom 17. 04. 2018  – Rs. C-441/17, Kommission / Polen, Rn. 108; EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016  – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; EuGH, Urteil vom 16. 07. 2020 – Rs. C-411/19, WWF Italia, Rn. 40 f. 487 Siehe Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (a); BVerfG, Beschluss vom 31. 5. 2011  – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1, 23; BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08 Rn. 25, NVwZ 2012, 694; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 VwVfG Rn. 166; Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 68, 216. 484

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Insofern droht die Anerkennung von ökologischen Freiräumen an anderen Stellen innerhalb des Geltungsbereichs, dieses Prinzip zu korrumpieren. Zudem ist für das Artenschutzrecht, auf dessen Geltungsbereich das Vorsorgeprinzip sich ebenfalls erstreckt, aus unionsrechtlicher Perspektive nicht einzusehen weshalb dieses eine geringere Schutzwürdigkeit erfahren soll als das Habitatschutzrecht.488 Dagegen hat der EuGH für den Bereich des Wasserrechts grundsätzlich eine weniger strenge Geltung des Vorsorgeprinzips postuliert, sodass die Feststellung von Bagatellschwellen und Abschneidekriterien sowie die Gestattung von hydrologischen Freiräumen betreffend Methoden und Verfahren auf unionaler Ebene nicht ausgeschlossen ist.489 Allgemein steht das Vorsorgeprinzip in einem Spannungsverhältnis mit der gerichtlichen Kontrolldichte, sodass ein pauschalisierter Schluss von deutscher auf unionale Ebene abwegig erscheint.490 Hingegen ist der Umstand, dass sich ökologische Freiräume zum Teil auf die Tatsachenermittlung sowie -würdigung beziehen, kein Hindernis und dem Unionsrecht sogar bekannt.491 b) Herkömmliche Letztentscheidungsrechte des Unionsrechts Die analysierten ökologischen Verwaltungsfreiräume sind anschließend in Bezug zu bereits etablierten Letztentscheidungsrechten innerhalb der unionsgerichtlichen Judikatur zu setzen. Hierfür kann auf den in Teil 2 A. II. 6. b) aa) herausgearbeiteten Bestand unionsgerichtlich anerkannter Letztentscheidungsrechte zurückgegriffen werden sowie auf die analysierten Urteile im Referenzgebiet des Migrationsrechts.492 488

Dazu ausführlich Teil 3 A. II. 1. d) aa) und bb). EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 489 ff., BVerwGE 158, 1; die Auswirkungen dessen vgl. Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 164; OVG Bremen, Urteil vom 04. 06. 2009 – 1 A 9/09 Rn. 121, NordÖR 2009, 460. 490 Siehe Teil 3 A. II. 1. c) aa); die Pflicht zur Ausermittlung aller wissenschaftlichen Unsicherheiten, Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM/2000/0001, S. 5; im Habitatschutzrecht aufgrund der Gewissheitsrechtsprechung, grundsätzlich dazu Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe, in: Umweltprüfungen, S. 209; im Wasserrecht dagegen gelockert, EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 489 ff., BVerwGE 158, 1.; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 164; OVG Bremen, Urteil vom 04. 06. 2009 – 1 A 9/09 Rn. 121, NordÖR 2009, 460. 491 Konkret EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30; zu „weiten“ administrativen Letztentscheidungsrechten vgl. v. Danwitz, Europäisches Recht, S. 364 f.; Gärditz, in: Scheurle / Mayen, TKG, Einf., Rn. 146. 492 EuGH, Urteil vom 11. 09. 2008 – Rs. C-279/06, CESPA; EuGH, Urteil vom 06. 11. 2008 – Rs. C-405/07 P, Niederlande / Kommission; EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015  – Rs. C-62/14, Gauweiler; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008  – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010  – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG. 489

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

187

aa) Bezugnahme durch Verweisungsketten Auffällig ist, dass der EuGH vor allem bei den Ausführungen zum gerichtlichen Prüfungsmodus von Letztentscheidungsrechten Verweisungsketten mit referenzgebietsübergreifenden Präjudizien angeführt hat.493 Für die Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich des Gebietsausweisungsverfahrens wird darauf verzichtet. Betreffend die zeitliche Dimension wäre eine Verweisung auf die Rs. „TU München“ möglich gewesen.494 Vielmehr bleibt der EuGH bei der Anführung von Präjudizien des Referenzgebiets des Umweltrechts sowie der Thematik der Gebietsausweisung eher zurückhaltend. Andersherum werden die Urteile des EuGH in Sachen Gebietsausweisungsverfahren nicht im Rahmen der anderen Urteile zu Letztentscheidungsrechten angeführt.495 bb) Begründung und Herleitung Des Weiteren ist das Maß der angeführten Begründung für die Letztentscheidungsrechte unterschiedlich stark bzw. schwach. Die vom EuGH vorgenommene Begründung folgt dabei keinem klar fixierten Schema, sondern bewegt sich zwischen der Konstatierung anhand normativer Gegebenheiten,496 der Anführung von Sachgründen497 und der bloß affirmativen Zuweisung von Letztentscheidungsrech-

493

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG. 494 EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München. 495 EuGH, 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996  – Rs. C-44/95, Lappel Bank; /  Niederlande, Rn. 61; EuGH, Urteil vom EuGH, 19. 5. 1998  – Rs. C-3/96, Kommission  28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 – Rs. C-44/95, Lappel Bank; EuGH, 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96 Rs. „Kommission / Niederlande“, Rn. 61, DVBl. 1998, S. 888; EuGH, Urteil vom 25. 11. 1999  – Rs. C-96/98, Poitou-Sümpfe; EuGH, Urteil vom 07. 12. 2000  – Rs. C-374/98, Basses Corbieres; EuGH, Urteil vom 13. 06. 2002  – Rs. C-117/00, Kommission / Irland; EuGH, Urteil vom 6. 3. 2003  – Rs. C-240/00, Kommission / Finnland; EuGH, Urteil vom 05. 12. 2002 – Rs. C-324/01 Kommission / Belgien; EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006 – Rs. C-191/05, Kommission / Portugal; EuGH, Urteil vom 25. 10. 2007 – Rs. C-334/04, Kommission / Griechenland. 496 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG. 497 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuGH, Urteil vom 22. 11. 2007 C-525/04 P, Spanien / Lenzing, Rn. 56, 57; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

ten ohne weitere Ausführungen.498 Die Konstatierung anhand normativer Gegebenheiten ist in der unionsgerichtlichen Rechtsprechung eher selten. Die Herausarbeitung unter Nutzung des ersten und zweiten Modus ist möglich, hier besteht kein Konkurrenzverhältnis.499 Im Mittelpunkt der Mehrheit der analysierten unionsgerichtlichen Urteile steht regelmäßig die Anführung von Entscheidungskomplexität als Sachgrund insgesamt.500 In der Judikatur des EuGH zu Letztentscheidungsprogrammen kann sich die Entscheidungskomplexität aus verschiedenen anderen Sachgründen zusammensetzen, die entweder für sich allein, im Zusammenspiel miteinander oder mit normativen Gegebenheiten eine hinreichende Komplexitätsschwelle für die Konstatierung von Letztentscheidungsrechten überschreiten.501 Die Benennung konkre-

498

EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996  – Rs. C-44/95, Lappel Bank. 499 Hier in EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30. 500 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f., GRUR Int. 1986, S. 55; EuGH Urteil vom 22. 11. 2007  – C-525/04 P, Rs. Spanien / Lenzing, Rn. 56, 57; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005.  – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Rs. „Tetra Laval“, Rn. 131, DVBl.  2005, S. 595; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991  – Rs. C-269/90, TU München; EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30; EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014  – Rs. C-551/13, SETAR, Rn. 45; EuGH, Urteil vom 21. 12. 1954, Rs. C-1/54, Frankreich / EGKS Hohe Behörde; EuGH, Urteil vom 12. 04. 2018, Rs. C-541/16, Kommission / Dänemark, Rn. 44; EuGH, Urteil vom 24. 02. 1965, Rs. C-10/64, Julien / Kommission; EuGH, Urteil vom 16. 06. 1965, Rs. C-48/64, Brus / Kommission; EuGH, Urteil vom 11. 11. 1975, – Rs. C-37/75, Bagusat / Hauptzollamt Berlin Packhof, Rn. 18 ff.; EuGH, Urteil vom 02. 03. 1978  – Rs. 12/77, Debayser / Kommission, Rn. 20–23; EuGH, Urteil vom 22. 05. 1980, Rs. C-131/79, Santillo, Rn. 15; zumindest in Bezug auf das Letztentscheidungsrecht betreffend der „angemessenen Sanktion“ nicht ablehnend vgl. EuG, Urteil vom 31. 05. 2018 – Rs. T-352/17, Korwin-Mikke, Rn. 35 ff.; EuGH, Urteil vom 27. 04. 2017 – Rs. C-559/15, Onix Asigurari, Rn. 45 ff.; EuG, Urteil vom 24. 06. 2015 – Rs. T-847/14, GHC / Kommission, Rn. 64; EuGH, Urteil vom 10. 04. 2014  – Rs. C-485/12, „Maatschap T. van Oosterom en A. van Oosterom-Boelhouwer“, Rn. 63; EuGH, Urteil vom 22. 12. 2010  – Rs. C-77/09, Gowan Comércio Internacional  e Serviços, Rn. 82; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2017  – Rs. C-183/16 P, Tilly-Sabco / Kommission, Rn. 67; EuGH, Urteil vom 16. 05. 2017 – Rs. C-682/15, Berlioz Investment Fund, Rn. 71; EuGH, Urteil vom 18. 04. 2013, Rs. C-463/11 L, Rn. 24; EuG, Urteil vom 17. 11. 2009 – Rs. T-143/06, MTZ Polyfilms, Rn. 46, 48; EuG, Urteil vom 12. 12. 1996 – Rs. T-380/94, AIUFFASS / Kommission, Rn. 119, 121; EuG, Urteil vom 27. 04. 2016 – T-463/14, Österreichische Post / Kommission, Rn. 38–41, 86 ff.; vgl. auch v.  Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 363; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 185; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 167; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 385. 501 Ausführlich in Teil 2 B. III.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

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ter Komplexitätsgründe ist zudem nicht immer eindeutig und lässt sich dann nur aus den Umständen ableiten. Relevante Sachgründe liegen insbesondere in politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich behafteten Segmenten.502 Demgegenüber ist in einigen Rechtssachen die normative Begründung des Letztentscheidungsrechts recht markant.503 So wird etwa im Migrationsrecht die Entscheidungskomplexität nur zusätzlich angeführt.504 Die Zuweisung des Letztentscheidungsrechts folgt für das Gebietsausweisungsverfahren nach FFH-RL und VRL dem dritten Modus. Der EuGH führt für das Letztentscheidungsrecht in Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL weder konkrete normative noch sachliche Gründe an. Aufgrund der fehlenden Regelung zur Anwendung der ornithologischen bzw. ökologischen Kriterien in den entsprechenden Anhängen der FFH-RL und VRL und der möglichen Vereitelung von Harmonisierungs- und Richtlinienzielen erscheint die Letztentscheidungsrechtzuweisung durch den EuGH auf legislativer Ebene naheliegender.505 Zwar rührt die Folgerung wohl aus dem Regelungsminus,506 sodass negative normative Umstände argumentiert werden können, und gleichzeitig dürfte auch die ökolo­ gische Komplexität der Anwendungsmöglichkeiten bei den Kriterien in Anhängen der VRL und FFH-RL nicht von der Hand zu weisen sein, angesichts der expliziten Begründung für die Administrative in anderen Rechtssachen ist diese Argumentationsstruktur jedenfalls schwierig aufrechtzuerhalten.

502

Ähnlich v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 300. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30; siehe am Beispiel des unbestimmten Rechtsbegriffs EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 – Rs. C-551/13, SETAR, Rn. 45; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG; vgl. auch Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655. 504 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30. 505 Zumal im EU-Eigenverwaltungsrecht ohnehin eine restriktivere Handhabung der normativen Ermächtigungslehre erfolgt v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 300. 506 Ähnlich dem Ansatz der „beabsichtigten“ und „unbeabsichtigten Unbestimmtheit“ Kelsen, Reine Rechtslehre, Rn. 347 f.; Reimer, JZ 2015, S. 910, 912, insb. 913 ff.; dieser Ansatz in der FFH-RL erkennbar hier, vgl. EuGH, Urteil 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1. 503

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

cc) Inhaltliche und strukturelle Unterschiede Gegenüber den anderen Letztentscheidungsrechten ist das des Gebietsausweisungsverfahrens durch den EuGH fachspezifisch und präzise abgegrenzt.507 Dagegen sind die herkömmlichen Letztentscheidungsrechte weit gefasst und werden – ohne Beharren auf der Terminologie – als weites Ermessen oder weite Beurteilungsspielräume bezeichnet.508 Da die Bestimmung der Anwendung der Kriterien schließlich einer naturwissenschaftlichen Komponente folgt, die nicht stets absolute Ergebnisse bereithält, dürfte zumindest für den Anfang ein gewisser Spielraum hinsichtlich des „Ob“ der Gebietsausweisung bestehen. Damit besteht ebenfalls das Problem der Ausweitung tatbestandlicher Letztentscheidungsrechte auf die Rechtsfolgenebene.509 Hingegen verdichtet sich dieser Spielraum mit zunehmender Ausweisung, sodass die Beurteilungssphäre hinsichtlich des „Ob“ konsequenterweise wegfällt.510 dd) Gerichtliche Kontrolle des wissenschaftlichen Letztentscheidungsrechts Weniger zurückhaltend ist der EuGH bei der gerichtlichen Kontrolle des wissenschaftlichen Letztentscheidungsrechts.511 Nicht nur fallen die floskelartige Einleitung der gerichtlichen Evidenzkontrolle sowie der Verweis auf bisherige Rechtsprechung weg,512 sondern es findet eine stärkere gerichtliche Überprüfung 507

EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht, NVwZ 1991, S. 559; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 – Rs. C-44/95, Lappel Bank; national rezipiert vgl. BVerwG, Urteil vom 21. 1. 2016 – 4 A 5/14, Rn. 58, BVerwGE 154, 73; BVerwG, Urteil vom 12. 3. 2008 – 9 A 3/06 Rn. 58, BVerwGE 130, 299. 508 EuGH, Urteil vom 11. 09. 2008 – Rs. C-279/06, CESPA; EuGH, Urteil vom 06. 11. 2008 – Rs. C-405/07 P, Niederlande / Kommission; EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015  – Rs. C-62/14, Gauweiler, EuZW 2015, S. 599; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 –C-269/90, TU München; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG. 509 Siehe Teil 2 B. I. 1. und A. III. 2. 510 Zur Kontrolldichtedynamik Teil  3  A. II. 1. c) bb) (2); Bick / Wulfert, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 35, insbesondere S. 42; ein Phänomen, dass dem deutschen Verwaltungsrecht bekannt ist, zur Reduzierung auf null, vgl. BVerwG, Urteil vom 25. 07. 2013, Az 2 C 12.1, Rn. 9, NVwZ 2014, S. 300. 511 Es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens je nach das Beteiligungsintensität der Mitgliedstaaten und der Kommission als Akteure des Verfahrens eine stärkere Bezugnahme durch den EuGH provoziert wird, so beruft die Bundesrepublik Deutschland sich aktiv auf einen vorhandenen „Beurteilungsspielraum“ EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 50; oder ökologischen Ausführungen Irland, EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04 –Kommission / I rland, Rn. 54: dagegen kaum bis schwaches rechtliches Vorbringen Portugal, EuGH, 13. 07. 2006 – Rs.  C-191/05, Kommission / Portugal. 512 „[…] offenkundiger Fehler […] Wahrung der Verfahrensgarantien […] Zu diesen Garantien gehören die Verpflichtung der Behörden, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Ge-

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

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der mitgliedstaatlichen Gebietsausweisungsentscheidung statt. Auf der einen Seite mag dies daran liegen, dass das wissenschaftliche Letztentscheidungsrecht begrenzt ist und damit innerhalb der zu kontrollierenden Entscheidung insgesamt in den Hintergrund gerät. Auf der anderen Seite führt die ökologische Grundlage grundsätzlich zu einer besseren gerichtlichen Nachvollziehbarkeit der mitgliedstaatlichen bzw. behördlichen Entscheidung gegenüber den Entscheidungen, welche das Abrufen von Erfahrungswerten, eine zukunftsgerichtete Prognose sowie Bewertungen in sozialen Belangen erfordern.513 Bei Heranziehung der Rechtssache „Bertelsmann / Sony BMG“514 stößt der gerichtliche Modus hinsichtlich des Gebietsausweisungsverfahrens jedenfalls auf Unverständnis. Nicht nur sind kartellrechtlichen Verwaltungsentscheidungen wirtschaftswissenschaftliche Faktoren inhärent, welche mithin ebenfalls einer fachwissenschaftlichen Überprüfung bedürfen.515 Vielmehr greift der Gerichtshof mit der Entscheidung über die Ausweisungsverpflichtung entsprechend der IBA-Listung in die den Mitgliedstaaten obliegende Beurteilung betreffend die Anwendung der Kriterien ein.516 Bei Art. 2 Abs. 2 FKVO erinnert der Gerichtshof dagegen daran, dass die behördliche bzw. mitgliedstaatliche Beurteilung nicht durch die gerichtliche ersetzt werden dürfe.517 c) Zuweisungen im Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungsverfahren Die Rechtsprechungslinie des EuGH ist zusätzlich im Lichte der durchgeführten Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV zu betrachten. Innerhalb dessen streiten die Mitgliedstaaten und die Europäische Kommission über die unzureichende Umsetzung der Richtlinien oder das Unterlassen der Umsetzung nach vorgegebenem Fristablauf.518

sichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen […] sowie die Verpflichtung, ihre Entscheidung hinreichend zu begründen […]“, EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 40; m. w. N. v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 300. 513 Erforderlich etwa im Migrations- und Kartellrecht EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 40; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008  – Rs. C-413/06 P Bertelsmann / Sony BMG. 514 EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 Rn. 69, Rs. P Bertelsmann / Sony BMG. 515 Vgl. EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Rs. Remia, Rn. 43 f.; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131; Zu grundsätzlichen Abweichungen im Kartellrecht gegenüber dem Regulierungsrecht Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006. 516 EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 39 ff.; EuGH, Urteil vom 23. 03. 2006 – Rs. C-209/04, Kommission / Österreich, Rn. 44 f.; EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / Irland, Rn. 54; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993  – Rs.  C-355/90, Kommission / Spanien, Rn.  26. 517 EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG, Rn. 69. 518 Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 258 Rn. 61, 65; EuGH Rs. C-456/05, Slg. 2007, I–10517 Rn. 22 Rs. „Kommission / Deutschland“.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

aa) Das Vertragsverletzungsverfahren als Kompetenzzuweisungsverfahren Eine Vertragsverletzung liegt dann vor, wenn eine Regelung des Primär- oder Sekundärrechts missachtet wurde.519 Dies kann im Wege bloßer Missachtung der Umsetzung oder durch fehlerhafte Umsetzung geschehen sein. Letztere Umsetzung ist unter anderem dann fehlerhaft, wenn europäische Richtlinienziele konterkariert werden, was unter anderem durch Auslegung der Richtlinie zu ermitteln ist.520 Wird schließlich nicht gegen eine Norm der Richtlinie verstoßen und lässt sich durch Auslegung kein Verstoß feststellen, liegt hingegen keine Vertragsverletzung vor.521 Um keine Vertragsverletzung handelt es sich ebenfalls, wenn die in Streit stehende Umsetzung nicht einer Regelung durch die Richtlinie unterworfen ist und weder Harmonisierungs- noch Richtlinienzielen zuwiderläuft. Somit besteht im Vertragsverletzungsverfahren stets das Bedürfnis, das durch die Richt­ linie geschaffene besondere Spannungsverhältnis betreffend (Letztentscheidungs-) Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten auszutarieren.522 Dies gilt besonders unter Berücksichtigung des Prinzips der begrenzten Ermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 EUV.523 Die zum Vergleich herangezogenen und analysierten Letztentscheidungsrechte wurden von dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV judiziert. Im Hinblick auf Rechtsakte der indirekten Unionsgesetzgebung setzt sich das Vorabentscheidungsverfahren gegenüber dem Vertragsverletzungsverfahren sowohl hinsichtlich der Akteure als auch der Entscheidungsmaterie ab. So werden etwa die vorlegenden Gerichte zu Initiatoren des Verfahrens nach

519

Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 258 Rn. 59; Ehricke, in: Streinz, AEUV Art. 258 Rn. 6; EuGH, Urteil vom 31. 03. 1971 – 22/70, Rs. 22/70, Kommission / Rat, Rn. 15, 19 f.; vgl. Burgi, in: Rengeling / Middeke / Gellermann, Rechtsschutz in der EU, § 6, Rn. 44; Cremer, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 258. 520 Ehricke, in: Streinz, AEUV Art. 258 Rn. 6; vgl. EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991  – Rs. C-57/89, Leybucht, Rn. 20 f. 521 Insofern greift die nationale Verfahrensautonomie, dazu Ionescu, Innerstaatliche Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens, S. 34 ff., 275 f.; der indirekte unionsrechtliche Vollzug bildet das Hauptanwendungsfeld der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie, Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 30. 522 Kokott, ZaöRV 69 (2009), S. 275; Ionescu, Innerstaatliche Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens, S. 34 ff.; zusätzlich ist auch ein (rechts-)politischer Einschlag gegeben, welcher aufgrund der Beteiligung sämtlicher Vertreter der Mitgliedstaaten bei dem Vertragsverletzungsverfahren bereits erahnt werden kann, Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 258 Rn. 77; Cremer, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 258 Rn. 14; zum Konfliktfall, Nettesheim, EuR 2004, S. 511, 544. 523 Dazu Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 40 ff.; Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV Art. 5 Rn. 9; Nettesheim, EuR 1993, S. 243; allgemein Streinz, in: Streinz, EUV, Art. 5 Rn. 8, 10; Pache, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar EUV / GRC / A EUV Art. 5 EUV Rn. 22; Bast, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EUV Art. 5 Rn. 13 ff.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

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Art. 267  AEUV,524 die dem EuGH abstrakte Fragen bezüglich des Auslegungsverständnisses transformierter nationaler Gesetze vorlegen.525 Darüber hinaus liegt beiden Verfahren grundsätzlich ein unterschiedliches zeitliches Verständnis des Prozesses unionaler Gesetzgebung zugrunde. Während die in Rede stehende Vertragsverletzung wegen missachteter oder falscher Umsetzung die gültige Vollendung dieses Prozesses erst aufgreift, fokussiert das Vorabentscheidungsverfahren die Auslegung des transformierten Richtlinienrechts und geht somit in der Regel von einem vollendeten Transformationsprozess aus.526 Im Grundfall der Vertragsverletzung aufgrund der unzureichenden Richtlinientransformation, also der hypothetischen Frage nach einer Überschreitung der durch die Europäischen Verträge geregelten Kompetenzverteilung, die sich im Sekundärrechtsakt manifestiert, würde dies bedeuten, dass die Europäische Union bestimme Sachverhalte durch den Erlass von Richtlinien regeln darf oder dies den Mitgliedstaaten durch nationale Gesetze vorbehalten ist. Dies gilt für die hypothetische Fragestellung ebenfalls bei der gegenteiligen Darstellung der Subjekte des supranationalen Ordnungsrahmens. Die Feststellung derartiger Verletzungen durch die Mitgliedstaaten ist gemäß Art. 259 AEUV erklärte Aufgabe des EuGH. Bei dem konkreten Fall der Gebietsausweisung nach Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs.  4 VRL kann dies nicht derart simplifiziert werden.527 Sofern die Gesetzgebungskompetenz in Umweltsachen der Europäischen Union (im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz nach Art. 4 Abs. 2 lit. e. AEUV) nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß den Verträgen feststeht,528 verbleibt zusätzlich die Frage nach der Ausnutzung des Kompetenzausmaßes durch den Unionsgesetzgeber.529 Dieser Fragestellung ist die Überprüfung 524

Wegener, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 267 Rn. 19; Görlitz, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar EUV / GRC / A EUV / Pechstein, AEUV Art.  267 Rn.  37; Höpfner, in: EuArbRK, AEUV Art. 267 Rn. 18; Dörr, in: Sodan / Ziekow, NK-VwGO, Rn. 106; EuGH, Urteil vom 21. 03. 2000 – Rs. C-110/98, Rs. C-147/98, Gabalfrisa, Rn. 33; EuGH, Urteil vom 29. 11. 2001 – Rs. C-17/00, De Coster, Rn. 10; EuGH, Urteil vom 30. 05. 2002 – Rs. C-16/99, Schmid, Rn. 34; EuGH, Urteil vom 27. 01. 2005 – Rs. C-125/04, Denuit, Rn. 12; EuGH, Urteil vom 14. 05. 2008 – Rs. C-109/07, Pilato, Rn. 22. 525 Dörr, in: Sodan / Ziekow, NK-VwGO, Rn. 111; Wegener, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 267 Rn. 10; Karpenstein, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 267 Rn. 20. 526 Zu den Verletzungen durch Unterlassen der Umsetzung vgl. Burgi, in: Rengeling / Middeke /  Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 1. Teil. Rechtsschutz durch den Europäischen, § 6 Vertragsverletzungsverfahren, Rn. 45; Karpenstein, in: Grabitz /  Hilf / Nettesheim AEUV, Art. 258 AEUV. 527 Etwa in EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991  – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90 –Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 – Rs. C-44/95, Lappel Bank; national rezipiert vgl. BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14, Rn. 58, BVerwGE 154, 73; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06 Rn. 58, BVerwGE 130, 299. 528 Jarass, AöR 121 (1996), S. 173 (174); Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 40. 529 Siehe Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV „[…] sofern und soweit nicht ausgeübt hat […]“; siehe explizit Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union –

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

der gewillkürten sekundärrechtlichen Letztentscheidungskompetenzzuweisung an die mitgliedstaatlichen Administrativen inhärent.530 Dies bedeutet also: Trifft der Unionsgesetzgeber bestimmte Regelungen bzw. setzt bestimmte Maßstäbe nicht und weist solche Befugnisse nicht explizit der nationalen Administrative zu, obwohl diese Regelungen in Normen der Richtlinie vorausgesetzt werden, wird ein Tätigwerden auf nationaler Ebene möglich531 und gegebenenfalls notwendig.532 Darin ist eine partielle Rückübertragung der Regelungs- bzw. einer Letztentscheidungskompetenz auf Widerruf (bis zu der erneuten Beanspruchung durch den Unionsgesetzgeber) zu sehen.533 Es erfolgt mithin die materielle Erweiterung bestehender mitgliedstaatlicher Umsetzungsfreiräume bzw. -spielräume534 durch das Hinzutreten unional freigegebener Gesetzgebungskompetenz, die im Rahmen des Transformationsprozesses ausgenutzt werden können bzw. müssen. Die Überschreitung dieser Freiräume stellt wiederum eine empfindliche Vertragsverletzung dar.535 Im Fall des normativen Determinierungsverzichts in FFH-RL und VRL hinsichtlich der Anwendung der Kriterien durch den Unionsgesetzgeber trotz der Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gebietsausweisung kann dies nicht anders beurteilt werden. Hingegen bleibt eine mögliche Zuweisung an die Administrative der Mitgliedstaaten fraglich. Protokoll (Nr. 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit, ABl. 115 vom 09. 05. 2008 S. 307; nur insoweit (!) entsteht eine Sperrwirkung, Calliess, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 4 Rn. 1, Art. 2 Rn. 11 f. insb. 15; Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 2, Rn. 25; Streinz, in: Streinz, AEUV Art. 2, Rn. 11; Weber, EuZW 2008, S. 7, 11; vgl. Engelmann, ZEI Discussion Paper C 124/2003, S. 39, 41; „keine Sperrwirkung im eigentlichen Sinn“, sondern lediglich eine aus dem Vorrangprinzip, also aus Ausmaß und Intensität einer Harmonisierung, resultierende Verdrängung siehe Eilmansberger, in: Hummer / Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 196 f.; Craig, in: Pernice / Maduro, A Constitution for the European Union, S. 75, 84 f. 530 Wie beispielweise bei dem Regulierungsermessen erkennbar, so EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Kommission / Deutschland, Ls. 1, Rn. 38 ff.; zum Ermessen vgl. EuGH, Urteil 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06, Arcor. 531 Weber, EuZW 2008, S. 7, 11; Calliess, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 4 Rn. 1, Art. 2 Rn. 11 f. insb. 15, 16; Craig, in: Pernice / Maduro A Constitution for the European Union, S. 75, 84 f. 532 Im Hinblick auf die Kritik des Verfassungsgerichts wohl notwendig, BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 19, 25, 27 BVerfGE 149, 407. 533 Vgl. Calliess, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 4 Rn. 1, Art. 2 Rn. 16; dazu Textentwurf für Teil I des Vertrags über die Verfassung sowie für die Protokolle über die Anwendung der Grundätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit und über die Rolle der nationalen Parlamente, CONV 724/1/03, S. 67; Weber, EuZW 2008, S. 7, 11; Braams, in: Pernice, Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, S. 115, 122; Calliess, Die neue EU, S. 189 f.; Lenski, in: Lenz / Borchardt, EU-Verträge, Art. 2 AEUV, Rn. 10. 534 Reimer, JZ 2015, S. 910, 915; dies vermittelt schon das Ermittlungserfordernis der Lenkungs- und Leitungsbefugnisse i. R. d. Vertragsverletzungsverfahrens Karpenstein, in: Grabitz /  Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 258 Rn. 61; Karpenstein, Praxis des EG-Rechts, 2006, Rn. 127 ff.; EuGH, Urteil vom 24. 11. 1982 – Rs. 249/81, Kommission / I rland, Rn. 23 ff.; EuGH, Urteil vom 05. 11. 2002 – Rs. C-325/00, Kommission / Deutschland, Rn. 16; allgemein Payrhuber / Stelkens, EuR 2019, 190, 206. 535 Reimer, JZ 2015, S. 910, 912; nicht zuletzt wegen der unionalen Sperrwirkung, zu den Rechtsfolgen Bauerschmidt, EuR 2014, S. 277 f., 288 f.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

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bb) Legislativ- und Administrativzuweisung europäischer Rechtsakte Wie bereits erwähnt, ist dies anders zu beurteilen, wenn die europäischen Rechtsakte den mitgliedstaatlichen Behörden Letztentscheidungsrechte zuweisen, da die unionsgesetzgeberische Kompetenzausübung sich dann auf die Gestattung administrativer Letztentscheidungsrechte erstreckt. Die mitgliedstaatliche Beschränkung der richtliniengegebenen administrativen Letztentscheidungsbefugnisse im Rahmen des Transformationsprozesses würde sogar eine Vertragsverletzung darstellen.536 Nach diesem Verständnis verpflichtet das Vertragsverletzungsverfahren theoretisch zu erneutem gesetzgeberischem Tätigwerden, gegebenenfalls unter Nutzung eigener legislativer oder Weitergabe administrativer Letztentscheidungsrechte.537 Naturgemäß ist diese Zuweisungsermittlung für die umsetzungsbedürftige Richtlinie schwieriger als für die unmittelbar geltende Verordnung, da die Adressaten der Verordnung (Exekutive der Mitgliedstaaten) und die Letztentscheidungsrechtsadressaten identisch sind.538 Bei Betrachtung der legislativen Zuweisung als Grundfall der transformationsbedürftigen Richtlinie kann lediglich die normative Ermächtigung zu einer Administrativzuweisung in der Richtlinie führen.539 Im Gegensatz zu dem vielfach diskutierten Regulierungsermessen,540 dessen anwendende mitgliedstaatliche Regulierungsbehörde direkte Erwähnung in dem 36. Erwägungsgrund sowie in Art. 8, 15 und 16 RL 2002/21/EG541 (Rahmenricht-

536

So EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009  – Rs. C-424/07, Kommission / Deutschland, Ls. 1, Rn. 38 ff.; zum Ermessen vgl. EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06. 537 So EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009  – Rs. C-424/07, Kommission / Deutschland, Ls. 1, Rn. 38 ff.; zum Ermessen vgl. EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06, Arcor; am Beispiel des Art. 4 sieht man, dass dies fehlgeschlagen ist, da die deutschen Gerichte, mit Verweis auf Vertragsverletzungsverfahren, richtlinienkonformen auslegen. 538 Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, 69. EL Februar 2020 Rn. 98, AEUV Art. 288 Rn. 98; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 22; am Beispiel von VGH Mannheim, Urteil vom 16. 06. 2014 – 9 S 1273/1; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  60; siehe auch Visakodex, EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; im Eigenverwaltungsrecht etwa EuGH, Urteil vom 08. 06. 2017 – Rs. C-625/15 P, Schniga / CPVO, Rn. 47; EuGH, Urteil vom 19. 12. 2012, Rs. C-534/10 P, Brookfield New Zealand und Elaris /  CPVO und Schniga, Rn. 50; EuGH, Urteil vom 15. 04. 2010 – Rs. C-38/09 P, Schräder / CPVO, Rn. 77. 539 Diese normative Ermächtigung muss aus Umsetzungsgesichtspunkten hinreichend evident sein im Gegensatz dazu ist die Ermächtigung im Sinne der normativen Ermächtigungslehre auf nationaler Ebene deutlich auslegungsfreundlicher, siehe Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 187aa. 540 EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Kommission / Deutschland, Ls. 1, Rn. 38 ff.; dazu Gärditz, NVwZ 2009, 1005; Ludwigs, RdE 2013, S. 297; Riese, in: Schoch / Schneider /  Bier, VwGO § 114 Rn. 89; Kersten, Die Verwaltung 46 (2013), S. 87, 93; Gärditz, DVBl. 2016, S. 399, 405 f.; Jestaedt, in: Erichsen / Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 12 ff.; Durner, DVBl. 2012, S. 299, 201; Durner, VVDStRL 70, S. 401 ff. 541 Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie), ABl. EG, L 108 vom 24. 04. 2002, S. 33–50.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

linie), Art. 17 Abs. 2 RL 2002/22/EG542 (Universalrichtlinie) und Art. 8 Abs. 1 RL 2002/19/EG543 (Zugangsrichtlinie) findet,544 fehlt es im vorliegenden Fall des Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL (generell in FFH-RL, VRL und WRRL) an einer eindeutigen gesetzlichen Ermächtigung der nationalen Administrativen, womit es bei dem Grundfall des legislativen Letztentscheidungsrechts bleibt.545 Zu einer qualitativen Entwertung des legislativen Letztentscheidungsrechts kommt es lediglich durch die Implementierung der unionsgerichtlichen Gebietsausweisungsrechtsprechung in die deutsche Rechtsprechung nach Ausbleiben einer legislativen Handlung.546 Dass die normative Ermächtigung im Regulierungsrecht kein Einzelfall ist, zeigen auch andere administrative Letztentscheidungsrechte und die explizite Bezugnahme auf die Behörden der Mitgliedstaaten in den relevanten Normen der Richtlinien. Dies gilt für Umweltsanierungsmaßnahmen547 gemäß Art. 6  RL 2004/35/EG (Umwelthaftungsrichtlinie),548 der Verwaltungsentscheidung bei Visaerteilung nach Art. 12 RL 2004/114/EG (Studenten- und Austausch-RL)549 und Art. 18 ff. RL 2004/114/EG, in der die Studenten- und Aus 542

Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. EG L 108 vom 24. 4. 2002, S. 51–77. 543 Richtlinie 2002/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung (Zugangsrichtlinie), ABl. Nr. L 108 vom 24. 04. 2002, S. 7–20. 544 EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Kommission / Deutschland, Ls. 1, Rn. 38 ff.; EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06, Arcor. 545 In der FFH-RL, VRL und WRRL wird ausdrücklich nur von den Mitgliedstaaten gesprochen, diese Zuweisung erkennt auch die nationale Rechtsprechung, wenn diese explizit von „Mitgliedstaaten“ spricht, siehe BVerwG, Urteil vom 27. 02. 2003 – 4 A 59.01, BVerwGE 118, 15; BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229. 546 So etwa im Fall der Gebietsausweisung, BVerwG, Urteil vom 27. 02. 2003 – 4 A 59.01, BVerwGE 118, 15; BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 C 11/96, NVwZ 1999, S. 528; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 A 9/97, BVerwGE 107, 1 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14, BVerwGE 154, 73ff; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06, BVerwGE 130, 299 ff.; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013 – 4 C 3/12 –, BVerwGE 146, 176 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14, NuR 2015, 772 ff.; So auch hinsichtlich der Konkretisierungsspielräume im Rahmen von Art. 6 FFH-RL im Anschluss an EuGH, Urteil 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Rs. „Herzmuschelfischerei“, Rn. 52, Slg. 2004, I–7405; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1. 547 EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010  – Rs. C-379/08 und Rs. C-380/08, Rs. „ERG“, Rn. 59, 60, Slg. 2010, I–2007–2054. 548 Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, ABl. L 143 vom 30. 04. 2004, S. 56–75. 549 Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst, ABl. L 375 vom 23. 12. 2004, S. 12–18; Letztentscheidungsrecht judiziert in EuGH,

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tausch-RL ablösenden Richtlinie gemäß Art. 34 RL (EU) 2016/801550 sowie für die Probeentnahme im Rahmen der Luftqualitätsbeurteilung551 und Art. 3 lit. a RL 2008/50/EG.552 Das Postulieren von Letztentscheidungsrechten bzw. Freiräumen seitens des EuGH innerhalb des Vorabentscheidungsverfahrens oder Vertragsverletzungsverfahrens kann somit eine Verschiebung der im Vorfeld geregelten Adressatenzuweisung (Legislativ- oder Administrativzuweisung) bewirken, wenn im Wege richtlinienkonformer Auslegung legislative Letztentscheidungsrechte unmittelbar auf die nationalen Administrativen übertragen werden. Freilich trifft diese Zuweisung allein keine Aussage über eine unional abgeleitete Kontrolldichtereduzierungspflicht der deutschen Gerichtsbarkeit.553 2. Modifizierung legislativer Letztentscheidungsrechte Bei dem Freiraum des Gebietsausweisungsverfahrens nach Art. 4 Abs. 1 FFHRL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL handelt es sich zwar um ein europäisches Letztentscheidungsrecht, angesichts der schwachen Begründung, der strukturellen Beschaffenheit, der ökologisch-wissenschaftlichen Ausfüllung sowie des gerichtlichen Kontrollmodus im Vergleich mit herkömmlichen Letztentscheidungsrechten des Europäischen Verwaltungsrechts scheitert eine Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechungslinie des EuGH jedoch. Die Besonderheit bestätigt ebenfalls die fehlende Bezugnahme auf die anderen (administrativen) Letztentscheidungsrechte mithilfe der Verweisung auf Präjudizen und demgegenüber der graduellen Anreicherung unionsgerichtlicher Folgeurteile mit Präjudizienverweisen des ökologischen Letztentscheidungsrechts.

Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 50; so auch schon EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61. 550 Richtlinie (EU) 2016/801 des Europäischen Parlaments und Rates vom 11. Mai 2016 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit, ABl. L 132, S. 21–57. 551 Vgl. EuGH, Urteil vom 26. 06. 2019 – Rs. C-723/17, Craeynest, Rn. 44. 552 Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. L 152 vom 11. 06. 2008, S. 1–44. 553 Siehe für das Regulierungsrecht explizit EuGH, Urteil 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06 Arcor, Rn. 166; grundsätzlich ablehnend zum unionsrechtlichen Gebot, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; vgl. auch Schoch, NVwZ 1999, S. 457, 466; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  220 f.; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; Proeßl, AöR 136 (2011), S. 402, 424; Ludwigs, DV 44 (2011), S. 41, 68; Ludwigs, JZ 2009, S. 290, 294; a. A. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Europäischen Union, 1996, S. 407 ff.; Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine des europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 176 ff.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Vor dem Hintergrund der bloß affirmativen mitgliedstaatlichen Zuweisung im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens und aufgrund der fehlenden Administrativzuweisung expressis verbis handelt es sich außerdem um ein Letztentscheidungsrecht legislativer Art, das den Mitgliedstaaten zur Konkretisierung der Anwendung von Gebietsausweisungskriterien dient. Bei Zugrundelegung der gegebenen normativen Umstände kann jedenfalls keine relevante Letztentscheidungskompetenzzuweisung verglichen mit dem Regulierungsrecht, Teilen des Umweltrechts sowie anderen Referenzgebieten festgestellt werden. In Ermangelung von Sachgründen und bzw. oder positiver normativer Umstände sowie unter Beachtung des Kompetenzzuweisungsmechanismus im Lichte von Art. 5 Abs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 lit. e AEUV ergeht die Letztentscheidungsrechtszuweisung in Anerkennung des unionsgesetzgeberischen Regelungsminus, sog. negativer normativer Umstände. Mit Verzicht des legislatorischen Tätigwerdens auf nationaler Ebene infolge der Vertragsverletzungsrechtsprechung wird mit der richtlinienkonformen Anwendung der nationalen Gerichte das Letztentscheidungsrechtsverhältnis zwischen Unionsgesetzgeber und nationalem Gesetzgeber auf das Verhältnis zwischen nationalem Gesetzgeber und der Verwaltung herabgesetzt, weshalb das legislative Letztentscheidungsrecht zu einem administrativen umfunktioniert wird. Für die von der nationalen Gerichtsbarkeit identifizierten ökologischen Verwaltungsfreiräume fehlt bislang die unionsgerichtliche Verifizierung. Wie festgestellt, gehen diese Verwaltungsfreiräume auf die Europäisierung der umweltrechtlichen deutschen Regelungsstrukturen zurück. Unter anderem findet die Anerkennung dieser ökologischen Verwaltungsfreiräume entsprechenden Ursprung in dem unionalen und deutschen Regelungs- bzw. Konkretisierungsverzicht. Hierbei handelt es sich um die Anwendung eines supranationalen (Letztentscheidungsrechts-)Kompetenzzuweisungsmechanismus auf innerstaatliche Verhältnisse.554 Auf mitgliedstaatlicher Ebene findet dieser Mechanismus bei Gegenüberstellung der deutschen Dogmatik keine hinreichende Stütze, sodass die Letztentscheidungsrechtsqualität dieser Freiräume zu bezweifeln ist.555 Daher kann für diese nationalen Freiräume mit europäischer Einkleidung in Bezug auf das Unionsrecht selbst nur eine Indizwirkung attestiert werden. Deutlich wird dies zuletzt im Arten- und Habitatschutzrecht wegen der problemträchtigen Korrelation der gerichtlichen Kontrolldichte und des Vorsorgegrundsatzes gemäß des Art. 191 Abs. 2 Satz 2 AEUV sowie der diesbezüglichen restriktiven Rechtsprechung.

554

Vgl. EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; im Anschluss daran siehe BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1; ähnlich dem Ansatz der „beabsichtigten“ und „unbeabsichtigten Unbestimmtheit“ Kelsen, Reine Rechtslehre, Rn. 347 f. 555 Siehe Teil  3  A. II. 2. ff.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

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II. Europäischer Beurteilungsspielraum Die positive Einordnung als zumindest auf der deutschen Ebene anerkanntes administratives Letztentscheidungsrecht, welches sich von dem herkömmlichen administrativen Letztentscheidungsrecht des Unionsrechts absetzt,556 ebnet den Weg für den Differenzierungsversuch bei der Beurteilungsspielraumqualität. 1. Grundlegende Letztentscheidungsrechtskonzeption Anlässlich der deutschen Konzeption müssen zunächst jedoch grundlegende Aspekte des Beurteilungsspielraumes vorliegen.557 Bei der Gebundenheit der Gebietsausweisungsentscheidung,558 der eingeschränkt tatbestandlichen Dimension des Letztentscheidungsrechts sowie der eingeschränkten Kontrolle der Gerichte handelt es sich um ein heruntergebrochenes deutsches Grundmuster des Beurteilungsspielraums. Zwingend ist für das Unionsrecht keinesfalls die vollständige Symbiose mit der deutschen Dogmatik des Beurteilungsspielraums. Damit ist etwa eine (unions-)gesetzgeberische Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisung an die Exekutive gegenüber der Judikative in der Art, dass der unbestimmte Rechtsbegriff zentraler Anknüpfungspunkt im Rahmen der normativen Ermächtigungslehre findet,559 nicht notwendig. Der unbestimmte Rechtsbegriff maßt sich im Unionsrecht grundsätzlich und konkret bei dem wissenschaftlichen Letztentscheidungsrecht nicht eine derartige Funktion an und führt lediglich zu seman­ tischen Erkenntnisunsicherheiten.560 Die Kompetenzzuweisung richtlinienbasierter legislativer Letztentscheidungsrechte vollzieht sich im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Ermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 EUV und der supranationalen Kon 556

Teil  3  A. II. 1. und B. I. 1. b). Zum Beurteilungsspielraum Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11  V  2  Rn. 44 ff.; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11 f.; ­Redeker, in: Redeker / von Oertzen; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51; Wolf, in: Sodan /  Ziekow, § 114 Rn. 286; Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, § 114 Rn.  56. 558 Vgl. Füßer, NuR 2004, S. 701, 702; EuGH, Urteil vom 07. 11. 2000  – Rs. C-371/98  –, Rn. 17–25, Rs.  „First Corporate Shipping“, Slg.  2000, I–9235–9264; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2001 – Rs. C-67/99 – Rn. 29 Rs. „Kommission / I rland“; national BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22/11, Rn. 36 –, BVerwGE 146, 145; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14 –, Rn. 23, NuR 2015, 772; EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht, NVwZ 1991, S. 559; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993  – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996  – Rs. C-44/95, Lappel Bank; EuGH, Urteil vom 19. 5. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 61. 559 Zum unbestimmten Rechtsbegriff Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 35 f.; kritisch betreffen der Rolle des unbestimmten Rechtsbegriffs im nationalen Recht Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 IV 3 Rn. 26; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006. 560 Unter Berücksichtigung von Teil 2 B. II. zutreffend daher Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655. 557

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

zeption der Europäischen Union normativ im negativen Sinne.561 Für die unionale Zuweisung an die Administrative muss zusätzlich die unmittelbare Adressierung der mitgliedstaatlichen Behörde in der Richtlinie hinzukommen.562 2. Differenzierungsversuch aufgrund Trennschärfe und Konzept der Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisung Ob die dargelegten Rahmenbedingungen des wissenschaftlichen Letztentscheidungsrechts für einen Differenzierungsversuch zwischen Beurteilungsspielraum und Ermessen im Referenzgebiet des europäischen Umweltrechts tauglich sind, kann nach einer Gegenüberstellung eines rechtsfolgenseitigen Letztentscheidungsrechts beantwortet werden. Im Anschluss sind die unionsgesetzgeberische Intention und Kompetenzzuweisung sowie die mitgliedstaatliche Herabstufung einzubeziehen. a) Gegenüberstellung von rechtsfolgeseitigem Letztentscheidungsrecht Wenn bedacht wird, dass das Unionsrecht in anderen Referenzgebieten dazu neigt, der Verwaltung möglichst „weite“ Letztentscheidungsrechte einzuräumen,563 handelt es sich hier um ein Novum. Zumindest für die administrativen Letztentscheidungsrechte, die auf der Tatbestandsebene verortet sind, ist die Konsequenz, dass die Grenzen zwischen Tatbestand und Rechtsfolge verwischt werden und der Verwaltung somit ein nicht intendiertes faktisches Ermessen zukommt.564 Dagegen besteht das vorliegende Letztentscheidungsrecht betreffend die Gebietsausweisung nur hinsichtlich der Anwendung der wissenschaftlichen Kriterien, um (die geeignetsten) Gebiete zu bestimmen. Sofern nach diesen Kriterien ein Gebiet am geeignetsten ist, besteht eine Ausweisungsverpflichtung.565 Insofern lassen sich die Dimensionen des administrativen Letztentscheidungsrechts auf der Tatbestandsebene normstrukturell präzise erfassen.566 Zusätzlich findet sich 561

Vgl. EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; im Anschluss daran siehe BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1. 562 Grundfall der Richtlinie siehe Teil 3 B. I. 1. c). 563 So schon v. Danwitz, Europäisches Recht, S. 364 f.; Gärditz, in: Scheurle / Mayen, TKG, Einf., Rn. 146; siehe zusätzlich EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 50; so auch schon EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61. 564 Für das Migrationsrecht vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian; zustimmend VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; dazu ausführlich Teil 2 B. I. 1. 565 Vgl. EuGH, 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 61. 566 Zur Strukturklarheit vgl. Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 VwGO Rn. 13.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

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ein normatives Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisungskonzept. Obgleich der unionsrechtliche Ansatz der Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisung sich lediglich an negativ angelehnten normativen Gegebenheiten orientiert, erfolgt dies jedenfalls gegenüber anderen Referenzgebieten nicht ausschließlich aus funktionell-rechtlichen Gründen.567 Allerdings können diese Merkmale auch auf rechtsfolgenseitige und wissenschaftliche Letztentscheidungsrechte übertragen werden und stellen damit keine Singularität mit scheinbarer Differenzierungswirkung dar. In der Rechtssache „Grüne Liga Sachsen“ postulierte der EuGH, dass den Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Art. 6 Abs. 2 FFH-RL ein Ermessen zustehe.568 Nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL haben die Mitgliedstaaten die geeigneten Maßnahmen zub treffen, um die besonderen Schutzgebiete vor Verschlechterungen der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten zu schützen sowie Störungen von Arten zu verhindern. Der EuGH judiziert ein terminologisches und fachliches Ermessen, da das Letztentscheidungsrecht Entscheidungen auf der Rechtsfolgenebene betrifft.569 Entsprechend dem Gebietsausweisungsverfahren wird das Letztentscheidungsrecht ebenfalls auf ein naturwissenschaftliches Fundament eingegrenzt, da nach dem EuGH nur die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt werden dürfen.570 Dies ergebe sich aus dem Normkomplex des Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 FFHRL.571 Da störende bzw. erhaltungsfeindliche Schutzmaßnahmen dem Sinn und Zweck von Art. 6 FFH-RL zuwiderlaufen, ist der Geltung des strengen Maßstabes des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL und der Orientierungsverpflichtung an den Erhaltungszielen des Art. 6 Abs. 1 FFH-RL zuzustimmen. Die Einschränkung auf das wissenschaftliche Fundament vermittelt dem Entscheidungsträger aufgrund der fehlenden naturwissenschaftlichen Determinierung der Richtlinie eine gewisse Entscheidungsfreiheit auf dem Niveau der besten wissenschaftlichen Erkenntnisse.572 567 Teilweise EuGH, Urteil vom 11. 09. 2008  – Rs. C-279/06, CESPA; EuGH, Urteil vom 06. 11. 2008  – Rs. C-405/07 P, Niederlande / Kommission; EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015  – Rs. C-62/14, Gauweiler; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008  – Rs. C-413/06 P Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG. 568 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016  – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; BVerwG, Urteil vom 11. 08. 2016 – 7 A 1.15 (7 A 20.11), 7 A 1.15, 7 A 20.11 Rn. 152, BVerwGE 156, 20; BVerwG, Urteil vom 15. 07. 2016 – 9 C 3.16, Rn. 38, NVwZ 2016, 1631. 569 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Rn. 40, 41, 54, Grüne Liga Sachsen; ebenfalls BVerwG, Urteil vom 11. 08. 2016 – 7 A 1.15 (7 A 20.11), 7 A 1.15, 7 A 20.11 Rn. 152, BVerwGE 156, 20; BVerwG, Urteil vom 15. 07. 2016 – 9 C 3.16, Rn. 38, NVwZ 2016, 1631. 570 In Anerkennung der Gewissheitsrechtsprechung, EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016  – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54. 571 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; EuGH, Urteil vom 07. 11. 2018 – Rs. C-293/17, Rs. C-294/17, Coöperatie Mobilisation for the Environment und Vereniging Leefmilieu, Rn. 85; BVerwG, Urteil vom 11. 08. 2016 – 7 A 1.15 (7 A 20.11), 7 A 1.15, 7 A 20.11 Rn. 152, BVerwGE 156, 20; BVerwG, Urteil vom 15. 07. 2016 – 9 C 3.16, Rn. 38, NVwZ 2016, 1631. 572 BVerwG, Urteil vom 11. 08. 2016 – 7 A 1.15 (7 A 20.11), 7 A 1.15, 7 A 20.11 Rn. 152, BVerwGE 156, 20; BVerwG, Urteil vom 15. 07. 2016 – 9 C 3.16, Rn. 38, NVwZ 2016, 1631.

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

Hingegen führt die gerichtliche Kontrolle, die am Maßstab der besten wissenschaftlichen Erkenntnisse ansetzt, zu einem antiproportionalen Verhältnis von ökologischem Wissenschaftsstand und Kontrolldichte.573 Darüber hinaus leitet der EuGH das rechtsfolgenseitige Letztentscheidungsrecht aus der Verwendung des Wortlauts „geeignete Maßnahmen“ ab.574 Gleichzeitig resultiert die eingeschränkte ökologische Entscheidungsfreiheit bezogen auf die Maßnahmen nach Art. 6 Abs. 2 FFH-RL daraus, dass die Richtlinie keine zentrale ökologische Wissensquelle ausweist. Damit besteht für das rechtsfolgenseitige Letztentscheidungsrecht neben einem negativen sogar ein positives normatives Zuweisungskonzept für Letztentscheidungsrechtskompetenzen. b) Unionsgesetzgeberische Intention Ausgehend von dem Sinn und Zweck der in der deutschen Dogmatik bekannten normativen Ermächtigungslehre wird das rechtstaatliche Bedürfnis normativ verankerter Zuweisung des (Unions-)Gesetzgebers innerhalb des Letztentscheidungsrechtsdiskurses offenkundig.575 Richtet die Differenzierungsfrage daher danach, ob sich die unionsgesetzgeberische Intention, mitgliedstaatliche Administrativen mit Letztentscheidungsrechten auszustatten, unter der Richtlinie radizieren lässt, kann zwar das zumindest negative Letztentscheidungskompetenzzuweisungskonzept angeführt werden. Die unionsgesetzgeberische Letztentscheidungskompetenzzuweisung ist allerdings dann zu hinterfragen, wenn ursprünglich ein legislatives Letztentscheidungsrecht bezweckt war, das lediglich durch die richtlinienkonforme Anwendung umfunktioniert wurde.576 Dies gilt erst recht, wenn richtlinienbasierte 573

EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40 f., 54, 60 f., 62; mit Auswirkung auf nationaler Ebene BVerwG, Urteil vom 15. 07. 2016 – 9 C 3.16, Rn. 37, 38, NVwZ 2016, 1631. 574 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; bereits hier EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, Rs. C-380/08, ERG. 575 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1 Rn. 34; SchmidtAßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 218, 219; ­Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005; BVerwG, 13. 12. 1979  – 5 C 1.79, BVerwGE 59, 213; BVerwG, 07. 10. 1975 – I C 16.73, BVerwGE 72, 195; vgl. Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51; Wolff, in: Sodan / Ziekow, § 114 Rn. 303 ff.; Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 30. 576 BVerwG, Urteil vom 27. 02. 2003 – 4 A 59.01, BVerwGE 118, 15; BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229; BVerwG, Urteil vom 19. 5. 1998 – 4 C 11/96, NVwZ 1999, S. 528; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 A 9/97, BVerwGE 107, 1 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14, BVerwGE 154, 73 ff.; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3/06, BVerwGE 130, 299 ff.; BVerwG, Urteil vom 10. 4. 2013 – 4 C 3/12 –, BVerwGE 146, 176 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015  – 4 B 59/14, NuR 2015, 772 ff.; im Anschluss an EuGH, Urteil 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Rs. „Herzmuschelfischerei“, Rn. 52, Slg. 2004, I–7405; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1.

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administrative Letztentscheidungsrechte als Ausnahme des grundsätzlichen Adressatengefüges unionaler Gesetzgebung die affirmative Bezeichnung der Behörde in den zur Letztentscheidung ermächtigenden Vorschriften der Richtlinie voraussetzen.577 Schließlich setzt der fachspezielle Maßstab des Letztentscheidungsrechts den rationalen Orientierungsrahmen für die normative Determinierung im Wege der Richtlinientransformation, was gerade zu einer besseren gerichtlichen Überprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen innerhalb der Mitgliedstaaten führt. Die Gestattung einer administrativen Letztentscheidungssphäre bereitet dahingehend jedoch Hindernisse.578 c) Nationale und unionsrechtliche Perspektiveinstellung Von Relevanz ist damit außerdem die Gewichtung national- und unionsrechtlicher Qualifikation im Rechtsanwendungsprozess transformierten Richtlinienrechts. Eine Fehleinstellung der Perspektive führt zu inkorrekten Schlüssen von europäisiertem deutschem Verwaltungsrecht zu dem grundsätzlichen unionsrechtlichen Verständnis und der Rolle der Verfahrensautonomie.579 Fraglich ist etwa, inwieweit die unionsrechtliche Perspektive maßgeblich für die Qualifizierung von administrativen Letztentscheidungsrechten innerhalb der Verfahrensautonomie ist. Neben der Frage der Administrativzuweisung schließt sich die Frage an, wem das Letztentscheidungsrecht entgegenzuhalten ist und ob die Judikative davon betroffen sein kann. aa) Unionsrechtliche Zuweisung an die Administrative Die nationale Rechtsprechung geht etwa im Migrationsrecht von dem Standpunkt aus, dass die Ausgestaltung des gerichtlichen Prüfungsprogramms von der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie gewährleistet sei,580 sodass lediglich 577

Siehe Teil  3  B. I. 1. c) Vgl. Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (b); im Ansatz erkennend BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076; im Hinblick auf die Gewährleistung der Rechtsschutzeffektivität, siehe Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG § 44 Rn. 24; generell Gassner, DVBl. 2012, S. 1479; vgl. Gärditz, ZfU 2019, S. 369, 386 ff.; Brandt, ZNER 2019, 93; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1; Eichberger, NVwZ-Beil. 2013, S. 18, 23; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 194. 579 Zum Diskurs siehe Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80. 580 Sehr markant ist die einseitig nationale Perspektive im Migrationsrecht, die aufgrund des administrativen Charakters des Letztentscheidungsrechts zu keiner dem Umweltrecht vergleichbaren Adressatenverschiebung führt, allerdings die Existenz von unionalen Beurteilungsspielräumen propagiert und den gerichtlichen Umgang im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG außerachtlässt, vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37/14 –, Rn. 19 ff.; NVwZ 2016, S. 161; davor jedenfalls kritisch VG Berlin, Urteil vom 27. 3. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris. 578

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Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

die Kategorisierung des administrativen Letztentscheidungsrechts wegen der Lokalisierung auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenebene durch das Unionsrecht beachtlich sei.581 Das Rubrizieren als Beurteilungsspielraum ist anschließend nur noch ein Syllogismus, der aus den Prämissen folgt, dass (administrative) Letztentscheidungsrechte auf Tatbestandsebene nach der deutschen Verwaltungsrechtsdogmatik als Beurteilungsspielräume klassifiziert werden und unionsrechtliche Kontrolldichtevorgaben unbeachtlich seien.582 Mit der einseitigen nationalen (deutschen) Perspektive gelingt eine vermeintlich harmonisierte national-dogmatische Einbettung europäischer Letztentscheidungsrechte in zweierlei Hinsicht. Auf der einen Seite wird eine Differenzierung der administrativen Letztentscheidungsrechte erreicht. Die Handhabe von rechtfolgeseitigen administrativen Letztentscheidungsrechten im Unionsrecht bleibt im Rahmen dieser Rechtsprechung dagegen irrelevant.583 Gleichzeitig führt dies im Migrationsrecht ebenfalls zu einer vermeintlichen Identifikation von Singularitäten zwischen den administrativen Letztentscheidungsrechten. Bei unionsrechtlicher Perspektiveneinstellung dagegen lässt die Installation eines unbestimmten Rechtsbegriffs nur allgemein den vagen Rückschluss auf ein (administratives) Letztentscheidungsrecht zu und gibt keinerlei Aufschluss über die Existenz von Beurteilungsspielraum oder Ermessen.584 Freilich führt dieser Modus nicht zu einer Existenz der Dichotomie administrativer Letztentscheidungsrechte im Unionsrecht, hingegen zur Behandlung als Beurteilungsspielraum im nationalen Recht. Auf der anderen Seite wird durch die Konstatierung eines Freiwilligkeitsvorbehalts hinsichtlich der Kontrolldichtereduzierung anlässlich unionaler Vorgaben eine Auseinandersetzung mit der Frage eines unionsrechtlichen Gebots vermieden.585

581 Dieser Standpunkt müsste konsequenterweise zu einer Überprüfung derartiger Letztentscheidungsrechte am Maßstab von Art. 19 GG führen. 582 BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015  – 1 C 37/14 Rn. 20–22, NVwZ 2016, 161; BVerwG, Beschluss vom 06. 04. 2016 – 1 B 22/16 –, Rn. 4, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. 10. 2015 – OVG 3 B 5.14 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05. April 2017 – OVG 3 B 20.16 –, Rn. 24, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 05. 2019 – 3 B 64.18 –, Rn. 30, juris; nun als nationaler Modus VG Berlin, Urteil vom 17. 01. 2019 – 3 K 902.17 V –, Rn. 18, juris. 583 Siehe Teil 2 A. III. 584 Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655. 585 Siehe für das Regulierungsrecht explizit EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06, Arcor, Rn. 166; grundsätzlich ablehnend zum unionsrechtlichen Gebot, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; vgl. auch Schoch, NVwZ 1999, S. 457, 466; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  220 f.; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; Proeßl, AöR 136 (2011), S. 402, 424; Ludwigs, DV 44 (2011), S. 41, 68; Ludwigs, JZ 2009, S. 290, 294; a. A. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Europäischen Union, 1996, S. 407 ff.; Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine des europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 176 ff.

B. Der ökologische Verwaltungsfreiraum 

205

bb) Lediglich nationale Zuweisung an die Administrative Im Umweltrecht hätte es einer richtlinienkonformen Anwendung der Rechtsprechung, zunächst überhaupt einer Klassifizierung als Letztentscheidungsrecht administrativer Art, aus unionsrechtlichem Blickwinkel bedurft. Besonders im deutschen Umweltrecht greifen daher die dogmatischen Herleitungs- und Begründungsstränge der Rechtsprechung zu kurz.586 Der nach herrschender Meinung für die Beurteilungsspielräume relevante unbestimmte Rechtsbegriff kann nicht herangezogen werden, da die Gewährung des legislativen Letztentscheidungsrechts auf anderen Umständen basiert. Dessen Umfunktionierung durch die Verwaltungsgerichte stößt innerhalb des deutschen Rechts an die Grenzen von Art. 19 Abs. 4 GG.587 Ungeachtet der Diskussion, ob die gerichtliche Kontrolldichte als Teil mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie von europäischem Einfluss verschont bleiben müsse,588 muss die Letztentscheidungsrechtsqualität anhand des Unionsrechts beurteilt werden, da die Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisung als von der Richtlinie auf der Grundlage der Unionsgesetzgebungskompetenz abgeleitetes Recht Entscheidung des Unionsgesetzgebers ist.589 Ungeachtet dieser Fragestellung wird der unionale Einfluss auf die nationalgerichtliche Kontrolldichte im Gegensatz zum Migrationsrecht nicht aufgegriffen. 3. Scheitern des Differenzierungsversuchs Der Differenzierungsversuch der Letztentscheidungsrechte sowohl auf Tatbestandsebene (Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL) als auch auf Rechtsfolgenebene (Art. 6 Abs. 2 FFH-RL) scheitert an der mangelnden unionsgesetzgeberischen Zuweisung an die Administrative. Die Herabsetzung der legislativen auf die administrative Ebene durch die richtlinienkonforme Auslegung infolge der Rechtsprechung vermag das unionsrechtliche Verständnis und die ursprüng 586

Relevant ist ebenfalls, dass nach den einschlägigen wissenschaftlichen Kriterien eine Ausweisungsverpflichtung gegeben sein kann, insoweit also die Einräumung eines mitgliedstaatlichen Ermessens unionsgesetzgeberisch nicht intendiert ist, vgl. EuGH, 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96 Rs. „Kommission / Niederlande“, Rn. 61, DVBl. 1998, S. 888. 587 Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG, § 44 Rn. 24; generell Gassner, DVBl. 2012, S. 1479; vgl. Gärditz, ZfU 2019, S. 369, 386 ff.; Brandt, ZNER 2019, 93; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1; Eichberger, NVwZ-Beil. 2013, S. 18, 23; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 194. 588 So Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; vgl. auch Schoch, NVwZ 1999, S. 457, 466; Stelkens, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, EuR Rn.  220 f.; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; Proeßl, AöR 136 (2011), S. 402, 424; Ludwigs, DV 44 (2011), S. 41, 68, Ludwigs, JZ 2009, S. 290, 294; a. A. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Europäischen Union, 1996, S. 407 ff.; Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine des europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 176 ff. 589 E contrario, da im nationalen Recht Zuweisungsaufgabe des Gesetzgebers, Schmidt-­ Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 186a.

