Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht: entwickelt am Beispiel des Betruges und der Beleidigung [1 ed.] 9783428494736, 9783428094738

Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen ist ein Grundlagenproblem der Rechtswissenschaft. Gleichzeitig hän

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Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht: entwickelt am Beispiel des Betruges und der Beleidigung [1 ed.]
 9783428494736, 9783428094738

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ERIC IDLGENDORF

Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht

Schriften zum Strafrecht Heft 116

Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht entwickelt am Beispiel des Betruges und der Beleidigung

Von Prof. Dr. Dr. Erle Bilgendorf

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hilgendorf, Eric:

Tatsachenaussagen und Werturteile im Strafrecht : entwickelt am Beispiel des Betruges und der Beleidigung I von Erle Hilgendorf. Berlin: Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum Strafrecht; H. 116) ISBN 3-428-09473-5

Alle Rechte vorbehalten

© 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-09473-5

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch unternommen, am Beispiel der §§ 263 und 185 ff StGB ein neues Fundament für die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen zu errichten. Die Arbeit wurde im Frühjahr 1996 von der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommen. Bei der Überarbeitung hat mich Herr Ignaz Wetzel unterstützt, dem ich auch an dieser Stelle noch einmal danken möchte. Zu danken habe ich außerdem Herrn Alexander Lieventhal für die gewohnt sorgfaltige Erstellung der Druckvorlage. Konstanz, im Frühjahr 1998

Eric Nilgendorf

Inhaltsverzeichnis Kapitel 1: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

I. Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen als Thema der Strafrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

II. Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 III. Tatsachenaussagen und Werturteile als zwei Grundformen der Sprache 20

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge Kapitell: Die Herausbildung des Erfordernisses einer .. Täuschung über Tatsachen" im Betrugsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

I. Betrugsbegriff und Industrielle Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 II. Die Diskussion über die Schaffung eines allgemeinen Betrugstatbestandes . ............. . . . ................................... . 26

III. Insbesondere: der Tatsachenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 IV. Die Entwicklung von Gesetzgebung und Dogmatik im 19. Jahrhundert 32 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Kapitel3: Die Herausbildung des Merkmals .,Tatsache" im Tatbestand der Verleumdung ........................... . .. . ................. 37

I. Die Entwicklung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts........ . .. . . . . 37 II. Die Herausbildung der Unterscheidung zwischen Beleidigung und Verleumdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 III. Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Kapitel4: Exkurs: .. Tatsachen" und ., Urteile", .,Sein" und .,Sollen". Einige Anmerkungen zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen der Unterscheidung von Tatsachenaussagen und Werturteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

I. "Über das Wörtlein ,Tatsache'" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Anmerkungen zur Begriffsgeschichte von "Urteil" . . . . . . . . . . . . . . . . 47 III. Die Unterscheidung von "Sein" und "Sollen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Kapitel 5: Der Begriffder Tatsachenbehauptung in Rechtsprechung und Lehre seit 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

I. Der Begriff der Tatsachenbehauptung in der Rechtsprechung . . . . . . .

55

Inhaltsverzeichnis

1. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und der Oberlandesgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Die Diskussion in der Lehre bis zur Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . 61 111. Der Meinungsstand nach 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IV. Konkludente Tatsachenbehauptungen und Tatsachenbehauptungen durch Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Die konkludente Täuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Täuschung durch Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Kapitel 6: Der Tatsachenbegriff im Zivilrecht, im Öffentlichen Recht und im Recht des Strafprozesses - ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 I. Der Tatsachenbegriff im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

1. Der Tatbestand der Kreditgeflihrdung, § 824 BGB . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Der Tatbestand der Anfechtung wegen Täuschung oder Drohung, § 123 BGB . .. .. ... . ............ . .... . .. . .... .. .. . . . . ... 75 3. Bedingungen als Tatsachenaussagen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4. Der Begriff "Tatsache" nach dem UWG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 II. Der Tatsachenbegriff im Öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 111. Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen im Strafprozeßrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. "Neue Tatsachen" i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Die Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Kapitel 7: Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen im Medienrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Übernahme der strafrechtlichen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . 111. Sachverhaltsprinzip versus Bewertungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88 88 89 90 90

2. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 IV. Tatsachenmitteilungen und Tatsachenbehauptungen ......... ... .. ; 95 V. Exakte Begriffsbestimmung versus "funktionale Sicht" . . . . . . . . . . . . 99 VI. Ein Dreistufenmodell zur Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen .. ....... .. . .. . ......... . . . .. . . . ...... . . . ..... . .. . 100 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Kapite/8: Tatsachenbegriffund Opfermitverantwortung .. . ............. . .. . 103 I. Die Thesen Nauckes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 II. Opfermitverantwortung und Täuschungshandlung - einige neuere Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

9

Inhaltsverzeichnis 1. Die Kritik an der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Topos der Opfermitverantwortung als Instrument der dogmatischen Feinsteuerung . . . . . .... ... .. . . ..... .. .............. 3. Die "Täuschungslösung" Ellmers . ...... . ........ . ........ . . III. Der Topos "Opfermitverantwortung" und der Begriff der Tatsachenbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung der Kapitel 2 - 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106 107 108 11 0 111

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag Kapitel 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I. Begriffliche Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

II. Juristischer und philosophischer Tatsachenbegriff .......... . .. ... . 114 III. Die einzelnen Elemente des juristischen Sprachgebrauchs . . . . . . . . . . 116 1. Vorgänge oder Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. 3. 4. 5.

Die "Konkretheit" des behaupteten Vorganges oder Zustandes .. . . Die Wirklichkeit des behaupteten Vorganges oder Zustandes . ... . . Die sinnliche Wahrnehmbarkeil ..... . ................ . ... . . Die Beweisbarkeit . . ................ .. ............... .. ..

118 120 122 123

6. Tatsache oder Tatsachenaussage? ...... . ... . ............ .. . . 126 Kapitel 10: Das Problem der inneren Tatsachen . . . . .. . .......... . ...... . .. 128 I. Der Meinungsstand ..... . ........ . ..... . . . ........ .. ........ 128

II. Probleme der herrschenden Meinung ... . . . .. . ........... . ...... 128 III. Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Der Lösungsvorschlag Seiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

2. Die Verständigung über Fremdseelisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Die Seinsweise von Fremdseelischem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 IV. Die Thesen Hruschkas zur Beweisbarkeit des Vorsatzes . . . . . . . . . . . . 136 1. Das Wissens- und das Wollenselement des Vorsatzes

.. . ..... .. . 137

2. Dolus ex re und praesurntio doli . .... . .. . ............. . ... . . 138 V. Parasitäre Tatsachenaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 VI. Zusammenfassung ... . ...... . .. . ...... . ......... . . . ..... . .. 142 Kapitel 11: Prognosen und prognostizierte Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

I. Der Meinungsstand .. . .... . ... . .. . .... . ..... . ....... . .. .. .. 143 II. Probleme der herrschenden Meinung . . . . .. . . . ........... . ... . . . 144 III. Eigener Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Kapitel 12: Die grammatikalische Form von Tatsachenaussagen . . . . . . . . . . . . .

I. Fragen als Tatsachenaussagen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

150 150

10

Inhaltsverzeichnis l. Der Begründungsansatz des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . 150 2. Eigener Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Verdeckte Tatsachenaussagen .... . .... .. . ..... ... ... ... .. . ... . 155

l. Tatsachenaussagen und grammatikalische Form ......... .. .... . 155 2. Nichtverbale Tatsachenaussagen ....... . . . .......... . . ... . . . 156 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Kapitel13: Die Analyse von Werturteilen ........ . .. . .............. . .. . ... 160

I. Phänomenologie von Werturteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 II. Die Interpretation von Werturteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

l. Der Wertobjektivismus ............. . .... .. ........ . .... . . 162 2. Der radikale Wertsubjektivismus ...... .. ............. . ... .. . 166 III. Die Wertanalyse Victor Krafts .... . ..... . .. . .......... .. .... .. 169 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Kapitel 14: Wertbegriffe und Werturteile im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Werten, Entscheiden und Schätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insbesondere: normative und deskriptive Merkmale . . . . . . . . . . . . .

173 l 73 l 73 176

II. Tatsachenaussagen und Werturteile in der juristischen Praxis . . . . . . . . 179 l. Typische Abgrenzungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. Insbesondere: das Problem des Abgrenzungshorizontes . . . . . . . . . . 183

Kapite/15: Meinungsäußerungen .. . ............. . .............. . . . .. . . . 185 I. Die Kategorie "Meinungsäußerung" in der Strafrechtsdogmatik . . . . . . 185

II. "Meinungsäußerungen" als Äußerungen mit vermindertem Geltungsanspruch . . .. . . . .. . . . .. . .... .. ... . .. . .. . ... ... .... .. .. . .. . . . 188 I. Meinungsäußerungen im Beleidigungsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . 2. Meinungsäußerungen im Betrugsstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachverständigengutachten und medizinische Diagnosen . .. .. . . . . III. Die Maßfigur des ,,Durchschnittsbürgers" und das Problem der besonderen Schutzbedürftigkeit bestimmter Personenkreise . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

188 192 197 199 203

Kapitel 16: Die QualifiZierung von Rechtsbehauptungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I. Diskussionsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 II. Der Leitfall: BGH JR 1958, 106 ...... . .. . . . ............ . . . .. . . 205 III. Rechtsbehauptungen als Tatsachenaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

1. Rechtsbehauptungen als Behauptungen über eine bestimmte Rechtslage ... . . .... .. . ..... . .... .. ... . .. . ................ . .. 208 2. Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Inhaltsverzeichnis

11

3. Sonderfälle .... .. . . ........ . .... . .. . ........... . .. .... . 215 4. Zwei Fälle aus der Praxis . ......... . .. . ...... . ............ 217 IV. Der Geltungsanspruch von Rechtsbehauptungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Rechtsbehauptungen mit deutlichem Autoritätsgefälle . . . . . . . . . . . 219 2. Rechtsbehauptungen gegenüber Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Rechtsbehauptungen zwischen Laien . ... ..... . ..... . . . . . . .. 222 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Kapitel 17: Der Wahrheitsbeweis im Beleidigungsrecht . . .............. . ..... 224 I. Der Wahrheitsbeweis bei Tatsachenau;;sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Die Voraussetzungen des Wahrheitsbeweises . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Wahrheitsbeweis trotz vollständiger Nichtidentität? ... . . . . .. . ... 226 II. Wahrheitsbeweis bei Werturteilen? . . .. .. . . . ....... .. ....... . . . 228

III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Kapitel 18: Die Einheitlichkeit des Begriffs .. Tatsachenbehauptung" . . . . . . . . . . . 231 I. Das Postulat der "Einheit der Rechtsordnung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 II. Argumente fiir eine bereichsspezifische Terminologie ...... . .. . ... 234 1. Die Funktionalität der Begriffe "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" .......... . . . ................. . . . ............ . .. . 234

2. Normzweck und der Begriff der Tatsachenbehauptung in den verschiedenen Rechtsgebieten . . . ....... . .. . ........... . . .. .. . 235 III. Zusammenfassung und Ausblick . ... .... . .. . ........ . .... . .... 237 Literaturverzeichnis

239

Sachwortverzeichnis

267

Kapitell: Einleitung I. Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen als Thema der Strafrechtsdogmatik

Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen ist ein Grundlagenproblem der Rechtswissenschaft. Gleichzeitig hängen davon außerordentlich wichtige praktische Fragen ab, man denke etwa an die presserechtliehen Gegendarstellungsansprücheoder Schadensersatzansprüche wegen "Anschwärzung" im Geschäftsverkehr. Im Strafrecht taucht das Abgrenzungsproblem insbesondere bei§ 263 StGB und bei den§§ 186, 187 StGB auf, im Bürgerlichen Recht wird es etwa im Rahmen von§ 123 BGB und§ 824 BGB und im Öffentlichen Recht vor allem bei der Auslegung von Artikel 5 Abs. 1 GG relevant. Auch fiir die Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ist die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen von großer Bedeutung. Der berühmte Werturteilstreit vom Beginn unseres Jahrhunderts, der in den 60er und 70er Jahren eine weithin beachtete Neuauflage erlebte, betrifft ein Grundlagenproblem der Sozialwissenschaften überhaupt. Trotz der unbestreitbaren Bedeutung des Problems existieren keine größeren Untersuchungen zur Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen. 1 Die in den strafrechtlichen Kommentaren und der Lehrbuchliteratur tradierten Ansichten beruhen aufFestlegungen, die das Reichsgericht in Strafsachen schon vor über I 00 Jahren getroffen hat. Die Rechtsprechung hat an der damals entwickelten Linie bis heute ohne größere Änderungen festgehalten. Kritik an dieser Judikatur gab es kaum, wenn man einmal von einigen neueren Vorschlägen absieht, dem Gedanken der Opfermitverantwortung durch eine restriktivere Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 263 StGB Rechnung zu tragen. · Eine so auffällige Konstanz von Rechtsprechung und Lehre ist nur möglich, wenn die Entscheidungspraxis der Gerichte den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs im wesentlichen gerecht wird. Es erscheint deshalb nicht erstrebenswert, die h.L. und insbesondere die Rechtsprechung in toto zu "widerlegen". Gerade bei Themen, die eine gewisse Nähe zur Philosophie und Wissenschaftstheorie aufweisen, fuhren derartige Widerlegungsversuche nicht selten zu Abhandlungen, die eher der Strafrechtsphilosophie als der Strafrechtsdogmatik zuzuordnen sind. 1 Vgl. jetzt aber immerhin 1imm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 1996. Zum wissenschaftstheoretischen Schrifttum siehe die Literaturnachweise in Kapitel 9 II und 13.

14

Kap. 1: Einleitung

In der vorliegenden Arbeit geht es also in erster Linie nicht darum, die Ergebnisse der Rechtsprechung zu korrigieren, sondern darum, einen methodologisch akzeptableren Weg zu diesen Resultaten zu entwickeln. Die h.L. operiert bei der Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen heute zu einem großen Teil mit Leerforrneln, die dem Rechtsgefühl ein weites Feld lassen. Nur deshalb können mit der h.L. die Ergebnisse der Rechtsprechung legitimiert werden. Die Formeln der h.L. sind jedoch nicht oder doch nur in ganz geringem Maße geeignet, den Rechtsanwender bei der Entscheidungstindung zu leiten. Ich möchte versuchen, mittels begrifflicher Klärungen intersubjektiv nachvollziehbare Kriterien für die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen zu entwickeln. Dabei orientiere ich mich durchweg am Schutzzweck der relevanten Normen. Dies hat auch die Rechtsprechung - mit einigen kleineren Schönheitsfehlern- seit Generationen getan, so daß die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit häufig mit den Ergebnissen der Judikatur übereinstimmen. Die begriffliche Klärung der Ausdrücke "Tatsachenaussage" und "Werturteil" wird zeigen, daß der Bereich der Tatsachenaussagen, wenn man die bereits jetzt schon zugrunde gelegten Definitionen ernst nimmt, erheblich umfangreicher ist, als von der herrschenden Lehre angenommen wird. Um den Anwendungsbereich des § 263 StGB nicht unangemessen auszuweiten, wird eine neue Differenzierung innerhalb der Tatsachenaussagen vorgeschlagen, nämlich die Unterscheidung von (betrugsrelevanten) Tatsachenbehauptungen und (betrugsirrelevanten) Meinungsäußerungen. Diese Abgrenzung ist nicht Ausdruck definitorischer Willkür, sondern kann sich auf den Schutzzweck der Norm stützen. Als Abgrenzungskriterium wird der Geltungsanspruch (Verbindlichkeitsgrad) herangezogen, der mit den in Frage stehenden Äußerungen nach der Verkehrsauffassung jeweils verbunden ist. Meinungsäußerungen bilden nach der hier vorgeschlagenen Terminologie eine Restkategorie. Sie besteht aus solchen Tatsachenaussagen, die mit abgeschwächtem Geltungsanspruch auftreten, sowie aus den Werturteilen. Dieser Ansatz läßt sich, wie ich zu zeigen versuche, auch im Beleidigungsrecht und darüber hinaus in der gesamten Rechtsordnung fruchtbar machen. II. Gliederung der Arbeit

Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Der erste beginnt mit einem Kapitel über die historische Genese des Betrugstatbestandes aus den gemeinrechtlichen Delikten des "stellionatus" und des "falsum". Mit dem Aufkommen des modernen wirtschaftlichen Denkens und dem Siegeszug des Liberalismus im 19. Jahrhundert gewann die geschäftliche Tüchtigkeit einen neuen Stellenwert. Zum Geschäftsverkehr gehört es, überlegenes Wissen auszunutzen. Insbesondere in der erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde deshalb die Abgrenzung zwischen strafbarem Betrug und strafloser, allenfalls zivilrechtlich relevanter Täuschung intensiv diskutiert. Mit dem Tatbestandsmerkmal .,Täuschung über Tatsachen"

Kap. 1: Einleitung

15

glaubte man schließlich einen Weg gefunden zu haben, um als strafwürdig empfundene Täuschungen zu pönalisieren, ohne die geschäftliche Tüchtigkeit über Gebühr zu behindern. Im dritten Kapitel wird die Herausbildung des Tatbestandsmerkmals "Tatsache" im Beleidigungsrecht untersucht. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde zwischen Beleidigung und Verleumdung nicht unterschieden. Erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begannen Autoren wie von Almendingen, Grolman und Feuerbach, die Möglichkeit einer Ehrverletzung durch falsche Tatsachenbehauptungen gesondert zu erörtern. Mit Feuerbachs Lehrbuch trat das neue Tatbestandsmerkmal auch im Beleidigungsrecht seinen Siegeszug an. Das vierte Kapitel ist den geistesgeschichtlichen Hintergründen der Unterscheidung von Tatsachenaussagen und Werturteilen gewidmet. Heute ist die Berufung auf "Tatsachen" allgegenwärtig. Deshalb ist es sehr bemerkenswert, daß das Wort "Tatsache" erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts Eingang in die deutsche Sprache fand, und zwar durch die Übersetzung eines religiösen Werkes von Joseph Butler aus dem Englischen. Der Ausdruck "Tatsache" entsprach danach dem englischen "matter offact" und dem lateinischen "res facti" und wurde verwendet, um etwas besonders Sicheres, kaum Bezweifelbares auszudrücken. Das neue Wort wurde von den zeitgenössischen Philosophen, etwa lmmanuel Kant, ebenso übernommen wie von zahlreichen juristischen Autoren. Insbesondere Feuerbach scheint sich dabei an der Begriffsverwendung Kants orientiert zu haben. Die begriffliche Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Sätzen geht dagegen nicht auf Kant, sondern auf den schottischen Aufklärer David Hume zurück. Im fiinften Kapitel wird die Auseinandersetzung um die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen seit 1871 untersucht. Die Diskussion über die Abgrenzung von strafbarem Betrug gegenüber erlaubten Unredlichkeiten im Geschäftsverkehr verlor seit der Schaffung des preußischen Strafgesetzbuches im Jahr 1851 stetig an Schwung und versiegte nach dem Erlaß des Reichsstrafgesetzbuches nahezu ganz. Im Anschluß an Goltdammer definierte das Reichsgericht den Ausdruck "Tatsache" als konkreten Vorgang oder Zustand, der sinnlich wahrnehmbar in die Wirklichkeit getreten und dadurch dem Beweis zugänglich geworden ist. Diese Begriffsbestimmung setzte sich rasch allgemein durch. Rechtslehre und Rechtsprechung befinden sich seither in fast allen Fragen in völliger Übereinstimmung. In den Aussagen der Rechtslehre zum Tatsachenbegriff von der Schaffung des Reichsstrafgesetzbuches bis heute läßt sich eine stark ausgeprägte Kontinuität feststellen, die bis in die Wortwahl reicht. Dieselbe Kontinuität zeichnet auch die Rechtspraxis aus. Der Bundesgerichtshof hat sich nach 1945 der Rechtsprechung des Reichsgerichts ohne weiteres angeschlossen. Das sechste Kapitel ist einem Überblick über die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen im Zivilrecht, im Öffentlichen Recht und im Strafprozeßrecht gewidmet. Im Zivilrecht wird das Abgrenzungsproblem vor allem bei

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Kap. 1: Einleitung

den§§ 824 und 123 BGB relevant. Lehre und Rechtsprechung stützen sich dabei auf die vom Strafrecht vorgegebenen Abgrenzungskriterien. Im Öffentlichen Recht wird die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen meist im Rahmen von Artikel 5 Abs. 1 GG diskutiert. Da nach h.M. jedoch nicht nur "Meinungen" im engeren Sinne, sondern auch Tatsachenaussagen in den Schutzbereich des Artikels 5 Abs. 1 GG fallen können, ist die Abgrenzungsfrage im Öffentlichen Recht weniger dringend als in anderen Rechtsgebieten. Im Strafprozeßrecht schließlich wird die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen u.a. bei dem Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO und, allgemeiner, bei der Abgrenzung von Tat- und Rechtsfrage aktuell. Auch hier dominieren die im materiellen Strafrecht entwickelten Abgrenzungsregeln. In der Strafrechtsdogmatik zu wenig beachtet sind die Vorschläge, die im Presse- und allgemein im Medienrecht zu der Unterscheidung von Tatsachenaussagen und Werturteilen vorgebracht worden sind. Sie werden im siebten Kapitel behandelt. Die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Äußerungskategorien ist im Medienrecht vor allem für mögliche Ansprüche auf Widerruf oder Gegendarstellung von Bedeutung. Während zunächst die vom Reichsgericht in Strafsachen entwickelten Abgrenzungskriterien ohne größere Modifikationen übernommen wurden, existieren heute im Medienrecht mehrere miteinander konkurrierende Abgrenzungsmode Be, die teilweise differenzierter und klarer sind als die im materiellen Strafrecht herrschende Lehre. Dies überrascht nur wenig, wenn man bedenkt, daß im Strafrecht heute immer noch ein Diskussionsstand tradiert wird, der bereits vor über 100 Jahren erreicht wurde. Nur wenige Autoren haben sich in den letzten Jahren für ein Überdenken des Tatsachenbegriffs ausgesprochen. Ihren Vorschlägen ist das achte Kapitel gewidmet. Ausgangspunkt dieser Autoren ist die Dogmatik des § 263 StGB und die dort seit einiger Zeit wieder diskutierte Lehre von der Opfermitverantwortung. Anknüpfend an die im zweiten Kapitel skizzierte Diskussion über die Abgrenzung von (strafbarem) Betrug und der (grundsätzlich gebilligten und allenfalls zivilrechtlich relevanten) Täuschung im Geschäftsverkehr wird versucht, die Verantwortungs- und Risikosphären zwischen Betrugsopfer und Betrugstäter neu zu bestimmen. Um der Opfermitverantwortung Rechnung zu tragen, wird in der Literatur eine restriktive Auslegung der Betrugsmerkmale verlangt. Als mögliche Anknüpfungspunkte werden die Täuschungshandlung, die Irrtumserregung, die Kausalität zwischen Täuschungshandlung und Irrtumserregung sowie der Schadensbegriff diskutiert. Naucke hat sich dafür ausgesprochen, Behauptungen über "innere Tatsachen" nicht mehr zu berücksichtigen und bei besonders leichtfertigem Opferverhalten den Kausalzusammenhang zwischen Täuschung und Irrtum abzulehnen. Andere Autoren plädieren im Anschluß an Naucke dafür, bei grob fahrlässigem Verhalten des Getäuschten das Vorliegen einer betrugsrelevanten Täuschungshandlung zu verneinen.

Kap. 1: Einleitung

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Der zweite Teil der vorliegenden Studie ist der Entwicklung eines eigenen Lösungsvorschlages gewidmet. Zunächst wird in Kapitel neun der Begriff "Tatsache" eingehend untersucht. Ausgehend von der Klärung einiger begrifflicher Vorfragen, insbesondere der in der Strafrechtsdogmatik notorisch vernachlässigten Unterscheidung von "Tatsache" und "Tatsachenaussage", wird kurz auf die fachphilosophische Diskussion über den Tatsachenbegriff eingegangen. Nach meiner Einschätzung ist die dort geführte Auseinandersetzung für das Strafrecht nicht sonderlich fruchtbar. Stattdessen wird der weiteren Untersuchung der in der Strafrechtsdogmatik entwickelte Tatsachenbegriff zugrunde gelegt. Seine Bestandteile- Vorliegen eines konkreten Vorgangs oder Zustandes, sinnliche Wahrnehmbarkeit, Beweisbarkeit- werden diskutiert. Dabei wird u.a. deutlich, daß das Merkmal der Beweisbarkeit überflüssig und lediglich als "Faustregel" für das Vorliegen einer Tatsachenbehauptung anzusehen ist. Eines der wichtigsten Sonderprobleme des strafrechtlichen Tatsachenbegriffes stellt die Figur der "inneren Tatsache" dar. Die h.M. läßt Aussagen über "innere Zustände oder Ereignisse", etwa über die eigene Zahlungsbereitschaft oder das Vorliegen einer bestimmten Absicht oder Überzeugungsrichtung, als Tatsachenaussage i.S.v. § 263 StGB zu. Dies istjedoch nicht unproblematisch, wie in Kapitel zehn dargelegt wird: Zum einen differiert die Existenzweise "innerer Tatsachen" offenbar erheblich von der "äußerer Tatsachen". Innere Tatsachen lassen sich nicht direkt beobachten wie Tatsachen der realen Außenwelt. Es ist deshalb durchaus fraglich, ob "innere Tatsachen" dem üblichen Tatsachenbegriff subsumiert werden können. Zum anderen lassen sich im Prinzip beliebige Meinungen und Werturteile zu Behauptungen über "innere Tatsachen" umformulieren, indem man ihnen einfach eine Formel wie "Ich glaube, daß" oder "Ich bin überzeugt davon, daß" voranstellt. Läßt man dies zu, so wird die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen ad absurdum geführt. Um das erstgenannte Problem zu lösen, schlage ich vor, "innere Tatsachen" als Fiktionen zu behandeln. Eine ähnliche Position wird auch in der empirischen Psychologie vertreten. In dieser Form können Behauptungen über "innere Tatsachen" als betrugsrelevant angesehen werden, ohne daß die Strafrechtsdogmatik Aussagen über ihre "Seinsweise" machen müßte. Das zweite Problem, nämlich die Bildung parasitärer Tatsachenaussagen durch eine sprecherbezügliche Umformulierung von Werturteilen und Meinungsäußerungen, läßt sich nicht dadurch lösen, daß man derartigen Aussagen den Status von Tatsachenaussagen einfach aberkennt. Auch Aussagen über Innerpsychisches sind Tatsachenaussagen. Es ist deshalb erforderlich, zwischen betrugsrelevanten und betrugsirrelevanten Tatsachenaussagen zu unterscheiden. Mit dem allgemeinen Sprachgebrauch lassen sich die betrugsirrelevanten Tatsachenaussagen als "Meinungsäußerungen" qualifizieren.

2 Hitgendorf

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Kap. 1: Einleitung

In Kapitel elfwird ein weiteres Problem des herrschenden Tatsachenbegriffes behandelt, die Prognosen. Nach h.M. sind Prognosen keine Tatsachenaussagen. Stellt man jedoch allein auf die von der Rechtsprechung und Lehre zugrunde gelegte Tatsachendefinition ab, so erfüllen Prognosen die Voraussetzungen einer Tatsachenaussage. Auch in der Rechtsprechung werden Prognosen gelegentlich als Tatsachenaussagen qualifiziert, indem man sie in Behauptungen über "innere Tatsachen" umdeutet oder als Extrapolationen aus feststehenden Gesetzmäßigkeiten betrachtet. Vorzugswürdig ist es, Prognosen offen als Tatsachenaussagen anzuerkennen. Der Unsicherheit der meisten Prognosen kann dadurch Rechnung getragen werden, daß man unsichere Prognosen der in Kapitel 15 entwickelten Kategorie der Meinungsäußerungen zuweist und so aus dem Anwendungsbereich des§ 263 StGB herausnimmt. Kapitel zwölf beschäftigt sich mit der sprachlichen Form von Tatsachenaussagen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Tatsachenbehauptungen i.S.d. Beleidigungsrechts auch in Form von Fragen möglich. Dieser Auffassung ist zuzustimmen. Daraus ergibt sich jedoch das Folgeproblem, in welchen weiteren Formen Tatsachenaussagen auftreten können. Nach der hier vertretenen Ansicht liegt eine Tatsachenaussage dann vor, wenn eine Äußerung ohne Bedeutungsverlust oder Bedeutungsvermehrung in eine Standard-Tatsachenaussage übersetzt werden kann. Damit sind auch Tatsachenaussagen in Form schlüssigen Verhaltens, ja sogar Tatsachenaussagen in Form von Schweigen möglich. In Kapitel 13 kommt die Analyse der Werturteile zur Sprache. Nach einem kurzen Überblick über die verschiedenen Erscheinungsformen von Werturteilen werden die beiden "klassischen" Ansätze der Werturteilsanalyse vorgestellt, der Wertobjektivismus und der Wertsubjektivismus. Im Anschluß an Victor Kraft wird in vorliegender Arbeit ein gemäßigter Subjektivismus vertreten. Danach ist für Werturteile dreierlei charakteristisch: ( 1) Der Sprecher nimmt zu einem Sachverhalt in positiver oder negativer Weise Stellung. (2) Das Werturteil wird grundsätzlich analog einer Tatsachenaussage formuliert und so der Anschein von Allgemeinverbindlichkeit erweckt. (3) Die Adressaten des Werturteils werden implizit aufgefordert, ebenso zu werten. Im Strafrecht kommen Werturteile und Wertbegriffe in vielfaltigen Formen und Zusammenhängen vor. Kapitel 14 ist einer Analyse dieser Erscheinungsweisen gewidmet. Zunächst sind einige begriffliche Klärungen durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf die schon lange diskutierte Unterscheidung von deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen. Es wird gezeigt, daß diese Differenzierung nicht deckungsgleich ist mit der Unterscheidung von Tatsachenaussagen und Werturteilen. Anschließend wird auftypische Abgrenzungsprobleme eingegangen. Sie tauchen insbesondere bei Werturteilen mit relativ großem deskriptivem Gehalt auf.