206

Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

liche gesetzgeberische Intention nicht zu modifizieren. Aufgrund des administrativen Defizits der Letztentscheidungsrechte fehlt es bereits am Primäransatzpunkt für die dogmatische Konzeption der nationalen Dichotomie im Unionsrecht. Das legislative Letztentscheidungsrecht ist von seiner Grundkonzeption nicht geeignet, die Administrative mit Letztentscheidungsbefugnissen auszustatten. Vielmehr adressiert es die Mitgliedstaaten zur Herstellung einer ökologischen Beurteilungsund Entscheidungsgrundlage. Die wissenschaftliche Einfärbung der Richtlinie gewährleistet den Rahmen für die flexible Gestaltung einer derartigen normativen Entscheidungsgrundlage durch die Mitgliedstaaten und setzt sich in dem wissenschaftlichen legislativen Letztentscheidungsrecht fort. Für die ökologischen Verwaltungsfreiräume, die lediglich von der deutschen Rechtsprechung judiziert worden sind und bisher nicht Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH waren und dennoch im Anschluss an seine Entscheidung judiziert worden sind, gilt nichts anderes.590 Hier lässt sich auf der einen Seite die verfehlte Überführung in die deutsche Dogmatik anführen und auf der anderen Seite ist die Entstehung der ökologischen Freiräume als solche der Verwaltung auf das Regelungsminus der Richtlinie sowie das Ausbleiben des legislativen Tätigwerdens zur Bereitstellung von Entscheidungsgrundlagen zurückzuführen. Die Kritik des Bundesverfassungsgerichts an administrativen Letztentscheidungsrechten, die auf einem normativen Konkretisierungsminus basieren, ist in diesem Zusammenhang erst recht nachvollziehbar.591 Zudem führt die nicht intendierte administrative Ausübung des Letztentscheidungsrechts aufgrund der fachspeziellen Komponente zu der Ausrichtung gerichtlicher Kontrolldichte an außerrechtlichen Maßstäben anstelle normativer Standards, was die rechtstaatliche Aufgabe der Begrenzung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse gegenüber der Judikative konterkariert.592

C. Ergebnis im Umweltrecht Gegenüber dem analysierten Referenzgebiet des Migrationsrechts ist die Lage im europäischen und deutschen Umweltrecht deutlich komplexer, was auf die unionale Zuweisung legislativer Letztentscheidungsrechte und deren fehlerhafte Einspeisung in das administrative Entscheidungsspektrum der mitgliedstaatlichen Administrativen zurückgeht.593 Dies ist der Primärgrund für das Scheitern des 590 U. a. im Anschluss an EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1. 591 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018  – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 19, 25, 27 BVerfGE 149, 407. 592 Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4a, Rn. 184; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 − 1 BvR 857/07, NVwZ 2011, 1062. 593 Sog. diagonale Verschiebung, dazu Teil 4 A. I. 1. c) bb) und A. III. 2. und 3.

C. Ergebnis im Umweltrecht 

207

Rückgriffs auf bestehende nationale und europäische Konzepte administrativer Letztentscheidungsrechte. Gleichzeitig lässt sich somit der Differenzierungsversuch entschieden für gescheitert erklären. Die Mahnung, dass diese „unionalen Beurteilungsspielräume“ als Auswüchse unionsrechtlicher Fachspezialität zu qualifizieren sind sowie der Vorstoß, diese Auswüchse lediglich innerhalb ihres Regelungskontextes zu diskutieren, ist begründet.594 Dies führt zu einer Auflösung selbstauferlegter unionaler Rechtfertigungs- und nationaler Qualifizierungsverpflichtungen derartiger ökologischer Verwaltungsfreiräume. Folglich entfällt die infrage gestellte Rechtfertigung administrativer Letztentscheidungsrechte auf der Basis einer angeblich unionsrechtlichen Verpflichtung595 sowie die selbstauferlegte Rubrizierungsverpflichtung innerhalb der deutschen Dichotomie.596

I. Ausgangslage im nationalen Umweltrecht Die naturschutzfachlichen Verwaltungsfreiräume im deutschen Recht scheitern an der Hürde des Beurteilungsspielraums vorgegeben durch die deutsche Dogmatik. Auch lässt sich keine neue Spielart des Beurteilungsspielraums oder generell administrativer Letztentscheidungsrechte feststellen,597 welche ungeachtet dessen ohnehin zu einer weiteren Auflösung dieser Dogmatik führen würde.598 Dies liegt 594

Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 80; vgl. auch Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union, 1996, S. 407 ff. 595 Allgemein ablehnend hinsichtlich eines allgemeinen Gebots Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80; vgl. auch Schoch, NVwZ 1999, S. 457, 466; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  220 f.; Proeßl, AöR 136 (2011), S. 402, 424; Ludwigs, DV 44 (2011), S. 41, 68; Ludwigs, JZ 2009, S. 290, 294; a. A. Brenner, Der Gestaltungsauftrag der Europäischen Union, 1996, S. 407 ff.; Neidhardt, Nationale Rechtsinstitute als Bausteine des europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 176 ff.; soweit es dem Effektivitätsgrundsatz Rechnung trägt Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; Guckelberger, Deutsches Verfassungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 216; Schmidt-Aßmann, Kohärenz und Konsistenz des Verwaltungsrechtschutzes, S. 55; allgemein vgl. Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 206 ff.; Pache, DVBl. 1998, S. 380, 381. 596 Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1160; Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 214 ff.; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 143, 144. 597 Siehe Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 11, Steenhof, UPR 2017, S. 467; angesichts der dogmatischen Hürden betreffend der Beurteilungsspielraumqualität dafür offen Kahl, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 179, 182. 598 So im Fall des Regulierungsermessens Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114 Rn. 89; Kersten, Die Verwaltung 46 (2013), S. 87, 93; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1010 f.; Gärditz, DVBl. 2016, 399 (405 f.); kritisch Ludwigs, JZ 2009, S. 290, 292 ff.; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kapitel 4 Rn. 48, 69; Jestaedt, in: Ehlers /  Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10 Rn. 12 ff.

208

Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

an einer fehlgehenden Anknüpfung an die tradierten Herleitungs- und Begründungsansätze einerseits599 sowie der schwierigen Beherrschbarkeit, Begrenzbarkeit und normstrukturellen Kategorisierung derartiger Letztentscheidungsrechte im verfassungsrechtlich garantierten deutschen System restriktiver Vollkontrolle durch die Gerichte andererseits.600 Vor allem scheitern die wichtige Stellung des unbestimmten Rechtsbegriffs und das Konzept gesetzgeberischer Ermächtigung zur administrativen Letztentscheidung durch den unbestimmten Rechtsbegriff selbst. Wird der unbestimmte Rechtsbegriff auf sein semantisches Wirken begrenzt, muss der Versuch unternommen werden, eine andere normative Ermächtigungsgrundlage aufzufinden, welche die gesetzgeberische Zuweisungsintention vermittelt und gleichzeitig die materiellen Gründe für ein administratives Letztentscheidungsrecht bereitstellt. Dieser Versuch scheitert. Nach Ausschluss des unbestimmten Rechtsbegriffs findet sich lediglich die schwache Regelungsdichte der auf dem deutschen Recht basierenden europäischen Gesetzgebungsakte.601 Dadurch wird die normative Ermächtigungslehre nicht nur ihrem zentralen und rechtspositiven Ansatzpunkt einer gesetz­geberischen Kompetenzzuweisung entzogen. Zusätzlich kommt dem Argument der negativ-gesetzlichen Anknüpfung (schwache Regelungsdichte) keine hinreichende Zuweisungsintention zu, die im Rahmen der Ermächtigungslehre fruchtbar gemacht werden könnte. Zudem würde eine derartige Modifikation der normativen Ermächtigungslehre zu einem Verwischen der Grenzen zwischen der Identifikation von administrativen Letztentscheidungsrechten und einer fehlerhaften bzw. unzureichenden Gesetzgebung führen.602 Übrige Zuweisungsargumente beruhen dagegen lediglich auf funktionell-rechtlichen Begründungsansätzen.603

II. Fehlübertragung des Europäischen Kompetenzzuordnungsrahmens Die Rechtsprechungslinie des EuGH in punkto mitgliedstaatliche Gebietsausweisungsentscheidung nach Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4  Abs.  1 UAbs.  4 VRL, die infolge eines bestehenden normativen Konkretisierungsminus eine Letztentscheidungsrechtskompetenzzuweisung innerhalb eines ökologisch  – von den 599

Am Beispiel des Planungsermessens siehe Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, § 11 III 2 Rn. 18. Zuzustimmen daher Gellermann, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, BNatSchG § 44 Rn. 24; generell Gassner, DVBl. 2012, S. 1479; vgl. Gärditz, ZfU 2019, S. 369, 386 ff.; Brandt, ZNER 2019, 93; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1; Eichberger, NVwZ-Beil. 2013, S. 18, 23; Kment / Vorwalter, JuS 2015, S. 193, 194; Lenz, DVBl. 2018, S. 605; kritisch zur Rechtsfigur der naturschutzrechtlichen Einschätzungsprärogative auch Berkemann, ZUR 2016, S. 323, 327. 601 Kritisch dazu Teil 4 A. ff. 602 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 24 ff. 603 Grzeszick, in: Maunz / Dürig/, GG Art. 20 VII. Rn. 58 ff.; Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 193 ff. 600

C. Ergebnis im Umweltrecht 

209

Richtlinien vorgegebenen – gesteckten Rahmens vornimmt, verläuft parallel zu der Ausgangslage im deutschen Umweltrecht gemäß der Rechtsfigur des ökologischen Verwaltungsfreiraums. Dies reflektiert jedoch zugleich die Fehltransposition eines unionsrechtlichen Kompetenzzuweisungsinstrumentariums im supranationalen Segment auf die innerstaatliche Ebene.604 Dass die Kompetenzverteilungskonzeption dem Verhältnis des europäischen Gesetzgebers und der Mitgliedstaaten vorbehalten ist, wird bei einer Betrachtung im Lichte des Prinzips der Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 AEUV deutlich. Mit der Übertragung dieses Konzepts auf das innerstaatliche Verhältnis der Exekutive und Judikative kommt es zu einer Korrelation mit der deutschen Dogmatik administrativer Letztentscheidungsrechte. Das Vorbringen eines Europäisierungsarguments für die Begründung bzw. Herleitung auf Regelungsmissständen beruhender Verwaltungsfreiräume im nationalen Recht kann im Hinblick auf die legislative Qualität des Letztentscheidungsrecht schon nicht fruchtbar gemacht werden, da dieses nicht zwingend administrativ ausgestaltet werden muss. Außerdem muss die Eröffnung und Gewährung von Letztentscheidungsrechten der verfassungsgerichtlich vorgegebenen Weichenstellung gemäß Art. 19 Abs. 4 GG genügen. Über Letzteres kann sich das bloße Europäisierungsargument nicht ohne weiteres hinwegsetzen.605

III. Beurteilungsspielraumkonzept im Europäischen Umweltrecht Die Identifizierung eines dichotomen Letztentscheidungsrechtskonzepts der Administrative im Europäischen Umweltrecht scheitert an der administrativen Qualität verankerter Letztentscheidungsrechte. Hierbei handelt es sich um die Primärvoraussetzung der deutschen Leitidee.606 Diese Erkenntnis wird maßgeblich von der Analyse zu Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL beeinflusst.607 Dessen Ergebnisse ermöglichen eine Extrahierung grundsätzlicher Erwägungen, sofern die deutschen ökologischen Verwaltungsfreiräume auf einem normativen Konkretisierungsverzicht basieren und keine hinreichende normative Ermächtigung der mitgliedstaatlichen Administrativen in den Richtlinien vorhanden ist. So verhält es sich ebenfalls bei den auf deutschen Ebene diskutierten Letztentscheidungsrechten der Regelungskomplexe Art. 6  FFH-RL, Art. 12 FFH- RL sowie der Vorschriften Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (i), Art. 4 Abs. 1 lit. 1 Ziff. (ii), (iii) und Art. 4 Abs. 3 WRRL, insbesondere betreffend Methoden, Ver-

604

Dazu genauer in Teil 4. Anders zu beurteilen ist hingegen die legislatorische Modifizierung und Weiterreichung solcher Freiräume an die Administrative innerhalb des von der Verfassung vorgegebenen Rahmens. 606 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, § 11 V 2 Rn. 55. 607 Sowie der Rechtsprechung zu Art. 6 FFH-RL, EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52. 605

210

Teil 3: Beurteilungsspielräume im Umwelt- und Planungsrecht

fahren, Standards und Konkretisierungen, um solche der Legislative.608 Innerhalb der Richtlinie ist eine normative Ermächtigung als Kompetenzzuweisung an die Administrative auch möglich. Die normative Ermächtigung ist in diesem Kontext weniger restriktiv als im deutschen Recht zu verstehen und muss nicht zwingend mit dem unbestimmten Rechtsbegriff zusammenlaufen.609 Das Bestehen der Letztentscheidungskompetenz legislativer Art kann dagegen unabhängig von einer normativen Ermächtigung bestehen und bildet den Grundfall der Richtlinie. Dementsprechend kann ein unionsgesetzgeberischer Regelungsverzicht der Legislative grundsätzlich Letztentscheidungsrechtsbefugnisse einräumen, sofern derartige Regelungen auch notwendig sind. So verhält es sich bei dem Konkretisierungsverzicht in der FFH-RL. Hierbei handelt es sich gerade nicht um einen unionsrechtlichen Modus für die Zuweisung administrativer Letztentscheidungsrechte. Auf diese Art und Weise attestierte administrative Letztentscheidungsrechte, etwa des Gebietsausweisungsverfahrens gemäß Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL, werden durch weitere Faktoren beeinflusst. Neben dem bloßen Konkretisierungsverzicht tritt die mitgliedstaatliche Freiheit bei der Anwendung der ökologischen Methoden im Sinne von Art. 6 FFH-RL sowie dessen richtlinienkonforme Übernahme und Weitergabe an die Administrative durch die nationalen Gerichte. Diese Mechanismen fungierten auch für andere Tatbestände im Umweltrecht als Katalysator für die ökologischen Verwaltungsfreiräume. Das Ergebnis der Untersuchung zeigt auf, dass die Klassifizierung von unionalen (administrativen) Letztentscheidungsrechten und ihrer Wirkung im deutschen Recht durch die Verwaltungsgerichte nur unter dem Vorbehalt der unionsgerichtlichen Nachprüfung zu genießen ist, welche im Rahmen dessen vordergründig mit der unionsrechtlichen Perspektiveinstellung zu versehen ist.610 Die Existenz richtlinienbasierter Letztentscheidungsrechte muss vor allem und erst recht unter Berücksichtigung der Debatte im Regulierungsrecht vor dem Hintergrund der mit 608

Richtigerweise grundsätzlich mahnend in Rede stehende unionale Spielräume auf administrative Qualität zu untersuchen, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 89 a. E. 609 Daher muss im Rahmen der Analyse von administrativen Letztentscheidungsrechten im Unionsrecht die nationale und unionsrechtliche Perspektiveneinstellung austariert werden. Am Beispiel des unbestimmten Rechtsbegriffs wird besonders deutlich, dass dieser sich im Unionsrecht nur zur Identifikation von „unsicheren Auslegungssituationen“ eignet, aber eine dogmatische Relation lediglich in Bezug auf den Beurteilungsspielraum, nationaler Auffassung entsprechend, nicht rezipiert werden kann; zu normativen Zuweisungsmechanismen in Teil  4  A. I. 2., A. I. 3.; A. III. 610 „Die Erkenntnis des Beurteilungsspielraums und dessen Reichweite verlangt vom Gericht also zunächst die methodengerechte Auslegung des einschlägigen Normbereichs. Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Normzweck können genauso Anhaltspunkte bieten wie ein gegebenenfalls zu untersuchendem unionsrechtlichem Hintergrund“ siehe Jacob / L au, NVwZ 2015, 241, 244; BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08, Rn. 31, BVerfGK 19, 229.

C. Ergebnis im Umweltrecht 

211

gliedstaatlichen Verfahrensautonomie erfolgen, da die bloße administrative Zuweisung noch keine Kontrolldichtevorgaben an die nationale Judikative begründet.611

IV. Ausblick Unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Konzeption und Intention muss die Handhabe ökologischer Freiräume rekapituliert werden. Zudem sind normative Konkretisierungslücken unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten an die Legislative zurückzuverweisen und nicht über administrative Letztentscheidungsrechte auszufüllen.612 Die gilt erst recht im Hinblick auf komplexere und umfangreichere Streitfälle, deren ökologische Aufarbeitung im Gerichtsprozess schon aus Gründen der Rechtsschutzeffektivität fraglich wäre. Im Rahmen dieser Rekapitulation muss außerdem die Auswirkung „lediglich“ unionsrechtlicher Konkretisierungsdefizite auf die nationale Kontrolldichte hinterfragt werden, die bislang durch die Rechtsprechung unberücksichtigt geblieben ist.613 Soweit eine legislatorische Konstatierung hinreichender ökologischer Entscheidungsgrundlagen erfolgt – selbst bei der zusätzlichen Gewährung tatsächlicher administrativer Letztentscheidungsrechte ausgerichtet an der deutschen Dogmatik –, müssen sich diese Handlungsanweisungen, Standards oder sonstigen normativen Konkretisierungen zu effektiven Verhinderungen von Beeinträchtigungen sowie Verschlechterungen an dem unionsrechtlichen Zweifelsgrundsatz orientieren.614

611

Hierzu in Teil 4. BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018  – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 19, 25, 27 BVerfGE 149, 407; zutreffend Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 71; Winkler, DVBl. 2013, S. 156, 160. 613 Erst recht, wenn sogar explizite administrative Zuweisungen keine gerichtliche Pflicht zur Kontrolldichterücknahme begründen, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 80. 614 Siehe dazu Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (b) (bb). 612

Teil 4

Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte Im Unionsrecht lässt sich die deutsche Beurteilungsspielraumdogmatik nicht fruchtbar machen,1 es handelt sich um einheitliche administrative Letztentschei­ dungsrechte im Migrationsrecht sowie legislative Letztentscheidungsrechte im Umweltrecht. Derartige Zuweisungen erfolgen primär durch die Rezeption unionaler Letztentscheidungsrechte seitens der deutschen Verwaltungsgerichte. Nichtsdestotrotz verbleibt das Bedürfnis der Klärung ihres Ursprungs im Europäischen Recht und ihrer Auswirkung im nationalen Recht, insbesondere betreffend administrative Letztentscheidungsrechte im Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative im gerichtlichen Überprüfungsprozess. Die herausgearbeiteten Rahmenbedingungen der vermeintlichen Beurteilungsspielräume im Migrations- und Umweltrecht machen die Ursachen dieser Letztentscheidungsrechte gut sichtbar. Wie bereits in den vorangegangen Teilen der Untersuchung angesprochen, liegt der Ursprung von unionalen Letztentscheidungsrechten im Bereich der normativen Programmierung und der Regelungsintensität des Europäischen Rechts. Dazu kommt der Vorwurf der zunehmenden Prozeduralisierung durch das Unionsrecht. Unter dem wichtigen Gesichtspunkt der Kompetenzzuweisung sind diese fraglichen Ursprungsquellen zunächst zu eruieren (A.). Daran anschließend ist die wichtige Frage der Auswirkung administrativer oder legislativer Letztentscheidungsrechte insbesondere auf die nationale Kontrolldichte zu erörtern (B.).

1

Insofern weiterhin richtig Schmidt-Aßmann, in: Schoch / Schneider / Bier, Einl. Rn.  131; Schoch, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 40 f.; Otting /  Olgemöller, AnwBl.  2010, S. 155, 161; Huber, NVwZ 2014, 293, 294; Schroeder / Sild, EuZW 2014, S. 12, 13; Herdegen / Richter, in: Frowein, Kontrolldichte, S. 210, 247; Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht, S. 15; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielräume, S. 390 f.; Schwarze, in: Schwarze / Schmidt-Aßmann, Das Ausmaß der gericht­lichen Kontrolle im Wirtschafts- und Umweltrecht, 1992, S. 203 ff., 270 ff.; Schwarze, NVwZ 2000, S. 241, 249; Adam, Kontrolldichte-Konzeption, S. 197 ff.; Rausch, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen durch den Gerichtshof der Europä­ ischen Gemeinschaft, 1994, S. 238 ff.; Dörr / L enz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 191; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR Rn. 216; Classen, Die Europä­ isierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 165, 167; Zuleeg / Kadelbach, in: Schulze / Zuleeg /  Kadelbach, § 8, Rn. 41; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 361; Kreifels, Die Prioritätensetzung der Europäischen Kommission beim Aufgreifen kartellrechtlicher Fälle, S. 24 f.

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

213

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte Da der deutsche Gesetzgeber in den Referenzgebieten, die der europäischen Gesetzgebungskompetenz unterworfen sind, durch den Richtlinientransformationsauftrag partiell weisungsgebunden agiert, wird die Erschütterung des tradierten Letztentscheidungsrechtsverständnisses sowie der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichtestandards auf die Europäisierung des nationalen Rechts zurückgeführt. Infolge der unmittelbaren Anwendbarkeit und des direkten Vollzugs von EU-Verordnungen oder im Ausnahmefall unmittelbar anzuwendender Richtlinien manifestiert sich die Europäisierung als kollisionsträchtige Ursprungsquelle erst recht. Die inhaltlich relevante und kategoriale Zuweisung an die Administrative oder die Legislative wird zudem grundsätzlich durch das Rechts- bzw. Kompetenzverhältnis des zugrundeliegenden unionalen Rechtsakts determiniert.

I. Gesetzliche Steuerung durch Regelungsstrategien mit Entmaterialisierungscharakter Im Gegensatz zu der restriktiven Beschränkung von Letztentscheidungsrechten im deutschen Recht erhalten Letztentscheidungsrechte im Unionsrecht, ungeachtet der administrativen oder legislativen Kategorisierung, eine Bandbreite an normativen Zugängen. Anhand der im Umweltrecht herausgearbeiteten Rahmenbedingungen dort verankerter Letztentscheidungsrechte ist festzustellen, dass diese Letztentscheidungsrechte unter anderem auf der normativen Beschaffenheit des Europäischen Richtlinienrechts beruhen können. Speziell im Umweltrecht werden diese Probleme insbesondere durch eine diagonale Verschiebung des Kontrollmaßstabes sichtbar.2 Aufgrund der Gesetzesakzessorietät der gerichtlichen Kontrolle sind strukturelle und materielle Regelungsdefizite erkennbar, welche die Gerichtsbarkeit kognitiv oder funktional an ihre Grenzen bringen. Dies kann als letztentscheidungsrechtsbegünstigendes Milieu bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich etwa um die Programmierungsdichte,3 die normative Programmwahl4 und die Prozeduralisierung des Unionsrechts.5 2

Vgl. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191, 192 ff.; Möllers, Gewaltengliederung, S. 331. 3 Siehe Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 80; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR Rn.  220; Gärditz, NVwZ 2009, 1005, 1008 f.; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 378, 379. 4 Siehe Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR Rn.  220; näher Breuer, AöR 127 (2002), S. 524 ff.; Breuer, NVwZ 2004, 520, 522 ff.; Fonk, DVBl. 2010, 626 ff.; Hansmann, NVwZ 2006, S. 51, 52 ff.; Ludwigs, Verwaltung 44 (2011), S. 41, 57 ff.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005. 5 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 83, 84 a. E.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1007 f.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

1. Relevanz der Gesetzesakzessorietät und Probleme im mehrdimensionalen System Art. 19 Abs. 1 EUV vermittelt bereits die unionsgerichtliche Kontrollkompetenz am Maßstab des geltenden Rechts (Verträge). Gerichtlich behauptete Komplexität, etwa durch wissenschaftliche, technische, soziale, politische und wirtschaftliche Überforderung, muss dieser Rechtsmaßstab erkennen lassen. Unionale Programmstrategien oder -elemente, die aufgrund dessen eine funktionale Überforderung der Kontrolle bewirken oder welche deshalb von der Legislative zur Letztentscheidung an die fachspeziellen Exekutivstellen übergeben werden, sind perspektivisch von dem Standpunkt gerichtlicher Kontrolle aus zu betrachten. Neben dem Sichtbarwerden funktionaler oder normativer Letztentscheidungsrechtsherde können somit zusätzlich mögliche methodische und kompetenzielle Probleme extrahiert werden. a) Grundsatz der Vollkontrolle Ausgehend von den Grundsätzen, dass die Verwaltung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden ist6 und der gerichtliche Kontrollauftrag nicht weiter reicht als die gesetzliche Bindung eben dieser handelnden Administrativen,7 wird das Dilemma geringer Regelungsintensität für die gerichtliche Kontrolle im Sinne einer Rechtskontrolle deutlich.8 Diese Grundsätze bilden das proportionale Verhältnis gerichtlicher Kontrolle und der normativen Programmierungsdichte.9 6

Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 55; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 377; Schulze-­ Fielitz, in: Dreier, GG, Band II, 2. Aufl, Art. 20; Sachs, GG Art. 20, Rn. 110; Schmidt-­Aßmann, in: FS Stern, S. 745, 747 f.; Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG Art. 20 IV. Rn. 1; Badura, in: HStR Bd. VII, § 163 Rn. 1 ff., 4; Schmidt-Aßmann, in: HStR Bd. II, 3, § 26 Rn. 21 f. 7 So BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 73, BVerfGE 129, 1; BVerfG, Beschluss vom 8. 12. 2011, 1 BvR 1932/08, Rn. 23, NVwZ 2012, S. 694; BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 6.15, Rn. 18, BVerwGE 156, 136; BVerwG, Urteil vom 28. 11. 2007 – 6 C 42/06, Rn. 29, BVerwGE 130, 39; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1008; Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 243; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO vor § 113 Rn. 18; Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 377; ähnlich BVerfG, Beschluss vom 16. 12. 1992, 1 BvR 167/87, Rn. 55, BVerfGE 88, 40, 62; BVerfG, Urteil vom 20. 02. 2001, 2 BvR 1444/00, Rn. 51, BVerfGE 103, 142, 156; BVerfG, Urteil vom 23. 05. 2006, 1 BvR 2530/04, Rn. 47, BVerfGE 116, 1, 18. 8 Siehe Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 55; Herzog, NJW 1992, S. 2601 f.; Papier, DÖV 1986, S. 621, Schmidt-­ Aßmann, DVBl. 1997, S. 281, 283; dies bedeutet zunächst eine Erschwernis für die gericht­ liche Kontrolle im herkömmlichen Sinn, jedoch keine Resignationspflicht, da durch die bloße Bestimmtheitsdefizite (auf nationaler Ebene) noch keine maßgeblichen Kompetenzfragen beantwortet werden, ähnlich Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 377, 378; anders Poscher, in: FS Rainer Wahl, S. 527, 530 ff. 9 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 55; Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 377; Schoch, in:

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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Durch die partiell politische Steuerung im legislatorischen Prozess kann somit eine Einflussnahme auf die gerichtliche Kontrolldichte erreicht werden, die als Ausnahme der grundsätzlich uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bekannt ist.10 Hierfür muss die legislatorische Ausgestaltung solcher administrativer Letztentscheidungsrechte – zur verfassungsrechtlichen Absicherung – der rechtswissenschaftlichen Dogmatik folgen.11 Konsequenz dessen ist die Selbstprogrammierung der Verwaltung durch außerrechtliche Kriterien, im Fall des Umweltrechts etwa anhand naturwissenschaftlicher Grundsätze,12 sodass eine gerichtliche Kontrolle im Sinne einer Rechtskontrolle erschwert wird. Nicht nur die Regelungsdichte, sondern auch andere Regelungsstrategien, die im Kern den Rückgang materiell-rechtlicher Kontrollmaßstäbe herbeiführen, wirken sich negativ auf die gerichtliche Kontrolldichte aus.13 Bedient sich der Gesetzgeber an normativen Programmen, die lediglich an der exekutivischen Zielerreichung festhalten und die administrative Vorgehensweise allenfalls rudimentär umschreiHoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. III, § 50 Rn. 261; Huber, in: Mangoldt / K lein / Starck, GG Bd. I, Art. 19, Rn. 513 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Düring, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 180 ff.; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11, Rn. 38 ff.; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 474 ff.; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO vor § 113 Rn. 18 f. 10 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 55; Möllers, The Three Branches, S. 143; grds. Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 7; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 16; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51, 56; Schmidt-Aßmann / Schenk, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO Einl. Rn. 183; SchmidtAßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 216, Rn. 62; ­Pache, Tatbestand­liche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11; BVerfG, Beschluss vom 05. 02. 1963 – 2 BvR 21/60, BVerfGE 15, 275, 282. 11 Siehe BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 73, BVerfGE 129, 1; BVerfG Beschluss vom 08. 12. 2011, 1 BvR 1932/08, Rn. 23, NVwZ 2012, S. 694; BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 6.15, Rn. 18, BVerwGE 156, 136; BVerwG, Urteil vom 28. 11. 2007 – 6 C 42/06 Rn. 29, BVerwGE 130, 39; ausgehend von der normativen Ermächtigungslehre Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 190; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005; SchmidtAßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 218 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Düring, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 180 f.; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1 Rn. 34 f.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann /  Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, § 10 Rn. 78, 90; J. Tettinger, DVBl. 1982, S. 421, 422; Papier, in: HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 177, Rn. 74 ff. 12 Der fachliche Unterbau des jeweiligen Rechts führt daher unterschiedlichen intensiven kognitiven Problemen der gerichtlichen Kontrolle und zu Folgeproblemen im Verwaltungsprozess vgl. Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 55, insbesondere im Umweltrecht S. 66, 67; dazu auch Nußberger, AöR 129 (2004), S. 282, 298; Voßkuhle, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, S. 349, 354 f. 13 E contrario BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 73, BVerfGE 129, 1; BVerfG Beschluss vom 08. 12. 2011, 1 BvR 1932/08, Rn. 23, NVwZ 2012, S. 694; BVerwG, Urteil vom 22. 09. 2016 – 4 C 6.15, Rn. 18, BVerwGE 156, 136; BVerwG, Urteil vom 28. 11. 2007 – 6 C 42/06, Rn. 29, BVerwGE 130, 39; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1008; Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 243; Riese, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO vor § 113 Rn. 18; Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 377.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

ben,14 dann ist an diesem Punkt die Frage nach einer Selbstprogrammierungsbefugnis der Exekutive in den Kontrollprozess der Judikative einzubeziehen.15 Verfolgt die Regelungsstrategie ein prozeduralisiertes Verständnis in dem Sinne, dass anzuwendendes Recht durch ein normativ festgelegtes und akribisches Verwaltungsverfahren auf Kosten materieller Vorgaben erst noch erzeugt werden muss, dann steht ebenfalls die Billigung behördlicher Entscheidungsfreiheit der Verwaltung im Raum.16 b) Administrative Kompetenzzuweisung als Ausnahmefall mittels normativer Ermächtigung Unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Fixierung der Gesetzgebungskompetenzen gemäß Art. 70 ff. GG und der staatsbürgerlichen Garantie des effektiven Rechtsschutzes im Verwaltungsverfahren gemäß Art. 19  Abs.  4 GG stellt die Generierung von Normprogrammen sowohl aus der Perspektive der Judikative als auch der Exekutive im Grundsatz eine Fremdleistung dar, die primär von der Legislative zu erbringen ist.17 Diese kognitive Fremdleistung verpflichtet die Legislative nicht nur zu einer Gestaltung im Sinne der Aufstellung des gesetzlichen Rahmens, sondern aufgrund der Rechtsschutzgarantie ebenfalls zur materiellen Ausfüllung des gesetzlichen Rahmens.18 Insofern verwundert der Ausnahmecharakter von Letztentscheidungs- und Selbstprogrammierungsbefugnissen im deutschen Verwaltungsrechtssystem nicht.19 Das verfassungskonforme Transponieren jeglicher kognitiver Teilleistung auf die Administrative ist damit ein 14 Zur Finalprogrammierung Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG EuR Rn. 218, 219, vgl. Hwang, AöR 136 (2011), S. 553, 561; Lepsius, 2019 JuS, S. 123, 127, 128; ausführlich Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 525; Durner, Konflikte räumlicher Planungen. Verfassungs-, verwaltungs- und gemeinschaftsrechtliche Regeln für das Zusammentreffen konkurrierender planerischer Raumansprüche, S. 318. 15 Siehe Lepsius, JuS 2019, S. 123, 127, 128; Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 525; Stichwort „Gesetz als Delegationsgrundlage“, Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG EuR Rn. 218, 219; kritisch am Beispiel des Regulierungsermessens, Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005; ebenfalls kritisch Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 5 ff., 27 ff., 38 ff. 16 Ausführlich zu den Auswirkungen Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 83 ff.; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, S. 63; zum Prozeduralisierungsbegriff Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, Tema con Variazioni, S. 1, 2 f.; Vermengung von Finalprogrammierung und Prozeduralisierung bei Lepsius, JuS 2019, S. 123, 127. 17 BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 61. 18 Explizit hinsichtlich Qualität und Quantität an den Gesetzgeber appellierend BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 62; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 60; Poscher, in: FS Rainer Wahl, S. 527, 550 f.; qualitativ zurückhaltend, Eichberger, NVwZ Beilage 1/2013, S. 18, 21; ebenfalls Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 184. 19 Grundsätzlich sofern ein subjektiv Recht betroffen ist, da Art. 19 Abs. 4 GG keine materielle Rechtsposition begründet, BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 57 f.;

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legislatorischer Kompetenzübertragungsakt, abgeleitet von der eigentlichen Gesetzgebungskompetenz. An die legislatorische Freisetzung materiell unzureichend ausgestalteter Normprogramme und die funktionale Beeinträchtigung gerichtlicher Vollkontrolle stellt sich auf dem nationalen Spielfeld des Verwaltungsrechts betreffend behördlicher Selbstprogrammierungsbefugnisse konsequenterweise die Frage nach der gesetzgeberischen Kompetenzzuweisung an die Administrative.20 In der normativen Exposition dieses Übertragungsaktes gegenüber der Exekutive und Judikative liegt die Quintessenz der normativen Ermächtigungslehre.21 Im Wege der Wahrnehmung des eigenen Kontrollauftrags, ebenfalls aus Art. 19 Abs. 4 GG, ist diese normative Ermächtigung der Verwaltung durch die Gerichte zunächst feststellungsbedürftig.22 Die Auslegung von normativen Ermächtigungen wird durch das jeweilige Fachrecht determiniert, sodass fachbereichsübergreifende Standards nur mit hinreichender Oberflächlichkeit aufgestellt werden können.23 Angesichts der Herleitung administrativer Letztentscheidungsbefugnisse durch das legislatorische Stilmittel der normativen Suppression materiellrechtlicher Komponenten tritt zudem eine weitere Herausforderung hinzu, welche die Gerichte im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Bestimmtheit und Normklarheit zur Deklarierung verfassungswidriger Gesetze gemäß Art. 100 GG zwingt.24

BVerfGE 7, 129, 154; BVerfG, Beschluss vom 28. 06. 1983 – 2 BvR 539, 612/80, BVerfGE, 64, 261, 279; BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34, 49 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 181; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 216; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 55. 20 Administrative Letztentscheidungsermächtigungen als Kompetenzzuweisungen, ­Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 377; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 27; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 59 ff.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1005; Schmidt-­Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 184; Hain, in: FS Starck, S. 35, 42; Ossenbühl, in: FS Redeker, S. 55, 63; Schoch, Jura 2004, S. 612, 613 f. 21 Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 34; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 61. 22 BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 61, 62. 23 Für eine Kontrollreduktion ist neben der gesetzlichen Ermächtigung auch Sachgrund notwendig, der sich naturgemäß im fachlichen Segment befinden kann. Mit zunehmender Verrechtlichung von Lebenssachverhalten kommen konsequenterweise neue Sachgründe hinzu, vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011, 1 BvR 857/07, Rn. 62 a. E. 24 Vor allem im Umweltrecht siehe Teil 3; richtig daher Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 61.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

c) Methoden- und Kompetenzprobleme im europäischen Mehrebenensystem Vorstehendes bildet lediglich das Verhältnis zwischen der Exekutive und Judikative durch die legislatorische Steuerung exekutivischer Selbstprogrammierungs- bzw. Letztentscheidungsbefugnisse auf dem nationalen Spielfeld ab. Zwar sind die Grundsätze der Gesetzesbindung25 und der Rechtsschutzeffektivität gemäß Art. 47 GRCh im Unionsrecht vorhanden, sodass sich die angesprochenen Konfliktsituationen durch materiell-rechtliche Defizite oder einen bestimmten Programmduktus durchaus konstruieren lassen. Allerdings ist diese Konstruktion für das mehrebenengeprägte System des Unionsrechts in zweierlei Hinsicht zu eindimensional.26 aa) Methodenproblem Zunächst muss das Unionsrecht eine gesetzliche Zuweisung von Letztentscheidungsrechten ähnlich der normativen Ermächtigungslehre voraussetzen. Relevant ist hierfür, inwieweit die Verwaltung durch das Gesetz zur Handlung legitimiert sein muss.27 Da das Unionsrecht durch mehrheitlich flexibilisiertere Verwaltungsrechtskonzepte der Mitgliedstaaten geprägt wird und eine europaweite Anschlussfähigkeit gewährleistet werden muss, ist die Suche nach restriktiver Handlungslegitimation der Verwaltung entsprechend dem deutschen Modell vergebens.28 Freilich wird nicht in allen Referenzgebieten des Unionsrechts eine flächendeckend einheitliche Bindung des Verwaltungshandelns erwartet werden können.29 Des Weiteren steht der Unionsgesetzgeber im Gefüge der Europäischen Union als legislatorischer Urheber des transformierten Verwaltungsrechts neben dem nationalen Gesetzgeber. Etwaige resultierende normative Kompetenzzuweisungen setzen da 25

EuGH, Urteil vom 23. 04. 1986  – 294/83, Les Verts / Parlament, Rn. 23; EuGH, Urteil vom 06. 04. 2006 – Rs. C-274/04, ED & F Man Sugar, Rn. 18; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 346, 474; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 74; Terhechte, in: Terhechte, Verwaltungsrecht der EU, § 7 Rn. 25. 26 (1.) Bezüglich der Vielzahl an Rechtsmaßstäben und einer Ausgestaltung einer normativen Ermächtigung siehe Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 374 f.; (2.) hinsichtlich einer Fremdlegislativsteuerung der Exekutive Möllers, Gewaltengliederung, S. 350. 27 Dazu Möllers, Gewaltengliederung, S. 350. 28 Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 99; zu demokratischer Legitimation des Verwaltungshandelns Ruffert, Comparative Perspectives of Administrative Legitimacy in Legitimacy in European Administrative Law: Reform and Reconstruction, S. 351 ff.; Ruffert, in: Trute / Groß / Möllers / Röhl, Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 431 ff.; rechtsvergleichend v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 35, 52, 100, 107; Marcou, Die Verwaltung und das demokratische Prinzip, in: ­Bogdandy / Cassese / Huber, IPE Bd.  V, § 92, Rn.  8 ff. 29 Trotz normativer Begründung das Migrationsrecht, etwa im Regulierungsverwaltungsrecht Wendel, Verwaltungsermessen im Mehrebenensystem, S. 99; Groß, Die Legitimation der polyzentralen EU-Verwaltung, 2015, S. 102.

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her einen erheblich höheren Auslegungs- sowie Interpretationsaufwand voraus.30 So wird sich speziell bei dem Sekundärrechtsakt der EU-Richtlinie betreffend materiell weniger starke Regelungsstrategien zunächst (und zusätzlich) gefragt werden müssen, inwieweit die identifizierte Letztentscheidungs- bzw. Selbstprogrammierungsbefugnis der Administrative zukommt oder ob es sich nicht doch um Konkretisierungs-, Umsetzungs- bzw. Handlungsbefugnisse der Legislative handelt.31 Die normative Ermächtigungslehre ist in mehrdimensionalen Rechtssetzungssystemen einem Methodenproblem ausgesetzt,32 welches sich nicht nur auf die Vielzahl von Normen und Normsetzungsebenen,33 sondern auch auf die Verdopplung der Legislativposition bezieht, sofern die Ermittlung der gesetzgeberischen Intention als Auslegungsziel der Lehre betrachtet wird. Nicht grundlos billigt das BVerfG bei der Identifizierung von administrativen Letztentscheidungsrechten die Auslegung der relevanten unionsrechtlichen Normen.34 bb) Kompetenzprobleme Neben der Herausforderung, die unionsgesetzgeberische Intention der Entscheidungsmachtzuweisung im Wege der juristischen Methode wirkungsvoll zu kanalisieren, verbleibt eine Konfusion bezüglich einer unionsgesetzgeberischen Bedeutungsrelevanz für das nationale Verwaltungsrecht. Bei dem Verschmelzen der nationalen und europäischen Rechtsetzungs- sowie Vollzugsebenen35 oder Durchbrechen der nationalen Rechtsetzungsebene36 (sog. diagonaler Zugriff oder diagonale Verschiebung grundsätzlicher Rechtsetzungs- und Kompetenzverhältnisse)37 verbleibt die Frage, inwieweit die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen unter Beachtung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 30 Möllers, Gewaltengliederung, S. 331; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191; grundsätzlich zum Konfliktfall bei EU-Richtlinien Reimer, JZ 910, 912 f. 31 Im Fall der Rahmenrichtlinien ausdrücklich siehe EuGH, Urteil vom 04. 05. 2016  – Rs. C-346/14, Kommission / Österreich, Rn. 70; EuGH, Urteil vom 30. 11. 2006, C-32/05, Kommission / Luxemburg, Rn. 40 f.; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2014 – Rs. C-525/12, Kommission / Deutschland, Rn. 50 f.; zu Problemen bei Ebenenkoppelung Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 89 a. E., 191. 32 Zuvor kritisiert Ossenbühl, in: FS Redeker, S. 55, 63; konstruktiv dazu Jestaedt, in: Ehlers /  Pünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 35 f. 33 Zutreffend Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191. 34 BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 − 1 BvR 1932/08, Rn. 28, 31, NVwZ 2012, 694; zuvor BVerwG, Urteil vom 02. 04. 2008 – 6 C 16.07 –, Rn. 14, juris; zustimmend Jacob / L au, NVwZ 2015, S. 241, 243. 35 Verordnungsfall, Art. 288 Abs. 1 AEUV. 36 Richtlinienfall, Art. 288 Abs. 1 AEUV. 37 Das Resultat „ebenen- und gewaltenübergreifende Rechtsverhältnisse“, so Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 89; weitere Gestaltungsmöglichkeiten mit diagonalen Auswirkungen, vgl. Bogdandy, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, § 25 Rn. 85; vgl. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, S. 4.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, 2 EUV) direkte Kompetenzen oder Annexkompetenzen der Europäischen Union begründet,38 welche etwa durch Kontrolldichtevorgaben Eingriffe in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten rechtfertigt39 oder etwa bei strengen Prozeduralisierungsstrategien die legislative Flexibilität der Richt­ linienkonzeption gänzlich aufhebt.40 Zusätzlich müssen an dieser Stelle ebenfalls die aus den Grundsätzen der Effektivität und Äquivalenz (Art.  4  Abs.  3 EUV) resultierenden Pflichten und Grenzen einbezogen werden.41 Im Hinblick auf die Rechtsprechung des BVerfG ist zu bezweifeln, ob direkte Rechtsetzungsbefugnisse oder Annexkompetenzen42 indirekter Rechtsetzungsbefugnisse ein Blankett für diagonale Modifikationen der innerstaatlichen Gewaltverhältnisse einräumen.43 Hervorgehobene Kontrollvorbehalte des BVerfG die Verfassungsidentität betreffend sowie etwaiger Ultra-vires-Rechtsetzung machen deutlich, dass grundgesetzlich geschützte Positionen und rechtsstaatliche Ordnungen nicht einfach (faktisch) übergangen oder vereitelt werden können.44 Zumindest die aus Art. 19 Abs. 4 GG abgeleitete Rechtsschutzeffektivität, welche konsequenterweise ein qualitatives und quantitatives Kontrollniveau einschließt, kann nicht diskussionslos übergangen werden.45

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Dies ebenfalls fordernd, allerdings keine Rechtfertigung voraussetzend, da Auswirkungen auf die Verfahrensautonomie nicht als „Eingriffe“ betrachtet werden, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 90; zutreffend in Anerkennung der Verfahrensautonomie als normativen Grundsatzes demgegenüber zusätzlich eine Rechtfertigung fordernd v.  Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 304, 467; Ladenburger, in: Trute / Gross /  Möllers / Röhl, Herausforderungen an das Allgemeine Verwaltungsrecht, S. 107 ff.; anders, Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1422; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Europäischen Mitgliedstaaten, S. 62 f.; a. A. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 90. 39 Kritisch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 79; grundsätzlich befürwortend, jedoch Untersuchungsaufwand für das Letztentscheidungsrecht fordernd, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 89 ff., 192. 40 Zutreffend beschrieben Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 192; siehe zum Direktzugriff der Prozeduralisierungsstrategien, Teil 4 A. I. 4. b). 41 Siehe Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, S. 1008; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 592 f. 42 Von „Kompetenzreserven“ sprechend, v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 467. 43 Verfahrensautonomie als bloß rechtsempirischen Normalfall betrachtend und daher nach Auslegung der Kompetenzregelungen ohne Rechtfertigung billigend wohl Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 90. 44 BVerfG, Urteil vom 12. 10. 1993, Az. 2 BvR 2134, 2159/92, BVerfGE 89, 155; BVerfG, Urteil vom 30. 6. 2009, Az. BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267. 45 Dazu Teil  4  B. I. 1. ff.

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2. Europäische Regelungsintensität bzw. -dichte Das Problem des gerichtlichen Kontrollrückgangs aufgrund einer zu schwachen Regelungsdichte ist freilich kein Novum,46 durch das System der Europäischen Gesetzgebung in Form von zielvorgebenden und transformationsbedürftigen Richtlinien wird die mitgliedstaatliche Konkretisierungsaufgabe und die damit einhergehende Aufgabe der Begrenzung von gerichtlichem Kontrollverlust jedoch nicht einfacher. a) Geringe Regelungsintensität bzw. mangelnde normative Konkretisierung Für das Umweltrecht legt schon die fehlende Relation zwischen dem unbestimmten Rechtsbegriff und etwa den tatsachenbezogenen ökologischen (Verwaltungs-) Freiräumen den generellen Befund nah, dass die europäische Regelungsintensität bzw. -dichte den Problemherd darstellt.47 Ausweislich der Entscheidungen deutscher Gerichte korrespondiert dieser Befund mit der Begründung naturschutzfachlicher (Verwaltungs-)Freiräume.48 Hierbei handelt es sich freilich um mehr als punktuelle Wertungsfragen,49 wie sie administrativen Letztentscheidungsrechten normalerweise inhärent sind, sondern um die Verflechtung naturwissenschaft­ licher und teils politischer Fragestellungen,50 die unter Radizierung der Ziele der einschlägigen Richtlinien legislatorischer Klärung bedürfen.51 Angesichts der Regelungskohärenz der einschlägigen Vorschriften (unter anderem Art. 6 Abs. 1 bis Abs. 4 FFH-RL) sowie der Relevanz ökologischer Bewertung – sei es für Tat 46 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 79; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG EuR Rn. 220. 47 Siehe Teil  3  A. II. 1. b) und 2. a) aa) 48 U. a. siehe BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008  – 9 A 3.06 Rn. 73 f., NuR 2008, S. 633; vgl. BVerwG, Urteil vom 16. 03. 2006 – 4 A 1075/04, Rn. 243, 517 ff., NVwZ-Beil. 2006, 1, 49 f.; BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, Rn. 16, NVwZ 2014, 524; Krone, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Umwelt- und Technikrecht, S. 16; BVerwG, Beschluss vom 02. 10. 2014 – 7 A 14.12, Rn. 6, DVBl. 2015, 95; vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs.  C-418/04, Kommission / I rland, Rn.  54. 49 Der Frage, ob eine Erhöhung des signifikanten Tötungsrisikos nach in § 44 BNatSchG vorliegt sind auch wertende Elemente immanent, allerdings handelt es sich um eine Tatbestandsvoraussetzung die so nicht in Art. 12 FFH-RL vorgesehen war, vgl. Dolde, NVwZ 2019, S. 1567, 1568; eine strikte Trennung von Ermittlung und Bewertung im Rahmen naturschutzfachlicher Standardisierung sei nicht immer möglich, siehe Wulfert / L au / Widdig / Müller-Pfannenstiel / Mengel, Standardisierungspotenzial im Bereich der arten- und gebietsschutzrecht­ lichen Prüfung, 2015, 8; Dolde, NVwZ 2019, 1567, 1569; bereits Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 58; Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 281, 286; Seibert, NWVBl. 2015, S. 372, 373. 50 Insbesondere im Klimaschutzrecht Gärditz, NVwZ 2015, S. 1, 10; Gärditz, DVBl. 2010, S. 214 ff. 51 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 24, BVerfGE 149, 407; zuvor plädierend Gärditz, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, Art. 20 a GG Rn. 36 ff.; Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 10.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

sachenfragen oder die Entscheidung generell – entsteht durch das legislatorische Konkretisierungsversäumnis eine strukturelle Verquickung dieser normativen Defizite.52 Der Rückgriff auf außerrechtliche und damit normative, nicht vorgegebene, außerrechtliche Maßstäbe infolge des Zuspruchs der Letztentscheidungsbzw. Letztkonkretisierungsbefugnis, beispielweise durch die Zugrundelegung von IBA-Listen im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung von Gebietsausweisungsentscheidungen oder die Frage des richtigen Verträglichkeitsprüfungsverfahrens gemäß Art. 6 Abs. 3 FFH-RL, lässt sich somit scheinbar als unionsgerichtlicher Modus verifizieren.53 Gleichzeitig markiert jedoch das Weservertiefungsurteil grundsätzlich die unionsgerichtliche Bereitschaft zur Konkretisierung unpräziser europäischer Bestimmungen zur Vermeidung europaweiter Differenzen bei der Anwendung unionaler Überprüfungsvorgaben, sodass nicht leichtfertig in jedem unbestimmten Rechtsbegriff54 sowie jedem fehlenden normativen Maßstab eine gelockerte Gesetzesbindung vermutet werden muss.55 Vielmehr sind die Vorschriften im Einzelfall zu betrachten; da hinreichende Bewertungsmaßstäbe im Fall der WRRL detailreich verankert sind, bedarf es lediglich der konkreten Auslegung der fraglichen Anwendung unionsrechtlich beschriebener Bewertungsmaßstäbe. Im Gegensatz zu dem Wasserzustandsbewertungsmaßstab des Anhangs V der WRRL ist tatsächlich festzustellen, dass der Anhang III der FFH-RL weniger detailreich ist sowie von den erhobenen Daten stark beeinflusst wird. Für die Gebietsausweisungsentscheidung nach VRL und die Methoden für vorausgesetzte Bestandsaufnahmen und Prüfungen nach der FFH-RL sind normativ schon keine Kriterien vorgesehen.56

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Funktionale Schwächen erkennend vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16, Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076; ausführlich Teil 3 A. I. 1. b) cc) (2) (b). 53 Siehe Teil  3  A. I. 1. a); Teil  3  A. I. 2.; Teil  3  B. I. 1. c) bb); im Fall der Gebietsausweisung, BVerwG, Urteil vom 27. 02. 2003  – 4 A 59.01, BVerwGE 118, 15; BVerwG, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 C 11/96, NVwZ 1999, S. 528; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998 – 4 A 9/97, BVerwGE 107, 1 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016 – 4 A 5/14, BVerwGE 154, 73 ff.; BVerwG, Urteil vom 12. 3. 2008 – 9 A 3/06, BVerwGE 130, 299 ff.; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013 – 4 C 3/12 –, BVerwGE 146, 176 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14, NuR 2015, 772 ff.; hinsichtlich der Konkretisierungsspielräume im Rahmen von Art. 6 FFH-RL im Anschluss an EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1. 54 Grundsätzlich Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 22; Schoch, Jura 2004, S. 612, 613 f. 55 Siehe Teil 3 A. I. 3. a) aa); vgl. EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, Ls. 2, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner). 56 EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996  – Rs. C-44/95, Lappel Bank; EuGH, Urteil vom 19. 5. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 61; EuGH, Urteil 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52.

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Nichtsdestotrotz kann die Orientierung an diesem unionsgerichtlichen Vorgehen durch die nationale Rechtsprechung im Wasser-, Habitat- und Artenschutzrecht, folglich der Gestattung einer Letztentscheidungs- bzw. Letztkonkretisierungs­ befugnis in Ermangelung der gesetzlichen Konkretisierung und der sich anschließenden eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung anhand des Maßstabs der Wissenschaftlichkeit nicht völlig ausgeräumt werden. Ob dies allein bereits ein tragbares Argument für die Freistellung der behörd­ lichen Entscheidung von dem grundsätzlichen Niveau vollumfänglicher Justiziabilität darstellt, ist zumindest auf der deutschen Ebene vordergründig aus dogmatischen Gründen anzuzweifeln.57 Allerdings ist festzustellen, dass die bloße abstrakte Anknüpfung an naturwissenschaftliche Standards durch außerrecht­liche Verweise nicht in der Lage ist, das auf normativer Ebene bestehende Rechtsetzungs- und Konkretisierungsminus aufzuheben und unter Umständen sogar das Bedürfnis der weiteren Konkretisierung verstärkt.58 Würde stattdessen die Verweisung auf den naturwissenschaftlichen außerrechtlichen Maßstab stets ein einziges Ergebnis offenbaren, könnte dies anders zu bewerten sein,59 wobei zu bedenken ist, dass die Qualität einer normativen Installation nicht durch eine mittelbare normative Verweisung substituiert werden kann.60 Festzuhalten ist, dass unbestimmte Rechtsbegriffe bzw. Schleusenbegriffe allenfalls die erweiterte Stufe einer fundamentalen sowie auf die nationale Ebene verschleppten normativen Konkretisierungs- und Standardisierungsproblematik sind. b) Verschiebung politischer Entscheidungsverantwortung Die dadurch fruchtbar gemachte Notwendigkeit der Heranziehung außerrechtlicher Maßstäbe führt im ohnehin materiell sehr anspruchsvollen Umweltrecht zu einer Erhöhung des Anwendungsschwierigkeitsgrades, wenn nicht sogar zu einer Verkomplizierung der Materie.61 In normativ vorausgesetzten, allerdings fach 57

Die Einbettung in die Beurteilungsspielraumkonzeption ablehnend in Teil 3 A. II. 2.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006, 1008; differenzierend Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 58; Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 281, 286; Seibert, NWVBl. 2015, S. 372, 373; a. A. da marginal begrenzend Lau / Jacob, NVwZ 2015, S. 241, 248. 58 Vgl. Durner, NuR 2019, S. 1, 14; Herdegen, Europarecht, § 9 Rn. 38 f.; Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, § 40 VwVfG Rn. 7 ff.; Streinz, Europarecht, 2016, Rn. 655; vgl. auch grundsätzlich Fehling, in: Trute / Gross / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 474. 59 Vgl. Dolde, NVwZ 2019, 1567. 60 Zum bereits qualitativen Unterschied bei Verwaltungsvorschriften im Rahmen der Richtlinientransformation vgl. EuGH, Urteil vom 30. 05. 1991 – 361/88, Rs. „Kommission / Deutschland“, NVwZ 1991, 866. 61 Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 99; vgl. Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9; Howarth, Journal of Environmental Law 21 (2009), S. 391, 394 f.

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wissenschaftlich umstrittenen und ungeklärten Bereichen wird damit vor allem die politische Instrumentalisierung der Verwaltung begründet, welche nun beschränkt politische Entscheidungslinien determiniert.62 Gleichzeitig ist die Abwälzung von letztverbindlicher Entscheidungsverantwortung auf die Verwaltung ein Hilfsmittel, um politische Neutralität, gerade in brisanten Themen, auf der legislativen Ebene auszustrahlen.63 Vor diesem Hintergrund liegt die funktional-begründete Aufgabe materieller Kontrolle unter Aufrechterhaltung prozeduraler Kontrolle durch die Gerichte nah.64 Zum einen ist die gerichtliche Kontrolle objektiv aus normativen Gründen nicht mehr richtig durchführbar und zum anderen ist ein nicht eingegrenzter außerrechtlicher ökologischer Kontrollmaßstab zunächst tatsächlich schwerer nachvollziehbar. Demokratisch und rechtsstaatlich korrekt muss bei Letzterem der politische Kurs zunächst die Entscheidungstendenz der Verwaltung legislativ vorgeben.65 Die anschließende Abwägungskontrolle der Verwaltungsgerichte bleibt oberflächlich zur Gewährleistung dieser Neutralität, aber hinreichend effektiv zur Vermeidung komplexer ökologischer Fragestellungen, letztlich jedoch auf Kosten der materiell-rechtlichen Vollkontrolle.66 c) Regelungsdichte als Instrument der Kompetenzwahrnehmung und -verteilung Die fehlende gesetzliche Einbettung ökologischer Datenquellen und bzw. oder eines korrespondierenden Anwendungsleitfadens für die Kriterien der VRL bzw. FFH-RL sowie die fehlenden methodischen oder verfahrensbezogenen Vorgaben im Unionsrecht67 sind dahingehend zu interpretieren, dass die Mitgliedstaaten in normativ nicht konkretisierten oder erfassten Bereichen innerhalb der Grenzen des ihnen übertragenen Transformationsauftrags durch die entsprechende Richt-

62

Vgl. Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 10. Letztlich das falsche Mittel. 64 Siehe im nationalen Umweltrecht Teil  3  A. II. 1. c) bb) (1); Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 10; vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. 02. 2002 – 1 BvR 1676/01, NJW 2002, 1638, 1639; BVerfG, Beschluss vom 18. 02. 2010 – 2 BvR 2502/08, NVwZ 2010, 702, 703; OVG Münster, Beschluss vom 16. 10. 2012 – 16 A 591/11, DVBl. 2012, 1573; Kahl / Burs, DVBl. 2016, 1222, 1223. 65 Vgl. Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9; vor allem bei gesellschaftlicher und wissenschaft­ licher Umstrittenheit siehe Gärditz, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, Art. 20 a GG Rn. 36 ff.; BVerfG, Urteil vom 24. 11. 2010, 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1, 37; Lepsius, in: Bertschi, Demokratie und Freiheit, 1999, S. 123, 170; Gärditz, DVBl. 2009, S. 69, 71; Gärditz, in: Friauf /  Höfling, Berliner Kommentar GG, 2012, Art. 20 Abs. 3 Rn. 133; grundsätzlich Möllers, in: Röhl, Wissen – zur kognitiven Dimension des Rechts, S. 113 ff. 66 Zur Abwägungskontrolle Jestaedt, in: Erichsen / Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 41 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 IV GG Rn. 187a. 67 Vgl. EuGH, Urteil vom 13. 12. 2007– Rs. C-418/04, Kommission / I rland, Rn. 54; vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. 5. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 46 ff.; im Anschluss an EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1. 63

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linie hinsichtlich der (Maßstabs-)Letztkonkretisierung souverän sind.68 Im Hinblick auf die Sperrwirkung der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Unionsgesetzgebers gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 AEUV wird der Umfang dieser Souveränität zusätzlich durch die Art der Gesetzgebungskompetenz determiniert.69 Für das der geteilten Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 4 Abs. 2 AEUV unterworfene Umweltrecht bedeutet dies, dass Sachverhalte außerhalb des legislatorischen Handelns durch den Unionsgesetzgeber unter Umständen durch die Mitgliedstaaten geregelt werden können. Ungeachtet der geteilten oder ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz sind die Mitgliedstaaten jedenfalls befugt, durch die normative Nachverdichtung im Transformationsprozess Kontrollmaßstäbe der Judikative zu generieren.70 Dabei handelt es sich also zunächst um eine legislatorische Primäraufgabe, weshalb „Ermessen“, „Beurteilungsspielraum“ und „Gestaltungsspielraum“ dahingehend zu verstehen sind. Damit nimmt die Regelungsdichte im Unionsrecht als Instrument der Kompetenzwahrnehmung und -verteilung eine Doppelfunktion ein. Zum einen wird die Reichweite der Sperrwirkung durch den unionalen Gesetzgebungsakt abgesteckt und zum anderen werden die Mitgliedstaaten mit Letztentscheidungsrechten zur Maßstabsgenerierung ausgestattet. Letztere Funktion bedarf für die Frage der Administrativzuweisung einer normativen Ermächtigung im Sinne einer Adressatenbenennung. Dies resultiert aus der Erweiterung des Adressatenkreises im System der europäischen Richtlinien.71 3. Unionsrechtliche Programmwahl Daneben fördert die finale Regelungsstruktur des Richtlinienrechts die Billigung von Letztentscheidungsrechten. Erkennbar wird dies besonders im Kontrast zu konditionalen Regelungsstrukturen. Letztere prägen das deutsche Recht und ermöglichen das hohe Niveau gerichtlicher Kontrolldichte. In finalen Regelungsstrukturen sind Tatbestand und Rechtsfolgen nicht immer in aller Deutlichkeit 68

Siehe EuGH, Urteil vom 29. 6. 1993 Rs. C-298/89, Gibraltar / Rat, Rn. 16; Ruffert, in: ­ alliess / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 23; W. Schroeder, in: Streinz, AEUV Art. 288 Rn. 53 ff., C insb. 57 ff.; vgl. souveräntitätsschonend Wunderlich / Pickartz, EuR 2014, S. 659, 663; Ruffert /  Grischek / Schramm, JuS 2020, S. 413, 416. 69 Gerade im Bereich der geteilten Gesetzgebungskompetenz entstehen besondere Probleme, da verschiedene Rechtssetzungsebenen durch ein System der Arbeitsteilung und durch konkurrierende Strukturen „verkoppelt“ werden, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191 a. E.; Möllers, Gewaltengliederung, S. 331 f. 70 Vor allem bei Rahmenrichtlinien EuGH, Urteil vom 04. 05. 2016 – Rs. C-346/14, Kommission / Österreich, Rn. 70; EuGH, Urteil vom 30. 11. 2006, C-32/05, Kommission / Luxemburg, Rn. 40 f.; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2014 – Rs. C-525/12, Kommission / Deutschland, Rn. 50 f.; für das Regulierungsrecht Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009; Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz im Verwaltungsrecht, S. 72 f., 178 ff., 183 f., 413, 460 f.; Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung, S. 202 ff., 296. 71 Dazu ab Teil 4 A. III.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

vorhanden, im Vordergrund stehen Zielvorgaben.72 Für die verbindlich gemachte Zielerreichung vorgesehener Modus und vorgesehene Mittel werden allenfalls umrissen.73 Die letztliche Auswahl von Modus und Mittel wird dann durch den Richtlinienadressaten im Rahmen seines Transformationsauftrages getroffen.74 a) Zielerfüllung als Strukturmerkmal des Umweltrechts Vor dem Hintergrund des effektiven Umweltschutzes erlegen die Richtlinien den Mitgliedstaaten insbesondere im Umwelt- und Technikrecht im Wege finaler Regelungsansätze Zielvorgaben auf.75 Bei Betrachtung der Gesetzesfunktion als maßgeblichem Faktor der Strukturbeschaffenheit normativer Programmierung76 verwundert die Tendenz zu finalisiertem Richtlinienrecht im supranationalen Ordnungsrahmen freilich nicht.77 Im von Ungewissheiten durchzogenen und latenten Umwelt- und Planungsrecht überrascht die Verlagerung kognitiver Detailierungsprozesse auf die Mitgliedstaaten erst recht nicht.78 Richtlinien sind primär auf die Zielerreichung der Mitgliedstaaten angelegt und ohnehin von der Eigenleistung ihrer Adressaten abhängig.79 Sie installieren damit einen arbeitsteiligen Regelungszusammenhang, welcher die Mitgliedstaaten mal mehr oder weniger stark in ihrer Rolle als nationale Normerzeuger einbindet.80 In den diskutierten 72

Begründend Luhmann, Recht und Automation, S. 35 ff.; Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, S. 45 f.; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 195 ff.; siehe Lepsius, JuS, S. 123, 127, 128; Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 525; Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Bd. I, S. 27 ff., 35–37; Breuer, DV 36 (2003), S. 271, 280; kritisch Betrachtung im Hinblick an die daran aufbauende Dichotomie der administrativen Letztentscheidungsrechte Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 14 ff. 73 Lepsius, JuS 2019, S. 123, 127, 128; Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 525; Breuer, DV 36 (2003), S. 271, 280. 74 Offensichtliche Formulierung, in: Art. 6 Abs. 1 FFH-RL; siehe ebenfalls EuGH, Urteil vom 04. 05. 2016 – Rs. C-346/14, Rn. 70 Rs. „Kommission / Österreich“, NVwZ 2016, 1161. 75 Breuer, AöR 127 (2002), S. 524 ff.; Breuer, NuR 2007, S. 503 ff.; Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9; Hwang, Bestimmte Bindungen unter Unbestimmtheitsbindungen, S. 105 f.; Ruffert, in: Calliess / Ruffert / Ruffert, AEUV Art.  288 Rn.  23; allgemein Reimer, JZ 2015, S. 910, 912. 76 Lepsius, JuS 2019, S. 14, 15. 77 Etwa das Regulierungsrecht und Umwelt(verfahrens)recht kennzeichnend, Gärditz, NVwZ 2009, 1005, 1006; Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9; Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 525; Breuer, NuR  2007, 503 (505); Durner, NuR 2010, S. 452, 464; Bohne, in: SchmidtAßmann / Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrecht, S. 217, 227 ff.; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 40. 78 Ableitend aus Lepsius, JuS 2019, S. 123, 127; Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 536, 564; Breuer, DV 36 (2003), S. 271, 280. 79 Siehe EuGH, Urteil vom 04. 05. 2016  – Rs. C-346/14, Kommission / Österreich, Rn. 70; EuGH, Urteil vom 30. 11. 2006, C-32/05, Kommission / Luxemburg, Rn. 40 f.; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2014 – Rs. C-525/12, Kommission / Deutschland, Rn. 50 f. 80 Erweiterung des Gedankens „Arbeitsteilung im (nationalen) Gewaltenverhältnis“ auf das Mehrebenensystem der EU, Lepsius, JuS 2019, S. 123; Eintritt der „Ebenenkoppelung“ vgl. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191; Möllers, Gewaltengliederung, S. 331.

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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letztentscheidungsrechtsrelevanten Bereichen der FFH-RL, VRL und insbesondere der WRRL findet sich eine Anreihung von Zielvorgaben. Im Rahmen dieser Zielvorgaben sind lediglich Abwägungsbelange vorgegeben, die durch die Richtlinienadressaten konkretisiert werden müssen. aa) FFH-RL und VRL Dies fängt bereits bei der Vorgabe zur Gebietsmeldung bzw. -ausweisung von Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL an, ohne die Aufnahme konkreter Ausweisungs- bzw. Meldungsmaßstäbe. Meldungsvoraussetzungen für Gebiete mit bestimmten Tierarten in Art. 4 Abs. 1 FFH-RL sind nur sehr oberflächlich vorhanden. Die Mitgliedstaaten werden mit der Beifügung des Erfordernisses der „zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete“ in Art. 4 Abs. 1 UAbs. 4 VRL zusätzlich vor kognitive Herausforderungen gestellt.81 Des Weiteren setzt Art. 6 Abs. 1 FFH-RL etwa die Festlegung notwendiger Erhaltungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten voraus. Die möglichen staatlichen Handlungsformen werden zwar genannt, aber nicht eingegrenzt. Zusätzlich erfolgt durch den unbestimmten Rechtsbegriff „erforderliche Maßnahmen“ eine semantische Öffnung, die lediglich im Kontext zu Anhang I und Anhang II der FFH-RL materiell eingeschränkt wird. Ensprechendes gilt etwa auch für Art. 6 Abs. 2 FFH-RL und Art. 4 Abs. 4 VRL hinsichtlich der zu treffenden Schutzmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten in Ansehung der bloßen Ziele der Richtlinie. Demgegenüber sind Art. 6 Abs. 3, Abs. 4 und Art. 12 FFH- RL hinsichtlich ihrer regelungsstrukturellen Beschaffenheit eher einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich, allerdings fehlt es an ökologischen Standards.82 Die Richtlinie setzt explizit lediglich zuverlässige einschlägige bzw. notwendige wissenschaftliche Informationen, Daten oder Erkenntnisse voraus. Der EuGH konkretisierte in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 FFH-RL diesen Standard auf die besten wissenschaftlichen Erkenntnisse.83

81

Siehe dazu Füßer, NuR 2004, S. 701, 704 ff., insb. 705; zusätzlich Teil 3 A. I. 2. EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1; siehe Teil  3  A. I. 1., A. II. 1. b) und A. II. 1. d) aa). 83 EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Rn. 54, Herzmuschelfischerei; EuGH, Urteil vom 17. 04. 2018  – Rs. C-441/17, Kommission / Polen, Rn. 138; BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2013 – 9 A 14.12, Rn. 45, BVerwGE 148, 373. 82

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

bb) WRRL Als Paradebeispiel unionsrechtlicher Finalprogrammierung gilt weiterhin die WRRL.84 Insbesondere Art. 4  WRRL konstatiert fast ausschließlich gewässerökologische Zielvorgaben, welche die Mitgliedstaaten einhalten bzw. von diesen erreicht werden müssen.85 Die Absicherung dieser Ziele erfolgt nur sehr vage durch „praktikable Vorkehrungen“ oder zu „ergreifende Maßnahmen“. Insbesondere werden für die Umweltziele in Art. 4 WRRL relevante Begriffsbestimmungen in Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 und Nr. 9 WRRL für erheblich veränderte und künstliche Wasserkörper im Sinne des Art. 4 Abs. 3 WRRL, die über Art. 4 Abs. 1 lit. a Ziff. (iii) WRRL im Gegensatz zu den anderen Oberflächenwasserkörpern ein herabgesetztes Qualitätsziel erhalten, nicht hinreichend definiert und bieten daher eine breitflächige Auslegungs- sowie Umgehungsmöglichkeit.86 b) Finale Rechtssetzung versus konditionale Rechtssetzung Diese zielorientierte Regelungsstrategie bereitet der gerichtlichen Kontrolle in doppelter Hinsicht grundsätzliche Schwierigkeiten. Betroffen ist ihr Charakter als Rechtskontrolle sowie ihre Ausgestaltung als Vollkontrolle.87 Dies resultiert aus dem Nachteil der Finalprogrammierung von Rechtssätzen und der Unzulänglichkeit ihrer Subsumtion generell.88 Subsumtion setzt nämlich die Installation von rechtsbegrifflichen Tatbestandsmerkmalen im konditionalen Verhältnis zu Rechtsfolgen voraus, die bei der finalen Kodifikation von bloßen Zielen, Leitgedanken und Belangen keine Notwendigkeit darstellen.89 In Ermangelung konditionalisierter Strukturen lässt sich der Rechtserkenntnisakt bzw. in mehrstufigen 84 Siehe Durner, NuR 2010, S. 452, 454; Breuer, NuR 2007, S. 503, 505; Franzius, NordÖR 2014, S. 1, 9; Kappet, Qualitätsorientierter Gewässerschutz in Deutschland, S. 202 ff.; Albrecht, Umweltqualitätsziele im Gewässerschutzrecht, 2007, S. 346 ff.; Klingele, Umweltqualitätsplanung, 2012, S. 68 ff.; Breuer, in: Erbguth, Europäisierung des nationalen Umweltrechts, S. 87, 96, 104 f.; anders Appel, ZUR 2001, S. 129 ff.; Gärditz, ZfU 2016, S. 247, 262, 263. 85 Durner, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, WHG § 27 Rn. 5; Breuer, NuR 2007, S. 503, 505. 86 Zusätzlich besteht die Freiheit diese überhaupt auszuweisen, Durner, in: Landmann /  Rohmer, Umweltrecht, WHG § 28 Rn. 5; vgl. Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 95; Möckl / Bathe, ZUR 2012, S. 651, 653. 87 Siehe Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 525, 527; im Wasserrecht Durner, NuR 2010, S. 452 462; Durner / Ludwig, NuR, S. 457, 465; Breuer, in: FS Sellner, S. 493, 504 f.; problemauflösende Formulierungstechnik bei Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 16 f.; eine Chance der Kontrollmöglichkeit erkennend, Lepsius, JuS, S. 123, 128. 88 Ossenbühl, Gutachten B für den 50. DJT, 1974, S. 184 ff.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 80; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 216, 218 ff.; Hwang, AöR 136 (2011), S. 553, 561; Breuer, NuR 2007, S. 503, 505. 89 Di Fabio, in: FS Hoppe, 2000, S. 75 (86 ff.); Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009; Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 525, 527; Klement, Verantwortung, S. 276.

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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Entscheidungen lassen sich die Rechtserkenntnisakte nicht nachvollziehen,90 was zu einer fehlenden Transparenz des Entscheidungsprozesses insgesamt führt. Konsequenz ist wiederum die Modifizierung der gerichtlichen Rechtskontrolle zu der Abwägungskontrolle in Bezug auf die normierten und gegebenenfalls miteinander kollidierenden Zielvorgaben.91 Das Augenmerk der gerichtlichen Kontrolle liegt dann auf Zielverfehlungen und Abwägungsfehlern.92 Problematisch flankiert wird die gerichtliche Kontrolle zusätzlich von der Tatsache, dass durch das Fehlen konditionalisierter Rechtssätze gleichzeitig die legislativen Handlungsdirektiven für den mit der Zielerreichung beauftragten Adressaten fehlen.93 Folglich handelt es sich bei der Verfolgung von bloß zielorientierten Regelungsstrategien durch den Gesetzgeber um die Delegation kognitiver Leistungspflichten auf den Adressaten finalisierter Rechtssätze, welcher nun angesichts der aufgetragenen Zielvorgaben eine derivative Rechtserzeugungsmacht in beschränktem Ausmaß ausübt.94 Darin wird freilich eine relevante Letztentscheidungskompetenzzuweisung durch den (Unions-)Gesetzgeber erkennbar.95 Die (unions-) gerichtliche Kontrolle wird die Ausnutzung dieser kognitiven Leistungsbefugnis nur am Maßstab der weniger restriktiven Zielsteuerung beurteilen können. Da für die Erreichung von Zielen naturgemäß nun mehrere Handlungsmöglichkeiten bestehen, die lediglich anhand entgegenstehender Interessen und Belange verhältnismäßig auszutarieren sind, distanzieren sich Finalprogramme von der „normativen Idealentscheidung“ und schränken die gerichtliche Vollkontrolle funktional ein.96 Daher werden den Adressaten finalisierter Rechtssätze (im Richtlinienrecht primär den Mitgliedstaaten) aufgrund des Bestehens verpflichtender Zielvorgaben 90

Vgl. Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 218, 219. Siehe Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 527 a. E.; Gärditz, NVwZ 2014, 1, 9. 92 Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 527 a. E.; grundsätzlich Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 41 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 IV GG Rn. 187a. 93 Hierdurch wird die Bindungskraft des Gesetzes verringert, Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 9. 94 Für den Fall nationaler Gesetze Lepsius, JuS 2019, S. 123, 127; es Selbstprogrammierungsbefugnisse, in Ermangelung einer vollständigen Determinierung des Verwaltungshandeln durch die gesetzliche Grundlage, vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 9, insb. a. E.; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 218, 219; für den Richtlinienfall siehe EuGH, Urteil vom 04. 05. 2016 – Rs. C-346/14, Kommission / Österreich, Rn. 70; EuGH, Urteil vom 30. 11. 2006, C-32/05, Kommission / Luxemburg, Rn. 40 f.; EuGH, Urteil vom 11. 09. 2014 – Rs. C-525/12, Kommission / Deutschland, Rn. 50 f.; ähnlich Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 113; ähnlich, jedoch aufgrund des hinreichenden Detailierungsgrades heutiger Richtlinien eine mitgliedstaatliche Flexibilität verneinend Ruffert, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 25; Hilf, EuR 1993, S. 1, 4 f.; Pernice, EuR 1994, S. 325 f. 95 Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 527 a. E. 96 Zutreffend Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rn. 9; ähnlich Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 220; zum Ideal der einzigen richtigen Entscheidung, Ossenbühl, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Auflage (2002), § 10 Rn. 27; Herdegen, JZ 1991, S. 747, 750; Schoch, Jura 2004, S. 612, 614. 91

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

ohne die Programmierung zu erfüllender Tatbestandsmerkmale (Direktiven) in dem klassischen Wenn-Dann-Schema Handlungsspielräume (Umsetzungs-, Konkretisierungs-, Beurteilungs- oder Ermessensspielräume) zugebilligt.97 Eine Aufrechterhaltung der gerichtlichen Vollkontrolle würde die Letztentscheidungskompetenzzuweisung durch den Gesetzgeber konterkarieren.98 aa) Gebot sachlicher Kontrolle trotz Finalprogrammierung Unter der strengen Geltung des Vorsorgegrundsatzes in Art. 191 Abs. 2 AEUV99 erhält der EuGH im Umweltrecht, entgegen seiner kontrolldichtereduzierenden Linie in wissenschaftlich komplexen und finalisierten Regelungsmaterien,100 die Kontrolldichte aufrecht.101 Die Kontrolle der Gebietsausweisung bzw. -meldung 97

Vgl. Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 527 a. E.; Breuer, NuR 2007, S. 503, 505; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn.  217; Fehling, VVDStRL 70 (2011), S. 280, 296; Heldt, NVwZ 2012, S. 461, 467; Huber, NVwZ 2014, S. 293, 294. 98 Siehe Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 527 a. E. 99 Zum Vorsorgegrundsatz EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58; theoretische Risiken sind im Rahmen des Vorsorgeprinzips nicht berücksichtigungsfähig, EuGH, Urteil vom 09. 09. 2003 – Rs. C-236/01, Monsanto Agricoltura Italia, Rn. 106 f.; EuG, Urteil vom 11. 09. 2002 – Rs. T-13/99, Rn. 145, 152; Stokes, Environmental Law Review 2005, S. 206, 212; siehe dazu ebenfalls Käller, in: Schwarze EU-Kommentar, Art. 191 AEUV, Rn. 29; Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 208 ff. 100 Im Kartellrecht EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06, P Bertelsmann / Sony BMG, Rn. 69 ff., 121; EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuGH Urteil vom 22. 11. 2007 C-525/04 P, Spanien / Lenzing, Rn. 56, 57; EuGH, 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131; in Sachen der Geldpolitik EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler, Rn. 70; EuGH, Urteil vom 06. 10. 2009 – Rs. C-501/06 P, Rs. C-513/06 P, Rs. C-515/06 P, Rs. C-519/06 P, GlaxoSmithKline, Rn. 85; andere naturwissenschaftlich-technische Materien vgl., EuGH, Urteil vom 8. 7. 2010 – Rs. C-343/09, Afton Chemical, Rn. 28 ff.; Verweis auf EuGH, Urteil vom 15. 10. 2009 – Rs. C-425/08, Enviro Tech Europe, Rn. 47 ff.; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 69; Möllers, in: Masing / Marcou, Unabhängige Regulierungsbehörden, S. 231, 256; Skouris, in: Schwarze, Die rechtsstaatliche Einbindung der europäischen Wirtschaftsverwaltung, S. 71, 75 f. 101 Im Hinblick auf EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006 – Rs. C-239/04, Kommission / Portugal, Rn. 20; EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58, 59; EuGH, Urteil vom 09. 09. 2003  – Rs. C-236/01, Monsanto Agricoltura Italia, Rn. 106, 109; EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; grundsätzlich dazu Erb, Untersuchungsumfang und Ermittlungstiefe in Umweltprüfungen, S. 209; insbesondere EuGH, Urteil vom 15. 10. 2015 – Rs. C-137/14, Kommission / Deutschland, Rn. 79; zuzustimmen daher, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 72; im Wasserrecht dagegen etwas gelockert, EuGH, Urteil vom 01. 07. 2015 – Rs. C-461/13, Kommission / Deutschland, DVBl. 2015, 1049 (m. Anm. Durner), Ls. 2; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15, Rn. 489 ff., BVerwGE 158, 1.; Breuer / Gärditz, Öffentliches und privates Wasserrecht, Rn. 164; OVG Bremen, Urteil vom 04. 06. 2009 – 1 A 9/09 Rn. 121, NordÖR 2009, 460.

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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nach VRL und FFH-RL ist beispielsweise bemerkenswert hoch und vollzieht sich mitunter an außerrechtlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen.102 Die Gestattung von Letztentscheidungsrechten erfolgt punktuell begrenzt und wird durch die naturwissenschaftliche Abgleichung der Nutzung dieses mitgliedstaatlichen Handlungsspielraums kaum spürbar.103 Nichts anderes gilt für die Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL.104 Zwar lässt sich in diesen letztentscheidungsrechtsrelevanten Bereichen der FFH-RL (Art. 4, 6 und 12 FFH-RL) die Implementierung finaler Programme wiederfinden, mehrheitlich ist für die Letztentscheidungsrechtszuweisungen an die Mitgliedstaaten das Standardisierungsversäumnis für ökologische Verfahren und Methoden verantwortlich.105 Einbrüche des Kontrollniveaus sind jedoch teilweise auch auf finale Regelungsmuster zurückzuführen, wie zum Beispiel bei Art. 6 Abs. 2 FFH-RL.106 Die Wechselwirkungen durch den Einsatz finaler Regelungsstrategien, die gezielt Mittel und Modus der Zielerreichung vernachlässigen, sowie der Nutzung schwacher Regelungsdichte, etwa durch Vermeidung ökologischer Vereinheitlichung, werden ohnehin schwer von der Hand zu weisen sein. Der Wirkbereich finaler Programmierung ist bei der Einräumung von Spielräumen anlässlich der besagten hohen Kontrolldichtebestrebungen des Unionsgerichts im Umweltrecht gegenüber dem Regulierungsrecht begrenzt,107 102

EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991  – Rs. C-57/89, Rs. Leybucht, Rn. 20 ff.; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993  – Rs. C-355/90, Rs. Kommission / Spanien, Rn. 27 ff.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 – Rs. C-44/95, Lappel Bank, Rn. 17 ff.; EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96 Kommission / Niederlande, Rn. 61 ff.; EuGH, Urteil vom 25. 11. 1999  – Rs. C-96/98, Poitou-Sümpfe, Rn. 44 ff.; EuGH, Urteil vom 07. 12. 2000  – Rs. C-374/98, Basses Corbieres, Rn. 23 ff.; EuGH, Urteil vom 13. 06. 2002  – Rs. C-117/00, Rn. 23 ff., Kommission / Irland; EuGH, Urteil vom 13. 07. 2006 – Rs. C-191/05, Kommission / Portugal, Rn. 11; EuGH, Urteil vom 25. 10. 2007 – Rs. C-334/04, Kommission / Griechenland, Rn. 24. 103 „Anwendung der Kriterien“ siehe Teil 3 A. I. 1. a) aa) und A. I. 2. 104 „Methodenwahl“, EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; im Anschluss daran BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; ausschließlich auf wissenschaftlicher Erkenntnisgrundlage vgl. EuGH, Urteil vom 26. 10. 2006 – Rs. C-239/04, Kommission / Portugal, Rn. 20; EuGH, Urteil vom 09. 09. 2003 – Rs. C-236/01, Monsanto Agricoltura Italia, Rn. 106; EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016  – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 44, 54. 105 Letztentscheidungsfragen stellen sich etwa bei weniger final konstruierten und aus Kontrollgesichtspunkten besser erfassbaren Vorschriften wie etwa Art. 6 Abs. 3, 4 FFH-RL und Art. 4 FFH-RL bzw. VRL; auf der nationalen Ebene wirkt sich dies vor allem auf Tatsachenfragen aus siehe BVerwG, Urteil vom 18. 03. 2009 – 9 A 39.07, Rn. 45, BVerwGE 133, 239; ähnliche Formulierungen in BVerwG, Urteil vom 06. 11. 2012 – 9 A 17.11, Rn. 100, BVerwGE 145, 40; BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22/11, Rn. 114, BVerwGE 146, 145; BayVGH, Urteil vom 06. 10. 2014 – 22 ZB 14/1079, Rn. 25, NuR 2014, 879; vgl. Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1222, 1223. 106 Im Umkehrschluss ebenfalls für Art. 6 Abs. 1 FFH-RL, vgl. EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; sowie allgemein vgl. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 – Rs. C-551/13, SETAR, Rn. 45. 107 Zum Wirkbereich der Output-Steuerung im Regulierungsrecht Westermann, Legitimation im europäischen Regulierungsverbund, S. 597 ff.; hinsichtlich des unionalen und nationalen Demokratieprinzips kritisch Gärditz, AöR 135 (2010), S. 278 ff.

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letztlich aufgrund der Regelungsbeschaffenheit jedoch nicht gänzlich funktionsstörungsfrei.108 Schließlich muss diese hohe Kontrolldichte nicht zwingend von der (natur-)wissenschaftlichen Komponente des Umweltrechts getragen werden, da das Kartellrecht ebenfalls die Einspeisung wirtschaftswissenschaftlicher Faktoren zur Marktregulierung voraussetzt.109 bb) Finalsteuerung als Kompetenzzuweisung in einfacher Rolle Mit der Auferlegung von Zielen ohne die Konditionalisierung der Zielvoraussetzungen ist eine gewisse Rechtserzeugungsbefugnis daher nicht zu leugnen, weshalb die Finalisierung von Regelungsstrukturen ebenfalls ein Instrument zur Kompetenzverteilung darstellen kann.110 Gegenüber der schwachen Regelungsdichte wird allerdings keine Doppelfunktion anzunehmen sein. Mit Kodifizierung von bloßen Zielbestimmungen erfolgt regelmäßig die breitflächige Sperrung möglicher zusammenhängender Regelungsgegenstände in Wahrnehmung der geteilten Gesetzgebungskompetenz auf der nationalen Ebene.111 Insofern bleibt es vielmehr bei der Letztentscheidungs- und Selbstprogrammierungskompetenzzuweisung innerhalb des Transformationsauftrags. c) Konditionalisierung finaler Richtlinienstrukturen Eine europäische veranlasste Integration von finalen Rechtssätzen innerhalb der nationalen Rechtsordnung bedeutet damit einen Bruch mit der deutschen Rechtstradition, konditionale Rechtssetzung zu installieren.112 Allerdings setzt der Richtlinienumsetzungsauftrag der Mitgliedstaaten nicht die getreue Überführung finaler Regelungsstrukturen voraus, sondern ermöglicht die Konditionalisierung 108

Zu Subsumtionsproblemen siehe Trute, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 211 ff.; Westermann, Legitimation im europäischen Regulierungsverbund, S. 606; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009, 1010. 109 Vgl. EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005 – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131; Zu grundsätzlichen Abweichungen im Kartellrecht gegenüber dem Regulierungsrecht vgl. Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006 f. 110 Trute, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 211, 219 f. 111 Zur Sperrwirkung Calliess, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 4 Rn. 1, Art. 2 Rn. 11 f. insb. 15; Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 2, Rn. 25; Streinz, in: Streinz, AEUV Art. 2 Rn. 11; Weber, EuZW 2008, S. 7, 11; vgl. Engelmann, ZEI Discussion Paper C 124/2003, S. 39, 41. 112 Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 559; Breuer, NuR 2007, S. 503, 505 a. E.; so gelingt beispielweise die Integration in das französische Rechte eher, da dem französischen Recht keine Subsumtion geläufig ist, vgl. Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 216; auch Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 562.

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finaler Regelungsziele.113 Logischerweise dürfte bereits die großzügigere Auferlegung von spielraumbegründenden Zielvorgaben an die Mitgliedstaaten eine konkrete Fassung als konditionalisierte Norm mit einschließen.114 Auf Grundlage der unionsrechtlichen Befugnis zur Konditionalisierung handelt es sich um eine Formulierungsaufgabe115 sowie parallel um eine kognitive Konkretisierungsleistung betreffend positivrechtliche Kontrollmaßstäbe durch die richtlinienvermittelte Kompetenz zur Wahrnehmung von Umsetzungs- und Konkretisierungsspielräumen. Der nationale Gesetzgeber hat dadurch die Gewährleistung der gerichtlichen Kontrolle zunächst selbst in der Hand. Die Regelungsstruktur des Richtlinienrechts ist hinsichtlich des Rückgangs der national-gerichtlichen Kontrolldichte damit nicht zu kritisieren, da das Richtlinienrecht nicht derart konzipiert ist, Kontrollmaßstab der deutschen Gerichtsbarkeit zu sein, sondern lediglich als Auslegungs- und Interpretationsgegenstand für das Umsetzungsrecht dient.116 Für eine Überprüfung der mitgliedstaatlichen Zieleinhaltung etwa im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens sind finale Regelungsstrukturen dagegen geeignet.117 Problematisch ist dagegen der Umgang mit diagonalen Verschiebungen des gerichtlichen Kontrollmaßstabes.118

113 Siehe bereits Art. 288 Abs. 3 AEUV; vgl. Reimer, JZ 2015, S. 910; Vedder, in: Vedder /  Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 291 AEUV Rn. 3; Ionescu, Innerstaatliche Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens, S. 34 ff., 275 ff.; Terhechte, Die föderalen Strukturen der Europäischen Union und das europäische Verwaltungsrecht, in: Härtel, Handbuch Föderalismus BD. IV, S. 449, 457. 114 Freilich anders zu beurteilen und problematisch ist dies, bei Zielvorgaben, die unmittelbar die Behörden adressieren, da eine die überlagernde Rechtsetzungsebene direkt in das Gewaltenverhältnis der untergeordneten Rechtsetzungsebene eingreift, vgl. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 192; Problematik in EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Kommission / Deutschland, Ls. 1, Rn. 38 ff.; zum Ermessen vgl. EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06, Arcor. 115 Jedes Finalprogramm bedarf einer (Re-)Konditionalisierung, siehe Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009; Di Fabio, in: FS Hoppe, 2000, S. 75, 86 ff.; dies ist möglich und würde für umzusetzendes Richtlinienrecht bedeuten, dass die grundsätzliche Dichotomie der Letztentscheidungsrechte im deutschen Verwaltungsrechtsystem gewahrt bleibt, vgl. Jestaedt, § 11 Rn. 16 ff.; Klement, Verantwortung, S. 276; Lepsius, JuS 2019, S. 123, 128. 116 Schon aus dem Transformationsauftrag abzuleiten vgl. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf /  Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 112, insb. 133; EuGH, Urteil vom 17. 09. 2002 – Rs. C-334/92, Wagner Miret / Fondo de garantía salarial; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996  – Rs. C-71/94, Rs. C-72/94, Rs. C-73/94, Eurim-Pharm Arzneimittel / Beiersdorf; EuGH, Urteil vom 16. 07. 1998, Rs. C-355/96, Rs. Silhouette International Schmied / Hartlauer Handelsgesellschaft; EuGH, Urteil vom 22. 09. 1998– Rs. C-185/97, Coote / Granada Hospitality. 117 Siehe Teil  3  B. I. 1. c). 118 Vgl. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 192.

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4. Prozeduralisierung Mit dem Begriff Prozeduralisierung sind vorliegend nicht die bloße Progression des Verfahrens im Verwaltungsrecht sowie die Privilegierung seiner Funktion im Verwaltungsrechtsschutz gemeint,119 sondern vielmehr die Obligation, unter Anwendung schlichter prozeduraler Strukturen anwendbare Norminhalte für relevante Sachprobleme zu produzieren.120 Das Ventil dieser Prozeduralisierungsleitidee121 ist das normative Programm. Eine derartige Ausprägung des Verwaltungsverfahrens wird durch die Installation von Finalprogrammen gerade erst in Szene gesetzt.122 Bei Einhaltung des restriktiven Verwaltungsverfahrens wird dem Verfahrensergebnis eine „Richtigkeitsgewähr“ attestiert und somit im Rahmen der prozedural gelenkten Entfaltungsmöglichkeit ein materieller Entscheidungsspielraum geschaffen.123 Propagiert werde dies als unional induzierter Eigenwert des Verfahrens.124 Dies führt zu einer problematischen Entmaterialisierung des Rechts, da materielle Vorgaben obsolet werden.125

119 Differenzierend Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 83 f.; zu dieser Funktion Kahl, DV 42 (2009), S. 463, 474. 120 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84 f.; Gärditz, DVBl. 2009, S. 69; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, S. 63 f.; Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 130 ff.; Broemel, Strategisches Verhalten in der Regulierung, S. 203 ff.; Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 63, 128 ff.; Trute, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 211, 228 f.; Röhl, JZ 2006, S. 831, 835 f.; Hagenah, Prozedurales Umweltrecht, S. 49 ff.; Wolf, Der ökologische Rechtsstaat als prozedurales Programm, in: Roßnagel / Neuser, Reformperspektiven, S. 57, 59; Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160, 174. 121 So Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84 f.; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, S. 63 f. 122 Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 4; vgl. Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, S. 63 f.; Lepsius, JuS 2019, S. 123, 128; Stelkens, DVBl. 2010, S. 1078, 1084; Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 221; Grünewald, Betonung des Verfahrensgedankens im deutschen Verwaltungsrecht durch das Gemeinschaftsrecht, S. 260 ff. 123 Siehe Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 221; Stelkens, DVBl. 2010, S. 1078; Franßen, DVBl. 1998, S. 413, 420. 124 Vgl. Nöhmer, Das Recht auf Anhörung im europäischen Verwaltungsverfahren, S. 329; Stelkens, DVBl. 2010, S. 1078; Franßen, DVBl. 1998, S. 413, 420; ähnlich Möllers, The Three Branches, S. 145; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; Breuer, AöR 127 (2002), 253 ff.; Breuer, DV 36 (2003), S. 271, 275 ff.; Kment, EuR 2006, S. 201, 204 f.; Wahl DVBl. 2003, S. 1285, 1286; Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, insb. 2, 9; Steinbeiß-Winkelmann, NJW 2010, 1233, 1236; grds. Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 18; kritisch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 85. 125 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 221; Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, S. 92 ff. 

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a) Formeller Eigenwert als Kontrollreduktionsmechanismus Vorbehalte gegenüber einer materiellen Vollkontrolle werden entweder mit den offerierten Avancen dieses formellen Eigenwerts oder mit der Konzeption des prozeduralisierten Verwaltungsrechts begründet.126 Befürchtet werde der Verlust der gesetzgeberisch intendierten Richtigkeitsgewähr durch das vorinstallierte Verwaltungsverfahren, da das formelle Verfahren durch die materielle Vollkontrolle in den Hintergrund rücke, im Ergebnis also eine Deklassierung des Eigenwerts provoziere.127 Damit sei die Richtigkeit vermittelnde Prozeduralisierung bereits ein Konzept, das die Reduzierung materieller Kontrolle stillschweigend voraussetze.128 Da unional induzierte Prozeduralisierungsstrategien unmittelbar an die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens der mitgliedstaatlichen Administrativen anknüpfen,129 handelt es sich im Gegensatz zu bloßen Finalprogrammen oder der generellen Regelungsschwäche um einen unionalen Direktzugriff auf die Arbeitsweise der mitgliedstaatlichen Administrativen und dies trotz des Rückgriffs auf das Modell der souveränitätsschonenden Richtlinie.130 Aus prozeduraler Verrechtlichung resultierende und zu diskutierende Entfaltungs- und Entscheidungsspielräume können in Anbetracht dieses Direktzugriffs daher schon nicht legislativer Natur sein. Auf eine (freiwillige)  Kontrolldichteangleichung der deutschen Gerichte an den unionsgerichtlichen Modus infolge unional veranlasster Prozeduralisierungsschübe abzielender Diskurs ist daher zumindest im Hinblick auf das tangierte Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive nicht unbegründet. Der-

126 So Franßen, DVBl. 1998, S. 413, 420; ähnlich Möllers, The Three Branches, S. 145; Breuer, in: FS Kloepfer, S. 315, 329 f.; Franzius, Rolle des Verfassungsrahmens, in: EnzEuR § 4 Rn. 30; Galetta, in: FS Stern II, S. 1051, 1058 ff.; Hissnauer, Auswirkungen der DLRL auf das deutsche Genehmigungsverfahrensrecht, S. 167 ff.; Kahl, VerwArch 95 (2004), S. 1, 31 ff.; Kahl, DV 42 (2009), S. 463, 472 ff.; Kment, EuR 2006, S. 201, 210 f.; Lippert, ZUR 2013, S. 203, 205 f.; Schmidt-Aßmann, in: Müller-Graff, Perspektiven des Rechts der EU, S. 131, 149 f.; Schoch, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem, Strukturen, S. 279, 300 f.; SteinbeißWinkelmann, NJW 2010, S. 1233, 1237; Wahl, DVBl. 2003, S. 1285, 1290 ff., in diesem Zusammenhangen eine Modellierung des Rechtsschutzkonzepts fordernd Dolde, NVwZ 2006, 857, 862 f.; darstellend und kritisch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 85 f., 87 f.; ebenfalls kritisch Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn.  222; Stelkens, DVBl.  2010, 1078, 1083 ff.; Fehling, VVDStRL 70 (2011), 280, 292 ff.; Heldt, NVwZ 2012, 461, 467. 127 Etwa Kahl, DV 42 (2009), S. 463, 472, 474; Franßen, DVBl. 1998, S. 413, 420. 128 So Dolde, NVwZ 2006, S. 857, 862 f.; dahingehend Kment, EuR 2006, 201, 210 f.; zur Vermeidung einer Übermaximierung Wahl, DVBl.  2003, S. 1285, 1291; auch Steinbeiß-­ Winkelmann, NJW 2010, S. 1233, 1237; sowie Ziekow, NVwZ 2007, S. 259, 266 f. 129 Etwa die aufoktroyierte Implementierung einer Öffentlichkeitsimplementierung im Verwaltungsverfahren durch Art. 11 UVP-RL und Art. 24 IE-RL. 130 Siehe Wunderlich / Pickartz, EuR 2014, S. 659, 663; Ruffert / Grischek / Schramm, JuS 2020, S. 413, 416; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 23; W. Schroeder, in: Streinz, AEUV Art. 288 Rn. 53 ff., insb. 57 ff.

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artige Prozeduralisierungszwänge können im Wege des mitgliedstaatlichen Transformationsauftrags gerade nicht beseitigt werden.131 Ausgehend von dem deutschen Verwaltungsrechtssystem, das durch den uneingeschränkt geltenden gerichtlichen Kontrollauftrag,132 der daraus resultierenden Letztentscheidungs(-kontroll-)kompetenz der Gerichte im Grundfall sowie der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,133 welche die materielle Komponente der Verwaltungsentscheidung in besonders ausgeprägter Weise fokussiert,134 wird zunächst tatsächlich ein materiell-rechtlicher Ausschlag bei derart ausgestalteten Verwaltungsrechtssystemen anzunehmen sein. Zusätzlich macht §§ 45, 46 VwVfG die lediglich „dienende Funktion des Verfahrensrechts“ deutlich und schafft damit eine relevante Dysbalance zwischen den formellen und materiellen Komponenten der Verwaltungsentscheidung, die sich in dem verankerten Kausalitätserfordernis für formelle Fehler innerhalb der gerichtlichen Kontrolle zeigt.135 Zwar sind dem Unionsrecht diese genannten Grundsätze – wenn auch weniger restriktiv – inhärent,136 allgemeine Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften entsprechend der §§ 45, 46 VwVfG sind allerdings systemfremd,137 ihr Anwendungsgrad bei unions 131

Zur Systemkollision in den Referenzgebieten, Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 231 ff. 132 Grds. Redeker, in: Redeker / von Oertzen, § 114 Rn. 7; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 16; Rennert, in: Eyermann, § 114 Rn. 51, 56; Schmidt-Aßmann / Schenk, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO Einl. Rn. 183; Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 216, Rn. 62; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 11; BVerfG, Beschluss vom 05. 02. 1963 – 2 BvR 21/60, BVerfGE 15, 275, 282; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 181; im europäischen Vergleich mit Österreich am höchsten gehalten Dolde, NVwZ 2006, S. 857, 858; Ramsauer, in: FG 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 699, 706 ff. 133 Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1 GG; Schmidt-Aßmann, in: Isensee / K irchhof (Hrsg.), HdbStR II, 3. Aufl. (2004), § 26 Rn. 61 ff.; Dolde, NVwZ 2006, S. 857; Sachs, in: Sachs, GG Art. 20 Rn. 110. 134 Dolde, NVwZ 2006, S. 857, insb. 858; dazu BVerfG, Beschluss vom 20. 02. 2001 – 2 BvR 1444/00, NJW 2001, 1121; BVerfG, Beschluss vom 27. 10. 1999 – 1 BvR 385/90, BVerfGE 101, 106, 122 f.; BVerwG, Beschluss vom 05. 10. 1990 – 7 C 55.89, 7 C 56.89, BVerwGE 85, 368, 379 f. 135 Dazu Kopp / Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., § 45 Rn. 4; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 305; Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, S. 489, 490; Wahl, DVBl. 2003, 1285, 1287 f.; siehe BVerwG, Urteil vom 13. 11. 1997 – 3 C 33.96, BVerwGE 105, 348, 354; BVerwG, 29. 04. 1993  – 7 A 2.92, BVerwGE 92, 258, 261; Dolde, NVwZ 2006, S. 857, 858. 136 Etwa die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, EuGH, Urteil vom 23. 04. 1986 – 294/83, Les Verts / Parlament, Rn. 23; EuGH, Urteil vom 06. 04. 2006 – Rs. C-274/04, ED & F Man Sugar, Rn. 18; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 346, 474; Wollenschläger, in: Dreier, GG, Art. 23 Rn. 74; Rechtsschutzgarantie in Art. 47 GRCh, dazu Jarass EU-GrundrechteCharta Art. 47 Rn. 3 f. zur Einschränkbarkeit aufgrund von Art. 52 GRCh, Rn. 14 ff.; ebenfalls Drechsler, Die Unionsgrundrechte unter dem Einfluss des Prozessrechts, S. 257. 137 Gleichzeitig bedeutet dies nicht, dass das Verfahren im Unionsrecht stets einen absoluten Stellenwert hat. Vielmehr muss dieser Stellenwert fachrechtlich induziert sein, weshalb eine Anwendung der §§ 45, 46 VwVfG grundsätzlich auch in den unionsrechtlichen Bereichen mög-

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rechtlichen Vorschriften muss spezifisch fachrechtlich abgewogen werden.138 Diese Abwägung wird erheblich durch das referenzgebietsspezifisch verfolgte Prozeduralisierungsmodell und seine Wirkungen determiniert.139 b) Freiraumentfaltung durch prozedurale Regelungsstrategien Bekannte Beispiele unional ausgelöster Prozeduralisierungsverbindlichkeiten bestehen im Bereich des Umweltverfahrensrechts, das maßgeblich durch die Umweltverträglichkeitsprüfung-Richtlinie (im Folgenden „UVP-RL“),140 Industrieemissionen-Richtlinie (im Folgenden „IE-RL“)141, Strategische-UmweltprüfungsRichtlinie (im Folgenden „SUP-RL“)142 und Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie143 lich bleibt, richtig daher Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84; ebenfalls Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 222a; eine Aufspaltung in allgemeines und besonderes Unionsverwaltungsrecht oder gar eine Vermengung mit Wertungen des Eigenverwaltungsrecht wird der Breite der verschiedenen Referenzgebiete schon nicht gerecht, zur Ableitung von allgemeinen Wertungen ebenfalls Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 222; Baumeister, Beseitigungsanspruch als Fehlerfolge des rechtswidrigen VA, S. 277 ff.; Gundel, EuR 2015, S. 80, 87 ff.; Kahl, NVwZ 2011, S. 449, 451; dagegen Bumke, GVwR, Bd. II, § 35 Rn. 185; Classen, DV 27 (1998), S. 307, 322 ff.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 542 ff.; zuvor Kahl, VerwArch 95 (2004), S. 1, 16 ff.; Nöhmer, Recht auf Anhörung im europäischen Verwaltungsverfahren, S. 281 ff. 138 Grundsätzlich EuGH, Urteil vom 20. 5. 2010, Rs. C-210/09, Scott, Rn. 18 ff.; hierzu ­Fehling, Die Funktion von Verfahren im Unionsrecht, in: EnzEuR 3, § 3 Rn. 67 ff.; Petzold, EuR 2011, S. 437 ff.; plädierend Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 222; formell-rechtlicher Schwerpunktsetzung etwa im Umweltverfahrensrecht zu Art. 11 UVPRL vgl. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2015 – Rs. C-137/14, Kommission / Deutschland und Art. 25 IE-RL, oder im EU-Arbeitsrecht, Art. 3 Massenentlassungs-RL 98/59/EG; vgl. EuGH, Urteil vom 27. 01. 2005  – Rs. C-188/03; selbst im Rahmen prozeduraler Referenzgebiete ist diese nicht immer konsistent, etwa im Anschluss an EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-395/14, Vodafone; BVerwG, Urteil vom 31. 01. 2017 – 6 C 2.16, BVerwGE 157, 249; EuGH, Urteil vom 18. 04. 2013, Rs. C-463/11 L, Rn. 35 ff. 139 Differenzierend zwischen prozeduralen Modellen Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 83 f.; ähnlich Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 222 f.; grundsätzlich differenzierend Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, Tema con Variazioni, S. 1, 8 f. 140 Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 12. 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. L 26 vom 28. 01. 2012, S. 1. 141 Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. 11. 2010 über Industrieemissionen, ABl. L 334 vom 17. 12. 2010 S. 17. 142 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. 06. 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. L 197 vom 21. 07. 2001, S. 30. 143 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 05. 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung, ABl. L 156, vom 25. 06. 2003, S. 17.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

geformt wurde.144 Relevante Vorschriften sind etwa Art. 11 UVP-RL, Art. 24 IERL und Art. 5 SUP-RL, die das von der Öffentlichkeitsbeteiligung geprägte zwingende Verfahren regeln und auf mitgliedstaatlicher Ebene durchsetzen wollen.145 Diese Strategie implementiert die Ausbalancierung der Qualität von formellen und materiellen Komponenten der Verwaltungsentscheidung, die sich zwangsläufig im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle bemerkbar macht. In keinem Fall werden durch diese Aufwertung des Verwaltungsverfahrens materiell relevante Norminhalte durch die Administrative gesteuert bzw. erzeugt,146 sodass materielle Vorgaben unabhängig von vorgelagerten Verfahrensergebnissen gerichtlich überprüfbar bleiben. Entscheidungsfreiräume werden danach nicht unbedingt notwendig. Einen erheblichen Unterschied stellen dagegen die prozeduralen Funktionen im EU-Regulierungsverwaltungsrecht dar.147 Innerhalb eines prozedural vorgegebenen Kooperationsrahmens generiert die Regulierungsbehörde informationelle148 und regulative Komponenten149 zur Erfüllung der ihr aufgetragenen Marktregulierungsaufgabe.150 So sind bestimmten Regulierungsmaßnahmen besondere Verfah 144

Dazu bereits Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 83 f.; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 222 f. 145 Etwaige Verfahrensfehlerfolgen kollidierten mit den §§ 45, 46 VwVfG, die unional nicht induziert waren, was zu einer unionskonformen Anwendung dieser Vorschriften führte, EuGH, Urteil vom 15. 10. 2015 – Rs. C-137/14, Kommission / Deutschland, Rn. 79, aber durch Beweislastanforderungen relativiert; dazu Ludwigs, NJW 2015, S. 3484, 3486; Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, S. 92 ff. 146 Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, S. 63 f.; Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, 2009, S. 130 ff.; Broemel, Strategisches Verhalten in der Regulierung, 2010, S. 203 ff.; Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 63, 128 ff., 597 ff.; Trute, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 211, 228 f.; Röhl, JZ 2006, 831, 835 f.; Hagenah, Prozedurales Umweltrecht, S. 49 ff.; Gärditz, AöR 135 (2010), S. 278 ff.; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84 f.; Gärditz, DVBl., 2009, S. 69; Wolf, in: Roßnagel / Neuser, Reformperspektiven, S. 57, 59; Schmidt-Preuß, VVDStRL Bd. 56 (1997), S. 160, 174; grds. Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, Tema con Variazioni, S. 1, 8. 147 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84 f.; Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 62 f., 128 ff., 597 ff.; Trute, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 211, 228 f.; Röhl, JZ  2006, S. 831, 835 f.; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn.  222 f., 236. 148 Siehe Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 62 f., 128 ff., insb. 140 f.; Trute, in: FS Selmer, S. 565, 568; Broemel, Strategisches Verhalten in der Regulierung, 2010, S. 229; Britz, in: Fehling, Regulierungsrecht, § 21 Rn. 51; Wollenschläger, Wissensgenerierung im Verfahren, S. 130 ff.; Broemel, Strategisches Verhalten in der Regulierung, S. 203 ff. 149 Siehe Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 62 f. 150 Siehe Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84f; Gärditz, DVBl. 2009, S. 69; Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 62 ff.; zum Marktregulierungsverfahren Hombergs, Europäisches Verwaltungskooperationsrecht auf dem Sektor der elektronischen Kommunikation, S. 114; Scherer, MMR Beilage 12, 2002, S. 23; Koenig / L oetz / Neumann, Die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes, S. 118; Holznagel / Schumacher, DVBl. 2007, S. 409, 410.

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

239

ren vorgelagert, welche die nationalen Regulierungsbehörden oder die Kommission zu unterschiedlichen Maßnahmen bewegen können.151 Angereichert sind diese Verfahren zusätzlich mit Beteiligungsbeiträgen der Verbundakteure sowie anderweitigen Kooperationsbeziehungen und -mechanismen.152 Die Zurückweisung von Entfaltungs- und Entscheidungsspielräumen der Regulierungsbehörde würde diese prozeduralisierten Kooperations- und Koordinierungseffekte erschweren.153 Damit ist die abstrakt aufgetragene Aufgabe der Marktregulierung schon von vornherein auf eine gewisse Rechtserzeugung durch die Regulierungsbehörde angelegt.154 Derart intensive prozedurale Strategien beinhaltet weder der untersuchte Teil des Umweltrechts noch das Migrationsrecht.155 Im Habitatschutz, Artenschutz und Wasserrecht liegt bereits der Schwerpunkt auf der sachlichen Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung, der EuGH betont im Rahmen seiner Kontrolle den geltenden (restriktiven) naturwissenschaftlichen Bezugspunkt.156 Zwar installiert Art. 4 Abs. 1 FFH-RL im Rahmen des Gebietsausweisungsverfahrens eine prozedurale Kooperationsverpflichtung zwischen Kommission und den Mitgliedstaaten, allerdings sind bis auf fachliche Vorgaben ausreichend Norminhalte gegeben, was die entschlossene Kontrolle des EuGH in diesem Bereich widerspiegelt.157 Darüber hinaus stellt die Verträglichkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. 3 FFH-RL nicht lediglich ein formelles Verfahren dar, sondern soll die materiell richtige Entscheidung der Behörde und für den effektiven Umweltschutz absichern.158 Zudem würde eine prozedurale Richtigkeitsgewähr die Zielsetzung des effektiven Umweltschutzes konterkarieren. Eine dem Regulierungsrecht nachgebildete Prozeduralisierung in einer Kooperations- und Beteiligungsmatrix würde den Umweltschutz schließlich disponibel machen. 151

Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 61 f. Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 61 f., 128 f.; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84 f.; Gärditz, AöR 135 (2010), S. 278 ff.; Franzius, N&R 2012, S. 126, 129; Hombergs, Europäisches Verwaltungskooperationsrecht auf dem Sektor der elektronischen Kommunikation, S. 208 ff.; Britz, EuR 2006, S. 46, 52. 153 So etwa BVerwG, NVwZ 2008, 1359, 1360, Rn. 17–19; C. Franzius, DVBl. 2009, 409, 410; zu Entfaltungshindernissen der Verwaltung Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 67; Masing, in: Lüdemann, Telekommunikation, Energie, Eisenbahn, S. 155. 154 Westermann, Legitimation im europäischen Verwaltungsverbund, S. 63, 128 ff., 597 ff.; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84 f.; Gärditz, AöR 135 (2010), S. 278 ff.; Attendorn, DVBl.  2008, S. 1408; ­Broemel, Strategisches Verhalten in der Regulierung, S. 202, 222. 155 Abgeschwächt im Migrationsrecht, dazu sogleich. 156 Ausführlich Teil  3  A. II. 1. c); insbesondere Teil  4  A. I. 3. b) aa). 157 Etwa EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58, 59; EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht. 158 Dies zeigt bereits das Verhältnis zwischen Vorprüfung und Verträglichkeitsprüfung, dazu Teil 3 A. I. 1. b) cc); siehe Europäische Kommission, Natura 2000 Gebietsmanagement – Die Vorgaben des Artikels 6 der Habitat-Richtlinie 92/43/EWG C/2018/7621, ABl. C 33 vom 25. 01. 2019, S. 33; BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076. 152

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

5. Zwischenergebnis Die Gesetzesakzessorietät der gerichtlichen Kontrolle erweist sich als Identifikationsmittel für die Quelle normstrukturell veranlasster Letztentscheidungsrechte. Alle vorstehenden Regelungsstrategien tragen zum Abbau materieller Strukturen bei und begünstigen Letztentscheidungsrechte in einem bestimmten Ausmaß. Die vorstehenden Regelungsstrategien bzw. -defizite lassen sich teilweise im Umweltrecht antreffen. Innerhalb des unionalen Rechtsetzungssystems sind die Rechtsetzungsebenen der EU (Primärebene) und der Mitgliedstaaten (Sekundärebene) zu differenzieren. Diese Regelungsstrategien haben auf der Primärebene einen kompetenzzuweisenden Charakter. Der Rohimport unionaler Rechtssätze auf die Sekundärebene führt grundsätzlich zu einer Kollision mit dem tradierten Normanwendungsverständnis, zusätzlich jedoch zu funktionalen Problemen der gerichtlichen Kontrolle in Bezug auf die Komplexität der Verwaltungsentscheidung und politischer Neutralität. a) Materielle Ausgestaltung als Ursprungsquelle Identifizierbar wird durch den Schwerpunkt der funktionalen Überforderung gerichtlicher Kontrolle auf deutscher Ebene ebenfalls,159 dass fachlich schwache Konkretisierungsmomente der normativen Programmierung maßgeblich für die Anerkennung ökologischer Letztentscheidungsrechte sind. Die analysierten Letztentscheidungsrechte sind daher vermehrt auf die Abwesenheit materieller, spezifisch fachlicher Komponenten der in Rede stehenden Umweltrichtlinien zurückzuführen. Dies liegt nicht unbedingt an der Verwendung finaler Regelungsstrategien, sondern vielmehr an der fehlenden Anreicherung mit fachlichen Kontrollmaßstäben. So sind Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 VRL (Gebietsausweisung) oder Art. 6 Abs. 3, Abs. 4 FFH-RL (Verträglichkeitsprüfung) sowie entsprechende Abweichungsregelungen konditional(er) programmiert und dennoch von den fachspeziellen Letztentscheidungsrechten betroffen. Dies schlägt bis auf die nationale Ebene durch.160 Dies bedeutet freilich nicht, dass eine Finalprogrammierung nicht die Bildung von Letztentscheidungsrechten begünstigt, da die Subsumtion

159

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018  – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076. 160 Im Bereich der entsprechenden Richtlinien wurden jedoch Konkretisierungsdefizite auf der nationalen Ebene nicht ausgeglichen, die nun maßgeblich zu Vollzugs- und Kontrollproblemen führen. vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16, Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076; EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58, 59; BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1.

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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schlichtweg schwierig bleibt. Prozedurale Auffälligkeiten korrespondierend mit dem Regulierungsrecht in der Art, dass der Richtlinienadressat eine gewisse Freiheit benötigt, um die Vorzüge des installierten Verfahrens fruchtbar zu machen, bestehen nicht. b) Dysfunktionalität durch Komplexität Komplexität erwächst etwa auch aus der naturwissenschaftlichen Gestaltung normativer Programme. Eine normative Umsetzung in konditional übersetzte und materiell hinreichend angereicherte Rechtssätze kann dies begrenzen.161 Materiell defizitäre Regelungsstrategien resultieren dagegen unausweichlich in Komplexität.162 Durch die fruchtbar gemachte Notwendigkeit der Heranziehung außerrechtlicher Maßstäbe etwa im ohnehin sehr anspruchsvollen Umweltrecht,163 die multiplen Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung zur Bewältigung legislativ oktroyierter Ziele sowie die Anreicherung derartiger Zielsteuerung mit Kooperations- und Beteiligungsmechanismen verschiedener Akteure in einem abgeschlossenen System wird die Rechtsanwendungsschwierigkeit erheblich erhöht. Dies gilt sowohl für die zunächst rechtserzeugende Erstanwendung durch die Exekutive als auch für die Zweitanwendung durch die Judikative in einem nachvollziehenden und kontrollierenden Prozess. Die kognitive Enträtselung der Materie und die Potenzierung normativer Entscheidungsrichtigkeit sind maßgebliche Faktoren für die erhöhte Anwendungsschwierigkeit.164 Eine hilfreiche Beschränkung erhält die Potenzierung im besten Fall entweder durch das System des außerrechtlichen Maßstabs oder durch Grundsätze, Prinzipien oder Leitlinien des Fachrechts.165 Resultierende Komplexität nutzt der EuGH für die funktionale Zuweisung von Letztentscheidungsrechten ungeachtet einer Durchbrechung der zugrundeliegen-

161 Anders dagegen bei Interessenkonflikten, vgl. Durner, Konflikte räumlicher Planungen. Verfassungs-, verwaltungs- und gemeinschaftsrechtliche Regeln für das Zusammentreffen konkurrierender planerischer Raumansprüche, S. 320 ff. 162 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 71; Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9 f. 163 Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 99; vgl. Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 9; Howarth, Journal of Environmental Law 21 (2009), S. 391, 394 f. 164 In dynamisch, technisch und wissenschaftlichem Bereich Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 71 ff.; ebenfalls im Teil 2  B. III. 165 Dies provoziert die Umfunktionierung gerichtlicher Rechtskontrolle zur Abwägungskontrolle, vgl. Breuer, AöR 127 (2002), S. 524, 527; die systeminternen Beschränkungen sind keine Selbstverständlichkeit, sodass auch „Erkenntnisvakua“ bestehen können, dazu im Naturschutzrecht Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, BVerfGE 149, 407; zuerst jedoch bei Lau / Jacobs, NVwZ 2015, S. 241, 245.

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den Rechtsetzungsebenen.166 Im Umweltrecht verzichtet der EuGH erstaunlicherweise auf die mit Komplexität begründeten Letztentscheidungsermächtigungen, sondern rekurriert allenfalls auf die fehlende normative Fixierung in der Richtlinie.167 Vermeintliche administrative Letztentscheidungsrechte anhand funktionaler Schwächen greifen die mitgliedstaatlichen Gerichte im Anschluss selbstständig auf.168 c) Dysfunktionalität durch fehlende Fixierung Die beschriebene Potenzierung normativer Entscheidungsrichtigkeit resultiert in weiteren funktionalen, sich überschneidenden Problemen, welche den legislativen Charakter der Letztentscheidungsrechte in umweltrechtlichen Konkretisierungsfragen erst recht nahelegen. Bei mehreren Möglichkeiten des habitat- und artenschutzfachlichen Verwaltungshandelns bei gleichbleibender naturwissenschaftlicher Vertretbarkeit wird der nationale Gesetzgeber die Reduktion der gerichtlichen Kontrolldichte unter Berufung auf die Funktionsgrenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit in Kauf nehmen. Insofern beugt die Judikative ihrerseits einer politischen Betätigung vor.169 Zwar wirkt der im Habitatschutzrecht implementierte Zweifelsgrundsatz einer politischen Überforderung der Gerichte bei legislativ ungeklärten unmittelbaren Fragen betreffend den Umweltschutz entgegen, allerdings bezieht dieser sich bisher lediglich auf die Feststellung der „Beeinträchtigung“ im Rahmen von Art. 6 Abs. 3 FFH-RL.170 Problematisch ist zusätzlich die fehlende legislative Festlegung der wissenschaft-

166

So etwa bei EU-Verordnungen hilfsweise im Migrationsrecht auch EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki; gängig im Richtlinienrecht, EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuG, Urteil vom 22. 11. 2007 C-525/04 P, Spanien / Lenzing, Rn. 56, 57; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005. – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131; Verfassungsrechtlich im nationalen Recht jedenfalls zurecht noch nicht gebilligt, vgl. Gärditz, 2009, S. 1005, 1007; Heller, EWerk 2012, S. 50, 52; Hwang, Bestimmte Bindungen unter Unbestimmtheitsbedingungen, 2013, S. 105 f.; Romes, Supranationale Intervention in nationale Regulierungsverfahren, S. 113; Winkler, MMR 2012, S. 188, 189; Winkler, DVBl. 2013, S. 156. 167 Ohne Begründung EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991  – Rs. C-57/89, Leybucht; EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993  – Rs. C-355/90, Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 – Rs. C-44/95, Lappel Bank; auf fehlende normative Installation verweisend vgl. EuGH, Urteil vom 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 58, 59. 168 Vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. 03. 2018 – 9 B 43.16 Rn. 19, Ls. 1, NVwZ 2018, 1076; im Anschluss BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128; zur Flucht in den Beurteilungsspielraum Winkler, DVBl. 2013, S. 156, 160; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 61, 71. 169 Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts  – Ziele, Wege und Irrwege, S. 93; Ossenbühl, in: FS Redeker, S. 55, 64; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 71. 170 Ausführlich Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (b).

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lich-technischen Standards zur Feststellung der abstrakten Tatsachen,171 die als mittelbare Fragen des Umweltschutzes bezeichnet werden können. Innerhalb dieser mittelbaren Fragen des Umweltschutzes werden der Verwaltung Spielräume hinsichtlich der Methodenwahl eröffnet.172 d) Mitgliedstaatliche Leistungs- bzw. Nachbesserungspflicht Auf der primären Rechtsetzungsebene (Richtlinie)  sind materielle Defizite durch eine unzureichende Konkretisierung oder Finalprogrammierung als Kompetenzzuweisungsinstrument zu klassifizieren, welche durch die Legislative auf der sekundären Rechtsetzungsebene (nationales Gesetz) im Rahmen der Transformation genutzt werden können. In Verwaltungsrechtssystemen mit konditionaler Rechtsetzungstradition und hoher Regelungsintensität zur Gewährleistung einer verfassungsrechtlich garantierten Vollkontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht wird sich die Judikative der nationalen Rechtsetzungsebene nicht mit dysfunktionalen Auswüchsen roh importierter Rechtssätze abfinden müssen. Der nationale Gesetzgeber ist auch im Rahmen unionsrechtlicher Transformationsvorgänge zur Ermöglichung einer effektiven Rechtskontrolle durch die Gerichte gemäß Art. 19 Abs. 4 GG berufen.173 Unter Ausnutzung der auf der Primärebene zugewiesenen Kompetenzen (Umsetzungs-, Konkretisierungs- und Letztentscheidungsspielräume) müssen zwingend (u. a. kognitive) Leistungen erbracht werden, die normative Qualitätsstandards beachten und herstellen, etwa in Form einer Konditionalisierung des normativen Programms oder Nachverdichtung materieller Schwächen.174 Anderenfalls verliert die Richtlinie als souveränitätsschonendes Mittel ihre Wirkung. Nicht zuletzt würde das Gewaltenverhältnis der sekundären Rechtsetzungsebene korrumpiert werden. Damit sind letztlich die transformationsgesetzgeberischen Handlungsmöglichkeiten bei prozeduralen Strategien des Unionsgesetzgebers nicht hinreichend dargetan. Prozeduralisierungsmodelle ungeachtet verfahrensstärkender oder rechtserzeugender Wirkung sind in das nationale Gesetz einzubetten. Durch eine restriktive Ausgestaltung des in der Richtlinie vermittelten Verfahrens bleiben etwa Kooperations- und Beteiligungsvorgänge

171

Zutreffende Analyse legislativer Versäumnisse Gärditz, in: FS Puppe, S. 1557, 1558, 1566, 1578; Gärditz, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, Art. 20a GG Rn. 47 ff.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1, 9 f. 172 Diese sind nicht ungefährlich Teil  3  A. I. 1. b) cc) (2) (b) (aa). 173 Zu Beeinträchtigungsverboten des Rechtsschutzes durch Verwaltungsverfahren, BVerfG, Beschluss vom 08. 07. 1982 – 2 BvR 1187/80 –, Rn. 78, BVerfGE 61, 82, 118; dies muss erst recht für das materielle Recht gelten, siehe auch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 60, 61. 174 Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 61, 71; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009 f.; Lepsius, VVDStRL 63 (2004), S. 264, 294 ff.; Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 281, 286 f.; Poscher, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, § 8, Rn. 54.