Kap. 1: Einleitung

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Kapitel 15 beschäftigt sich eingehend mit der schon mehrfach angesprochenen Kategorie der Meinungsäußerungen. In der Literatur werden die Ausdrücke "Meinung" oder "Meinungsäußerung" nicht selten gleichbedeutend mit "Werturteil" gebraucht. Diese Ansicht ist abzulehnen. Stattdessen erscheint es vorzugswürdig, "Meinungsäußerungen" als eine dritte Kategorie neben Tatsachenaussagen und Werturteilen aufzufassen, die sich mit den beiden anderen Äußerungsklassen allerdings teilweise überschneidet. Meinungsäußerungen sollen solche Äußerungen genannt werden, deren Geltungsanspruch gegenüber dem üblicherweise mit Tatsachenbehauptungen verbundenen deutlich verringert ist. Dies gilt für alle Werturteile, die somit als Teilklasse der Meinungsäußerungen anzusehen sind. Aber auch zahlreiche Tatsachenaussagen, etwa viele der bereits angesprochenen parasitären Tatsachenaussagen, sind als Meinungsäußerungen zu interpretieren. Ein wichtiges Sonderproblem stellen die Rechtsbehauptungen dar, die im 16. Kapitel zur Sprache kommen. Nach ganz h.M. sind sie als Werturteile zu betrachten. Ein Blick auf die in Kapitel 13 durchgeführte Werturteilsanalyse zeigt, daß diese Ansicht nicht richtig sein kann. Die h.M. stützt sich fast ausschließlich auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1958. Das Urteil wird eingehend untersucht. Dabei wird deutlich, daß es von der h.M. zu Unrecht als "leading case" der pauschalen Gleichsetzung von Rechtsbehauptungen mit Werturteilen betrachtet wird. Der Bundesgerichtshof hat sich vielmehr differenziert geäußert und etwa Behauptungen über allgemein bekannte Rechtsbegriffe (wie Eigentum oder bestimmte verwandtschaftliche Beziehungen) als Tatsachenbehauptungen anerkannt. Nach der hier vertretenen Ansicht sind Rechtsbehauptungen als Behauptungen über eine bestimmte Rechtslage und damit als Tatsachenbehauptungen anzusehen. Freilich treten viele Rechtsbehauptungen mit einem verminderten Geltungsanspruch auf und stellen dann bloße Meinungsäußerungen dar, die nicht dem § 263 StGB unterfallen. Kapitel 17 beschäftigt sich mit Fragen des Wahrheitsbeweises von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen im Beleidigungsrecht Die Anforderungen, die an das Vorliegen eines Wahrheitsbeweises von Tatsachenaussagen zu stellen sind, werden diskutiert. Bei Werturteilen ist ein Wahrheitsbeweis nur in der Weise möglich, daß die dem Werturteil (explizit oder implizit) zugrunde liegende Tatsachenbasis als wahr erwiesen wird. Wird ein abwertendes Urteil von einer als wahr erwiesenen Tatsachenbasis getragen, so erscheint das Werturteil "angemessen" und somit (von den Fällen des§ 192 StGB abgesehen) als nicht ehrverletzend. Im 18. Kapitel wird untersucht, ob der erarbeitete Begriff der Tatsachenaussage bzw. der Tatsachenbehauptung in allen Rechtsgebieten einheitlich verwendet werden kann oder ob bereichsspezifische Differenzierungen erforderlich sind. Es wird dargelegt, daß zwar grundsätzlich stets eine einheitliche Terminologie erstrebt werden sollte (Postulat der "Einheit der Rechtsordnung"), daß aber andererseits eine bereichsspezifische Sprachre,gelung ohne weiteres möglich und oft auch 2•

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zweckmäßig ist. Für die Begriffe "Tatsachenaussage" und "Tatsachenbehauptung" scheint mir dies jedoch nicht der Fall zu sein, so daß eine für alle Rechtsgebiete einheitliche Begriffsverwendung vorgeschlagen wird. Um die Literatur fächerübergreifend zu erschließen, wurde das Literaturverzeichnis sehr ausführlich gehalten. Da die hier vorgelegte Monographie nicht auf Vorläufer zurückgreifen konnte, waren die Auswahl und die Anordnung des Stoffes sehr stark von persönlichen Präferenzen des Autors abhängig. Es handelt sich um ein Thema mit Grundlagencharakter, so daß philosophische und logische Erwägungen eine verhältnismäßig große Rolle spielen. Um die Arbeit überschaubar zu halt~n, habe ich darauf verzichtet, die Tragfähigkeit der von mir vorgeschlagenen Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen in alle dogmatischen Verästelungen des Besonderen Teils hinein nachzuweisen. Im Zentrum stehen vielmehr die§§ 263, 186 und 187 StGB. Trägt der Ansatz hier, so kann er auch auf andere Fallgruppen übertragen werden.

111. Tatsachenaussagen und Werturteile als zwei Grundformen der Sprache Ausdrücke wie "Tatsache", "Tatsachenaussage", "Meinungsäußerung", "Meinung", "Wertung" oder "Werturteil" sind zunächst vorjuristische Begriffe. Sie werden zur Einordnung sprachlicher Phänomene in bestimmte Klassen verwendet. Sprache umfaßt, wie man heute gern betont/ sehr viel mehr als nur das Austauschen von Information. Wir sprechen nicht nur, um Wissen weiterzugeben, sondern wir wünschen anderen Glück, bitten sie, das Fenster zu öffnen, fluchen und schreiben Gedichte. (Die Liste ließe sich beliebig verlängern). Eine auch nur annähernd vollständige Katalogisierung der verschiedenen Funktionsweisen oder Funktionsmöglichkeiten von Sprache ist noch nicht gelungen. Es spricht sogar einiges dafür, daß ein derartiger Katalog aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist. So schreibt Wittgenstein: 3 "Wie viele Arten der Sätze 2 Vgl. nur Black, Sprache, 129- 159. Besondere Bedeutung kommt dabei der Sprechakttheorie zu, dazu Austin., How to do things with words, 1962, dt. Zur Theorie der Sprechakte, 2. Aufl. Stuttgart 1979. 3 Als der "Entdecker" der Multifunktionalität der Sprache wird meist Wittgenstein genannt. In seinen "Philosophischen Untersuchungen" ( 1953 publiziert) nennt er folgende Beispiele für sprachliche Tätigkeiten ("Sprachspiele"): "Befehlen, und nach Befehlen handeln - Beschreiben eines Gegenstandes nach dem Ansehen, oder nach Messungen Herstellen eines Gegenstandes nach einer Beschreibung (Zeichnung) - Berichten eines Hergangs - Über den Hergang Vermutungen anstellen - Eine Hypothese aufstellen und prüfen - Darstellen der Ergebnisse eines Experimentes durch Tabellen und Diagramme Eine Geschichte erfinden; und lesen - Theater spielen - Reigen singen - Rätsel raten Einen Witz machen; erzählen - Ein angewandtes Rechenexempel lösen - Aus einer Sprache in die andere übersetzen - Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten." (Wittgen-

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gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? - Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir "Zeichen", "Worte", "Sätze" nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein fiir allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre [...] veralten und werden vergessen". 4 Die Vielzahl möglicher Sätze und Satzfunktionen läßt sich in ganz unterschiedlicher Weise strukturieren.5 Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit reicht es aus, die in der Logik übliche Unterscheidung zwischen der informativen, der expressiven und der direktiven Funktion von Sprache zugrunde zu legen: 6 Sprache übermittelt Information, sie dient dazu, GefUhle auszudrücken und sie wird verwendet, um anderen Menschen Handlungsanweisungen zu geben. 7 In unserem Zusammenhang ist der grundlegende Unterschied zwischen der informativen und der direktiven Sprachverwendung besonders wichtig: Im einen Fall wird ein Sachverhalt beschrieben, im anderen Fall dazu aufgefordert, einen Sachverhalt zu verändern. Es sei noch einmal betont, daß diese Dreiteilung nicht erschöpfend ist. Sie hat sich aber in der Logik und der Wissenschaftstheorie bewährt und soll deshalb auch im folgenden verwendet werden. Die genannten Funktionen treten selten in reiner Form auf; in den meisten Fällen liegen zwei oder sogar alle drei Sprachfunktionen gleichzeitig vor. So ist etwa ein Spendenaufruf in erster Linie als direktiv anzusehen, er enthält aber darüber hinaus regelmäßig auch Informationen und drückt außerdem eine bestimmte Gefühlslage aus, die man auf das Publikum zu übertragen sucht.8 stein, Werkausgabe Band I, 250). Zu der vor Willgenstein herrschenden Auffassung Black, Sprache, 130- 134. Philosophische Untersuchungen, 250. So unterscheidet etwa Kürschner, Grammatikalisches Kompendium, 236- 239, folgende Satzarten: Aussagesatz, Ergänzungsfragesatz, Entscheidungsfragesatz, Wahlfragesatz, Aufforderungssatz, Wunschsatz und Ausrufesatz. Aus dem philosophischen Schrifttum vgl. Schächter, Prolegomena zu einer kritischen Grammatik, 180-225. Umfassend Meibauer (Hg.), Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik (mit zahlreichen Literatumachweisen). 6 Copi, Introduction to Logic, 61-64. Vgl. auch Black, Sprache, 155. Ein besonders einflußreicher Ahnherr der genannten Differenzierung ist Bühler, Sprachtheorie, 1934, der zwischen Darstellung, Ausdruck und Appell unterscheidet. 7 Hare, Die Sprache der Moral, 21, hat die vorschreibende Sprache weiter unterteilt in Imperative einerseits und Werturteile andererseits. Die Imperative zerfallen in singuläre und universelle, die Werturteile in nicht-moralische und moralische. 8 Genau genommen lassen sich bei der expressiven Sprachverwendung zwei Unterformen erkennen: Erstens das Ausdrücken eigener Gellihle ohne Rücksicht auf ein Publikum und zweitens das Bestreben, die eigene Stimmungslage auf ein Publikum zu übertragen. 4

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Tatsachenaussagen sind eindeutig der informativen Sprachfunktion zuzuordnen. Sie übermitteln Informationen über die uns umgebende Welt; es sind Beschreibungen von "Tatsachen". Die Welt der Tatsachen ist grundsätzlich fiir alle Menschen in gleicher Weise sinnlich erfahrbar. Tatsachenaussagen können damit prinzipiell von jedermann überprüft werden. Deshalb kommt Tatsachenaussagen in der allgemeinen Einschätzung ein besonderes Gewicht zu; sie gelten als "objektiv" und können wahr oder falsch sein (nicht aber beides zugleich). Wertungen hingegen und damit auch Werturteile sind der expressiven und der direktiven Funktion der Sprache zuzuordnen. Wer wertet, nimmt als Person zu einem Sachverhalt Stellung. So wird durch das Werturteil "Dies ist ein schönes Bild" nicht etwa eine Beschreibung des Bildes abgeben, sondern eine persönliche Stellungnahme ausgedrückt (expressive Funktion). Gleichzeitig werden die Adressaten implizit aufgefordert, ebenso zu werten (direktive Funktion). Als persönliche ("subjektive") Stellungnahmen sind Werturteile nicht sinnlich (oder besser: empirisch) überprüfbar. Wertungen und Werturteile können nicht wahr oder falsch sein, sondern allenfalls richtig oder unrichtig. Widersprechen sich zwei Wertungen (etwa wenn A ein bestimmtes Bild als schön bezeichnet, B hingegen als nicht schön), so können nach üblicher Ansicht beide Wertungen nebeneinander bestehen; A und B, so sagt man, legen eben unterschiedliche Wertmaßstäbe zugrunde. Der damit angedeutete Unterschied ist fiir das Strafrecht von beträchtlicher Bedeutung: Die Täuschung eines anderen ist schon begrifflich nur durch Übermittlung falscher (also mit den "Tatsachen" nicht übereinstimmender) Information möglich. 9 Damit sind Wertungen und Werturteile nicht betrugsrelevant In ihrer Oberflächengrammatik ähneln Werturteile aber fast immer typischen Tatsachenaussagen; so weist etwa das Werturteil "M ist ein Dummkopf' dieselbe grammatikalische Struktur aufwie die Tatsachenaussage "Mist ein Rechtsanwalt". Diese Strukturgleichheit macht es erforderlich, Abgrenzungskriterien zu entwickeln, die sich nicht (nur) auf die grammatikalische Form von Tatsachenaussagen und Werturteilen beziehen, sondern weitergehende Gesichtspunkte berücksichtigen. Bei

Für einen Spendenaufruf ist insbesondere die letztgenannte Funktion von Bedeutung. Vgl. Copi, Introduction to Logic, 63 f. 9 Dies gilt auch für den "Betrug durch Behauptung wahrer Tatsachen", den Sehröder in: FS Peters, 153- 161, untersucht hat. Für ein Beispiel aus der Praxis vgl. LG Osnabrück, MDR 1991, 468. Wenn der Äußerungsadressat eine an sich wahre Tatsachenbehauptung mißversteht und dadurch zu einem Irrtum verleitet wird, handelt es sich aus seiner Sicht grundsätzlich um eine falsche Tatsachenbehauptung. Anderenfalls wäre ein Irrtum i.S. eines Auseinanderklaffens von Vorstellung und Wirklichkeit gar nicht denkbar. Näher zu den dogmatischen Problemen des "Betrugs durch Behauptung wahrer Tatsachen" Schumann, JZ 1979, 588-592.

Kap. 1: Einleitung

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anderen Äußerungstypen stellt sich das Abgrenzungsproblem in dieser Schärfe nicht. 10 Auch im Beleidigungsrecht sind einigermaßen exakte und gut handhabbare Abgrenzungskriterien erforderlich. Zwar markiert die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen hier nicht die Grenze zwischen strafbaren und nicht strafbaren Äußerungen, doch sind ehrverletzende Tatsachenbehauptungen fiir den Betroffenen sehr viel gefährlicher als das Verbreiten persönlicher Werturteile, weil Tatsachenbehauptungen wie ,.A hat mich gestern bestohlen" üblicherweise mit dem Anspruch geäußert werden, "objektiv" und von jedermann nachprüfbar zu sein. Derartigen Äußerungen wird deshalb im Alltag ein weitaus größeres Gewicht beigemessen als Werturteilen ("A ist ein böser Mensch"), die als bloß subjektive und damit fiir andere nicht bindende Stellungnahmen angesehen werden: "Tatsachen sprechenfor sich". 11 Der Gesetzgeber hat diesem Phänomen durch die Unterscheidung zwischen Beleidigung(§ 185 StGB) einerseits, Übler Nachrede (§ 186 StGB) und Verleumdung (§ 187 StGB) andererseits Rechnung getragen und an Dritte gerichtete ehrverletzende Tatsachenbehauptungen schärfer pönalisiert als Tatsachenbehauptungen gegenüber dem Betroffenen oder das Äußern von ehrverletzenden Werturteilen. Beides wird nur von§ 185 StGB erfaßt. Es steht zu vermuten, daß die soeben skizzierten Überlegungen zur Verletzungseignung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen bewußt oder unbewußt schon lange im allgemeinen Rechtsbewußtsein und in den Köpfen der Gesetzgeber präsent sind. Natürlich wäre es von großem geistesgeschichtlichem Interesse, der Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen in der Entwicklung des Rechtsdenkens nachzuspüren und ihre Bedeutung fiir das Strafrecht der einzelnen Epochen zu untersuchen. Für die vorliegende Thematik ist ein derart weites Ausgreifen aber nicht erforderlich, denn bemerkenswerterweise scheint die explizite Berücksichtigung von "Tatsachen" bzw. "Tatsachenaussagen" beim Betrug und betrugsähnlichen Delikten einerseits und im Beleidigungsrecht andererseits erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts aufgekommen zu sein. 12 Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit genügt ein Überblick über diese Entwicklung.

10 Zu bedenken ist aber, daß sowohl Werturteile als auch Tatsachenaussagen in Form anderer Äußerungstypen, etwa als Imperative oder Fragen, auftreten können, vgl. unten Kapitel 12. Mittelbar wird das Abgrenzungsproblem also auch hier relevant. 11 So prägnant LK-Herdegen, § 185 Rz. 2. 12 Ich beschränke mich hier und im folgenden auf die Entwicklung in Deutschland.

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge Kapite12: Die Herausbildung des Erfordernisses einer "Täuschung über Tatsachen" im Betrugsstrafrecht Die heutige Bedeutung des Begriffspaars "Tatsachenaussage" und "Werturteil" im Betrugs- und Beleidigungsrecht läßt sich ohne eine Berücksichtigung seiner historischen Genese kaum verstehen. Prägend scheint vor allem die Diskussion um die Schaffung eines allgemeinen Betrugstatbestandes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein, als man mittels des Tatbestandsmerkmals "Täuschung über Tatsachen" eine Abgrenzung zwischen erlaubter Geschäftstüchtigkeit und kriminellem Geschäftsgebaren erreichen zu können glaubte. I. Betrugsbegriff und Industrielle Revolution

Historischer Vorläufer des heutigen Betrugstatbestandes ist der gemeinrechtliche ,,stellionatus", 1 ein unscharf konturierter Auffangtatbestand, bei dem sich aber immerhin die Begriffsmerkmale "Täuschungshandlung", "Irrtumserregung" und "Vermögensschaden" unterscheiden lassen.2 Damit konkurrierte der Tatbestand des ,fa/sum", der u.a. die heutigen Urkundsdelikte, Aussagedelikte, das Präsentieren falscher Zeugen und Fälschungsdelikte umfaßte. 3 Für den stellionatus wurde ganz überwiegend die Auffassung vertreten, er erfordere ein besonders raffiniertes, arglistiges Vorgehen des Täters. 4 Dabei stützte man sich auf Digestenstellen wie D. 4.3.7.10: "Nam nisi ex magna et evidenti calliditate non debet de dolo actio dari". 5 Ein allgemeiner Betrugstatbestand fehlte im deutschen wie 1 Zu den nachfolgenden Ausfilhrungen vgl. Schaffstein, FS Wieacker, 281 - 295. Ausführlich zur Geschichte des Betrugs Merke/, Die Lehre vom strafbaren Betrug, 1 -55; zusammenfassend Ellmer; Betrug und Opfermitverantwortung, 22 - 25. 2 Schaffstein, FS Wieacker, 284 f; näher Hupe, Falsum, fraus und stellionatus, 168 171. 3 Zu den Begriffsmerkmalen des falsum im einzelnen Hupe, Falsum, fraus und stellionatus, 145- 149. Vgl. auch Kausch, Die Entwicklung des Falsum von der Carolina bis zur Partikulargesetzgebung der Aufklärung, 1971. 4 Hupe, Falsum, fraus und stellionatus, 170 f. 5 So z.B. Mittermaier, Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechtspflege, Band 6 (1838), 19; Merke/, Die Lehre vom strafbaren Betrug, 10. Weitere zur

Kap. 2: Das Erfordernis einer "Täuschung über Tatsachen"

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im italienischen Strafrecht.6 Auch in der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 sucht man einen Betrugstatbestand im heutigen Sinne vergebens. Bis in das 19. Jahrhundert hinein arbeitete die Strafrechtswissenschaft mit dem Begriffspaar "falsum" und "stellionatus", freilich ohne eine überzeugende Abgrenzung beider Deliktsformen zu erreichen. 7 Der stellionatus blieb überdies ein bloßer Auffangtatbestand und trat in seiner Bedeutung weit hinter das "falsum" zurück. 8 Erst als sich mit dem Beginn der Industriellen Revolution die Geschäftsbeziehungen enorm intensivierten, entstand das Bedürfnis nach der Schaffung eines eigenständigen Betrugstatbestandes.9 Dieser Zusammenhang wurde schon von den Zeitgenossen erkannt. So schrieb Temme im Jahr 1841, das Interesse an einem allgemeinen Betrugsbegriff erwache erst dann, "wenn ein Volk aus seiner ruhigen, einfachen Lebensweise in ein bewegteres Leben der Industrie und Cultur hinübertritt". 10 Schaffstein weist daraufhin, "daß jene späte Ausbildung des Betrugstatbestandes im 19. Jahrhundert zeitlich und auch ursächlich mit der Entstehung der arbeitsteiligen Industrie- und Handelsgesellschaft unseres Zeitalters zusammenfällt, durch die erst das Bedürfnis nach einem wirksamen Strafrechtsschutz der sie charakterisierenden vielfältigen Rechts- und Geschäftsbeziehungen geweckt geworden ist." 11 Die gemeinrechtlichen Lehren verlorenangesichtsder neuen Fragen rasch an Interesse. 12 Schon bald zeigte sich aber, daß die Neuformulierung eines allgemeinen Betrugstatbestandes keineswegs unproblematisch

war.

Untermauerung des Arglisterfordernisses herangezogene Digestenstellen erwähnen Berner, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 304 Fn. 3 und Temme, Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte, 50; zusammenfassend Ellmer, Betrug und Opferrnitverantwortung, 23. Ob man sich auf diese Stellen zu Recht berief, kann hier offenbleiben. 6 Dahm, Das Strafrecht Italiens im ausgehenden Mittelalter, 537 f; His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, Zweiter Teil, 318 ff.

7

Dazu näher zu Dohna, FS Zycha, 481.

8

Schaffstein, FS Wieacker, 291. V gl. auch Dahm, Das Strafrecht Italiens, 501 ff.

V gl. dagegen die Entwicklungsgeschichte des Diebstahls, dazu Janßen, Der Diebstahl in seiner Entwicklung, 1969. 9

10

Temme, Die Lehre vom strafbaren Betruge nach Preußischem Rechte, 9.

11

FS Wieacker, 282. Ähnlich auch Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 64 f.

12

Schaffstein, FS Wieacker, 295.

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Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

II. Die Diskussion über die Schaffung eines allgemeinen Betrugstatbestandes Bei den Bemühungen um die Schaffung eines praktikablen Betrugstatbestandes lassen sich zwei gegenläufige Motive unterscheiden: 13 Zum einen versuchte man, mit Hilfe des Strafrechts einen wirksamen Vermögensschutz zu gewährleisten; zum anderen aber strebte man danach, Handel und Verkehr keine unnötigen Fesseln anzulegen. Es ist kennzeichnend für den Frühliberalismus, daß er dem Tüchtigen freie Bahn gewähren will. 14 Deshalb forderte man, Einfalt und Leichtfertigkeit im Geschäftsverkehr nicht zu schützen. Dies ging so weit, daß man rechtswidrige Täuschungen dem Strafrichter entziehen und ausschließlich der Kompetenz der Zivilgerichte zuweisen wollte. Schon 1825 formulierte von Gönner: "Stellionat, die bekannte Qual und Klippe aller Strafgesetzbücher, welche ihre natürlichen Grenzen übersteigen, gehört ohnehin [...] nur vor den Zivilrichter [...]; denn es ist allemal eine Vermischung der Moralität oder Delicatesse mit reinen strafrechtlichen Rücksichten, nur eine starke Zumutung an das Strafgesetz, wenn man eine Strafe verlangt, weil ein leichtgläubiger oder gutgläubiger Mensch sich überlisten oder täuschen ließ, oder wenn man von der Obrigkeit verlangt, sie sollte den Champion für jeden Einfältigen machen" .15 Die mit der neuen Wirtschaftsform einhergehenden Geschäftspraktiken wurden von Oerstedt anschaulich beschrieben: "Nichts ist gewöhnlicher, als daß, wer etwas verkaufen oder vermieten will, seine Waren anpreist, deren Mängel verheimlicht, ihnen Vorzüge beilegt, die sie nicht haben, und sonst durch unrichtiges Vorgeben die Lust des mit ihm Handelnden zu erregen sucht; so wie, daß, wer gegen Bezahlung gewisse Arbeiten zu übernehmen wünscht, sich fälschlich eine größere Tüchtigkeit zuschreibt, als .er besitzt, daß er, was die Dauerhaftigkeit und Güte der Arbeit, und die Zeit, da er sie liefern wird, betrifft, Versprechen gibt, die er im Voraus weiß nicht halten zu können." 16 In der zeitgenössischen Literatur findet sich häufig das Bild eines geistigen Wettkampfs zwischen den Vertragsparteien, in den sich der Strafgesetzgeber grundsätzlich nicht einzumischen habe. So heißt es etwa bei Mittermaier, bei der 13 Ellmer, Betrug und Opfermitverantwortung, 24 f. Vgl. auch Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 64 f. Allgemein zur rechtspolitischen Diskussion zwischen 1750 und 1820 Foltis, Verbrechen und Willkür, 127- 167.

14 Dazu etwa Nipperdey , Deutsche Geschichte, 286 - 300; Zycha, in: Böckenforde, Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, 375- 389 15 Von Gönner, Neues Archiv des Criminalrechts, Band 7 (1825), 468. Von Gönners Formulierung wurde von zahlreichen zeitgenössischen Autoren aufgegriffen und variiert, vgl. die Nachweise bei Kurth, Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug, 41 Fn. I. 16 Oerstedt, Ausfuhrliehe Prüfung des neuen Entwurfs zu einem Strafgesetz für das Königreich Bayern (1823), 357.

Kap. 2: Das Erfordernis einer "Täuschung über Tatsachen"

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richtigen Festsetzung des Begriffs des strafbaren Betrugs gehe es um "die Bezeichnung der Grenzen, wie weit der Spekulationsgeist und die Klugheit gehen dürfen, mit denen im Wettkampfe von zwei Vertragsschließenden, Jeder (sie) möglichst das Günstigste fiir sich zu gewinnen und dies durch Zurückhaltung der Wahrheit und durch Anpreisungen und glänzende Schilderungen zu erreichen suchen darf, ohne strafbar zu werden". 17 Merke/ sprach geradezu von einer "naturalis licentia decipiendi" und wies auf den alten Rechtssatz hin, wonach "vigilantibus iura sunt scripta". 18 Diese im Zivilrecht schon lange geltenden Regeln seien auch im Betrugsstrafrecht anwendbar. 19 Escher schließlich berief sich auf Hobbes und dessen Vorstellung vom "bellum omnium contra omnes" .20 Das Bestreben, den Wettbewerb so wenig wie möglich einzuschränken, fiihrte dazu, nach einem möglichen Mitverschulden des Opfers zu forschen und dies betrugseinschränkend zu berücksichtigen. Da die verschiedenen rechtsdogmatischen Vorschläge in dieser Richtung bereits von Kurth 21 ausfuhrlieh dargestellt wurden, möchte ich mich auf eine knappe Zusammenfassung zwei er besonders markanter Positionen beschränken: Gustav Geib nannte im Jahr 1840 als die beiden wichtigsten praktischen Fragen der zeitgenössischen Betrugsdogmatik die Unterscheidung von Fälschung und Betrug und die Abgrenzung zwischen strafrechtlich verbotenem und allenfalls zivilrechtlich relevantem betrügerischem Verhalten. 22 Der Strafrechtslehre seiner Zeit hielt er entgegen, sie fasse den Anwendungsbereich des Betrugs viel zu weit. 23 Unter Berufung auf die englische, französische und italienische Rechtspraxis schlug Geib zwei Regeln vor, um strafbaren von straflosem (und allenfalls zivilrechtlich relevantem) Betrug abzugrenzen: "(1) der Betrug ist unbedingt, gleichviel plump oder fein, in allen denjenigen Fällen strafbar, wo der Betrogene, nach Maßgabe der jedesmal herrschenden Volksansichten, eine Täuschung gar nicht erwarten konnte;

Mittermaier, GS Band 10 (1858), 122. Merke/, Zur Lehre von den Grundeinteilungen des Unrechts, 72. Vgl. auch dens., Die Lehre vom strafbaren Betrug, 258 f mwN. 19 Zur Lehre von den Grundeinteilungen, 73; dazu E/lmer, Betrug und Opferrnitverantwortung, 26 f. 20 Escher, Die Lehre von dem strafbaren Betruge, 53. Ähnlich Glaser, Abhandlungen aus dem Österreichischen Strafrecht, 9: "Wo es sich um körperliche Einwirkungen handelt, bedürfen wir eines Schutzes[ ... ), auf geistigem Gebiet aber gilt[ ... ] zum Segen aller jenes Recht des Stärkeren, das auf dem physischen nicht anerkannt werden darf." 21 Kurth, Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug, 36- 79. 22 Geib, Archiv des Criminalrechts (1840), 98. 23 Archiv des Criminalrechts (1840), 102 ffund passim. 17

18

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

28

(2)

in allen übrigen Fällen, wo der Betrogene selbst auf eine Täuschung gefaßt sein mußte, kann der Betrug gewöhnlich nur zu zivilrechtliehen Ansprüchen berechtigen, eine Strafe aber bloß alsdann begründen, wenn er in der Art angelegt wurde, daß nach der ganzen Individualität des Betrogenen zu vermuten ist, derselbe sei, mit Rücksicht auf die bei anderen Gelegenheiten von ihm bewiesene Klugheit, nicht im Stande gewesen, die Täuschung zu durchschauen." 24

Geib will das Abgrenzungsproblem also nicht in abstracto lösen, sondern schlägt vor, auf den in der Bevölkerung herrschenden Maßstab von "Treu und Glauben"25 abzustellen. Besonders bemerkenswert ist die zweite Regel. In ihr wird auf die individuelle Opferperspektive abgehoben und nach der Vermeidbarkeit der Täuschung for das Opfer gefragt. Geib ist allerdings der Ansicht, daß sich "für die unendliche Mehrzahl der Fälle eine Art von Mittelstraße, ein gewisser Durchschnittsmaßstab [... ) annehmen läßt, zu dessen richtiger Auftindung und Bestimmung gewiß eine vernünftige Praxis von selbst kommen wird, und wo dann auch eine besondere Exploration der Geisteskräfte des Betrogenen als überflüssig erscheint. " 26 Der Vorschlag Geibs wurde vor wenigen Jahren von Manfred Ellmer in einer sehr anregenden Studie über "Betrug und Opfermitverantwortung" aufgegriffen. Ellmer möchte nur solche Täuschungshandlungen als betrugsrelevant ansehen, die einen bestimmten Grad an konkreter Gefährlichkeit aufweisen. Dies soll dann anzunehmen sein, wenn der Irrtum nicht auf grober Fahrlässigkeit des Opfers beruht. 27 In der vorliegenden Arbeit wird zur Berücksichtigung der Opfermitverantwortung ein Modell entwickelt, das sich teilweise eng an die Vorschläge Geibs (und Ellmers) anlehnt. 28 Ungefähr zur seihen Zeit wie Geib verlangte Mittermaier, die begrifflichen Voraussetzungen des Betrugs schärfer zu fassen. Er wies darauf hin, daß das Strafrecht nur dort eingreifen dürfe, wo die Mittel des Zivilrechts nicht mehr ausreichten. 29 Insbesondere beim Betrug müsse sich der Strafgesetzgeber große Zurückhaltung auferlegen und dürfe nicht dazu übergehen, jede Unwahrhaftigkeit im menschlichen Miteinander zu pönalisieren. Kennzeichnend für den Betrug sei, daß "dem Erkenntnisvermögen des Anderen [... ] Gewalt zu[ge] fügt" werde. 30 Es sei deshalb nicht angebracht, ,jeden Albernen, Leichtgläubigen oder Schwachen Archiv des Criminalrechts (1840), 122, vgl. auch 195. So ausdrücklich a.a.O., 123. 26 Archiv des Criminalrechts ( 1840), 196 f. 27 Betrug und Opfermitverantwortung, 287. 28 Vgl. unten Kapitel 15. 29 Annalen der deutschen und ausländischen Criminai-Rechtspflege, Band 6 (1838), 2 f. 30 Annalen, 17. 24 25

Kap. 2: Das Erfordernis einer "Täuschung über Tatsachen"

29

durch Strafgesetze zu schützen". 31 Wer seinem Gegenüber etwa erkläre, "daß er der Kaiser von China sei und den anderen zu seinem Minister ernennen wolle, für den Augenblick aber 100 Taler brauche", sei nicht als Betrüger strafbar, wenn die Täuschung gelingt und die verlangte Summe übergeben werde: "In einer solchen Lüge, die als Lüge vonjedem sogleich erkannt wird, liegt doch kein Zwang". 32 In einer zwei Jahrzehnte später publizierten Arbeif3 schlug Mittermaier vor, die strafbare Täuschung von der erlaubten, ja gewünschten Geschäftstüchtigkeit abzugrenzen, indem man auf die Maßfigur eines "verständigen Mannes" abstellt: "Die Grenze zwischen dem strafwürdigen Betrug und der straflosen Schlauheit wird am richtigsten darin gefunden, daß überall, wo nur solche Vorspiegelungen angewendet sind, auf deren Anwendung als allgemein bei Geschäften dieser Art bekannte Künste jeder verständige Mann gefaßt sein muß, und sich daher auch nicht durch sie bestimmen läßt, so wie überall, wo jemand in Folge schlauer Veranstaltungen des Gegners nur durch Unterlassung seiner Vorsicht getäuscht wird, welche jeder verständige Mann in Verhältnissen dieser Art anwendet, kein strafbarer Betrug eintritt".34 Auch Mittermaier rekurriert also auf eine "Normalklugheit", deren Vernachlässigung einen strafrechtlich relevanten Betrug ausschließen soll.