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im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle nachvollziehbar. Es ist nicht einzusehen, weshalb hohe Protokollierungs-, Dokumentations- und Begründungsstandards175 Entfaltungsräumen und Synergien abträglich sein sollen.176

II. Freiverantwortliche Letztentscheidungskompetenz im Raum der Transnationalität Die normstrukturellen und -qualitativen Begründungsmodelle aus dem Umweltrecht können nicht ganz auf das Migrationsrecht übertragen werden. Zum einen bedarf der Visakodex als EU-Verordnung keiner weiteren Verarbeitung durch die Mitgliedstaaten und zum anderen wurden hinreichend materielle Komponenten in einem konditionalen Regelungsmuster eingefügt.177 Letzteres bestätigt aus unionsgerichtlicher Perspektive die – funktional gestörte – Gesetzesbindung der Verwaltung.178 Bei einer derartigen Bereitstellung von vollzugs- und kontrollgeeigneten Normprogrammen im Migrationsrecht werden national-dogmatische Spielraumkomponenten wie der unbestimmte Rechtsbegriff auf Tatbestandsebene sowie die Hervorhebung der gesetzgeberischen Intention aufgefunden werden können.179 Die zugrundeliegende Verwaltungsentscheidung im Migrationsrecht wird sich zusätzlich irgendwie in die weitläufige Kasuistik des deutschen Verwaltungsrechts einfügen lassen.180 Das unionsgerichtlich gewählte Begründungsmodell bestätigt dies,181

175

Abzuleiten aus Art. 296 AEUV; siehe dazu Calliess, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 296 Rn. 16; EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008  – Rs. C-413/06 P, Bertelsmann / Sony BMG; EuGH, Urteil vom 15. 07. 1960 – 36/59, Präsident Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft; EuGH, Urteil vom 01. 07. 1986 – 185/85, Usinor, Rn. 20 ff.; Classen, Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, S. 328. 176 Der EuGH setzt stets auf die Kontrolle derartiger „Verfahrensgarantien“ bei komplexen Entscheidungen, sodass eine Implementierung oder Verbesserung von Mindeststandards solcher Verfahrensgarantien schon nicht falsch sein kann, vgl. EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46; EuGH, Urteil vom 21. 11. 1991 – Rs. C-269/90, TU München, Rn. 14, NVwZ 1992, S. 358; EuGH, Urteil vom. 07. 05. 1992 – Rs. C-258/90, Rs. C-259/90, Pesquerias De Bermeo und Naviera Laida / Kommission, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 22. 11. 2007 – Rs. C-525/04 P, Spanien / Lenzing, Rn. 58; EuGH, Urteil vom 06. 11. 2008 – Rs. C-405/07 P, Niederlande / Kommission, Rn.  57; zuzustimmen Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 84. 177 Siehe Wenn-Dann-Schema etwa in Art. 32–36 Visakodex oder Art. 12 Studenten- und Austausch-RL. 178 Dazu kritisch Teil 2 B. V. 1.; auch EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Rn. 63, Koushkaki; problembehafteter gebundenen Anspruch qualifizierend, vgl. VG  Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; vgl. zum gebundenen Anspruch auch BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 15, NVwZ 2016, 161. 179 Siehe Teil 2 A. II. und A. IV. 180 Siehe Teil 2 A. II. 5. 181 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 34 ff.

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zeigt allerdings ebenfalls national-dogmatisch fremde –  unionsrechtlich jedoch bekannte  – Züge der komplexitäts- und effektivitätsbezogenen Spielraumbegründung. Damit relativiert das Unionsgericht zuvor erläuterte normtechnische Begründungsmodelle.182 Freilich handelt es sich hierbei nur um den Weg zum Ziel der unionalen Letztentscheidungsrechtszuweisung. Für eine derartige Zuweisung ist die Arbeitsweise der Behörden im transnationalen System des europäischen Migrationsrechts verantwortlich. Dieses System wird durch die transnationale Aufgabe der einzelnen mitgliedstaatlichen Behörden gekennzeichnet (Art.  5 Visakodex), welche „einheitliche Visa“ für das gesamte Schengen-Gebiet ausstellen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 3 i. V. m. Art. 24 Abs. 1 Visakodex).183 In Szene gesetzt wird dieses System durch die unmittelbare Wirkung der Verordnung in den Mitgliedstaaten gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV, womit die Reichweite des Visakodex als Rechtsgrundlage darauf basierender Verwaltungsakte hochskaliert wird.184 Damit sind zusätzlich transnationale Kooperations- und Abstimmungsinstrumente in einem prozeduralen Design verbunden (bspw. Art. 22 und Art. 48 Visakodex). Es bestehen Parallelen zum Regulierungsrecht,185 allerdings sind diese Kooperationsmechanismen im Migrationsrecht weniger wirkungsintensiv.186 1. Abgeschwächte Prozeduralisierungsstrategie Die Prozeduralisierungsstrategie im Migrationsrecht lässt sich im Gegensatz zu dem Regulierungsrecht nicht in eine informationelle und „rechtsfolgeerschließende“ Komponente unterteilen. Die migrationsrechtlichen Instrumente der Ablehnung, Erteilung, Verlängerung, Annullierung und Aufhebung (Art. 24, 32, 33, 34 Visakodex) sind normiert und dürfen nur aus den vorgesehenen Gründen ergehen.187 Im Migrationsrecht wird daher lediglich eine informationelle Prozeduralisierungsstrategie verfolgt, welche vornehmlich der transnationalen Wissensgenerierung dient.188 Mittels digitaler und analoger Kooperationsmechanismen 182

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56: „Gleichwohl ist zu betonen, dass die Beurteilung der individuellen Situation eines Visumantragstellers im Hinblick auf die Feststellung, ob seinem Antrag ein Verweigerungsgrund entgegensteht, mit komplexen Bewertungen verbunden ist […].“; a. A. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191. 183 Sowohl Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 301; Bast, Transnationale Verwaltung des europäischen Migrationsraums, Der Staat 46 (2007), S. 1, 12; zum transnationalen System Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Unions, S. 138 ff. 184 Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 302. 185 So auch Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191; BVerwG. 186 Zu der Einflussmöglichkeiten der EU-Kommission, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 303. 187 Vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63. 188 Ebenfalls Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 306.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

zwischen mitgliedstaatlichen Behörden oder zusätzlich unter Beteiligung der Europäischen Kommission soll die Verwaltungsarbeit im transnationalen Raum möglichst kohärent bewältigt werden.189 a) Wissensgenerierung und -verifizierung Gemäß Art. 21 Abs. 2 Visakodex in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 und Art. 15 VO (EG) Nr. 767/2008 („VIS-VO“)190 müssen zu jedem eingegangenen Visaantrag die Daten des Visa-Informationssystems abgefragt werden. Diese Daten werden der Verwaltungsentscheidung über den Antrag zugrunde gelegt. Darüber hinaus müssen bei jeder Erteilung, Ablehnung, Annullierung, Aufhebung und Verkürzung von Visa die gesetzlich vorgesehenen Daten191 in das VIS eingepflegt werden, sodass eine Bandbreite an Wissen angelegt wird, Art. 8 bis 15 VIS-VO. Durch kontinuierliche Eintragungen in das System wird immer wieder Wissen generiert und verfügbar gemacht. Mehrere Daten zu Mehrfachanträgen der gleichen Person können abgeglichen werden, weshalb das Risiko der rechtswidrigen Einwanderung (Art. 21 Abs. 1 Visakodex) sinkt. Gemäß Art. 22 Visakodex kann ein Mitgliedstaat zusätzlich vor der Entscheidung über eingereichte Visaanträge von Staatsangehörigen spezifischer Drittländer oder Staatsangehörigen bestimmter Gruppen verlangen, dass die zuständigen Behörden anderer Mitgliedstaaten seine Behörden konsultieren. Innerhalb einer Frist von sieben Tagen sind Einwände gegen eine etwaige Erteilung des Visums zu äußern. Dadurch können die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit erlangte Daten von bestimmten Staatsangehörigen von Drittländern und Gruppen überprüfen, verifizieren und austauschen. Über Art. 22 Abs. 5 Visakodex in Verbindung mit Art. 16 Abs. 2 VIS-VO erfolgt das Konsultationsersuchen über das VIS.

189

Vgl. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 303. Verordnung EG/767/2008 des europäischen Parlaments und Rates vom 09. 07. 2008 über das Visa-Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung), ABl. L 218, S. 60. 191 Beispielsweise Art. 9 Nr. 4: „Statusinformationen nebst Ort und Datum; Visakategorie; Visanummer; Nachname, Geburtsname (frühere(r) Nachname(n)); Vorname(n); Geschlecht; Datum, Ort und Land der Geburt; derzeitige Staatsangehörigkeit und Staatsangehörigkeit zum Zeitpunkt der Geburt; Art und Nummer des Reisedokuments, ausstellende Behörde, Ausstellungsdatum und Ablauf der Gültigkeit; Hauptreiseziel und Dauer des geplanten Aufenthalts; derzeitige Beschäftigung und Arbeitgeber; bei Studenten: Name der Ausbildungsstätte.“ 190

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b) Vereinheitlichung von Verwaltung und Organisation Der Visakodex enthält neben der ausreichenden Fülle an materiell-rechtlichen Vorgaben in Titel IV zudem detaillierte transnationale Organisationsempfehlungen und -bestimmungen für die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten. So empfiehlt Art. 37 Abs. 1 Visakodex zur personellen Organisation, dass die anfallende Antrags- und Bescheinigungsarbeit in unmittelbarem Kontakt mit den Antragstellern in einem Rotationssystem ausgeübt werden soll. Zusätzlich soll das Aufgabenmanagement betreffend die anfallende Antragsarbeit hinreichend strukturiert und von einer deutlichen Aufgabenverteilung gekennzeichnet sein. Nicht alle Bediensteten sollen Zugang zu den installierten Datenbanken erhalten. Weiterhin sieht Art. 40 Abs. 2 lit. a Visakodex ein Mindestmaß für die Ausstattung mit Arbeitsmitteln vor. Eine Abtretung hoheitlicher Aufgaben zur Antragsbewältigung an externe Dienstleister wird nur im Ausnahmefall gebilligt, Art. 40 Abs. 3 Visakodex.192 Insofern wird parallel zu der Vereinheitlichung materiell-rechtlicher Vorgaben auch eine transnationale Harmonisierung des Verfahrens angestrebt. Durch die unionale Glättung des prozeduralen Prozesses wird die materielle Entscheidung vor Einflüssen des Verfahrens und der Arbeitsorganisation geschützt.193 c) Zusammenarbeit vor Ort Zudem regelt Art. 48 Visakodex eine Schengen-Zusammenarbeit vor Ort zwischen den Konsulaten der Mitgliedstaaten und der Kommission. Diese Regelung ergeht im Hinblick auf eine einheitliche Anwendung der gemeinsamen Visumpolitik im Schengen-Raum in bestimmten Bereichen. Diese Bereiche sind in Art. 48 Abs. 1 lit. a–c Visakodex aufgezählt, wobei es sich um eine nicht abschließende Aufzählung handelt.194 Angesichts der Verfahrensbezogenheit der normativen Aufzählung wie etwa die Festlegung von einzureichenden Belegen gemäß Art. 14 Visakodex (Art.  48 Abs. 1 lit.  a Visakodex) oder die Festlegung gemeinsamer Kriterien für die Prüfung von Befreiungsanträgen hinsichtlich der Visumgebühr nach Art. 16 Abs. 5 Visakodex, wird der Bereich des einheitlich Fixierbaren einen maßgeblichen Verfahrensbezug aufweisen. Elementare Funktion der transnationalen Zusammenarbeit gerade im Hinblick auf die Entscheidung über Visaanträge ist in Art. 48 Abs. 3 Visakodex festgehalten.195 Art. 48 Abs. 3 Visakodex verpflichtet zu einem über den Datenaustausch 192 Sofern die normierten Ausnahmefälle gegeben sind legt Art. 43 Visakodex ein ebenfalls einheitliches Verfahren für die Zusammenarbeit mit externer Dienstleistung fest. 193 Ablehnungsgründe dürfen sich nur aus dem Gesetz ergeben EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Rn. 63, Koushkaki; zur Kohärenzsicherung beim dezentralen Vollzug, siehe ­Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 303. 194 A. A. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 304. 195 Richtig qualifizierend Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 304.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

des VIS hinausgehenden Informationsaustausch, insbesondere, um willkürliche Entscheidungen im transnational kohärenten Behördennetz zu vermeiden.196 Dabei handelt es sich um monatliche Statistiken über die erteilten Visa oder Informationen betreffend Migrations- und Sicherheitsrisiken,197 Informationen über die Zusammenarbeit mit Beförderungsgesellschaften, Informationen über die Versicherungsgesellschaften, die eine angemessene Reisekrankenversicherung anbieten, einschließlich Überprüfung der Versicherungsdeckung und etwaiger Selbstbeteiligung. Die erforderlichen Informationen bilden die tatsächliche Grundlage für die Konstatierung möglicher Ablehnungsgründe der Art. 32 ff. Visakodex, sodass dieser kohärente Informationsaustausch erhebliche Auswirkungen auf die Entscheidung über Visaanträge hat.198 Gemeinsame Sitzungen der Mitgliedstaaten und der Kommission in Art. 48 Abs.  4  Visakodex dienen als horizontales Kooperationsmittel der Kommission zur Kohärenzabsicherung der gemeinsamen Visumpolitik durch regelmäßige Sitzungen. Dadurch können bestimmte Themen transnational vereinheitlicht werden. Spezifische Fragestellungen zu Einzelthemen können zur besseren Aufklärung auf Untergruppen übertragen werden. d) Kontrolle gemeinsamer Visumpolitik Der Visakodex sieht zusätzlich Informations-, Weisungs- und Organisationsvorschriften vor. Diese Maßnahmen dienen der Überwachung und Sicherstellung der Organisations-, Verwaltungs- und Entscheidungskohärenz des Behördennetzes sowie der Informationsdistribution im transnationalen Raum.199 Die Mitgliedstaaten müssen die Kommission über die Einführung einer Visumpflicht für den Flughafentransit (Art. 2 Abs. 2 Visakodex), die Nutzung und Beendigung von Vertretungsvereinbarungen zwischen Mitgliedstaaten (Art. 8 Abs. 7, Abs. 8 Visakodex), die Nutzung von Formularen zum Nachweis der Kostenübernahme und / oder einer privaten Unterkunft (Art. 14 Abs. 4 Visakodex), die Einführung bzw. Rücknahme von Konsultationsverpflichtungen (Art. 22 Abs. 3, Abs. 4 Visakodex), die Einführung bzw. Rücknahme mitgliedstaatlicher Unterrichtungspflichten bestimmter Staatsangehöriger oder Gruppen (Art. 31 Abs. 2, 3 Visakodex), die zuständige Behörde für Visumverlängerungen (Art.  33 Abs. 5 Visakodex), die Ausgestaltung ihres 196

In Ansehung des 18. Erwägungsgrundes, vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 53; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem S. 304. 197 Art. 48 Abs. 3 lit. b Visakodex: „[…] die sozioökonomische Struktur des Gastlandes, lokale Informationsquellen einschließlich das Sozialversicherungssystem, Krankenversicherung, Steuerregister und Ein- und Ausreiseregistrierung, die Verwendung falscher, verfälschter oder gefälschter Dokumente, Routen der rechtswidrigen Einwanderung, Fälle der Visumverweigerung; […]“. 198 Ebenfalls Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem S. 304. 199 Siehe folgende Informationsdistributionsvorschriften, Art. 8 Abs. 8, Art. 22 Abs. 4, Art. 31 Abs. 3, Art. 48 Abs. 5 und Art. 53 Abs. 2 Visakodex.

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Antragsverfahrens in den einzelnen Auslandsvertretungen (Art. 40 Abs. 5 Visakodex), den Vertrag mit externen Dienstleistern (Art. 43 Abs. 13 Visakodex) und sonstige relevante Vorgänge (Art.  53  Abs.  1  Visakodex)200 informieren. Diese Unterrichtungspflichten sind meistens vor Implementierung von Entscheidungen durchzuführen, sodass die Kommission gegebenenfalls im Rahmen des Ausschussverfahrens nach Art. 52 in Verbindung mit Art. 50 und Art. 51 Visakodex ihr Weisungsrecht für die praktische Anwendung der Bestimmungen des Visakodex ausüben kann.201 2. Funktionale Störung politischer Steuerungseffekte durch dezentralisierten Gerichtszugang Dem Visakodex sind zahlreiche horizontale und vertikale Behördeninteraktionen inhärent. Daraus resultierende transnationale Koordinations- und Kooperationseffekte sollen eine einheitliche Anwendung des Visarechts im SchengenRaum gewährleisten. Im Gegensatz zum Telekommunikationsregulierungsrecht nehmen die Koordinations- und Kooperationsmechanismen einen geringen Stellenwert ein. Beteiligungsmechanismen des Regulierungsrechts in entsprechender Weise, etwa für Antragsteller, sind gemäß Art. 21 Abs. 8 Visakodex nur in begründeten Fällen vorgesehen, da nach Antragstellung und Einreichung der vollständigen Dokumente eine nach dem Gesetz vorgegebene Entscheidung getroffen werden soll.202 Die Indisponibilität der migrationsrechtlichen Rechtsfolgen wird durch die materiell-rechtliche Dichte des Visakodexes abgesichert.203 Daher ist das 200

„[…] Vertretungsvereinbarungen nach Artikel 8; die Drittstaaten, bei deren Staatsangehörigen einzelne Mitgliedstaaten nach Artikel 3 den Besitz eines Visums für den Flughafentransit zur Durchreise durch die internationalen Transitzonen der in ihrem Hoheitsgebiet gelegenen Flughäfen verlangen; gegebenenfalls das nationale Formular zum Nachweis der Kostenübernahme und / oder privaten Unterkunft nach Artikel 14 Absatz 4; die Liste der Drittstaaten, bei denen eine vorherige Konsultation nach Artikel 22 Absatz 1 erforderlich ist; die Liste der Drittstaaten, bei denen eine Unterrichtung nach Artikel 31 Absatz 1 erforderlich ist; die zusätzlichen Einträge der Mitgliedstaaten im Feld ‚Anmerkungen‘ auf der Visummarke gemäß Artikel 27 Absatz 2; die für die Visumverlängerung gemäß Artikel 33 Absatz 5 zuständigen Behörden; die nach Artikel 40 gewählten Formen der Zusammenarbeit; die gemäß Artikel 46 und Anhang XII erhobenen Statistiken […]“. 201 Dazu besteht die Möglichkeit der administrativen Vorstrukturierung durch die Kommission siehe Art. 48 Abs. 1 S. 2 Visakodex, mit Einschränkungen der administrativen Vorstrukturierung in Ansehung Aufzählung in Art. 48 Abs. 1 lit. a – c Visakodex, aber Verkennung des nicht abschließenden Charakters, ebenfalls Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 303, insbesondere e contratio S. 304. 202 Zusätzlich die Praktikabilität im Massenverfahren rügend Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 306. 203 Dazu kritisch Teil 2 B. V. 1.; auch EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; als problembehafteter gebundener Anspruch qualifizierend, vgl. VG  Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; vgl. zum gebundenen Anspruch auch BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 15, NVwZ 2016, 161.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

migrationsrechtliche Verwaltungsverfahren nicht auf die Erzeugung von Norminhalten angelegt. Das Recht als Kontrollmaßstab wurde hinreichend durch den Gesetzgeber kodifiziert. Vielmehr werden semi-politisch gesteuerte Tatsachenund Tatbestandsbewertungen sowie Tatbestandskriterien generiert und vereinheitlicht.204 Damit erfahren informationell-prozedurale Komponenten eine politische Instrumentalisierung. Aufgrund der Verflechtung von Innenpolitik und Migration wird ein unionaler Steuerungsvorbehalt eingerichtet,205 sodass scheinbar auf außenpolitische Zustände sowie Vorgänge gemeinsam reagiert werden kann.206 In Zeiten migrationspolitischer Brisanz, befeuert durch die Flucht- und Asyldebatte, gilt dies scheinbar umso mehr. Neben der Verweisung auf die normativ verbindlichen Vorgaben des Unionsrechts und der knappen Postulierung unionsgesetzgeberischer Befähigung, ebenendurchdringend Letztentscheidungskompetenzen an mitgliedstaatliche Behörden zuzuweisen, hebt das BVerwG gegenüber dem EuGH besonders die kontrollreduzierende Wirkung der Kohärenzbestrebungen und -mechanismen vor. Diese seien in ihrem Effekt beeinträchtigt, sofern die etwa kooperativ-behördliche Bewertung einer Rückkehrbereitschaft bestimmter Antragsteller durch die Bewertung der mitgliedstaatlichen Gerichte substituiert werde.207 Letztlich handelt es sich um eine weitere funktionale Begründung des EuGH, der bereits mit den Komplexitätserwägungen zu den einzelnen Anwendungsvoraussetzungen der Art. 32 Abs. 1 Visakodex und Art. 35 Abs. 6 Visakodex den Grundstein legte.208 Im Gegensatz zu der Rechtsprechung des EuGH ist die des BVerwG deutlich reflektierter, da es lediglich die ebenfalls vom EuGH erläuterten Kohärenzziele der Richtlinie fokussiert.209 Die von dem Unionsgericht hervorgebrachten Komplexitätserwägungen vermögen nicht zu überzeugen, da die Verwaltungsgerichte im Zweifel zu vereinzelten Tatbestandsvoraussetzungen sogar bessere Erfahrungswerte haben, etwa bei der Persönlichkeits- und Glaubwürdigkeitseinschätzung von Antragstellern im Verwaltungsverfahren. Hierbei handelt es sich um eine genuine Aufgabe der Gerichte, welche sie allgemein im Rahmen der Beweiserhebung und -ermittlung ableisten müssen. Zusätzlich lassen sich die Echtheit und der Wahrheitsgehalt von Dokumenten und Belegen notfalls mittels Sachverständiger überprüfen.210 Das 204

Darin gefahren erkennend, VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris. Art. 79 AEUV; Weiß, in: Streinz, Art. 79 AEUV Rn. 2; Grimm, JuS 1969, S. 501, 502; Harbou / Markow, in: Philosophie des Migrationsrechts, S. 1; Thym, in: Philosophie des Migra­ tionsrechts, S. 39 ff.; historischer Überblick zur politischen Steuerung im Migrationsrecht Gusy / Müller, ZAR 2013, S. 265 ff. 206 Zum europäischen Konsens in der Migrationssteuerung, Bade, ZAR 2008, S. 396. 207 Siehe BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20, NVwZ 2016, 161; zustimmend wohl Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 305 f. 208 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56, 57, 58. 209 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 53 f. 210 Dagegen wird bei sicherheitsrelevanten Fragen und internationalen Beziehungen in der Tat ein Wissensvorsprung bei den zuständigen Behörden vorhanden sein, EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 56, 57, 58; zusätzlich gibt es für die vorzunehemnde 205

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Argument des BVerwG ist dagegen so zu verstehen, dass die Gerichte nicht im Rahmen ihrer Kontrolle an ihre Funktionsgrenzen kommen, sondern das normativ implementierte Kohärenzprinzip der Visumpolitik durch die Gewährleistung des dezentralen Gerichtszugangs inklusive Vollkontrolle durchbrochen wird. Der Ursprung des unionsgesetzgeberischen intendierten Kontrollverzichts liegt damit in der Abschirmung supranationalpolitischer Steuerungsentscheidungen und diplomatischer Instrumentalisierung vor faktenbasierter und kontrollrationaler Intervention der Judikative (Verwaltungsgerichte).211 Die umfassende Skalierung des gebilligten Letztentscheidungsrechts in tatsächlichem und rechtlichem Umfang ist für die Einschränkung gerichtlicher Kontrolle besonders effektiv und erzielt entsprechende Wirkung.212 Anderenfalls hätte ein zentralisierter Gerichtszugang Risikoprognose keinen Kontrollmaßstab, was eine gerichtliche Kontrolle erschwert, siehe dazu Teil 2 B. III.; im Hinblick auf die polizeirechtliche Kontrollleistung der Gerichte dennoch zu relativierend, Kahl, VerwArch 99 (2008), S. 451 ff.; allgemein Poscher, in: FS Wahl, S. 541; Gassner, DVBl. 2012, S. 1479, 1481; Kahl / Burs, DVBl. 2016, S. 1157, 1160; grundsätzlich Beckmann, in: Der Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Liber Amicorum für Max-Jürgen Seibert, S. 25; Schönenbroicher, in: Mann / Sennekamp / Uechtritz, VwVfG, § 40 Rn.12 ff.; kritisch im Hinblick auf Polizeirechtsentscheidungen Kahl, in: 71. Deutschen Juristentages Essen, Diskussion und Beschlussfassung, S. N 220 f.; daher richtigerweise Komplexitätsbegründungen bereits nicht zulassend VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26 ff., juris. 211 Damit die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte als Störfaktor bestätigend, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 96 f.; zutreffend für andere Bereiche analysierend Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 507 ff. 212 „[…] Dazu darf die Behörde nach der maßgeblichen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof als eine Anwendungsvoraussetzung eine familiäre und / oder wirtschaftliche Verwurzelung bestimmen und die ihr bekannten Tatsachen beliebig dahin würdigen, ob die erforderliche Verwurzelung vorliegt. Sie darf – wie bisher üblich – Kinderlose und Unverheiratete für ungenügend verwurzelt ansehen, weil sie keine Kinder haben und nicht verheiratet sind. Eltern erwachsener Kinder darf sie so ansehen, weil ihre Kinder erwachsen und nicht mehr betreuungsbedürftig sind. Eltern kleiner, betreuungsbedürftige Kinder darf sie so ansehen, weil sie mit ihrem Reisewunsch belegen, dass die Bindung zu den Kindern zu schwach ist oder zu erwarten steht, dass sie ihre Kinder nachholen werden. Ähnliches gilt für alleinreisende Ehegatten. Vermögenslose darf sie für ungenügend wirtschaftlich verwurzelt ansehen. Vermögende darf sie gleichermaßen einschätzen, weil ihr Vermögen ins Ausland transferiert oder von dort aus verwaltet werden kann. Wer arbeitslos ist, darf von ihr für ungenügend wirtschaftlich verwurzelt gehalten werden. Wer Arbeit hat, kann so betrachtet werden, weil sie zu schlecht entlohnt wird. Wer gut bezahlte Arbeit hat, kann so gewürdigt werden, weil er im Schengen-Ausland besser bezahlt würde. Alte Menschen können als in ihren Heimatländern nicht verwurzelt bezeichnet werden, weil die dortige Krankenversorgung und Altenpflege zu schlecht ist. Junge Menschen können dort als nicht ausreichend verwurzelt betrachtet werden, weil sie aus ihrem Leben an besserer Stelle mehr machen wollen. Sie kann all diese Umstände aber auch gegenteilig bewerten (was in Anbetracht der vom Generalanwalt angesprochenen 12 Millionen Visa im Jahr 2011 massenhaft geschehen muss). Es steht ihr frei, eine Summe von Reisewünschen als abzuwehrenden Migrationsdruck zu werten oder als mögliches Zuwanderungsinteresse zu begrüßen. Der Freiheit der Behörde in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen als auch auf die Würdigung der Tatsachen entspricht im umgekehrten Maß die Prüfungsbefugnis des Gerichts, sein Prüfungsumfang. Dort, wo die Behörde frei ist, hat das Gericht nichts zu prüfen. […]“, VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 30, juris.

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zu den europäischen Gerichten installiert werden können, der durch eine zentralisierte Rechtsprechung eine adäquate Funktion transnationaler Systeme nicht nur gewährleistet, sondern zugleich verbessert. 3. Letztentscheidungskompetenzzuweisung in transnationalen Systemen Das dem Migrationsrecht zugrundeliegende transnationale Kohärenzerfordernis213 erschöpft sich nicht in der ausreichenden Bereitstellung materiell-rechtlicher Kontrollmaßstäbe. Die Gewährleistung eines materiellen Entscheidungsgleichgewichtes im gesamten Geltungsbereich des Visakodex wird zusätzlich durch sinnvolle formelle Vereinheitlichung erreicht. Unterschiedlich restriktive Modelle des Verwaltungsverfahrens erhöhen zusätzlich die Chancen rechtswidriger Einwanderung. Die informationell-prozedurale Komponente des Migrationsrechts ermöglicht durch Koordinierungs- und Kooperationspflichten für die formelle und materielle Anpassung notwendiger Konsolidierung Wissensquellen, Bewertungsschemata, Begutachtungsleitlinien und Beurteilungsmaßstäbe. Damit entsteht eine eigene Beurteilungssphäre der eingebundenen Akteure (nationale Behörden und Kommission). Der Unionsgesetzgeber hat damit ein in sich geschlossenes System zur Bewältigung der einheitlichen Visapolitik konstruiert, dessen Funktionalität durch den dezentralisierten Gerichtszugang aus unionaler Perspektive pervertiert wird.214 Zum einen werden informationell-prozedurale Vereinheitlichungsstrategien durch entgegengesetzte Tatsachenbewertungen im Rahmen der gerichtlichen (Voll-)Kontrolle obstruiert.215 Zum anderen lässt der Visakodex offensichtlich ein Instrument der Reziprozität vermissen, im Rahmen dessen gerichtliche Beanstandungen der Verwaltungspraxis durch die entsprechenden horizontalen sowie vertikalen Kooperationskanäle zurückfließen und transnational korrigiert werden können.216 Dieses transnationale System stattet die agierenden Behörden mit Letztentschei 213

18. Erwägungsgrund Visakodex. Berechtigterweise zu der unionsgerichtlich unterstützten Trendwende im EU-Recht generell kritisch Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 506. 215 Siehe BVerwG, Urteil vom 17. 9. 2015  – 1 C 37.14, Rn. 20, NVwZ 2016, 161; zustimmend wohl Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 305 f.; die Bedeutung von Tatsachenbewertung für die rechtliche Entscheidung erkennend, VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 –, V Rn. 26, juris. 216 Denkbar wäre jedoch eine rechtlich haltbare Konstruktion über Art. 48 Abs. 4 und Abs. 5 Visakodex; freilich bedeutet dies einen zusätzlichen Verwaltungsaufwand, sodass eine zentralisierter Gerichtszugang für die Vereinheitlichungsbestrebungen ohnehin effizienter und wirkungsvoller gewesen wäre. Da sich die gerichtliche Kontrolle ausschließlich am rechtlichen Kontrollmaßstab orientiert, hätten Gerichte die Einhaltung der Ablehnungsgründe des Visakodex nachprüfen und die unionsgerichtlich umschriebene Gesetzesbindung der zuständigen Behörden doppelt absichern können. Dies würde letztlich den Antragstellern und ihrem Rechtsschutzbedürfnis zugutekommen. 214

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dungskompetenzen gegenüber der Judikative zum Schutz ihrer kooperativ koordinierten Beurteilungsgrundlagen und Beurteilungsentscheidungen aus.217 Infolge dieses Verständnisses müsste die gerichtliche Vollkontrolle in jeglichen bestehenden und geplanten transnationalen Verwaltungskooperationsprojekten zu Gunsten der Zielverwirklichung geopfert werden. Dieses Verständnis ordnet die Tätigkeit der Judikative als unabdingbaren Gegenpol der Verwaltung im demokratisch vorgezeichneten Gewaltenverhältnis kategorial sowie qualitativ falsch ein und führt langfristig zu einem Ungleichgewicht.218 Auf der einen Seite handelt es sich bei der Judikative nicht bloß um einen abgesonderten Zweig der Verwaltung mit Kontrollfunktion und auf der anderen Seite werden grundrechtlich bzw. unionsrechtlich garantierte Positionen Betroffener vor rechtswidrigem Verwaltungshandeln geschützt.219

III. Adressaten der Letztentscheidungskompetenz Im Rahmen der Letztentscheidungsrechtsdiskussion lässt sich zutreffenderweise nicht der Frage gesetzgeberischer Letztentscheidungskompetenzzuweisung ausweichen.220 Im Anschluss an die in den Punkten A. I. und A. II. festgestellten Ursprungsquellen der Letztentscheidungsrechte sind nun die Adressaten der Letztentscheidungskompetenzen in den Unionsrechtsakten zu klarifizieren. Eine kritische Rolle in der Würdigung der Zuweisung von Letztentscheidungskompetenzen nimmt die Art des Unionsrechtsaktes ein. Aufgrund der Notwendigkeit eines nationalen Umsetzungsgesetzes werden bei EU-Richtlinien Rechtsetzungsebenen und mögliche Adressaten der Letztentscheidungskompetenzen vermehrt. Für die Frage der Verteilung von Letztentscheidungskompetenzen sind die Adressaten der zugrundeliegenden Unionsrechtsakte herauszuarbeiten. 1. Grundsätzliche Kompetenzverteilungsmöglichkeiten Die Anfälligkeit des Rechtsetzungs- und Vollzugssystems der Europäischen Union für eine gelockerte Gesetzesbindung der Verwaltung wird maßgeblich von dem Mehrebenencharakter beeinflusst.221 Dementsprechend bietet sich vorab die 217

Zustimmend Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 306, 312; EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki; BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, NVwZ 2016, 161; zu Recht kritisch und a.A. VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris. 218 Zutreffend analysierend Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 507 ff. 219 Dies möchte die installierte Gesetzesbindung gerade erreichen, aber scheitert, vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 15, NVwZ 2016, 161; berechtigt kritisch Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 506. 220 Richtig daher Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006; Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, § Rn.  33, 34; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 184aa. 221 Zuzustimmen daher Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, EuR, Rn. 217.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

nähere Betrachtung des europäischen Systems an. Zu Beginn ist eine Differenzierung zwischen drei Kompetenzverteilungsmöglichkeiten vorzunehmen, die sich zunächst an den Rechtsetzungsebenen und den möglichen Adressaten der europäischen Rechtsakte orientiert: (1.) zwischen dem europäischen Gesetzgeber und dem nationalen Gesetzgeber,222 welcher durch die Richtlinienumsetzung gemäß Art. 288 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV quasi-administrativ agiert,223 (2.) zwischen dem europäischen Gesetzgeber und den nationalen Administrativen im Rahmen des Vollzugs von europäischen Verordnungen gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV224 und (3.) zwischen dem nationalen Gesetzgeber als Verantwortlichem für das transformierte Richtlinienrecht und den nationalen Administrativen, welche das transformierte Richtlinienrecht schließlich vollziehen.225 Die jeweilige zuständige Gerichtsbarkeit auf nationaler oder europäischer Ebene ist sodann zur Kontrolle der Einhaltung der Verpflichtungen resultierend aus diesen Verhältnissen und gegebenenfalls zur Letztentscheidungskompetenz im Streitfall berufen. Allgemein müssten Verwaltungsfreiräume generell sowie speziell die Kompetenz zur verbindlichen Letztkonkretisierung bzw. Letztentscheidung nur innerhalb der jeweiligen Verhältnisse diskutiert werden. Sofern keine Letztentscheidungskompetenz im Rahmen der genannten grundsätzlichen Kompetenzverteilungsmöglichkeiten zugewiesen wurde, steht der Judikative als Kontrollinstanz die Letztentscheidung bzw. Letztkonkretisierung zu. Dies ist der rechtstaatlich vorgesehene und garantierte Regelfall (Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4. GG sowie Art. 47 GRCh). Innerhalb des Verhältnisses zu (1.) bilden die schwache Regelungsdichte bzw. die mangelnde normative Konkretisierung sowie die finalisierte Normstruktur die Basis für Entscheidungsspielräume in Form von Normsetzungsspielräumen226 bzw. Umsetzungsspielräumen.227 Daher ist es konsequent, diese Umsetzungsspiel 222

Vgl. Reimer, JZ 2015, S. 910, insb. 912 f. Siehe EuGH, Urteil vom 29. 6. 1993 Rs. C-298/89 – Rs. „Gibraltar / Rat“, Rn. 16, Slg. 1993, I–3605; Ruffert, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 23; W. Schroeder, in: Streinz, AEUV Art. 288 Rn. 53 ff., insb. 57 ff.; Glaser, Die Entwicklung des Europäischen Verwaltungsrechts aus der Perspektive der Handlungsformenlehre, S. 332 ff.; Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 109 ff.; Becker, JöR 39 (1990), S. 67, 101; Ionescu, Innerstaatliche Wirkungen des Vertragsverletzungsverfahrens, S. 35 f. 224 Siehe Ruffert, in: Calliess / Ruffert / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 16; W.  Schroeder, in: Streinz, AEUV Art. 288 Rn. 38. 225 Zur Eigenständigkeit nationaler Gesetze, die auf Richtlinienbasieren vgl. Ruffert, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 25 a. E.; a. A. Payandeh, DVBl. 2007, S. 741. 226 Zum Normsetzungsspielraum Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 18. 227 Siehe Teil 4 A. I. 1.–4.; grds. und zu der politischen Kategorie: „Rahmenrichtlinie“, die eine höhere Regelungsdichte gegenüber herkömmlichen Richtlinien aufweise und daher geringere Umsetzungsspielräume garantiere vgl. Ruffert, in: Calliess / Ruffert / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 25; ebenfalls Lenaerts / Desomer, ELJ 11 (2005), S. 744, 747; Frenz, Handbuch Europarecht Band 5, Wirkungen und Rechtsschutz, Rn. 911; aus der Stellung im EG-Vertrag ableitend Hilf, EuR 1993, S. 1, 19; Härtel, Handbuch Europarecht Band 4, Europäische Rechtsetzung, e contratio, S. 27, Rn. 1 a. E., S. 178, Rn. 27, S. 180, Rn. 32; Nettesheim, in: Grabitz /  Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 132. 223

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

255

räume resultierend aus dem Verhältnis zu (1.) aufgrund ihrer Entfaltung innerhalb des gesetzgeberischen Gestaltungsauftrags auf der nationalen Ebene als legislative Letztentscheidungsrechte zu benennen228 und wegen ihrer Beschaffenheit zusätzlich qualitativ anders zu bewerten.229 Dieser legislative Freiraum bzw. dieses legislative Letztentscheidungsrecht weist Parallelen hinsichtlich des Zieladressaten230 sowie der Beschaffenheit des legislativen Letztentscheidungsrechts231 zu dem verfassungsrechtlich bekannten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum oder der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative auf. Betreffend die Verhältnisse zu (2.) und (3.) müssen sich Verwaltungsfreiräume unmittelbar aus den jeweiligen Verordnungen oder Gesetzen ergeben und je nach Verhältnis entweder nach europäischen oder deutschen Grundsätzen als Letztentscheidungsrechte deklariert werden,232 da es sich um abschließende abstrakt-generelle Rechtssätze handelt, welche keiner weiteren legislatorischen Umsetzung bedürfen.233 Identifizierte Verwaltungsfreiräume auf dieser Ebene sind zweifelsfrei administrativer Art und richten sich eindeutig an die vollziehende Gewalt.234 Da die Rechtssätze der (2.) und (3.) zugrundeliegenden Verhältnisse entsprechende innerstaatliche Wirkung haben, allerdings der legislative Urheber divergiert, eröffnen Verordnungen einen systemfremden diagonalen Zugriff des

228

Der Gesetzgeber als gestaltender Erstinterpret des Rechts vgl. Korioth, in: Schlaich /  Korioth, BVerfG, Rn. 530 ff. 229 Siehe Teil 2 C. I. 1. und Teil 3 A. II. 1. a). 230 Grds. legislativer Adressatenkreis vgl. BVerfG, Urteil vom 11. 06. 1958 – 1 BvR 596/56, BVerfGE 7, 377; BVerfG, Beschluss vom 05. 02. 2002  – 2 BvR 305/93, BVerfGE 105, 17; BVerfG, Urteil vom 09. 02. 2010, Az. 1 BvL 1/09, BVerfGE 125, 175; BVerfG, Beschlüsse vom 17. 01. 2017 – 2 BvL 2/14, 2 BvL 5/14, 2 BvL 4/14, 2 BvL 3/14, BVerfGE Band 144, 369; BVerfG, Beschluss vom 26. 01. 1993 – 1 BvL 38/92 – E 88, 87 96; BVerfG, Beschluss vom 10. 01. 1995 – 1 BvL 20/87 – E 91, 389, 401; BVerfG, Beschluss vom 27. 01. 2011 – 1 BvR 3222/0, NJW 2011, 1578; Schmidt-Aßmann, Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 197; Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 76, Rn. 59; Korioth, in: Schlaich / Korioth, BVerfG, Rn.  530 ff.; Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, S. 14 ff.; zweifelnd Gusy, JöR 33 (1984), S. 109 f.; Neumann, RdA 2007, S. 71; Schulze, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Russischen Föderation und in der Bundesrepublik Deutschland, S. 70, 73. 231 Weiter Regelungsumfang und lediglich evidente Fehler, vgl. BVerfG, Beschluss vom 05. 03. 1974 – 1 BvL 27/72, BVerfGE 37, 1; BVerfG, Beschluss vom 16. 03. 1971 – 1 BvR 52/66, 1 BvR 665/66, 1 BvR 667/66, 1 BvR 754/66, BVerfGE 30, 292; Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Allgemeine Ordnungsidee, S. 255, Rn. 31. 232 Innerhalb des deutschen Verwaltungsrechtssystems sind EU-Verordnungen systemfremd, sodass deutsche Letztentscheidungsrechtsgrundsätze nicht pauschal übertragen werden können. Darüber hinaus verbleiben Fragen zu der Anwendbarkeit von Prozessgrundrechten innerhalb des dezentralisierten unionalen Gerichtssystems, vgl. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf /  Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 101 a. E.; dazu sogleich. 233 Zu EU-Verordnungen siehe Ruffert, in: Calliess / Ruffert, AEUV Art. 288 Rn. 20; ebenfalls Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 89 ff.; W. Schroeder, in: Streinz, AEUV Art. 288 Rn. 38 ff. 234 Dennoch verbleibt die Frage ihrer Auswirkungen bei (2.), siehe dazu Teil 4 B.

256

Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

Unionsgesetzgebers auf die Exekutive des Gesetzgebers.235 Innerhalb des deutschen Gesetzgebungssystems sind Kompetenzprobleme und -konflikte in Fragen der Verfahrens- und Verwaltungsautonomie vorprogrammiert.236 2. Diagonale Verschiebung mittels Richtlinien Kompetenzprobleme resultieren nicht nur aus dem diagonalen Zugriff der Verordnungen, sondern können auch infolge einer diagonalen Verschiebung im Richtlinienfall auftreten. So kann die Verschiebung der vorstehenden grundsätzlichen Kompetenzverhältnisse für die Richtlinie (zunächst (1.), dann (3.)) ursprünglich legislativ intendierte Entscheidungsfreiräume bzw. Gestaltungsfreiräume auf die administrative Ebene verlagern. Neben Kompetenzproblemen führt dies zu weiteren nicht nur unerheblichen Problemen im Rahmen des Verwaltungsvollzugs und der Verwaltungskontrolle,237 sofern sich die mit weit skalierten Letztentscheidungsfreiräumen der Legislative ausgestattete Administrative vor Augen geführt wird und diese sich tatsächlich auf diese Verwaltungsfreiräume gegenüber der Judikative beruft.238 Primär handelt es sich daher allgemein um ein Gesetzgebungsproblem.239 Eine Verschiebung der grundsätzlichen Verhältnisse droht etwa durch die unzureichende Umsetzung der entsprechenden Richtlinien oder durch die unmittelbare Anwendung von Richtlinien durch die Judikative.240 Gleichzeitig existiert die gewillkürte Verschiebung der Letztentscheidungskompetenz seitens des Unionsgesetzgebers im Wege einer unmittelbaren Adressierung der mitgliedstaatlichen Exekutive in den Richtlinien. Hierbei handelt es sich um originär beabsichtigte administrative Letztentscheidungsrechte. Dass es einen positivrechtlichen Zuweisungsmechanismus zwischen adminis­ trativen und legislativen Letztentscheidungsrechten geben muss, ist konsequent und transparent. Würde richtlinienbasiertes Ermessen abseits des Kompetenzverteilungsgrundfalles stets ein administratives Ermessen im deutschen Sinne eröffnen, dann hätte die mitgliedstaatliche Verwaltung nach der Ermessenssystematik241 des EuGH erhebliche Freiheiten, die zu einer Entkopplung der Exekutive aus dem Gewaltenverhältnis führen würde.

235

Vgl. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 288 Rn. 101 a. E. Siehe Teil  4  A. I. 1. c) bb). 237 Identifizierte Vollzugs- und Kontrollprobleme siehe Teil 3 A. II. 1. a) cc); identifizierte Kompetenzprobleme vgl. Teil 4 A. I. 1. c) bb); ausführliche Auseinandersetzung erfolgt in Teil 4 B. 238 Etwa im Umweltrecht siehe Teil 3 B. I. 1. und C. II. 239 Im Regulierungsrecht schon Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009. 240 Dazu sogleich. 241 Dazu EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; sowie allgemein vgl. EuGH, Urteil vom 18. 12. 2014 – Rs. C-551/13, SETAR, Rn. 45. 236

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

257

a) Ungewillkürte Verschiebung durch unzureichende Richtlinientransformation und unmittelbare Richtlinienanwendung Eine nach deutschen Maßstäben unzureichende Transformation stellt dabei schon die schlichte Verweisung der nationalen Vorschriften auf die entsprechenden Vorschriften der umzusetzenden Richtlinien durch den nationalen Gesetzgeber242 oder die unmittelbare Heranziehung von Richtlinien durch die deutschen Gerichte dar,243 da systemfremde Rechtssätze und Letztentscheidungsrechte Gegenstand des nationalen Rechts werden. Dies zeigt unter anderem die Verflechtung von § 32 Abs. 1 BNatSchG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 FFH-RL bzw. Art. 4 Abs. 1 VRL. Sind dies zudem Verweise auf die Regelungen der Richtlinie, die in der entsprechenden Richtlinie wiederum auf das Tätigwerden der Mitgliedstaaten pochen, handelt es sich um einen normativ nicht auflösbaren Zirkelschluss. Dies gilt ebenfalls, sofern Vorschriften der Richtlinien lediglich übernommen werden, ohne eine (Re-)Konditionalisierung der Normstruktur vorzunehmen.244 Schließlich ist auch die Verfehlung einer Beseitigung der geringen Regelungsintensität bzw. der Konkretisierungsmängel als Transformationsmangel zu betrachten (sog. Nachverdichtung).245 Im Umweltrecht beliebte und auf eine undichte Regelungsmaterie zurückgehende Verwaltungsfreiräume speziell im Rahmen der naturschutzfachlichen Tatsachenermittlung können etwa durch die bloße Konditionalisierung von europäischen Finalprogrammen auf nationaler Ebene nicht aufgehoben werden.246

242

Siehe insb. §§ 6, 7, 19, 32, 33, 38, 40, 40a, 40b, 40c, 42, 44, 45 BNatSchG, §§ 29, 80, 82, 83 WHG. 243 Im Fall des Gebietsausweisungsverfahrens BVerwG, Urteil vom 14. 11. 2002  – 4 A 15/02, BVerwGE 117, 149 ff.; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998  – 4 C 11/96, NVwZ 1999, S. 528; BVerwG, Urteil vom 19. 05. 1998  – 4 A 9/97, BVerwGE 107, 1 ff.; BVerwG, Urteil vom 21. 01. 2016  – 4 A 5/14, BVerwGE 154, 73 ff.; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008  – 9 A 3/06, BVerwGE 130, 299 ff.; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013  – 4 C 3/12  –, BVerwGE 146, 176 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14, NuR 2015, 772 ff.; BVerwG, Beschluss vom 24. 08. 2000  – 6 B 23/00  –, Rn. 8, NVwZ 2001, 92; BVerwG, Urteil vom 27. 01. 2000 – 4 C 2/99 –, Rn. 23, BVerwGE 110, 302; BVerwG, Urteil vom 27. 10. 2000 – 4 A 18/99 –, Rn. 48, BVerwGE 112, 140; BVerwG, Urteil vom 31. 01. 2002 – 4 A 15/01 –, Rn. 48, DVBl. 2002, 990; BVerwG, Beschluss vom 14. 04. 2011 – 4 B 77/09 –, Rn. 39, IBRRS 2011, 2162; BVerwG, Urteil vom 28. 03. 2013 – 9 A 22/11, Rn. 36 –, BVerwGE 146, 145; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14 –, Rn. 23, NuR 2015, 772; zusätzlich zu Art. 6 FFHRL, BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299; BVerwG, Urteil vom 09. 07. 2008 – 9 A 14.07, Rn. 65, BVerwGE 131, 274; BVerwG, Urteil vom 09. 02. 2017 – 7 A 2.15 (7 A 14.12), Rn. 40 f., BVerwGE 158, 1. 244 Bereits Teil 4 A. I. 5. d); richtig daher (Re-)Konditionalisierung, siehe Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009; Di Fabio, in: Festschrift Hoppe, 2000, S. 75 (86 ff.); dies ist möglich und würde für umzusetzendes Richtlinienrecht bedeuten, dass die grundsätzliche Dichotomie der Letztentscheidungsrechte im deutschen Verwaltungsrechtsystem gewahrt bleibt, vgl. Jestaedt, § 11 16; Klement, Verantwortung, S. 276; Lepsius, JuS, S. 123, 128. 245 Bereits Teil  4  A. I. 5. d). 246 Siehe dazu Teil  3  A. II. 1. a) cc); A. II. 1. b) cc).

258

Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

b) Gewillkürte Verschiebung durch Richtlinienverweise Da die angesprochenen Letztentscheidungsrechtsverhältnisse an die ursprünglichen Rechtsaktadressaten gekoppelt sind, kommt es ebenfalls zu einer Verschiebung der Letztentscheidungsrechtsverhältnisse, sofern der Unionsgesetzgeber in den Richtlinien die zuständigen Behörden direkt oder indirekt durch Gestaltungsaufträge bezüglich des Verwaltungsverfahrens adressiert.247 Diese Verschiebung ist im Gegensatz zu der unzureichenden Transformation uniongesetzgeberisch intendiert und führt somit zu einem administrativen Letztentscheidungsrecht.248 Prominent ist in diesem Zusammenhang etwa das vielfach diskutierte Regulierungsermessen,249 dessen anwendende mitgliedstaatliche Regulierungsbehörde direkte Erwähnung in dem 36. Erwägungsgrund sowie in Art. 8, 15 und 16 RL 2002/21/EG250 (Rahmenrichtlinie), Art. 17 Abs. 2 RL 2002/22/EG251 (Universalrichtlinie) und Art. 8 Abs. 1 RL 2002/19/EG252 (Zugangsrichtlinie) findet.253 Dass dies kein Einzelfall ist, zeigen auch andere administrative Letztentscheidungsrechte und die explizite Bezugnahme auf die Behörden der Mitgliedstaaten in den relevanten Normen der Richtlinien. So etwa betreffend Umweltsanierungsmaßnahmen,254 Art. 6 RL 2004/35/EG (Umwelthaftungsrichtlinie),255 der Verwaltungs 247

Zum Direktzugriff bei Prozeduralisierungsstrategien, Teil  4  A. I. 4. b) und  A. I. 5. d); zusätzlich abseits des Sekundärrechts für das primärrechtlich geregelte Beihilfenrecht in Art. 107 ff. AEUV wird die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV als Behörde tätig, entsprechende Letztentscheidungsrechte sind daher lediglich administrativer Art, EuGH, Urteil vom 08. 11. 2001– Rs. C-143/99, Adria-Wien Pipeline, Rn. 30; EuGH, Urteil vom 08. 03. 1988 – Rs. 62/87, 72/87, „Exécutif régional Wallon / Kommission“, Rn. 21; EuGH, Urteil vom 23. 04. 2002 – Rs. C-234/99, Nygard, Rn. 54. 248 Dies befreit nicht von der Frage, wem dieses Letztentscheidungsrecht gegenüber Geltend zu machen ist, dazu Teil 4 B.; siehe ebenfalls ausdrücklich EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Rs. „Kommission / Deutschland“ Ls. 1, Rn. 38 ff., NVwZ 2010, 370; Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 81. 249 U. a. Koenig / Busch, CR 2010, S. 357 ff.; Hwang, DÖV 2014, S. 681 ff.; Ufer, K&R 2010, S. 100, 103; Ladeur, K&R 2010, S. 308 ff.; Rädler, MMR 2012, S. 497, 498; Kühling, WiVerw 2010, S. 135, 142; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009; Durner, DVBl. 2012, S. 299 ff. 250 Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (Rahmenrichtlinie), ABl. EG, L 108 vom 24. 04. 2002, S. 33–50. 251 Richtlinie 2002/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten (Universaldienstrichtlinie), ABl. EG L 108 vom 24. 4. 2002, S. 51–77. 252 Richtlinie 2002/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung (Zugangsrichtlinie), ABl. Nr. L 108 vom 24. 04. 2002, S. 7–20. 253 EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Kommission / Deutschland, Ls. 1, Rn. 38 ff.; EuGH, Urteil 24. 04. 2008 – Rs. C-55/06, Arcor. 254 EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, C-380/08, ERG, Rn. 59, 60. 255 Richtlinie 2004/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden, ABl. L 143 vom 30. 04. 2004, S. 56–75.

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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entscheidung die Visaerteilung nach Art. 12 RL 2004/114/EG (Studenten- und Austausch-RL)256 betreffend. Ebenfalls Art. 18 ff. RL 2004/114/EG, in der die Studenten- und Austausch- RL ablösenden Richtlinie in Art. 34 RL EU/2016/801257 sowie der Probeentnahme im Rahmen der Luftqualitätsbeurteilung258 und Art. 3 lit.  a RL 2008/50/EG.259 Die migrationsrechtlichen Richtlinien decken sich im Übrigen mit den Ergebnissen zum Visakodex. Bei der wortgleichen Zuweisung von Letztentscheidungsrechten an die Mitgliedstaaten vermittelt der Adressat (Unionsgesetzgeber) bereits das Bedürfnis, dieses Letztentscheidungsrecht als legislativ zu qualifizieren. Die habitatschutzrechtliche Gebietsausweisung dient hierfür als geeignetes Beispiel. Allerdings ist eine markante Grenzziehung gerade im Verhältnis zwischen dem europäischen Gesetzgeber und den Mitgliedstaaten nicht ganz einfach.

IV. Teilergebnis Dem vorausgegangenen Methodenproblem kann teilweise abgeholfen werden. Angesichts der Diversität unionaler Begründungsstränge bleibt dies im Einzelfall schwierig. Im Unionsrecht empfiehlt es sich jedoch, hierfür die in den Blick genommene Letztentscheidungskompetenzzuweisung in die Identifizierung der gesetzgeberischen Zuweisungsstrategie (Punkt A. I. und A. II.) und die Identifizierung des Zuweisungsadressaten (Punkt A. III.) zu unterteilen. 1. Fachbezogenheit der Zuweisungsstrategie Aufgrund des Bestehens referenzgebietsspezifischer Singularitäten wird nur schwerlich eine einheitliche Methode zur Identifizierung von Zuweisungsstrategien gefunden werden können. Die gesetzgeberische Zuweisungsstrategie ist im Unionsrecht besonders problemträchtig. Vergeblich ist die Suche nach ausschließlich 256

Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst, ABl. L 375 vom 23. 12. 2004, S. 12–18; Letztentscheidungsrecht judiziert in EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 50; so auch schon EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 61. 257 Richtlinie 2016/801/EU des Europäischen Parlaments und Rates vom 11. Mai 2016 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit, ABl. L 132, S. 21–57. 258 Vgl. EuGH, Urteil vom 26. 06. 2019 – Rs. C-723/17, Craeynest, Rn. 44. 259 Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. L 152 vom 11. 06. 2008, S. 1–44.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

normativen oder funktionalen Lösungen. Diese methodischen Ansätze sind beispielsweise im Migrationsrecht miteinander verflochten. Zusätzlich ist die unionsgerichtliche Komplexitätskasuistik sehr allgemein und hat keine Identifikationswirkung. Freilich ist Komplexität eine Perspektivenfrage. Darauf folgen Fragen dazu, was die Gerichtsbarkeit leisten muss und welche Schwelle der Komplexität erreicht werden muss, damit die Leistungsgrenze der Gerichtsbarkeit erreicht ist. Zwischen den Verwaltungsgerichten der Mitgliedstaaten mit verschieden ausgestalteten Verwaltungsrechtssystemen wird sich in diesem Bereich kein Konsens ergeben. Anzuknüpfen ist eher an die fachlichen, strukturellen und systematischen Einzelbestandteile der Komplexität, welche in Bezug auf ihre kontrollreduzierende Wirkung evaluiert werden müssen. Ein Fokus auf die Richtlinien oder Verordnungen unter Zuhilfenahme des Verhältnisses der Gesetzesakzessorietät gerichtlicher Kontrolle deckt die funktionalen Herausforderungen eben dieser Kontrolle auf. Im Umweltrecht bedeutet dies die Delegation kognitiver Leistungsbefugnisse bzw. -pflichten an den noch zu bestimmenden Adressaten.260 Hierbei handelt es sich um die Installation materiell unzureichender Normprogramme, welchen vorab eine generelle Standardisierung bzw. Konkretisierung unter anderem abstrakter Tatsachen fehlt, die eine zielorientierte (Finalprogrammierung) Beschaffenheit aufweisen oder die Prozeduralisierungsgedanken enthalten. Im untersuchten Teil des Umweltrechts lassen sich mehrheitlich erstere beiden Regelungsstrategien auffinden. Die Nutzung dieser Regelungsstrategien verlangt von dem Normanwender eine Rechtserzeugung in Form von diversen kognitiven Leistungen. Gerade im Umweltrecht kommt dem Unionsgesetzgeber die bloße Aufstellung von zielsteuernden Rahmenbedingungen unter Entledigung kognitiver Detailleistungen besonders zugute. Eine fachrechtliche Besonderheit des Umweltrechts ist die Existenz von wissenschaftlichen Erkenntnisdefiziten unter anderem in Form von „Erkenntnisvakua“.261 Gleichzeitig ist der naturwissenschaftliche Fortschritt besonders dynamisch und agil, sodass die Auflösung existierender wissenschaftlicher Erkenntnisdefizite letztlich auch eine zeitliche Komponente ist. Daher ist in der Übertragung auf den Normadressaten eine effiziente sowie flexibilisierte Möglichkeit zu sehen, einen effektiven Umweltschutz zu gewährleisten, ohne stetig EU-Gesetzgebungsvorgänge initiieren zu müssen.262 Im Richtlinienprimärverhältnis zwischen Unionsgesetzgeber und Mitgliedstaaten können delegierende Normprogramme mit weitreichenden Gestaltungsräumen der Legislative geduldet werden, sofern das Unionsrecht keine restriktiven Nachverdichtungs- und Konditionalisierungsgrenzen vorgibt.

260

Siehe allgemein zu gesetzgeberischen Delegationsstrategien Lepsius, JuS 2019, S. 1, 2. Siehe Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, BVerfGE 149, 407; zuerst jedoch Lau / Jacobs, NVwZ 2015, S. 241, 245. 262 Entsprechender Gedanke bei exekutivischen Rechtsverordnungen, Art. 80 GG oder für Konkretisierungsaufgaben normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften in Form von antizipierten Sachverständigengutachten. 261

A. Ursprungsquellen unionaler Letztentscheidungsrechte 

261

Dagegen konzipiert das Migrationsrecht ein System, das eine gerichtliche Vollkontrolle verbannt. Die Kontrollreduktion veranlasst die transnationale Konzeption des Migrationsrechts, welche die europaweite Organisations- und Vollzugskohärenz mittels informationeller Prozeduralisierunginstrumente gewährleisten soll. Nach Anhang VI des Visakodex zerstreut eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht uneingeschränkt vorgenommene Kontrolle im Rahmen des vorgesehenen dezentralen Gerichtszugangs die transnationalen Kohärenzbestrebungen. Kohärenzstiftende Verfahrensinstrumente verlieren durch die Aufhebung transnational abgestimmter Verwaltungsentscheidungen ihre Wirkung. Eine gerichtliche Nachprüfung anhand des Visakodex wäre durchaus möglich. Dem Migrationsrecht sind höchstens punktuell kontrollstrapazierende Tatbestandsmerkmale inhärent, nicht jedoch die Vollkontrolle konterkarierende Programmierungsdefizite in breitflächigem Umfang oder etwa fachrechtliche Herausforderungen. Zusätzliche Komplexitätserwägungen des EuGH bei der migrationsrechtlichen Verwaltungsentscheidung sind aus deutscher Perspektive nicht ganz nachvollziehbar. Im Unionsrecht stehen wohl der Wissensvorsprung sowie die Erfahrung der zuständigen Stellen, semantische Probleme unbestimmter Rechtsbegriffe und Risikoprognosen im Vordergrund.263 Es handelt sich mithin um die funktionale Kollision transnationaler Verwaltungssysteme und des dezentralisierten Gerichtszugangs. 2. Rechtsaktabhängigkeit des Zuweisungsadressaten Die Frage des Zuweisungsadressaten orientiert sich primär an den Rechtsakten. Im Richtlinienverhältnis adressieren die ermittelten Zuweisungsstrategien grundsätzlich die Legislative der Mitgliedstaaten, da es eines Umsetzungsaktes bedarf. Aufgrund der unmittelbaren Wirkung der EU-Verordnung werden im Verordnungsverhältnis die Administrativen der Mitgliedstaaten adressiert. Im Richtlinienfall gilt dies nur im Grundsatz. Sofern der Unionsgesetzgeber die Administrativen der Mitgliedstaaten nennt oder sich ihre direkte Zuständigkeit durch Auslegung ermitteln lässt, werden wiederum die mitgliedstaatlichen Administrativen involviert. Entsprechendes gilt bei informationeller und regulativer Prozeduralisierung, da der Unionsgesetzgeber unmittelbar auf die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens zugreift. Hierbei handelt es sich um eine gesetzgeberisch gewillkürte Verschiebung der grundsätzlichen Letztentscheidungsrechtszuweisung. Gelangen ursprünglich legislativ intendierte Letztentscheidungsrechte auf die administrative Ebene, handelt es sich um eine ungewillkürte Letztentscheidungsrechtszuweisung. Wenn dadurch justiziable Freiräume geschaffen werden, werfen Erstere gegenüber Letzteren Kompetenzprobleme des Unionsgesetzgebers auf. Letztere sind aufgrund der Versäumnisse des nationalen Gesetzgebers in den mitgliedstaatlichen Kompetenzbereich einzuordnen und müssen gegebenenfalls verfassungsrechtlich

263

Siehe ausführlich Teil 2 B. III.

262

Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

evaluiert werden.264 Die diagonale Verschiebung der Letztentscheidungsrechte bzw. der diagonale Zugriff durch den Unionsgesetzgeber hingegen erfordern eine Diskussion im Hinblick auf die geltende Verfahrensautonomie.265

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte Durch die ebenenübergreifende Zuweisung von Letztentscheidungsrechten als Kompetenzzuweisung werden die vorab determinierten Gewaltverhältnisse der Rechtsetzungsebenen modifiziert. Dies hat keine nur unerheblichen Auswirkungen auf die beeinflusste Rechtsetzungsebene. Gewillkürte (B. I. 1.) und ungewillkürte Letztentscheidungsrechtszuweisungen (B. I. 2.) spielen hierbei eine zentrale Rolle. Dadurch ausgelöste diagonale Verschiebungen sind jedoch differenziert zu betrachten. Da das Umwelt- und das Migrationsrecht jeweils unterschiedliche Kategorien bedienen, kann dies veranschaulicht werden. Fraglich ist in diesem Kontext vor allem die Begründung einer Kontrollrücknahmepflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte, welche nicht nur die existierende Letztentscheidungsrechtstypologie im deutschen Verwaltungsrecht weiter aufspaltet, sondern bei administrativen Letztentscheidungen gleichzeitig einen Einordnungszwang in die vorherrschende Letztentscheidungsrechtsdichotomie begründet. An diese Kontrollrücknahmepflicht sind weitere Fragen angereiht. So muss die Rolle des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 47 GRCh innerhalb unionaler eingeleiteter Kontrollrücknahmeprozesse herausgearbeitet werden. Im Rahmen dessen wird für die Eröffnung ihres Anwendungsund Schutzbereiches die Ableitung subjektiv-öffentlicher Rechte relevant sein. Neben Kontrollgesichtspunkten sind ebenso Vollzugsprobleme darzustellen (B. II.).

I. Nationale Kontrolldichterücknahmepflicht Anders als im Telekommunikationsregulierungsrecht dienen die Freiräume im Migrationsrecht den zuständigen Behörden nicht als Abwehrmittel gegen politische Beeinflussung durch die Legislative,266 sondern gegen Einflüsse der Judikative. Zunächst aufgrund des geltenden Kohärenzgebots des transnationalen Systems im Migrationsrecht, welches zuletzt von dem BVerwG als legitimer Grund der Kontrollreduktion angesehen wurde.267 Darüber hinaus zur Aufrechterhaltung 264

Mit verfassungsrechtlichen Bedenken zurecht BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018  – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, BVerfGE 149, 407; kritisch in Teil 3 A. II. 2.; Anforderungen an tatsachenbefreite Kontrolle bei Gärditz, DV 46, S. 257, 267. 265 A. A. Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 192 f. 266 Siehe ausdrücklich EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170; hierzu auch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 79, 80. 267 BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20, NVwZ 2016, 161; befürwortend ­Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 305 f.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

263

trans-politisch motivierter Leitlinien und Orientierungsanweisungen, außerhalb des tatsächlich und rechtlich Vertretbaren, die durch organisatorisch-funktionell neutralisierte Vollkontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der Verwaltungsgerichte aufgehoben werden würden.268 Insofern wird die Kollision mit dem deutschen Kontrolldichteduktus evident und eine Kontrolldichterücknahmepflicht auf der deutschen Ebene fraglich. 1. Gewillkürte Letztentscheidungsrechte Möchte eine etwaige unional induzierte Kontrolldichterücknahmepflicht hinterfragt werden, muss die relevante Komposition administrativer Letztentscheidungsrechte rekapituliert und evaluiert werden. Die Aufarbeitung der grundlegenden Konzeption der Akzessorietät von Kontrolldichte und Kontrollmaßstab der Gerichte offenbarte, unter welchen Voraussetzungen administrative Letztentscheidungsrechte für die Judikative beachtlich sind. Im mehrdimensionalen Rechtsetzungssystem wurden dadurch ebenfalls Methoden- und Kompetenzprobleme sichtbar. Während dem Methodenproblem zumindest teilweise der Boden entzogen werden konnte, verbleibt ein Kompetenzproblem, doch nicht etwa in Bezug auf die Identifizierung der Letztentscheidungskompetenzzuweisung durch den Unionsgesetzgeber. Die Identifizierung der Letztentscheidungskompetenzzuweisung kann mit der partiellen Auflösung des Methodenproblems unter Einbeziehung der normativen Ermächtigungslehre vollzogen werden. Letztlich ist dabei zu klären, ob dem Unionsgesetzgeber die Kompetenz im Sinne einer Befugnis zukommt, Letztentscheidungskompetenzen gegenüber der Judikative ebenenübergreifend auf die Administrative der Mitgliedstaaten zu übertragen und somit die gerichtliche Kontrolldichte zu beeinflussen. a) Unionsgesetzgeberische Kompetenzübertragungsbefugnis Ausgehend von der verfassungsrechtlichen Konzeption des Gewaltenverhältnisses handelt es sich bei der Letztentscheidung und -konkretisierung grundsätzlich um eine genuine Aufgabe der Judikative, die der Gesetzgeber ausnahmsweise auf die Exekutive übertragen kann.269 Damit entscheidet der Gesetzgeber zunächst innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen (Art.  20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 GG) über eine etwaige Delegation normativer Letztentscheidungsarbeit

268 Zuzustimmen Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 81; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 374, Rn. 178. 269 Poscher, Geteilte Missverständnisse, in: FS Wahl, S. 527, 537; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 378.

264

Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

und -konkretisierungsarbeit.270 Abstrahiert man die normative Ermächtigungslehre als Identifikationsinstrument delegierter Letztentscheidungskompetenz des deutschen Rechts,271 folgt die Delegationsbefugnis originär aus der Rechtsetzungsbefugnis des Gesetzgebers. Wird diese Konzeption auf diagonale Verschiebungen oder Zugriffe durch den Unionsgesetzgeber übertragen, kann in Ansehung der durch die Mitgliedstaaten in den EU-Verträgen übertragenen Gesetzgebungskompetenzen eine entsprechende Delegationsbefugnis des Unionsgesetzgebers ermittelt werden. Unter Berücksichtigung der Rechtsetzungsbefugnis gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV kann daher für den diagonalen Zugriff des Visakodex eine unionale Delegationsbefugnis angenommen werden. Der Verweis auf die gesetzgeberische Delegationsintention offenbart sodann funktionale Erwägungen, die das System der Verwaltungsentscheidung betreffen oder an die normativ identifizierbare Unbestimmtheit des bereitgestellten materiellen Rechts anknüpfen.272 Freilich kann hierin eine Zuweisungstechnik erkannt werden. Es handelt sich allerdings um ein vorschnelles Abfinden mit der Einwirkung auf das nationale Gewaltenverhältnis durch den Unionsgesetzgeber.273 Die Übertragung begrenzter Rechtsetzungsbefugnisse bedeutet nicht den unmittelbaren Verzicht auf jegliche nationalstaatliche Souveränität zu Gunsten eines supranationalen Ordnungsrahmens. Bereits angesichts der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich eine Identitätskontrolle und Ultra-vires-Kontrolle vorbehält,274 sind souveränitätsabträgliche Unionsrechtsakte im Wirkbereich der garantierten verfassungsrechtlichen Gewaltenverhältnisse und der Grundrechte stets zu diskutieren. Weiterhin ist davon auszugehen, dass die nun primärrechtliche Fixierung der 270

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1, 23; BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08, Rn. 25, NVwZ 2012; Schmidt-Aßmann, in: Maunz /  Dürig, Art. 19 Abs. 4 Rn. 185; Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 217 ff.; Eichberger, NVwZ-Beilage 2013, S. 18, 21; Knauff, in: Gärditz, § 114 Rn. 32; Schenke / Ruthig, in: Kopp / Schenke, § 114 Rn.  23; Wahl, NVwZ 1991, S. 410 ff.; Hill, NVwZ 1989, S. 407 f.; Gerhardt, NJW 1989, S. 2234; Huber, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, Art. 19 Abs. 4 Rn. 514; Papier, HdBStR VI, § 154 Rn. 65 f.; Tettinger, in: DVBl. 1982, S. 421; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 79 f., 96 f.; Kind, DÖV 1988, S. 680 f.; Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, § 40 Rn.  161 ff.; Schoch, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-­A ßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, § 50, Rn. 258 ff. 271 Vgl. Jestaedt, in: Ehlers / P ünder Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 III 2 Rn. 21 ff.; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1006; Schoch, Jura 2004, S. 612, 614. 272 Zu letzterem den heuristischen Wert hervorhebend, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 378; bloße Indizwirkung bereits in Teil 2 C. 273 Verfahrensautonomie hervorhebend, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 81; Heller, EWerk 2012, S. 50, 53; Ludwigs, DV 44 (2011), S. 41, 48; Ludwigs, JZ 2009, S. 290, 294; Proelss, AöR 136 (2011), S. 402, 424; Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 172 f.; auch der EuGH, Urteil vom 21. 01. 1999 – Rs. C-120/97, Upjohn, Rn. 29, 32 f.; BVerwG, Urteil vom 09. 05. 2012, 6 C 3.11, Rn. 36, BVerwGE 143, 87; anders dagegen BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20, NVwZ 2016, 161. 274 BVerfG, Beschluss vom 29. 05. 1974 – 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271; BVerfG, Beschluss vom 22. 10. 1986 – 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

265

Verfahrensautonomie in Art. 291 Abs. 1 AEUV nicht ohne weiteres erfolgt und einen partiellen Souveränitätserhalt der Mitgliedstaaten zum Ausdruck bringt.275 Schließlich ist diese primärrechtliche Position mit den ebenfalls geltenden Äquivalenz- und Effektivitätsprinzipien (Art.  10 EUV) abzuwägen.276 Bei Erreichen der Ausbalancierung dieser Positionen zu Gunsten eines unionalen Kontrolldichtezugriffs muss sich das hervorgebrachte unionale Letztentscheidungsrechtskonzept mustergültig an den deutschen und unionalen Rechtsschutzgarantien (Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 47 GRCh) messen lassen.277 b) Der Grundsatz der Verfahrensautonomie Primärargument gegen unionale Beeinflussung der Kontrolldichte der deutschen Gerichte ist der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie.278 Der unionsgerichtlich konstatierte Grundsatz der Verfahrensautonomie besagt, dass die Einzelheiten des Verfahrens Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats sind, sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzprinzip) und die Ausübung der von der Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip).279 Die rein oberflächliche Analyse der Begrifflichkeit „Verfahrensautonomie“ vermittelt bereits eine Selbständigkeit der Mitgliedstaaten bei der Handhabe des Verfahrens in unionsrechtlichen Angelegenheiten.280 275

v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 127; Scheuner, DÖV 1963, S. 71. Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 306; normativen Charakter bejahend Galetta, EuR-Beiheft 2012, S. 37; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der EU, S. 37 ff., 133 ff.; Stettner, in: Dauses / Ludwigs, EU-WirtschaftsR-HdB, Bd III, Rn. 9 f.; a. A. Bobek, in: Micklitz / De Witte, S. 305; Kakouris, CMLR 34 (1997), S. 1389, 1394 f., 1405 f.; Schroeder, AöR 129 (2004), S. 3, 37. 277 Zu Recht kritisch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 81; Gärditz, N&R Beilage 2 (2011), S. 1, 9; Romes, Supranationale Intervention in nationalen Regulierungsverfahren, S. 104 ff.; mit einer ehrlichen Bewertung VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; dagegen demokratische Kontrollverantwortung verkennend, BVerwG, Urteil vom 02. 04. 2008  – 6 C 15.07, Rn. 19 ff., BVerwGE 131, 41 sowie zuletzt BVerwG, Urteil vom 17. 9. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20, NVwZ 2016, 161; Art. 19 Abs. 4 GG könne wohl auch nicht über Art. 79 Abs. 3 GG entgegengehalten werden siehe Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 415. 278 Allgemein Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 12 ff., 30 f.; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420. 279 So EuGH, Urteil vom 16. 12. 1976  – 33/76, Rewe / Landwirtschaftskammer Saarland, Rn. 5; EuGH, Urteil vom 21. 01. 1999 – Rs. C-120/97, Upjohn, Rn. 29, 32 f.; EuGH, Urteil vom 07. 01. 2004 – Rs. C-201/02, Wells, Rn. 65, 67; EuGH, Urteil vom 28. 02. 2018 – Rs. C-387/16, Nidera BV, Rn. 22; EuGH Urteil vom 14. 09. 2010 – Rs. C-550/07 P, Akzo Nobel Chemical, Rn. 113; EuGH, Urteil vom 22. 02. 2018 – Rs. C-572/16, INEOS, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170. 280 Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 18. 276

266

Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

aa) Reichweite des „Verfahrens“ in relevanten Ausnahmefällen Die begriffliche Dimension und die Definition des Grundsatzes und seiner Ausnahmefälle schaffen allerdings Konkretisierungsbedürfnisse.281 Fraglich ist in diesem Kontext die Reichweite des Begriffs „Verfahren“. Wird in den Ausnahmefällen lediglich die Anpassung des Verwaltungsverfahrens forciert oder ist etwa ebenfalls das Verwaltungsprozessrecht betroffen? Im Vorfeld der Untersuchung hat sich bereits der unionale Stellenwert von Rechtsterminologien gegenüber dem deutschen Recht relativiert.282 Hinsichtlich des Verfahrensverständnisses innerhalb des Grundsatzes der Verfahrensautonomie ist dies im Fall des Verfahrens und Verfahrensrechts nicht anders.283 Das unionale Verständnis der möglichen Einwirkungsfelder und Reichweite des Verfahrens kann an national gebilligten bzw. unional auferlegten Modifikationen innerstaatlicher Normen nachgezeichnet werden. Die Stärkung des Verfahrensrechts durch die unionalen Prozeduralisierungsbestrebungen, die eine Modifikation der §§ 45 ff. VwVfG herbeiführten, zeigen die Ausnahmen des Grundsatzes der Verfahrensautonomie zu Gunsten des Verwaltungsverfahrens.284 Die formelle Wirkung zeigt ebenfalls die unionale Weichzeichnung des Prinzips des Vertrauensschutzes, das in den §§ 48 ff. VwVfG mit der Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen austariert wurde.285 Erfasst wird allerdings nicht nur das Verwaltungsverfahren als solches, sondern zusätzlich die Verwaltungsorganisation und das Verwaltungsprozessrecht.286 Anführen lassen sich zusätzlich materiell unzureichende Maßstäbe im Telekommunikationsrecht, die eine – demokratieabträgliche – Verselbstständigung der Verwaltungsorganisa 281

Siehe Teil 2 B. I. 2. Siehe dazu etwa Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 15; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1418; Stelkens, EuR 2012, S. 511 f.; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  125 ff.; Kahl, in: Callies / Ruffert, EUV / A EUV, Art. 4 EUV Rn. 61; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 302 f. insb. Fn. 895. 283 Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 15; Schwarze, NVwZ 2000, S. 241, 244; darstellend Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420 f.; EuR 2012, S. 511, 526 f.; Classen, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 197 Rn. 28 ff. 284 Vgl. EuGH, Urteil vom 15. 10. 2015 – Rs. C-137/14, Kommission / Deutschland, Rn. 79; siehe dazu Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420 f.; ebenfalls Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 85, 86; Guckelberger, Deutsches Verwaltungsprozessrecht unter unionsrechtlichem Anpassungsdruck, S. 163 f. 285 Zur Rückforderung von Beihilfen der Union, EuGH, Urteil vom 21. 09. 1983 – Rs. 205– 215/82, 205/82, 206/82, 207/82, 208/82, Rn. 27 ff., Deutsche Milchkontor; EuGH, Urteil vom 12. 05. 1998, Rs. C-366/95, Steff-Houlberg-Export, Rn. 14 ff.; EuGH, Urteil vom 16. 07. 1998, Rs. C-298/96, Oelmühle und Schmidt Söhne, Rn. 23 ff.; zu staatlichen Beihilfen EuGH, Urteil vom 20. 09. 1990, Rs. C-5/89, Kommission / Deutschland, Rn. 13 ff.; EuGH, Urteil vom 20. 03. 1997  – Rs. C-24/9, Alcan, Rn. 25 ff.; Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen vgl. EuGH, Urteil vom 13. 01. 2004, Rs. C-453/00, Kühne & Heitz, Rn. 20 ff.; EuGH, Urteil vom 16. 03. 2006, Rs. C-234/04, Kapferer, Rn. 19 ff.; EuGH, Urteil vom 14. 01. 2010, Rs. C-226/08, Stadt Papenburg, Rn. 45 ff.; dazu Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 243 ff. 286 Siehe Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 15; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1418; Stelkens, EuR 2012, S. 511 f.; Stelkens, in: Stelkens /  282

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

267

tion innerhalb der Gewalten hervorbringen und hervorbringen sollen.287 Darüber hinaus wurde im unionalen Bereich der nationale Gerichtszugang modifiziert.288 Möglichkeiten der unionalen Einwirkung ergeben sich auch über materiell-rechtliche Verflechtungen, so etwa im Bereich des Staatshaftungsrechts, dessen Instrumentalisierung zur Sanktionierung von Unionsrechtsverstößen dient.289 Unter Berücksichtigung, dass das Unionsrecht kein lückenloses System zur Wahrung und Durchführung des Unionsrechts bereitstellt, wird grundsätzlich nur eine über das formelle Verständnis hinausgehende Interpretation von „Verfahren“ und „Verfahrensrecht“ eine Sicherstellung der homogenen Anwendung sowie Durchführung des Unionsrechts in allen mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen bewirken.290 Dies erfolgt über die unionale Instrumentalisierung und Indienstnahme des nationalen Rechts.291 Nicht umsonst wird vereinzelt von der „Verwaltungsautonomie“ gesprochen.292 Die daraus resultierende formelle und materielle Reichweite des unionsrechtlichen Vorzugs betonte bereits der EuGH: „Im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen, auf denen das institutionelle System der Gemeinschaft beruht und die die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und den MitBonk / Sachs, EuR, Rn.  125 ff.; Kahl, in: Callies / Ruffert, EUV / A EUV, Art. 4 EUV Rn. 61; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 302 f.; erweitertes Verständnis schon erkennbar in EuGH, Urteil vom 21. 01. 1999 – Rs. C-120/97, Upjohn, Rn. 29, 32 f.; ausdrücklicher in EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170. 287 Siehe Teil 4 A. I. 3. und 4.; im Telekommunikationsregulierungsrecht EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Rs. Arcor, Rn. 170; EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Ls. 1, Kommission / Deutschland, Rn. 38 ff., 74, 91; zum Datenschutzbeauftragten, EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-518/07, Rn. 42 ff., 296; zu Recht kritisch Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 507 ff. 288 Etwa EuGH, Urteil vom 07. 11. 2013 – Rs. C-72/12, Altrip, Rn. 21 ff.; EuGH, Urteil vom 12. 05. 2011  – Rs. C-115/09, Trianel, Rn. 35 ff.; darstellend Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 4 ff.; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1421 f. 289 So explizit: „Der Gerichtshof hat außerdem klargestellt, dass vorbehaltlich des Anspruchs auf Entschädigung, der seine Grundlage auf diese Weise unmittelbar im Unionsrecht hat, wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, der Staat die Folgen des entstandenen Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben hat, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen nicht weniger günstig sein dürfen als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).“ vgl. EuGH, Urteil vom 26. 01. 2010  – Rs. C-118/08, Transportes Urbanos y Servicios Generales, Rn. 31 ff.; bereits in EuGH, Urteil vom 19. 11. 1991  – Rs. C-6/90, Francovich, Rn. 41 ff.; EuGH, Urteil vom 30. 09. 2003 – Rs. C-224/01, Köbler, Rn. 58 ff.; richtig daher Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 14; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1419. 290 Auch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 13 f., 20 ff.; Eilmansberger, Rechtsfolgen und subjektives Recht im Gemeinschaftsrecht, S. 19 ff. 291 „Indienstnahme“ bei Schmidt-Aßmann, in: Isensee / K irchhof, HbdStR, Bd. V, § 109 Rn. 40.63; „Instrumentalisierung“ bei Scheuing, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann, Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, S. 289 ff. 292 Siehe Stelkens, EuR 2012, S. 511 f.; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  125 ff.; Kahl, in: Callies / Ruffert (Hrsg.), EUV / A EUV, Art. 4 EUV Rn. 61; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 302 f.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

gliedstaaten beherrschen, ist es gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag Sache der Mitgliedstaaten, in ihrem Hoheitsgebiet für die Durchführung der Gemeinschaftsrechtregelungen […] zu sorgen. Soweit das Gemeinschaftsrecht einschließlich der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze hierfür keine gemeinsamen Vorschriften enthält, gehen die nationalen Behörden bei dieser Durchführung der Gemeinschaftsregelungen nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts vor […].“293

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Reichweite sich somit in formeller und materieller Hinsicht an den vertraglich übertragenen Rechtsetzungskompetenzen ausrichtet.294 Mit Rückgriff auf den Grundsatz der Gesetzesakzessorietät der Kontrolldichte wird man daher den unionalen Kontrolldichtezugriff zunächst über die materiell-rechtliche Instrumentalisierung zu Gunsten der unionalen Durchführung verwirklicht sehen.295 bb) Rechtsnatur der Verfahrensautonomie Im Vorfeld ist damit lediglich die mögliche Auswirkungsreichweite des Unionsrechts auf die Verfahrensautonomie skizziert.296 Darüber hinaus müssen zusätzlich die Grenzen eines etwaigen Regel-Ausnahme-Verhältnisses definiert werden. Vorrangig ist hierfür zunächst die Klassifizierung der Rechtsnatur der Verfahrensautonomie. Von der Rechtsnatur ist schließlich auf die Anstrengungen zu schließen, die das Unionsrecht aufwenden muss, um rechtsdogmatisch etablierte Strukturen innerstaatlicher Rechtsordnungen umzukrempeln.297 Die Rechtsnatur des Grundsatzes der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ist allerdings umstritten.298 Den Meinungsverschiedenheiten liegen ein divergierendes Verständnis und eine Instrumentalisierung des Art. 291 AEUV zugrunde.299 In dem untersuchungsrelevanten Kontext sieht Wendel den Grundsatz der Verfahrensautonomie lediglich als einen rechtsempirischen Normalfall, den Art. 291 Abs. 1 AEUV als rein institutio 293

Vgl. EuGH, Urteil vom 21. 09. 1983 – Rs. 205–215/82, 205/82, 206/82, 207/82, 208/82, Deutsche Milchkontor, Rn. 17. 294 Zuzustimmen Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 13 f., 20 ff. 295 Zur Gesetzesakzessorietät Teil 4 A. I. 1. 296 „Einwirkungsfelder“ bei Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420 ff. 297 Mithin die „Intensität solcher Zugriffe“, Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 17, 222 ff.; Möllers, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 489, 505 f., 511 f.; Möllers, EuR 2002, S. 483 (502); Möllers, in: Schmidt-Aßmann / Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 293, 307; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 304, 467; Rechtfertigungsbedürfnisse für Eingriffe vorhaltend etwa v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 304, 467; Ladenburger, in: Trute / Gross / Möllers / Röhl, Herausforderungen an das Allgemeine Verwaltungsrecht, S. 107 ff. 298 Darstellend Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  125 ff. 299 Vgl. Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 63 ff.; Stelkens, EuR 2012, S. 511 f.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

269

nelle Bestimmung aufgreife und der keine konstitutive Einwirkung auf die Kompetenzverteilung zwischen Unionsorganen und den Mitgliedstaaten habe.300 Andere sehen hingegen eine normativ verankerte Identitätsgarantie der mitgliedstaatlichen Verfahrens- und Verwaltungsordnungen, welche in Ausnahme- und Sonderfällen eine konsolidierte Durchführungsrechtsetzung des geltenden Unionsrechts regle.301 (1) Lesart als Kompetenzverteilungsregelung Verfechter der Lesart als garantierte Kompetenzverteilungsnorm berufen sich vor allem auf den Wortlaut des Art. 291 Abs. 1 AEUV und das Verhältnis zu Art. 291 Abs. 2 AEUV. Danach heißt es: „(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht. (2) Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen und in den in den Artikeln 24 und 26 des Vertrags über die Europäische Union vorgesehenen Fällen, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen.“

Losgelöst von der normativen Einbettung der Norm delegiere Abs. 1 die Kompetenz zur Durchführung des verbindlichen Unionsrechts an die Mitgliedstaaten. Dies gelte erst recht, wenn die Vorgängernorm Art. 202 in EG a. F. in Erinnerung gerufen werde, die im dritten Spiegelstrich nur eine horizontale Kompetenzverteilung zwischen Kommission und Rat geregelt hat. Abs. 2 statte die Kommission in begründeten Ausnahme- bzw. Sonderfällen mit Rechtsetzungsbefugnissen zur Sicherstellung einer einheitlichen Durchführung des Unionsrechts aus.302 Gerade die Verwendung des Wortlauts „übertragen“ spreche dann für einen normativen Kompetenzzuweisungsakt. Abs. 1 und Abs. 2 formen dann ein Regel-AusnahmeVerhältnis.303 An dieser Stelle steche das Subsidiaritätsprinzip durch.304 300

Als „tendenzbeschreibende Grundaussage“ deklarierend Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 89, 90 f.; siehe ähnlich Schoch, DV, Beiheft 2 (1999), S. 135, 136; Haapaniemi, in: Ervo / Gräns / Jokela, Europeanization of Procedural Law and the New Challenges to Fair Trial, S. 87, 119. 301 Als Quasi-Grundrecht vor Identitätsverlust, vgl. v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 127, 304 ff.; v. Danwitz, DVBl. 1998, S. 421, 430 ff.; Goeters, in: FS Walther-SchückingInstitut für Internationales Recht, S. 851, 854; Eliantonio / Muir, REALaw 8 (2015), S. 177, 181; Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 102 f.; Becker, CMLR 44 (2007), S. 1035, 1036 f. 302 Schütze, CMLR 47 (2010), S. 1385, 1398. 303 Ruffert, in: Callies / Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, Art. I–37 EVV Rn. 2; König, Der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, 2011, S. 35; Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 5 Rn. 19. 304 Ruffert, in: Callies / Ruffert, Verfassung der Europäischen Union, Art. I–37 EVV Rn. 2; bejahend Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1419; dagegen Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 66.

270

Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

(2) Lesart als institutionelle Bestimmung Dagegen werde die systematische Stellung der Norm im ersten Titel des sechsten Teils des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union angeführt. Es handle sich dort um „Vorschriften über die Organe“. Also „Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften“, wo die Vorschriften über die Rechtsakte der Union, das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, die delegierten Rechtsakte und über die Annahme von Empfehlungen (Art. 288 bis Art. 292 AEUV) geregelt seien. Es sei systemwidrig, die Kompetenzverteilung zwischen diesen institutionellen Bestimmungen zu regeln.305 Gleichzeitig werde der Wortlaut ebenfalls gegen eine konstitutive Wirkung des Art. 291 AEUV angeführt. So komme in der englischen oder französischen Sprachfassung besser zum Ausdruck, dass es sich mehr um eine festgehaltene Durchführungspflicht der Mitgliedstaaten handle, als um eine Durchführungsbefugnis.306 Art. 291 AEUV sei neben der in Art. 288 Abs. 3 AEUV normierten Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien eine Spezialnorm zu den allgemeinen Handlungspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Union in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV.307 Krönke sieht daher in Art. 291 Abs. 2 AEUV keine Abweichung von der bestehenden vertraglichen Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Abs. 2 verlange vielmehr eine an Art. 202 Spiegelstrich 3 EG ausgerichtete horizontale Interpretation der Kompetenzverteilung zwischen der nach den Verträgen zur Rechtsetzung befugten Legislative und der sodann Durchführungsrechtsakte erlassenden Exekutive. Art. 291 Abs. 2 AEUV sei des Weiteren dahingehend zu verstehen, dass der Unionsgesetzgeber nur Durchführungsbefugnisse an die Exekutive übertragen kann, die ihm aufgrund der Verträge zustünden.308 Hinter diesen Übertragungsfällen stehe im jeweiligen Einzelfall der Effet utile-Grundsatz.309

305

Stelkens, EuR 2012, S. 511, 531 f.; Stelkens, Art. 291 AEUV, das Unionsverwaltungsrecht und die Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten, S. 25, entsprechende Argumentation für Art. 197 AEUV, S. 30. 306 Vergleich zwischen den Sprachfassungen bei Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 64. 307 So etwa Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 64; Vedder, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 291 AEUV Rn. 1; Kotzur, in: Geiger / K han / Kotzur, EUV / A EUV, Art.  291 AEUV Rn.  1. 308 Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 65; bzgl. Der Sachkompetenz deckungsgleich Stelkens, EuR 2012, S. 511, 532 ff.; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenensystem, S. 91. 309 Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 66; Vedder, in: Vedder / Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 291 AEUV Rn. 9; Kotzur, in: Geiger / K han / Kotzur, EUV / A EUV, Art.  291 AEUV Rn.  2.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

271

(3) Abwägungspflicht im Einzelfall Der Einführung von Art. 291 und Art. 197 AEUV wird zu Unrecht ein höherer Stellenwert in Bezug auf Art. 291 Abs. 1 AEUV eingeräumt. Die Rechtslage sollte dahingehend nicht verändert,310 sondern die bisherige Rechtsanwendungspraxis des EuGH klargestellt werden. Danach bringen die mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtssysteme das Unionsrecht nach ihren eigenen innerstaatlichen Regelungen in Verkehr.311 Dies zeigt sich schon daran, dass der EuGH unbeirrt von der (Klarstellungs-)Kodifikation der Art. 291 und Art. 197 AEUV seiner bisherigen Rechtsprechungslinie treu bleibt.312 Allerdings kann ein rechtlicher Gleichklang in der Europäischen Union wohl kaum erreicht werden, wenn vermeintliche mitgliedstaatliche Identitätsfaktoren stets einer Europäisierung entgegenhalten werden.313 Dies bedeutet, dass sachbereichsspezifische und der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie unterfallende Verfahrens- und Verwaltungsregelungen im Kollisionsfall von Unionsrecht und nationalem Verwaltungsrecht modifiziert oder unberücksichtigt gelassen werden können,314 solange diese sich im Sachbereich der originären Rechtsetzungskompetenz befinden.315 Allerdings kann die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten nicht grenzenlos übergangen werden.316 Es handelt 310

Vgl. v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 304; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 68. 311 Mager, in: Trute / Groß / Röhl / Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 369, 378 f.; Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, § 5 Rn. 19; Gärditz, DÖV 2010, S. 453, 461. 312 Unter anderem EuGH, Urteil vom 04. 10. 2012 – Rs. C-249/11, Byankov, Rn. 49 ff.; EuGH, Urteil vom 06. 10. 2015  – Rs. C-69/14, Tarsia, Rn. 26 ff.; EuGH, Urteil vom 20. 06. 2016  – Rs. C-200/14, Campean, Rn. 37 ff.; EuGH, Urteil vom 13. 04. 2010 – Rs. C-91/08, Wall, Rn. 63 ff.; EuGH, Urteil vom 18. 10. 2011  – Rs. C-128/09–C-131/09, C-134/09, C-135/09, C-128/09, C-129/09, C-130/09, Roua, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 28. 02. 2012, Rs. C-41/11, Inter-Environment Wallonie, Rn. 42 ff.; EuGH, Urteil vom 16. 02. 2012, Rs. C-182/10, Solvay, Rn. 47 ff.; EuGH, Urteil vom 14. 03. 2013 – Rs. C-420/11, Leth, Rn. 38 ff.; EuGH, Urteil vom 06. 10. 2015 – Rs. C-61/14, Orizonte Salute, Rn. 42 ff.; EuGH, Urteil vom 17. 03. 2016  – Rs. C-161/15, Rs. Bensada Benallal, Rn. 23 ff.; EuGH, Urteil vom 13. 10. 2016 – Rs. C-231/15, Prezes Urzedu Komunikacji Elektronicznej und Petrotel, NVwZ 2017, 299, Rn. 23 ff.; EuGH, Urteil vom 08. 05. 2014  – Rs. C-604/12, HN, Rn. 50 ff.; zutreffend Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn. 127, 139. 313 Sog. „Europarechtsfestigkeit“, Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; in diesem Sinne Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  125 ff.; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 535. 314 Siehe Kahl, VerwArch 95 (2004), S. 1, 9; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 220 ff., insb. 239. 315 So auch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 65; bzgl. der Sachkompetenz deckungsgleich Stelkens, EuR 2012, S. 511, 532 ff.; wohl auch Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenensystem, S. 91. 316 Etwa bei harten Identitätsfaktoren betreffend rechtstaatlich-demokratischer Strukturen, im Hinblick auf die Maastricht- und Lissabon- Rechtsprechung sowie der Haltung des BVerfG zu dem unional modifizierten § 48 VwVfG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. 02. 2000 – 2 BvR 1210/98, NJW 2000, 2015) zutreffend, Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 540; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn. 140; bei relevanten nationalen Identitätsfaktoren wohl weniger restriktiv v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 304, 306 ff.; lediglich eine bereichsspezifische Auslegung der konkreten Sachkompetenz fordernd, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 91.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

sich um einen Grundsatz, auf den sich die Mitgliedstaaten im Bereich unverhältnismäßiger Intervention durch die Union „berufen“ können.317 (a) Abwägungsrelevante Positionen Dem Unionsgesetzgeber ist damit die Abwägungsaufgabe hinsichtlich der primärrechtlich verankerten Prinzipien aufgetragen, die der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung hat durchblicken lassen. An der Rechtsprechung des EuGH lässt sich ausmachen, dass es sich um Positionen handelt, die stets „in Einklang“ zu bringen sind.318 Dies demonstriert folgender Dreischritt: „Daher ist es Sache der zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle erforderlichen allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen […].319 Begrenzt durch den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, sind derartige Maßnahmen […] durchzuführen.“320

(1.) Zur Umsetzung des Rechts sind alle erforderlichen innerstaatlichen Maßnahmen zu treffen. Damit beschränkt sich der unionale Zugriff nicht nur auf das besondere Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten, sondern auch auf das allgemeine Verwaltungsrecht. Derartige Erfordernisse sind im ersten Schritt allerdings durch den Grundsatz der Verfahrensautonomie beschränkt. Dadurch können Normenkonflikte eintreten, die eine Kollision hervorrufen.321 Diese Kollision versucht der EuGH dergestalt aufzulösen:

317 „Daraus ergibt sich, dass zwei kumulative Voraussetzungen, nämlich die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes und des Effektivitätsgrundsatzes, erfüllt sein müssen, damit sich ein Mitgliedstaat in Situationen, die dem Unionsrecht unterliegen, auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie berufen kann.“ siehe in EuGH, Urteil vom 17. 03. 2016 – Rs. C-161/15, Bensada Benallal, Rn. 25. 318 Richtig Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; bereits Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 133 ff., 239 ff. 319 Passus bereits in EuGH, Urteil vom 24. 10. 1996 – Rs. C-72/95, Kraaijeveld, Rn. 61; klarstellend nun in Art. 291 Abs. 1 AEUV: „Die Mitgliedstaaten ergreifen alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht.“ 320 EuGH, Urteil vom 07. 01. 2004 – Rs. C-201/02, Wells, Rn. 65, 67, ebenfalls aufgegriffen in Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott, EuGH, Urteil vom 08. 09. 2016 – Rs. C-348/15, Rn. 25; darüber hinaus plädierend: „Diese Anforderungen sollen ein Gleichgewicht herstellen zwischen dem Erfordernis, die verfahrensrechtliche Autonomie der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu wahren, und dem Erfordernis, den wirksamen Schutz von Gemeinschaftsrechten vor den nationalen Gerichten zu gewährleisten.“ in Schlussanträgen Generalanwalt Jacobs, EuGH, 15. 06. 1995 – Rs. C-430/93, van Schijndel, Rn. 18; vgl. v. Danwitz, Europä­ isches Verwaltungsrecht, S. 489 f. a. E. 321 Begriffliche Determinierung in Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 133 ff. zu Konflikten zwischen Unionsrecht und mitgliedstaat­ lichem Recht S. 172.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

273

„Zum einen fällt nämlich die Durchführung des […] Anspruchs […] grundsätzlich in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten; dies ändert jedoch nichts daran, dass diese Autonomie durch die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt wird.“322 „Somit kommt es in Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften in Bezug auf die Verfahrensmodalitäten für die Stellung und die Prüfung eines Antrags […] nach ständiger Rechtsprechung der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats zu, diese Modalitäten im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie zu regeln, wobei sie jedoch nicht ungünstiger sein dürfen als die Modalitäten, die für gleichartige interne Sachverhalte gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz).“323

(2.) In derartigen Kollisionsfällen stehen dem Grundsatz der Verfahrensautonomie das Äquivalenz- und das Effektivitätsprinzip gegenüber.324 Daraus erwächst ein Spannungsfeld. Diese Positionen versucht der EuGH sodann im Rahmen einer Abwägung in Einklang zu bringen. Zunächst müssen das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip ausgelegt werden, um zu ermitteln, was diese im Einzelnen leisten können und sollen.325 Des Weiteren sind lediglich die praktische Unmöglichkeit und die übermäßige Erschwernis des Unionsrechts durch das mitgliedstaatliche Verfahren sowie einer Ungleichheit innerstaatlicher Modalitäten zu tadeln. Hierbei handelt es sich um semantische Hüllen, die im Einzelfall durch das spezifische materielle Recht auszufüllen sind. Letztlich wird ein Auslegungsaufwand erzeugt.326 An dieser Stelle ist der Einfluss unionaler Prinzipien in die vorzunehmende Gesamtabwägung freilich nicht beendet, sondern vielmehr eröffnet. Über das Effektivitätsprinzip fließen ebenfalls andere relevante Parameter der Unionsrechtsordnung wie beispielsweise die Unionsgrundrechte und die rechtsstaatlichen Grundsätze des Unionsrechts ein:327

322

Vgl. EuGH, Urteil vom 28. 02. 2018 – Rs. C-387/16, Nidera BV, Rn. 22; EuGH, Urteil vom 12. 05. 2011 – Rs. C-107/10, Enel Maritsa Iztok, Rn. 29. 323 Vgl. EuGH Urteil vom 22. 02. 2018 – Rs. C-572/16, INEOS, Rn. 42; ähnlich EuGH, Urteil vom 14. 09. 2010 – Rs. C-550/07 P, Akzo Nobel Chemical, Rn. 113. 324 Dörr, Der europäische Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 49; zu dieser Überprüfung innerstaatlich anregend etwa BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 07. 2019  – 2 BvR 1702/18, Rn. 35, NVwZ 2019, 1594. 325 Vgl. EuGH, Urteil vom 20. 10. 2016 – Rs. C-429/15, Danqua, Rn. 30, 38 ff.; EuGH, Urteil vom 28. 01. 2015  – Rs. C-417/13, ÖBB, Rn. 62 ff., 71 ff.; EuGH, Urteil vom 10. 04. 2003  – Rs. C-276/01, Steffensen, Rn. 66. 326 Für das Effektivitätsprinzip von einem zusätzlichen Abwägungsaufwand sprechend, Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 230; ­Niedobitek, VerwArch 92 (2001), S. 58, 75 f.; Nettesheim, in: GS für Grabitz, S. 447 ff.; Streinz, in: FS Everling, Bd. II, S. 1491 ff.; kritisch Schoch, in: FG 50 Jahre BVerwG, S. 507, 512; ­Biaggini, Theorie und Praxis des Verwaltungsrechts im Bundesstaat, S. 330 f.; Kahl, VerwArch 95 (2004), S. 1, 15; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. CVf.; v. Danwitz, Europä­ isches Verwaltungsrecht, S. 489. 327 Zutreffend daher, Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europä­ ischen Union, S. 206 ff., 233.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

„Zum einen fällt nämlich die Durchführung des […] Anspruchs auf Erstattung […] in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten […]. Ferner müssen die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung bei der Durchführung von Unionsregelungen den Grundsatz des Vertrauensschutzes beachten.“328 „Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Grundrechte nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. […] Da es im vorliegenden Fall um die Beachtung des durch das Gemeinschaftsrecht garantierten Rechts auf Einholung eines Gegengutachtens und die Frage geht, welche Auswirkungen eine Verletzung dieses Rechts auf die Zulässigkeit eines Beweismittels im Rahmen eines Rechtsbehelfs hat, wie er im Ausgangsverfahren eingelegt wurde, fallen die anwendbaren nationalen Beweisregeln in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Mithin müssen diese Beweisregeln den Anforderungen genügen, die sich aus den Grundrechten ergeben. […] Im vorliegenden Fall ist insbesondere das Recht auf ein faires Verfahren vor einem Gericht zu berücksichtigen, wie es in Artikel 6 Absatz 1 EMRK niedergelegt und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt worden ist.“329

Ist dieser Auslegungsaufwand bewältigt und fällt die Abwägung zu Gunsten des Äquivalenzprinzips oder des Effektivitätsprinzips aus, kann das Unionsrecht auf das mitgliedstaatliche Verwaltungsrecht einwirken und bestimmte Vorschriften des allgemeinen und des besonderen Verwaltungsrechts modifizieren. Für die in Rede stehende Abwägung betrachtet der EuGH die nationale Vorschrift im Gesamtkontext des nationalen Verwaltungsrechtssystems:330 „Für die Anwendung dieser Grundsätze ist jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens.“331

(3.) Die Einwirkung auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie durch das Effektivitätsprinzip oder das Äquivalenzprinzip sowie daran angehängte Parameter sind berechtigterweise nicht grenzenlos. Der vermutete unionsgerichtliche Auslegungsspielraum bezüglich des Effektivitätsprinzips, der einen ungehemmten unionalen Einfluss auf innerstaatliche Regelungen des allgemeinen Verwaltungs-

328

EuGH, Urteil vom 12. 05. 2011 – Rs. C-107/10, Enel Maritsa Iztok, Rn. 29; begründet in EuGH, Urteil vom 11. 05. 2002 – Rs. C-62/00, Marks & Spencer, Rn. 43–47. 329 Vgl. EuGH, Urteil vom 10. 04. 2003 – Rs. C-276/01, Steffensen, Rn. 66, insb. 69–72. 330 Als Gesamtabwägungsprüfung beschreibend, Herrmann / Kruis, EuR 2007, S. 141, 143; als Gesamtabwägung Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 238. 331 Vgl. EuGH, Urteil vom 10. 04. 2003  – Rs. C-276/01, Steffensen, Rn. 66, inbs. 69–72; EuGH, Urteil vom 14. 12. 1995 – Rs. C-430, Rs. C-431/93, van Schijndel, Rn. 19; EuGH, Urteil vom 14. 12. 1995 – Rs. C-312/93, Peterbroeck, Rn. 14.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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rechts erlaube, ist damit zunächst zu relativieren.332 Bereits die Abwägungsaufgabe vermittelt die Notwendigkeit einer im Ergebnis anhaltenden Verhältnismäßigkeit bei der nachhaltigen Modifikation der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie. Unter Berücksichtigung, dass die grundsätzliche Befugnis des Unionsgesetzgebers, sachbereichsspezifisch innerstaatliche Regelungen zu modifizieren, originär aus der jeweiligen Sachkompetenz entspringt,333 ist es nur konsequent, die entsprechenden Grenzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 und Abs. 4 EUV für die Kompetenzausübung zu ziehen.334 Das bedeutet: Wenn die Abwägung ergibt, dass eine Modifizierung der innerstaatlichen Regelungen zu Gunsten unionaler Grundsätze stattfinden soll, verbleiben zwingende und wichtige Kontrollfragen des „Ob“ (Subsidiaritätsprinzip) sowie des „Wie“ (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) unionaler Einflussnahme.335 Als Notanker mitgliedstaatlicher Volkssouveränität müssen diese Kontrollfragen für eine unionale Einflussnahme zu Gunsten des Unionsrechts beantwortet werden, da es ansonsten an einem hinreichenden demokratischen Legitimationsniveau mangelt.336 (b) Grenzen der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie Somit stellt sich sowohl aus unionaler als auch aus nationaler Perspektive die höchst interessante Kardinalfrage, wann die in Art. 291 AEUV niedergelegte grundsätzliche Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten zu sehr beeinträchtigt wird. Gelingt eine Umschreibung, kann der Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie als Abwehrargument gegen eine unionsrechtswidrige Intervention dienen.337 Unter Berücksichtigung des Grundsatzes loyaler Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verbietet sich eine Umfunktionierung des Grundsatzes 332

Siehe Biaggini, Theorie und Praxis des Verwaltungsrechts im Bundesstaat, S. 330 f.; Kahl, VerwArch 95 (2004), S. 1, 15; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. CVf.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 489 f. 333 Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 65; bzgl. der Sachkompetenz deckungsgleich Stelkens, EuR 2012, S. 511, 532 ff.; scheinbar Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenensystem, S. 91; wohl auch Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420. 334 So auch Stelkens, EuR 2012, S. 511, 532 ff.; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 238 f.; Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; möchte man dagegen Art. 291 Abs. 2 AEUV als Kompetenzverteilungsregelung begreifen ist Art. 5 Abs. 1 EUV als allgemeine Regelung für Grenze der Kompetenzausübung durch Unionsorgane ebenfalls anzuwenden. 335 Siehe Streinz, in: Streinz, EUV Art. 5 Rn. 43; Calliess, in: Ruffert / Calliess, EUV Art. 5 Rn. 43; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 70 ff., 78, 238. 336 Eindrucksvoll die Grenzen unionaler Kompetenzbetätigung aufzeigend, BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, NJW 2020, 1647. 337 Siehe ausdrücklich in EuGH, Urteil vom 17. 03. 2016 – Rs. C-161/15 –, Bensada Benallal, Rn. 25.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

der Verfahrensautonomie zum Scheinargument gegen jeden noch so marginalen Europäisierungsschub.338 Bereits geltende europäische Modifikationen des allgemeinen Verwaltungsrechts zeigen, dass das deutsche Verwaltungsrecht auf derartige Einflüsse adäquat reagieren kann und keinesfalls unflexibel ist.339 Umso mehr erhärtet sich das Vorbringen in der Literatur, lediglich Identitätsfaktoren der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie vor unionaler Einflussnahme zu schützen.340 Für die mögliche Eingrenzung von Identitätsfaktoren im Verwaltungsrecht gibt die europarechtsfreundliche Rechtsprechung des BVerfG Anhaltspunkte. Nach dieser gelte lediglich bei der Verfassungsidentität gemäß Art. 79 Abs. 3 GG sowie bei einer Ultra-vires-Rechtsetzung ein verfassungsgerichtlicher Kontrollvorbehalt.341 „Die Identitätskontrolle betrifft autonome Bestimmung der Integrationsgrenzen des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts.“342 Durch eine Extraktion der zentralen Aussagen der Identitätskontrolle können die Integrationsgrenzen des Verwaltungsrechts nachgezeichnet werden. Radiziertes Ziel der Identitätskontrolle ist die Abschirmung der Verfassungsprinzipien, insbesondere der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung, vor unionaler Beeinflussung. Das BVerfG betont, dass das Grundgesetz durch die Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3  GG insbesondere auf historische Erfahrungen einer schleichenden oder abrupten Aushöhlung der freiheitlichen Substanz einer demokratischen Grundordnung reagiert.343 In Art. 79 Abs. 3 GG verbürgte Schutzgüter sind Art. 1 und Art. 20 GG und bilden damit den identitätsstiftenden Kern der Verfassung.344 Der garantierte Inhalt des Art. 1 Abs. 1 GG bezüglich der Grundrechte ist durch Auslegung der entsprechenden Grundrechtsnorm zu bestimmen.345 Des Weiteren werden die Grundsätze des Art. 20 GG (Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaat und Republik) jeder Änderung in ihrer prinzipiellen Qualität entzogen.346 338 Sog. „Europarechtsfestigkeit“, Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; in diesem Sinne Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  125 ff.; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 535; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), 154, 176; Wahl, JZ 2012, 861, 866 f.; pointiert Möllers, EuR 2002, S. 483, 501; Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, S. 422. 339 Etwa §§ 45 ff. VwVfG dazu Teil  4  A. I. 4. ff.; dazu Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D 83, 84. 340 Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; in diesem Sinne Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn. 125 ff.; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 535. 341 BVerfG, Urteil vom 30. 6. 2009, Az. BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09, Rn. 218, BVerfGE 123, 267. 342 Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 506. 343 BVerfG, Urteil vom 30. 06. 2009, Az. BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09, Rn. 218, BVerfGE 123, 267. 344 Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG Art. 79 Rn. 110; Huber, in: Streinz, EUV Art. 19 Rn. 73; zur Auslegung von Art. 1 und 20 GG in diesem Kontext Thiele, EuR 2017, S. 367, 377. 345 BVerfG, Beschluss vom 03. 03. 2004 – 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99, BVerfGE Band 109, 279; BVerfG, Beschluss vom 23. 04. 1991 – 1 BvR 1170/90, 1 BvR 1174/90, 1 BvR 1175/90, BVerfGE 84, 90, 121. 346 BVerfG, Beschluss vom 30. 06. 2009 – 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267, BVerfGE Band 123, 267.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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In Abstraktion der Identitätskontrolle als mitgliedstaatliche Integrationsmaxime darf durch die Umformung der Verwaltungsstrukturen die nationale Identität nicht gänzlich modifiziert werden. Finden sich rechtstaatlich-demokratische Grundstrukturen im mitgliedstaatlichen Verwaltungsrecht wieder, ist diesen ein solcher identitätsstiftender Gehalt beizumessen.347 Freilich wird für die Frage der Erheblichkeit im Einzelfall die Gesamtabwägung bemüht werden müssen, wobei die eindeutige Grenze bei der Abschaffung identitätsstiftender Verwaltungsstrukturen liegt. Tradierte Verwaltungsrechtstrukturen genießen damit keine pauschalisierte Schutzstellung gegenüber dem Unionsrecht. Erkennbar ist dies unter anderem an der Haltung des BVerfG hinsichtlich der §§ 48 ff. VwVfG.348 Dies gilt erst recht für Vorschriften und Strukturen, die der deutsche Gesetzgeber in der Wahrnehmung seiner eigenen Kompetenz abändert.349 (c) Veränderung durch Art. 291 Abs. 2 AEUV In diesem Kontext weniger relevant, jedoch der Vollständigkeit halber aufzuführen, ist in der sachbereichsbegrenzten Übertragung von Rechtsetzungskompetenzen fortan nicht mehr die Mitübertragung von Durchführungsbefugnissen zu sehen. Die Schaffung von Art. 291  Abs.  2  AEUV vermittelt eine explizite Übertragungsmöglichkeit im Bedarfsfall.350 Darin liegt eine Stärkung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie. Der exakte Wortlaut dieser Regelung konsumiert jeglichen weiteren Auslegungsspielraum, erst recht im Kontext der Vorgängernorm. Art. 291 Abs. 2 AEUV konkretisiert dann die Voraussetzungen für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen in dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung tragenden Ausnahme- und Sonderfällen,351 die ohnehin durch die kon 347

Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  125 ff.; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 535; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), S. 154, 176; Wahl, JZ 2012, 861, 866 f.; Möllers, EuR 2002, S. 483, 501. 348 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. 2. 2000 – 2 BvR 1210/98, NJW 2000, 2015; ebenfalls Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  140. 349 Siehe Mirschberger, in: Debus / K ruse / Peters / Schröder / Seifert / Sicko / Stirn, S.  169, 185 f.; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 536. 350 Richtig daher Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; Gärditz, DÖV 2010, S. 453, 461 f.; v.  Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 304 ff.; Ladenburger, in: Trute / Groß / Röhl /  Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht  – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 107, 121; Kotzur, in: Geiger / K han / Kotzur, EUV / A EUV Art.  291 AEUV Rn.  1 f.; Kahl, DV, Beiheft 10 (2011), S. 39, 88; Kahl, in: Callies / Ruffert, EUV / A EUV, Art. 4 EUV Rn. 61; König, Der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, S. 34 ff., S. 35, 37; Efstratiou, in: Karakostas / R iesenhuber, Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung, S. 99, 104 f., Schmidt-Aßmann, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, § 5 Rn. 19; a. A. zu Art. 291 AEUV: Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 62; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 540; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  140. 351 Vgl. Ruffert, in: Calliess / Ruffert, AEUV, Art. 291 Rn. 2; a. A.: Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 66.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

statierten Abwägungspositionen Art. 291 Abs. 1 AEUV und Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV vorgezeichnet sind. (d) Zwischenergebnis Demnach ist weder eine absolute Identitätsgarantie noch eine bloße „tendenzbeschreibende Grundaussage“ bzw. „Zustandsbeschreibung“ in der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie zu sehen, sondern ein abzuwägendes normatives Prinzip, welches zunächst die Eigengesetzlichkeit der mitgliedstaatlichen Verwaltungsautonomie privilegiert,352 die der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Rechtsetzung zu beachten und dessen Wahrung das Unionsgericht zu kontrollieren hat.353 Für die Frage der Rechtsnatur der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie wird mit der Installation des Art. 291 Abs. 1 und des Art. 197 Abs. 2 S. 4 AEUV ein normativer Grundsatz anerkannt werden müssen, der diese privilegierte Position der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie primärrechtlich festhält.354 Demgegenüber normiert Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip, wodurch eine primärrechtliche Relevanz für einen stets vorzunehmenden Abwägungsvorgang geschaffen wird. Eine allgemeine Kompetenzsperre des Art. 291 AEUV scheidet damit aus.355 Demnach handelt es sich um einen Gesamtabwägungsprozess, im Rahmen dessen die Kompetenzausübungsschranken des Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 und Abs. 4 EUV regelmäßig zu überprüfen sind. cc) Deutsche Kontrolldichtekonzeption im Migrationsrecht Im Hinblick auf verfassungsrechtliche und demokratische Garantien des innerstaatlichen Rechts kann zu Gunsten einer Europäisierung damit nicht jedes nationale Attribut eliminiert bzw. überlagert werden. Im Folgenden sind zunächst die erörterten abwägungsrelevanten Positionen zu betrachten. Dies erfordert eine Evaluierung des Anwendungsbereichs der Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität auf der einen Seite und des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf der anderen Seite. Maßgeblich für das Ergebnis ist zudem die Stellung der deutschen Kontrolldich 352

Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 306 ff. Zuzustimmen daher Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 37 ff., 133 ff.; mit einem wohl strengeren Rechtfertigungsmodell, da Grundentscheidung zu Gunsten der mitgliedstaatlichen Verwaltung gilt v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 304, 306 ff.; Ladenburger, in: Trute / Gross / Möllers / Röhl, Herausforderungen an das Allgemeine Verwaltungsrecht, S. 107 ff.; dagegen lediglich eine bereichsspezifische Auslegung der konkreten Sachkompetenz fordernd, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 91. 354 „Entscheidung für die mitgliedstaatliche Verwaltung“ vgl. v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 306 ff.; a. A. Stelkens, EuR 2012, S. 511, 540. 355 Siehe Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 91; Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 314, 346. 353

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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tekonzeption innerhalb des Verwaltungsrechts. Im Rahmen dessen ist zwischen einer unionsrechtlich aufoktroyierten Kontrolldichtereduktion und der Kontrolldichtebestimmung zu unterscheiden. (1) Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz In der Rechtsprechung des EuGH zum Migrationsrecht fehlt eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten sowie dem Äquivalenz- und dem Effektivitätsprinzip.356 Für den Anwendungsbereich des Äquivalenz- und Effektivitätsprinzips sind erneut ihre Definitionen hervorzuheben. Danach sind die Einzelheiten des Verfahrens Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats, sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzprinzip) und die Ausübung der von der Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsprinzip).357 Im Bereich des Unionsrechts muss sich die deutsche Rechtsprechung sodann folgende Kontrollfragen stellen: (1.) Erfolgt eine Schlechterstellung gegenüber nationalen Sachverhalten? (2a.) Werden unional vermittelte Rechte des Einzelnen (subjektive Komponente) oder (2b.) das Unionsrecht bzw. die Unionsrechtsordnung allgemein (objektive Komponente)  durch nationale Verfahrensvorschriften konterkariert?358 (a) Prüfung konstruierter Kontrollfragen Die Frage zu (1.) ist aufgrund der an Art. 19 Abs. 4 GG ausgerichteten deutschen Kontrolldichtekonzeption, die grundsätzlich eine gerichtliche Vollkontrolle vorsieht, zu verneinen. Es existieren zwar Ausnahmen, allerdings wird bei materiell-rechtlich hinreichend ausgeformten Gesetzen wie dem Visakodex eine 356

EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30; dagegen in etwa in EuGH, 19. 06. 2014 – Rs. C-501/12, C-502/12, C-503/12, C-504/12, C-505/12, C-506/12 C-540/12, C-541/12, Specht, Rn. 112; dagegen etwa in EuGH, Urteil vom 21. 01. 1999 – Rs. C-120/97, Upjohn, Rn. 29, 32 f.; EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170. 357 So EuGH, Urteil vom 16. 12. 1976  – 33/76, Rewe / Landwirtschaftskammer Saarland, Rn. 5; EuGH, Urteil vom 21. 01. 1999 – Rs. C-120/97, Upjohn, Rn. 29, 32 f.; EuGH, Urteil vom 07. 01. 2004 – Rs. C-201/02, Wells, Rn. 65, 67; EuGH, Urteil vom 28. 02. 2018 – Rs. C-387/16, Nidera BV, Rn. 22; EuGH Urteil vom 14. 09. 2010 – Rs. C-550/07 P, Akzo Nobel Chemical, Rn. 113; EuGH, Urteil vom 22. 02. 2018 – Rs. C-572/16, INEOS, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170. 358 Abgeleitet von Gärditz, JuS 2009, S. 385, 388; schwierig wird in dem Fragenkanon eine Abgrenzung zum „effet utile“ Auslegungsgrundsatz, weshalb es eleganter ist den Auslegungsgrundsatz in dem Effektivitätsprinzip aufgehen zu lassen.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

Vollkontrolle vorgenommen. Möchte man diese Überlegung jedoch  – entgegen der unionsgerichtlichen Rechtsprechung – ausschließlich auf die Gefahr- und Risikobeurteilung erstrecken, ist dies ebenfalls zu verneinen. In gleich gelagerten Fällen des Polizei- und Ordnungsrechts sind keine weniger anspruchsvollen Gefahr- und Sicherheitsbeurteilungen vorzunehmen,359 denen in Einzelfällen durchaus nachrichtendienstliche Informationen inhärent sein können.360 Des Weiteren ist die Tatsachenkontrollfreistellung schon ein Konzept, das verfassungsrechtlich zu hinterfragen ist. Anderenfalls könnte eine derart fadenscheinige gerichtliche Überprüfung gänzlich eingestellt werden. Schließlich muss ein derart hermetisch abgeriegeltes (und dadurch kontroll- und mitwirkungsresistentes) Exekutivsystem erst recht durch vollständige Nachprüfung der Gerichte kompensiert werden.361 Zudem wird dem Antragsteller eines Visums durch eine umfassende gericht­ liche Kontrolle die Möglichkeit gegeben, sich gegen (rechtswidrig) abgelehnte Anträge zu wehren, sodass mitnichten von einer Schlechterstellung durch die deutsche Kontrolldichtekonzeption gesprochen werden kann, sondern allenfalls von einer Besserstellung bezüglich der Frage zu (2a.). Mit maßgeblich für den EuGH ist letztlich, dass die nationale Kontrolldichtekonzeption den Transnationalitätsmodus des Visakodex beeinträchtigt und nach der Intention des Gesetzgebers dem Unionsrecht damit in seiner (vollen) Wirksamkeit gegenübersteht (2b.).362 An dem konkreten Fall in der Rechtssache „Koushkaki“ zeigt sich eine gewisse Konfliktlage zwischen den Kontrollfragen (2a.) sowie (2b.) und damit innerhalb des Effektivitätsprinzips, die letztlich zu Gunsten der Wirksamkeit des Unionsrechts entschieden wird.363 Es wäre jedoch zu berücksichtigen gewesen, dass durch die überdimensionale Skalierung des administrativen Letztentscheidungsrechts die gerichtliche Kontrolle gänzlich aufgehoben wird. Der EuGH begnügt sich auf Kosten des Antragstellers in diesem Fall mit der Wahrung der Verfahrensgarantien und auf offensichtliche Fehler.364 Dieser Punkt hätte zusätzlich im Hinblick auf das

359

Etwa VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21. 07. 2003 – 1 S 377/02, Rn. 71, NVwZ 2004, 498. 360 Überblick gemeinsamer Daten bei Klee, Neue Instrumente der Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, S. 145 ff. 361 Gärditz, JZ 2010, S. 198 ff.; Durner, DVBl. 2012, S. 299, 300; im Umkehrschluss, aufgrund der fehlenden Verfahrensadäquanz, Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-­ Aßmann / Voßkuhle, Eigenständigkeit der Verwaltung, § 10 Rn. 100 ff.; Eifert, in: HoffmannRiem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Regulierungsstrategien, § 19 Rn.  67 f.; Kingreen, MedR, 2007, S. 457, 463. 362 Teil 4 A. II. 363 So wird in anderen Referenzgebieten gerade ein effektiver Rechschutz über das Effektivitätsprinzip gefordert, siehe Calliess / Kahl / Puttler, in: Calliess / Ruffert, EUV Art. 4, Rn. 79, 81; Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 50; Schwarze, NVwZ 2000, S. 241, 246; außerdem zu dem Spannungsverhältnis zwischen Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip v. Danwitz, in: Hatje / Müller-Graff, Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, § 13 Rn. 50. 364 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Art. 47 GRCh erörtert werden müssen.365 Hierbei handelt es sich um ein weiteres Dilemma, allerdings nur innerhalb der Frage zu (2b.), da die Unionsrechtsordnung repräsentiert durch Art. 47 GRCh zu Gunsten der wirksamen Durchsetzung des Visakodex verdrängt wird. Schlüsselnorm zur Auflösung ist wohl Art. 52 Abs. 1 GRCh, der eine Einschränkbarkeit der GRCh vorsieht. Zwar ist die Grundrechtsprüfung des EuGH bekannt für ihre Konturlosigkeit,366 allerdings findet sich schon kein Ansatz für eine solche grundrechtliche Überlegung. (b) Prüfungsauftrag des BVerwG Das BVerfG hält in Ansehung der Rechtsprechung des EuGH eine Überprüfung des Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip für die deutschen Verwaltungsgerichte für erforderlich.367 In anderen Gebieten des Unionsrechts hebt es sogar eine hinreichende Auseinandersetzung des BVerwG mit dem Grundsatz der Effektivität hervor.368 Das BVerwG greift in seiner Entscheidung zum Letztentscheidungsrecht des Visakodex zwar die Definitionsformel des Äquivalenz- und Effektivitätsprinzips im Kontext zur mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie auf, funktioniert sie mithilfe des „Effet utile“-Grundsatzes und der „Acte-claire“-Doktrin jedoch zu einer Leerformel um.369 (aa) Auslegungsregel „effet utile“ (praktische Wirksamkeit) „[…] Die in der deutschen Verwaltungsrechtstradition geltenden Maßstäbe werden insoweit vom Unionsrecht überlagert. Denn im Rahmen des europäischen Rechts ist es Aufgabe des europäischen Gesetz- bzw. Verordnungsgebers die Rechtspositionen auszugestalten, die Art. 6 Abs. 3 EUV i. V. m. Art. 13 EMRK und Art. 47 GRC (und im deutschen Rechtskreis Art. 19 Abs. 4 GG) voraussetzen. Wenn, wie hier, die maßgebenden Regelungen des Unionsrechts in der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union bestimmen, dass den zuständigen Behörden eine Letztentscheidungskompetenz zukommt, ist demnach kein Raum mehr für die in der deutschen Verwaltungsrechtslehre und -rechtsprechung entwickelten einschränkenden Voraussetzungen für die Annahme von Beurteilungsspiel-

365

Dazu sogleich. Gärditz, in: Grabenwarter, EnzEuR, Bd. 2, Europäischer Grundrechteschutz, § 4 Rn. 6 ff. 367 Vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 07. 2019 – 2 BvR 1702/18, Rn. 35, NVwZ 2019, 1594; ähnlich in EuGH, Urteil vom 25. 11. 2010 – Rs. C-429/09 Fuß, Rn. 75 ff. 368 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. 07. 2019 – 2 BvR 1702/18, Rn. 36, NVwZ 2019, 1594; in der Vorinstanz BVerwG, Urteil vom 19. 04. 2018 – 2 C 40.17, Rn. 29 ff., NVwZ 2018, 1314. 369 Siehe BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20 a. E., 21, 24 NVwZ 2016, 161; zu Probleme von „effet utile“ im Kooperationsverbund, Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 95 f. 366