111. Insbesondere: der Tatsachenbegriff Die Bestrebungen, eine praktikable Abgrenzung zwischen erlaubter Geschäftstüchtigkeit und verbotenem Betrug zu finden, fanden ihren Ausdruck auch in der Diskussion um den Tatsachenbegriff. Da es gerade dieser Begriff war, mittels dessen man schließlich das Kernproblem der damaligen Betrugsdogmatik lösen zu können glaubte, erscheint es gerechtfertigt, in diesem und den folgenden Kapiteln seine Herkunft und Verwendungsweise etwas näher zu beleuchten. Die älteren Formen des Betrugstatbestimdes zeichneten sich dadurch aus, daß die Fälschungshandlung nicht abstrakt umschrieben war, sondern kasuistisch einzelne Arten von Täuschungshandlungen aufgezählt wurden. 35 Ansätze zu einer abstrakten Tatbestandsbestimmung finden sich aber bereits im Codex Iuris Bavarici von 1751, wo solche Handlungen als Betrug pönalisiert werden, durch die "die Wahrheit der Sache teils mit Worten, teils mit Werken und Schriften auf eine gefährliche und Anderen zum Schaden gereichende Art verdreht wird". 36 Dieser 31 1bid. 321bid. 33 Mittermaier. GS Band 10 (1858), 122- 143. 34 Das Wesen des strafbaren Betruges, GS 1858, 138 f. 35 Vgl. etwa Artikel 111 bis 114 PGO. 36 Zitiert nach Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 215. Die Autorin hat ver-

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

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allgemeine Grundsatz wurde sodann durch eine ausgedehnte Kasuistik ergänzt, die freilich ein Sammelsurium von ganz unterschiedlichen Handlungen umfaßte, welche nach heutigem Verständnis nicht einmal ein und dasselbe Rechtsgut betrafen. 37 Immerhin läßt die Formulierung "Wahrheit der Sache" schon die heutige "Tatsache" erahnen. Interessant ist auch die Kontrastierung von "Sache" einerseits mit "Worten" sowie "Werken und Schriften" andererseits. Die begriffliche Trennung zwischen der Wirklichkeit und menschlichen Äußerungen darüber ist hier schon deutlich erkennbar. Auch die Regelung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 war kasuistisch konzipiert und umfaßte neben dem Betrug im heutigen Sinn noch zahlreiche andere Straftaten, wie etwa das unerlaubte Veranstalten von Glücksspielen, Pfandkehr und Urkundenfälschung. Als eine Art Generalklausel für den Betrug findet sich folgende Regel (Zweiter Teil, XX. Titel, 15. Abschnitt, § 1256): "Jede vorsätzliche Veranlassung eines Irrtums, wodurchjemand an seinem Rechte gekränkt werden soll, ist ein strafbarer Betrug. " 38 Besonders bemerkenswert ist, daß die Irrtumserregung offenbar nicht nur mittels einer falschen Tatsachenbehauptung erfolgen konnte, sondern auch andere Täuschungsformen betrugsrelevant waren. 39 In der Folgezeit bemühte man sich, die Konturen des Betrugstatbestandes klarer herauszuarbeiten. Im Österreichischen Strafgesetzbuch von 1803 heißt es, Betrüger sei, wer einen anderen "durch listige Vorstellungen oder Handlungen [ ... ]in einen Irrtum führt, durch welchenjemand an seinem Eigentum oder anderen Rechten Schaden leiden soll"(§ 176).40 Der hier anklingende Gedanke, der strafbare Betrug zeichne sich durch ein besonders listiges oder hinterhältiges Verhalten aus, war in der Rechtslehre der Zeit weit verbreitet. 41 Dagegen definierte Tittmann 42 noch im Jahr 1809 den Betrug ganz allgemein als ,jede Verdienstvollerweise die sonst teilweise nur schwer zugänglichen Gesetzesstellen in Kopie ihrer Arbeit angefügt. 37 Dazu ausführlich Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 8- 11, wo sich (215) auch der genaue Wortlaut der Norm findet. 38 Zitiert nach Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 220. Zur Betrugsregelung des ALR auch Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 65 ff.

39 Der Anwendungsbereich des § 1256 ALR ist im übrigen strittig. Gegen die These Nauckes, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 68 f, Betrug im heutigen Sinn sei nach dem ALR nur in sehr eingeschränktem Maße strafbar gewesen, überzeugend Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 35 f. Noch weiter als Naucke geht Cramer, Vermögensbegritfund Vermögensschaden im Strafrecht, 27 Anm. 23, der meint, unter der Geltung des ALR habe man zivilrechtliche Sanktionen gegen betrügerisches Verhalten für ausreichend gehalten. 40 Zitiert nach Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 222. 41 Vgl. etwa Temme, Die Lehre vom strafbaren Betrug, 55 ff. 42

Tittmann, Handbuch des gemeinen deutschen peinlichen Rechts. Dritter Teil, 384.

Kap. 2: Das Erfordernis einer "Täuschung über Tatsachen"

31

letzung und Unterdrückung der Wahrheit". 43 Der Gesetzgeber verwendete den Begriff "Tatsache" offenbar zum ersten Mal in Artikel 256 des von Feuerbach entworfenen bayerischen Strafgesetzbuches von 1813.44 Feuerbach hatte sich wiederholt kritisch zu den älteren Fassungen des Betrugstatbestandes geäußert. 45 Nach dem neuen Strafgesetzbuch war Betrüger, wer, "um einen Anderen in Schaden zu bringen oder sich selbst einen unerlaubten Vorteil zu verschaffen, wissentlich und vorsätzlich falsche Tatsachen fiir wahr ausgibt und darstellt, wahre Tatsachen unerlaubterweise vorenthält oder unterdrückt oder auch von fremden Betruge sich selbst zum Vorteil oder einem Dritten zum Nachteil wissentlich Gebrauch macht".46 Sieht man von den beiden letzten Alternativen ab, so klingt diese Tatbestandsbeschreibung erstaunlich modern. Zu den Überlegungen, die Feuerbach zur Übernahme des Ausdrucks "Tatsache" in Artikel 256 des bayerischen Strafgesetzbuches bestimmten,47 scheint er sich niemals ausruhrlieh geäußert zu haben. Weder in dem Gesetzbuch selbst noch in den Anmerkungen dazu48 wird der Begriff "Tatsache" näher erläutert. In seinem berühmten "Lehrbuch des peinlichen Rechts" schreibt er unter § 410: "Das Verbrechen des Betrugs (Fälschung im weiteren Sinne) besteht in einer beabsichtigten rechtswidrigen Täuschung Anderer durch Mitteilung falscher oder

43 Zu dieser Lehre vgl. Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 23 fundallgemein Siek, Die Lüge und ihre strafrechtliche Würdigung, insbes. 4 - 8. 44 In der Rechtslehre findet sich das Wort "Tatsache" seit Ende des 18. Jahrhunderts, so etwa bei Weber, Über Injurien und Schmähschriften, 123. Ungefähr zeitgleich taucht das Wort auch im Zivilrecht auf, z.B. bei Dabelow, System des gesamten heutigen CiviiRechts. 2. Ausgabe 1796. Dort findet sich in § 265 folgende Definition: "Eine Tatsache, Faktwn (factum) heißt alles das, was in Zeit und Raum wirklich ist". In der 1794 erschienenen l. Auflage (u.d.T. "System der heutigen Civilrechtsgelahrtheit") fehlt das Wort "Tatsache" noch; stattdessen ist bloß von einem "factum" die Rede. Der Ausdruck "factum" ist übrigens bedeutend älter, dazu knapp Lobe, Die allgemeinen strafrechtlichen Begriffe nach Carpzow, 25 f. 45 Vgl. etwa seine Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuch for die Chur-Pfalz-Bayerischen Staaten. 3. Teil, 92 f. Sehr skeptisch gegenüber Feuerbachs Ansichten etwa Cucumus, Neues Archiv des Criminalrechts Band 10 (1828), 513 - 535, 681 - 699; ähnlich auch Bauer, Lehrbuch des Strafrechts, 391 ff. Zu Feuerbachs Insistieren auf der Bestimmtheit von Gesetzen D. Cramer, Umfang und Grenzen richterlicher Entscheidungsfreiheit im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, 1969 sowie Bohnert, Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheilsgrundsatz im Strafrecht, 1982. 46 Zitiert nach Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 226; zu den Details der bayerischen Regelung dies., a.a.O., 48- 74 mit umfangreichen Nachweisen. 47 Der Begriff taucht auch in der Überschrift zu den Artikeln 134 ff des Ersten Buches auf: "Vom Beweise der die Strafbarkeit aufhebenden Tatsachen".

48

Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern (225 ff zum Betrug).

32

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Vorenthaltung wahrer Tatsachen". 49 Dazu merkt er an, die "gewöhnliche Definition der Rechtslehrer" sei "viel zu dunkel und unbestimmt". 50 In seinem "Ausführlichen kritischen Kommentar zu Feuerbachs Lehrbuch" führt Morstadr 1 aus, wo "die Rechtswidrigkeit bei der Entstellung der Wahrheit beginne", das sei "hier die Cardinalfrage". Zu berücksichtigen sei nämlich, "daß die allgemeine Volksansicht in den verschiedenen Ländern darüber bedeutend differiert. Wen die Deutschen und Engländer Betrüger nennen, den bezeichnen die Amerikaner häufig, unter Anerkennung seiner Schlauheit, als sharp fellow". Nichtjede Unredlichkeit sei als Betrug zu strafen, sondern nur solche Täuschungen, "welche das nach der herrschenden Ansicht notwendige Maß von Treue und Redlichkeit- öffentliche Treue und Glauben- verletzen". Auf den Tatsachenbegriff als solchen geht Morstadt nicht ein. Ähnliche Überlegungen zur Abgrenzung von erlaubter Geschäftstüchtigkeit und verbotenem Betrug waren schon von Geib und Mittermaier angestellt worden. 52 Es handelt sich, wie jetzt zusammenfassend festgestellt werden kann, um das Kernproblem der Betrugsdogmatik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 53 IV. Die Entwicklung von Gesetzgebung und Dogmatik

im 19. Jahrhundert

In der Folge wurde der Begriff "Tatsache" in zahlreichen Partikularstrafgesetzbüchern zur Umschreibung des Betrugstatbestandes verwendet, etwa in Artikel351 des württembergischen Strafgesetzbuches von 1839,54 in Artikel391 des hessischen Strafgesetzbuches von 1841 55 und in Artikel 284 des sächsischen Strafgesetzbuches von 1855.56 Die größte Bedeutung für die Weiterentwicklung des deutschen Strafrechts hatte allerdings das preußische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1851, dessen§ 241 lautete: "Wer in gewinnsüchtiger Absicht das Vermögen eines Anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorbringen falscher oder 49 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts. 14. Aufl., § 410. Bis zur 4. Auflage (1808) ist an dieser Stelle statt von "Tatsachen" noch von "Objekten der Erkenntnis" die Rede. 50 Lehrbuch, § 410. Als Beispiel nennt er Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts, Band 2, Erstes Stück ( 1799), 113 - 128.

Morstadt, Ausführlicher Kritischer Kommentar zu Feuerbachs Lehrbuch, 675. Vgl. oben II. 53 So auch Ellmer, Betrug und Opfermitverantwortung, 25. 51

52

S4 Sammlung deutscher Strafgesetzbücher, hg. von Stenglein, Band 4, 138. Dazu auch Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 101 - 116. 55 Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 240; vgl. auch ebenda, 136- 142. 56 Sammlung deutscher Strafgesetzbücher, Band 8, 128 f.

Kap. 2: Das Erfordernis einer "Täuschung über Tatsachen"

33

durch Entstellen oder Unterdrücken wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt, begeht einen Betrug." 57 Von dort wurde der Tatsachenbegriff in § 263 des Strafgesetzbuches fiir den Norddeutschen Bund von 187058 und schließlich in § 263 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 übemommen. 59 Bei den Gesetzgebungsberatungen fiir das preußische Strafgesetzbuch von 1851 hatte man die Notwendigkeit, den Anwendungsbereich des Tatbestandes zu begrenzen, deutlich erkannt. Wie Goltdammer berichtet60, sollte Betrug aber auch dann möglich sein, wenn die Täuschungshandlung leicht zu durchschauen und das Betrugsopfer nur infolge seiner Leichtfertigkeit oder Dummheit in die Irre gefUhrt worden war. Den Vorschlag, bei der Täuschungshandlung das Vorliegen von Arglist zu verlangen, hatte man wegen der angeblichen Unbestimmtheit dieses Merkmals nicht angenommen. Man fand, denselben Zweck durch die (in die Gesetzesfassung eingegangene) Formulierung "durch Vorbringen falscher oder durch Entstellen oder Unterdrücken wahrer Tatsachen" erreichen zu können. 61 "Besonderes Gewicht", so berichtet Go/tdammer weiter,62 "hat man auf den Ausdruck ,Tatsachen' legen wollen, und es läßt sich nicht verkennen, daß hierin gegen den Iandrechtlichen Begriff, welcher über das Gebiet der reinen Tatsachen hinausging,63 eine wesentliche Beschränkung liegt. Denn einmal fallen hierdurch jene allgemeinen täuschenden Anpreisungen aus dem Begriffe hinweg - ihre Ausschließung hatte man hierbei besonders im Auge - und nur die Versicherungen bestimmter angeblich vorhandener Eigenschaften, welche, wenn sie Sachen betreffen, Gegenstand der Gewährleistung sein würden, gehören in diesem Sinn zum Betruge; außerdem aber wird dadurch, daß die Tatsache, ihrem Begriffe nach, nur entweder Vergangenes oder Bestehendes ist, jede ausschließlich in die 57 Sanunlung deutscher Strafgesetzbücher, Band 11, 118. Eingehend zu den Gesetzesberatungen Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 69- 85. Bei Schütz, Entwicklung des Betrugsbegriffs, 247- 259, findet sich eine chronologische Übersicht über die verschiedenen preußischen Entwürfe seit 1828.

58 Dazu Blum, Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, 377 f; allgemein zum BetrugstatbestandJohn, Entwurfmit Motiven zu einem Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, 549 - 564 und Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 97 - I 01. 59 Eingehend zur Gesetzgebungsgeschichte Schütz, Die Entwicklung des Betrugsbegriffs, 162 - 189. 60 Goltdammer, Materialien, Band 2, 544 f. 61 Goltdammer, Materialien, Band 2, 538. Der Begriff "Tatsache" taucht erstmals in der Entwurfsfassung des Jahres 1845 auf, vgl. Revision des Entwurfs des Strafgesetzbuches von 1843, Band 3, 34. Als Vorbilder werden das hessische, das württembergische und das sächsische Strafgesetzbuch gena!Ult. Für die Verwendung des Ausdrucks "Tatsache" wird lediglich angeführt, daß "damit allgemeine, anpreisende oder tadelnde Äußerungen, die mehr die Natur eines Urteils haben, ausgeschlossen werden". 62 Materialien, Band 2, 542 f. 63 Vgl. oben Kapitel2 III.

3 Hitgendorf

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

34

Zukunft fallende Täuschung, so die Erweckung falscher Vermutungen über künftige Ereignisse, das wissentlich falsche Versprechen künftiger Leistungen wissentlich falsch insoweit, als man schon vom vomherein den Willen hat, nicht zu leisten- von dem Begriffe ausgeschlossen". Der Begriff "Tatsache" wurde also offenbar in einer Weise verstanden, die im wesentlichen dem SprachgebrauchFeuerbachs entsprach. Über den Tatsachenbegriff sollte jene Einschränkung der Betrugsstrafbarkeit erreicht werden, die nach Ansicht der Kommission mittels des Arglistmerkmals nicht möglich war. 64 Dabei wurde übersehen, daß der Begriff "Tatsache" in der Alltagssprache bereits in einem sehr viel weiteren Sinn verwendet wurde, 65 so daß Interpretationsschwierigkeiten unvermeidbar wurden. Dieses Mißverständnis des preußischen Strafgesetzgebers ist die Hauptursache fiir die terminologischen Unsicherheiten, die der Täuschungshandlung des § 263 StGB bis heute anhaften. Speziell zu Rechtsbehauptungen fiihrt Goltdammer aus, daß die Kommission der Ersten Kammer auch das Erregen eines Rechtsirrtums fiir ausreichend erachtet habe. Dies, so Goltdammer, könne jedoch nur insoweit richtig sein, "als dadurch (sie) das falsche Behaupten oder das Leugnen positiver rechtlicher Normen verstanden wird, weil nur in diesem Sinn das Recht eine, nicht erst durch das Urteil zu findende, mithin nicht durch die Vorstellung des Urteilenden bedingte, Tatsache ist". 66

Goltdammers Ausruhrungen waren außerordentlich folgenreich. Sie prägten die gesamte weitere Diskussion. So erklärte etwa Oppenhoffin seiner einflußreichen Kommentierung des preußischen Strafgesetzbuches, "Tatsache" sei "nur dasjenige, was zur Existenz gekommen und als solches erkennbar geworden ist (Factum); demgemäß ist eine falsche Tatsache vorgebracht, wenn wahrheitswidrig der Glaube erregt ist, es sei irgend etwas zur Existenz gekommen u.s.w. Gleichgültig ist es hierbei, ob die Tatsache der Vergangenheit angehören oder zur Zeit noch bestehen soll".67 Auch die preußische Rechtsprechung hielt im wesentlichen die von Goltdammer vorgegebene Linie ein und subsumierte künftige Ereignisse sowie innere Zustände des Täuschenden nicht unter den Tatsachenbegriff des Betrugstatbestandes.68 64

Goltdammer, Materialien, Band 2, 542.

65

Dazu näher Kapitel4 I.

66

Ibid.

67 Oppenho.IJ, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten,§ 241 Anm. 37 (406). Ebenso Hälschner, Das Preußische Strafrecht, 2. Teil, 361 Note 3.

68 Vgl. GA 1 (1853), 579; 5 (1857), 567; 13 (1865), 804; 15 (1867), 707; 18 (1870), 355. Anders bei der Täuschung über die inneren Zustände Dritter, vgl. etwa die Entscheidungen des Preußischen Obertribunals vom 24.5.1871 (Vorspiegelung einer bestimmten Absicht Dritter), wiedergegeben bei Oppenho.IJ, Rechtsprechung des Obertribunals, Band 12, 284; ebenso die Entscheidung vom 23.10.1873 (Oppenho.IJ, Rechtsprechung des Obertribunals, Band 14, 659). In der letztgenannten Entscheidung, die nach dem Rechtsprechungswechsel des Reichsgerichts (dazu unten Kapitel 5 I I) erging, werden auch innere

Kap. 2: Das Erfordernis einer "Täuschung über Tatsachen"

35

Es finden sich jedoch auch Entscheidungen, die sich in einem abweichenden Sinn deuten lassen. So weist Haager69 auf einen vom Preußischen Obertribunal im Jahr 1864 entschiedenen Fall hin70, bei dem die Täuschungshandlung in der Behauptung bestand, das Vieh eines Landwirts sei verhext, aber nach Zahlung eines ansehnlichen Geldbetrages könne der Fluch durch Vomahme bestimmter Rituale wieder aufgehoben werden. Haager ist der Ansicht, die Vorspiegelung, das Vieh werde von dem Hexenfluch befreit werden, betreffe etwas Zukünftiges. 71 Dagegen ist aber einzuwenden, daß die Eignung der in Aussicht gestellten Rituale, den Fluch aufzuheben, durchaus als gegenwärtige Eigenschaft gedeutet werden kann. 72 Die divergierenden Interpretationsmöglichkeiten zeigen deutlich die Ambivalenz und Unbestimmtheit, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts den strafrechtlichen Tatsachenbegriffbelasteten. Vor allem in der Rechtsprechung zu den "inneren Tatsachen" wichen einige Länder vom preußischen Vorbild ab. 73 Cum grano salis läßt sich von einer gefestigten Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals zum Tatsachenbegriff i.S.v. § 263 StGB reden. Tatsachen sind danach bestimmte, gegenwärtige oder vergangene Zustände oder Ereignisse. Zukünftiges, aber auch eigene innerpsychische Zustände werden nicht unter den Tatsachenbegriff subsumiert. 74 Dasselbe gilt für allgemeine Anpreisungen und Zustände des Täuschenden als möglicher Gegenstand einer Tatsachenaussage zugelassen. Zusammenfassend RG Rspr. 5, 542. Problematisch deshalb Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 87, der bemerkt, das preußische Obertribunal habe Absichten generell nicht als "Tatsachen" betrachtet. 69 70

71

GS 27 (1875), 568. Abgedruckt in GA 13 (1865), 224-226. GS 27 ( 1885), 568.

Das Preußische Obertribunal will dagegen auf die "Tatsache" abstellen, daß "einerseits der Krankheitszustand in concreto als etwas Wirkliches, etwas Eingetretenes behauptet und von der anderen Seite diese Behauptung als der Wirklichkeit entsprechend, also als eine Tatsache aufgenommen wird" (GA 13 (1865), 226). Es ist freilich unerfindlich, wie diese Tatsachenaussage allein für den nachfolgenden Irrtum und die Vermögensverfügung hätte kausal werden können. Der Ansatz des Obertribunals erscheint mir deshalb nicht überzeugend. 73 In der württembergischen und badischen Rechtsprechung wurde das Verschweigen der eigenen Leistungsunwilligkeil bei Vertragsabschluß als Betrug gewertet, vgl. etwa die Entscheidung des württembergischen Obertribunals vom 12.11.1873, abgedruckt in der Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft, N.F. Band 3 ( 1874), 215 f. Wiederum anders die bayerische Rechtsprechung, vgl. etwa die Entscheidung des bayerischen Cassations-Hofes vom 28.2.1873, in: Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft, N.F. Band 2 (1873), 292: Die Vorspiegelung der Absicht, als Knecht in Dienst zu treten, ist keine Täuschungshandlung i.S.v. § 263 RStGB. 74 Dazu Meyer, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, § 263 Anm. 7, der von einer "konstanten Praxis" spricht. Umfangreiche Rechtsprechungsnachweise bei Hahn, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, 183 - 185. 72

3•

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Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Werturteile. Detaillierte Untersuchungen zu dieser Terminologie fehlen aber in der zeitgenössischen Strafrechtsdogmatik V. Zusammenfassung

Mit der Industriellen Revolution beginnt die Diskussion um die Schaffung eines allgemeinen Betrugstatbestandes. Dem Tüchtigen soll freie Bahn gewährt werden - aber wo schlägt geschäftliche Tüchtigkeit in kriminelles Täuschungsverhalten um? Die Abgrenzungsbemühungen konzentrierten sich schließlich auf den Begriff "Tatsache". Wie insbesondere die maßgebende Interpretation Goltdammers bei den Beratungen zum preußischen Strafgesetzbuch von 1851 zeigt, las man in den TatsachenbegriffEinschränkungen hinein, die schon dem damaligen Sprachgebrauch nicht mehr entsprachen. Auf diese Weise wurden die bis heute andauernden Interpretationsschwierigkeiten angelegt. Um dies zu verdeutlichen, soll im vierten Kapitel näher auf die Herkunft und Verwendungsweise des Tatsachenbegriffs eingegangen werden. Zuvor seien aber noch einige Hinweise zum Aufkommen des Tatsachenbegriffs im Beleidigungsrecht erlaubt.

Kapitel 3: Die Herausbildung des Merkmals "Tatsache" im Tatbestand der Verleumdung Eine wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werdende, umfassende Dogmengeschichte der Straftaten gegen die Ehre steht noch aus. 1 Im folgenden geht es nur darum, der Herausbildung der Differenzierung zwischen ehrverletzenden Tatsachenaussagen und sonstigen (beleidigenden) Äußerungen nachzuspüren. Bei den Ehrdelikten scheint diese Unterscheidung ebenso wie im Betrugsstrafrecht erst relativ spät explizit erfolgt zu sein, wenngleich sie der Sache nach schon im gemeinen Recht bekannt war. I. Die Entwicklung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Die iniuria des römischen Rechts umfaßte zunächst nur die körperliche Verletzung2. Später wurde sie aufjede beabsichtigte Verletzung einer anderen Person ausgedehnt. 3 Die iniuria konnte durch Äußerungen ("verbis"), aber auch durch sonstiges Verhalten ("factis") begangen werden. Der Anwendungsbereich der iniuria war so weit, daß das Delikt von zahlreichen Interpreten nicht als Angriff auf die Ehre,4 sondern allgemeiner als Verletzung anerkannter Persönlichkeitsrechte verstanden wird. 5 Der germanische Begriff der Ehrverletzung scheint demgegenüber sehr viel enger gewesen zu sein.6 1 Vgl. aber immerhin Barte/s, Die Dogmatik der Ehrverletzung, 1959. Vgl. ferner die - trotz einiger Zugeständnisse an den Nationalsozialismus noch verwertbare- Arbeit von Rannacher, Der Ehrenschutz in der Geschichte des deutschen Strafrechts, 1938. Fallmaterial findet sich bei Fuchs, ZNR 1995, 1 -29. Speziell zur Geschichte der Verleumdung von Lilienthal, in: Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts. Besonderer Teil, Band IV, 375- 385.

2 So von Li/ientha/, in: Vergleichende Darstellung, Besonderer Teil, Band 4, 376; Mommsen, Römisches Strafrecht, 784 ff(dort auch zur Abspaltung des darnnum iniuria). 3 Bartels, Dogmatik der Ehrverletzung, 2 f; Mommsen, Römisches Strafrecht, 785. 4 So aber Hälschner, Das Preußische Strafrecht, 3. Teil, 201; Köst/in, Abhandlungen aus dem Strafrechte, 8; ähnlich auch Welze/, ZStW 57 (1938), 29 f.

5 So etwa Mommsen, Römisches Strafrecht, 785 ff; Kaser, Das römische Privatrecht, 624. Umfassende Nachweise zu älteren Interpretationsvorschlägen bei Mainzer, Die aestimatorische Injurienklage, 14 ffund Thie/, lnjuria und Beleidigung, 22- 87. 6 Ausführlich Barte/s, Dogmatik der Ehrverletzung, 6- 8 mwN.