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

räumen. Dies ergibt sich auch aus dem im 18. Erwägungsgrund des Visakodex genannten Ziel, durch eine enge örtliche Koordinierung für eine einheitliche europäische Visumpolitik zu sorgen und eine Ungleichbehandlung der Antragsteller zu vermeiden. Wenn die örtlich abgestimmte Anwendung der Vorschriften aus dem Visakodex durch die Auslandsvertretungen der Schengen-Staaten und die sich daraus ergebenden Bewertungen hinsichtlich der Rückkehrbereitschaft durch die eigenen Bewertungen der mitgliedstaatlichen Gerichte ersetzt würden, würde dies eine einheitliche Anwendung des europäischen Visumrechts unmöglich machen bzw. erheblich erschweren. Die Einräumung eines Beurteilungsspielraums ist daher auch notwendig, um dem im 18. Erwägungsgrund des Visakodex genannten Ziel, eine einheitliche Anwendung der Visumvorschriften sicherzustellen, zur praktischen Wirksamkeit (‚effet utile‘) zu verhelfen.“370

Eine Verdrängung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie möchte das BVerwG durch die Anerkennung des Letztentscheidungsrechts damit nicht feststellen.371 Die Einführung des Letztentscheidungsrechts erfolgt unter Erweiterung des Ausnahmekatalogs von Art. 19 Abs. 4 GG mithilfe des Auslegungsgrundsatzes „effet utile“. Es beruft sich lediglich auf die Feststellungen des EuGH in der Rechtssache „Koushkaki“ und macht das Letztentscheidungsrecht über „effet utile“ als Ergebnis der Auslegung des Visakodex verbindlich.372 Zusätzlich führt das BVerwG die Funktionserhaltung des transnationalen Systems des Visakodex als Sachgrund an.373 Die verfassungsrechtliche Haltbarkeit dieses „Sachgrundes“ am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes wird hingegen nicht überprüft.374 Anders als im Bereich der Telekommunikation legt das BVerwG die Vorschriften des Visakodex im Hinblick auf ein administratives Letztentscheidungsrecht nicht aus, sondern greift unmittelbar auf die Rechtsprechung des EuGH zurück und erklärt diese Rechtsdogmatik der Nationalen als übergeordnet. Damit ist verfassungsrechtlich kein doppelter Boden mehr vorhanden, den das BVerfG im Telekommunikationsrecht noch genutzt hat.375 Des Weiteren differenziert das BVerwG zwischen der Zuweisung des administrativen Letztentscheidungsrechts und Vorgaben zu dem Umfang der gerichtlichen Kontrolle wie folgt:

370

BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20 NVwZ 2016, 161. Deutlich BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 21, NVwZ 2016, 161. 372 Siehe BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20 a. E. NVwZ 2016, 161; befürwortend Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 417. 373 Dazu Teil 4 A. II. 374 „hinreichend gewichtige Sachgründe“ sind erforderlich, vgl. BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08, Rn. 25 BVerfGK 19, 229; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 76, BVerfGE 129, 1. 375 „Es kann hier dahinstehen, ob die Richtlinienbestimmungen so, wie vom Bundesverwaltungsgericht angenommen, auszulegen sind, weil der von ihm den einschlägigen Bestimmungen des Telekommunikationsgesetzes entnommene Beurteilungsspielraum mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 und Art. 12 Abs. 1 GG in Einklang steht. Deshalb bedarf es auch nicht der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Frage, ob dem nationalen Gesetzgeber insoweit ein Umsetzungsspielraum verblieben ist.“, BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08, Rn. 31 ff. BVerfGK 19, 229. 371

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

283

„Das hier anwendbare Unionsrecht macht keine Vorgaben für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle des als ‚weiten Beurteilungsspielraum‘ gleichgelagerten bezeichneten behördlichen Entscheidungsspielraums. Dies ergibt sich explizit auch aus Art. 32 Abs. 3 Satz 2 VK, wonach sich die Rechtsmittel nach dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten richten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bleibt es grundsätzlich den Mitgliedstaaten vorbehalten, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie über die Art und Weise der richterlichen Kontrolle sowie deren Intensität zu befinden. Soweit dem einschlägigen Unionsrecht keine verbindlichen Feststellungen zu der gebotenen Gerichtskontrolle entnommen werden können, sind die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaat­ lichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) […]. Der unionsrechtlich vorgegebene Entscheidungsspielraum der zuständigen Behörde wirkt sich aber auf die Intensität der gerichtlichen Kontrolle nach nationalem Recht aus; sie kann nicht weiter reichen als die materiell-rechtliche Bindung der Instanz, deren Entscheidung überprüft werden soll. Die Kontrollmaßstäbe sind daher den Grundsätzen zu entnehmen, die das Bundesverwaltungsgericht zur gerichtlichen Überprüfung von Beurteilungsspielräumen nach deutschem Verwaltungsrecht entwickelt hat […].“376

Dieser Differenzierung liegt der Gedanke zugrunde, dass die Zuweisung und Identifizierung des Letztentscheidungsrechts nach dem Unionsrecht erfolgen müssten. Die Abwägung der Verfahrensautonomie gegenüber dem Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz sei dann nicht notwendig. Dies wäre anders, wenn die Art und Weise der Kontrolle unional vorgegeben werden würde. Allerdings wird dabei verkannt, dass die Zuweisung von Letztentscheidungsrechten eine Kompetenzzuweisung und damit eine unionale Kompetenzausübung ist, die stets innerhalb der von dem Subsidiaritätsgrundsatz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auferlegten Grenzen erfolgen muss.377 Diese deutsche grundsätzliche Kompetenzverteilung ist verfassungsrechtlich vorgezeichnet.378 Außerdem macht die Feststellung eines „weiten“ Letztentscheidungsrechts bereits Aussagen zu dem Kontrollverhalten des damit befassten Gerichts. So ist im Fall des Visakodex eine Tatsachenkontrolle durch die weite Skalierung des Letztentscheidungsrechts abgeschirmt. Dies ist dem deutschen Kontrollauftrag der Verwaltungsgerichte vor dem Hintergrund des § 86 VwGO fremd. Spätestens an dieser Stelle kann eine Einschränkung der nationalen Verfahrensautonomie nicht abgetan werden. Das Vorgehen des BVerwG versucht eine harmonisierte Eingliederung unionaler Spielräume in die deutsche Beurteilungsspielraumdogmatik. Der Rückgriff auf den „Effet utile“Auslegungsgrundsatz soll dabei innerhalb der normativen Ermächtigungslehre als Letztentscheidungszuweisungsmethode fruchtbar gemacht werden. Dies führt le 376

Siehe BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 21 NVwZ 2016, 161. Art. 5 EUV. 378 Vgl. Poscher, in: FS Wahl, S. 527, 537; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 378. 377

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

diglich zu einer Bewältigung von methodischen Problemen im mehrdimensionalen System.379 Primär kanalisiert diese Methode jedoch fundierte Kompetenzen des Gesetzgebers. Für den Unionsgesetzgeber muss daher zunächst diese Kompetenz zur Letztentscheidungsrechtszuweisung im Einzelfall festgestellt und abgewogen werden (Kompetenzproblem des mehrdimensionalen Systems).380 Zugegeben ist eine Differenzierung zwischen der Kontrollfrage zu (2b.) und dem „Effet utile“-Auslegungsgrundsatz hinsichtlich des fokussierten Wirkungsbereiches innerhalb des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts schwierig. Die Nutzung der Auslegungsregel der „praktischen Wirksamkeit“ in diesem Kontext ist jedoch aufgrund ihres Aussagegehalts problematisch. Eine Geltung des „effet utile“ würde die in Art. 291 Abs. 1 AEUV verankerte grundsätzliche Kompetenzverteilung im Hinblick auf die Verfahrensautonomie zu Ungunsten der Mitgliedstaaten umkehren, sodass im „Effet utile“-Fall verfahrensrechtliche Modifikationen des Unionsrechts stets Vorrang genießen.381 Die Absicht des Versuchs der Etablierung einer Kompetenzumkehr für die Fälle mehrdimensionaler Letztentscheidungsrechtszuweisung sticht in der Entscheidung des BVerwG zusätzlich dadurch hervor, dass die uneingeschränkte Kompetenz zur Ausgestaltung von Rechtspositionen dem Unionsgesetzgeber obliege.382 Die Definitionsformel der Abwägungspositionen trägt diesen Umständen hinreichend Rechnung. Eleganter und vor allem in dem Einzelfall souveränitätserhaltend wäre jedenfalls die Induktion von „effet utile“ über das Effektivitätsprinzip gewesen,383 da der EuGH die Begrenzung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie ausschließlich im Kontext der Prinzipien der Äquivalenz und Effektivität vornimmt und somit die Kompetenz bei den Mitgliedstaaten verbleibt.384 Das Effektivitätsprinzip umfasst als Durchsetzungsinstrument die gesamte Unionsrechtsordnung – mithin Art. 4 Abs. 3 EUV in seiner Fülle –, weshalb Akzente des „Effet utile“Grundsatzes in die Gesamtabwägung einfließen können.385 Zusätzlich lässt sich der Auslegungsgrundsatz der praktischen Wirksamkeit über den sodann vorzunehmenden Gesamtabwägungsprozess besser begrenzen.386 Außerdem werden 379

Herausarbeitung an dieser Stelle Teil 4 A. I. 1. c); A. III.; A. IV. Angeschnitten in Teil  4  A. I. 1. c); A. IV. a. E.; B. I. 1. 381 Siehe zur Vorrangwirkung Müller / Christensen, Juristische Methodik, Band II, Europarecht, Rn. 439 ff.; Streinz, in: Streinz, EUV Art. 4 Rn. 33; Mayer, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EUV Art. 19 Rn. 57. 382 Vgl. BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20, NVwZ 2016, 161. 383 Gar nicht erst differenzierend etwa Voßkuhle / Schemmel, JuS 2019, S. 347, 348 ff.; Eichenhofer, in: Streinz, AEUV Art. 157 Rn. 19. 384 Ausführlich Teil  4  B. I. 1. b) cc) ff.; Streinz, in: Streinz, EUV Art. 4 Rn. 34; vgl. Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 191 ff. 385 Dazu Teil  4  B. I. 1. b) cc) (1) (a); siehe Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 206 ff., 233. 386 Vgl. auch Krönke, Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, S. 215 f.; zusätzlich muss die richterliche Rechtsfortbildung im Unionsrecht beschränkt sein, BVerfG, Beschluss vom 06. 07. 2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 65, BVerfGE 126, 286. 380

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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über das konkrete Unionsrecht vermeintliche (Letztentscheidungs-)„Rechte“ der Administrative unter der gleichzeitigen Beschneidung des effektiven Rechtsschutzes nach der deutschen Verfahrensautonomie transponiert. Der damit eintretende umgekehrte Fall des Effektivitätsprinzips hätte auf dieser Stufe diskutiert werden müssen. Zudem hätten ebenfalls die Wechselwirkungen innerhalb der Kontrollfragen (1.), (2a.) und (2b.) angesprochen werden müssen. Vorinstanzlich hat das VG Berlin ausführlich auf die unionale Kontrollentwertung hingewiesen und somit einen gewichtigen Diskussionspunkt eingebracht.387 (bb) Acte-claire-Doktrin Letztlich hält das BVerwG die beschriebene Rechtslage mithilfe der Acte-claireDoktrin388 verbindlich fest und lässt kein weiteres Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV mehr zu: „Der Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. Der Kläger hat angeregt, dem Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob der Visakodex dahingehend auszulegen ist, dass er den mitgliedstaatlichen Gerichten eine beschränkte Nachprüfung der behördlichen Beurteilung der Rückkehrbereitschaft im Sinne des Art. 32 Abs. 1 Buchst. b VK verpflichtend vorschreibt. Eine Vorlagepflicht besteht hier indes nicht, denn die richtige Anwendung des Unionsrechts ist im Sinne der acte-claire-Doktrin derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel an der Beantwortung der gestellten Frage keinerlei Raum bleibt. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist geklärt, dass es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie allein Sache der Mitgliedstaaten ist, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie (unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität) die Art und Weise der richterlichen Kontrolle zu bestimmen. Hiernach ist es offenkundig, dass die gerichtlichen Kontrollmaßstäbe dem innerstaatlichen Recht zu entnehmen sind. Wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, geben die einschlägigen Bestimmungen des Visakodex lediglich einen Beurteilungsspielraum vor, machen darüber hinaus aber keine Vorgaben für den Umfang der gerichtlichen Kontrolle.“389

Hinsichtlich der angeführten Kompetenzproblematik hätte es eines klarstellenden Vorabentscheidungsverfahrens bedurft, insbesondere in Ermangelung der Äquivalenz- und Effektivitäts-Formel in der Rechtssache „Koushkaki“. In dem durch das VG Berlin initiierten Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache „Fahimian“ macht der EuGH zusätzlich Vorgaben zum Umfang der gerichtlichen Kontrolle.390 Die Aussage, dass das Unionsrecht im konkreten Fall keine Vorgaben mache, ist damit widerlegt. Die Offenkundigkeit der Rechtsprechung ist somit

387

VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V Rn. 26, 31. Dazu erstmalig EuGH, Urteil vom 06. 10. 1982 – Rs. 283/81, CILFIT; allgemein Fenger /  Broberg, EuR 2010, S. 835 ff. 389 Vgl. BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 24, NVwZ 2016, 161. 390 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 46 f. 388

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

zu voreilig angenommen worden.391 Die im Rahmen des „acte-clair“ angeführte EuGH-Rechtssache „Arcor“ ist damit scheinbar referenzgebietsspezifisch zu verstehen und durch den EuGH mithilfe der Äquivalenz- und EffektivitätsprinzipFormel relativiert worden.392 Des Weiteren hätte berücksichtigt werden müssen, dass sich die weite Skalierung auf die Art und Weise der gerichtlichen Kontrolle auswirkt. (c) Bewertung Ungeachtet dessen, dass die unionale Einspeisung diagonal verlaufender Letztentscheidungsrechte durch die Entscheidung des BVerwG nicht ordnungsgemäß am kompetenzentscheidenden Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie bewältigt worden ist, wird man dennoch die Äquivalenz- und Effektivitätsformel rezipierend mit Rückgriff auf die Kontrollfrage (2b.) zu Gunsten der Wirksamkeit des Visakodex, also im Ergebnis vorerst mit dem BVerwG, entscheiden.393 Diese Feststellung entbindet freilich nicht von der Pflicht zur weiteren Überprüfung, sondern begründet diese zunächst. Wie zuvor festgestellt, ist eine Gesamtabwägung vorzunehmen. Die Abhandlung kollidierender unionaler sowie nationaler Normen auf der Ebene des Äquivalenz- und Effektivitätsprinzips würde lediglich unionalen Interessen gerecht werden, verliert allerdings nationale Interessen aus dem Blick. Die nationale Verfahrensautonomie als abzuwägender Grundsatz berücksichtigt nationale Interessen durch Einbeziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Problembereitende Wechselwirkungen innerhalb der dargestellten Kontrollfragen sind auf den dadurch eröffneten Prüfungs- und Abwägungsebenen auszutarieren. (2) Die Verfahrensautonomie als abwägungsfähiges Prinzip Sowohl die Frage der Kontrolldichtereduktion als auch die Frage der Art und Weise des reduzierten Kontrolldichteumfanges fällt in den Sachbereich der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie. Ist das Kontrolldichtekonzept als Identitätsfaktor der deutschen Verfahrensautonomie einzuordnen, verbietet sich der unionale Zugriff gänzlich und weitere Abwägungsebenen sind an dieser Stelle 391

Zur „Voreiligkeit“ deutscher Gerichte, Kühling / Drechsler, NJW 2017, S. 2950 ff. EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170. 393 „Nach alledem ist Buchst. d der dritten Frage dahin zu beantworten, dass es allein Sache der Mitgliedstaaten ist, im Rahmen ihrer Verfahrensautonomie unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität des gerichtlichen Rechtsschutzes das zuständige Gericht, die Verfahrensart und damit die Art und Weise der richterlichen Kontrolle von Entscheidungen der NRB über die Genehmigung der Preise der gemeldeten Betreiber für den entbündelten Zugang zu ihren Teilnehmeranschlüssen zu bestimmen. […]“ so in EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 171. 392

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nicht mehr erforderlich. Ist dies nicht der Fall, wirkt die Zuweisung von Letztentscheidungsrechten der Administrative auf das Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive ein und stellt eine Kompetenzausübung des Unionsgesetzgebers dar, die am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach Art. 5 Abs. 4 EUV zu messen ist. Hinter den mitgliedstaatlichen Regelungen stehende Prinzipien und Grundrechte sind dann vordergründig für die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie einzubeziehen. Darüber hinaus können unionale Letztentscheidungsrechte nicht ohne eine Diskussion der in beiden Rechtssystemen existierenden Rechtsschutzgarantien begründet werden. (a) Vorprüfung: Kontrolldichtekonzeption als Identitätsfaktor Die heute bekannte verwaltungsgerichtliche Kontrolldichtekonzeption wurde durch die Verankerung der Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 GG geprägt und über die Jahre geformt.394 Daraus entwickelte sich eine dreigliedrige Rechtsschutzdogmatik.395 Diese Dogmatik sieht eine Kontrolle am Maßstab des Rechts vor, den Grundsatz vollständiger Rechtskontrolle und begrenzte normative Ausnahmemöglichkeiten.396 Letztere Ausnahmemöglichkeit wäre eventuell nicht gegeben, wenn Art. 19 Abs. 4 GG in die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG aufgenommen worden wäre.397 Die Rechtsweggarantie und daran hängende Rechtsschutzdogmatik fallen daher nicht unmittelbar unter die Identitätskontrolle des BVerfG in Bezug auf Art. 79 Abs. 3 GG.398 Dies spricht nicht unbedingt dagegen, dass es sich nicht dennoch um einen Identitätsfaktor der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie handelt,399 zumal die deutsche Kontrolldichtekonzeption der Verwaltungsgerichte unter den Mitgliedstaaten eine herausragende Rolle einnimmt.400 Dies offenbart das Dilemma um die Rechtsweg-Ausnahme des Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG.401 Zu-

394 Schmidt-Aßmann, NVwZ 1993, S. 617, 618; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 1d ff.; Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, S. 31 ff. 395 Siehe Schmidt-Aßmann / Schenk, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, Einl. Rn. 182 ff. 396 BVerfG, Urteil vom 08. 07. 1982 – 2 BvR 1187/80, Rn. 90, BVerfGE 61, 82; BVerfG, Urteil vom 16. 12. 1992 – 1 BvR 167/8, Rn. 44, BVerfGE 88, 40; siehe auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 184. 397 Dazu Füßlein, JöR 1951, S. 587; auch in Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 79 Rn. 68. 398 Siehe Huber, in: v. Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 19 Rn. 186. 399 Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420; in diesem Sinne Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn. 125 ff.; Stelkens, EuR 2012, S. 511, 535. 400 Rechtsvergleichend v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System, S. 83 f.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 45 f.; Saurer, Der Einzelne im europäischen Verwaltungsrecht, S. 383; Brinktrine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 510 ff. 401 Drei Richter des BVerfG erkannten eine Verletzung, BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, 2 BvR 308/69, BVerfGE 30, 1; iIllustrierend Gärditz, in: Herdegen /  Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung, Rn. 80.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

dem bleiben die Reduzierungsbestrebungen des Unionsgesetzgebers nicht ohne Reaktion.402 Ungeachtet der Subsumtion der Rechtsschutzgarantie unter die Ewigkeitsgarantie ist Art. 79 Abs. 3 GG ein Aussagegehalt zu Identitätsfaktoren zu entnehmen. Demnach ist Identitätsfaktoren eine Unveränderlichkeit immanent. Damit ist die intensitätsunabhängige Abschirmung jeglichen unionalen Einflusses an dem Absolutheitsgrad der Rechtsschutzdogmatik im innerstaatlichen Verwaltungssystem zu messen.403 Allerdings schafft sich die Stellung der deutschen Kontrolldichtekonzeption als nationaler Identitätsfaktor der Verfahrensautonomie durch die geschaffenen Ausnahmemöglichkeiten innerhalb der Grenzen des Art. 19 Abs. 4 GG selbst ab.404 Erlaubt das nationale Recht ein Herabsenken des Kontrollniveaus in bestimmten Fällen, wäre es widersprüchlich, unionale Modifikationen pauschal abzulehnen. Konsequenz ist, dass nicht jede Einwirkung seitens des Unionsgesetzgebers als Grenzüberschreitung zu qualifizieren ist. Anpassungen sind dann im Einzelfall im Rahmen des Art. 19 Abs. 4 GG möglich. Freilich bedeutet dies nicht, dass das Unionsrecht die deutsche Dogmatik der administrativen Letztentscheidungsrechte in ihrer Exaktheit rezipieren und in seinem Geltungsbereich auf die anderen Verwaltungsrechtssysteme ausstrahlen muss. Vielmehr dürfen die Rechtsschutzgarantien Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 47 GRCh im Ergebnis nicht ausgehöhlt werden.405 Nach der Rechtsprechung des BVerfG passt dieser Aussagegehalt auf den gewaltenteilenden Staat grundgesetzlicher Prägung.406 Eine analoge Übertragung auf den gewaltenteilenden Staatenbund erscheint sachgerecht. Richtig ist da-

402

Angestoßen unter dem Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Rennert, Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem Einfluss des Unionsrechts? Referat auf dem 71. Deutschen Juristentag in Essen, S. 12 f.; auch Gärditz, Funktionswandel, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 79; Gärditz, NJWBeilage 2016, S. 266 ff.; Rennert, DVBl. 2015, S. 793; Steinbeiß-Winkelmann, NVwZ 2016, S. 713; Wegener, JZ 2016, S. 829; Franzius, UPR 2016, S. 281; Änderungen im Datenschutz-, Telekommunikations- und Migrationsrecht konsolidierend, Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 506 f. 403 Ähnlich Stelkens, EuR 2012, S. 511, 535 ff. 404 Insofern gilt Art. 19 Abs. 4 GG als Maßstab im Rahmen des mehrdimensionalen Systems, Durner, DVBl. 2012, S. 299, 301. 405 Rechtschutzdogmatik im Kern, Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 184; Eichberger, NVwZ-Beil. 2013, S. 18, 21. 406 „[…] Will er im Übrigen gegenüber von ihm anerkannten subjektiven Rechten die gerichtliche Kontrolle zurücknehmen, hat er zu berücksichtigen, dass im gewaltenteilenden Staat grundgesetzlicher Prägung die letztverbindliche Normauslegung und auch die Kon­ trolle der Rechtsanwendung im Einzelfall grundsätzlich den Gerichten vorbehalten ist. Deren durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte Effektivität darf auch der Gesetzgeber nicht durch zu zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds.“, so BVerfG, Urteil vom 31. 05. 2011  – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1.

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her nur eine verhältnismäßige und begründete Kontrolldichtereduktion,407 weshalb eine pauschale Kontrolldichtereduzierung für unionsrechtliche Angelegenheiten definitiv als Überschreitung der Identitätsgrenze anzusehen ist.408 Die Ausnahmen des Art. 19 Abs. 4 GG sind daher in die Gesamtabwägung zu inkludieren. (b) Unionsverfassungsrechtliche Grenzen Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Der Überprüfungsmaßstab lässt sich aus dem Vorstehenden ableiten409 und nähert sich dem deutschen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an, nach dem staatliches Handeln geeignet, erforderlich und angemessen sein muss.410 Die Rechtsprechung des EuGH ist im Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht von terminologischer Präzision und Konsistenz geprägt.411 Letzteres äußert sich darin, dass der EuGH seine Verhältnismäßigkeitskontrolle durch die Anerkennung von Spielräumen der EU-Organe in eine Evidenzkontrolle umfunktioniert412 oder seine Kontrolle lediglich auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit konzentriert.413 In dem PSPP-Urteil attestierte das BVerfG der Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH deshalb eine gewisse Funktionslosigkeit, da die Konzentration auf die Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung die Auswirkungen unionaler Maßnahmen verdränge und damit die wichtige Angemessenheitsprüfung außer Betracht bleibe.414 Insofern könne das Ziel der Verhältnismäßigkeitsprüfung – miteinander kollidierende Positionen in Einklang zu bringen – nicht erfüllt werden.415 Verein 407 Seit dem Vertrag von Lissabon nun in Art. 2 EUV, Calliess, in: Calliess / Ruffert, EUV, Art. 2 Rn. 25; Hilf / Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EUV, Art. 2 Rn. 35. 408 Ludwigs, NVwZ 2018, S. 1417, 1420. 409 Bast, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EUV, Art. 5 Rn. 66 ff. 410 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 125, NJW 2020, 1647. 411 Pache, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar EUV / GRC / A EUV, 2017, Bd. 1, Art. 5 EUV Rn. 139. 412 Siehe EuGH, Urteil vom 10. 12. 2002 – Rs. C-491/01, British American Tobacco, Rn. 123; EuGH, Urteil vom 21. 07. 2011 – Rs. C-15/10, Etimine, Rn. 125; EuGH, Urteil vom 14. 12. 2004 – Rs. C-210/03, Swedish Match, Rn. 48; Tietje, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art.  114; vgl. BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 128, NJW 2020, 1647. 413 Im Hinblick auf EuGH, Urteil vom 08. 06. 2010 – Rs. C-58/08, Vodafone, Rn. 53 f. S; EuGH, Urteil vom 12. 05. 2011  – Rs. C-176/09, Luxemburg / Parlament, Rn. 63; EuGH, Urteil vom 17. 10. 2019 – Rs. C-569/18, Cirigliana, Rn. 43; zutreffend, BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 128, NJW 2020, 1647; ebenfalls Pache, in: Pechstein / Nowak / Häde, Frankfurter Kommentar EUV / GRC / A EUV, 2017, Bd. 1, Art. 5 EUV Rn. 140. 414 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 124 ff., 127, 132, NJW 2020, 1647. 415 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 138 ff., NJW 2020, 1647.

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zelt wird argumentiert, dass die Beschränkung auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit daraus folge, dass der EuGH die Angemessenheit nur bei konkreten Rügen prüfe.416 Angesichts des Kontrollauftrags des EuGH nach Art. 19 Abs. 1 EUV ist allerdings zu bezweifeln, ob im Hinblick auf gravierende Kompetenzverstöße (Art. 5 EUV) die Nichtbeachtung der Angemessenheit im Sinne des Primärrechts erfolgen kann. Für die sachgerechte Erfassung der Auswirkungen der Kontrolldichtereduktion und die anschließende Induktion kollidierender und abzuwägender Rechtspositionen – etwa vermittelt durch EUV, AEUV, EMRK oder GRCh –417 empfiehlt es sich, den deutschen Prüfungsdreiklang der Verhältnismäßigkeit abzurufen und mit den von dem EuGH konstatierten Definitionen anzureichern. Im Rahmen dessen können alle betroffenen unionalen oder nationalen Rechtspositionen in Einklang gebracht werden. (aa) Das PSPP-Urteil im System unionsrechtbezogener Judikatur des BVerfG In dem PSPP-Urteil rückte das BVerfG die Verhältnismäßigkeitsprüfung in das Zentrum der Frage nach Kompetenzüberschreitungen durch Maßnahmen europäischer Organe.418 Die Beschwerdeführer wandten sich mit der Verfassungsbeschwerde unter anderem gegen das Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (sogenannter Public Sector Asset Purchase Programme, kurz: PSPP) der Europäischen Zentralbank (EZB). Zuvor hat der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens entschieden.419 Anknüpfend an die Rechtssache „Gauweiler“ sah der EuGH keine Kompetenzüberschreitung im Hinblick auf das PSPP.420 Insofern wurde auch das Urteil des EuGH Gegenstand der Entscheidung des BVerfG.421 Das Handeln der EZB wurde wegen des Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Ultra-vires-Akt qualifiziert. Dass die von dem EuGH ausgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht feststellen könne, liege an dem Modus des EuGH, welcher sich fast ausschließlich auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit von Maßnahmen 416 So v. Danwitz, in: Hatje / Müller-Graff, EnzEuR, Bd. 2, Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, § 13 Rn. 44. 417 Vgl. Müller / Christensen, Juristische Methodik, Band II, Europarecht, Rn. 179 ff. 418 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, NJW 2020, 1647. 419 EuGH, Urteil vom 11. 12. 2018  – Rs. C-493/17, u. a. Weiss; dazu Sikora, EWA 2019, S. 139 ff. 420 EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Gauweiler. 421 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 138 ff., 81 ff., insbesondere Rn. 197 a. E. NJW 2020, 1647.

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konzentriere. Bestimmte wirtschaftliche Auswirkungen des PSPP werden jedoch unbeachtet gelassen, was letztlich zu einer fehlenden Berücksichtigung der kollidierenden Belange führe.422 Mit diesem Kontrollansatz werde die Funktion des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und den Rückwirkungen, die das Prinzip auf die methodische Kontrolle seiner Einhaltung habe, verkannt.423 In diesem Zusammenhang betont das BVerfG zusätzlich den notwendigen vollen Umfang der gerichtlichen Kontrolle in Bezug auf die Grenzen der Zuständigkeit des EZB. Zuvor reduzierte der EuGH in der Rechtssache „Weiss“ seine Kon­trolle, da dem ESZB bei der Ausarbeitung und Durchführung eines Programms für Offenmarktgeschäfte – wie dem PSPP – ein weites Ermessen einzuräumen sei.424 Allerdings sei die Aufrechterhaltung des hohen gerichtlichen Kontrollniveaus mit der verminderten demokratischen Legitimation der Entscheidungen des ESZB verflochten. Hierbei handle es sich um eine verfassungsrechtlich restriktive Entscheidung, die zur Auffindung von Kompetenzüberschreitungen notwendig sei.425 Neben den verfassungsrechtlichen Anforderungen laufe der Kontrollmodus des EuGH auch letztlich den Anforderungen von Art. 6 EMRK, Art. 47 GRCh zuwider.426 Soweit das BVerfG dadurch auch widersprüchliche Ansätze in der Judikatur des EuGH aufzeigt,427 sieht es sich dieser Kritik ebenfalls ausgesetzt. In der Entscheidung zur Bankenunion schlug das BVerfG trotz der eigenen nicht nur unerheblichen Bedenken hingegen einen europarechtsfreundlichen Kurs ein.428 In der Sache hat das BVerfG über das Konstrukt „Europäische Bankenunion“ entschieden. Hierbei handelt es sich um die Übertragung nationaler Kompetenzen auf die europäischen Institutionen. Dies dient einerseits der Vereinheitlichung und Etablierung einheitlicher Vorschriften für die Finanzmarktaufsicht (Bankenaufsichtsmechanismus) sowie andererseits der Abwicklung von Kreditinstituten (Bankenabwicklungsmechanismus). Das BVerfG sah in der Kompetenzübertragung und der Errichtung autonomer Einrichtungen sowie Stellen der Europäischen Union kein Problem.429 Zwar werde durch die Übertragung von Kompetenzen das demokratische Legitimationsniveau herabgestuft, allerdings verbleibe ein sogenanntes hinreichendes Mindestmaß an Legitimation und Kontrolle. Dieses liege deshalb vor, 422 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 138, 140, NJW 2020, 1647. 423 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 142, NJW 2020, 1647. 424 EuGH, Urteil vom 11. 12. 2018 – Rs. C-493/17, Rs. „Weiss u. a.“, Rn. 72, 91, EuZW 2019, 162; EuGH, Urteil vom 16. 06. 2015 – Rs. C-62/14, Rs. „Gauweiler“, EuZW 2015, S. 599. 425 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 143, NJW 2020, 1647. 426 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 144, NJW 2020, 1647. 427 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 145, NJW 2020, 1647. 428 BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, NJW 2019, 3204; siehe Kahl, NVwZ 2020, S. 824, 826. 429 BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, NJW 2019, 3204.

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da die normative Grundlage der Bankenunion (SRM-VO430) eine demokratische Steuerbarkeit gewährleiste.431 Das BVerfG operierte im Wesentlichen mit der von Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität.432 Im Rahmen der Kontrolle räumte das BVerfG dennoch ein, dass die Errichtung unabhängiger Agenturen der Europäischen Union vor dem Hintergrund, dass die Absenkung des demokratischen Legitimationsniveaus nicht unbegrenzt zulässig sei, jedenfalls keinen grundsätzlichen Einwänden begegne. Im Hinblick auf das Demokratiegebot bleibe dies jedoch „prekär“.433 Letztere Feststellungen des BVerfG sind aus verschiedenen Gründen problembehaftet, zum einen für die Entscheidung des BVerfG zu der Bankenunion: Die Identitätskontrolle hat gegenüber der Ultra-vires-Kontrolle eine andere Qualität. Gemessen werden kann das anhand von zwei Faktoren. Zunächst ist der Schutz der Verfassungsidentität grundgesetzlich in Art. 79 Abs. 3 GG verankert.434 Daneben nimmt das BVerfG darüber hinaus eine weitere Einordnung vor. Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle sind nur hinreichend qualifizierte Verstöße relevant. Danach müssen das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten führen.435 Bei der Identitätskontrolle versagt Art. 79 Abs. 3 GG eine derartige Reduzierung auf evidente Fehler, da die Verfassungsidentität nicht „berührt“ werden darf.436 Das Hinwegsehen über „nicht grundlegende“ Einwände und das Dahinstehenlassen „prekärer“ Situationen für das Demokratiegebot erscheinen unter Berücksichtigung des Wortlauts des Art. 79 Abs. 3 GG bedenklich. Zum anderen im Hinblick auf das PSPP-Urteil, da der darin gerügte Kontrollansatz des EuGH nicht weniger oberflächlich erscheint als der des BVerfG im Rahmen der Bankenunion-Entscheidung. Inkonsequent erscheint daher, dass das BVerfG die als nicht erheblich eingestuften Einwände, insbesondere angesichts der für das Demokratiegebot prekären Situation, nicht einer ausführlichen Kon 430

Verordnung (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. 07. 2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. L 225 S. 1. 431 BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn. 266 ff., NJW 2019, 3204. 432 BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn. 268, NJW 2019, 3204. 433 BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn. 138, NJW 2019, 3204. 434 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 2015 – 2 BvR 2735/14 Rn. 42, BVerfGE 140, 317. 435 BVerfG, Beschluss vom 06. 07. 2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286. 436 Aus dieser Perspektive ist auch fraglich, inwieweit die Behandlung der Ultra-vires-Kontrolle als besonderer Anwendungsfall der Identitätskontrolle aufrechterhalten werden kann, so jedoch in BVerfG, Urteil vom 21. 06. 2016 – 2 BvR 2728, 2729, 2730, 2731/13, 2 BvE 13/13, BVerfGE 142, 123 (199, 203).

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trolle zuführt und etwaige Problemstellungen auflöst. Bei der Übernahme der Ausführungen des BVerfG aus dem PSPP-Urteil müsste das BVerfG sich daher selbst entgegenhalten, dass die von dem Verfassungsgericht praktizierte Identitätskontrolle ihre Funktion nicht erfüllen kann, weil bestimmte Auswirkungen der Absenkung des Legitimationsniveaus ausgeblendet werden. Schließlich führt dies auch zu der verqueren Annahme, dass die Kontrollintensität der Verfassungsidentitätskontrolle gegenüber der Ultra-vires-Kontrolle zurückstehen kann. Aufgrund der Implementierung eines Qualitätsmerkmals für festgestellte Kompetenzüberschreitungen im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle und des Wortlauts des Art. 79 Abs. 3 GG ist allerdings Gegenteiliges der Fall. Insofern handelt es sich um einen Wertungswiderspruch. Das PSPP-Urteil trifft letztlich die richtigen Aussagen. Das Hochhalten einer möglichst exakten Verhältnismäßigkeitsprüfung oder der Kontrolle generell durch die Gerichte – die alle Ausflüsse des Wirkbereichs von unionalen Maßnahmen erfasst – und die Einschränkung von Letztentscheidungsrechten schützt vor der verfassungswidrigen Intervention supranationaler Organe und ist daher zur Feststellung von Ultra-vires-Akten zunächst begrüßenswert. Diese Genauigkeit und Ausführlichkeit muss jedoch (erst recht) die Identitätskontrolle für sich beanspruchen. Der Modus des PSPP-Urteils ist unter dieser Prämisse fortzuführen. (bb) Geeignetheit Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine beschränkende Maßnahme geeignet, wenn sie die Erreichung des angestrebten Ziels gewährleistet. Dies ist dann der Fall, wenn sie dem Anliegen tatsächlich gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen.437 Das Kohärenzerfordernis ist im Licht des Art. 7  AEUV zu verstehen.438 Mit dem definierten Ziel der Kontrolldichteverringerung verfolgt der Unionsgesetzgeber die Sicherstellung des transnationalen Vollzugs des Visakodex (18. Erwägungsgrund).439 Neben der Hervorhebung des unionsgesetzgeberischen Ziels erschließt der EuGH zudem die systematische Verankerung der Kontrolldichtereduktion innerhalb des Visakodex.440 Bei einschränkenden Maßnahmen des Gesetzgebers zu Gunsten anderer Ziele handelt es 437

In ständiger Rechtsprechung, EuGH, Urteil vom 24. 10. 2019, Rs. C-636/18, Kommission / Frankreich, Rn. 46; EuGH, Urteil vom 21. 12. 2011  – Rs. C-28/09, Kommission / Österreich, Rn. 126; EuGH, Urteil vom 16. 12. 2010 – Rs. C-137/09, Josemans, Rn. 70; EuGH, Urteil vom 19. 05. 2009 – Rs. C-171/07, C-172/07 Deutscher Apothekenverband, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 06. 03. 2007 – Rs. C-338/04, C-359/04, C-360/04, Placanica, Rn. 53, 58; EuGH, Urteil vom 17. 07. 2008 – Rs. C-500/06, Corporación Dermoestética, Rn. 39, 40. 438 Schorkopf, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 7 Rn. 8 ff.; Frenz, EuR 2012, S. 344 ff.; Lippert, EuR 2012, S. 90 ff. 439 Vgl. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki; BVerwG, Urteil 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 20 f., NVwZ 2016, 161. 440 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki.

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sich um ein sog. „Reduktionsziel“.441 Nebenfolgen der unionalen Maßnahme sind an dieser Stelle nur berücksichtigungsfähig, wenn das verfolgte „Reduktionsziel“ (Reduzierung der gerichtlichen Einwirkungen auf den kohärenten Verwaltungsvollzug) gleichzeitig konterkariert wird.442 Durch die weite Skalierung der Kontrolldichtereduktion wird die Einwirkung des dezentralen Gerichtszugangs auf den einheitlich ausgerichteten Verwaltungsvollzug tatsächlich begrenzt.443 Daher sind die einschlägigen Regelungen des Visakodex als geeignet zu qualifizieren. Widersprüchliche Nebenfolgen, die das Ziel des kohärenten Vollzugs betreffen, sind nicht ersichtlich. (cc) Erforderlichkeit Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung ist die Alternativität zur Zielerreichung geeigneter Maßnahmen zu überprüfen. Kommen ebenso wirksame Maßnahmen in Betracht, ist die am wenigsten belastende zu wählen.444 Neben der Kontrolldichtereduzierung hätten zwei weitere Möglichkeiten bestanden, welche die Kohärenz von Vollzugssystemen im transnationalen Modus ebenfalls wirksam schützen. Durch die Kontrolldichtereduktion werden verschiedene Schutzgüter tangiert. Neben der im Grundsatz garantierten Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (Art. 291 Abs. 1 AEUV) ist die Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 47 GRCh betroffen. Ebenso ist Art. 13 EMRK zu berücksichtigen. Aufgrund des mangelnden zivilrechtlichen Charakters der Verwaltungsrechtsstreitigkeit ist der Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK bereits zu verneinen.445 Zunächst ist an eine Rechtswegeröffnung zum EuG als zentrale (erste) Kontrollinstanz für einen kohärenten Verwaltungsvollzug zu denken. Dem Argument der Zersplitterung eines einheitlichen Vollzugs durch die Vollkontrolle verschiedener mitgliedstaatlicher Verwaltungsgerichte ist dann der Boden entzogen. Darüber hinaus kann die Kontrollintensität des zuständigen Gerichts hochgefahren werden, da die zentrale Entscheidung besser innerhalb der Kooperationsverfahren zwischen den mitgliedstaatlichen Behörden untereinander bzw. den mitgliedstaatlichen Behörden und der Kommission berücksichtigt werden kann. Zu beachten ist jedoch, dass das Auslagern des nationalen Rechtswegs im Rahmen des mitgliedstaatlichen Vollzugs ebenfalls einen Eingriff in die mitgliedstaatliche Souveränität darstellt. 441

Begrifflichkeit bei Noll-Ehlers, EuZW 2008, S. 522, 523 f. Siehe Noll-Ehlers, EuZW 2008, S. 522, 523 f.; Frenz, EuR 2012, S. 344 f.; Lippert, EuR 2012, S. 90, 91 f. 443 Ausführlich in Teil 2 A. II. 1. 444 Ständige Rechtsprechung, EuGH, Urteil vom 29. 06. 2017  – Rs. C-126/15, Kommission / Portugal, Ls. 1; EuGH, Urteil vom 08. 07. 2010 – Rs. C-343/09, Afton Chemical, Rn. 45; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, C-380/08, ERG, Rn. 86. 445 Vgl. in Ausländerrechtlichen Angelegenheiten EGMR, Urteil vom 05. 10. 2000  – Nr. 39652/98, Maaouia, Rn. 38–40; EGMR, Urteil vom 16. 09. 2004 – Nr. 11103/03, Ghiban, a. E.; EGMR, Urteil vom 10. 08. 2006 – Nr. 24668/03, Olaechea Cahuas, Rn. 59 ff. 442

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Daneben besteht die Möglichkeit, die Beteiligungs- und Kooperationsmechanismen des Visakodex dahingehend zu erweitern, dass das dezentralisierte Gerichtssystem vollständig eingebunden wird. Damit bezieht sich die Transnationalität nicht nur auf den Verwaltungsvollzug im administrativen Sinne, sondern auch den Verwaltungsvollzug im judikativen Sinne. Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Verwaltungsgerichte können durch ihre Kontrolle zur einheitlichen Anwendung des Visakodex beitragen. Die Vereinheitlichung anstelle der Trennung führt dann dazu, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte im Transnationalitätsmodus keinen Fremdkörper darstellen. Werden also die Kooperationskanäle der mitgliedstaat­ lichen Behörden mit den Ergebnissen der gerichtlichen Verfahren angereichert, muss die individuelle Kontrolldichtekonzeption des Mitgliedstaates nicht weichen. Die gerichtliche Kontrolle ist dann Teil des Unionsrechtsvollzugs und trägt zur Entwicklung europäischer Strukturen bei.446 Opponieren mitgliedstaatliche Gerichte im transnationalen System in ihrer Rechtsanwendung, bleibt letztlich der Weg zum EuGH über Art. 267 AEUV. Die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie bleibt mit diesem Modell erhalten und wird gegenüber der derzeit implementierten Maßnahme sogar positiv zur Unionsrechtsintegration instrumentalisiert. Diese Möglichkeit schafft zusätzlich kein Spannungsfeld zwischen dem Äquivalenzprinzip und dem Effektivitätsprinzip, da die Rechtsposition des Antragstellers nicht beeinträchtigt wird.447 Nach dem Erforderlichkeitsmaßstab des EuGH wäre an dieser Stelle aufgrund der geringen Einwirkung auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie oder auf die Garantie des Art. 47 GRCh (bzw. Art. 19 Abs. 4 GG) mit der zweiten Möglichkeit zu verfahren.448 Die Konsequenz ist die Unionsrechtswidrigkeit der implementierten Kontrolldichtereduktion. (dd) Angemessenheit Die unional induzierte Kontrolldichtereduktion scheitert nicht nur an der Erforderlichkeit, sondern ebenfalls an der Angemessenheit. Die mit der Kontrolldichtereduktion einhergehenden Nachteile überwiegen das angestrebte Ziel transnationaler Verwaltungsvollzugskohärenz im Visarecht bei weitem.449 Es ist fraglich, ob das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip derartige Einschnitte abfedern kann. Vorliegend sind vor allem Leistungsgrundrechte und Verfahrensgarantien betroffen.

446 Richtig plädierend Gärditz, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 95, 96 f. 447 Zuvor bemerkt Teil  4  B. I. 1. b) cc) (1) (b). 448 Bast, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, EUV Art. 5 Rn. 71. 449 Vgl. EuGH, Urteil vom 13. 11. 1990 – Rs. C-331/88, Fedesa Rn. 13; EuGH, Urteil vom 23. 10. 2012  – Rs. C-581/10, C-629/10, Nelson, Rn. 71; EuGH, Urteil vom 28. 07. 2011  – Rs. C-309/10, Argana Zucker, Rn. 42.

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Trotz des Habitus der sparsamen Konturierung grundrechtlicher Prüfung durch den EuGH wird im Folgenden eine vollständige Prüfung konstruiert.450 (α) Mitgliedstaatliches Ausnahmekonzept des Art. 19 Abs. 4 GG Wie bereits eingeleitet, kann die zur Zielerreichung veranlasste Kontrollreduktion als Einschnitt in die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie nicht grenzenlos erfolgen. Markiert die Kontrolldichtekonzeption selbst für den deutschen Gesetzgeber eine grundrechtlich geschützte Grenze, so gilt diese ebenfalls für die Unionsorgane bei ihrer Kompetenzausübung. Dies gilt erst recht, wenn weniger intensive Maßnahmen gegeben sind. Die Kontrolldichtereduktion darf damit nicht die Aushöhlung der Rechtsschutzgarantie gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bewirken.451 Aufgrund der Ausgestaltung als Jedermann-Grundrecht sind die ausländischen Antragsteller des Visaverfahrens in den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG integriert.452 Die Qualität des Visakodex als EU-Verordnung ändert dies nicht. Der Geltungsbereich von Art. 19 Abs. 4 GG wird über Art. 1 Abs. 3 GG definiert, welcher die Akteure des deutschen Verwaltungsverfahrens an das Grundgesetz bindet. Sinngemäß soll Art. 19 Abs. 4 GG den Rechtsschutz gegen die deutsche öffent­liche Gewalt garantieren. Damit ist der Ursprung des zugrundeliegenden materiellen Gesetzes irrelevant, sofern die ausführende Staatsgewalt an die Grundrechte gebunden ist.453 Dies verpflichtet somit ebenfalls zur vollständigen Nachprüfung von unionalen Normen.454 (αα) Subjektiv-öffentliche Rechte Voraussetzung ist dennoch die Verletzung eines subjektiven Rechts. Art. 19 Abs. 4 GG begründet kein Recht, sondern setzt dieses voraus.455 Dieses Recht muss 450

Gärditz, in: Grabenwarter, EnzEuR Bd. 2, Europäischer Grundrechteschutz, § 4 Rn. 6 ff.; Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 70; Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 8; Kingreen, JuS 2000, S. 857, 861; Szczekalla, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 1 f.; kritisch Kühling, in: Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht; s. Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 234; Terhechte, Konstitutionalisierung und Normativität der europäischen Grundrechte, S. 57; nuancierend Nettesheim, EuZW 1995, S. 106 ff. 451 Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 184; Eichberger, NVwZBeil. 2013, S. 18, 21. 452 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 85. 453 Siehe ausdrücklich BVerfG, Beschluss vom 23. 06. 1981 – 2 BvR 1107/77, 2 BvR 1124/77, 2 BvR 195/79, BVerfGE 58, 1, 26 f.; ebenfalls Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 201 ff. 454 Siehe Sachs, in: Sachs, GG, Art. 19 Rn. 146a; BVerfG, Beschluss vom 13. 03. 2007  – 1 BvF 1/05, BVerfGE 118, 79, 97. 455 Ständige Rechtsprechung, BVerfG, Beschluss vom 23. 12. 1968 – 2 BvR 606/68, 2 BvR 623/68, BVerfGE 15, 275, 281; BVerfG, Urteil vom 08. 05. 1979 – 2 BvR 782/78, BVerfGE

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normativ verankert sein. Der Ursprung der rechtlichen Grundlage eines solchen Rechts ist unbeachtlich.456 Die Ermittlung erfolgt durch die Auslegung der konkreten Normen. Zur Auffindung des subjektiven Rechts wird die Schutznormtheorie ins Feld geführt, wonach das Regelungsziel der betroffenen Normen nach der Wahrnehmung individueller Interessen zu hinterfragen ist und sich gleichzeitig ein von der bloßen Allgemeinheit unterscheidbarer Personenkreis abheben müsste.457 Im Bereich des Unionsrechts ist die Auffindung subjektiver Rechte aufgrund der fehlenden Anerkennung der Schutznormtheorie nicht ganz einfach.458 Im Unionsrecht sind jedoch subjektive Rechte des Einzelnen nicht unbekannt.459 Im Fall von nicht fristgemäß oder unzulänglich umgesetztem Unionsrecht sieht der EuGH etwa die unmittelbare Berufung auf das Sekundärrecht durch den Einzelnen vor.460 Ver51, 176, 185; BVerfG, Beschluss vom 08. 07. 1982 – 2 BvR 1187/80, BVerfGE 61, 82, 110 f.; BVerfG, 24. 04. 1985 – 2 BvF 2/83, 2 BvF 3/83, 2 BvF 4/83, 2 BvF 2/84, BVerfG, Beschluss vom 09. 01. 1991 – 1 BvR 207/87, BVerfGE, 69, 1, 49; BVerfG, Beschluss vom 09. 01. 1991 – 1 BvR 207/87, BVerfGE 83, 182, 194 f.; BVerfG, Beschluss vom 17. 04. 1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34, 49; BVerfG, Urteil vom 20. 02. 2001 – 2 BvR 1444/00, Rn. 43, BVerfGE 103, 142, 156; BVerfG, Beschluss vom 23. 05. 2006 – 1 BvR 2530/04, Rn. 29, 46, BVerfGE 116, 1, 11 f., 18, Rn. 67; BVerfG, Beschluss vom 19. 07. 2011  – 1 BvR 1916/09, BVerfGE 129, 78; BVerfG, Beschluss vom 26. 04. 2010 – 2 BvR 2179/04, BVerfGK 17, 246, 253; BVerfG, Beschluss vom 03. 03. 2011  – 1 BvR 2852/10, BVerfGK, BVerfGK 18, 360; BVerwGE 60, 154 (161); 84, 375 (377). 456 Vgl. Nettesheim, AöR 132 (2007), S. 333 ff.; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 19 Rn. 37; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 61. 457 Vgl. BVerwG, Urteil vom 16. 03. 1989 – 4 C 36.85, BVerwGE 81, 329, 334; BVerwG, Urteil vom 23. 03. 1982 – 1 C 157.79, BVerwGE 65, 165, 167; ausführlich Wahl, in: Schoch / Schneider /  Bier, VwGO Vor § 42 Abs. 2 Rn. 94; BVerfG, Beschluss vom 27. 04. 1971  – 2 BvR 708/65, BVerfGE 31, 33, 39 ff.; BVerwG, Urteil vom 24. 09. 1998 – 4 CN 2.98, BVerwGE 107, 215, 220; BVerwG, Urteil vom 28. 06. 2000  – 11 C 13.99, BVerwGE 111, 276, 280; Ramsauer, JuS 2012, S. 769, 770 ff.; Kirchhof, AöR 135 (2010), S. 29, 46 ff.; Groß, DV 43 (2010), S. 349, 351 ff.; Kraft, in: Kluth / Rennert, Entwicklungen, S. 13 ff., 24 ff.; Masing, in: HoffmannRiem / Schmidt-­A ßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, § 7 Rn. 106 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 118 ff., 127 ff.; Papier, in: HStR VIII, § 177 Rn. 48 ff.; Schoch, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, § 50 Rn. 135 ff.; Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S. 329 ff., 419 ff.; Ibler, Rechtspflegender Rechtsschutz, S. 170 ff.; König, Drittschutz, S. 29 ff.; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, S. 186 ff.; ­Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, S. 100 ff.; Bauer, AöR 113 (1988), S. 582, 587 ff.; Dreier / Schulze-Fielitz, 3. Aufl. 2013, GG, Art. 19 Abs. 4. 458 Lehnert / Pelzer, ZAR 2010, S. 41, 42; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 510 ff.; Triantafyllou, DÖV  1997, S. 192, 193; Baumgartner, Die Klagebefugnis nach deutschem Recht vor dem Hintergrund der Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts, S. 86; vgl. Kingreen /  Störmer, EuR 1998, S. 263, 263 f.; keine spezifische Methode Classen, in: Grabitz / Hilf /  Nettesheim, AEUV Art. 197 Rn. 43. 459 EuGH, Urteil vom 5. 2. 1963 – 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, 1, 24; EuGH, Urteil vom 04. 12. 1974, Rs. C-41/74, van Duyn / Home Office, Slg. 1974, 1337, 1349; Lehnert / Pelzer, ZAR 2010, S. 41, 42 f.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 457, 510 ff. 460 EuGH, Urteil vom 22. 06. 1989 – 103/88, Constanzo, Rn. 29; EuGH, Urteil vom 19. 01. 1982 – 8/81, Becker, Rn. 25; sog. „invocabilité“ vgl. v. Danwitz, Verwaltungsrecht­liches System und Europäische Integration, S. 231 f.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

gleicht man diese Vorgehensweise unter Zugrundelegung der Anknüpfungspunkte und der Zielbestimmung, folglich der rechtlichen Durchsetzung von Individualrechten im System vornehmlich subjektiv geprägten Verwaltungsrechtsschutzes einerseits und der „Mobilisierung des Bürgers“ zur Durchsetzung objektiver Regelungsanliegen des Unionsrechts461 andererseits, wird deutlich, dass aus der – wenn möglich  – parallelen Anwendung der beiden Vorgehensweisen keine subjektiv-­ öffentlichen Rechte bzw. Individualrechte vergleichbarer Qualität resultieren können. Zumal die nach dem unionsrechtlichen Modell begründete Position bereits einem Zeitfaktor bis zur ordnungsgemäßen Umsetzung des Sekundärrechts unterliegt. Eine Fruchtbarmachung derartiger subjektiver Rechte im Rahmen des Art. 19 Abs. 4 GG oder innerhalb § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO kann dies wohl kaum verbieten. Nationalrechtlich vergleichbare(re)  (dauerhafte)  Rechtspositionen bieten hingegen die Referenzgebiete des Umwelt- und Vergaberechts, die Grundfreiheiten und das Diskriminierungsverbot. Die Individualrechte sind bereits im Rahmen der unionsrechtlichen Normsetzung installiert.462 Da es sich bei EU-Verordnungen um fertige Rechtsprodukte des Unionsgesetzgebers mit unmittelbarer Wirkung handelt, lassen sich daraus ebenfalls subjektive Rechte ableiten. Die nationalen Gerichte müssen diese Rechte sogar schützen.463 Der EuGH erkennt etwa individuelle Rechte des Einzelnen an, wenn einschlägige Normen für die Mitgliedstaaten klare und uneingeschränkte Gebote oder Verbote enthalten. Die einschlägige Regelung muss die Mitgliedstaaten also zu einem Tun oder Unterlassen verpflichten und darf nicht an den Eintritt einer Bedingung geknüpft sein.464 Neben diesen restriktiven Voraussetzungen lässt der EuGH ebenfalls eine extensivere Auslegung für Schutznormen zu, die sich an Akzenten der Schutznormtheorie bedient.465 Damit

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Nettesheim, AöR 132 (2007), S. 333, 354 f. Vgl. Wollenschläger, in: Terhechte Verwaltungsrecht der Union, § 19 Rn. 64, 65 f.; Classen, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 197 Rn. 43 – 45; siehe RL 2003/4/EG, ABl. 2003 L 41, 26, zu Umweltinformationen; Art. 11 RL 2011/92/EU, ABl. 2011 L 26, 1 zur Verbandsklage EuGH, 08. 03. 2011 – Rs. C-240/09, Lesoochranárske zoskupenie VLK, Rn. 46; dazu BVerwG, Urteil vom 21. 11. 2013 – 7 C 40.11, BVerwG, NVwZ 2014, 64; Lau, NVwZ 2014, 637 ff.; EuGH, Urteil vom 12. 05. 2011, Rs. C-115/09, Trianel Kohlekraftwerk Lühnen, Rn. 45; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 512. 463 „Nach ständiger Rechtsprechung kann sie schon nach ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Gemeinschaftsrechts Rechte der Einzelnen begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen.“ Vgl. EuGH, Urteil vom 10. 10. 1973, Rs. 34/73, Variola, Rn. 8; EuGHm Urteil vom 17. 09. 2002, Rs. C-253/00, Muñoz und Superior Fruitic, Rn. 27; EuGH, Urteil vom 13. 10. 2005, Rs. C-379/04, Richard Dahms GmbH, Rn. 13; v. ­Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 512; Lehnert / Pelzer, ZAR 2010, S. 41, 42 f. 464 Definition bei v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 514; für das Primärrecht abstrahierend EuGH, Urteil vom 05. 02. 1963 – 26/62, van Gend und Loos, Slg. 1963, 1, 25; EuGH, Urteil vom 15. 07. 1964 – 6/64, Costa / E. N.E.L, Slg. 1964, 1251, 1269; EuGH, Urteil vom 19. 11. 1991 – Rs. C-6/90, C-9/90, Francovich, Rn. 31; EuGH, Urteil vom 20. 09. 2001 – Rs. C-453/99, Courage, Rn. 19; zuletzt bestätigt EuGH, Gutachten 2/13 vom 18. 12. 2014, Rn. 214; EuGH, Urteil vom 24. 10. 2018 – Rs. C-234/17, XC, Rn. 36, 41. 465 Analytisch v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 513 f. 462

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sind der Schutzzweck und die Ziele der relevanten Normen zu beachten und zusätzlich die Erwägungsgründe.466 (ββ) Subjektiv-öffentliche Rechte im Visakodex Die unionsrechtliche Tauglichkeit der Konzeption einer deutschen Verpflichtungsklage gemäß § 42  Abs.  1 Alt.  2 VwGO ist freilich keine uninteressante Frage467 und findet innerhalb der folgenden Untersuchung des Art. 19 Abs. 4 GG nur insoweit Beachtung, dass die zugrundeliegende vorstehend formulierte gebundene Verwaltungsentscheidung des Visakodex468 als Sachurteilsvoraussetzung der Verpflichtungsklage469 ein (verletzbares) subjektives Recht (bzw. einen Rechtsanspruch) als Kehrseite begründet, welches den Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG eröffnen könnte. Besteht nach den deutschen Grundsätzen die Notwendigkeit für die Gewährleistung der Klagemöglichkeit des Antragstellers, aus der Gebundenheit der Verwaltungsentscheidung ein subjektives Recht herzuleiten, so ist das im Rahmen des innerstaatlichen Vollzugs zur Ermöglichung des Rechtsmittels gemäß Art. 32 Abs. 3 Visakodex sogar eine mitgliedstaatliche Pflicht.470 Geboten ist dann zusätzlich der Rückgriff auf dieses Recht innerhalb des Art. 19 Abs. 4 GG als Verfahrensgrundrecht.471 Allerdings kann auch nach unionsrechtlichen Grundsätzen ein subjektives Recht hergeleitet werden.472 Dieses bedeutet nicht zwangsläufig, dass das subjektive Recht entsprechend dem nationalen Verwaltungsprozessrecht eine unionale Klagemöglichkeit offerieren muss. Nach den Ausführungen des EuGH soll die normative Konzeption des Art. 32 Visakodex Antragstellern das legale Einreisen ermöglichen, ein Überblick über die möglichen Verweigerungsgründe bereitgestellt sowie eine Ungleichbehandlung der Antragsteller verhindert werden.473 Damit wird der Unionsgesetzgeber den Erwägungsgründen 3 und 18

466

EuGH, Urteil vom 17. 10. 1991 – Rs. C-58/89, Kommission / Deutschland, Rn. 14; EuGH, Urteil vom 08. 10. 1996 – Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94, C-190/94, Dillenkofer, Rn. 37, 39. 467 Ablehnend Huber, NVwZ 2014, 289, 293f; zum Streitstand Kahl / Ohlendorf, JA 2011, S. 41, 43; rechtsvergleichend zum deutschen und französischen Verwaltungsrecht, SchmidtAßmann / Dagron, ZaöRV 2007, S. 395. 468 Ausführlich siehe Teil 2  B. I. 1. b) aa); Teil 2  B. V. 1.; ebenfalls EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 63; dies zutreffend als problembehafteten gebundenen Anspruch qualifizierend, VG Berlin, 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; vgl. zum gebundenen Anspruch auch BVerwG, Urteil vom 17. 09. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 15, NVwZ 2016, 161. 469 Pietzcker, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 42 Abs. 1 Rn. 91. 470 Daher BVerwG, Urteil vom 17. 9. 2015 – 1 C 37.14, Rn. 14, 15, 21, NVwZ 2016, 161; EuGH, 19. 12. 1968 – Rs. 13/68, Salgoil, Slg. 1968, 680, 692–694. 471 Dies verkennend und lediglich auf Art. 47 GRCh abzielend, VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 33, juris. 472 A. A. VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 33, juris. 473 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52, 54.

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des Visakodex gerecht.474 Hierbei handelt es sich zwar nur um eine mittelbare und objektive Begünstigung allgemeiner Art aufgrund der Zuweisung einer strengeren Gesetzesbindung der Verwaltung, die lediglich auf der Versagung eines behördlichen Ermessens basiert.475 Normierte Interessen allgemeiner Art schließen im Unionsrecht letztlich keine subjektiven Rechte aus, solange dadurch reflexiv Individualinteressen geschützt werden.476 Genügt Vorstehendes nicht, wird zumindest auf der Ebene von Art. 19 Abs. 4 GG ein subjektives Recht auf ein (effektives) Rechtsmittel bzw. einen (effektiven) Rechtsbehelf gemäß Art. 32 Abs. 2, Art. 34 Abs. 7, Art. 35 Abs. 7 Visakodex sowie Art. 18 Abs. 4 Studenten- und Austauschrichtlinie angenommen werden müssen. Die Installation von subjektiven Rechten zur Kontrolle und Abwehr von rechtswidrigen Maßnahmen gegen Antragsteller wäre ansonsten nur eine bloße Formsache, um unionalen und nationalen Verfahrensgrundrechten in oberflächlicher Manier zu genügen.477 (γγ) Eingriff und Einschränkungsgrenzen des Art. 19 Abs. 4 GG Die unionsgesetzgeberisch intendierte Reduktion gerichtlicher Kontrolle ist in Ansehung des Art. 19 Abs. 4 GG konstituierenden Grundsatzes vollständiger Überprüfung ein Eingriff, welcher der etablierten Konturierung möglicher Ausnahmen nach Maßgabe der Rechtsschutzdogmatik folgen muss.478 Die Einschränkbarkeit der garantierten Rechtsschutzeffektivität des Art. 19 Abs. 4 GG durch administrative Letztentscheidungsrechte wurde in hinreichendem Maß durch das BVerfG begrenzt: „Auch der Gesetzgeber ist im Übrigen nicht frei in der Einräumung behördlicher Letztentscheidungsbefugnisse. […] Allerdings ist er hierbei durch die Grundrechte sowie durch das Rechtsstaats- und das Demokratieprinzip und die hieraus folgenden Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit gebunden. Will er im Übrigen gegenüber von ihm anerkannten subjektiven Rechten die gerichtliche Kontrolle zurücknehmen, hat er zu berücksichtigen, dass im gewaltenteilenden Staat grundgesetzlicher Prägung die letztverbindliche Normauslegung und auch die Kontrolle der Rechtsanwendung im Einzelfall grundsätzlich 474

Normativer Bezug ist im Unionsrecht nicht zwingend, Kahl / Ohlendorf, JA 2011, S. 41, 42; vgl. EuGH, Urteil vom 17. 10. 1991 – Rs. C-58/89, Kommission / Deutschland, Rn. 14; EuGH, Urteil vom 08. 10. 1996 – Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94, C-190/94, Dillenkofer, Rn. 37, 39. 475 Spezifische Aufgaben der Verwaltung werden in diesem Kontext auch berücksichtigt, Classen, in: Grabitz / Hilf / Nettesheim, AEUV Art. 197 Rn. 45. 476 EuGH, Urteil vom 14. 07. 1967  – Rs. 5/66, 7/66, 13/66, 14/66, 15/66, Kampffmeyer /  Kommission; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 514; Lehnert / Pelzer, ZAR 2010, S. 41, 42f; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht. Eine Untersuchung zur Rechtsidee des „bestmöglichen Umweltschutzes“ im EWG-Vertrag, S. 146; Schoch, NordÖR 2002, S. 1, 8. 477 Überblick bei Thiele, ERA Forum 16 (2015), S. 511 ff. 478 Ausdrücklich BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE Band 129, 1, 20; siehe Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 181 ff.

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den Gerichten vorbehalten ist. Deren durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantierte Effektivität darf auch der Gesetzgeber nicht durch zu zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds.“479

Das Bemühen des EuGH um eine normative Herleitung der Zuweisungsintention des Unionsgesetzgebers muss zunächst positiv hervorgehoben werden.480 In dem Ziel des Kohärenzerhalts eines transnationalen Verwaltungsvollzugs lässt sich ebenfalls ein hinreichend gewichtiger Sachgrund erkennen. Das BVerfG setzt allerdings eine Grenze für die Einschränkung der garantierten Rechtsschutzeffektivität durch administrative Letztentscheidungsrechte bei der quantitativen Zuweisung (zahlreiche) durch den Gesetzgeber oder der qualitativen Beschaffenheit (weitgreifende) der Letztentscheidungsrechte. Das Letztentscheidungsrecht des Visakodex und der Studenten- und Austausch-Richtlinie erstreckt sich auf die tatbestandliche Beurteilung und Bewertung sowie auf die rechtliche Beurteilung. Für die gerichtliche Kontrolle bleibt nach Anlegung des dadurch mittelbar auferlegten Kontrollmaßstabes nicht mehr viel übrig. Erstreckt man die Beurteilungsbefugnisse der Verwaltung auf Tatsachen und Rechtsfolgen, entsteht dadurch sogar ein faktisches Ermessen, was gerade nicht dem Willen des Unionsgesetzgebers entspricht. Das VG führte dazu folgende Probleme an: „[…] Antragsteller hat allenfalls dann einen Anspruch auf ein Visum, wenn die Behörde ihm ein Visum erteilen will. Die Voraussetzungen, unter denen sie es will, darf sie selbst setzen und dann frei entscheiden, ob sie im Einzelfall erfüllt sind. […] Dazu darf die Behörde nach der maßgeblichen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof als eine Anwendungsvoraussetzung eine familiäre und / oder wirtschaftliche Verwurzelung bestimmen und die ihr bekannten Tatsachen beliebig dahin würdigen, ob die erforderliche Verwurzelung vorliegt. Sie darf – wie bisher üblich – Kinderlose und Unverheiratete für ungenügend verwurzelt ansehen, weil sie keine Kinder haben und nicht verheiratet sind. Eltern erwachsener Kinder darf sie so ansehen, weil ihre Kinder erwachsen und nicht mehr betreuungsbedürftig sind. Eltern kleiner, betreuungsbedürftige Kinder darf sie so ansehen, weil sie mit ihrem Reisewunsch belegen, dass die Bindung zu den Kindern zu schwach ist oder zu erwarten steht, dass sie ihre Kinder nachholen werden. Ähnliches gilt für alleinreisende Ehegatten. Vermögenslose darf sie für ungenügend wirtschaftlich verwurzelt ansehen. Vermögende darf sie gleichermaßen einschätzen, weil ihr Vermögen ins Ausland transferiert oder von dort aus verwaltet werden kann. Wer arbeitslos ist, darf von ihr für ungenügend wirtschaftlich verwurzelt gehalten werden. Wer Arbeit hat, kann so betrachtet werden, weil sie zu schlecht entlohnt wird. Wer gut bezahlte Arbeit hat, kann so gewürdigt werden, weil er im Schengen-Ausland besser bezahlt würde. Alte Menschen können als in ihren Heimatländern nicht verwurzelt bezeichnet werden, weil die dortige Krankenversorgung und Altenpflege zu schlecht ist. Junge Menschen können dort als nicht ausreichend verwurzelt betrachtet werden, weil sie aus ihrem Leben an besserer Stelle mehr machen wollen. Sie kann all 479

BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 73, EuGRZ 2011, 394. EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 25; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191.

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diese Umstände aber auch gegenteilig bewerten (was in Anbetracht der vom Generalanwalt angesprochenen 12 Millionen Visa im Jahr 2011 massenhaft geschehen muss). Es steht ihr frei, eine Summe von Reisewünschen als abzuwehrenden Migrationsdruck zu werten oder als mögliches Zuwanderungsinteresse zu begrüßen. Der Freiheit der Behörde in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen als auch auf die Würdigung der Tatsachen entspricht im umgekehrten Maß die Prüfungsbefugnis des Gerichts, sein Prüfungsumfang. Dort, wo die Behörde frei ist, hat das Gericht nichts zu prüfen. Nicht zu entscheiden ist, ob der vom Europäischen Gerichtshof für die Art. 23 Abs. 4, Art. 32 Abs. 1 und Art. 35 Abs. 6 VK erkannte ‚weite Beurteilungsspielraum‘ tatsächlich auf alle Versagungsgründe bezogen ist, ob es der Behörde etwa überlassen ist, ein Reisedokument für falsch zu halten (Art. 32 Abs. 1 Buchstabe a i. VK) oder den Antragsteller als im SIS zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben anzusehen (Art. 32 Abs. 1 Buchstabe a v. VK). Denn hier geht es nur um den Versagungsgrund des Art. 32 Abs. 1 Buchstabe b VK in der Variante, begründeter Zweifel an der vom Antragsteller bekundeten Absicht, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. Nach den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs ist es Sache der Behörde, die Zweifel, die man ohnehin mangels umfassenden Wissens um die Person des Antragstellers stets haben muss, für begründet zu erklären.“481

Zusätzlich ist das rechtsstaatliche und demokratische Fundament dieser Konzeption zu hinterfragen. Die Verwaltung bleibt damit praktisch unabhängig, solange die Beurteilungsfehler nicht offensichtlich sind und die Formalien des Verwaltungsverfahrens eingehalten werden. Eine derartige Entkoppelung der Verwaltung im gewaltengeteilten demokratischen Rechtsstaat ist nicht gewollt und wird durch die Rechtsprechung des BVerfG zum Ausdruck gebracht.482 Hier liegen die Grenzen des nationalen Gesetzgebers, die für eine Überschreitung eine Änderung des Grundgesetzes erfordern. An diesem Punkt ist die definierte Identitätsgrenze des Grundsatzes der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie erreicht und die Kontrolldichtevorgaben des Unionsgesetzgebers unbeachtlich bzw. verfahrenskonform zu modifizieren.483 Im Hinblick auf das in Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 2 und 3 GG anteilig verankerte Rechtsstaatprinzip,484 der Fortsetzung des Rechtsstaatsprinzips in Art. 19 Abs. 4 GG und der darin zum Ausdruck kommenden ge-

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Zutreffend VG Berlin, Urteil vom 27. 3. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 31, juris. A. A. da dem Unionsgesetzgeber die Aufgabe zukommt die Rechtsposition des Einzelnen auszugestalten, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 414, 415. Die Anführung des TK-Beispiels ist außerdem ungeeignet, da die Letztentscheidungsrechte des TK-Rechts nach der Rechtsprechung des BVerfG auf nationaler Dogmatik aufbauen, weshalb eine Entscheidung in Sache nicht notwendig war, BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2011 – 1 BvR 1932/08, Rn. 31 ff., BVerfGK 19, 229. Verkannt wird allerdings, dass Art. 19 Abs. 4 GG nicht nur die Position des Antragstellers schützt, sondern zusätzlich die Grenzziehung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit nachzeichnet, anders ist die Bezugnahme des BVerfG auf das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip nicht zu deuten, vgl. SchmidtAßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 180a und Rn. 184. 483 Siehe Teil  4  B. I. 1. b) cc) (2) (a). 484 Zur Gewaltenteilung und Gewaltengliederung, Scholz, in: Maunz / Dürig, GG Art. 23 Rn. 76; nur Teile so BVerfG, Beschluss vom 15. 12. 1970 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, 2 BvR 308/69, BVerfGE 30, 1, 24 ff. 482

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richtlichen Aufgabe exekutivischer „Selbstherrlichkeit“ entgegenzuwirken485 sowie die Kompetenzbegrenzung zwischen den Gewalten zu balancieren,486 ist die Möglichkeit einer derartigen verwaltungsentkoppelnden Änderung in Ansehung des Identitätsschutzes in Art. 79 Abs. 3 GG bereits anzuzweifeln.487 Ist der nationale Gesetzgeber grundgesetzlich an einer solchen Änderung gehindert, so gilt dies unstreitig für den Unionsgesetzgeber.488 Das unionsgesetzgeberische Handeln ist vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV i. V. m. dem Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt, sodass für Deutschland gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 2 das erforderliche (hinreichende) demokratische Legitimationsniveau fehlt.489 (β) Unionsrechtliche Grenzen der Kompetenzausübung Art. 47 GRCh und Art. 13 EMRK Über Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EUV sind die GRCh und die EMRK für die Unionsorgane verbindlich. Dies vermittelt Antragstellern weitere beachtliche Rechtspositionen wie Art. 47 GRCh und Art. 13 EMRK. Neben der Verfahrensautonomie und dem zu beachtenden Schutzgehalt des Art. 19 Abs. 4 GG kann der Unionsgesetzgeber sich zudem nicht einfach über selbst auferlegte Restriktionen der GRCh und der EMRK hinwegsetzen.490 Das VG Berlin rügte bereits eine fehlende Überprüfung des Art. 47 GRCh durch den EuGH bei der Entscheidung für eine Kontrolldichtereduktion, lehnte allerdings eine Rechtsverletzung ab: „Art. 47 GR-Charta, der im Urteil des Europäischen Gerichtshofs keine Erwähnung findet, steht dem hier vertretenen Verständnis des gerichtlichen Prüfungsumfangs bzw. des der Behörde zustehenden ‚weiten Beurteilungsspielraums‘ nicht entgegen. Die Norm gibt zwar ein Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Ein Rechtsbehelf, auf den hinein Gericht praktisch nichts prüft, ist gemeinhin nicht als wirksam anzusehen. 485

Siehe BVerfG, Beschluss vom 13. 06. 1979  – 1 BvR 699/77, BVerfGE 51, 268, 284; BVerfG, Beschluss vom 12. 01. 1960 – 1 BvL 17/59, BVerfGE 10, 264, 267. 486 Siehe BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 73, EuGRZ 2011, 394. 487 Mit Blick auf die Gewaltenteilung und Gesetzesbindung richtig Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 121 ff.; ebenso Schlabrendorff / Rupp, BVerfGE 30, 1, 33 ff. a. A. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG Art. 19 Abs. 4 Rn. 30; in Bezug auf die Wirkung des Art. 20 Abs. 3 GG zuletzt offengelassen BVerfG, Urteil vom 14. 05. 1996 – 2 BvR 1938, 2315/93, BVerfGE 94, 49, 104; für einzelne Materien umstritten, befürwortend für Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis BVerfG, Beschluss vom 15. 12. 1970  – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, 2 BvR 308/69, BVerfGE 30, 1, 24 ff.; Papier, in: HStR, Bd. VIII, § 177 Rn. 97; Huber, in: von Mangoldt / K lein / Starck, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 519; Durner, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 10 Rn. 165 f.; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 119 ff. 488 BVerfG, Urteil vom 30. 6. 2009, Az. BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08 und 2 BvR 182/09, BVerfGE 123, 267. 489 Im Fall von Kompetenzüberschreitungen BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 112, NJW 2020, 1647. 490 Zumal dies für das BVerfG in der Solange-Rechtsprechung ein relevanter Faktor für den Abbau von Kontrollvorbehalten gegenüber der Europäischen Gemeinschaft war, siehe ebenfalls Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 402.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

Indes setzt Art. 47 GR-Charta ein durch das Recht der Union garantiertes Recht voraus. Daran fehlt es hier. Der Visakodex gewährt dem Antragsteller allenfalls einen wertlosen, weil vom Belieben der Behörde abhängigen Anspruch.“491

Der Schutzbereich des Art. 47 GRCh und des Art. 13 EMRK setzt – ähnlich wie Art. 19 Abs. 4 GG – auf ein verletztes Recht oder eine Freiheit. Grundlage für eine derartige Freiheit oder ein Recht kann das gesamte Unionsrecht sein.492 Für die Auffindung des subjektiven Rechts im Unionsrecht betreffend Art. 47 GRCh werden keine anderen Anforderungen gestellt, als zuvor beschrieben.493 Art. 13 ERMK verlangt hingegen die Verletzung eines Rechts der EMRK,494 die in diesem Kontext nicht identifizierbar ist. So findet das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK keine Anwendung auf Verfahren des öffentlichen Rechts. (αα) Eingriff und gewährleistete Garantien Eine Kontrolldichtedogmatik entsprechend dem deutschen Verwaltungsrecht am Maßstab der Art. 47 GRCh sowie gegebenenfalls der Art. 6 und Art. 13 EMRK hat sich bisher noch nicht herausgebildet.495 Zu klären sind indes noch die Fragen des gesetzgeberischen Eingriffs und der Einschränkungsgrenzen der garantierten Rechtspositionen. Die Frage der Angemessenheit einer Beschränkung (Art.  52 Abs. 1 GRCh) durch unionale Maßnahmen erfordert die Darstellung der grundrechtlich garantierten Rechtspositionen. Die Eingriffsdogmatik entspricht in den Grundzügen der deutschen in dem Sinne, dass zwischen unmittelbaren und mittelbaren Eingriffen differenziert wird.496 Letztere werden im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Lasten des Betroffenen berücksichtigt.497 Angesichts des Primärziels, die Kohärenz des Verwaltungsvollzugs durch Abschirmung gerichtlicher Kontrolle zu gewährleisten, wird man nicht lediglich eine unbeabsichtigte Nebenfolge annehmen können. Insbesondere deshalb, da der EuGH betont, dass die Kontrolldichtereduktion unionsgesetzgeberisch beabsichtigt sei und dies normativ abgeleitet werden könne.498 Art.  52 Abs. 1 GRCh ermöglicht die Einschränkung von Art. 47 GRCh. Die Grenzen bilden der Wesensgehalt der Grundrechte und der Verhältnismäßigkeits 491

VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 33, juris. Siehe Lemke, in: von der Groeben / Schwarze, GRC, Art. 47 Rn. 5; Thiele, ERA Forum 16 (2015), S. 511, 516. 493 Vgl. Jarass, GRCh, Art. 47 Rn. 8; Eser / Kubiciel, in: Meyer / Hölscheidt, GRCh, Art. 47 Rn. 18 f. 494 Siehe Richter, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Kapitel  20, Rn.  23 ff.; Pabel, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 19 Rn. 30 ff. 495 Pabel, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 19 Rn. 46; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 404. 496 Gärditz, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 4 Rn. 57 ff. 497 Siehe EuGH, Urteil vom 30. 07. 1996 – Rs. C-84/95, Bosphorus, Rn. 22 ff.; zutreffend analysierend Gärditz, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 4 Rn. 59. 498 Siehe EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 25; Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 191. 492

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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grundsatz.499 Die in Art. 47 Abs. 1 GRCh garantierte Wirksamkeit ist selbstverständlich nicht mit einer Erfolgsgarantie des Rechtsbehelfsführers durch bloße Einlegung des Rechtsbehelfs gleichzusetzen.500 Die Wirksamkeit eines Rechtsbehelfs wird dennoch erst dann anzunehmen sein, wenn der Rechtsbehelf bei Falschbeurteilung bzw. -bewertung der tatsächlichen oder rechtlichen Lage eine Erfolgsgarantie gewährleistet. Die Reduzierung der Kontrolldichte wirkt sich zwangsläufig auf die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs aus. Stellt der Unionsgesetzgeber etwa lediglich einen Rechtsbehelf zur Verfügung, der zwar einen gerichtlichen Zugang gewährt, allerdings die Kontrollkompetenzen der Gerichte derart einschränkt, dass eine wirksame Nachprüfung kaum möglich ist, bleibt fraglich, was von Art. 47 GRCh noch übrig ist. Der Rechtsbehelf ist dann nur noch eine Hülse.501 Vorstehende Überlegung folgt jedoch dem deutschen Verständnis der Wesensgehaltsgarantie in Art. 19 Abs. 2 GG.502 Nach dem EuGH ist der Wesensgehalt eines Grundrechts erst infolge eines unverhältnismäßigen Eingriffs angetastet.503 Die Beeinträchtigung des Wesensgehalts ist damit keine feste, sondern eine flexible Grenze, die an der Verhältnismäßigkeit ausgerichtet ist. Gerade in Anbetracht des in Art. 52 Abs. 1 GRCh normierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist die Herleitung eines einheitlichen Kontrolldichtereduzierungsstandards nicht sachgerecht, sondern referenzgebietsspezifisch unter Berücksichtigung der beeinträchtigten Rechte und Freiheiten innerhalb des Art. 47 GRCh zu ermitteln.504 Die Billigung der Spielraumkontrolle des EuGH im Kartellrecht vor dem Hintergrund des Art. 47 GRCh entfaltet Indizwirkung, aber schafft es nicht, Kontrollvorbehalte des Art. 47 GRCh referenzgebietsübergreifend aufzulösen.505 Im Gegensatz zum Migrationsrecht ist das administrative Letztentscheidungsrecht im Kartellrecht auf komplexe Beurteilungen beschränkt.506 Dies schließt 499

Cornils, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 5 Rn. 104, 107. Abgeleitet von Art. 13 EGMR, EGMR, Urteil vom 31. 07. 2008, Nr. 40825/98, Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas / AUT, Rn. 123; zu Art. 47 GRCh Pabel, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 19 Rn. 42. 501 Den äußeren Rahmen des Rechtsbehelfs im Sinne des Art. 47 GRCh als ausreichend anerkennend, Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 409. 502 Zur Verhinderung einer Aushöhlung der Grundrechte, Huber, in: von Mangoldt / K lein /  Starck, GG, Art. 19 Rn. 110 ff. 503 Vgl. EuGH, Urteil vom 05. 10. 1994 – Rs. C-404/92 P, X / Kommission, Rn. 18; EuGH, Urteil vom 08. 04. 1992  – Rs. C-62/90, Kommission / Deutschland, Rn. 23; ebenso Cornils, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 5 Rn. 107 f.; angesichts der Formulierungsschwankung des EuGH ist eine andere Interpretation möglich, mit der Folge, dass der Wesensgehalt von Art. 47 GRCh beeinträchtigt ist, EuGH, Urteil vom 04. 06. 2013 – Rs. C-300/11, ZZ, Rn. 51. 504 Vgl. Cornils, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 5 Rn. 107 f. 505 Letztlich erkennend Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 406, 406; Pabel, in: Grabenwarter, EnzEuR, Europäischer Grundrechteschutz, § 19 Rn. 46 f. 506 EuGH, Urteil vom 31. 03. 1998, Rs. C-68/94, Kali&Salz, Rn. 223 f.; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1985, Rs. C-42/84, Remia, Rn. 43 f.; EuGH, Urteil vom 15. 02. 2005  – Rs. C-12/03 P, Rs. C-13/03 P, Tetra Laval, Rn. 131; EuGH, Urteil vom 08. 12. 2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor /  Kommission, Rn. 54. 500

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

zwar ebenfalls Tatsachenbeurteilungen ein, allerdings handelt es sich um eine Einschränkung des administrativen Letztentscheidungsrechts. Zudem ermöglicht der wirtschaftswissenschaftliche Charakter des Kartellrechts einen wissenschaftlichen Kontrollzugang,507 womit komplexere Bewertungen anhand des (wichtigen) Begründungserfordernisses besser überprüft werden können.508 Die gerichtliche Kontrolle hat im Kartellrecht grundsätzlich einen größeren Entfaltungsraum gegenüber dem Migrationsrecht. Die verbleibenden Kontrollbefugnisse betont der EuGH nach den Ausführungen zu Art. 47 GRCh.509 (ββ) Verbleibende Rechtsposition Entsprechende gerichtliche Kontrollbefugnisse verbleiben für das Migrationsrecht – wie das VG Berlin erkannt hat – nicht. Indem die Tatsachenwürdigung ausschließlich der zuständigen Behörde obliegt und gerichtlich nicht vollständig nachprüfbar ist, hat die Behörde es in der Hand, die Rechtsfolge zu setzen.510 Dazu erfolgt die Beurteilung der Anwendungsvoraussetzungen ebenfalls durch die zuständigen Behörden. Die resultierende gesetzliche Konstruktion führt faktisch zu einem Ermessen der Behörde. Bei der Wahrnehmung der Aufgaben durch die zuständigen Behörden gemäß Art. 39 Visakodex und dem 5. Erwägungsgrund der RL 2004/114/EG, geltende Achtung der Menschenwürde und des Diskriminierungsverbots, kann dies durch eine erheblich beschränkte Offenkundigkeitskontrolle der Gerichte nicht sachgerecht überprüft werden. Zumal Offenkundigkeitskontrolle lediglich an einer von der Verwaltung konzipierten Begründung unter Berücksichtigung der ihr zustehenden Letztentscheidungsrechte vollzogen werden muss. Erheblich trifft dies Angehörige bestimmter Drittstaaten oder bestimmter Gruppen von Staatsangehörigen dieser Drittstaaten, die im Rahmen transnationaler Kooperationsinstrumente von vornherein für die Einreise als ausgeschlossen deklariert werden. Somit wird das Ziel, die willkürliche Handhabung bei der Erteilung von Visa zu vermeiden und das legale Einreisen zu fördern, konterkariert.511 Die dadurch eintretende grundsätzliche Bindung der Gerichte an die Feststellungen und Würdigungen der Verwaltung wirkt sich zudem negativ auf die Verfahrensgarantien des Art. 47 Abs. 2 GRCh aus. Neben Erforderlichkeitsmängeln für eine 507

EuGH, Urteil vom 10. 07. 2008 – Rs. C-413/06 Rn. 69, Rs. P, Bertelsmann / Sony BMG. Siehe EuGH, Urteil vom 08. 12. 2011  – Rs. C-386/10 P, Chalkor / Kommission, Rn. 61; EuGH, Urteil vom 03. 09. 2009 – Rs. C-534/07 P, Prym und Prym Consumer, Rn. 87. 509 Siehe EuGH, Urteil vom 08. 12. 2011 – Rs. C-386/10 P, Chalkor / Kommission, Rn. 67. 510 So auch VG Berlin, Urteil vom 27. 03. 2014 – 4 K 35.11 V –, Rn. 26, juris; kritisch bei der Vornahme einer bloßen Plausibilitätskontrolle durch die Gerichte hinsichtlich der Tatsachenkontrolle der Verwaltung, Gärditz, DV 46 (2013), S. 257, 267; BVerwG, Urteil vom 22. 03. 2012, 7 C 1/11, NVwZ, S. 750, 756. 511 EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013  – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 52; EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 10. 09. 2014 – Rs. C-491/13, Ben Alaya, Rn. 30. 508

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Herabsetzung des Kontrollniveaus in Bezug auf Art. 47 GRCh512 ist die Kontrolldichtereduktion unangemessen und beeinträchtigt durch einen derartigen Eingriff somit auch den Wesensgehalt des Art. 47 GRCh. (γ) Abfederung durch das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip Die Anwendung der Auslegungsmethode „effet utile“ oder des Äquivalenz- oder Effektivitätsprinzips können dies aufgrund des Aushöhlungscharakters der unionalen Kontrolldichtereduzierung nicht ändern. Zwar gestattet und gebietet das Unionsrecht eine Abwägung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie, insbesondere mit den Äquivalenz- und Effektivitätsprinzipien, allerdings ist die Kon­ trollreduzierung so intensiv, dass faktisch nichts mehr von Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 47 GRCh übrig bleibt. Werden bestimmte Positionen vollständig konsumiert, verbleibt keine Anwendungsmöglichkeit für eine Abwägung. Schließlich hätte sich das Effektivitätsprinzip angesichts des Spannungsverhältnisses zwischen der durch die Kontrollreduzierung verminderten Rechtsposition und der Durchsetzung des Unionsrechts ohnehin selbst im Weg gestanden. (c) Bewertung Die deutsche Kontrolldichtekonzeption beansprucht im nationalen Recht keine Absolutheit, sodass dem Unionsgesetzgeber das Argument die Kontrolldichtekonzeption als Identitätsfaktor mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie nur bedingt entgegengehalten werden kann. Widerspruchsfrei sind lediglich Einschnitte innerhalb des nationalstaatlich vorgegebenen Ausnahmerahmens für adminis­ trative Letztentscheidungsrechte. Die auferlegten Anforderungen der nationalen Rechtsschutzdogmatik auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 4 GG sind innerhalb des abwägungsfähigen Grundsatzes der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie zu Lasten oder zu Gunsten der unionalen Letztentscheidungsrechtskonzeption zu berücksichtigen. Das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip ist im Rahmen dessen zu beachten. Daneben ist die Letztentscheidungsrechtszuweisung eine Zuweisung von Kompetenzen an die mitgliedstaatliche Administrative und damit eine Kompetenzausübung, welche ohnehin dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 Abs. 4 EUV unterworfen ist. Im Vorliegenden fällt die normative Implementierung gerichtlicher Kontrollreduzierung auf unionaler Ebene durch sämtliche Abwägungs- und Prüfungsraster. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung scheitert zum einen an der Erforderlichkeit der Kontrolldichtereduzierung an sich, da mildere Mittel verfügbar sind, die den 512 Übertragbar die Argumentation für die Verhältnismäßigkeitsprüfung aus Teil 4 B.  I. 1. b) cc) (2) (b) (bb).

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie vor allem im Hinblick auf die Gebundenheit der Verwaltung nicht tangieren. Zum anderen an der Angemessenheit. Zunächst Art. 19 Abs. 4 GG, da die deutschen Ausnahmegrenzen für administrative Letztentscheidungsrechte des Art. 19 Abs. 4 GG deutlich überschritten sind. Selbst der deutsche Gesetzgeber ist an diese Grenzen gebunden, weshalb an diesem Punkt eine hinreichende Legitimation des Unionsgesetzgebers zu hinterfragen ist. Des Weiteren sieht das Primärrecht über Art. 6 EUV weitere (eigene) Grenzen der Kompetenzausübung vor. So ist Art. 47 GRCh unverhältnismäßig eingeschränkt, da es auch an dieser Stelle an der Erforderlichkeit der Kontrolldichtereduktion und vor allem an der Angemessenheit mangelt. Bei Letzterem wird die chartarechtlich garantierte Wirksamkeit des bereitgestellten Rechtsbehelfs faktisch entzogen. Das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip sind in diesem Kontext ebenfalls beachtenswerte Positionen.

c) Zwischenergebnis Der deutschen Kontrolldichtekonzeption ist eine Kompetenzverteilungsstruktur inhärent, die ursprünglich demokratisch begründet worden ist. Selbst eine partielle Modifikation der grundsätzlichen Kompetenzverteilung erfordert ein hinreichendes Maß demokratischer Legitimation. Aus den vorstehenden Bewertungen ist freilich keine unionsrechtsfeindliche Einstellung zum Erhalt tradierter Verwaltungsrechtsstrukturen zu folgern. Es handelt sich lediglich um die konsequente Anwendung kompetenzbeschränkender Grundsätze und Prinzipien, die ihre Verankerung im Primärrecht finden. Für transnationale Zukunftsmodelle bedeutet dies, dass die europäische Integrationsverantwortung sich nicht nur auf die Induktion unionaler Rechtssätze und die Mobilisierung der Verwaltung für die praktische Wirksamkeit sowie den Vollzug unter Exklusion mitgliedstaatlicher Gerichte erstreckt. Das Modell der Kontrollreduktion zur Gewährleistung der Transnationalität erscheint zwar zunächst einfacher umsetzbar. Die Pflicht des Unionsgesetzgebers, verhältnismäßige Maßnahmen zu treffen, zeigt jedoch, dass das einfache Mittel nicht immer vorzugswürdig ist. Die Existenz weniger souveränitätsintensiver Modelle macht die Inklusion mitgliedstaatlicher Verwaltungsgerichte in den Verwaltungsvollzug im konkreten Fall notwendig. Migrationsrechtliche Ziele der Union bezüglich legaler Einwanderung sowie der Achtung der Menschenwürde werden dadurch gefördert. Die Inklusion der Verwaltungsgerichtsbarkeit hat zusätzlich Leistungspotential, das durch die Beschneidung von Kontrollkompetenzen nicht abgerufen werden kann. Im Rahmen derart gestalteter Vollzugsmodelle ist es Aufgabe mitgliedstaatlicher Gerichte, den EuGH mittels gut strukturierter Vorabentscheidungsfragen zu klarstellenden Aussagen zu zwingen. Dies schließt die Anwendung des Äquivalenz- und Effektivitätsprinzips in Bezug auf den Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie ein. Allerdings ebenfalls Fragen der Kollision von Unions-

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recht mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 47 GRCh sowie der Allgemeinverbindlichkeitsqualität der Rechtssachen „Arcor“ und „Upjohn“. Das BVerwG umgeht durch eine voreilige „acte-claire“-Anwendung eine derartige Auseinandersetzung. Damit kann eine konsistente Kontrolldichterechtsprechung des EuGH im Unionsverwaltungsrecht forciert werden, zumal der EuGH bei Kontrolldichteausführungen Art. 47 GRCh kaum eine Plattform bietet. Konsequenz der Unverhältnismäßigkeit ist entweder die Unbeachtlichkeit unional induzierter Kontrolldichtereduktion, Kontrolldichtevorgaben513 oder einer Auslegung des Visakodex mithilfe des „Effet utile“-Grundsatzes.514 Letztere Alternative würde dazu führen, dass das administrative Letztentscheidungsrecht auf der nationalen Ebene von den Verwaltungsgerichten als Beurteilungsspielraum behandelt wird und in seinem Anwendungsbereich lediglich auf die Tatbestandsvoraussetzungen der entsprechenden Normen beschränkt wird. Dies ist deshalb zu verneinen, da das Letztentscheidungsrecht nicht nur mit deutschem Verfassungsrecht kollidiert und lediglich einer dahingehenden Anpassung bedarf, sondern in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV unionsrechtswidrig ist. Zusätzlich ist die Konzeption des Unionsgesetzgebers bei der Tatsachenwürdigung eindeutig und unter Berücksichtigung des transnationalen Systems erfolgt. 2. Ungewillkürte Letztentscheidungsrechte Das für die gewillkürten Letztentscheidungsrechte festgestellte Ergebnis gilt nicht für ungewillkürte Letztentscheidungsrechte. Hierbei handelt es sich vornehmlich um ein Problem des Umweltrechts. Unionsrechtlich betrachtet hat es der nationale Gesetzgeber in der Hand, sekundärrechtliche induzierte Letztentscheidungsrechte der mitgliedstaatlichen Legislative für eine hinreichende und souveränitätskonforme Transformation zu nutzen. Anwendungsbereiche der legislativen Letztentscheidungsrechte sind etwa die normative Maßstabskonkretisierung oder eine kontrolladäquate Anpassung des Richtlinienprogramms.515

513

So hier BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 234, NJW 2020, 1647. 514 Sog. Auslegung im Licht des Unionsrecht, vgl. A. E.  Martens, Methoden des Unionsrechts, S. 464; EuGH, Urteil vom 07. 10. 2010, Rs. C-162/09, Lassal, Rn. 51; EuGH, Urteil vom 19. 11. 2009, Rs. C-402, 432-07 Sturgeon, Rn. 47; EuGH, Urteil vom 25. 10. 2007, Rs. C-240/06, Fortum Project Finance, Rn. 36; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2006, Rs. C-174/05, Stichting ZuidHollandse Milieufederatie, Rn. 20; EuGH, Urteil vom 24. 02. 2000, Rs. C-434/97, Kommissio / Frankreich, Rn. 21; zum „effet utile“ Grundsatz Müller / Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, S. 437 ff. 515 Konditionalisierung des Normprogramms oder materielle Nachverdichtung im Rahmen des Möglichen, siehe Teil 4 A. I. 2.; A. I. 3.; insb. A. I. 5. d); dahingehend BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018 – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 24, 25, 27 BVerfGE 149, 407.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

a) Keine mitgliedstaatliche Transformationspflicht oder unionale Kontrollrücknahmepflicht Gesetzgeberische Versäumnisse einer normativen Nachverdichtung oder einer (Re-)Konditionalisierung der Transformationsgesetze schlagen auf die Vollzugsebene durch.516 Judiziert der EuGH Letztentscheidungsrechte der Mitgliedstaaten, sind diese im möglichen Umfang zu nutzen, um eine Integration des Unionsrechts in das deutsche Verwaltungsrechtssystem zu gewährleisten. Vorab ist jedoch sorgfältig zu bestimmen, wem etwaige Letztentscheidungsrechte zustehen.517 Legislative Letztentscheidungsrechte können sich zudem auf tatbestandliche Voraussetzungen des Richtlinienrechts oder eine daran anknüpfende Methode zur Tatsachenbeurteilung beziehen.518 Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass diese der Administrative zustehen oder sogar weitergeleitet werden müssen. Letzteres macht der Unionsgesetzgeber in den Richtlinien deutlich (gewillkürte Letztentscheidungsrechte).519 Entsprechend der deutschen Dichotomie administrativer Letztentscheidungsrechte gilt ebenfalls, dass die etwa rechtsfolgenbezogenen legislativen Letztentscheidungsrechte einfacher aufzufinden und öfter vorhanden sind.520 Wird eine unionale Transformationspflicht angenommen, würde dies eine Entbindung der Administrative in hohem Ausmaß bedeuten. Der nationale Gesetzgeber entscheidet über eine Modifikation von legislativen Letztentscheidungsrechten. Art. 19 Abs. 4 GG bleibt für den nationalen Gesetzgeber im Rahmen dessen verbindlich, sodass administrative Letztentscheidungsrechte für die administrative Anwendung entsprechend einzuschränken sind. Eine unionale Kontrolldichtereduktionspflicht ist mit ungewillkürten Letztentscheidungsrechten nicht verbunden. b) Restriktive Voraussetzungen für fachwissenschaftliche Freiräume Gerade im Bereich des Umweltrechts sind die fehlenden Entscheidungsmaßstäbe ein Thema. Diese erwachsen aus Transformations- und Anpassungsversäumnissen des nationalen Gesetzgebers. Solche Versäumnisse sind zum Teil an die fehlenden 516

U. a. BVerwG, Urteil vom 27. 02. 2003 – 4 A 59.01, BVerwGE 118, 15; BVerwG, Urteil vom 10. 04. 2013 – 4 C 3/12 –, BVerwGE 146, 176 ff.; BVerwG, Beschluss vom 22. 06. 2015 – 4 B 59/14, NuR 2015, 772 ff.; hinsichtlich der Konkretisierungsspielräume im Rahmen von Art. 6 FFH-RL im Anschluss an EuGH, Urteil 07. 09. 2004  – Rs. C-127/02, Herzmuschel­ fischerei, Rn. 52; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299. 517 Vgl. auch Wendel, Verwaltungsermessen als Mehrebenenproblem, S. 89 a. E. 518 U. a. EuGH, Urteil vom 28. 02. 1991 – Rs. C-57/89, Leybucht, EuGH, Urteil vom 02. 08. 1993 – Rs. C-355/90 – Kommission / Spanien, Rn. 26; EuGH, Urteil vom 11. 07. 1996 – Rs. C-44/95, Lappel Bank; EuGH, Urteil vom 19. 05. 1998 – Rs. C-3/96, Kommission / Niederlande, Rn. 61. 519 Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1. 520 EuGH, Urteil vom 14. 01. 2016 – Rs. C-399/14, Grüne Liga Sachsen, Rn. 40, 41, 54; bereits hier EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – Rs. C-379/08, C-380/08, ERG; dazu im nationalen Recht Jestaedt, in: Ehlers / P ünder, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 V 1 Rn. 35, 36 f., 46.

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Erkenntnisse in den Naturwissenschaften geknüpft. Sofern in der Naturwissenschaft jedenfalls keine hinreichende Entscheidungsgrundlage konstatiert wurde, kommt die gerichtliche Nachprüfung von naturwissenschaftlichen Verwaltungsentscheidungen an ihre Funktionsgrenzen.521 Administrativen erhalten sodann über unionsrechtliche Regelungsleerräume konstatierte gesetzgeberische Letztentscheidungsrechte, fachwissenschaftliche Letztentscheidungsrechte.522 Derartige fachwissenschaftliche Letztentscheidungsrechte sind nicht unbedingt unionsgesetzgeberisch intendiert. Gerade für die Frage der Tatsachenbeurteilung und -bewertung ist dies vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG problemträchtig. Art. 19 Abs. 4 GG erfordert von Kontrollinstanzen eine vollständige Tatsachenkontrolle. Gleichzeitig bestehen auch andere Integrationsschwierigkeiten in Bezug auf die nationale Rechtsschutzdogmatik.523 Diese Problemlage hat das BVerfG erkannt und gestattet innerhalb der Grenzen des aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Wesentlichkeitsgrundsatzes kurzfristige Freiräume der Administrative. Zutreffend nimmt das BVerfG für eine derartige Konstellation Abstand von der Rechtsfigur des Beurteilungsspielraums.524 Bei längerfristigen Erkenntnisfreiräumen muss der Gesetzgeber die entsprechenden Wissenslücken füllen und zumindest untergesetzliche Maßstäbe bereitstellen. Die Bereitstellung naturwissenschaftlichen Wissens und normativer Handlungsanweisungen ist dann genuine Aufgabe des Gesetzgebers.525

II. Vollzugs- und Kontrollprobleme auf der nationalen Ebene Kommt der deutsche Gesetzgeber seinem Transformationsauftrag in souveränitätserhaltender Art und Weise durch Ausnutzung legislativer Letztentscheidungsrechte nicht nach, trifft dies vornehmlich die Beziehung zwischen Exekutive und Judikative. Aufgrund der Ausgestaltung der gerichtlichen Kontrolle als Kontrolle am legislativ eingerichtet rechtlichen Maßstab werden Kontrollkompetenzen der Judikative beschnitten. Daneben führen weitreichende gewillkürte Letztentscheidungsrechte oder ungewillkürte Letztenscheidungsrechte zu Problemen auf der nationalen Ebene (sog. diagonale Verschiebung bzw. diagonaler Zugriff). Während ungewillkürte Letztentscheidungsrechte Sache des nationalen Gesetzgebers 521 Siehe Gärditz, in: Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages Essen 2016, Band I, D S. 57, 58; Seibert, NWVBl. 2015, S. 372, 373. 522 EuGH, Urteil 07. 09. 2004 – Rs. C-127/02, Herzmuschelfischerei, Rn. 52; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. 01. 2007 – 9 A 20.05, Rn. 68, BVerwGE 128, 1; BVerwG, Urteil vom 12. 03. 2008 – 9 A 3.06, Rn. 73, BVerwGE 130, 299. 523 Vgl. Teil 3 A. II. 2. 524 Auseinandersetzung in Teil 3 A. II. 2. a); siehe auch Schuster, Beurteilungsspielräume der Verwaltung im Naturschutzrecht. Zugleich ein Beitrag zum Umgang von Gerichten und Behörden mit externem Sachverstand, S. 215. 525 Zuvor plädierend Gärditz, in: Landmann / Rohmer, UmweltR, Art. 20 a GG Rn. 36 ff.; Gärditz, NVwZ 2014, S. 1, 10.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

sind, muss für die gewillkürten Letztentscheidungsrechte die Kontrolldichtereduzierung kompetenzrechtlich überprüft bzw. abgewogen werden. Letztere zielen jedoch immer auf eine Kompetenzerweiterung der Administrativen kraft unionalen Rechts ab. Die weite Skalierung unional induzierter administrativer Letztentscheidungsrechte, die sich mitunter auf die relevante Tatsachenbasis beziehen oder die Transposition legislativer Letztentscheidungsrechte auf die mitgliedstaatlichen Administrativen, wird bei genauerer Aufarbeitung zum Dreh- und Angelpunkt der Vollzugs- und Kontrollprobleme.526 1. Amtsermittlung und „iura novit curia“ Der in der Verwaltungsprozessordnung vorherrschende Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 86 VwGO wird in Anbetracht des tatsachenbezogenen Letztentscheidungsrechts der Behörde auf den Grundsatz „da mihi factum, dabo tibi ius“ reduziert.527 Gleichzeitig ist fraglich, ob der Grundsatz „iura novit curia“ im verwaltungsprozessualen Sinne noch Geltung beansprucht, sofern für die Auffindung der normativen Maßstäbe relevante Tatsachen maßgeblich von behörd­lichem Letztentscheidungsrecht beeinflusst werden.528 Dies zeigt sich vor allem an der funktionalen Schwäche der naturschutzfachlichen Einschätzungsprärogative oder an dem faktischen Ermessen der zuständigen Behörden im Migrationsrecht.

526 Vgl. grundsätzlich Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR Rn.  220; Gärditz, NJW-Beil 2016, S. 41, 44; Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009. 527 „Gib mir den Tatbestand, ich werde dir das Recht geben“ vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, da mihi factum, dabo tibi ius; Bischoff, JA 2010, 532; zur Unvereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlich verankerten Amtsermittlungsgrundsatz siehe Dawin, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 86 Rn. 15; Marx, Die Notwendigkeit und Tragweite der Untersuchungsmaxime in den Verwaltungsprozessgesetzen (VwGO / SGG / FGO), S.  64; Kropshofer, Untersuchungsgrundsatz und anwaltliche Vertretung im Verwaltungsprozess, S. 49; Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 258 f., 329, 478; Geiger, in: Eyermann, VwGO, § 86 Rn. 5; Kopp / Schenke, § 86 VwGO Rn. 1; Schenke, in: Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 138 ff.; Schenke, Verwaltungsprozessrecht, S. 7; Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 219. 528 Vgl. Dawin, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO § 86 Rn. 7 ff.; in einigen Bereichen des Unionsrechts lässt sich die Abwesenheit des Grundsatzes „iura novit curia“ feststellen, sodass eine derartige Hebelwirkung durch den Einfluss des Unionsrechts im Wege der Beibehaltung von Regelungsstruktur und -dichte, nicht sonderlich überraschend wäre, grundsätzlich zum Grundsatz im Europarecht, Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  216; Barents, CMLR 51 (2014), S. 1437, 1450 ff.; zur ablehnenden Haltung zu ex officio im Unionsrecht, vgl. EuGH, Urteil vom 07. 06. 2007 – Rs. C-222/05, Rs. C-222/05, Rs. C-223/05, Rs. C-224/05, Rs. C-225/05, van der Weerd, Rn. 28 ff., 42; EuGH, Urteil vom 25. 11. 2008 – Rs. C-455/06, Rs. Hemmskerk, Rn. 44 ff., 48; Fekete, MJ 4 (2014), S. 652 ff.; Jans, CMLR 45 (2008), S. 853 ff.; Lindner, DVBl. 2009, 224 ff.; Potacs, in: FS Schwarze 2014, S. 722 ff.; Jans / Prechal / Widdershoven, Europeanisation of Public Law, S. 413 ff.

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2. Ausreizung der Funktionsgrenzen der Rechtsprechung Vor dem Hintergrund des von der Verwaltungsgerichtsbarkeit in genereller Hinsicht angeführten Prüfungsmaßstabes, dass die Verpflichtung zur gerichtlichen Überprüfung nicht weiter reiche als die materiell-rechtliche Bindung der Exekutive,529 ist in Anbetracht des Ausbleibens einer legislatorischen Nachverdichtung des normativ schwach determinierten Richtlinienrechts530 die Funktionsgefährdung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu befürchten.531 In ihrer Rolle als Kontrollinstitution kann und darf die Judikative keine der Verwaltung zugewiesene kognitive Eigenleistung vornehmen und damit Handlungsdirektiven der Exekutive produzieren oder nach ihrem Maßstab defekte Handlungsdirektiven instand setzen. Am Beispiel der Entscheidung des BVerfG hinsichtlich der artenschutzrechtlichen Einschätzungsprärogative lässt sich hervorragend illustrieren, dass die objektiven Grenzen der gerichtlichen Kontrolle erreicht werden, sofern der deutsche Gesetzgeber die Nachverdichtung oder Konditionalisierung europäischer Vorgaben im Rahmen des ihm zugebilligten Umsetzungsspielraumes bzw. Letztentscheidungsrahmens unterlässt.532 3. Entkoppelung der Verwaltung Wie bereits aufgezeigt, unterscheidet sich das unionsrechtliche Verständnis gebundener Verwaltung von dem deutschen Verständnis in grundlegender Weise.533 Gemessen an dem deutschen Maßstab gebundener Verwaltung ist ebenfalls die Annahme von der Nichtexistenz des Grundsatzes gebundener Verwaltung im Unionsrecht gerechtfertigt.534 Durch die mangelnde materiell-rechtliche Bindung der Exekutive infolge der Verlagerung ungenügender Regelungsdichte europä­ ischer Vorgaben ist das im deutschen Recht vorherrschende „Ideal der einzig richtigen Verwaltungsentscheidung“ gefährdet.535 Zusätzlich verstärken hochskalierte Letztentscheidungsrechte der Verwaltung eine Entkoppelung der Verwaltung im bestehenden Gewaltenverhältnis. 529

BVerwG, Urteil 17. 09. 2015  – 1 C 37.14, NVwZ 2016, 161; BVerfG, Beschluss vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1. 530 Vgl. Gärditz, NVwZ 2009, S. 1005, 1009; Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung S. 202 ff., 296. 531 Gärditz, NJW-Beil 2016, 41, 43. 532 BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018  – 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14, Rn. 19, 25, 27 BVerfGE 149, 407. 533 Siehe Teil 2 B. V. 1. 534 Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn.  217; Stelkens, DVBl. 2010, S. 1078, 1085; ­Harlow, in: Craig / de Búrca, The Evolution of EU Law, S. 261, 263 ff.; Classen, EuR 2016, S. 529, 539 f. 535 U. a. liegt dies ebenfalls an den Bestimmtheitsanforderungen des Unionsrechts sowie der finalen Rechtssetzung, siehe Stelkens, in: FS Herberger, S. 895, 902 ff.; Stelkens, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, EuR, Rn. 217 ff., 220.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

4. Vorbehalt des Gesetzes Bei der Rekapitulation der frühen Judikatur des BVerwG,536 die durch ihre verfassungsrechtliche Weichenstellung den Umgang mit exekutiven Letztentscheidungsrechten in methodischer und kompentenzieller Hinsicht prägte, stellt sich neben der Frage nach Konflikten mit Art. 19 Abs. 4 GG auch die Frage nach Konflikten mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die von dem BVerwG aufgezeigten Probleme exekutiver Entscheidungsfreiheit in Bezug auf den effektiven Rechtsschutz bzw. die Rechtsschutzgarantie und den Vorbehalt des Gesetzes finden in der Rechtsprechung nach wie vor Berücksichtigung.537 Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden und die vollziehende Gewalt sowie die Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Der unter anderem daraus radizierte Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes schafft verfassungsrechtliche Voraussetzungen des Ob und Wie für das Verwaltungshandeln in wesentlichen Bereichen.538 Danach bedarf es zunächst eines formellen Gesetzes, auf dessen Grundlage die Verwaltung agiert. Des Weiteren muss dieses Gesetz inhaltlich und normativ hinreichend konzipiert sein, um (1.) die wesentlichen Fragestellungen, die originär in den Entscheidungsbereich der Legislative fallen, abschließend zu beantworten und (2.) vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG eine gerichtliche Kontrolle des Normprogramms zu ermöglichen.539 Die Wesentlichkeit wird nach dem jeweiligen Sachbereich und der Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilt. Das maßgebliche Beurteilungskriterium ist dabei jedoch ein verfassungsrechtliches, da die Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere der darin verbürgten Grundrechte, zu berücksichtigen sind. Im Bereich der Grundrechte bedeutet „wesentlich“ in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“.540 a) Gesetzesvorbehalt im Unionsrecht Die Analyse des europäischen Normprogramms verdeutlicht eine Hypertrophie der finalen gegenüber der konditionalen Programmierung, welcher lediglich Zielvorgaben der jeweiligen Normadressaten inhärent sind541 sowie eine allgemein 536

BVerwG, Urteil vom 29. 06. 1957 – II C 105.56 – BVerwGE 5, 153 (162 f.) mit Anm. Bachof, JZ 1958, 288; ausführlich in Teil 1 A. I. 1. ff. 537 BVerfG, Urteil vom 31. 05. 2011 – 1 BvR 857/07, Rn. 74; BVerfGE 129, 1. 538 BVerfG, Urteil vom 14. 07. 1998 – 1 BvR 1640/97, BVerfGE 98, 218. 539 Richtig daher Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 Rn. 75; Sachs, in: Stelkens /  Bonk / Sachs, VwVfG, § 44 Rn. 82; ausdrücklich BVerfG, Beschluss vom 23. 10. 2018–1 BvR 2523/13 und 1 BvR 595/14, Rn. 19 – BVerfGE 149, 40. 540 BVerfG, Urteil vom 14. 07. 1998 – 1 BvR 1640/97, BVerfGE 98, 218; BVerfG, Beschluss vom 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 –, BVerfGE 40, 237; BVerfG, Beschluss vom 21. 12. 1977 – 1 BvL 1/75 –, BVerfGE 47, 46–85, Rn. 92. 541 Siehe Teil 4 A. I. 3.

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prozeduralisierte Struktur des Unionsrechts, die zu einer Entmaterialisierung des Rechts führt.542 Ableiten lässt sich daraus, dass das Unionsrecht kein dem deutschen Recht entsprechendes Konzept des Vorbehalts des Gesetzes vorlegt. Unter der Prämisse, dass der Vorbehalt des Gesetzes einen Ausfluss demokratischer und rechtsstaatlicher Grundprinzipien darstellt,543 sind vorhandene vergleichbare Mechanismen im Unionsrecht wie das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, der Außenrechtsvorbehalt und der Vertragsvorbehalt eher rechtsstaatlicher als demokratischer Natur.544 Ausgehend von der doppelten Stoßrichtung des Gesetzesvorbehaltes (Ob und Wie), wird zunächst mehr Wert auf das „Ob“ gelegt als auf das „Wie“. So regelt etwa der „Vertragsvorbehalt“, dass Eingriffe in die Privatsphäre des Einzelnen durch die Verwaltung stets einer Rechtsgrundlage im Primär- und Sekundärrecht bedürfen.545 Die formellen sowie die inhaltlichen Anforderungen an den Rechtsakt sind dann nachrangig. So kann etwa die Intensität des Legitimationsniveaus durch eine Parlamentsbeteiligung gänzlich zurückstehen.546 Auch die Tatsache, dass der EuGH die Umsetzung von Richtlinien nicht durch Innenrechtssätze wie die TA-Luft gelten lassen will und damit eine Qualitätskomponente im Sinne eines „Wie“ fordert, reicht nicht aus.547 Dieser sogenannte „Außenrechtsvorbehalt“ resultiert lediglich aus der Wechselwirkung zwischen dem Unionsrecht und dem Recht der Mitgliedstaaten. Des Weiteren ist eine Kritik auch im Bezug auf die Widersprüchlichkeit des Eigenverwaltungsrechts der Union berechtigt. Durch den Außenrechtsvorbehalt etablierte Vorgabe gelte etwa nur für die Mitgliedstaaten, nicht jedoch im Eigenverwaltungsrecht.548 Damit handelt es sich gerade nicht um ein Grundprinzip für exekutives Handeln, das sich durch das gesamte Unionsrecht zieht. Letztlich vermag auch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung keinen Gesetzesvorbehalt zu substituieren. Eine Funktionsäquivalenz besteht nur dahingehend, dass es zum hoheitlichen Tätigwerden einer Ermächtigungsgrundlage 542

Siehe Teil 4 A. I. 4. v.  Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 347; Gärditz, JZ  2010, S. 198, 200; ­Ossenbühl, in: Isensee / K irchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rn. 7, 14, 16; Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, S. 154. 544 Vorhandene Mechanismen lassen bis dato demokratische Konturen vermissen, so v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 347; daher im Rahmen seiner Untersuchung nur funktionsäquivalente Mechanismen des Unionsrechts untersuchend, Rieckoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 123, 124 f. 545 Siehe EuGH, Urteil vom 21. 09. 1989 – 46/87, 227/88, Hoechst / Kommission, Rn. 19; dazu v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 347. 546 Ohler, JZ 2006, S. 359, 361; siehe „Basisrechtsakt“ EuGH, Urteil vom 21. 09. 1989 – 46/87, 227/88, Rs. „Hoechst / Kommission“ Rn. 37, NJW 1989, 308. 547 Sog. Außenrechtsvorbehalt. 548 v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 507; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, S. 224; Hegels, EG-Eigenverwaltungsrecht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht, S. 79; Pernice, EuR 1994, S. 325, 337 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 440 ff.; Tonne, Effektiver Rechtsschutz durch staatliche Gerichte als Forderung des europäischen Gemeinschaftsrechts S. 343 f.; Triantafyllou, VRÜ 1997, S. 84; dargestellt in: Rieckoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 128. 543

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bedarf. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sichert allerdings vorerst die Kompetenzgrundlage für das Handeln der Unionsorgane allgemein. Dadurch wird in erster Linie die demokratische Legitimation durch die Mitgliedstaaten gewährleistet. Der Gesetzesvorbehalt beabsichtigt dagegen neben der Legitimation auch eine Steuerung des Verwaltungshandelns.549 In seiner Funktion ist dieser mithin kleinteiliger und stellt bereits unmittelbar qualitative Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage, da die Verwaltung auf dieser Grundlage handelt, während die bloße Kompetenzzuweisungsvoraussetzung primär die Übermittlung allgemeiner Regelungsbefugnisse für bestimmte Referenzgebiete an die Europä­ ische Union in den Fokus rückt, die im Anschluss noch eine detailaufwendige Ausarbeitung der Rechtsakte notwendig macht.550 aa) Bankenregulierung Neben der normativen Programmierung und den Prozeduralisierungsbestrebungen wird ein Fehlen des Vorbehaltes des Gesetzes aufgrund der sukzessiven Verselbstständigung von Unionsorganen und Verwaltungsbehörden, die europä­ ische Regelungen durchführen, deutlich.551 Der präferierte europäische Modus – autonome Agenturen der EU und Verwaltungsbehörden zu etablieren, die gegen legislative und judikative Eingriffe abgeschirmt sind – ist nur möglich, da ein Gesetzesvorbehalt im demokratischen und rechtsstaatlichen Sinne lediglich in einem unzureichenden Umfang oder überhaupt nicht vorhanden ist. Aus der restriktiven deutschen Perspektive erscheint die Transposition von Exekutivkompetenzen autonome EU-Agenturen sowie die Ausstattung mit weiten Letztentscheidungsrechten demokratisch sowie rechtsstaatlich fragwürdig.552 Bezugnehmend auf das Urteil zur Bankenunion, erkennt diese Problemlage auch das BVerfG und übt sich dennoch in Zurückhaltung.553 Dass Demokratieeinbußen und Mängel der Gesetzesbindung bei der Etablierung solcher Agenturen mit einer strengen Kontrollintensität kompensiert werden müssen, ist selbstverständlich und dies machte das BVerfG im Nachgang mit dem PSPP-Urteil auch deutlich.554

549

Rieckoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 130. Richtig daher Rieckoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 130, 131. 551 Kritisch Gärditz, EuZW 2020, S. 505, 506, 507. 552 Ausführlich in Teil  4  B. I. 1. b) cc) (1) (a). 553 „[…] aus Sicht des Demokratiegebots prekär […]“, BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019  – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn.138, NJW 2019, 3204. 554 BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, Rn. 142, NJW 2020, 1647. 550

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bb) Netzregulierung Neben dem Finanzdienstleistungssektor stellt auch der Elektrizitäts- und Telekommunikationssektor einen Bereich unionaler Regelungshoheit mit Entkoppelungstendenzen dar. Im Zentrum stehen die Regulierungsbehörden der jeweiligen Mitgliedstaaten, die einerseits normativ dergestalt verselbstständigt sein sollen, dass legislative (politische) Einflüsse abgewehrt werden. Auch hier werden administrative Letztentscheidungsrechte genutzt, die jedoch der Legislative entgegengehalten werden sollen.555 In seinem Urteil zum Stromnetz erinnerte der EuGH erneut an die Unabhängigkeit der Netzregulierungsbehörde und erhöhte damit die Intensität der Unabhängigkeit gegenüber der nationalen Legislative.556 Danach müsse die Behörde gegenüber (öffentlichen) Stellen „völlig frei handeln“ und dabei von jeglichen äußeren Weisungen und Einflussnahme von außen geschützt sein. Die Regulierungsbehörde treffe ihre Entscheidungen im Rahmen ihrer Regulierungsaufgaben und -befugnisse selbstständig und allein auf der Grundlage des öffentlichen Interesses. Durch Rechtverordnungen (§ 24 EnWG) könne die Berechnung der Strom- und Gasentgelte durch die Bundesregierung nicht vorgegeben werden. Vielmehr müsse die Bundesnetzagentur auf der Grundlage der Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie (im Folgenden RL 2009/72/EG)557 diese Entgelte unabhängig errechnen. Diese Unabhängigkeit müsse gegenüber Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Einrichtungen geschützt werden. Ob es sich bei Letzterem um Verwaltungsorgane oder politische Stellen wie Träger der exekutiven oder legislativen Gewalt handelt, sei unerheblich, da nur die Regulierungsbehörde unparteiische und nicht-diskriminierende Entscheidungen treffen könne.558 Diese Aussage ist auf mehreren Ebenen problematisch. Zunächst erfolgt allgemein eine Gleichstellung von Wirtschaftsteilnehmern  – also Unternehmen, Wirtschaftsverbänden und anderen privaten Akteuren – und der demokratisch legitimierten Legislative und Gubernative.559 Außerdem wird die grundgesetzlich verankerte Legitimationshierachie des Art. 20 Abs. 1 bis Abs. 3 GG umgekehrt. Zutreffend wandte daher die Bundesrepublik Deutschland im Vertragsverletzungsverfahren ein, dass dadurch das Demokratieprinzip nicht in unerheblicher Weise tangiert sei.560 Es ist bereits zu bezweifeln, ob an dieser Stelle lediglich 555

EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C-  55/06, Arcor, Rn. 170; EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Lex Telekom, Rn. 74, 91. 556 Bereits in EuGH, Urteil vom 11. 06. 2020 – Rs. C-378/1, Prezident Slovenskej republiky, Rn. 32, 33; nun EuGH, Urteil vom 02. 09. 2021 – Rs. C-718/18, Kommission / Deutschland. 557 Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 07. 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG, ABl. L 211 S. 55. 558 EuGH, Urteil vom 02. 09. 2021  – Rs. C-718/18, Kommission / Deutschland, Rn. 108 ff., NVwZ 2021, 1441. 559 Differenzierend, Schmidt-Preuß, RdE, S. 173, 176. 560 EuGH, Urteil vom 02. 09. 2021 – Rs. C-718/18, Kommission / Deutschland, Rn. 97; a. A. Hoppe / L aboch-Semku, NVwZ 2021, S. 1441.