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

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In der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 wurde nur die Schmähschrift erwähnt (Art. 110).7 In der Reichskammergerichtsordnung und den Reichspolizeiordnungen finden sich ebenfalls einzelne Vorschriften über den Ehrenschutz, die jedoch in der Praxis weitgehend folgenlos blieben. 8 Unter dem Eindruck der aufkommenden Naturrechtslehren bemühte man sich ab dem 16. Jahrhundert um eine systematische Erfassung der Iniurienlehren.9 Dabei läßt sich folgendes Grundschema ausmachen: 10 Zunächst wurden die verschiedenen Formen der iniuria kasuistisch dargelegt, wobei insbesondere Realiniurien und Verbaliniurien unterschieden wurden. Anschließend wurde der animus iniuriandi behandelt. Besondere Umstände wie die Interessenwahrung und das Handeln im Scherz sollten den animus iniuriandi ausschließen. Auch Fragen des Wahrheitsbeweises wurden eingehend erörtert sowie die prozessualen Probleme der Iniurienahndung geprüft. Den Abschluß bildeten meist Darlegungen zum crimen libellus famosus, also der schriftlichen Schmähung. 11 Schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts finden sich Stimmen, die der Sache nach eine Trennung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen verlangen. So erklärte etwa Samuel Stryk, 12 die bloße Behauptung, jemand leide unter einem körperlichen Gebrechen, sei noch nicht strafbar; eine Injurie liege erst dann vor, wenn die Behauptung der Gebrechen erfolge, um den anderen zu beschimpfen (und somit die Tatsachenbehauptung mit einer Abwertung verbunden wird). Diese Differenzierung wurde in der Folgezeit besonders durch den Rostocker Gelehrten Adolph Dietrich Weber betont und ausgebaut, dessen maßgebende Monograpie "Über Injurien und Schmähschriften" im Jahr 1793 erschien. 13 Weber betont, daß sich "die Idee einer Injurie[ ...] eigentlich nur rechtfertigen läßt, wenn überhaupt nicht sowohl von unrichtigen Nachreden und Vorwürfen bestimmter Tatsachen 1\ als vielmehr von Urteilen und Meinungen über geschehene Dinge und einmal vorhandene Gegenstände die Rede ist." 15

7

8

Dazu Barte/s, Dogmatik der Ehrverletzung, 45 f. Barte/s, Dogmatik der Ehrverletzung, 9, 28.

9 Bartels, Dogmatik der Ehrverletzung, 14 ff und allgemein Schaffstein, Die europäische Strafrechtswissenschaft im Zeitalter des Humanismus, 17 - 21.

10

Bartels, Dogmatik der Ehrverletzung, 15.

11

Zum crimen libellus famosus Mommsen, Römisches Strafrecht, 794 f.

12 Stryk, Tractatus de Jure Sensuum, diss. 2 cap. 5 nr. 4 - 7 (hier benutzt die Ausgabe Frankfurt 1701).

13 Weber, Über Injurien und Schmähschriften, 123 und passim. Zur Bedeutung Webers vgl. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abt., 1. Halbband, 448 - 451; Rannacher, Der Ehrenschutz in der Geschichte des deutschen Strafrechts, 70 f. 14 Kursiv nicht i.O. 15

Injurien und Schmähschriften, 124.

Kap. 3: Die Herausbildung des Tatbestandsmerkmals "Tatsache"

39

Das "crimen libelli famosi'', also die schriftliche Schmähung, war als besonderer Tatbestand der Ehrverletzung ausgestaltet. Die Schmähschrift mußte den Vorwurf einer ihrer Art nach bestimmten Straftat enthalten. Diese Straftat mußte so schwer wiegen, daß sie als Rechtsfolge eine Leibes- oder die Todesstrafe nach sich zog. Es handelte sich also letztlich um eine Fallgruppe, die heute als üble Nachrede oder Verleumdung zu pönalisieren wäre. Allerdings stand nicht das Aufstellen einer ehrverletzenden Tatsachenbehauptung als solches unter Strafe, sondern nur die Behauptung einer ganz besonderen Tatsache, eben die Verübung eines bestimmten Verbrechens. Ob die Schmähschrift anonym verfaßt worden sein mußte, war umstritten. Für das crimen libelli famosi galt das Talionsprinzip: Dem Täter sollte diejenige Strafe auferlegt werden, die der Beschuldigte wegen des nachgesagten Verbrechens hätte erdulden müssen. 16 Im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 wurde die gemeinrechtliche Lehre von der Injurie nahezu ohne Abstriche rezipiert und die "Beleidigung der Ehre" sehr ausführlich behandelt (Teil II, Titel 20 §§ 538- 666). 17 § 538 enthält den allgemeinen Grundsatz, wonach eine Injurie dann anzunehmen ist, wennjemand einen anderen durch Gebärden, Worte oder andere Handlungen beschimpft. Eine Differenzierung zwischen Tatsachenaussagen und sonstigen beleidigenden Handlungen findet sich nicht. 18

II. Die Herausbildung der Unterscheidung zwischen Beleidigung und Verleumdung Die Unterscheidung zwischen Beleidigung und Verleumdung19 scheint explizit erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts durchgeführt worden zu sein. Sie taucht in der Gesetzgebung zum ersten Mal in der Constitutio Criminalis Theresiana von 1768 auf, wo die Verleumdung durch unwahre Behauptungen als besonders schwerer Fall der Injurie behandelt wird (Art. 100). Im Josephinischen Gesetzbuch von 1787 wird die Verleumdung als wichtigste Form der Injurie geregelt (1, §§ 127 ff). Eingehendere rechtsdogmatische Erörterungen zur Unterscheidung von Verleumdungen und sonstigen Ehrenkränkungen finden sich aber erst um die Jahr16 Einzelheiten und ausführliche Quellennachweise bei Barte/s, Dogmatik der Ehrverletzung, 45 f. 17 Zu den geistesgeschichtlichen Motiven dieses Gesetzgebungsstils Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 322- 335 und speziell für die Ehrverletzung Rannacher, Der Ehrenschutz in der Geschichte des deutschen Strafrechts, 61 .

18 Ausführlich zum Ehrenschutz im Preußischen Allgemeinen Landrecht Rannacher, Der Ehrenschutz in der Geschichte des deutschen Strafrechts, 60 - 68. 19 Verleumdung und üble Nachrede wurden im zeitgenössischen Schrifttum noch nicht getrennt.

40

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

hundertwende, und zwar nahezu gleichzeitig in den Werken von Almendingens/0 Feuerbachi 1 und Grolmani2• In den rechtsdogmatischen Begründungsversuchen dieser Autorengruppe23 wird, ausgehend von der Unterscheidung zwischen "Ehre" und "gutem Namen"/4 auch das Wort "Tatsache" bzw. "Tatsachenbehauptung" verwendet, um die besondere Form von Verletzungen des "guten Namens" zu charakterisieren. Auch bei Kleinschrod taucht der Begriff zur näheren Bestimmung des Tatbestands der Verleumdung auf. 25 Bemerkenswert dabei ist, daß das Wort "Tatsache" nicht als Neuerung vorgestellt, sondern quasi en passanteingeführt wird, um die ältere Unterscheidung zwischen der Verleumdung und sonstigen Injurien näher zu bestimmen. So definiert Grolman die Injurie als eine "erklärte Nichtanerkennung" menschlicher Ehrenrechte. 26 Die Verleumdung dagegen bestimmt er als falsche Tatsachenbehauptung: "Verleumdungen entstehen durch jede Darstellung falscher Tatsachen, welche irgend jemand, sei es aufwelche Art es wolle, viel oder wenig zum Nachteil gereichen". 27 Die falsche Tatsachenbehauptung, so Grolman weiter, könne "sowohl in wörtlichen Erzählungen von Unwahrheiten bestehen, als auch in anderen Handlungen, aus welchen der Schluß, daß etwas, was doch nicht ist, wirklich sei, mit Notwendigkeit gezogen, oder doch, daß etwas gewisses, was in der Tat nicht geschehen ist, dieser Handlung vorausgegangen sei, angenommen

20 Von Almendingen, Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und der Gesetzgebung. Band 1, 1 - 69; 133- 240; Band 2, I - 168. Vgl. dazu auch die Besprechung vonKlein im Archiv des Criminalrechts, Band 3 (1801), Zweites Stück, 102- 119. 21

Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts,§§ 284-291.

22

Grolman, Magazin für die Philosophie des Rechts und der Gesetzgebung, Band I, 1

-55.

23 Zum "Dreierbündnis" zwischen von Almendingen, Feuerbach und Gro/man vgl. Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach, 44 - 50. 24 Diese Unterscheidung wird später wieder aufgegeben, dazu Hälschner, Preußisches Strafrecht, 2. Teil, 270 mwN in Fn. 1. 25 K/einschrod, Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalzbaierischen Staaten, § 1293: .,Die Injurie ist Verleumdung, wenn jemand durch Erdichtung falscher Tatsachen vorsätzlich den guten Namen eines anderen verletzt." 26 Grolman, Über Ehre und guten Namen, 33. Grolman unterscheidet dort weiter zwischen Realinjurien und symbolischen Injurien: Erstere werden .,ganz allein geäußert", letztere sind in jeder sonstigen Rechtsverletzung implizit enthalten. Diese Begriffsbestimmung hat zur Folge, daß für Grolman .,alle übrigen Verbrechen, sie mögen einen Namen haben, welchen sie wollen, mit zu den Real-Injurien gerechnet werden können" (ibid).

27 Über Ehre und guten Namen, 46. Vgl. auch a.a.O., 14, wo Grolman die Ehre auf die Würde des Menschen gründet und seine Ausführungen mit dem Satz zusammenfaßt .,Wir haben bis jetzt nur eine Tatsache zum Grunde gelegt" . .,Tatsache" wird hier also mit der Konnotation von etwas besonders Sicherem, Unbezweifelbarem verwendet. Dazu näher unten Kapitel 4 I.

Kap. 3: Die Herausbildung des Tatbestandsmerkmals "Tatsache"

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werden muß". 28 Auch von Almendingen sieht die Verleumdung durch das Behaupten falscher Tatsachen gekennzeichnet. 29 Gelegentlich spricht er statt von Tatsachen auch von "Tathandlungen".30 Eine Auseinandersetzung mit dem Tatsachenbegriff findet sich bei ihm allerdings ebensowenig wie bei Grolman. Für die weitere Entwicklung sehr viel folgenreicher war die Art und Weise, wie Feuerbach den Begriff "Tatsache" verwendete. In § 284 des Lehrbuchs zum peinlichen Recht heißt es: "Die Verleumdung wird begangen, wenn jemand einem Anderen von einem Dritten solche Handlungen oder Tatsachen fälschlich mitteilt, welche diesen in der Meinung des überzeugten Publikums der Ehre unwürdig machen". Nach§ 285 sind "nur behauptete Tatsachen, nicht schimpfliche Urteile" Inhalt der Verleumdung. Mittermaieyl' fuhrt dazu kommentierend aus, das Wesen der Verleumdung liege "in der Nachrede von Tatsachen, welche, wenn sie wahr wären, den Geschmähten der öffentlichen Verachtung Preis geben oder einer begangenen strafbaren Handlung beschuldigen würden". Die Verleumdung sei "in der Regel wegen ihres nachteiligen Einflusses auf das Wohl des Geschmähten und wegen der großen Nachteile, die sie haben kann, weit strafbarer [... ] als eine einfache Injurie." Hier findet die Vorstellung, daß eine Ehrenkränkung mittels falscher Tatsachenaussagen gefahrlieber ist als sonstige Ehrverletzungen, einen besonders deutlichen Ausdruck. 32 Die durch Grolman, von Almendingen und Feuerbach eingeleitete Entwicklung setzte sich in den Partikularstrafgesetzbüchern fort. 33 Besonders wichtig ist auch hier das bayerische Strafgesetzbuch von 1813 geworden. Ausfuhrlieh wird darin die Verleumdung geregelt (2. Buch, Art. 284 ff, 3. Buch, Art. 393 f), während sonstige Injurien nicht berücksichtigt werden. Allerdings ist noch nicht von ehrenkränkenden Tatsachenbehauptungen/4 sondern vom ,,Andichten eines Handelns" die Rede(§ 284). 35

Über Ehre und guten Namen, 46. Von Almendingen, Grundzüge zu einer neuen Theorie über Verletzungen des guten Namens und der Ehre, 8, 24, 33 und passim. 28

29

So z.B. a.a.O., 4: "falsche und unterschobene Tathandlungen". Anmerkung II zu Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., § 284. 32 Vgl. ders., Erörterungen der wichtigsten Lehren des Kriminal-Rechts, 264; ders., Neues Archiv des Criminalrechts, Band 14 (1834), 89 ff. 33 Dazu ausfUhrlieh Rannacher, Der Ehrenschutz in der Geschichte des deutschen Strafrechts, 96 ff(Bayem), 102 ff(Sachsen), 140 ff(übrige deutsche Staaten). 30

31

34 Vgl. aber auch die Anmerkungen zum Strafgesetzbuch fiir das Königreich Bayern, Band 2, 306, wo von "ungünstige[n] Urteile[n] [... ]aus wahrenunentstellten Tatsachen" die Rede ist. 35 Zum Einfluß des Code penal Rannacher, Der Ehrenschutz in der Geschichte des deutschen Strafrechts, 95, 99 und passim.

42

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

111. Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 Das preußische Strafgesetzbuch von 1851 regelte die Beleidigung in § 152, die Verleumdung in § 156: "Wer in Beziehung auf einen Anderen unwahre Tatsachen behauptet oder verbreitet, welche denselben in der öffentlichen Meinung dem Hasse oder der Verachtung aussetzen, macht sich der Verleumdung schuldig". Nach überwiegender Ansicht sollten innere Tatsachen hier, anders als beim Betrug, nicht ausgeschlossen sein. 36 Auch Folgerungen aus Tatsachen bzw. Tatsachenbehauptungen fielen nach der Rechtsprechung des Obertribunals unter § 156 des preußischen Strafgesetzbuches.37 Dagegen sollte Unmögliches, etwa die Beschuldigung der Hexerei, nicht Gegenstand einer verleumderischen Tatsachenbehauptung sein können, wobei sich das Obertribunal u.a. darauf berief, daß "unmögliche Handlungen den Beweis der Wahrheit nicht gestatten und durch den Aberglauben nicht zu Tatsachen werden, welche Haß und Verachtung erregen können". 38 Im selben Sinn wurde der Tatsachenbegriff in den§§ 186, 187 StGB des Norddeutschen Bundes ausgelege9 und gelangte so in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871. IV. Zusammenfassung Der Begriff "Tatsache" taucht auch im Beleidigungsrecht erstmals an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf, und zwar zunächst in Webers einflußreichem Werk über Injurien und Schmähschriften. Auch von Almendingen, Feuerbach und Gro/man verwendeten den Tatsachenbegriff. In der Folge fand er rasch in die Partikularstrafgesetzgebung des 19. Jahrhunderts Eingang. Einflußreich wurde vor allem das preußische Strafgesetzbuch von 1851, in dem der heutige Verleumdungstatbestand bereits deutlich vorgebildet ist. Anders als beim Betrugstatbestand wurde für die Verleumdung auch die Behauptung "innerer Tatsachen" zugelassen.

36 So z.B. das Preußische Obertribunal am 19.11.1851 (Behauptung einer "dolosen Absicht") und am 2.7.1852 (Handlungsmotive), beide Entscheidungen nachgewiesen in GA Band 1 (1853), 571. Vgl. auch Oppenhoff, Das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten,§ 156 Anm. 4 mwN. 37 GA 10 (1862), 139. Es handelt sich bei diesem Fall allerdings eherum eine Verallgemeinerung bestimmter Tatsachenannahmen als um eine (logische) Folgerung. 38 Urteil vom 3.3.1854, abgedruckt bei Striethorst, Archiv fiir Rechtsfälle Band 12 (1854), 205-207 (207). 39 Hahn, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, 114; Meyer, Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund, 151.

Kapitel4: Exkurs: "Tatsachen" und "Urteile", "Sein" und "Sollen" Einige Anmerkungen zu den geistesgeschichtlichen Hintergründen der Unterscheidung von Tatsachenaussagen und Werturteilen I. "Über das Wörtlein ,Tatsache'"

Nur wenige Ausdrücke der deutschen Sprache werden so oft und so gerne verwendet wie das Wort "Tatsache". Tatsachen sind sicher; wer sich auf "Tatsachen" bezieht, will damit sagen, daß er mehr und Besseres zu bieten hat als bloße Meinungen oder Glaubenssätze. Der Begriff ist relativ neu. Noch Lessing äußerte sich wenig schmeichelhaft "Über das Wörtlein Tatsache": "Mit Recht sage ich: Wörtlein; denn es ist noch so jung. Ich weiß mich der Zeit ganz wohl zu erinnern, da es noch in niemands Munde war. Aber aus wessen Munde oder Feder es zuerst gekommen, das weiß ich nicht. Noch weniger weiß ich, wie es gekommen sein mag, daß dieses neue Wörtlein ganz wider das gewöhnliche Schicksal neuer Wörter in kurzer Zeit ein so gewaltiges Glück gemacht hat; noch, wodurch es eine so allgemeine Aufnahme verdient hat, daß man in gewissen Schriften kein Blatt umschlagen kann, ohne auf eine Tatsache zu stoßen. Man fand in lateinischen und französischen Büchern bei wackeren Männern, die an der Grundfeste des Christentums flicken, daß es ganz unwandelbar gegründet sei, weil es auf Facta, sur des Faits, beruhe, die kein Mensch in Zweifel ziehen könne. Nun heißen Facta und des Faits weiter nichts, als geschehene Dinge, Begebenheiten, Taten, Ereignisse, Vorfalle, deren historische Gewißheit so groß ist, als historische Gewißheit nur sein kann." 1 Die zitierte Passage stammt aus dem sprachlich-literarischen Nachlaß Lessings und ist undatiert, doch wird angenommen/ daß sie in der späten Wolfenbüttler Zeit des Dichters verfaßt wurde, also zwischen 1775 und 1780. Lessing spricht hier davon, daß er selbst noch die Zeit erlebt habe, als das Wort "Tatsache" im Deutschen unbekannt war. Der Ausdruck scheint zum ersten Mal in einer Übersetzung von Josef Butlers Werk "The Ana1ogy ofReligion Natural and Revea1ed to the Constitution and Course ofNature" (London 1736) verwendet worden zu sein, die der Berliner Prediger Johann Jakob Spalding im Jahr 1756 vorlegte. 3 Mit "Tatsache" übersetzte Spalding den englischen Ausdruck Lessing, Über das Wörtlein Tatsache. In: Lessing, Werke, Band 14 (16. Teil), 451. Walz, Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, Band 14 (1912 I 13), 9. 3 Detaillierte Angaben bei Walz, Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, 9 - 13. Aus 1

2

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

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"matter of fact". Neben den Ausdruck "Tatsache" setzt Spalding häufig die Wörter "res facti", offenbar um seinen Lesern das neue Wort verständlich zu machen.4 "Tatsache" steht durchweg für etwas Gesichertes, besonders gut Begründetes, wird also in eben der Bedeutung verwendet, die sich auch in Lessings kurzer Charakterisierung findet. Nur wenige Jahre vor der Einführung des Wortes "Tatsache" heißt es in Zed/ers Universallexikon unter dem Stichwort "Faktum": "eine Tat, das geschehene Ding, oder eine Geschichte, das Werk, die Verrichtung, der Verlauf eines ergangenen Handels, die annoch (sie) währende, oder bevorstehende Handlung; also sagt man res facti, eine wirklich geschehene Tat; und obwohl Factum die Tat, und Gestum der Verlauf, und Actum eigentlich von einander unterschieden [... ], so werden sie doch abusive vor (sie) ein Ding genommen". 5 Diese überaus umständliche und wortreiche Terminologie macht deutlich, daß die Zeit in der Tat reifwar für die Einführung des neuen Ausdrucks "Tatsache".6 Es überrascht deshalb nicht, daß Spatdings Neuprägung bereitwillig rezipiert wurde. Wie Walz berichtet, war "Tatsache" schon gegen Ende der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts geradezu ein Modewort. 7 Doch stieß der Ausdruck auch auf Kritik, so etwa bei dem renommierten Sprachforscher Johann Christoph Adelung, der um die Jahrhundertwende in seinem "Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart" erklärte, es handele sich um "ein von einigen Neuerem versuchtes Wort, das lateinische Factum, eine geschehene Sache, eine gewirkte Veränderung außer sich zu bezeichnen. Das sind Tatsachen, sind wirklich geschehene Dinge, Begebenheiten [... ]. Andere brauchen dafür Tathandlung. Beide Wörter sind nicht nur unschicklich und wider die Analogie zusammengesetzt, sondern auch der Mißdeutung unterworfen". 8 Walz weist daraufhin, daß die Neuprägung tatsächlich weit weniger präzise verwendet wurde als die englischen Ausdrücke "fact" oder "matter offact". 9

neuerer Zeit Staats, Zeitschrift für Theologie und Kirche 70 (1973), 316- 345. Für eine noch frühere Verwendung (Mitte des 15. Jahrhunderts) Stammler, Spätlese des Mittelalters, 73 ("tatt sach"). Der Ausdruck scheint danach wieder in Vergessenheit geraten zu sein; vgl. das Etymologische Wörterbuch des Deutschen, Band 2, 1415. 4

So auch Walz, Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, 11.

Großes Vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Band 9, Sp. 65 f. In Samuel Oberländers "Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum" ( 1726) heißt es dagegen unter dem Stichwort "factum" bloß: "ein Geschieht, oder That" (297). 5

6

Vgl. auch Eucken, Geschichte der philosophischen Terminologie, 137 mit Fn. 2.

7

Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, 14 mwN.

8 Adelung, Grammatikalisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Teil 4, Sp. 567. 9

Zeitschrift für Deutsche Wortforschung, 16.

Kap. 4: Exkurs: "Tatsachen" und "Urteile", "Sein" und "Sollen"

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Dochtrotz Adelungs Warnung setzte sich der Begriff "Tatsache" rasch durch. In vorliegendem Zusammenhang besonders wichtig ist seine Verwendung bei Kant. In § 91 der ( 1790 publizierten) Kritik der Urteilskraft findet sich folgende Definition: "Gegenstände für Begriffe, deren objektive Realität (es sei durch reine Vernunft oder durch Erfahrung, und im ersteren Falle aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen korrespondierenden Anschauung) bewiesen werden kann, sind (res facti) Tatsachen". 10 Kant merkt dazu an, durch seine Begriffsbestimmung werde der Alltagssprachgebrauch bewußt erweitert, denn es sei "nicht nötig, ja nicht einmal tunlich, diesen Ausdruck bloß auf die wirkliche Erfahrung einzuschränken"; vielmehr müsse "eine bloß mögliche Erfahrung" genügen. 11 Kants sehr weiter Tatsachenbegriff zeigt sich auch an den von ihm genannten Beispielen. So sollen etwa "die mathematischen Eigenschaften der Größen" und sogar die "Idee der Freiheit" Tatsachen sein. 12 Insbesondere im Jetztgenannten Beispiel klingt deutlich das schon bei Spalding erkennbare Bestreben an, das Wort "Tatsache" für den Gegenstand solcher Aussagen zu verwenden, die als besonders sicher und unbezweifelbar vorgestellt werden sollen. Damit kann grundsätzlich jede Beschreibung der wirklichen oder einer möglichen Welt bzw. eines Weltausschnitts, die als besonders sicher angesehen wird, als "Tatsachenaussage" gelten. Es ist nicht einmal erforderlich, daß die Aussage empirisch prüfbar ist, denn Kant läßt ausdrücklich auch einen Beweis durch "reine Vernunft" zu. Kants eigentümlicher Tatsachenbegriff gelangte durch die Vermittlung Feuerbachs in die Jurisprudenz. Bereits in der ersten Auflage seines Lehrbuchs ( 1801) taucht der Begriff "Tatsache" in dem Kapitel "Von den richterlichen Erkenntnisgründen" auf. In § 571 schreibt er: "Die richterlichen Handlungen hängen von Tatsachen ab, aber diese Tatsachen sind für den Richter nur in so ferne vorhanden, als er sie erkennt." Noch deutlicher wird der Einfluß Kants in § 572, wo es heißt: "Es Jassen sich in unserem Erkenntnisvermögen in Ansehung der Objekte der Erfahrung drei Bestimmungen unterscheiden. I. Die Unwissenheit, Unkenntnis (ignorantia), wenn uns für das Dasein einer Tatsache gar keine Gründe gegeben sind. II. die Ungewißheit, wenn uns die Gründe für ihr wirkliches Dasein nicht vollständig gegeben sind. 111. Die Gewißheit, wenn uns alle Gründe gegeben sind, welche in unserer. Vorstellung die Wirklichkeit und Wahrheit der Tatsache bestimmen." 10 Zitiert nach der Theorie-Werkausgabe, Band 10, 599 (Sperrung i.O.). Vgl. auch die Kritik der reinen Vernunft ( 1781 ), Transzendentale Analytik. Zweites Hauptstück, § 13, hier zitiert nach der Theorie-Werkausgabe, Band 3, 125 mit der bekannten Unterscheidung von Fragen nach dem, was "Rechtens" ist ("quid iuris") und dem, was eine "Tatsache" angeht ("quid facti"). 11 lbid., Anmerkung.

12

lbid.

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Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Feuerbach geht hier offenbar als erkenntnistheoretischer Realist von einer vom menschlichen Dafiirhalten unabhängigen Außenwelt aus ("Objekte der Erfahrung"}, die er dem menschlichen "Erkenntnisvermögen" gegenüberstellt. In der Trennung von Erkenntnis und "Objekten der Erfahrung" ist die Dichotomie Sprache I Welt deutlich angelegt. Tatsachen sind fiir Feuerbach Ausschnitte aus der realen Welt. Als solche sind sie "Objekte der Erfahrung". Feuerbach spricht weiter davon, daß "die Wirklichkeit und Wahrheit" der erkannten Tatsachen durch "Gründe[ ... ] in unserer Vorstellung" bestimmt werde. Kants Lehre von den Kategorien und der Unerkennbarkeit des "Dings an sich" klingt hier unmißverständlich an.

Zur näheren Bestimmung von Verleumdung und Betrug verwendete Feuerbach das Wort "Tatsache" zuerst in der 4. Auflage seines Lehrbuchs aus dem Jahr 1808. In § 285 heißt es, "nur behauptete Tatsachen, nicht schimpfliche Urteile" seien Inhalt der Verleumdung. Die Fälschung (Betrug) wird in § 410 definiert als eine "beabsichtigte rechtswidrige Täuschung Anderer durch Mitteilung falscher oder Vorenthaltung wahrer Tatsachen". In der ersten Auflage hatte Feuerbach zur Charakterisierung des Betrugs statt "Tatsache" noch den Ausdruck "mögliches Objekt der Erkenntnis" verwendet(§ 446); die Verleumdung war durch die "Andichtung von rechtswidrigen Handlungen" definiert worden ( § 318). Diese Entgegensetzung von "behaupteten Tatsachen" und "schimpflichen Urteilen" scheint die Hauptquelle fiir die spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts Allgemeingut der Strafrechtsdogmatik gewordene Differenzierung zwischen Tatsachen bzw. Tatsachenaussagen einerseits und Werturteilen andererseits gewesen zu sein. Nach heutigem Verständnis sind "Tatsachen" allerdings Bestandteile der realen Außenwelt, während "Urteile" rein sprachlicher Natur sind. Insofern ist die Gegenüberstellung also mißverständlich. Für Feuerbachs Terminologie läßt sich freilich ins Feld fiihren, daß der Gebrauch des Wortes "Tatsache" damals noch sehr schwankend war. 13 Schon in der Spatdingsehen Übersetzung wird das Wort übrigens in einer Weise verwendet, die dem klaren englischen Text häufig nicht gerecht wird} 4 Festzuhalten ist jedenfalls, daß Feuerbach den 13 Ein schönes Beispiel hierfür ist die Verwendung des Begriffes "Tatsache" an einer Stelle der deutschen Übersetzung von Beccarias "Verbrechen und Strafen", in: Bergk, Des Marchese Beccaria's Abhandlung über Verbrechen und Strafen. Vonneuemaus dem Italienischem übersetzt, Erster Teil, 1798, 71 wird "Tatsache" i.S.v. "Gewalttat" verwendet. Dagegen heißt es an der gleichen Stelle der 1766 erschienenen Ausgabe von "Verbrechen und Strafen" (11) "Tathandlung", in der Ausgabe von 1767, 11 "Handlung" und in der Ausgabe 1788, Band I, 12 "Tat". In einerneueren Übersetzung (1966) heißt es bemerkenswerterweise wieder "Tatsache" (60). Dort ( 183 ft) findet sich auch eine Übersicht über die verschiedenen Ausgaben von Beccarias Schrift. Im Italienischen lautet die übersetzte Passage: "L 'aggregato di queste minime porzioni possibili forma il diritto di punire; tutto il di piu eabuso, e non giustizia; e Fatto, non güi Diritto." (Dei delitti e delle pene. Edizione novissima, 8). 14 So auch Walz, Zeitschrift für deutsche Wortforschung, 16. A.a.O., 14 weitere Bei-

Kap. 4: Exkurs: "Tatsachen" und "Urteile", "Sein" und "Sollen"

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Ausdruck "Tatsache" gebrauchte, um eine Täuschung über etwas in besonderem Maße Sicheres, kaum Bezweifelbares zu bezeichnen. Dagegen spricht man heute zumindest außerhalb der Jurisprudenz schon dann von einer "Tatsachenaussage", wenn es sich um eine Äußerung handelt, die grundsätzlich (empirisch) prüfbar ist. Die Behauptung einer "Tatsache" kann sich also nach heutigem Verständnis ohne weiteres auch auf etwas höchst Unsicheres beziehen- es handelt sich dann eben möglicherweise um eine falsche Tatsachenaussage. In gewisser Weise liegt hier der Ursprung fiir alle späteren Interpretations- und Abgrenzungsprobleme: Die Bedeutung des Ausdrucks "Tatsache" hat sich in einer Weise entwickelt, die Feuerbachs Intentionen bei der Verwendung des Ausdrucks zuwiderlief. Als die Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts (und vor allem der preußische Gesetzgeber des Jahres 1851) den Vorgaben Feuerbachs folgten, haben sie die allgemeine Sprachentwicklung zu sehr außer Acht gelassen und den Ausdruck "Tatsache" in einer Weise benutzt, der dem üblichen Verständnis schon damals nicht mehr entsprach. Das Auseinanderklaffen von juristischem und allgemeinem Sprachgebrauch ist zwar durchaus nicht selten und bei Zugrundelegung geeigneter Definitionen weitgehend unproblematisch. Bei dem Ausdruck "Tatsache" wurde aber versäumt, die Divergenz zwischen allgemeinem undjuristischem Sprachgebrauch hinreichend zu klären. Dadurch entstand eine terminologische Verwirrung, die bis heute andauert. II. Anmerkungen zur Begriffsgeschichte von "Urteil" Ähnlich problematisch ist die juristische Verwendung des Ausdrucks "Urteil". Das Wort meinte ursprünglich nur die gerichtliche Entscheidung. 15 Im philosophischen Kontext taucht der Ausdruck erstmals im 17. Jahrhundert auf, etwa bei Leibniz. 16 Von Leibniz übernahm ihn Christian Woljf. 17 Wo(ff definiert "Urteil" wie folgt: "Wenn wir uns gedenken, daß ein Ding etwas an sich habe, oder an sich haben könne, oder auch, daß von ihm etwas herrühren könne: ingleichen, daß es etwas nicht an sich habe, oder an sich haben könne, oder auch, daß von ihm etwas nicht herrühren könne; so urteilen wir von ihm. [... ] Kurz zu reden: wir urteilen, wenn wir uns gedenken, daß einer Sache etwas zukomme, oder nicht.

spiele für die schwankende Bedeutung des Wortes "Tatsache" in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. 15 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Band 11, III. Abteilung, Sp. 2571 mit umfassenden Nachweisen. Ausneuerer Zeit vgl. Schmidt-Weigand, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 35. Lieferung, Sp. 609- 611. 16 Eucken, Geschichte der philosophischen Termini, 130; vgl. auch Finster u.a., Leibniz Lexicon, 367. 17 Piur, Studien zur sprachlichen Würdigung Christian Wolffs, 63 f.