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die Modifizierung eines klassischen Verwaltungshierachieaufbaus zu sehen ist, der vor dem Hintergrund des Art. 20 GG noch gerechtfertigt sein kann.561 Des Weiteren beweist der EuGH erneut, dass ein – mit dem deutschen vergleichbarer unionsrechtlicher – Gesetzesvorbehalt nicht existiert. Die Berechnung der Entgeltpreise unmittelbar auf der Grundlage der Richtlinie stellt gerade eine Umgehung des Gesetzesvorbehalts dar. Der Vorbehalt des Gesetzes und die Unabhängigkeit der Verwaltung stehen hier grundsätzlich im Konflikt. Da das BVerfG die Umschichtung von Exekutivkompetenzen auf unabhängige Stellen im Hinblick auf das Demokratiegebot als nicht unbedenklich betrachtet,562 muss zumindest die gerichtliche Kontrollintensität gewährleistet sein, um legitimatorische und rechtsstaatliche Defizite zu kompensieren.563 Die Kardinalfrage wird dabei freilich sein, wie ein Legitimationsdefizit demokratisch hinreichend zu kompensieren ist, wenn die normprogrammatisch ausgerichtete gerichtliche Kontrolle gleichzeitig wegen der nicht transformierten und damit, die in der Regel im Rohzustand befindliche, zielausgerichtete gesetzliche Handlungsgrundlage nur schwer kontrollierbar ist.564 Daneben bleibt fraglich, wie mit dem „Tranformationsvorbehalt“ des Art. 288 Abs. 3 AEUV umzugehen ist. Die Richtlinie wird faktisch zur Verordnung und die Regulierungsbehörde damit Anwendungsadressat. b) Divergierende Systemverständnisse Das deutsche Recht und das Unionsrecht offenbaren an diesem Punkt einen weiteren konfliktfähigen Kontrast.565 Während die Verfassungs- und Verwaltungsrechtsprechung geschichtlich bedingt566 im Zuge einer kontinuierlichen Entwicklung des effektiven Rechtsschutzes gegen staatliche Eingriffe mit einem oberflächlichen Kontrollmodus brach, der eine Funktionserhaltung der Exekutive um jeden Preis befürwortete, nähert sich das Unionsrecht seit Beginn einem französischen 561

So jedoch EuGH, Urteil vom 02. 09. 2021  – Rs. C-718/18, Kommission / Deutschland, Rn. 126, NVwZ 2021, 1441; EuGH, Urteil vom 09. 03. 2010 – C-518/07, Kommission / Deutschland, Rn. 42, 43, 46. 562 BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn. 138, NJW 2019, 3204. 563 So BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn. 123, NJW 2019, 3204; BVerfG Urteil vom 21. 06. 2016 – 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2728/13, 2 BvR 2729/13, 2 BvR 2730/13, 2 BvR 2731/13, 2 BvE 13/13, Rn. 187, BVerfGE 142, 123; Als nicht unproblematisch qualifizierend, Möllers, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 5 Demokratie Rn. 42; Lösungsvorschlag, erweiterte Ermessensspielräume der Bundesnetzagentur zu implementieren, dürfe sich dann nur gegen gubernativen bzw. legislativen Einfluss richten, siehe dazu Hoppe / L aboch-Semku, NVwZ 2021, S. 1441, 1442, 1443. 564 Den Vorbehalt des Gesetzes deshalb als nicht kompensierbar erklärend, Möllers, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 5 Demokratie Rn.  42. 565 Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 15, 21; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 236. 566 Siehe Teil  1  A. I. 1. a)

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Rechtsschutzkonzept an, das im Kontrollmodus der frühen nachkonstitutionellen Zeit der Bundesrepublik Deutschland verharrt.567 Dieses Verständnis ist auf eine effektive Exekutivtätigkeit angelegt und sichert der Exekutive somit einen in seiner Wirkung nicht zu unterschätzenden Funktionsvorbehalt.568 Zu dessen Durchsetzung bedient sich das Europäische Recht des Äquivalenz- und Effektivitätsprinzips.569 c) Folgeprobleme eines divergierenden Systemverständnisses Es bleibt aufzuarbeiten, wie ein solches Systemverständnis im Lichte des Art. 23 Abs. 1 GG grundsätzlich zu bewerten ist und welche Konsequenz dies in Bezug auf die erörterten Grenzfälle bedeutet. Art. 2 EUV konstatiert, dass sich die Europä­ ische Union auf Werte wie die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, gründet. Freilich lässt sich neben Gründen der Transparenz, Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit des Verwaltungshandelns570 und des Grundrechtsschutzes auch die demokratische Legitimation der Exekutive als wichtiger Grund für den Vorbehalt des Gesetzes anführen, da durch die erneute punktuelle parlamentarische Entscheidung ein gewisses Legitimationsniveau der Exekutive erreicht wird. Bei dem Vorbehalt des Gesetzes handelt es sich damit um einen wichtigen Hebel des Demokratie- sowie Rechtsstaatsprinzips.571 Das Fehlen des Vorbehaltes des Gesetzes hat gemessen an Art. 23 Abs. 1 GG wenig Konsequenzen. Art. 23 Abs. 1 GG setzt voraus, dass die Europä­ ische Union den demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen, föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist sowie einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Für Art. 23 Abs. 1 GG ist jedoch eine „strukturangepasste Grundsatzkongruenz“572 567 Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 15, 21; Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, EuR, Rn. 216 ff.; Perrière / L abrune, NVwZ 2016, S. 280 ff. 568 Gärditz, JZ 2010, S. 198, 200; Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 15 f.; Durner, DVBl. 2012, S. 299, 300. 569 Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 16; so EuGH, Urteil vom 16. 12. 1976 – 33/76, Rn. 5, Rs. „Rewe / Landwirtschaftskammer Saarland“, NJW 1977, 495; EuGH, Urteil vom 21. 01. 1999 – Rs. C-120/97, Upjohn, Rn. 29, 32 f.; EuGH, Urteil vom 07. 01. 2004  – Rs. C-201/02, Wells, Rn. 65, 67; EuGH, Urteil vom 28. 02. 2018 – Rs. C-387/16, Nidera BV, Rn. 22; EuGH, Urteil vom 14. 9. 2010 – Rs. C-550/07 P, Akzo Nobel Chemical, Rn. 113; EuGH, Urteil vom 22. 02. 2018 – Rs. C-572/16, INEOS, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C-55/06, Arcor, Rn. 170. 570 Rux / Huster, in: BeckOK GG, 48. Ed. 15. 08. 2021, GG Art. 20 Rn. 173; Möllers, Gewaltengliederung, S. 34; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 90, Rn. 84; Rieckoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 26 ff. 571 Rieckoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 123, 124 f. 572 Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 Rn. 22.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

ausreichend, insbesondere, da die Etablierung eines exakten deutschen Verfassungsideals in einer Staatengemeinschaft von 27 Mitgliedstaaten kaum realisierbar wäre. In Bezug auf das Demokratieprinzip räumte das BVerfG daher ein, dass sich die Europäische Union auch anderer Mittel bedienen könne, um ein hinreichendes Legitimationsniveau zu gewährleisten.573 Des Weiteren sieht der unionsrechtliche Gesetzgebungsnormalfall gemäß Art. 288 AEUV eine Transformation des Richtlinienrechts durch die Mitgliedstaaten vorf. Dadurch wird der Gesetzesvorbehalt, falls dies notwendig ist, zumindest für den deutschen Rechtsraum durch die Mitwirkung des nationalen Gesetzgebers eingehalten werden können.574 Auch sind Verordnungen mit unmittelbarer Wirkung anwendungsgerecht mit einer grundsätz­lichen Regelungsdichte ausgestattet.575 In den Grundzügen korreliert das europäische System nicht mit dem Vorbehalt des Gesetzes und bleibt mithilfe des Vorbehalts in Art. 52 Abs. 1 GRCh, des „Vertragsvorbehalts“, des „Außenrechtsvorbehalts“ und des „Transformationsvorbehalts“ im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 GG operabel.576 Agieren demgegenüber unabhängige Verwaltungsbehörden bzw. Agenturen, deren Funktionserhaltung an primärer Stelle steht, ohne eine hinreichend bestimmte normative Grundlage,577 eine im Nachgang durch den nationalen Gesetzgeber nicht bestimmbaren normativen Handlungsgrundlage578 und bzw. oder mit zu umfangreichen Entscheidungsspielräumen,579 führt dies zur Durchbrechung des Vorbehaltes des Gesetzes.580 Diese Durchbrechung beansprucht im Rahmen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG insoweit Relevanz, da die damit beabsichtigte Effektivität des exekutiven Handelns in einer Immunisierung der Exekutive gegenüber den anderen Gewalten im Gewaltenverhältnis mündet581 573

„Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG ist offen für begrenzte Modifikationen der demokra­tischen Legitimationsvermittlung, durch die Einflussknicke kompensiert werden können. Das gilt insbesondere für eine effektive gerichtliche Kontrolle oder Kontrollrechte, die dem Parlament spezifische Einflussmöglichkeiten auf Behörden vermitteln und es in die Lage versetzen, eine Letztkontrolle durch eine Änderung oder Aufhebung der Rechtsgrundlagen auszuüben.“, BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, NJW 2019, 3204. 574 Die Nachverdichtung jedoch punktuell begrenzend EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009  – Rs. C-424/07, Lex Telekom, Rn. 74, 91. 575 Ähnlich Rieckoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 217. 576 Grosso Modo, v. Danwitz, Europäisches Verwatltungsrecht, S. 507 a. E. 577 Vgl. EuGH, Urteil vom 02. 09. 2021 – Rs. C-718/18, Kommission / Deutschland, Rn. 108 ff. 578 Vgl. EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009  – Rs. C-424/07, Lex Telekom, Rn. 74, 91; EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170. 579 EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017  – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 60. 580 Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 20; Gärditz, JZ 2010, S. 198, 200. 581 Gärditz, JZ 2010, S. 198 ff.; Durner, DVBl. 2012, S. 299, 300; im Regulierungsrecht gegenüber der Legislative, EuGH, Urteil vom 02. 09. 2021 – Rs. C-718/18, Kommission / Deutschland, Rn. 108 ff.; EuGH, Urteil vom 24. 04. 2008, Rs. C- 55/06, Arcor, Rn. 170; EuGH, Urteil vom 03. 12. 2009 – Rs. C-424/07, Lex Telekom Rn. 74, 91; im Migrationsrecht gegenüber der Legislative EuGH, Urteil vom 04. 04. 2017 – Rs. C-544/15, Fahimian, Rn. 42; EuGH, Urteil vom 19. 12. 2013 – Rs. C-84/12, Koushkaki, Rn. 60.

B. Auswirkungen unionaler Letztentscheidungsrechte 

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und dadurch eine Funktionsstörung des demokratischen Absicherungsmechanismus („checks and balances“) entsteht.582 In seinem rechtsstaatlichen und demokratischen Kerngehalt ist der Vorbehalt des Gesetzes jedoch über Art. 23 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG integrationsfest und kann der Europä­ ischen Union entgegengehalten werden.583 Dieser Harmonisierungsvorbehalt greift allerdings nur dann, wenn auch Wesentliches betroffen ist, da entsprechend den Überlegungen zu Art. 19 Abs. 4  GG das verfassungsgegebene Setting gilt. Die Europäische Union ist jedenfalls nicht strengeren Anforderungen ausgesetzt als der nationale Gesetzgeber.584 Maßgeblich für die Wesentlichkeit ist die Intensität der Regelung für die Grundrechtsausübung.585 Unerheblich muss bei dieser Betrachtung jedenfalls bleiben, ob der Gesetzgeber die Entscheidung im Wege des Art. 80 Abs. 1 GG delegiert hat.586 Zwar ist richtig, dass die Wesentlichkeit die Grenze der Delegationsbefugnis bildet,587 allerdings kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Wesentlichkeit letztlich von der Delegation bestimmt wird.588 Dies ist eine inhaltliche Frage – nämlich eine der Grundrechtsbetroffenheit – und keine formelle Frage.589 Anderenfalls entledigt sich der Gesetzgeber der Wesentlichkeitsdoktrin.590 Im Bereich des Migrationsrechts ist dies angesichts der unverhältnismäßigen Einschränkung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG anzunehmen. Im Bereich der Telekommunikationsregulierung sind Investoren gegen Regulierungseingriffe – beispielsweise bei dem Netzzugang – geschützt und können sich auf das Grundrecht der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG berufen.591 Daneben ist die Eigentumsgarantie gemäß Art. 14 Abs. 1 GG betroffen, da unter anderem der Zugang zur Netzinfrastruktur erzwungen wird.592 Letztlich handelt es sich auch bei der Stromnetzregulierung um einen nicht unwesentlichen Bereich, bei dem der Gesetzgeber zunächst Vorarbeit leisten muss. Grundsätzlich berührt die Art und Weise der Festlegung einer Methode der Netz 582

Huber, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 6 Rechtsstaat Rn. 28. 583 Gärditz, JZ  2010, S. 198, 200; Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 20 a. E.; Herdegen, MMR 2006, S. 580, 582. 584 Teil  4  B. I. 1. b) cc) (2) (b) ff. 585 BVerfG, Urteil vom 14. 07. 1998 – 1 BvR 1640/97, BVerfGE 98, 218; BVerfG, Beschluss vom 28. 10. 1975 – 2 BvR 883/73 –, BVerfGE 40, 237; BVerfG, Beschluss vom 21. 12. 1977 – 1 BvL 1/75 –, BVerfGE 47, 46–85, Rn. 92. 586 So die Bundesregierung bei der Netzentgeltregulierung in § 24 Abs. 1 EnWG durch StromNEV und StromNZV. 587 Dazu Remmert, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 80 Rn. 70 ff. 588 So Gundel, EnWZ, 2021, S. 339, 343. 589 Analytisch Schmidt-Preuß, RdE, S. 173, 176; Schmidt-Preuß, EnWZ 2021, S. 337, 338. 590 BVerfG, Urteil vom 19. 09. 2018 – 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15, Rn. 192 ff., BVerfGE 150, 1. 591 Etwa in BVerfG, Beschluss vom 26. 06. 2002 – 1 BvR 558, 1428/91, BVerfGE 105, 252, 265; Herdegen, MMR 2006, 580, 581. 592 Fehling, AöR 121 (1996), S. 59 ff., 90 ff.; Herdegen, MMR 2006, 580, 581.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

entgeltberechnung die Grundrechte der Netzbetreiber aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG.593

C. Gesamtergebnis Verallgemeinerungsfähige Ergebnisse sind im Unionsrecht hinsichtlich der Ursprungsquellen und Auswirkungen von Letztentscheidungsrechten nur bedingt möglich. Die unterschiedliche Handhabung der Begründung und Herleitung der Letztentscheidungsrechte macht dies deutlich. Die Auflösung von Methodik- und Kompetenzproblemen ist konsequenterweise entsprechend different. Letztlich dominieren diese Unterschiede referenzgebietsspezifische Besonderheiten, denen die unterschiedlichen Regelungsmaterien und ihnen übergeordnete Leistungsziele zugrunde liegen. Die beabsichtigten Leistungsziele des Unionsgesetzgebers beanspruchen keine Absolutheit und finden in dem unabdingbaren demokratischen Ordnungsrahmen, vermittelt durch die unionalen und nationalen Grundrechte, ihre Leistungsgrenzen.

I. Entmaterialisiertes (deutsches) Umweltrecht Das Umweltrecht ist auf unionaler Ebene insbesondere im ökologisch wissenschaftlichen Bereich materiell-rechtlich ausgedünnt. Der naturwissenschaftliche Zweifelsgrundsatz und bestimmte überengagierte Ziele geben zwar Impulse für den Rahmen materieller Regelungen, allerdings liegt die rechtspolitische Entscheidungsverantwortung bei den Mitgliedstaaten. Die materielle Regelungsverantwortung inklusive der partiellen politischen Entscheidungsverantwortung wird somit auf die Mitgliedstaaten transferiert, die im Rahmen des Transformationsgesetzes unional vermittelte, legislative Letztentscheidungsrechte auf Tatsachen-, Tatbestands- und Rechtsfolgenebene sowie Umsetzungsspielräume nutzen können. Der Unionsgesetzgeber stellt dann nicht konkretisierte Normprogramme zur Verfügung oder bedient sich materiell schwacher Regelungsstrategien wie der Finalprogrammierung. In Regelungsbereichen, die von wissenschaftlicher Dynamik und Agilität geprägt sind, ist es nicht unpraktisch, die notwendige Konkretisierung auf die Mitgliedstaaten zu übertragen. Eine gewisse Zerstreuung angestrebter Kohärenz ist dabei zwangsläufig in Kauf zu nehmen, verspricht jedoch zudem den Erhalt mitgliedstaatlicher Souveränität. Trotz mitgliedstaatlicher Transformation bleibt das deutsche Umweltrecht als Planungsrecht zielorientiert und materiell unterfüttert. Die leidtragenden Verwaltungsgerichte bemühen sich, umweltrechtliche Verwaltungsentscheidungen 593

BVerfG, Beschluss vom 21. 12. 2009 – 1 BvR 2738/08 –, Rn. 9, 23, 42; Schmidt-Preuß, RdE, S. 173, 176; a. A.: Gundel, EnWZ, 2021, S. 339, 343.

C. Gesamtergebnis 

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rational anhand außerrechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren. Wissenschaftliche Konfusion zerstreut dadurch scheinbar etablierte Kontrollrationalität. Spätestens in ökologisch wissenschaftlichen Leerräumen geraten Verwaltungsgerichte an ihre Funktionsgrenzen. Kognitive Leistungsgrenzen werden sodann durch fachlich-administrative Entscheidungsfreiräume kaschiert. Auf das Umweltrecht zurückgehende Richtlinien schreiben diese administrativen Entscheidungsfreiräume nicht vor. Diese Freiräume standen ursprünglich dem deutschen Gesetzgeber zu und sind legislativer Natur. Greift der EuGH fachliche Regelungsfreiräume innerhalb des unionalen Umweltrechts oder sogar fachliche Entscheidungsfreiräume der Mitgliedstaaten auf, ist eine Zuschreibung von fachwissenschaftlichen Entscheidungsspielräumen der Administrativen durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungsgerichte keine unionsrechtliche Pflicht. Das Abwehrargument der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie läuft an dieser Stelle ins Leere, da eine unionale Kompetenzzuweisung nie erfolgt ist.

II. Transnationalität des Migrationsrechts Die materielle Ausgestaltung des europäischen Migrationsrechts ermöglicht gegenüber dem Umweltrecht grundsätzlich eine gerichtliche Vollkontrolle. Verantwortlich für die Kontrollreduktion ist gegenüber dem Umweltrecht das verbindliche Unionsziel des transnationalen und kohärenten Verwaltungsvollzugs. Der Unionsgesetzgeber bedient sich normativer Vereinheitlichungsmechanismen wie Kooperations- und Abstimmungsverfahren unter den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten oder den zuständigen Behörden und der Kommission. Derartige Prozeduralisierunginstrumente sind im Telekommunikationsrecht bekannt und führten zu einer ähnlichen Abschottung administrativer Entscheidungen vor externen Zugriffen. Im Migrationsrecht beziehen sich diese Prozesse vornehmlich auf die Erschließung sowie die Würdigung informationeller Grundlagen und die Handhabung der Tatbestandsvoraussetzung. Durch den gemeinsamen Austausch soll ein transnational kohärenter Verwaltungsvollzug erreicht werden. Die normative Festschreibung der Rechtsfolgen des Visakodex oder der Studenten- und Austausch-RL ermöglicht keine dem Telekommunikationsrecht entsprechende regulative Prozeduralisierungskomponente. Dies schlägt sich zwar in der unionsgesetzgeberischen Ablehnung diskretionären Verwaltungshandelns nieder, verkennt allerdings die Auswirkungen von Tatsachen- und Tatbestandswürdigungen für die gesetzlich niedergelegten Rechtsfolgen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird nicht in den kohärenten Verwaltungsvollzug eingebunden. Es werden keine Kanäle vorgesehen, um die mitgliedstaatlichen Verwaltungsgerichte durch ihre Kontrollleistungen am kohärenten Verwaltungsvollzug zu beteiligen. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird daher nicht als Teil des Verwaltungsvollzugs gesehen. Die Konsequenz ist die Reduzierung gerichtlicher Vollkontrolle, um die Früchte informationeller Prozeduralisierung nicht durch die dezentralisierte Kontrolle zu verlieren.

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

III. Mitgliedstaatliche Exekutive als ebenenübergreifender Adressat Im mehrdimensionalen System der EU tritt der EU-Gesetzgeber in eine Position neben dem nationalen Gesetzgeber. Das europäische System bedient sich verschiedener Rechtsetzungsebenen, die unmittelbare oder mittelbare Rechtswirkung entfalten. Der EU-Gesetzgeber nutzt entweder Richtlinien, die Transformationsanweisungen an die Mitgliedstaaten enthalten und grundsätzlich die nationale Legislative adressieren, oder Verordnungen, die einen ausgefüllten Rechtsrahmen für die direkte Rechtsanwendung bereitstellen. Im demokratischen System sind Letztentscheidungsrechte an Kompetenzzuweisungen gekoppelt, die aus der originären Kompetenz des Gesetzgebers abgeleitet werden. Im rechtsstaatlichen Idealfall obliegen Letztentscheidungsrechte der Judikate. Im mehrdimensionalen EU-System liegen die höheren Auslegungsanstrengungen bei der Identifizierung des Letztentscheidungsrechtszuweisenden durch Hinzutreten des EU-Gesetzgebers als weiteren Kompetenzinhaber und des Letztentscheidungsrechtsadressaten neben den nationalen Gesetzgeber als weiteren Adressaten damit auf der Hand. Ungeachtet der unmittelbaren oder mittelbaren Wirkung wird der Verwaltungsvollzug prinzipiell von den Mitgliedstaaten nach innerstaatlichen Regeln durchgeführt, sodass die Exekutive grundsätzlich von einem diagonalen Direktzugriff verschont bleibt oder von einer diagonalen Verschiebung der Rechts- und Kompetenzverhältnisse abgeschirmt wird. Die diagonale Verschiebung droht in den Bereichen unzureichender Richt­ linienumsetzung durch die nationale Legislative bzw. einer unmittelbaren Richtlinienanwendung durch die nationale Judikative (ungewillkürte Letztentscheidungszuweisungen) oder bei unmittelbarer Richtlinienadressierung der nationalen Administrative (gewillkürte Letztentscheidungsrechtszuweisung). Für den Verordnungsfall ergibt sich ein diagonaler Zugriff auf die Exekutive durch direkte Letztentscheidungsrechtszuweisungen (gewillkürte Letztentscheidungsrechtszuweisung). Der Richtlinienfall setzt aufgrund der doppelten Adressatenstellung von nationaler Legislative und Exekutive eine eindeutige Auslegung des Letztentscheidungsrechtsadressaten voraus.

IV. Kontrolldichteverbindlichkeit des Unionsrechts Mit der Identifizierung von unionalen Letztentscheidungsrechten der Letztentscheidungsrechtsadressaten und -zuweisenden ist freilich nur ein methodisches Problem bewältigt. Durch unionale intendierte diagonale Verschiebungen oder Zugriffe veranlasste Kontrolldichtevorgaben müssen kompetenziell auf der Grundlage des Primärrechts möglich und verhältnismäßig sein. Anderenfalls sind die unionalen Kontrolldichtevorgaben für die Mitgliedstaaten und die betroffenen Gerichte unbeachtlich. Im Rahmen seiner Kompetenzausübung hat der Unions-

C. Gesamtergebnis 

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gesetzgeber (1.) die geltenden Integrationsschranken der Mitgliedstaaten im Sinne der Verfassungs- und Identitätsvorbehalte zu beachten sowie (2.) eigene Chartagrundrechte und zu eigen gemachtes Konventionsrecht zu wahren.594 Die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie ist in diesem Kontext keine unumstößliche Garantie, die dem Unionsgesetzgeber im Rahmen der Kompetenzausübung stets entgegengehalten werden kann. Aufgeworfenes Äquivalenz- oder Effektivitätsprinzip bemühen gerade die Ingangsetzung eines Gesamtabwägungsvorgangs. Die Grenzen mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie stellen indes Identitätsfaktoren des nationalen Verwaltungsrechts dar, an die zwar geringere Voraussetzungen als an Art. 79 Abs. 3 GG zu stellen sind, abgeleitet am Sinnbild des Art. 79 Abs. 3 GG jedoch für das nationale Verwaltungsrecht unerlässliche Regelungsinstrumente darstellen. Wichtiges Indiz für die Identität ist die Regelungsflexibilität des nationalen Gesetzgebers in diesem Segment. Für den Bereich der Kontrolldichte ist dem Unionsgesetzgeber in dem mitgliedstaatlichen übertragenen Kompetenzbereich eine Reduzierungsmöglichkeit gerichtlicher Kontrolle am Abbild deutscher Ausnahmedogmatik widerspruchsfrei bereitzustellen. Vor dem Hintergrund der europäischen Interessenbandbreite wäre in diesem Zusammenhang die Pflicht, tradierte Ausnahmedogmatik exakt zu rezipieren, zynisch. Vor dem Hintergrund der Grundrechte Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 47 GRCh sind daher Sachgrund und Verhältnismäßigkeit prioritäre Pflicht. Hierbei handelt es sich um Positionen, die im Rahmen der Gesamtabwägung ohnehin Berücksichtigung finden müssen. Der Grenzwall der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie (abgeschwächte Identitätskontrolle) kann zwar zunächst passiert werden, allerdings ist eine Kontrolldichtereduzierung im Migrationsrecht nicht erforderlich und unangemessen. Die Abschirmung gerichtlicher Kontrolle zur Kohärenzsicherung des transnationalen Verwaltungsvollzugs ist kein Zwang. Es hätten weniger grundrechtsintensive Möglichkeiten bestanden, die Verwaltungsgerichte in den Verwaltungsvollzug einzubinden. Darüber hinaus ist die Kontrolldichtereduzierung in diesem Umfang unangemessen. Die Substanz gerichtlicher Kontrolle wurde durch die abgeschirmte Tatsachenkontrolle entkernt. Dies kann für den Bereich des Technischwissenschaftlichen in spezifischen Fragen grundsätzlich hingenommen werden, da wissenschaftliche Kontrollmaßstäbe eine effizientere Plausibilitätskontrolle garantieren. Im Migrationsrecht ist dies nicht der Fall. Vor allem die migrationsrechtlichen Gefährdungsbeurteilungen geben insbesondere im Vergleich mit der Prüfungsdichte im nationalen Polizeirecht keinen Anlass, die Kontrolldichte herunterzufahren. Die Achtung der Menschenwürde und die Willkürkontrolle sind 594 U. a. auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Art. 5 Abs. 1 S. 2 Abs. 4 EUV sowie dem Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip; siehe auch BVerfG, Urteil vom 05. 05. 2020  – 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16, NJW 2020, 1647; BVerfG, Urteil vom 30. 07. 2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rn. 268, NJW 2019, 3204: der ausführliche Abwägungsvorgang unter Teil 4 B. I. 1. b) cc) ff., insbesondere B. I. 1. b) cc) (2) (b) (dd).

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Teil 4: Dogmatische Strukturen unionaler Letztentscheidungsrechte

nur noch in den offensichtlichen Fällen möglich. Das migrationsrechtlich installierte Recht auf einen Rechtsbehelf ist angesichts demokratischer und rechtstaatlicher Verpflichtungen letztlich nur eine obligatorische Formsache. Mangels einer verbleibenden Substanz entgegenzusetzender Rechtspositionen scheitert eine Gesamtabwägung mit den Prinzipien des Unionsrechts zur Aufrechterhaltung der gerichtlichen Kontrollreduzierung und mündet somit in einen unverhältnismäßigen Eingriff in die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie. Die Kontrollreduzierung ist für die deutschen Verwaltungsgerichte daher unbeachtlich.

Fazit und Thesen Letztentscheidungsrechte, Entscheidungsspielräume bzw. Einschätzungsprärogativen der Verwaltung dienen nach nationalem (deutschem) Verständnis der Flexibilisierung administrativen Handelns in Rechtsmaterien mit dynamischen Sachverhalten, die normativ weder typisiert respektive pauschaliert werden können oder der Entfaltung von Sachkompetenzen der fachlich ausgerichteten Entscheidungsträger. Ungeachtet der Kritik an der vorherrschenden Dichotomie der administrativen Letztentscheidungsrechte, hervorgerufen durch spezielle Letztentscheidungsrechte wie dem Regulierungsermessen oder dem Planungsermessen, spiegelt die im deutschen Recht etablierte Kasuistik diesen Rahmen wider. Ausgehend von Art. 19 Abs. 4 GG hat sich eine restriktive Handhabe für justiziable Freiräume entwickelt, die von einem methodischen Standpunkt und aus einem kompetenziellen Betrachtungswinkel für alle Referenzgebiete des deutschen Verwaltungsrechts gilt. Die Rechtsprechung hat am Maßstab des Art. 19 Abs. 4 GG Grenzen für administrative Letztentscheidungsrechte entwickelt, die Überprüfungspflichten bei der Identifizierung und Herleitung von administrativen Letztentscheidungsrechten begründen. Im europäischen Verwaltungsrecht sind administrative oder legislative Letztentscheidungsrechte keine Unbekanntheit. Die durch die Entscheidung in der Rechtssachte „TU München“ entfachte Diskussion über die unionsrechtliche Übernahme der aus dem deutschen Recht bekannten Dichotomie der administrativen Letztentscheidungsrechte ist zumindest für die Referenzgebiete des Umweltrechts und des Migrationsrechts hinfällig (Punkt A.). Nichtsdestotrotz bemüht sich das Unionsrecht um ein Letztentscheidungsrechtskonzept, das vor allem aufgrund der uneinheitlichen Handhabung in den verschiedenen Referenzgebieten schwer zu durchdringen ist (Punkt B.). Im Hinblick auf die verschiedenen Sekundärrechtsakte mit unterschiedlichen Rechtswirkungen und variierenden Regelungsstrategien sowie der Einbeziehung nationaler Gesetzgeber mit eigenen Gesetzgebungsverfahren im mehrdimensionalen Rechtssystem handelt es sich aus deutscher Perspektive um ein methodisches Problem (Punkt C.). Sollen unionale (administrative) Letztentscheidungsrechte Kontrolldichte und -maßstab der nationalen Verwaltungsgerichte diktieren, sind angesichts Art. 291 Abs. 1 AEUV und der darin verankerten Verfahrensautonomie kompetenzielle Probleme unvermeidbar (Punkt D.).

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Fazit und Thesen

A. Beurteilungsspielraumdogmatik Zumindest im europäischen Migrationsrecht und Umweltrecht existieren nach dem deutschen und engen Verständnis keine Beurteilungsspielräume. Ausgehend von der Grundvoraussetzung administrativer Letztentscheidungsrechte, die auf Tatbestands- und Rechtsfolgenebene aufzuteilen sind, disqualifiziert sich das europäische Umweltrecht, da in diesem Referenzgebiet lediglich legislative Letztentscheidungsrechte installiert worden sind. Die Überführung legislativer Letztentscheidungsrechte, die für die mitgliedstaatliche Transformationsaufgabe übertragen worden sind, bereitet im deutschen Umweltrecht funktionale sowie methodische Probleme und stößt an verfassungsrechtliche Grenzen. Beurteilungsspielraumdogmatische Grundmuster werden demgegenüber im Migrationsrecht deutlich. Das Migrationsrecht weist administrative Letztentscheidungsrechte auf. Unionsgerichtlich attestiert und im Rahmen der Untersuchung ebenfalls bestätigt ist diesen administrativen Letztentscheidungsrechten ein Tatbestandsbezug immanent. Zusätzlich bedient sich der EuGH einer normativen Herleitungsmethode, welche Elemente der normativen Ermächtigungslehre deutlich werden lässt. Bei Auslegung der entsprechenden Normen des Visakodex und der Studenten- und Austauschrichtlinie kann dies angesichts partieller Schwächen sogar verifiziert werden. Letztlich folgt der Identifizierung des administrativen Letztentscheidungsrechts der Hinweis auf die gerichtliche Kontrollreduzierung unter Beachtung der unionsgesetzgeberisch intendierten administrativen Beurteilungssphäre. An dieser Stelle sind bisher nur positive Vergleichscharakteristika hervorgehoben worden. So schließt das migrationsrechtliche Letztentscheidungsrecht die Tatsachenbeurteilung und -würdigung mit ein, weshalb den zuständigen Behörden zwangsläufig ein faktisches Ermessen zusteht. Der EuGH begnügt sich damit, dass kein Ermessen beabsichtigt sei. Die Erwähnung von Wechselwirkungen insbesondere vor dem Hintergrund des dadurch ad absurdum geführten Rechtsschutzes findet nicht ansatzweise statt. Eine derartige Aufhebung der Spielraumgrenzen steht im Widerspruch zur Beurteilungsspielraumdogmatik. Präjudizienverweise auf den gerichtlichen Kontrollmodus rechtsfolgenbezogener Letztentscheidungsrechte bestätigen, dass es bei einem konvergenten Letztentscheidungsrechtkonzept im Referenzgebiet des europäischen Migrationsrechts bleibt. Unglaubwürdig wird zudem die normative Herleitung des Unionsgerichts dadurch, wonach funktionale Erwägungen bereits dieses Letztentscheidungsrecht begründen. Aus unionsrechtlicher Perspektive ist eine Differenzierung zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenebene innerhalb administrativer Letztentscheidungsrechte aufgrund der einheitlichen gerichtlichen Handhabung in Bezug auf die Herleitung und die Kontrolle wenig rational. Bei Berücksichtigung eines – vom deutschen Verwaltungsverständnis des 21. Jahrhunderts nur wenig, dafür vom französischen Verständnis überwiegend geprägten –1 1

Gärditz, in: Herdegen / Masing / Poscher / Gärditz, Handbuch des Verfassungsrechts, § 13 Rechtsschutz und Rechtsprechung Rn. 15; Everling, in: FS Christian Starck, S. 535 ff.; Masing,

B. Referenzgebiete

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europäischen Verständnisses der gebundenen Verwaltung findet die deutsche Beurteilungsspielraumdogmatik keinen Anwendungsbereich, da die wichtige Begrenzung auf die Tatbestandsseite nicht hinreichend fixiert werden kann.

B. Referenzgebiete Referenzgebietsspezifisch gewonnene Lösungen sind aufgrund der fachspeziellen Orientierung der einzelnen Referenzgebiete nur selten verallgemeinerungsfähig. Für Letztentscheidungsrechte ist dies nicht anders. Verlaufen zwischen einigen Referenzgebieten relevante Parallelen, sind diese stets kontextbezogen, regelungsspezifisch und systematisch zu hinterfragen. Diese Parallelen ragen in den meisten Fällen nicht über Strukturansätze hinaus. Wäre dies anders, müsste im Hinblick auf die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie nicht stets einzelfallbezogen die Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip-Formel bemüht werden. Der Vergleich zwischen dem Migrations- und dem Umweltrecht offenbart etwa die Unterschiedlichkeit von funktionalen Erwägungen. Im Umweltrecht steht die Funktionalität der gerichtlichen Kontrolle zur Debatte, während im Migrationsrecht die Funktionalität des transnationalen Vollzugssystems die Priorität für die Letztentscheidungsrechtszuweisung beansprucht. Ausgehend von den normativen Programmen, zwischen denen ein qualitatives und quantitatives Gefälle herrscht, überrascht dies nicht. Zudem ist schon zwischen den unionalen Letztentscheidungsrechten zu differenzieren. Macht der EuGH Ausführungen zu Letztentscheidungsrechten, sind die Adressaten der Letztentscheidungsrechte herauszuarbeiten. Ein Rückgriff auf das Telekommunikationsregulierungsrecht zeigt dem Migrationsrecht entsprechende prozedurale Strukturansätze, jedoch keine exakte Übernahme darüber hinaus. Zur Bewältigung der Massenverwaltung im einheitlichen Stil bleibt das Migrationsrecht informationell prozedural, während das Telekommunikationsrecht zusätzlich (markt-)regulierende Aufgaben bewältigen muss. Die Auswirkungen derartiger Unterschiede manifestieren sich in dem Wirkbereich des dadurch generierten Letztentscheidungsrechts. Nach der gesetzgeberischen Konzeption geht das Regulierungsermessen theoretisch weiter als das administrative Letztentscheidungsrecht im Migrationsrecht. Letztlich ist auch bei diesem Vergleich ein Gefälle zwischen der materiellen Intensität der Normprogramme festzustellen, das zuvor aufgezeigte duale funktionelle Erwägungen für Letztentscheidungsrechte im Unionsrecht nachzeichnet. Im Ergebnis handelt es sich jedenfalls um verschieden intensive Spielarten einer entkoppelten Verwaltungstätigkeit im Sinne einer Verselbstständigung.

Die Mobilisierung des Bürgers, S. 175 ff., 196 ff.; v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, S. 236.

330

Fazit und Thesen

Ein finaler Vergleich zwischen dem Telekommunikationsregulierungsrecht und dem Umweltrecht macht die deckungsgleiche materielle Ausdünnung der Normprogramme deutlich. Dies macht eine gerichtliche Kontrolle in beiden Regelungsmaterien funktional schwierig. Prozedurale Strukturen zielen im Umweltrecht jedoch nicht auf eine eigenständige Rechtserzeugung der Verwaltung ab. Im Umweltrecht werden die Letztentscheidungsrechte zudem an die Legislative delegiert, die im Rahmen fachwissenschaftlicher Grenzen materielle Konkretisierungen vornehmen kann. Demgegenüber sollen die Regulierungsbehörden vor legislativer und damit politischer Einflussnahme geschützt werden, sodass sich eine legislative Konkretisierung und Beschneidung des Regulierungsermessens verbietet. Im Hinblick auf die fachwissenschaftliche Überprüfbarkeit im korsettierten Gewand des wissenschaftlichen Zweifels ist eine übermäßige politische Betätigung nicht zu befürchten.

C. Letztentscheidungsrechtskonzept Ein gewichtiges Problem im europäischen Mehrebenensystem ist die Identifizierung von Letztentscheidungsrechtszuweisenden und -adressaten. Gerade in der Richtliniensituation sind mehrere Akteure involviert. Unbeabsichtigte oder beabsichtige diagonale Verschiebungen von Letztentscheidungsrechtskompetenzen bzw. diagonaler Zugriff auf die Exekutive der Mitgliedstaaten müssen sichtbar gemacht werden (Punkt C. I.). Das unionale Letztentscheidungsrechtskonzept hat bis zu einem gewissen Grad referenzgebietsübergreifende Ansatzpunkte normstruktureller und funktionaler Zuweisungsstrategien. Angesichts der Diversität unionaler Begründungsstränge bleibt die Zuweisungsstrategie im Einzelfall letztlich fachgebietsbezogen (Punkt  C. II.).

I. Zuweisungsadressaten Das Unionsrecht schwankt zwischen dem funktionsrechtlichen Ansatz und einer Teilrezeption der normativen Ermächtigungslehre, wobei die erstere Methode in der Rechtsprechung des Unionsrechts aufgrund des geringen Auslegungsaufwands und der geringen Verwaltungsbindung einen unverhältnismäßig großen Raum einnimmt. Im Rahmen des Migrationsrechts macht der EuGH von beiden Methoden Gebrauch. Vergeblich ist daher die Suche nach ausschließlich normativen oder funktionalen Lösungen. Der funktionsrechtliche Ansatz ist bei ebenenübergreifenden Letztentscheidungsrechten jedoch nicht vor die gleichen Herausforderungen gestellt wie die normative Ermächtigungslehre. Dies resultiert aus einer Verdopplung der Position des Ermächtigenden sowie des Ermächtigten und bezieht sich zunächst auf die Unterscheidung von administrativen und legislativen Spielräu-

C. Letztentscheidungsrechtskonzept

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men, also dem Zuweisungsadressaten. Die normative Ermächtigungslehre macht Kompetenzzuweisungen des Gesetzgebers methodisch greifbar. Sind mehrere Akteure involviert, erfordert dies einen höheren Auslegungsaufwand unter Berücksichtigung der den EU-Rechtsakten zugrundeliegenden Kompetenzverteilung. Die Unterscheidung zwischen administrativen und legislativen Letztentscheidungsrechten ist mithin Formulierungs- und Auslegungssache des jeweiligen Sekundärrechtsaktes. Maßgeblich ist zunächst die mittelbare oder unmittelbare Wirkung der verschiedenen Sekundärrechtsakte. In EU-Richtlinien werden grundsätzlich legislative Spielräume übertragen, die im Rahmen der Umsetzung genutzt werden können. Dagegen kann der Unionsgesetzgeber in EU-Verordnungen diagonal auf die Exekutive der Mitgliedstaaten zugreifen und administrative Spielräume mitteln. Der Ausnahmefall für die EU-Richtlinie ist dann gegeben, wenn der Unionsgesetzgeber die zuständigen Behörden im Rahmen der EU-Richt­linie unmittelbar adressiert und dadurch administrative Letztentscheidungsrechte diagonal verschiebt. Hierbei handelt es sich um Fälle der gewillkürten Letztentscheidungsrechtszuweisung durch den Unionsgesetzgebers, die im Rahmen der Umsetzung bei der Exekutive verbleiben müssen. Diagonale Verschiebungen drohen ebenfalls bei einer unzureichenden Richtlinienumsetzung durch die nationale Legislative bzw. einer unmittelbaren Richtlinienanwendung durch die nationale Judikative. Diese sind unional nicht intendiert und damit ungewillkürte Letztentscheidungszuweisungen.

II. Zuweisungsstrategien Die unionsgerichtliche Komplexitätskasuistik ist an vielen Stellen sehr allgemein und hat keine Identifikationswirkung. Die für die gerichtliche Kontrolle kritische Schwelle der Komplexität vor dem Hintergrund rechtstaatlicher Kon­ trollgarantien bleibt im Unionsrecht unberücksichtigt. Anzuknüpfen ist eher an die fachlichen, strukturellen und systematischen Einzelbestandteile der Komplexität, welche in Bezug auf ihre kontrollreduzierende Wirkung evaluiert werden müssen. Ausgehend von dem Standpunkt der Gesetzesakzessorietät der gerichtlichen Kontrollintensität werden problemträchtige normative Zonen erkennbar. Im Umweltrecht dominieren materiell unzureichende Regelungsstrategien, welche eine kognitive Leistung der Rechtsaktadressaten im Sinne einer Rechts­ erzeugung erfordern und die der Judikative gleichzeitig einen hinreichenden Kontrollmaßstab entziehen. Der Unionsgesetzgeber gibt nur den ausfüllungsbedürftigen rechtlichen Rahmen vor. Europäischen Rechtsakten fehlt dann ein genereller Maßstab zur optimalen Rechtsanwendung und Kontrolle. Prominent ist im Umweltrecht die fehlende Standardisierung bzw. Konkretisierung ökologischer Grundlagen, die sich nicht nur auf rechtliche Bewertungen beschränkt, sondern sich ebenfalls auf die Tatsachenbewertungen sowie -würdigungen bezieht. Zudem nutzt das Umweltrecht an einigen Stellen eine materiell schwache finale Program-

332

Fazit und Thesen

mierung. Der Unionsgesetzgeber setzt dadurch verbindliche Ziele, ohne Mittel oder Methode vorzugeben. Dies geht ebenfalls mit der fehlenden materiellen Anreicherung von Rechtsnormen einher. Des Weiteren fällt die Prozeduralisierung unter die Kategorie der Regelungsstrategien mit materiellen Schwächen. Zu differenzieren ist allerding zwischen Prozeduralisierung mit Rechtserzeugungsmacht und ohne Rechtserzeugungsmacht. Während im Telekommunikationsregulierungsrecht erstere Prozeduralisierung die Voraussetzungen für das umfangreichere Regulierungsermessen formt, beschränkt sich die Prozeduralisierung im Umweltrecht auf die Installation rein formaler Pflichten ohne Rechtserzeugungsmacht. Dieser Prozeduralisierungsgedanke des Telekommunikationsregulierungsrechts findet im Migrationsrecht abgeschwächte Anwendung. Das Migrationsrecht stellt aufgrund der Regelungsstruktur und materiellen Anreichung ein kontrollfähiges Rechtsprodukt dar, dem allenfalls punktuell kontrollstrapazierende Tatbestandsmerkmale inhärent sind. Es sind keine die Vollkontrolle konterkarierenden Programmierungsdefizite in breitflächigem Umfang oder etwa fachrechtliche Hindernisse ersichtlich. Vielmehr konzipiert es gegenüber dem Umweltrecht ein transnationales System, das eine gerichtliche Vollkontrolle aus Gründen der Vollzugskohärenz verbannt. Mithilfe informationeller Prozeduralisierungsinstrumente sichert der Unionsgesetzgeber die Generierung von Tatsachengrundlagen, die einheitliche Würdigung derselben und die einheitliche Tatbestandsanwendung. Eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vorgenommene Kontrolle durch den vorgesehenen dezentralen Gerichtszugang würde diese transnationalen Kohärenzbestrebungen erschüttern und funktional stören.

D. Kompetenzgrenzen Gewillkürte und ungewillkürte Letztentscheidungszuweisungen begründen unterschiedliche Pflichten. Letztere sind durch die nationale Gesetzgebung auf die nationale Exekutive übertragen worden, weshalb mitgliedstaatliche Eigenverantwortung verbleibt und diese Freiräume durch Nachverdichtung oder Konditionalisierung des Normprogramms im Rahmen der durch den Sekundärrechtsakt vorgegebenen Grenzen zu schließen sind. Dies gilt erst recht angesichts der mit ungewillkürten Letztentscheidungsrechten verbundenen Vollzugs- und Kontrollprobleme. Diagonal wirkende und beabsichtigte administrative Letztentscheidungsrechte begründen grundsätzlich eine Umsetzungspflicht und sind von der Judikative zu beachten. Angesichts der unional vorgegebenen (und stets fachspeziellen) Skalierung administrativer Letztentscheidungsrechte ergeben sich zwangsläufig Auswirkungen auf die Art und Weise der gerichtlichen Kontrolle. Relevante Kollisionspunkte der Letztentscheidungsrechtszuweisung sind der Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie und die primärrechtlichen Kompetenzausübungsregeln für EU-Organe.

D. Kompetenzgrenzen

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I. Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie Der Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie ist keine Garantie für den Erhalt tradierter Verwaltungsrechtsstrukturen, sondern ein abwägungsfähiger Grundsatz, welcher angelehnt an die Rechtsgedanken der Art. 28 Abs. 1 S. 3 und Art. 79 Abs. 3 GG Verwaltungsrechtsstrukturen mit nationaler Identität schützt. Die in diesem Kontext stets bemühte Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip-Formel ist auf eine solche Abwägung angelegt. Können Mitgliedstaaten flexibilisiert solche innerstaatlichen Verwaltungsrechtsstrukturen ändern, wäre ein Vorhalten des Grundsatzes mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie indes widersprüchlich. Im Bereich der gerichtlichen Kontrolldichte und des Kontrollmaßstabs sind dem Unionsgesetzgeber mittels primärrechtlich übertragender Rechtssetzungskompetenzen für die Referenzgebiete entsprechende Modifizierungen innerhalb der Grenzen der Art. 19 Abs. 4, Art. 20 GG erlaubt. Deutsche Verwaltungsgerichte sind zu einer Überprüfung dieser Grenzen verpflichtet und können die Beurteilungsspielraumdogmatik nicht einfach um unionale Gründe erweitern. Ein anderes Verständnis setzt Art. 19 Abs. 4 GG faktisch außer Kraft. Es ist zu bezweifeln, ob eine weite Skalierung von administrativen Letztentscheidungsrechten und die damit verbundene Entkoppelung des grundrechtlich vorgezeichneten Gewaltenverhältnisses möglich ist.

II. Primärrechtliche Kompetenzausübungsgrenzen Letztentscheidungsrechtzuweisungen sind Kompetenzzuweisungen. Dessen Zuweisungsbefugnis rührt von der originären Rechtsetzungskompetenz. Insofern ist jede Letztentscheidungsrechtszuweisung als Kompetenzausübung des Unionsgesetzgebers zu verstehen, die am Maßstab der primärrechtlichen Kompetenzausübungsschranken zu messen ist. Diagonale Letztentscheidungsrechtszuweisungen müssen nach Art. 5 Abs. 4 EUV verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist auf der Ebene der Angemessenheit mit weiteren abwägungsbedürftigen Positionen anzureichern. Dazu kommen unionale Grundsätze wie die abwägungsrelevante mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie, insbesondere im Hinblick auf das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip. Über Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 EUV sind bei Kontrolldichtefragen stets Art. 47 GRCh oder Art. 6 und Art. 13 EMRK einzubeziehen. Der relevante Fall des diagonalen Letztentscheidungsrechts im Migrationsrecht ist bereits aus Gründen der Erforderlichkeit unverhältnismäßig. Die Erhaltung des kohärenten Verwaltungsvollzugs kann durch eine Einbeziehung der mitgliedstaatlichen Verwaltungsgerichte erfolgen, sodass es keiner Kontrollreduktion bedarf. Zusätzlich wird nicht nur Art. 47 GRCh übergangen, sondern vollständig ausgehöhlt und der garantierte wirksame Rechtsbehelf ist nur noch eine Formsache. Die Gesamtabwägung der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie scheitert, da

334

Fazit und Thesen

keine abwägungsrelevanten Positionen verbleiben. Eine unionsgerichtliche Sensibilisierung für den Anwendungsbereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung und die sodann pflichtige Abrufung empfindlicher Grundrechte würde die Rechtsschutzdogmatik im Unionsrecht stärken.

E. Thesen Das Migrationsrecht stellt aufgrund seiner Regelungsstruktur und der materiellen Anreicherung grundsätzlich ein kontrollfähiges Rechtsprodukt dar, dem allenfalls punktuell kontrollstrapazierende Tatbestandsmerkmale inhärent sind. Es sind keine die Vollkontrolle konterkarierende Programmierungsdefizite in breitflächigem Umfang oder etwa fachrechtliche Hindernisse ersichtlich. Vielmehr wird gegenüber dem Umweltrecht ein transnationales System konzipiert, das eine gerichtliche Vollkontrolle aus Gründen der Vollzugskohärenz verbannt. Dem europäischen Migrationsrecht sind justiziable Freiräume in Form von einheitlichen administrativen Letztentscheidungsrechten bekannt. Diese unterscheiden allerdings nur formal zwischen Tatbestands- noch Rechtsfolgenebene. Daran scheitert letztlich die Anwendung der deutschen Beurteilungsspielraumdogmatik. Die administrativen Letztentscheidungsrechte schließen neben dem Tatbestand die Tatsachenbeurteilung und -würdigung ein, sodass ein faktisches Ermessen der zuständigen Administrativen begründet wird, das durch die überwiegend prozedurale Gerichtskontrolle kaum überprüfbar ist. Das Verständnis gebundener Verwaltung und damit einer gebundenen Verwaltungsentscheidung ist im europäischen Migrationsrecht ein anderes. Eine gebundene Verwaltung ist demnach unionsrechtlich gewährleistet, wenn der Entscheidungsträger bei seiner Entscheidung nur das normativ vorgegebene Normprogramm heranzieht. Ob diesem bei der Entscheidungsfindung durch ein weit skaliertes unionales Letztentscheidungsrecht auf der Tatbestandsebene ein faktisches Ermessen eingeräumt wird, ist unerheblich. Administrativen Letztentscheidungsrechten auf der Tatbestandsebene anhaftende Charakteristika, denen nach der dw Beurteilungsspielraumdogmatik eine Differenzierungswirkung attestiert wird, entfalten keine Differenzierungskraft oder führen zu einer Änderung des gerichtlichen Kontrollmodus. Vielmehr erfolgt ein Anschluss an die bisherige Judikatur des Europäischen Gerichtshofs zu bekannten Letztentscheidungsrechten. Ausschließlich unter der Prämisse, dass die Ausgestaltung des gerichtlichen Prüfungsprogramms von der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie gewährleistet sei und der Ausblendung der Grenzen von Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 47 GRCh wird mithilfe des nationalen Filters (sog. Tatbestandsrelevanz) ein Beurteilungsspielraum entsprechend der deutschen Dogmatik aufgefangen.

E. Thesen

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Im Umweltrecht finden sich legislative Letztentscheidungsrechte, die den Mitgliedstaaten zur Standardisierung und Konkretisierung im Rahmen der Richt­ linientransformation zur Verfügung stehen. Eine Standardisierung und Konkretisierung erfolgt innerhalb der naturwissenschaftlichen Grenzen entweder durch eine materielle Anreicherung des Normprogramms, eine normstrukturelle Konditionalisierung oder eine untergesetzliche Maßstabsbildung (sog. Nachverdichtung) und ist von einem kognitivem Leistungsanspruch geprägt. Infolge einer unzureichenden Richtlinientransformation oder richtlinienkonformen Anwendung werden legislative Letztentscheidungsrechte auf administrative Entscheidungsträger verlagert (sog. Verlagerung). Die naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative ist das Produkt einer solchen Verlagerung. Da die gerichtliche Kontrolle als retrospektive Überprüfung am Maßstab des Gesetzes ausgestaltet ist und ein Überprüfungsmaßstab fehlt, wird durch eine Verlagerung der Letztentscheidung eine Funktionsstörung der gerichtlichen Kontrolle vermieden. Im Hinblick auf die Rechtsschutzdogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG und dem verfassungsrechtlich vorgesehenen Ausnahmebereich für Beurteilungsspielräume ist die naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative nicht haltbar. Im Rahmen des mehrdimensionalen Rechtssystems sind diverse – auch ebenenübergreifende – Verschiebungen von Rechts- bzw. Kompetenzverhältnissen denkbar. Die mitgliedstaatliche Legislative ist als Primäradressat des EU-Richtlinienrechts im Rahmen des Transformationsprozesses nur faktisch als Exekutivorgan anzusehen, sodass justiziable Freiräume in Form von einheitlichen Letztentscheidungsrechten aufgrund der mittelbaren Wirkung von Richtlinien grundsätzlich an sie gerichtet sind und ausschließlich die Ausgestaltung des Transformationsgesetzes betreffen (sog. horizontale Verschiebung). Installiert der Unionsgesetzgeber administrative Letztentscheidungsrechtskompetenzen der nationalen Exekutive in EURichtlinien (sog. diagonale Verschiebung), muss die zuständige Behörde eindeutig adressiert werden oder durch Auslegung entnommen werden können. Aufgrund der unmittelbaren Wirkung von EU-Verordnungen unterliegen die mitgliedstaatlichen Exekutiven dem unionsgesetzgeberischen Zugriff, etwaige Letztentscheidungsrechte sind von der Judikative zu berücksichtigen (sog. diagonaler Zugriff). Die Letztentscheidungsrechtskonzeption im Unionsrecht ist im Hinblick auf ihre Zuweisungsstrategie interessenorientiert, kontextbezogen, fachspeziell und weist aufgrund der mangelnden normativen Anbindung und der bestehenden funktionalen Verflochtenheit kaum dogmatische Muster auf. Referenzgebietsspezifische Auffälligkeiten sind nur im Ansatz verallgemeinerungsfähig. Die Zuweisungsstrategien für legislative und administrative Letztentscheidungsrechte sind einheitlich. Die Differenzierung ist eine davon zu unterscheidende Auslegungs- und Formulierungsfrage. Die unionsgerichtlich für Letztentscheidungsrechte ins Feld geführte Komplexität setzt sich aus verschiedenen Kriterien mit variierender Signifikanz für die letztentscheidungsrechtbegründende Komplexität zusammen.

336

Fazit und Thesen

Materielle Regelungsschwachpunkte durch unbestimmte Rechtsbegriffe, Finalprogrammierung, Prozeduralisierung und der Absenz von Standardisierung sowie Konkretisierung, vor allem in wissenschaftlich-technisch geprägten Bereichen, induzieren funktionale Komplexität. Der materiell schwache und zielorientierte Einsatz von Finalprogrammen vermittelt den relevanten Entscheidungsträgern Gestaltungs- und Bestimmungsmacht im Rahmen ihres Verwaltungshandelns. Die Anerkennung von Letztentscheidungsrechten und der daraus resultierenden Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte ist ebenfalls auf Prozeduralisierungsgedanken unionsrechtbeeinflusster Rechtsgebiete und dem Rückgang des materiellen Rechts zurückzuführen. Prozeduralisierung ist in rechtserzeugungsermächtigende Prozeduralisierung und nicht rechtserzeugungsermächtigende Prozeduralisierung einzuteilen. Prozeduralisierungsgedanken im Migrationsrecht weisen anders als Telekommunikationsregulierungsrecht nur informationelle Komponenten auf, die zur Generierung und Vereinheitlichung von Tatsachengrundlagen und Tatbestandsvoraussetzungen dienen. Materielle Regelungsschwächen führen zu fehlenden absoluten Kontrollmaßstäben der Judikative und stören die retrospektive Rechtskontrolle funktional in einem nachhaltigen Ausmaß. Verschiebungen oder Zugriffe können für die mitgliedstaatliche Judikative kontrollrelevante Letztentscheidungsrechte der nationalen Exekutive trotz des Grundsatzes der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie bereitstellen. Die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie gemäß Art. 291 Abs. 1 AEUV steht unionalen Kontrolldichtevorgaben nicht als unumstößliche mitgliedstaatliche Garantie entgegen, sondern als abwägungsfähiger Grundsatz, welcher angelehnt an die Rechtsgedanken der Art. 28 Abs. 1 S. 3 und Art. 79 Abs. 3 GG Verwaltungsrechtsstrukturen mit nationaler Identität schützt. Wie dem nationalen Gesetzgeber sind dem Unionsgesetzgeber im Bereich der gerichtlichen Kontrolldichte- und des Kontrollmaßstabs mittels primärrechtlich übertragender Rechtssetzungskompetenzen für die Referenzgebiete entsprechende Modifizierungen innerhalb der Grenzen der Art. 19 Abs. 4, Art. 20 GG erlaubt. Die Ausweitung der Ausnahmedogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG angesichts des „Effet utile“-Grundsatzes verbietet sich. Nationale Verwaltungsgerichte müssen die Grenzen des Art. 19 Abs. 4 GG auch für unionale Letztentscheidungsrechtsvorgaben kontrollieren. Jede unionale Letztentscheidungsrechtszuweisung ist als Kompetenzausübung zu verstehen, die am Maßstab der primärrechtlichen Kompetenzausübungsschranken der Art. 5, 6 EUV, insbesondere an den Rechtsschutzgarantien der Art. 47 GRCh, Art. 6 und Art. 13 EMRK, zu messen ist.

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Sachwortverzeichnis Abwägung  62 f., 124 f., 286 ff., 333 ff. Abwägungskontrolle  224 ff. Acte-claire-Doktrin  285 ff. Administrative  58 f., 105 ff., 159 ff., 195, 260, 349 Adressat  195, 203, 253 ff., 335, 349 AEUV  1, 78 ff., 269 ff., Allgemeiner Teil  32 ff. Amtsermittlungsgrundsatz  161, 312 ff. Angemessenheit  284 ff., 334 f. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip  89, 265, 273 ff., 279 f., 333 ff. Artenschutz  124 ff., 162 ff. Ausgangslage  207 ff. Ausgestaltung  103, 165 ff., 240 ff. Auslegungsunsicherheit  67, 81 ff., 158 ff. Autonome Kollegialorgane  43 Bankenregulierung  316 ff. Bankenunion  291 f. Begründungsstränge  171, 181 Ben Alaya  55 ff. Bestandsaufnahme  53 ff., 109 ff. Beurteilungsspielraum  32 ff., 44 ff., 54 ff., 95 ff., 206 ff., 322 ff. Beurteilungsspielraumkonzept  209 ff. Bewirtschaftungspläne  135 ff. Bundesverfassungsgericht  35 ff., 206, 290 ff., 264 f. Diagonale Verschiebung  311 ff. – Gewillkürt  258 ff., 262, 324 f. – Ungewillkürt  257 ff., 309 ff., 324 f. Differenzierung  34 ff., 141 ff., 204, 254, 283 Dogmatik  178 ff. Drei-Ebenen-Modell  159 ff. Dualismus  142 ff. Effektiver Rechtsschutz siehe Rechtsschutzgrantie effet-utile  281 ff.

Entkoppelung  313 ff. Entmaterialisierung  213 ff., 234, 315 Entwicklung  34 ff. Erkenntnisvakuum  128 ff. Ermessen  33 ff. – Faktisches Ermessen  200 f., 301 Europäische Union  1, 193, 269 ff., 316 ff., 319 f. Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft  28 Europäischer Beurteilungsspielraum  44 ff., 199 ff. Europäischer Gerichtshof  30, 45, 78, 272 ff., 322 ff. – Kontroll- und Prüfungsmaßstab  78 Europäisches Recht  1, 49, 328 ff. Europäisches Verwaltungsrecht  28 Fachspezialität  138, 159, 170, 207 Fachwissenschaft  40 ff., 120 f., 138, 310 f., 323 Fahimian  55 ff., 298 Fallgruppen 43 Fehlübertragung  208 f. Finalprogrammierung  51, 228 ff., 260, 322, 350 Forschungsfragen 50 Funktionsgrenzen  42, 128, 167, 242, 313 ff. Funktionsstörung siehe Funktionsgrenzen Gauweiler 82 Gebietsausweisungsverfahren  109, 150 ff. Gebundene Verwaltung  33, 95 ff., 105 f., 334 f. Gerichtliche Kontrolle  43, 80, 162 ff., 190 ff., 314, 330 ff. Gesamtergebnis  95, 322 Gesetzesakzessorietät  214, 321 Gesetzesbindung  37, 48, 109, 218, 253, 300, 316 Gesetzesvorbehalt  36, 314 ff.

372

Sachwortverzeichnis

Gesetzgeber – National  41, 105 f., 172 ff., 233 ff., 261, 302 f., 321 ff. – Europäische Union  71 ff., 199 ff., 310 f. Grundrechtecharta  30 f., 88, 281 ff., 320 Habitatschutz  111 ff., 162 ff. Heavily Modified Waterbodies  134 ff. Identitätsfaktor  287 ff., 307 f., 325 Indikatoren  90 f., 106 ff., 177 iura novit curia siehe Amtsermittlung Kompetenzen  30, 141, 202, 216 ff., 243 ff., 250 ff., 277, 311 ff., 330 – Kompetenzübertragung  263, 291 – Kompetenzverteilung  37, 256 ff., 283 Komplexität  72 ff., 99 ff., 115, 214, 241 f., 331 f. Konditionalprogrammierung  51, 148, 228 ff. Kontrolldichte  29, 45 ff., 77, 125, 162, 200 ff., 215 ff., 235, 262 ff., 287 ff., 305 ff. – Kontrolldichterücknahmepflicht 262 Kontrollfragen  279 ff. Kontrollmaßstab  87 ff., 107, 162, 233, 263 333 ff. Konvergenz  31, 103 ff. Koushkaki  54 ff. Kumulation  45, 106, 149 Legislative  30 f., 46, 87, 104, 195, 213 ff., 244 ff., 254 ff., 309 ff. Letztentscheidungskompetenz  36, 179 f., 250, 260, 294, 308 ff. Letztentscheidungsrecht – Administrativ  52 f., 58 f., 76, 90 ff., 103 ff., 184 ff., 202 ff., 213, 327 ff. – Legislativ  52 f., 202 ff., 216, 242, 255 f., 209 ff., 324 f. Maßnahmenprogramme  135 ff. Methodenwahl  116 ff. Migrationsrecht  53 ff., 95 ff., 278 ff., 323 f. Modifizierung  197 ff. Nachverdichtung  332, 335 Naturwissenschaft  51 f., 109 ff., 138 ff., 155 ff., 175 ff., 221, 311, 322 f.

Netzregulierung  317 ff. Normative Ermächtigungslehre  36 f., 71, 128, 179 f., 199 ff., 218 f., 328 Normprogrammierung siehe Final- oder Konditionalprogrammierung Normstruktur  95, 140, 141, 180, 244 f., 330, 335 Objektive Grenzen  40 f., 171 ff. Ökologischer Verwaltungsfreiraum  140 ff., 171 ff. Parameter  57, 92, 173, 286 Planungsrecht siehe Umweltrecht Plausibilitätskontrolle siehe Vertretbarkeitskontrolle Primärrecht  28, 264, 308, 324 Prozeduralisierung  51, 234, 245 ff., 266, 316, 323 f. Prüfungsauftrag  38, 281 ff. Prüfungsdichte siehe Kontrolldichte Prüfungsmaßstab siehe Kontrollmaßstab PSPP-Urteil  289 ff. Rechtsetzung 48 Rechtsetzungsebene  219, 240 ff., 262, 324 Rechtsfolgen  92 f., 101, 141 Rechtsschutzdogmatik siehe Rechtsschutzgarantie Rechtsschutzgarantie  30, 51, 216, 265, 287 ff., 314 Regelungsdichte siehe Kontrolldichte Regulierungsrecht  48, 196 ff. Richtlinie – Flora- und Fauna-Habitat  109 – Industrieemissionen 237 – Öffentlichkeitsbeteiligung 237 – Strategische-Umweltprüfung 237 – Studenten- und Austausch  55, 196, 259 – Umwelthaftungsrichtlinie 196 – Vogelschutzrichtlinie 129 – Wasserrahmenrichtlinie 131 Richtlinienverweis 258 Risiko- und Prognoseentscheidungen  72 ff., 173 ff. Rotmilan-Entscheidung 39 Schleusenbegriff  150 ff., 223

Sachwortverzeichnis Sekundärrecht  48, 298, 309, 315 Skalierung  38, 95, 147, 180, 280, 333 Spannungsfeld 162 Steuerung  213, 229, 316 Systematisierung  184 ff. Tatbestand  58, 92 ff., 178 f., 322 ff. Tatbestandsebene siehe Tatbestand Teilergebnis  90, 259 Transformationspflicht  310 f. Transnationalität  244, 280, 323 Ultra-vires-Kontrolle  220, 264, 276, 290 Umweltrecht  108 ff., 206, 323 ff. Unbestimmter Rechtsbegriff  33, 70, 83, 128, 261 Verfahrensautonomie  51 ff., 265 ff., 325 Verfassungsbeschwerde 290 Verfassungsidentität  220, 276, 292 ff.

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Verfassungswidrigkeit  217, 293 Verhältnismäßigkeit  289 ff. Vertrag über die Arbeitsweise der Euro­ päischen Union siehe AEUV Verträglichkeitsprüfung  115 ff. Vertragsverletzungsverfahren 192 Vertretbarkeitskontrolle  166 ff. Verwaltungsfreiraum  109 ff., 138, 159 ff. Verwaltungsgericht  43 f. Verwaltungsrecht  27 f., 33 ff. Verweisungsketten 187 Visakodex 53 Vollzugsprobleme  31, 262 Vorabentscheidungsverfahren 191 Vorbehalt des Gesetzes siehe Gesetzes­ vorbehalt Vorhabenzulassungsverfahren  132 f. Vorsorgegrundsatz  124, 162 ff. Zuweisung  259, 330