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Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

[... ] Wenn wir urteilen, verknüpfen wir zwei Begriffe miteinander oder trennen sie voneinander". 18 In der Folgezeit fand der Ausdruck "Urteil" in der philosophischen Fachsprache weite Verbreitung. 19 Besonders berühmt wurden die Urteilseinteilungen Kants. 20 Bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein war "Urteil" sogar ein Zentralbegriff der Logik. 21 Allgemein gebräuchlich waren auch Zusammensetzungen wie "Erkenntnisurteil", "Geschmacksurteil" oder "Tatsachenurteil".22 Der Terminus "Werturteil" wurde besonders durch Max Webers Stellungnahmen im "Werturteilsstreit" berühmt. 23 Unter "Werturteil" versteht Weber "praktische Wertungen sozialer Tatsachen als, unter ethischen oder unter Kulturgesichtspunkten (oder aus sonstigen Gründen) praktisch wünschenswert oder unerwünscht". 24 Seither gehört der Ausdruck "Werturteil" zum Standardvokabular der Rechtsund Sozialphilosophie. In der Jurisprudenz taucht der Begriff etwa bei Gustav Rümelin auf. 25 Der Ausdruck wird allerdings bereits um die Jahrhundertwende in ganz unterschiedlichem Sinn verstanden; überwiegend wurde "Werturteil" in der Bedeutung von "subjektive Bewertung" verwendet. 26 18 Ch. Wo/jf. Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauch in Erkenntnis der Wahrheit, 156 (Gesammelte Werke, 1. Abt., Deutsche Schriften, Band 1).

19 Nachweise in Grimms Wörterbuch der Deutschen Sprache, Band 11, III. Abt., Sp. 2584. 20 Vgl. etwa die Kritik der reinen Vernunft, Einleitung, IV: "Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urteile" (Theorie-Werkausgabe, Band 3, 52 - 55).

21 Vgl. nur die umfangreichen Angaben bei Eis/er, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Artikel "Urteil". In traditionell ausgerichteten Logiklehrbüchern wird der Begriff nach wie vor verwendet, so etwa bei Schneider, Logik für Juristen, 45-64. 22 Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 11, 3. Abt., Sp. 2584. Sehr eingehende Darlegungen zu den verschiedenen Urteilsformen finden sich bei Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, 140-282. 23 Vgl. Weber, Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 146- 214; ders.: Der Sinn der "Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, ebenda, 489-540.

24 Gutachten zur Werturteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik. In: Max Weber - Werk und Person, 113. Ausführlich zu Webers Position Keuth, Wissenschaft und Werturteil, 6-37.

Rüme/in, Werturteile und Willensentscheidungen im Civilrecht, 1891. Zahlreiche Nachweise zur zeitgenössischen Literatur und Rechtsprechung bei Friedrichs, Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht 56 ( 1924), 149 - 193. Vgl. ferner Croce, Logos 1 (1910), S. 71 - 82, der den Unterschied zwischen Werturteilen und "normalen" Tatsachenurteilen (Sachurteilen) bereits scharfherausarbeitet 25

26

Kap. 4: Exkurs: "Tatsachen" und "uneJie", "Sein" und "Sollen"

49

Schon dies macht deutlich, daß die in der Rechtswissenschaft so häufig anzutreffende Gleichsetzung von "Urteilen" mit "Werturteilen" auf einem Mißverständnis beruht. 27 Werturteile bilden nur eine bestimmte Art von Urteilen, die noch dazu keinesfalls typisch ist. Gerade die Verwendung des Urteilsbegriffs in der traditionellen Logik zeigt, daß das typische Urteil ein Erkenntnis- oder Tatsachenurteil (Sachurteil) darstellt. Dennoch kommt der Entgegensetzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen eine besondere Bedeutung zu. Es handelt sich nämlich um Äußerungsformen, die bereits aus prinzipiellen, logischen Gtiinden voneinander nicht abgeleitet werden können. In der Rechtsphilosophie spricht man insoweit gerne (etwas mystifizierend) von einem "Reich des Seins" und einem "Reich des Sollens", die streng voneinander getrennt werden müßten. 28 Die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Sätzen, zwischen Sein und Sollen, begann sich in der Rechtsphilosophie (Kant) und in ihrem Gefolge auch in der Rechtsdogmatik zu eben der Zeit durchzusetzen, als Adolph Dietrich Weber, Feuerbach und andere den Tatsachenbegriff in die Rechtswissenschaft einführten. Es ist hier nicht der Raum, dieses bemerkenswerte geistesgeschichtliche Phänomen näher zu untersuchen. Zumindest soll aber noch kurz die Herkunft und Bedeutung der Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Sätzen, zwischen "Sein" und "Sollen", skizziert werden.

111. Die Unterscheidung von "Sein" und "Sollen" Die Frage nach dem Verhältnis von "Sein" und "Sollen" ist eines der "großen" Probleme der Rechtswissenschaft, und wie die meisten "großen" Probleme zeichnet es sich dadurch aus, daß über seinen Inhalt wenig Einigkeit zu bestehen scheint. Dies gilt auch und gerade für die Strafrechtsdogmatik. Kein Geringerer als Franz von Liszt wies zu Beginn unseres Jahrhunderts dezidiert auf den engen Zusammenhang von "Sein" und "Sollen" hin und argumentierte, nur aus dem "Seienden" könne das "Seinsollende" abgeleitet werden. Dabei rekurrierte er ausdrücklich auf die Existenz bestimmter feststehender historischer Gesetzmäßigkeiten.29 Mezger schloß sich ihm an und warf den Vertretern der Trennungsthese vor, nach ihrer Ansicht könne es keine Wertmaßstäbe geben, "nach denen unabhängig von aller geschichtlichen Willkür des Menschen das ,richtige' Recht, das ,sein-sollende' Recht vom falschen und minderwertigen Recht zu scheiden wäre". 30

Dazu näher Kapitel 9 I mwN. 28 So etwa Radbruch, Rechtsphilosophie, 93. 27

29 30

ZStW 26 (1906), 556. Mezger, Sein und Sollen im Recht, 1.

4 Hilgendorf

50

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Heute ist der Glaube an historische Gesetzmäßigkeiten kaum noch verbreitet, und auch die Hoffung auf ein unmittelbar aus dem "Sein" ableitbares überpositives Recht hat sich als trügerisch erwiesen. Dies sind jedoch rechtsphilosophische Fragen, die mit dem Thema der vorliegenden Arbeit wenig zu tun haben. Nur ein Aspekt des Sein-Sollen-Problems ist hier von Bedeutung: Die Nichtableitbarkeit von Tatsachenaussagen und Werturteilen (und umgekehrt). Es geht hier also gewissermaßen nur um die logische Seite der Sein-Sollen-Diskussion; wertphilosophische oder gar ontologische Fragestellungen können ausgeblendet bleiben. Wer sich als Jurist mit dem Sein-Sollen-Problem auseinandersetzen will, kommt an Kant nicht vorbei. Die Kantische Philosophie hatte auf die Strafrechtswissenschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zumindest oberflächlich betrachtet eine erstaunlich große Wirkung. 31 Betont wurde jetzt vor allem die Trennung von Recht und Moral, die von den Naturrechtslehrern sträflich vernachlässigt worden war.32 Es ist zu vermuten, daß das Naturrechtsdenken auch deshalb so schnell an Ansehen verlor, weil die sich häufig widersprechenden Theorien zum Naturrecht für die Rechtspraxis weitgehend unbrauchbar waren. 33 Zu Recht hat allerdings Naucke darauf hingewiesen, daß das Bekenntnis zu Kant oft nur vorgeschoben war und zentrale Gedanken des Königsbergers, etwa der "kategorische Imperativ" oder die Idee einer zweckunabhängigen Strafe,34 weitgehend unberücksichtigt blieben.35 Zeitgenossen Kants haben sich teilweise sogar sehr skeptisch über den Einfluß des Königsherger Philosophen geäußert.36 31 Umfassend zur Diskussion um die Erneuerung der Rechtswissenschaft von 17801815 die gleichnamige Schrift von Stühler, 1978. Speziell zu Kant Naucke, in: Blühdom I Ritter, Philosophie und Rechtswissenschaft, 27-48. Vgl. auch Blühdom, Kantstudien 64 (1973), 363- 394; Brandt, in: Schönrichl Kato, Kant in der Diskussion der Modeme, 425 -463. 32 Dazu und zu den Folgen für die Rechtspraxis immer noch lesenswert Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892. Zu Bergbohm vgl. auch Hilgendorf, Argumentation in der Jurisprudenz, 60-65. 33 Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 227 ff. Natürlich trifft diese Kritik nur auf solche Formen des Naturrechts zu, die für sich in Anspruch nahmen, nicht bloß übergeordnete Rechtsprinzipien, sondern auch konkrete Einzelnormen "aus der Natur" erkennen zu können, also etwa auf Christian Wolff (zu ihm Haft I Hilgendorf, FS Arthur Kaufmann, 103 mit Fn. 76 f). Einen Überblick über die zahlreichen naturrechtliehen Ansätze gibt Zippelius, Rechtsphilosophie, § 12 (mit ausfuhrliehen Literaturangaben). 34 In der modernen Diskussion scheint Kants Position wieder an Gewicht zu gewinnen, vgl. etwa AK-Hassemer, vor§ l, Rz. 407-437. 35 In: Blühdom I Ritter, Philosophie und Rechtswissenschaft, 28, 36 f, 43 fund passim. 36 Loening, ZStW 3 (1883), bemerkt a.a.O., 279 Fn. 1, daß gerade fortschrittliche Kriminalisten die Kantische Rechtsphilosophie und insbesondere seine Straftheorie bekämpften, "weil sie mit ihrer Wiedervergeltung und Talion nur allzusehr in das bisherige mittelalterliche Strafrecht zurückzufUhren drohte". Sehr skeptisch ferner Mittermaier, Über die Grundfehler der Behandlung des Kriminalrechts in Lehre und Strafgesetzgebung

Kap. 4: Exkurs: "Tatsachen" und "Urteile", "Sein" und "Sollen"

51

Pauschalisierend läßt sich sagen, daß Kants Erkenntnistheorie, also die Abweisung des Rationalismus und damit auch der rationalistischen Naturrechtslehren, sehr viel stärker gewirkt hat als seine Rechts- und insbesondere Strafrechtsphilosophie. Besonders einflußreich war Kants Unterscheidung von "Sein" und "Sollen", von Tatsachen einerseits und Normen bzw. Wertungen andererseits. Aus Tatsachenaussagen, so Kant, lassen sich keine Werturteile ableiten. An einer berühmten Stelle der Kritik der reinen Vernunft schreibt er, "in Ansehung der sittlichen Gesetze[ ... sei] Erfahrung (leider) die Mutter des Scheins, und es[ ... sei] höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird". 37 Der Königsherger Philosoph entwickelt die Trennung von "Sein" und "Sollen" allerdings nicht im Detail, sondern setzt sie voraus. 38 Vermutlich geschah dies unter dem Einfluß des Schotten David Hume, jenes Philosophen, dem Kant nach eigenem Bekenntnis seine Erweckung aus dem "dogmatischen Schlummer" verdankte. 39 Humes klassischer Text verdient es, zusammenhängend zitiert zu werden: "In every system of morality, which I have hitherto met with, I have always remarked, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations conceming human affairs; when of a sudden I am surprized to find, that instead of the usual copulations ofpropositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, ofthe last consequence. For as this ought, or ought not, expresses some new relation or affirmation, it is necessary that it should be observed and explained; and at the sametime that a reason should be given, for what seems altogether inconceivable, how this new relation can be a deduction from others, which are entirely different from it. But as authors do not commonly use this precaution, I shall presume to recommend it to the readers; and am persuaded, that this small attention would subvert all the vulgar systems ofmorality".40 Die Unmöglichkeit einer Ableitung von deskriptiven aus normativen Sätzen und umgekehrt ist seitdem als ,J/umes Gesetz" in die Philosophie eingegangen. 41 ( 1819). In: Lüderssen, Paul Johann Anselm Feuerbach und Carl Joseph Anton Mittermaier, 101- 152. Vgl. auch die Einleitung Lüderssens ebenda, 7-57. 37 Kritik der reinen Vernunft, Theorie-Werkausgabe, Band 3, 325. 38 Zu weitgehend deshalb Ellscheid, Das Problem von Sein und Sollen in der Philosophie lmmanuel Kants, 7, der die Ansicht vertritt, die Trennnung von Sein und Sollen sei "erstmals in voller Schärfe" bei Kant aufgetreten. Ähnlich wie Eilscheid allerdings auch Brecht, Politische Theorie, 243, 650 f. 39 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. (1783). Hier zitiert nach der Theorie-Werkausgabe, Band 5, 118. 40 Hume, A Treatise ofHuman Nature, 469 f. 41 Zur Diskussion insbesondere im angelsächsischen Bereich vgl. den Sammelband von

52

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Hume kritisiert den ungerechtfertigten Übergang von einem "is" oder "is not" zu einem "ought" bzw. "ought not", also von deskriptiven zu präskriptiven Sätzen. Das Hume'sche Gesetz hat somit keinen wertphilosophischen oder ontologischen, sondern logischen Charakter.42 Ordnet man Tatsachenaussagen der deskriptiven und Werturteile der präskriptiven Seite der Sprache zu,43 so folgt daraus, daß es nicht möglich ist, nur aus Tatsachenaussagen Werturteile abzuleiten (und umgekehrt). Die in der Rechtswissenschaft häufig anzutreffende Vorstellung, aus Tatsachenaussagen ließen sich Werturteile schlußfolgern, ist also schon aus prinzipiellen Gründen unhaltbar. Die übliche Aussagen- und Prädikatenlogik44 ist auf Werturteile nicht anwendbar; sie ist für sie gar nicht definiert.45

Über Kant gelangte Humes Gesetz in die deutsche Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik. Allerdings klafft zwischen Kant (gest. 1804) und der ersten ausführlichen Thematisierung von "Sein und Sollen" in der Rechtsphilosophie durch Arnold Kitz4f> (1864) eine Kluft von fast einem Menschenalter. "Daraus", so formulierte Kitz, "daß dieses ist, folgt wohl, daß jenes war oder jenes sein wird, aber nie und nimmer, daß ein anderes sein soll. Etwas kann sein sollen, und doch ist es weder früher gewesen, noch ist es jetzt, noch wird es künftig sein."47 Fünf Jahre nach Kitz betonte Julius Herrman von Kirchmann den Unterschied von "Sein" und "Sollen".48 Insbesondere für den Neukantianismus49 wurde die Trennung von deskriptiven und präskriptiven Sätzen, zwischen "Sein" und "Sollen", Hudson, The ls I Ought Question, 1969. 42 Von Wright, Sein und Sollen. In: ders.: Normen, Werte und Handlungen, 21 mwN. zur historischen Genese. V gl. auch Ott, FS Krawietz, 397 - 416. 43

Dazu oben Kapitel 1 III.

Vgl. die Darstellung bei Copi, lntroduction to Logic, Teil 2; zusammenfassend Herberger I Simon, Wissenschaftstheorie fiir Juristen, Abschnitt 1 - 4. 44

45 Man hat deshalb versucht, für die präskriptive Sprache eine eigene Logik, die sog. "deontische Logik", zu entwickeln, vgl. nur Herberger I Simon, Wissenschaftstheorie fiir Juristen, Abschnitt 5. Keines der verschiedenendeontischen Systeme hat sich aber bislang durchsetzen können.

46

Kitz, Seyn und Sollen, 1864.

Seyn und Sollen, 74 f. Der beträchtliche zeitliche Abstand zwischen Kant und Arnold Kitz erklärt sich möglichetweise durch die Vorherrschaft der Philosophie Hegels im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Hegels Diktum von dem Vernünftigen als dem Wirklichen und dem Wirklichen als dem Vernünftigen hob die Trennung von "Sein" und "Sollen" schon begrifflich auf, vgl. die Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 33 (Sämtliche Werke, Band 7). 47

48

Von Kirchmann, Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral, 48 f.

Zentrale Texte dieser wenig einheitlichen philosophischen Richtung sind zusammengestellt bei 01/ig, Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, 1982. 49

Kap. 4: Exkurs: "Tatsachen" und "Urteile", "Sein" und "Sollen"

53

von zentraler Bedeutung. 50 Ohne Übertreibung kann man sagen, daß es sich dabei um einen der ganz wenigen von allen "Neukantianern" akzeptierten Grundsätze handelte. 51 Um die Jahrhundertwende war die Unterscheidung von "Sein" und "Sollen" in den Sozialwissenschaften allgernein verbreitet und wurde auch weitgehend akzeptiert. 52 In der Strafrechtsdogmatik scheint zum ersten Mal Eduard Kohlrausch explizit auf den Unterschied zwischen deskriptiver und präskriptiver Sprachverwendung aufmerksam gernacht zu haben. In der von der Universität Königsberg herausgegebenen Erinnerungsschrift zum 100. Todestag Kants schrieb Kohlrausch: "Unter den vielen unverlierbaren Wahrheiten, deren gefestigte Existenz wir Kant verdanken, steht wohl in vorderer Linie der Satz, der das Grundmotiv seiner Vernunftkritik bildet: daß unser ganzes Dasein durchzogen ist von dem Gegensatz erklärender und bewertender Urteile, von dem Gegensatz von Aussagen über die Existenz und die Bedingungen der Erscheinungen einerseits, ihrem Wert oder Unwert unter irgend einem Gesichtspunkt andererseits". 53 Der Ausdruck "normative Tatbestandsrnerkmale" wurde von Max EmstMayer geprägt. 54 Nach Mayer zeichnen sich normative Tatbestandsmerkmale dadurch aus, daß sie "der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich sind" und "lediglich wertbestimmende Bedeutung" haben.55 Die zentrale Dichotomie zwischen Beschreibung und Bewertung kommt bei Mayer damit nur noch undeutlich zum Ausdruck, 56 eine Tendenz, die sich in der Folge noch verstärkte. 57 Heute wird der Begriff "normative Tatbestandsrnerkmale" in ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. 58 50 Vgl nur Radbruch, Rechtsphilosophie, 96 f. Für weitere Nachweise (Winde/band, Rickert, Simmel, Kelsen) vgl. Brecht, Politische Theorie, 254-259.

51 Zur Rechtsphilosophie des Neukantianismus zusammenfassend Ollig, Neukantianismus, 1979, 136 - 140. 52 Vgl. neben Brecht, Politische Theorie, 254-259, auch Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, 36 - 42.

53

Kohlrausch, in: Zur Erinnerung an Imrnanuel Kant, 272.

Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 182 f. Der Terminus "präskriptiv" ist in der juristischen Fachsprache eher unüblich. 54

Mayer, AT, 183. Eine eingehende Interpretation von Mayers Position findet sich bei Kunert, Die normativen Merkmale der strafrechtlichen Tatbestände, 28 - 31. 55

56

57 Die Entwicklung der Diskussion über die normativen Tatbestandsmerkmale ist von Kunert, Die normativen Merkmale, 28- 81, sorgfaltig nachgezeichnet worden, so daß ich daraufhier nicht weiter einzugehen brauche. A.a.O., 3- 9 behandelt Kunert die ältere, der hier thematisierten Dichotomie verwandte Unterscheidung zwischen "error facti" und "error iuris". 58 Dazu näher unten Kapitel 14 I 2. Eine eingehende Kritik des juristischen Sprachgebrauchs findet sich bei Herberger. in: Koch, Juristische Methodenlehre und analytische

54

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

IV. Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der strafrechtliche Tatsachenbegriff geistesgeschichtlich gesehen zwei Konnotationen aufweist. Die erste liegt in der Betonung von "Tatsache" als etwas Sicherem und unverbrüchlich Feststehendem im Gegensatz zum bloß Meinungsmäßigen und Unverbindlichen. Ursprünglich meinte man damit die unbezweifelbaren Glaubenssätze der Heiligen Schrift, doch wurde der Ausdruck "Tatsache" schon bald in einem weiteren Sinn fiir alles vermeintlich sicher Gewußte verwendet. Zweitens findet sich der Begriff im Zusammenhang mit der rechtsphilosophischen Trennung von "Sein" und "Sollen". Das Hume'sche Gesetz betrifft nur die Unableitbarkeit von Tatsachenaussagen und Werturteilen, während die Sein-Sollen-Problematik nicht selten auch aufwertphilosophische und ontologische Fragestellungen ausgedehnt wird. In dieser Bedeutung traten die Begriffe "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Siegeszug in der Rechtssprache an.

Philosophie, 124 - 154.

Kapitel 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung in Rechtsprechung und Lehre seit 1871 I. Der Begriff der Tatsachenbehauptung in der Rechtsprechung 1. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht ist in der Bestimmung des Tatsachenbegriffs von Anfang an den Vorgaben Go/tdammers 1 gefolgt - mit einer Ausnahme: Bereits in einer seiner ersten Entscheidungen2 ließ das Gericht auch eine Täuschung über eigene "innere Tatsachen" für § 263 StGB zu. Es ging dabei um die Vorspiegelung der Absicht, mit einem neu auszustellenden Wechsel ein früheres Gefälligkeitsakzept einlösen zu wollen. Das Reichsgericht führte dazu aus, der Angeklagte habe die "falsche Tatsache" vorgespiegelt, "er werde den auszustellenden Wechsel zu dem Zwecke verwenden, zu welchem er nach dem Willen[ ... der Getäuschten, E.H.] verwendet werden sollte; auch in der Vorspiegelung einer dem Vorspiegelnden nicht innewohnenden Absicht, in einer gewissen Weise zu handeln, kann, da das Gesetz in dieser Richtung weder nach seinem Wortlaute, der durch das Wort "Tatsachen" eine solche nicht ausschließt, noch nach seinem Zwecke eine Unterscheidung macht, die Vorspiegelung einer falschen Tatsache im Sinn des § 263 StGB liegen". 3 Eine weitere Begründung findet sich nicht. 4 Es erscheint nicht überflüssig, nach den Motiven des Reichsgerichts zu fragen. Naucke5 erwähnt den Rechtsprechungswechsel im Anschluß an eine Darlegung von Thesen Bindingi und Oppenheimers1 , doch kann das Reichsgericht durch die Ausführungen der genannten Autoren nicht beeinflußt worden sein, denn beide 1 Dazu

oben Kapitel 2 IV.

RGSt 1, 305. EbensoRG Rspr. 1, 272 f; 1, 563 (565); 2, 610 (612 f); 2, 629 (630); 2, 690 (692); 3, 294; RGSt 20, 142 (143); 24, 405 (407) und seither die st. Rspr. 2

Ibid. Sehr kritisch dazu Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 111, der aber nicht hinreichend berücksichtigt, daß der Rechtsprechungswechsel des Reichsgerichts immerhin vom Wortlaut des § 263 StGB und auch vom landläufigen Verständnis des Ausdrucks "Tatsache" 0hne weiteres getragen wurde. s Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 111 . 3

4

6

347. 7

Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, Band 1, Oppenheimer, Der Bagatell betrug, 11.

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

56

Stellungnahmen erschienen erst nach der Entscheidung RGSt 1, 305 (im Jahr 1880}.8 Naucke9 selbst spricht von einer "um die Jahrhundertwende entwickelten Ansicht". Es müssen also andere Überlegungen und Einflüsse gewesen sein, die das Reichsgericht zu der Änderung der Rechtsprechung bewogen haben. Vermutlich haben Strafwürdigkeitserwägungen eine zentrale Rolle gespielt. Vor allem Zechprellerei 10 mittels Vorspiegelung von Zahlungswilligkeit11 ließ sich nur über die Anerkennung betrugsrelevanter "innerer Tatsachen" pönalisieren. 12 Hinzu kommt, daß die Figur der "inneren Tatsache" als solche bereits anerkannt war, vor allem in der Dogmatik der Verleumdung13 und im Rahmen des Betrugstatbestandes beim Vorspiegeln "innerer Zustände" Dritter. 14 In der Württembergischen und Badischen Rechtsprechung wurde das Vorspiegeln von Zahlungswilligkeit schon seit längerem als Betrug betrachtet. 15 Alles in allem war deshalb die Annahme von betrugsrelevanten "inneren Tatsachen" beim Täuschenden selbst für das Reichsgericht nur ein kleiner Schritt. 16 In der Entscheidung RGSt 22, 158 aus dem Jahr 1891 wurde der Begriff der "inneren Tatsache" näher bestimmt. Das Reichsgericht erklärte, 17 unter"Tatsache im Sinne des Gesetzes [sei] nur eine Begebenheit, ein konkreter Vorgang zu verstehen[ ... ], welcher in der Vergangenheit oder Gegenwart in die Erscheinung getreten und dadurch Gegenstand der Wahrnehmung geworden" sei. Auch "innere Vorgänge, deren Dasein und Art dargetan und damit wahrnehmbar gemacht werden kann, sind daher aus dem Kreise der Tatsachen nicht ausgeschlossen, wohl aber alle Ergebnisse abstrakter Schlußfolgerungen".18 Auch "innere Tatsachen" mußten also "in die Erscheinung getreten" sein und sich so objektiv mani-

8

Bindings Lehrbuch zum Besonderen Teil erschien in erster Auflage im Jahr 1896.

Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 111. Aus der zeitgenössischen Literatur vgl. besonders Kronacher, Ist Zechprellerei Betrug?, 1906. 9

10

11 Anders die Vorspiegelung von Zahlungsfähigkeit, die als "äußere" Tatsache verstanden werden kann. 12 Aufschlußreich Kronacher, Ist Zechprellerei Betrug?, 19: "Hier ist es unbedingt notwendig, auch die Absicht unter den Begriff der Tatsache zu subsumieren". 13 Vgl. Kapitel 3 III. 14 Vgl. Kapitel2 IV.

Nachweise in Kapitel2 Fn. 73. Weitere Nachweise zur zeitgenössischen Diskussion bei Heilbronner. Der Begriff "Unterdrückung wahrer Tatsachen" beim Betruge, 9- 16. 17 Die Entscheidung erging zu § 131 a.F. StGB, der "Staatsverleumdung" durch Entstellen oder Erdichten von Tatsachen. 18 RGSt 22, 158 (159). 15

16

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

57

festiert haben. Bereits im Jahr I 908 wurde diese Begriffsbestimmung als "ständige Rechtsprechung" des Reichsgerichts bezeichnet. 19 Die ausfiihrlichste Stellungnahme des Reichsgerichts zum Tatsachenbegriff findet sich in RGSt 55, 129: "Der Begriff der Tatsache im Sinn des § 186 StGB setzt etwas Geschehenes oder etwas Bestehendes voraus, das zur Erscheinung gelangt und in die Wirklichkeit getreten ist und das daher dem Beweise zugänglich ist". 20 Auch "innere Vorgänge und Zustände", so das Reichsgericht, könnten unter den Tatsachenbegriff fallen, allerdings nur dann, "wenn sie in erkennbare Beziehungen gesetzt werden zu bestimmten äußeren Geschehnissen, durch die sie in das Gebiet der wahrnehmbaren äußeren Welt getreten sind". 21 "Innere Tatsachen" werden also dem Tatsachenbegriff subsumiert, sofern sie bestimmten äußeren, beobachtbaren Geschehnissen eindeutig zugeordnet werden können. Bemerkenswert ist, daß das Reichsgericht nicht zwischen den Begriffen "Tatsache" und "Tatsachenaussage" unterscheidet. Den Gegensatz zu Tatsachen bzw. Tatsachenaussagen bilden "allgemeine Urteile und Meinungsäußerungen". 22 Die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und allgemeinen Urteilen sei "flüssig, und zwar schon deshalb, weiljede tatsächliche Behauptung ein Urteil enthält". Im seihen Sinn hatte es schon in einer früheren Entscheidung23 geheißen, jede Tatsachenbehauptung enthalte ein Urteil, "nämlich das Urteil des Behauptenden, daß die Sache sich so, wie behauptet worden, verhalte". Außerdem müsse eine Tatsache nicht immer ein einzelner "Vorgang" sein; auch "eine Reihe fortlaufender, gleichartiger Geschehnisse kann in ihrer Gesamtheit als Tatsache angesehen und so zum Gegenstand nicht eines Urteils, sondern einer zusammenfassenden Behauptung gemacht werden". 24 Dies gelte insbesondere, "wenn mehrere gleichartige Handlungen einer Person in Betracht kommen, auf Grund deren ihr eine bestimmte Eigenschaft nachgesagt wird. Auch damit wird keineswegs immer ein allgemeines Urteil abgegeben. Vielmehr kann ein menschlicher Charakterzug als so unmittelbar greifbar in die Erscheinung getreten hingestellt werden, zumal in Anknüpfung an bestimmte äußere Vorgänge, daß die Behauptung einer dem Beweise zugänglichen Tatsache vorliegt". Im Einzelfall sei die Abgrenzung Aufgabe des Tatrichters. Mit der Entgegensetzung von "Tatsache" bzw. "Tatsachenbehauptung" und "Urteil" hat sich das Reichsgericht völlig vom Sprachgebrauch der Wissenschaftslehre und Logik gelöst, wo der Ausdruck "Urteil" Tatsachenbehauptungen RGSt 41, 193 (194) mit Verweis aufRGSt 16, 368; 22, 158; 24,300 und 24, 387. RGSt 55, 129 (131). 21 Ibid. 22 Diese Entgegensetzung findet sich übrigens schon in RGSt 22, 158 (159). 23 RGSt 29, 40 (41). 24 RGSt 55, 130 ( 131 ). 19

20

58

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

mit umfaßt. 25 Die Zulassung "innerer Tatsachen" wird mit der Einschränkung versehen, daß das psychische Phänomen "in die Erscheinung getreten", also empirisch wahrnehmbar geworden ist. Das entscheidende Kriterium ist für das Gericht offenbar die Beweiszugänglichkeit der behaupteten Tatsache. Dahinter steht eine positivistische Methodologie, die grundsätzlich nur das den Sinnen Gegebene und damit Beweisbare als "wirklich" anerkennen will. 26 Auch wenn man die Festlegungen des Reichsgerichts in mancher Hinsicht für verbesserungsfähig hält, 27 wird man doch zugeben müssen, daß der reichsgerichtliche Definitionsansatz tragfähig genug war, um die Bedürfnisse der Rechtspraxis bis heute im wesentlichen zu erfüllen. 2. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und der Oberlandesgerichte Der Bundesgerichtshof und die Oberlandesgerichte sind der Rechtsprechung des Reichsgerichts gefolgt. Einige ausgewählte Hinweise sollen genügen: 28 Im Jahr 1954 hatte sich der Bundesgerichtshof mit der Frage zu beschäftigen, ob die Äußerung, der Bundeskanzler bereite aus Profitgier einen Krieg vor und wolle die deutsche Jugend als Kanonenfutter mißbrauchen, eine Tatsachenaussage oder ein Werturteil sei. 29 Das Gericht führte dazu aus, die Äußerungen beträfen "Vorgänge der Weltpolitik, die als solche feststehen und allgemein bekannt" seien. Die Angriffe behandelten "in der Hauptsache die Frage, welche Wirkungen jene Ereignisse nach seiner [d.h. des Angeklagten, E.H.] Auffassung haben werden. Er stellt sie als gefährlich und unheilvoll hin. Diese abfällige Wertung unterstreicht er, indem er die Urheber als ,Profithyänen' bezeichnet und ihnen vorwirft, sie beabsichtigen (sie) sogar die Folgen, die er voraussagt, und griffen zu diesem Zweck zur , Völkerverhetzung, politischen Diffamierung und zu Schmutzkübeln von Lügen'". Dadurch, so der Bundesgerichtshof, würden bestimmte politische Ereignisse und ihre Urheber bewertet: "Die Hintergründe und Zwecke weltpolitischer Maßnahmen können im allgemeinen nur Gegenstand der politischen Meinungsbildung und -beeinflussung sein, solange die Entwicklung im Fluß und eine geschieht25

Vgl. oben Kapitel4 II mwN.

Die Ausdrücke "positivistisch" und "Positivismus" sind allerdings notorisch unbestimmt. Zu den verschiedenen Varianten des PositivismusJuhos, Zeitschrift fiir allgemeine Wissenschaftstheorie, Band 2 (1971), 27-62. Die Formen des Positivismus in der Rechtswissenschaft hat Ott, Der Rechtspositivismus, 1992, zuverlässig herausgearbeitet. 26

27

Dazu ausfUhrlieh unten Kapitel 9 III.

AusfUhrliehe Nachweise über die Rechtsprechung zum Tatsachenbegrifffinden sich bei LK-Lackner, § 263 Rz. lO- 16. 28

29

BGHSt 6, 357 (358).

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

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liehe Beurteilung noch nicht möglich ist. Bis dahin jedenfalls sind sie in fast allen Fällen dem Beweise in einem gerichtlichen Verfahren unzugänglich. Diese Sachlage ist auch fiir jedermann erkennbar". Es handele sich deshalb nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern um Werturteile. 30 Sehr interessant ist auch die Entscheidung BGHSt 11, 329. Dort ging es um die Äußerung, ein Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus sei ein "Landesverräter". Der Bundesgerichtshof erklärte dazu knapp: "Wer einen Widerstandskämpfer ,Landesverräter' nennt, kann dies [ ...] nicht als Tatsachenbehauptung im Sinne des § 186 StGB meinen [...]. Er äußert nur ein Werturteil". Die Begründung, die der Bundesgerichtshof hierfilr gibt, ist bemerkenswert: "Die gegenteilige Ansicht der Strafkammer [die eine üble Nachrede angenommen hatte, E.H.] beruht entscheidend auf der Auffassung, daß mit dem Vorwurf des ,Landesverrats' stets die tatsächliche Behauptung eines schimpflichen Verhaltens verbunden sei, weil dem Begriff des Landesverrats stets etwas Schimpfliches anhafte. Entsprechendes würde aber, wenn es zuträfe, auch von zahlreichen anderen Schimpfwörtern gelten müssen. [... ] Ob jemand in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet, die geeignet ist, diesen verächtlich zu machen oder ihn in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, bestimmt nicht die Auffassung des Täters, sondern das Recht. Nur auf die von der Rechtsordnung anerkannte Auffassung kommt es an. Diese Auffassung weiß aber sehr wohl zwischen einem Landesverrat und den in Rede stehenden Handlungen der Widerstandskämpfer zu unterscheiden. Sie sind durch die Umstände und Beweggründe, aus denen sie begangen wurden, gerechtfertigt. Ein ,Landesverrat', der einem Widerstandskämpfer vorgeworfen wird, ist daher keine ehrverletzende Tatsache im Sinn des§ 186 StGB".31 In einer Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 197032 wurde die Bezeichnung als "alter Nazi" nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als ein Werturteil angesehen. Zur Begründung fiihrt das Oberlandesgericht aus, "unter den Umständen des gegebenen Falles" stelle die Äußerung insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang, in dem sie gefallen sei, eine bloß formale Beleidigung i.S.d. § 185 dar: "Bei der Auseinandersetzung, in der die Äußerung fiel, spielte die politische Vergangenheit des Zeugen überhaupt keine Rolle. Der Angeklagte hat ersichtlich nur seinem Ärger [... ] durch eine abfallige Bemerkung Luft gemacht". Es kam deshalb nach Ansicht des Oberlandesgerichts nicht darauf an, ob der Betroffene Mitglied der NSDAP gewesen war oder ob er sich der Partei zumindest "gesinnungsmäßig zugeordnet" hatte. "Maßgebend ist allein, 30

Zu einer kritischen Diskussion des Urteiles vgl. unten Kapitel 15 II I.

BGHSt 11, 329 (331 ). NJW 1970, 905. Anläßlich einer amtlichen Besichtigung eines Grundstücks wegen Wildschadens war über die Person des früheren Wildschadensschätzers ein Streit entstanden, in dessen Verlauf der Angeklagte u.a. äußerte: "Hören Sie mir aufmit von B., der alte Nazi hat am Gericht genug gelogen!" 31

32

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

60

daß er [der Angeklagte, E.H.) die Bemerkung "alter Nazi" gemacht hat, nicht um damit die frühere Einstellung [ ... des Betroffenen) zum Nationalsozialismus zu kennzeichnen, sondern um ihn zu beschimpfen".33 In unserem Zusammenhang sehr bemerkenswert ist schließlich auch der nicht nur in der Ausbildungsliteratur häufig besprochene "Sirius-Fall". 34 Ihm lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das Opfer, eine junge Frau, war einem Mann verfallen, der ihr im Verlauf zahlreicher philosophischer Gespräche zu verstehen gab, er sei Bewohner des Sternes Sirius und gesandt worden, um sie zusammen mit wenigen anderen Auserwählten zu retten. Um die Fähigkeit zu erlangen, nach ihrem Tod auf einem anderen Himmelskörper zu leben, müsse sich der ihm bekannte Mönch Uliko fiir eine gewisse Zeit in "totale Meditation" versetzen. Zu diesem Zweck sollten an Ulikos Kloster 30.000,- DM bezahlt werden. Die Frau, die an der Wahrheit dieser Geschichte offenbar keinerlei Zweifel hegte, überwies das Geld. Als sie sich nach den Fortschritten des Mönches erkundigte, gab ihr der Täter zu verstehen, Ulikos Bemühungen seien bislang leider erfolglos geblieben. Die einzige Möglichkeit, sie zu retten, bestünde darin, ihren alten Körper zu vernichten und einen neuen zu beschaffen, der in einem roten Raum am Genfer See fiir sie bereitstehe. Bevor sie aber ihren alten Körper töte, solle sie noch eine Lebensversicherung auf ihn abschließen, was auch geschah. Die Selbsttötungsversuche der jungen Frau blieben allerdings ohne Erfolg. Der Bundesgerichtshof nahm hier wie die Vorinstanz ohne weiteres § 263 StGB an und bejahte damit implizit das Vorliegen einer Tatsachenbehauptung. Das Gericht folgt damit der älteren Rechtsprechung, wonach Betrug auch dann vorliegen kann, wenn der Irrtum leicht vermeidbar ist. 35 Ob dies so ohne weiteres haltbar ist, wird noch ausruhrlieh zu diskutieren sein. 36 Auch in seiner Rechtsprechung zu "inneren Tatsachen" schloß sich der Bundesgerichtshof dem Reichsgericht an. 37

33

lbid.

BGHSt 32, 38 - 43 mit Anm. von Roxin, NStZ 84, 71 - 73; Schmidhäuser, JZ 84, 195 fund Sippe/, NStZ 84, 357 f. 34

35 RGSt 3, 392 (396); 4, 352; 68, 212 (213); RG HRR 1940, Nr. 474; OLG Hamburg, NJW 1956, 392; OLG Celle, Nds Rspfl. 1972, 281; BGH bei Dall. MDR 1972, 387; aus der neueren Rspr. vgl. etwa BGHSt 34, 199 (201); MedR 1992, 36 (39); LG Mannheim, NJW 1993, 1488.

36

Dazu unten Kapitel 15 III.

BGHSt 15, 24 (26); vgl. auch OLGSt 2, 260; BayObLG JR 1958, 66; OLG Braunschweig NJW 1959, 2175 und NdsRpfl. 1962, 24. 37

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

61

II. Die Diskussion in der Lehre bis zur Jahrhundertwende In der Strafrechtsdogmatik nach 1871 setzte sich die Diskussion um den Tatsachenbegriff mit deutlich verminderter Intensität fort. Die h.M. folgte dabei ohne weiteres der Linie des Reichsgerichts. 38 Nur vereinzelt finden sich abweichende Stimmen. Dishausen definierte "Tatsache" als "etwas Wirkliches, sei es Gegenwärtiges oder Vergangenes, das Gegenstand der menschlichen Wahrnehmung geworden ist". 39 Nimmt man dies wörtlich, so kann "Tatsache" nur sein, was beobachtet oder sonstwie sinnlich wahrgenommen worden ist. Bloß prinzipiell Wahrnehmbares, aber nach dem derzeitigen Stand der technischen Möglichkeiten noch nicht tatsächlich Beobachtbares fällt aus dem Tatsachenbegriff heraus. Welche rasanten Fortschritte das menschliche Erkenntnisvermögen in den nächsten Jahren mit Hilfe der Technik machen würde, war damals noch nicht abzusehen. Auch innere Tatsachen sollten nach Ansicht Dishausens dem Tatsachenbegriff subsumiert werden, nicht dagegen Zukünftiges sowie "alles Dasjenige, was gerade das Gegenteil des Objektiven ist, nämlich eine subjektive Auffassung, eine Meinung, ein Urteil".40 Im Gegensatz zur h.M. plädierte im Jahr 1875 der Konstanzer Oberstaatsanwalt Haager dafiir, auch zukünftige Ereignisse unter den Tatsachenbegriff zu fassen. 41 Haagerging dabei vom Zivilrecht aus, wobei er darauf hinweist, daß die meisten Betrugsfälle sich innerhalb eines Vertragsverhältnisses abspielten. Im Zivilrecht, so Haager, sei "eine juristische Tatsache, factum, jedes Ereignis, welches auf die Entstehung von Rechten, oder auf entstandene Rechte, also auf deren Untergang, Einfluß äußert oder äußern soll". 42 Dazu würden auch Willenserklärungen, sogar fingierte Willenserklärungen gerechnet, "und dahin gehören auch namentlich die Bedingungen, conditiones, d.h. Zusätze einer Willenserklärung, wodurch das Dasein eines Rechtsverhältnisses von einem künftigen, ungewissen Ereignis abhängig gemacht wird". Deshalb sei nicht bloß das bereits "in die äußere Erscheinung und Wirklichkeit Getretene" eine juristische Tatsache, "sondern auch das, was sich zukünftig ereignen wird oder soll".43 Sogar "Um-

38 V gl. etwa von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, § 95 II, § 138 II mit Fn. 1; Meyer, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 704 f. 39 Von 0/shausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Band 2, § 263 Anm. 6. 40 A.a.O., 988, 989. Wieder anders von Schwarze, Kommentar für das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich, 764, der, ohne nähere Begründung, nur Gegenwärtiges unter den

Tatsachenbegriff subsumieren wollte. 41

42 43

Haager; GS 27 (1875), 561-604. GS 27 (1875), 577. GS 27 (1875), 577 f.

62

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

stände, welche tatsächlich, juristisch oder moralisch44 gar nicht möglich sind, sowie auch innerliche Zustände, Eigenschaften, welche einer Person oder Sache beigelegt werden, selbst allgemeine Begriffe, Dinge also, die sich als solche der sinnlichen Wahrnehmung entziehen, fallen unter den Begriff von Tatsachen". 45 Dieses weite Verständnis von "Tatsache" müsse auch im Strafrecht zugrunde gelegt werden. Ein besonders prominenter Vertreter der Ansicht, auch zukünftige Ereignisse und Zustände seien dem Tatsachenbegriff zu subsumieren, war Kar! Binding: 46 "Tatsache ist Alles, was gewußt werden kann, einerlei ob es der Außenwelt angehört oder eine Erfahrungstatsache des Innenlebens ist, ob es in die Vergangenheit oder die Zukunft fällt". Als Beispiele fiir zukünftige Tatsachen nennt Binding, "daß[... ] am 21. SeptemberjedenJahres die Sonne fastgenau um 6 Uhr auf- und untergeht" und "daß die Schwangerschaft mit dem 9. Monat endet". 47 Ebenso könne als Tatsache behauptet werden, daß etwas nicht geschehen sei. Dagegen sei die "Vorspiegelung eines Glaubens, daß etwas geschehen sei oder geschehen werde - etwa daß die Wirtschaft gut gehen, daß sich das Pfand gut verkaufen, daß der Kurs steigen werde-" keine Vorspiegelung von Tatsachen. 48 Diese Begriffsbestimmung ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. "Tatsache" ist fiir Binding grundsätzlich alles, was empirisch wahrnehmbar ist. Diesen Grundgedanken fUhrt Binding konsequent durch. Indem er darauf abstellt, "was gewußt werden kann", macht er das Vorliegen einer Tatsache nicht von der tatsächlichen Wahrnehmung abhängig, sondern läßt eine prinzipielle Wahrnehmbarkeit genügen. Es ist daher nur konsequent, daß Binding auch "Erfahrungstatsachen des Innenlebens", also grundsätzlich beobachtbare psychische Zustände oder Ereignisse, dem Tatsachenbegriff subsumieren möchte. Auch zukünftige Ereignisse, die grundsätzlich beobachtbar sind, sind fiir Binding Tatsachen. Bindings Beispiele zeigen allerdings, daß er nicht scharf zwischen einer Tatsache und einer Tatsachenbehauptung unterscheidet. Vielleicht gibt man deshalb seine Ansicht zutreffender wider, wenn man sagt, daß fiir Binding auch die Behauptung zukünftiger Tatsachen eine Tatsachenbehauptung darstellt. Sieht man sich die Beispiele, die Binding fiir "zukünftige Tatsachen" gibt, genauer an, so wird deutlich, daß es sich nicht um bloße Hoffnungen, Vermutungen oder allgemeine Erwartungen handelt, sondern um Ereignisse, deren Eintreten vom "gesunden Menschenverstand" nicht bezweifelt wird: Sonnenaufgänge oder das normale 44 Der Begriff der "moralischen Unmöglichkeit" wird von Haager leider nicht weiter erläutert.

45

GS 27 ( 1875), 578.

46

Binding, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts. Besonderer Teil, Band 1,

346. 47

BT 1, 346 Fn. 6.

48

BT I, 346 f.

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

63

Ende der menschlichen Schwangerschaft sind nach allgemeiner Auffassung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit prognostizierbar. Nur vereinzelt wurden Bedenken gegen den Rechtsprechungswechsel des Reichsgerichts zur Berücksichtigungsfähigkeit innerer Tatsachen geäußert. So heißt es bei Hälschner: 49 "Daraus, daß auch das Dasein einer Absicht eine Tatsache ist,[ ... kann] nicht gefolgert werden, daß die Vorspiegelung dieser Tatsache zum Betrug geeignet sei, und zwar darum nicht, weil die zivilrechtliche Wirksamkeit des Geschäfts und der übernommenen Verbindlichkeit von der bona und mala fides des sich Verpflichtenden unabhängig ist, deshalb die Täuschung über die Absicht zu leisten an sich keine Vermögensschädigung bewirkt. Der Getäuschte wird beschädigt nicht durch die Täuschung, sondern durch das ihr nachfolgende Nichtleisten, eine Beschädigung, für deren rechtliche Bedeutung es ganz indifferent ist, ob der Entschluß, nicht zu leisten, bereits bei Eingebung der Verpflichtung gefaßt war oder erst später gefaßt wurde. Eben deshalb erscheint auch das von Anfang an beabsichtigte Nichtleisten als ein nur ziviles Unrecht, nicht als Betrug und dürfte die Vorspiegelung der Absicht zu leisten, als betrügerische Beschädigung betrachtet werden, so müßte sie auch trotz späterer Leistung als Betrug gestraft werden, weil der verübte Betrug durch spätere Schadloshaltungnicht getilgt werden kann". Hervorzuheben ist, daß auch nach Hälschner das Vorhandensein einer Absicht als innere Tatsache anzusehen ist. Die Nichtberücksichtigungsfähigkeit der mangelnden Leistungsabsicht ergibt sich für Hälschner daraus, daß durch die Vorspiegelung einer in Wahrheit nicht vorhandenen Leistungsabsicht noch kein Vermögensschaden hervorgerufen wird. Dies geschehe erst durch die spätere Nichtleistung. Ob diese Ansicht zutreffend ist, erscheint zweifelhaft; zumindest eine Vermögensgefährdung dürfte häufig schon zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses vorliegen. Letztlich kann dies aber offen bleiben, da jedenfalls die Möglichkeit, über "innere Zustände" etc. Tatsachenbehauptungen abzugeben, von Hälschner nicht in Frage gestellt wird. Haager folgend, betont auch Zimmermann 50 die Parallele zum Zivilrecht.51 Der Betrug müsse in Zivil- und Strafrecht gleich bestimmt werden. 52 Allerdings will Zimmermann solche Umstände, die tatsächlich oder juristisch nicht möglich seien, nicht dem Tatsachenbegriff subsumieren. Drastisch schreibt er: "Wenn also z.B. A dem B vorspiegelte, er sei Gott der allmächtige Vater und habe die Absicht, dem B künftig nach dessen Tode einen Stuhl im Himmel neben ihm zuzusichern, oder ewige Jugend zu verleihen u.s. w., wenn er ihm sofort 1000 M. dafür gebe, so würde man doch wohl hier nicht einen strafbaren Versuch, oder wenn B 49

50

51 52

Das gemeine deutsche Strafrecht, Band 2, 1. Abt., 262 f. Zimmermann, GS 29 (1877), 120- 142. Ähnlich auch schon Klien, Neues Archiv des Crimina1rechts, Band 1 (1817), 146. GS 29 (1877), 121.

64

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

wirklich die verlangte Summe gezahlt hätte, einen vollendeten Betrug annehmen wollen, da auch der am geringsten Begabte einsehen müßte, daß A, wenn er im Ernste gehandelt, fiir das Irrenhaus reif sei". 53 Es gehe nicht an, daß in dieser Weise "der simplicitas beigesprungen" würde. 54 Hier wird also der Gedanke der Täuschungseignung bzw. der Opfermitverantwortung explizit verwendet, um den Tatsachenbegriff zu begrenzen. Auch Künftiges will Zimmermann dem Tatsachenbegriff subsumieren, wobei er allerdings nicht scharf zwischen dem künftigen Ereignis und der jetzt bereits bestehenden Absicht, dieses Ereignis herbeizufiihren, unterscheidet. 55 Die einzige umfangreichere Auseinandersetzungjener Zeit mit dem Tatsachenbegriff des § 263 StGB findet sich in einer Erlanger Dissertation aus dem Jahr 1892. Autor ist der Rechtspraktikant Ludwig Friedsam. 56 Die Arbeit bündelt noch einmal die Diskussion, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts über den Betrug und insbesondere den Tatsachenbegriffvon § 241 des preußischen Strafgesetzbuches und § 263 des Reichsstrafgesetzbuches gefiihrt wurde. Bei Friedsam wird das Problem der Abgrenzung von strafbaren und nicht strafbaren Täuschungen und der damit verbundene Topos von der Täuschungseignung explizit angesprochen: "Vigilantibus iura sunt scripta! Den Einfältigen, Leichtgläubigen, Leichtsinnigen, unter dem Niveau der allgemein im Volke herrschenden Verstandesreife Stehenden kann und braucht das Gesetz nicht zu schützen [... ]. Wollte das Gesetz hier schützend eingreifen, so würde große Rechtsunsicherheit entstehen und man gelangte zu einer unerträglichen Bevormundung des Publikums."57 Nach Ansicht des Autors soll das Strafgesetz nur dann eingreifen, "wenn dolose Vermögensbeschädigungen durch Mittel verübt werden, gegen welche auch der Vorsichtige und der normal Verständige sich deshalb nicht schützen kann, weil ein gewisses Maß von gegenseitigem Vertrauen und Glauben in die Rechtschaffenheit des Nebenmenschen im wechselseitigen Verkehr unentbehrlich ist". 58 Friedsam verzichtet aber darauf, den Gedanken der Täuschungseignung konsequent der begrifflichen Entfaltung des Tatsachenbegriffs zugrunde zu legen. In allen Punkten folgt er der h.M. seiner Zeit; gelegentlich stellt er sich dabei sogar zu seinen eigenen Grundsätzen in Widerspruch. So wendet er sich gegen die GS 29 (1877), 131. lbid. 55 Besonders deutlich a.a.O., 142: Tatsachen sind auch ,,Absichten über künftige Entschließungen und Leistungen". 53

54

56

Friedsam, Der Begriff der Tatsache, 1893.

Friedsam, Der Begriff der Tatsache, 33. Ähnlich auch Gross, Der Raritätenbetrug, 72 f. Nach Gross, a.a.O., 73 soll allerdings nur "ganz grober Leichtsinn"§ 263 StGB ausschließen. 58 Friedsam, Der Begriff der Tatsache, 33 unter Berufung auf Escher, Lehre vom strafbaren Betrug, 57. 57

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

65

Ansicht, übertriebene Reklame könne keinen Betrug begründen, weil sich niemand "durch derartige vage Vorspiegelungen täuschen lassen dürfe" 59, mit dem Argument, weder im Zivilrecht noch im Strafrecht gelte der Satz, "daß der dolus des Täters durch die culpa des Verletzten purgiert werde". 60 Dem Gedanken der Opfermitverantwortung würde es gerade entsprechen, die culpa des Getäuschten mitzuberücksichtigen.61

111. Der Meinungsstand nach 1900 Spätestens seit der Jahrhundertwende haben sich die Auffassungen zur Auslegung des Begriffes "Tatsache" in § 263 StGB so weit verfestigt, daß man von einer "allgemeinen Ansicht" sprechen kann. Repräsentativ dafür seien nur die Stellungnahmen Franz von Liszts und Reinhard Franks erwähnt. Für von Liszt ist eine Tatsache "was der Gegenwart oder der Vergangenheit, nicht aber, was der Zukunft angehört". Auch Unmögliches könne als Tatsache hingestellt werden. Tatsache könne aber nur sein, was der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sei. Dem sei die Selbstbeobachtung gleichzustellen, so daß von Liszt auch ,,Ansichten und Absichten" zu den Tatsachen zählt. 62 Ganz ähnlich schreibt Frank, Tatsache sei "alles, was wahrnehmbar ist oder war, also gleichgültig, ob es der Gegenwart oder der Vergangenheit angehört, ob es ein Gegenstand oder ein Zustand oder ein Ereignis ist". 63 Auch innere Tatsachen gehörten dazu. Dagegen will Frank "alles, was der Zukunft angehört" und "alles, was nicht wahrnehmbar ist oder gewesen ist, sondern erst auf Grund einer Denktätigkeit erkannt wird", aus dem Tatsachenbegriff herausnehmen. Deshalb seien "Urteile, namentlich Werturteile und Meinungsäußerungen, im allgemeinen nicht unter den Begriff der tatsächlichen Behauptungen" zu subsumieren.64 Diese Ansicht ist in den führenden Kommentaren und Lehrbüchern bis heute tradiert worden. 65 Daß die schematische Kontrastierung von "Tatsachen" und "Werturteilen" auf einem doppelten Kategorienfehler beruht, wurde oben schon bemerkt: 66 Zum einen wird eine nichtsprachliche Entität ("Tatsache") einem rein sprachli-

59

Der Begriff der Tatsache, 39 (Hervorhebung i.O.)

Der Begriff der Tatsache, 40. Für einen Überblick über die (wenigen) Autoren, die nach Friedsam den Gedanken der Opfermitverantwortung beim Betrug noch thematisierten, vgl. Kurth, Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug, 82 - 94. 60 61

62

Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 330.

63

Frank, Das Strafgesetzbuch filr das Deutsche Reich, § 263 Anm. II 1.

64

A.a.O., Anm. II 1 b.

65

Auf eine eingehende Darstellung des Meinungsstands kann hier verzichtet werden.

66

Vgl. Kapitel4 II.

5 Hilgcndorf

66

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

eben Phänomen ("Werturteil") gegenübergestellt, zum anderen wird verkannt, daß auch Tatsachenaussagen Urteile sind, eben Urteile über Tatsachen. Auch der Gedanke der Opfermitverantwortung taucht in dieser verfehlten Gegenüberstellung nicht mehr auf. Nach ganz h.M. kommt es auf die Durchschaubarkeil der Täuschung nicht an. 67 Mitwirkende Fahrlässigkeit des Getäuschten soll allenfalls bei der Strafzumessung oder durch Wahrnehmung der prozessualen Einstellungsmöglichkeiten berücksichtigt werden.68 Es gibt freilich Problembereiche, in denen auch die herrschende Betrugsdogmatik den Topos der Opfermitverantwortung nolens volens berücksichtigen muß. Es handelt sich dabei vor allem um die konkludente Täuschung und die Täuschung durch Unterlassen. Beide Fallgruppen sollen im folgenden kurz dargestellt werden.

IV. Konkludente Tatsachenbehauptungen und Tatsachenbehauptungen durch Unterlassen Nach ganz h.M. 69 kann Betrug nicht nur durch explizite Tatsachenbehauptungen, sondern auch konkludent und durch Unterlassen begangen werden. Anders als beim Betrug durch ausdrückliche Tatsachenbehauptungen ist der Gedanke der Opfermitverantwortung in beiden Fallgruppen präsent. 70

I . Die konkludente Täuschung Nach der in der Lehre überwiegenden Meinung ist ein Vorspiegeln durch schlüssiges Verhalten (als Unterfall eines aktiven Tuns) dann zu bejahen, wenn der Täter zwar nicht ausdrücklich die Unwahrheit zum Ausdruck bringt, sie aber durch sein Verhalten "miterklärt".71 Ausschlaggebend soll dabei die Verkehrsanschauung sein, die jeweils in Bezug auf den konkret in Frage stehenden Geschäftstyp zu bestimmen sei. 72 Auch die Rechtsprechung folgt im wesentlichen dieser Linie; allerdings stellt sie stärker als die Lehre auf die gesetzlichen Tat-

67 Vgl. nur LK-Lackner, § 263 Rz. 91; Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 46; SK-Samson l Günther, § 263 Rz. 62, 53 ff. 68 LK-Lackner, § 263 Rz. 91 ; aus der Rspr. vgl. etwa OLG Köln, JZ 1968, 340; LG

Mannheim, NJW 1993, 1488.

69 Vgl. nur Tröndle, § 263 Rz. 7, II; Sch-Sch-Cramer § 263 Rz. 14- 17; SK-Samson l Günther, § 263 Rz. 27 ff, 40 ff, alle mwN. 70 Zur Betrugsrelevanz übertreibender Äußerungen im Bereich der Werbung, wo die h.M. ebenfalls die Mitverantwortung des Opfers berücksichtigt, vgl. Kapitel 8 II 2 mwN. 71

Maurach I Schroeder I Maiwald, BT 1, § 41 Rz. 39; Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 14.

72

Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 14.

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

67

modalitäten des § 263 StGB ab, also das Vorspiegeln, Entstellen und Unterdrücken von Tatsachen. 73 Das Ergebnis des skizzierten Abgrenzungsansatzes ist eine kaum noch übersehaubare und bisweilen auch widersprüchlich anmutende Kasuistik. 74 So hat der Bundesgerichtshofbeim Abschluß einer Spätwette, bei der der Kunde das Ergebnis schon kannte, Betrug verneint, 75 während bei Abschluß einer Rennwette nach vorheriger Bestechung einiger Reiter eine konkludente Täuschung bejaht wurde. 76 Bei der Entgegennahme einer Leistung trotz inzwischen eingetretener Zahlungsunfähigkeit soll eine konkludente Täuschung zu verneinen sein, 77 während die stillschweigende Verlängerung eines Hotelaufenthaltes durch einen inzwischen zahlungsunfähig gewordenen Gast vom Bundesgerichtshof als Betrug angesehen wurde. 78 Die Beispiele ließen sich vermehren. 79 Eine derartige Judikatur ist nicht geeignet, die Rechtssicherheit zu garantieren. Allerdings meint Cramer80 und mit ihm die im Schrifttum noch h.M., eine weitergehende Präzisierung der Unterscheidung zwischen konkludentem Tun und Unterlassen beim Betrug sei schon "wegen der Natur der Sache" unmöglich. 81 Die durch die Rechtsprechung entstandene Rechtsunsicherheit müsse deshalb akzeptiert werden. Einen anderen Abgrenzungsansatz hat Lackner82 vorgeschlagen. Er ist der Ansicht, der Kreis schlüssiger Täuschungen ließe sich nicht ohne weiteres durch den angeblichen Erklärungswert bestimmter Verhaltensweisen im Geschäftsverkehr umreißen, sondern müsse normativ festgelegt werden. Zunächst sei zu fragen, ob überhaupt ein Irrtum entstanden sei (faktische Komponente). In einem zweiten Schritt sei sodann zu untersuchen, ob dem Gegenüber eine Aufklärungspflicht zukomme (normative Komponente). 83 Grundsätzlich habe jeder am Geschäftsverkehr Beteiligte fiir sich selbst zu sorgen. So brauche etwa der Verkäufer 73 Vgl. etwa BGH NStZ 1982, 70; OLG DüsseldorfMDR 1969, 160; OLG Hamm NJW 1982, 1406. 74 Dazu umfassend Maurach I Schroeder I Maiwa/d, BT 1, § 41 Rz. 38 - 48; Sch-SchCramer, § 263 Rz. 16 - 17. 75 BGHSt 16, 120. A.A. noch RGSt 62, 416 sowie die in der Literatur h.M., vgl. nur Sch-Sch-Cramer § 263 Rz. 16 e mwN. 76 BGHSt 29, 167. 77 BGH bei Dallinger MDR 1973, 729; OLG Harnburg NJW 1969, 335. 78 BGH GA 1972,209. 79 Ein Überblick findet sich bei SK-Samson I Günther, § 263 Rz. 28- 34a. 80

Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 14.

Ebenso Maaß, GA 1984, 284. 82 LK-Lackner, § 263 Rz. 28 ff; ähnlich auch SK-Samson I Günther, § 263 Rz. 37 f; See/mann, NJW 1980, 2546 f; Tiedemann, FS Klug, Band 2, 405 - 417; ders.: FS Lackner, 743; Volk, JuS 1981, 880-883. 83 LK-Lackner, § 263 Rz. 29. 81

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Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

den Käufer, der eine Sache in der irrigen Erwartung kaufe, sie werde im Preis steigen, nicht über seinen Irrtum aufklären. 84 Jeder Teilnehmer am Geschäftsverkehr dürfe also grundsätzlich eine bessere Sachkenntnis zu seinen Gunsten ausnutzen. 85 Anders sei die Situationjedoch dann zu beurteilen, wenn ausnahmsweise das "Orientierungsrisiko" in anderer Weise verteilt sei, etwa dann, wenn in einer vertraglichen Beziehung eine Beratungspflicht enthalten sei, oder dann, wenn "das unerläßliche Maß an Redlichkeit im Geschäftsverkehr, das fiir jedermann verbürgt sein muß", unterschritten werde.86 Die Risikoverteilung wurzele letztlich in der Verkehrsanschauung. Für Lackners Vorschlag spricht, daß er die überaus fragwürdige Konstruktion eines einschlägigen faktischen Erklärungswertes bestimmter Verhaltensweisen vermeidet. 87 In vielen Fällen bleibt die Annahme eines konkludenten Erklärungswertes bloße Fiktion, die die zugrunde liegende Abschichtung der Verantwortungsbereiche, ohne die auch die h.M. nicht auskommen kann, verdeckt. Gerade die Verkehrsanschauung stützt sich nicht auf angebliche Erklärungswerte bestimmter Verhaltensweisen, sondern geht von einer bestimmten, in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ganz überwiegend akzeptierten Risikoverteilung bei den verschiedenen Geschäftstypen aus. Grundsätzlich dürfte deshalb Lackners Ansatz der h.M. überlegen sein. Zu Recht wurde allerdings darauf hingewiesen, daß das Strafrecht nicht in jedem Einzelfall eine bestimmte Verteilung des Irrtumsrisikos im Geschäftsleben vorfindet, sondern durch die Definition der schlüssigen Täuschung und die Festlegung ihrer einzelnen Voraussetzungen durchaus auch gestaltend in den rechtsgeschäftlichen Verkehr eingreift.88 Die Abschichtung der Risikosphären ist also nicht vorgegeben, sondern muß rechtlich bestimmt werden- eine Aufgabe, deren Lösung freilich bis jetzt nur in Ansätzen versucht wurde. 89 2. Täuschung durch Unterlassen

Nach h.M. kann ein Betrug durch Unterlassen auf zwei Weisen begangen werden, nämlich zum einen dadurch, daß das Entstehen eines Irrtums nicht verhindert und zum anderen dadurch, daß ein bereits entstandener Irrtum nicht 84

lbid.

85

Dazu auch Bocke/mann, FS Eb. Schmidt, 445 f; ders., ZStW 77 (1967), 32 f.

86

lbid.

87

So auch SK-Samson/Günther, § 263 Rz. 37.

88 SK-Samson/Günther, § 263 Rz. 37 mit Replik von LK-Lackner, § 263 Rz. 30. Kritik an Lackner übt auch Maaß, GA 1984, 266 f; dem folgend etwa Sch-Sch-Cramer, § 266 Rz. 15. 89 SK-Samson/Günther, § 263 Rz. 37.

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

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beseitigt wird.90 In beiden Fällen ist eine besondere Garantenpflicht des Täters erforderlich. Die gegen die h.M. erhobenen Bedenken91 haben sich nicht durchsetzen können. Für eine Strafbarkeit nach den §§ 263, 13 StGB ist daher die Reichweite der Garantenstellung von entscheidender Bedeutung. Dabei herrscht weitgehend Übereinstimmung, daß die Garantenpflichten nicht zu weit ausgedehnt werden dürfen.92 Diese Ansicht verdient schon deshalb Zustimmung, weil eine Rechtspflicht zur Aufklärung von Irrtümern im Kontext des § 263 StGB praktisch eine Vermögensbetreuungspflicht darstellt. Dadurch entstehen Abgrenzungsprobleme zu § 266 StGB. Ohne auf die damit aufgeworfenen Fragen hier im Detail eingehen zu können,93 dürfte doch unstrittig sein, daß nicht mit Hilfe der §§ 263, 13 StGB über die in § 266 StGB erfolgte Pönalisierung von Verletzungen einer Vermögensbetreuungspflicht hinausgegangen werden darf. 94 Zum anderen - und diesem Aspekt kommt in unserem Zusammenhang noch größere Bedeutung zu - wird eine Ausweitung der Aufklärungspflichten auch deshalb abgelehnt, um nicht "durch Überdehnung der Garantenpflichten jeden Vertragsbruch, der dem anderen Teil unbekannt bleibt, mit strafrechtlicher Sanktion[... ] versehen" zu müssen.95 Hier wird also, wie in den Anfangen der modernen Betrugsdogmatik, ausdrücklich zwischen einem allenfalls zivilrechtlich relevanten Vertragsbruch und einem strafrechtlich relevanten Betrug differenziert. Noch deutlicher zeigt sich der Versuch einer Trennung der Verantwortungsbereiche zwischen Täuschendem und Getäuschtem bei der Begründung der Garantenstellung aus "Treu und Glauben"(§ 242 BGB), die von der h.M.96 (über die allgemeinen Möglichkeiten einer Begründung von Garantenpflichten97 hinaus) angenommen wird. Eine stringente Anwendung der "Treu- und GlaubenFormel" setzt eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche voraus, die der Rechtsprechung allerdings bis heute noch nicht überzeugend gelungen ist. So soll nach BGHSt 6, 198 eine Aufklärungspflicht gegenüber dem Vorleistungspflichti90 LK-Lackner, § 263 Rz. 52 ff; Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 18 ff; SK-SamsoniGünther, § 263 Rz. 40 ff; differenzierend Maaß, GA 1984, 264 - 284. 91 Vgl. Bocke/mann, FS Eb. Schrnidt, 437; Grünwald, FS Mayer, 281- 303; Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 74 - 82. 92 Arzt I Weber, LH 3, Rz. 409; SK-Samson I Günther, § 263 Rz. 43. 93 Dazu etwa LK-Lackner, § 263 Rz. 68- 70, der zutreffend betont, daß eine allgemeine Vermögensfürsorgepflicht eine Aufklärungspflicht nicht ohne weiteres umfaßt. Ebenso Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 19 . 94 Samsan I Horn, NJW 1970, 596; See/mann, NJW 1981, 2132.

95

SK-SamsoniGünther, § 263 Rz. 43.

ROSt 70, 155; BGHSt 6, 198; Tröndle, § 263 Rz. 13, 23; LK-Lackner, § 263 Rz. 61 mwN. 97 In Täuschungsfällen relevant sind insbesondere die Garantenstellungen aus Gesetz oder Vertrag, vgl. dazu Baumann I Weber I Mitsch, AT, § 15 Rz. 52 - 76. 96

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

70

gen bestehen, wenn der andere Vertragspartner nach dem Vertragsabschluß in Vermögensverfall geraten ist. Aufklärungspflichten werden auch dann angenommen, wenn eine bestimmte Information für den Vertragspartner von ganz besonderer Bedeutung ist.98 Ansonsten wird in der Rechtsprechung meist- wenig aussagekräftig-auf "die besonderen Umstände des Einzelfalls" verwiesen. 99 Nach Haft 100 lassen sich für die Begründung einer Aufklärungspflicht aus "Treu und Glauben" drei Aspekte unterscheiden: der Schadensfaktor (die Nichtaufklärung verursacht erheblichen Schaden), der Wesentlichkeitsfaktor (dem Geschäftspartner kommt es erkennbar auf den verschwiegenen Umstand an) und der Unerfahrenheitsfaktor (der Partner ist erkennbar im Geschäftsverkehr ungeübt). Damit dürften die wichtigsten Umstände, die eine Garantenstellung aus "Treu und Glauben" entstehen lassen, erfaßt sein. Die Rechtsprechung zur Aufklärungspflicht nach § 242 BGB ist allerdings nicht unumstritten geblieben. Haft 101 weist daraufhin, daß das Geschäftsleben auf der Ausnutzung fremder Irrtümer geradezu beruhe; deshalb dürfe das Strafrecht den Verschlafenen nicht prämieren. Lackner102 will die Aufklärungspflicht aus "Treu und Glauben" auf eindeutige Ausnahmefalle beschränken. Andere Autoren lehnen die Rechtsprechung zur Garantenpflicht aus "Treu und Glauben" ganz ab. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, 103 die Nichtaufklärung eines Geschäftspartners über für dessen Entscheidung möglicherweise relevante Gesichtspunkte gehöre "in weiten Bereichen geschäftlichen und gesellschaftlichen Kontakts zum durchaus rechtmäßigen und allgemein geübten Verhalten". Deshalb würde durch die Anerkennung von strafbegründenden Offenbarungspflichten aus § 242 BGB strafbares und rechtmäßiges Verhalten "in einer im voraus nur noch vage unterscheidbaren Weise miteinander verzahnt". Die Diskussion um die konkludente Täuschung und die Täuschung durch Unterlassen zeigt, daß der Gedanke der Opfermitverantwortung und die von ihm geforderte Abschichtung der Verantwortungsbereiche von Täuschendem und Getäuschtem entgegen dem ersten Anschein zumindest in den Randgebieten der Betrugsdogmatik nach wie vor eine beträchtliche Rolle spielen. Dies gilt insbesondere für die Täuschung durch Unterlassen. Um nicht jede Unredlichkeit gegenüber dem Vertragspartner (bei Vorliegen der sonstigen Deliktsvoraussetzungen) als strafbaren Betrug qualifizieren zu müssen, bemüht sich die 98

LG Bremen, JZ 1967, 370.

OLG Köln NJW 1961, 1735; OLG DüsseldorfNJW 1969, 223; OLG Frankfurt NJW 1971, 527; OLG Köln NJW 1980,2366. 99

100

BT, S. 206.

101

lbid.

LK-Lackner, § 263 Rz. 65, 43. Deubner. NJW 1969, 623, der außerdem von einem "non plus ultra an Unbestimmtheit" spricht. Ähnlich Triffterer. JuS 1971, 183. 102

103

Kap. 5: Der Begriff der Tatsachenbehauptung seit 1871

71

Rechtsprechung hier um die Herausarbeitung besonderer Fallgruppen, bei denen die Opferbelange so schwer wiegen, daß sie eine Aufklärungspflicht des anderen Teils aus § 242 BGB zu begründen vermögen. In den folgenden Kapiteln wird zu zeigen sein, daß eine derartige Festlegung von Verantwortungssphären beijeder Täuschungshandlung durchgeführt werden muß und wie dieses Ziel durch bestimmte Modifikationen am Begriff der Tatsachenbehauptung erreicht werden kann.

V. Zusammenfassung Überblickt man die Diskussion im Zusammenhang, die seit der Schaffung des Reichsstrafgesetzbuches im Jahr 1871 zum Tatsachenbegriff geführt wurde, so fallen folgende Eigenheiten auf: 1. Die Diskussion um die Abgrenzung von strafbarem Betrug gegenüber erlaubten Unredlichkeiten im Geschäftsverkehr und um den Topos der Opfermitverantwortung nahm seit der Schaffung des preußischen Strafgesetzbuches stetig ab und versiegte etwa um die Jahrhundertwende ganz. Nur in Randgebieten der Betrugsdogmatik, wie etwa der Begründung einer Aufklärungspflicht durch "Treu und Glauben", spielt der Gedanke der Opfermitverantwortung weiterhin explizit eine Rolle. 2. In den Aussagen der Rechtslehre zum Tatsachenbegriffvon der Schaffung des Reichsstrafgesetzbuches bis heute läßt sich eine stark ausgeprägte Kontinuität feststellen, die bis in den Wortlaut reicht. Dieselbe Kontinuität zeichnet auch die Rechtspraxis aus. Der Bundesgerichtshof hat sich nach 1945 der Rechtsprechung des Reichsgerichts ohne weiteres angeschlossen. 3. Rechtslehre und Rechtsprechung befinden sich in fast allen Fragen in völliger Übereinstimmung. Dies gilt auch für Behauptungen über "zukünftige Tatsachen". Nach ganz h.M. können "innere Tatsachen" dem§ 263 StGB subsumiert werden. Es besteht ferner Übereinstimmung, daß Unmögliches Gegenstand einer Tatsachenbehauptung sein kann. 4. Die Begriffe "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" werden regelmäßig nicht auseinandergehalten. 5. Der Bereich der "Nicht-Tatsachen" bleibt außerordentlich unbestimmt. Ausdrücke wie "Werturteil" oder "Meinungsäußerung" werden in den unterschiedlichsten Bedeutungen verwendet. Eingehendere Analysen fehlen.

Kapitel 6: Der Tatsachenbegriff im Zivilrecht, im Öffentlichen Recht und im Recht des Strafprozesses - ein Überblick I. Der Tatsachenbegriff im Zivilrecht Im Zivilrecht wird die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen vor allem bei den§§ 824 und 123 BGB relevant. 1 Aber auch die Lehre von den Bedingungen,§§ 158 ffBGB, und insbesondere die Diskussion um die Rechtsbedingungen ist fiir die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen aufschlußreich. Vor allem die Rechtsprechung argumentiert deutlich funktional, d.h. mit Blick auf die jeweils als angemessen empfundenen Rechtsfolgen, und versucht nicht, die "erkenntnistheoretische[n] Abgründe"2 des Problems auszuloten. Im folgenden soll der derzeitige Meinungsstand anband einiger der Kommentar- und Lehrbuchliteratur entnommener Leitfälle und Stellungnahmen knapp zusammengefaßt werden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Definitionsvorschlägen und ihren Konsequenzen findet sich in Kapitel 9. 1. Der Tatbestand der Kreditgefiihrdung, § 824 BGB

Nach § 824 BGB macht sich schadensersatzpflichtig, wer "der Wahrheit zuwider eine Tatsache behauptet oder verbreitet, die geeignet ist, den Kredit eines anderen zu gefährden oder sonstige Nachteile fiir dessen Etwerb oder Fortkommen herbeizufiihren". Dies soll selbst dann gelten, wenn der Täter die Unwahrheit nicht kennt, aber kennen mußte. Durch diese Bestimmung wird die Geschäftsehre, der gute Ruf im Wirtschaftsleben, über§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. den§§ 185 ffStGB hinaus geschützt.3 Dabei wird allgemein der im Strafrecht entwickelte Tatsachenbegriff zugrunde gelegt. So heißt es schon in RGZ 101, 335 (337), eine Tatsachenaussage sei eine Aussage über ein äußeres oder inneres Geschehen der Vergangenheit oder Ge1 Das Wort "Tatsache" taucht in folgenden Bestimmungen des BOB auf: §§ 425, 432, 611a,824, 1758,2356,2358,2359. 2 Erman-Ehmann, Anhang zu§ 12, Rz. 129. 3 Zu den Motiven des Gesetzgebers vgl. BGH NJW 1963, 1871 = JZ 1964, 509 mit Anmerkung Deutsch. Weitere Nachweise bei Staudinger-Schäfer, § 824 Rz. 1.

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

73

genwart, das als solches grundsätzlich beweisbar ist. Ausdrücklich verweist das Gericht auf die strafrechtlichen Leitentscheidungen RGSt 41, 193 und RGSt 55, 129. Die heutige zivilrechtliche Rechtsprechung und Lehre folgen dieser Linie. 4 Die Voraussage künftiger Ereignisse wird grundsätzlich nicht als Tatsachenbehauptung angesehen. 5 Auch Schlußfolgerungen, etwa in einem wissenschaftlichen Gutachten, werden nicht als Tatsachenaussagen anerkannt.6 Dagegen sollen innere Vorgänge Gegenstand einer Tatsachenbehauptung sein können.7 Bei der Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen wird auf den Gesamteindruck abgestellt, den die Äußerung bei einem durchschnittlichen Adressaten erweckt.8 Deshalb soll stets auch der Kontext der Äußerung berücksichtigt werden. Überwiegt der Eindruck einer subjektiven Stellungnahme, so soll ein Werturteil vorliegen. Dies gilt auch dann, wenn der "Tatsachenkem" einer Äußerung nur ganz unbestimmt oder eines Beweises aus anderen Gründen unzugänglich ist.9 So stellenunsubstantiierte Äußerungen über den Wert gewerblicher Leistungen nach Ansicht der Rechtsprechung keine Tatsachenaussagen dar, 10 ebenso die Bezeichnung als "Mörder" oder "Schuft" (sofern nicht an eine überprüfbare Tatsachenbasis angeknüpft wird) 11 oder die nicht weiter ausgeführte Feststellung, eine Zeitschrift sei "auf Dummenfang" ausY Dagegen wurden Behauptungen wie, der Konkurrent schmiere Einkäufer, 13 die Authentizität bestimmter Memoiren sei zweifelhaft, 14 die Bezeichnung als Ausbeuter15 und die Qualifi4 BGHZ 3, 270 (273); BGH NJW 1965, 36; BGH NJW 1982, 2246; Palandt-Thomas, § 824 Rz. 2; RGRK-Steffen, § 824 Rz. 12; Staudinger-Schäfer, § 824 Rz. 14, alle mwN. Skeptisch allerdings MüKo-Mertens, § 824 Rz. 12. Larenz I Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II /2, S. 710 f stellen wie hier auf die empirische Überprüfbarkeit ab, allerdings ohne dieses Kriterium näher zu diskututieren.

5 RGSt67,

3; BayObLGZ 12, 177; OLG Köln, NJW 1962, 1121; MüKo-Mertens, § 824

Rz. 9; RGRK-Steffen, § 824 Rz. 13.

6 BGH LM BGB § 823 (Ah), Nr. 60 (Serie 1950- 1985); vgl. auch BGHZ 65, 325 zur Benotung von Produkten im Warentest 7 BGH LM BGB § 824 Nr. 1 (Serie 1950- 1985); Staudinger-Schäfer, § 824 Rz. 14 unter Berufung aufRGSt 55, 129. 8 BGH VersR 1994, 1123 und 1126; MüKo-Mertens, § 824 Rz. 14; RGRK-Steffen, § 824 Rz. 14. 9 BGHZ 45,296 (304); BGH LM BGB § 824 Nr. 18; BGH LM BGB § 1004 Nr. 75; GRUR 1969, 555; 1969, 624. 10 RGZ 101,335 (338); 154, 117 (125); BGH LM BGB 1004 Nr. 75; NJW 1965, 35; MDR 1969, 651. 11 RGZ 98, 36 (38); BGH NJW 1965, 294; BGH VersR 1974, 1080. · 12 BGHZ 45, 296. 13 BGH GRUR 1959,31. 14 BGH LM BGB § 824 Nr. 18 = GRUR 1975,89. 15 LG Essen JZ 1972, 89.

74

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

zierung als "Stasi-Helfer" 16 als Tatsachenbehauptungen eingestuft. Auch die Äußerung eines Verdachtes wurde als Tatsachenbehauptung angesehen. 17 Gelegentlich findet sich in der Literatur das Argument, eine Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen sei gar nicht möglich. So heißt es etwa bei Steffen 18 , "keine Tatsachen-Aussage" (sie) sei "ohne Wertung (die schon bei der Auswahl der Fakten einsetzt) denkbar". Sie sei deshalb ein "TatsachenUrteil". Auch habe jedes Werturteil eine Tatsachenbasis. Ersteres dürfte so zu verstehen sein, daß schon die Entscheidung darüber, ob man eine Tatsachenaussage abgeben möchte, und die Auswahl der mitgeteilten Fakten eine Wertung impliziert - ein Argument, daß übrigens schon gegen Max Webers Postulat der Wert(urteils)freiheit vorgebracht wurde. 19 Gerade im Zivilrecht ist die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen u.U. außerordentlich folgenreich, man denke nur an eventuelle Widerrufs- und Gegendarstellungsansprüche. Wenn Tatsachenaussagen und Werturteile tatsächlich nicht unterschieden werden könnten, müßte das Rechtsfolgensystem vollständig neu gestaltet werden, eine Aufgabe, die man nicht ohne trifftige Gründe auf sich laden sollte. Es ist selbstverständlich zutreffend, daß bereits die Auswahl eines bestimmten Themas und die Entscheidung, sich in einer bestimmten Form zu äußern, häufig auf einer Wertung beruhen. 2°Kaum nachvollziehbar ist aber, warum dies daran hindern sollte, die Äußerungen selbst in solche, die werten, und solche, die nicht werten, zu unterteilen. So mag die Entscheidung, über ein bestimmtes Geschehen als Zeuge zu berichten, durchaus auf einer eigenen Wertung beruhen (freilich muß dies nicht der Fall sein, vgl. § 51 StPO). Dies ändert aber nichts an der Möglichkeit, sich bei der Zeugenaussage allein auf eine Beschreibung des Geschehenen zu beschränken und eigene Wertungen ("Ich halte den Angeklagten sowieso fiir einen üblen Halunken") zurückzustellen. Wer schon die Entscheidung, sich zu äußern, ausreichen läßt, um die Äußerung als Werturteil zu qualifizieren, müßte konsequenterweise alle willensgesteuerten Äußerungen, auch Fragen, Befehle etc., als Werturteile ansehen - ein offenkundig unsinniges Ergebnis. Ein weiteres, möglicherweise hinter Steffens These stehendes Argument gegen die Unterscheidbarkeit von Tatsachenaussagen und Werturteilen lautet, daß bei vielen Äußerungen unklar ist, welcher der beiden Kategorien sie zuzuordnen ist. 16

OLG Hamburg, ZIP 1992, 117.

17

BGH NJW 1951, 352; 1978, 751.

18

RGRK-Steffen, § 824 Rz. 12; dem folgend z.B. Wolter, Der Staat 1997,439.

Vgl. nur Webers Gutachten zur Werturteilsdiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik 1913, in: Max Weber- Werk und Person, 113. Die verschiedenen Facetten des Werturteilsproblems wurden am klarsten von Hans Albert herausgearbeitet, dazu Hilgendorf, Hans Albert zur Einfiihrung, 115- 129. 19

20 Vgl. auch den Katalog von"Wertbezügen wissenschaftlicher Arbeit" bei Prim I ntmann, Grundlagen einer kritisch-rationalen Sozialwissenschaft, 104 ff.

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

75

Daß die Interpretation vieler Äußerungen in der Tat unsicher ist, liegt auf der Hand. Dies ändert aber nichts an der begrifflichen Trennbarkeif von Tatsachenaussagen und Werturteilen: Tatsachenaussagen beschreiben die Welt und können demzufolge wahr oder falsch sein, Werturteile drücken eine persönliche Stellungnahme aus und sind deshalb nicht wahrheitsfähig. 21 Etwa auftretende Interpretationsprobleme müssen durch Auslegung der entsprechenden Äußerung gelöst werden. 2. Der Tatbestand der Anfechtung wegen Täuschung oder Drohung, § 123 BGB

Bei der arglistigen Täuschung gern.§ 123 BGB wird ebenfalls allgemein eine Täuschung über Tatsachen verlangt. 22 Dabei werden unter "Tatsachen" "objektiv nachprüfbare Umstände"23 verstanden. Die Rechtsprechung hat§ 123 BGB bejaht bei der Täuschung über den Kilometerstand eines Wagens24 oder über das Alter eines Teppichs25, aber auch bei der Anpreisung eines Produkts als "neuartig und aufsehenerregend"26 und bei Angaben eines Mieters über die Eigentumslage an den eingebrachten Sachen27 • Dagegen soll die Bezeichnung als "Vorfiihrgerät" keine Tatsachenbehauptung darstellen. 28 Das Fordern eines überhöhten Preises soll keine implizite Tatsachenbehauptung über die besondere Qualität der fraglichen Sache enthalten.29 Auch über die eigene Zahlungs- und Erfiillungsabsicht, also eine "innere Tatsache", kann i.S.d. § 123 BGB getäuscht werden. 30 In älteren Entscheidungen hat das Reichsgericht das Äußern einer Rechtsansicht als Tatsachenbehauptung angesehen. 31 Werturteile werden allgemein nicht unter§ 123 BGB subsumiert32, ebensowenig übertreibende Anpreisungen und marktschreierische Reklame. AlDazu oben Kapitel 1 III und ausführlich Kapitel 9 und 13. Erman-Brox, 123 Rz. 11 ; Staudinger-Dilcher, § 123 Rz. 3. 23 Staudinger-Dilcher, § 123 Rz. 3 mwN. Soerge/-Hefermeh/, § 123 Rz. 3, stellt sogar primär auf das Vorliegen "objektiv nachprüfbarer Umstände" ab und erklärt den Begriff der Tatsache für "zu eng". 24 BGH NJW 1960,237. 25 BGB Betrieb 1977, 671. 26 OLG Frankfurt Betrieb 1965, 1812 f. 21 LG Hannover ZMR 1966, 76. 21

22

28

OLG Nümberg BB 1966, 1081.

29

OLG Stuttgart JR 1966, 273.

30

BGH LM 12 zu§ 123 BGB. Weitere Nachweise bei Staudinger-Dilcher, § 123 Rz. 5.

31

So z.B. RG LZ 1926, 324 f.

32

Vgl. nur Palandt-Heinrichs, § 123 Rz. 3 mwN.

76

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

lerdings hat die Rechtsprechung gelegentlich auch Werbeaussagen als Tatsachenbehauptungen qualifiziert. 33 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Tatsachenbegriff bei den §§ 824 und 123 BGB im wesentlichen wie im Strafrecht verwendet wird. Als Faustformel zur Abgrenzung von Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen wird wie im Strafrecht auf die Beweisbarkeit von Tatsachenbehauptungen abgestellt. 34 3. Bedingungen als Tatsachenaussagen? Interessant ist die Frage, ob Bedingungen i.S.v. § 158 BGB als Tatsachenbehauptungen aufgefaßt werden können. Eine Bedingung i.S.v. § 158 BGB ist eine durch den Parteiwillen zum Geschäftsinhalt erhobene Bestimmung, welche die Rechtswirkungen des Geschäfts von einem künftigen, zum Zeitpunkt der Vereinbarung noch ungewissen Ereignis abhängig macht. 35 Offenkundig kann im Kontext der oben angegebenen Definition statt von einem "künftigen Ereignis" ohne weiteres auch von einer "künftigen Tatsache" gesprochen werden, über deren Eintreten freilich keine Sicherheit bestehen muß. 36 Problematischer ist die Situation bei den sog. "Rechtsbedingungen".37 Als Rechtsbedingungen bezeichnet man alle gesetzlichen Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Rechtsgeschäfts. 38 Die §§ 158 ff BGB gelten für sie nicht. Die allgemein übliche Unterscheidung zwischen tatsächlichen Bedingungen (also solchen, die unter die§§ 158 ffBGB fallen) und Rechtsbedingungen39 könnte so verstanden werden, daß eine Rechtsbedingung die Rechtswirkungen nicht von einer Tatsache, sondern von etwas anderem abhängig macht. Doch dieser Schein trügt, wie man leicht erkennt, wenn man eine typische Rechtsbedingung wie die vormundschaftliche Genehmigung nach § 1822 BGB betrachtet. Ob das Vormundschaftsgericht eine Genehmigung erteilt oder nicht, ist ersichtlich eine Tat33 OLG Stuttgart, Betrieb 1962, 94. Weitere Nachweise bei Soergel-Hefermeh/, § 123 Rz. 3. 34 Dazu zuletzt Haager, AcP 196 (1996), 214 mwN. 35 RGRK-Steffen, Vorbem. zu§ 158, Rz. 1; Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu§§ 158 ff, Rz.4. 36 Man beachte aber, daß die Behauptung einer derartigen "künftigen Tatsache" eine Prognose ist und deshalb nach h.M. grundsätzlich keine Tatsachenaussage darstellt. Anders aber unten Kapitel 11. 37 Dazu Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu §§ 158 ff Rz. 19 - 23 mit zahlreichen Nachweisen. 38 Staudinger-Dilcher, Vorbem. zu§§ 158 ff, Rz. 20. 39 So z.B. Staudinger-Dilcher, Vorbem. §§ 158 ffRz. 19.

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

77

sachenfrage; liegt eine Genehmigung vor, so handelt es sich um eine Tatsache. Allgemein läßt sich somit sagen, daß auch Rechtsbedingungen die Wirkungen einer Vereinbarung von bestimmten Tatsachen abhängig machen, nämlich davon, ob die tatsächlichen Voraussetzungen bestimmter Rechtsnormen erfüllt sind. Ob eine bestimmte gesetzliche Wirksamkeitsvoraussetzung vorliegt, ist also stets eine Tatsachenfrage.

4. Der Begriff,. Tatsache" nach dem UWG § 14 UWG regelt die sog . .,Anschwärzung" zu Zwecken des Wettbewerbs durch unwahre Tatsachenbehauptungen. In der wettbewerbsrechtlichen Literatur ist anerkannt, daß der Begriff der Tatsachenbehauptung ebenso auszulegen ist wie bei § 824 BGB.40 Hefermehl definiert .,Tatsache" i.S.v. § 14 UWG als ,jede[n] äußere[n] oder innere[n] Vorgang, der objektiv nachprüfbar ist". 41 Dementsprechend soll eine Tatsachenbehauptung dann vorliegen, .,wenn der Inhalt einer Äußerung auf ihre Wahrheit hin objektiv nachgeprüft werden kann".42 Auch innere Tatsachen sollen Gegenstand einer Tatsachenbehauptung i.S. v. § 14 UWG sein können. 43 Werturteile sind für Hefermehl solche Urteile, die in besonderem Maß subjektiv geprägt sind.44 Der Begriff ist seiner Ansicht nach gradueller Abstufung fähig und daher wenig bestimmt: .,Ob [ein ...] Urteil mehr oder weniger subjektiv ausfällt, mehr oder weniger, Werturteil' ist, hängt von vielen objektiven und subjektiven Umständen ab". 45 Werturteil ist für Hefermehl etwa eine Aussage darüber, ob es warm oder kalt ist. 46 In der Rechtsprechung zu§ 14 UWG hat man u.a. folgende Äußerungen als Tatsachenbehauptungen angesehen: Eine Ware sei wertlos,47 die Firma habe von den Betrügereien ihres Reisenden gewußt,48 es sei in betrügerischer Weise falsche 40 Vgl. nur Hefennehl, vor§§ 14, 15 Rz. 29. Im UWG findet sich das Wort "Tatsache" in den§§ 8, 14 und 15. 41 Hefenneh/, § 14 Rz. 4. Dagegen soll eine "Tatsache im philosophischen Sinn" ein "äußerer oder innerer Vorgang in seiner objektiv richtigen Gestalt" sein, a.a.O., Rz. 3. Leider erläutert Hefennehl nicht, was er unter der "objektiv richtigen Gestalt" eines Vorgangs verstehen möchte. 42 Hefenneh/, § 14 Rz. 4. 43 lbid. 44 Hefennehl, § 14 Rz. 3. 45 Ibid. 46 lbid. Vgl. auch das Kaffeebeispiel Wenzels, wiedergegeben in Kapitel 7 III. 47 RG MuW 1920, 159. 48 RGZ 95, 340.

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

78

Ware geliefert worden,49 ein Mitbewerber schmiere Einkäufer,5° die Authentizität bestimmter Memoiren sei nicht sichergestellt. 5 1 Dagegen wurde die Behauptung, jemand komme als Gutachter nicht in Frage, als Werturteil angesehen. 52 Hochgradig unsubstantiierte Äußerungen sollen Werturteile sein,53 ebenso Schlußfolgerungen. 54 Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Begriffe "Tatsache" und "Tatsachenbehauptung" im UWG in derselben Weise verwendet werden wie im BGB und im StGB. Insbesondere der Ausdruck "Werturteil" bleibt auch im Recht des unlauteren Wettbewerbs sehr unscharf; zwischen Werturteilen und Meinungsäußerungen wird nicht unterschieden. Interessant ist das Kriterium der objektiven Nachprüfbarkeit, das Hefermehl zur Auszeichnung von Tatsachen bzw. Tatsachenbehauptungen vorschlägt. Leider führt Hefermehl nicht weiter aus, unter welchen Bedingungen er von einer "objektiven Nachprüfbarkeit" sprechen möchte. Ob und inwieweit dieses Kriterium über die traditionellen Definitionsansätze hinausgeht, wird noch ausführlich zu untersuchen sein. 55 Im neuen Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) vom 26. Juli 199456 spielt der Begriff "Insidertatsache" in den §§ 13 und 14 i. V.m. § 38 Abs. 1 Nr. 2 eine zentrale Rolle, ohne daß bisher Einigkeit über den wesentlichen Inhalt dieses Begriffs hätte erzielt werden können. 57 § 13 Abs. 1 WpHG, wo der Begriff der "Insidertatsache" definiert wird, setzt offenbar den allgemeinen Tatsachenbegriff voraus; andererseits wird in § 13 Abs. 2 festgelegt, eine "Bewertung, die ausschließlich aufgrundöffentlich bekannter Tatsachen erstellt wird", sei keine Insidertatsache. Daß Bewertungen nicht Tatsachenqualität besitzen können, ergibt sich jedoch ohne weiteres schon aus dem üblichen Tatsachenbegriff; die gesetzliche Regelung war deshalb überflüssig. 58 Einmal mehr zeigt sich hier, wie wichtig eine grundlegende Klärung der Begriffe "Tatsache", "Tatsachenaussage" und "Werturteil" ist.

49

OLG Dresden MuW 1926,214.

50

BGH GRUR 1959,31.

51

BGH GRUR 1975,89.

52

RG JW 1921, 1530; a.A. Hefermehl § 14 Rz. 6.

BGH GRUR 1969, 555 mit Anmerkung Micheli; es ging dabei um Äußerungen wie "Unter phantastischen Anpreisungen verhökern sie selbst wertlose Stoffe mit beträchtlichem Gewinn". 53

54

RG MuW 1939,240.

55

Dazu unten Kapitel9.

56

57

In Kraft getreten am 1.1.1995, vgl. BGBI. I 1749. Dazu etwa Assmann, AG 1997, 50f; Cramer, FS Tri.ffterer, 329 - 336.

58

Vgl. Cramer, FS Tri.ffterer, 331 f.

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

79

II. Der Tatsachenbegriff im Öffentlichen Recht

Im Öffentlichen Recht wird die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen vor allem bei Artikel 5 GG relevant. Nach Artikel 5 Abs. I Satz I GG hat jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Im Lüth-Urteil59 hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf freie Meinungsäußerung als "fiir eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung [...]schlechthin konstituierend" bezeichnet, denn es ermögliche erst "die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist". Das Recht auffreie Meinungsäußerung sei "in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt". 60 Zwischen den individuellen Persönlichkeitsrechten und der Freiheit des öffentlichen Meinungskampfes besteht ein deutliches Spannungsverhältnis,61 das nicht zuletzt in dem "Soldaten-sind-Mörder-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts62 deutlich zutage getreten ist. Da die Meinungsäußerung als Grundlage und Mittel jeder geistigen Auseinandersetzung geschützt wird, ist Gewaltanwendung durch Art. 5 Abs. I Satz I GG nicht mehr gedeckt. 63 Ansonsten wird der Begriff "Meinung" aber sehr weit verstanden. 64 Nach BVerfGE 30, 336 (352) handelt es sich um eine Meinungsäußerung dann, wenn "ein Werturteil, eine Ansicht oder Anschauung bestimmter Art zum Ausdruck kommt". Nach BVerfGE 6I, I (9) liegt eine Meinungsäußerung vor, wenn eine "Äußerung durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafiirhaltens oder Meinens geprägt ist" .65 In einer jüngeren Entscheidung sieht das Gericht Werturteile durch eine "subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage" gekennzeichnet, während fiir Tatsachenbehauptungen eine "objektive Beziehung zwischen Äußerung und Wirklichkeit" charakteristisch sei.66

59 BVerfGE 7, 198 (208). Für einen Überblick über die Rechtsprechung des BVerfG vgl. Timm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 18-25.

60

lbid.

61 Dazu schon Rüthers, FS Löffler, 303 - 317; ausjüngerer Zeit Müller, AfP 1997,499

- 503.

62 BVerfGE 93,266 mit Anm. Otto, NStZ 1996, 127. Vgl. auch Otto, Jura 1997, 146 f. 63

BGH NJW 1984, 1226 (1229).

BVerfGE 61, 1 (9); NJW 1992, 1439 (1440); vgl. auch Grimm, NJW 1995, 1698 ff sowie Wo/ter, Der Staat 1997,426-450. 64

Ebenso BVerfG NJW 1992, 1439 (1440); NJW 1993, 916; NJW 1997,2513 (2514). BVerfG NJW 1996, 1529 mit Anmerkung von Seitz, NJW 1996, 1518 ff; ähnlich Grimm, NJW 1995, 1698. 65

66

80

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Eine wichtige Quelle dieser Rechtsprechung bildet die Definition von Man goldts und Kleins61 , die bereits Mitte der 50er Jahre den Begriff der Meinungsäußerung mit "Stellungnahmen, Wertungen, wertende Urteile, Werturteile, Beurteilungen, Einschätzungen, wertende Ansichten, Anschauungen oder Auffassungen u.ä." umschrieben. Diese Begriffsbestimmung ist außerordentlich unbestimmt und damit wenig trennscharf. Es fehlt vor allem eine klare Bestimmung dessen, was nicht mehr unter "Meinungsäußerung" bzw. "Werturteil" fallen soll. Als Faustregel zur Feststellung einer Tatsachenbehauptung rekurriert die Rechtsprechung auch bei Art. 5 GG auf die Beweisbarkeit der fraglichen Äußerung.68 Schon früh ha:t das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß eine Unterscheidung nach "wertvollen" und "wertlosen" Ansichten unzulässig ist: "Eine Differenzierung nach der sittlichen Qualität der Meinungen oder ihrer Wirkung auf andere wäre [...] unvereinbar mit der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts; abgesehen davon wäre die Abgrenzung von ,wertvollen' und ,wertlosen' Meinungen schwierig, ja oftmals unmöglich".69 Auch Tatsachenbehauptungen hat das Bundesverfassungsgericht in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG aufgenommen. 70 Daraus ergibt sich, daß für die Herausarbeitung von Kriterien für die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Wertungen im Rahmen von Art. 5 GG kein so dringendes Bedürfnis besteht wie im Zivil- und Strafrecht. Äußerungen, in denen wertende und tatsächlich-beschreibende Elemente gemischt auftreten, sollen insgesamt dem Art. 5 Abs. 1 unterfallen.71 Die geschützten Behauptungen müssen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht objektiv wahr sein, aber doch (subjektiv) wahrhaftig. Eine bewußt unwahre Tatsachenbehauptung wird durch Art. 5 Abs. 1 GG nicht mehr gedeckt. 72 Manche Autoren wollen die Unterscheidung ganz aufgeben, weil sie angeblich undurchführbar sei. So ist nach Ingo von Münch "eine scharfe Abgrenzung 67 Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl. (1957), Art. 5 Anm. III 1. Dem folgend z.B. v. Münch, GO-Kommentar, Art. 5 Rz. 5. 68

Vgl. nur BGH NJW 1997, 1148 (1149) mwN.

BVerfGE 30, 336 (347); vgl. auch BVerfGE 33, 1 (15), wonach "in einem pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefiige jede Meinung, auch die von etwa herrschenden Vorstellungen abweichende, schutzwürdig" ist. Ebenso BVerfG NJW 1992, 1439 (1440); NJW 1993, 916 sowie Grimm, NJW 1995, 1698. 69

70 BVerfGE 61, 1 (8): Tatsachenmitteilungen sind geschützt, "weil und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen sind". Ebenso die h.L., vgl. nur Maunz-DürigHerzog, Art. 5 Rz. 50 ff, beide mwN. Ablehnend dagegen noch Ridder; in: Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Band 2, 264.

71

Dazu ausfUhrlieh T!mm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 44-47.

BVerfGE 61, 1 (8); BVerfG NJW 1992, 1439 (1440); NJW 1993, 916; BGH NJW 1965, 295; vgl. auch BayObLG JR 1995,216 mit Anm. Otto; Grimm, NJW 1995, 1699. 72

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

81

zwischen Tatsachenmitteilung und Meinungsäußerung nicht möglich, zumal selbst die reine Tatsachenmitteilung die wertende Meinung ,mitteilenswert' enthält". Auch sei nicht einzusehen, "warum mehr objektive Mitteilungen weniger Schutz genießen sollen als mehr subjektive". 73 Dem ist entgegenzuhalten, daß die positive Wertung bestimmter Tatsachen (etwa als "mitteilenswert") es keineswegs ausschließt, Behauptungen über diese Tatsachen von Meinungsäußerungen und Werturteilen abzugrenzen. Ob wir eine Tatsachenbehauptung als mitteilenswert erachten oder nicht, ändert nichts an ihrem Charakter als Tatsachenbehauptung.74 Bemerkenswert ist die Qualifizierung von Tatsachenbehauptungen als "mehr objektiv". Hier taucht wieder das Moment der persönlichen und damit nicht hinreichend "objektiven" Stellungnahme auf, das Meinungen kennzeichnen soll. Auch Roman Herzog ist der Ansicht, daß sich Tatsachenaussagen und Werturteile nicht trennen lassen. Er argumentiert wie folgt: "Einerseits gibt es wohl kaum ein fundiertes Werturteil, in das nicht ein mehr oder minder erhebliches Tatsachenwissen einfließt, ohne daß das eine vom anderen irgendwie getrennt werden könnte. Andererseits ist auch keine vonjedem eigenen Werturteil des Berichtenden losgelöste Berichterstattung denkbar". 75 Schon "die Art und Weise, in der ein Bericht in den Massenkommunikationsmitteln aufgemacht wird, die Art der Plazierung in den Nachrichten, die Gestaltung der Überschrift, der Tonfall des Sprechers usw.,ja selbst die Tatsache, daß ein bestimmter Bericht überhaupt der Aufnahme in eine Zeitung oder in ein Rundfunk- und Fernsehprogramm für würdig erachtet wird", enthalte "Werturteile, die von der reinen Berichterstattung schlechterdings nicht zu trennen" seien. 76 Es gebe "keinen Menschen, der imstande wäre, auch die geringfügigste Tatsache ohne irgendeine persönliche Regung zu referieren". 77

Herzogs Argument überzeugt nur zum Teil. Es ist selbstverständlich, daß der Entschluß, eine bestimmte Tatsachenaussage abzugeben, sie in bestimmter Form zu gestalten usw. auf einer "persönlichen Regung" beruht. So mag bei allen oder doch sehr vielen Tatsachenaussagen eine persönliche Regung des Sprechers mit im Spiele sein, entweder offen erkennbar oder aber latent. Außerdem besteht stets die Möglichkeit, daß die Adressaten mit einer Tatsachenaussage bestimmte Wertungen oder "persönliche Regungen" assoziieren, also etwa beim Sprecher gar nicht vorhandene Wertungen vermuten. Ebenso ist es ohne weiteres möglich, daß eine- an sich neutrale - Tatsachenmitteilung vom Empfänger sofort und unmittelbar mit einem eigenen Wertakzent versehen wird. 73 VonMünch, GO-Kommentar Band 1, Art. 5 Rz. 6. 74 Vgl. oben 11 zur Argumentation Steffens. 75 Maunz-Dürig-Herzog, Art. 5 Abs. I, II, Rz. 51 . 76 1bid. unter Berufung aufBVerfGE 12,205 (260) und 31, 314 (326). 77

1bid.

6 Hilgendorf

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

82

Alles dies zwingt aber nicht dazu, den begrif]lichen Unterschied zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen preiszugeben.78 Übrigens setzt Herzog selbst die Unterscheidbarkeit von Tatsachenaussagen und Werturteilen voraus, wenn er - im Einklang mit dem oben Ausgefiihrten - einige Zeilen weiter dafiir plädiert, den Meinungsbegriff des Artikel 5 GG über die Mitteilung von Werturteilen hinaus auch auf die Weitergabe von Nachrichten, also von Tatsachenaussagen, zu erstrecken. 79 Diese Ausweitung des Meinungsbegriffes wäre nicht erforderlich, wenn Meinungen bzw. Werturteile einerseits und Tatsachenbehauptungen andererseits gar nicht unterschieden werden könnten. Bemerkenswert ist ferner, daß Herzog offensichtlich "persönliche Regungen" mit Werturteilen gleichsetzt. Nach herkömmlicher Auffassung ist ein Werturteil ein Urteil, also ein sprachliches Gebilde mit einer besonderen logischen Form.80 Einer bloßen "persönlichen Regung" - also etwa Gellihlen der Mißbilligung oder des Lobes, der Angst oder der Freude - kommt kein Urteilscharakter zu. Hier zeigt sich erneut die große terminologische Unsicherheit, welche die gesamte Diskussion um die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen auszeichnet. Ob auch kommerzielle Werbung durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt ist, ist umstritten.81 Wenn man davon ausgeht, daß sowohl Tatsachenaussagen als auch Meinungsäußerungen von Art. 5 Abs. 1 GG erfaßt werden, muß die Frage wohl bejaht werden. 82 Der begriffliche Charakter einer Tatsachenaussage ändert sich nicht dadurch, daß mit ihr kommerzielle Zwecke verfolgt werden. Auch öffentliche Kritik wird durch Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt. 83 Dagegen kann sogenannte "Schmähkritik" nach Ansicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung einen rechtswidrigen Angriff auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb bedeuten. 84 Die Grenzen, innerhalb derer Kritik geübt werden darf, werden aber von der Judikatur durchaus großzügig gehandhabt, insbesondere dann, wenn die

78 Eingehende Erörterungen über den begrifflichen Unterschied zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen und zum deskriptiven Bestandteil von Werturteilen finden sich in Kapitel 13. Maunz-Dürig-Herzog, Art. 5 Abs. I, II GG, Rz. 55. 80 Vgl. oben Kapitel 4 II. 81Bejahend BVerfGE 30, 336 (352); vgl. aber auch BVerfGE 40, 371 (382), wo Wirt79

schaftswerbung nicht unter Art. 5 Abs. 1 GG subsumiert wird. Skeptisch auch Oppermann, FS Wacke, 395 ff.

82 So auch von Mangoldt I Klein-Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1, 2 Rz. 18. Vgl. BGHZ 65, 325 (331). BGHZ 45, 296; 65, 333; BGH NJW 1981, 2117. Zur Schmähkritik vgl. auch LG Berlin, NJW 1997, 1371 (mit einer nicht mehr überzeugenden extensiven Ausdehnung der Meinungsfreiheit). 83

84

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

83

kritischen Äußerungen eine fiir die Öffentlichkeit in besonderem Maße bedeutsame Frage betreffen85 111. Die Abgrenzung von Tatsachenausssagen und Werturteilen im Strafprozeßrecht Es ist hier weder möglich noch erforderlich, alle Probleme, bei denen Begriffe wie "Tatsache" oder "Werturteil" im Prozeßrecht relevant werden, zu untersuchen.86 Stattdessen möchte ich nur kurz auf die zwei wichtigsten Vorkommnisse des Tatsachenbegriffs im Strafprozeßrecht87 eingehen, nämlich den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO und die vor allem im Revisionsrecht bedeutsame Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage.

1. .,Neue Tatsachen" i.S.v. § 359 Nr. 5 StPO Nach§ 359 Nr. 5 StPO ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, wenn dieser bestimmte "neue Tatsachen" beibringen kann. "Tatsachen" werden dabei verstanden als "existierend feststellbare Vorgänge oder Zustände[... ], die der Gegenwart und der Vergangenheit zugehören". 88 Es handelt sich hier offensichtlich um den im materiellen Strafrecht entwickelten Tatsachenbegriff. Im Schrifttum wird der Ausdruck "Tatsache" überwiegend gar nicht erläutert, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt.89 Allgemein wird betont, daß der Begriffweit zu verstehen sei. 90 Welche "neuen Tatsachen" zur Erreichung der

85

Speziell zum Boykottaufruf Lerche, FS Müller, 197-215.

86 In der ZPO taucht der Ausdruck in den§§ 132, 138, 139, 236, 288, 291, 292, 334,

359,360,371,373,376,383,385,386,389,404a,414,418,424,425,431,435,445,446, 447,448,450,452,455,487,490,493,519,554,561,570,581,588,589,590,592,595, 616, 617, 640d, 726, 900, 980, 1007 auf. Zum Begriff "Tatsache" im Zivilprozeßrecht vgl. Rosenberg-&hwab-Gottwald, Zivilprozeßrecht, 113. In der VwGO findet sich der Ausdruck "Tatsache" in den§§ 60, 82, 87b, 108, 124, 128, 130, 131 und 139. 87 Vgl. auch die§§ 33, 45, 53, 54, 56, 66b, 68a, 68, 81a, 85, 99, lOOa, 100c, 103, 110a, 111, 111o, 112, 112a, 114, 115, 123, 136, 138a, 138b, 163d, 163e, 172, 174,211, 219, 222b,244,245,246,250,253,267,311,344,352,359,364b,373a,389,431,440,453c, 454a, 459c, 459a, 462 StPO. 88 LR-Gössel, § 359 Rz. 58; ebenso Henkel, Strafverfahrensrecht, 263. 89 So etwa bei Kleinknecht-Meyer, § 359 Rz. 22; Ranft, Strafprozeßrecht, 512; Schlüchter, Strafverfahren, Rz. 770.1 ff. 90 KK-Meyer-Goßner, § 359 Rz. 17; Wasserburg, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 302. 6*

84

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Wiederaufnahmeziele91 zugelassen werden sollen, ist im einzelnen umstritten92, braucht im vorliegenden Zusammenhang aber auch nicht weiter untersucht zu werden. Stattdessen sollen kurz die Vorschläge zur Sprache kommen, die Peters zu der Ausdifferenzierung des Tatsachenbegriffs in § 359 Nr. 5 StPO gemacht hat.93

Peters unterscheidet Sachverhaltstatsachen, Beweistatsachen, wissenschaftliche Tatsachen, Rechtstatsachen und Prozeßtatsachen. Sachverhaltstatsachen betreffen den festgestellten Sachverhalt. Sie unterfallen in die Haupttatsachen, die entweder den äußeren Tathergang oder die inneren Tatvoraussetzungen wie Vorsatz usw. betreffen, und die Nebentatsachen, also insbesondere Indizien äußerer oder innerer Art. 94 Beweistatsachen (Peters spricht auch von Beweismitteltatsachen) nennt Peters "solche Umstände, die den Wert eines Beweismittels berühren".95 So sind etwa fiir die Glaubwürdigkeit einer Aussage ihre Entstehung und Entwicklung, ihr Realitätsgehalt, Aussagezusammenhänge und die Persönlichkeit des Aussagenden von besonderer Bedeutung. Wissenschaftliche Tatsachen sind die durch die empirischen Wissenschaften gewonnenen Fakten und Regeln, sofern sie allgemein anerkannt sind. Auch die Denkgesetze zählt Peters dazu. Eine weitere Klasse von Tatsachen sind die Rechtstatsachen. Nach Peters haben sie die Existenz eines Rechtssatzes zum Gegenstand: "Die Rechtsregel hat Existenz im geistigen Raum. Sie ist jedoch nur dann eine Tatsache, soweit sie von einer subjektiven Bewertung unabhängig ist. Wie jede Tatsache, muß auch die Rechtstatsache Allgemeingültigkeit haben.[ ...] Was erst durch Überlegungen und Ableitungen gewonnen werden kann, ist keine Tatsache".96 Als Beispiele fiir Rechtstatsachen nennt Peters Beweismittelverbote, die Verbote des § 136 a StPO, fehlende rechtliche Verhandlungsgrundlagen und den Verstoß gegen eindeutige Normen. Prozeßtatsachen schließlich sind "solche Umstände, die dem Richter die Möglichkeit des Sachurteils erst geben". Es handelt sich um die Prozeßvoraussetzungen und die Prozeßhindernisse.97

Peters Ausdifferenzierung des Tatsachenbegriffs überschreitet nicht die dem materiellen Strafrecht entstammende Grunddefinition, wonach "Tatsachen" als objektiv existierende Vorgänge oder Zustände der Gegenwart oder Vergangenheit 91 Dazu LR-Gösse/, § 359 Rz. 54 f. 92 Vgl. etwa KK.-Meyer-Goßner, § 359 Rz. 18 ff; LR-Gösse/, § 359 Rz. 59 ff; Schlüchter, Strafverfahren, Rz. 770.1 ff. 93Peters, Strafprozeß, 673 f; ausfiihrlich ders., Fehlerquellen im Strafprozeß, 3. Band, 55 -71. 94 Peters, Strafprozeß, 674. 95 Ibid. 96 1bid. 97 lbid.

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

85

bestimmt werden, die sinnlich wahrnehmbar und dem Beweis zugänglich sind. 98 Der überlieferte Tatsachenbegriff wird vielmehr in überzeugender Weise nach den Bedürfnissen des Wiederaufnahmeverfahrens in bestimmte Unterbegriffe zergliedert. Besonders bemerkenswert ist die Zulassung von "Rechtstatsachen" im Sinne der Existenz von Rechtsregeln. Wie wir oben gesehen hatten, werden Rechtsbehauptungen von der im materiellen Strafrecht h.M. grundsätzlich nicht als Tatsachenaussagen qualifiziert. Hier zeigt sich ein unterschiedliches Verständnis des Tatsachenbegriffs, das eine ausführlichere Auseinandersetzung verdient.99 2. Die Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage

Besonders umstritten ist die Abgrenzung zwischen Rechts- und Tatfrage. 100 Nur die Tatfrage, also die Frage nach dem, was wirklich geschehen ist, ist dem Beweis zugänglich; die Beantwortung der Rechtsfrage, wie das Geschehene nach den Maßstäben der Rechtsordnung zu würdigen ist, ist allein Aufgabe des Richters: Iura novit curia. In der Revision,§ 337 StPO, kann mit der Sachrüge lediglich eine unrichtige Rechtsanwendung angegriffen werden; eine erneute Tatsachenfeststellung findet dagegen grundsätzlich nicht statt. 101 Nach h.M. 102 ist allerdings eine exakte Trennung zwischen Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung nicht möglich. Dies, so wird argumentiert, zeige sich vor allem bei unbestimmten Rechtsbegriffen wie der "erheblichen Entstellung" i.S.v. § 226 StGB. 103 Stattdessen ließe sich die Abgrenzung zwischen Rechts- und Tatfrage nur teleologisch durchführen. Leitgedanke müsse dabei sein, dem Revisionsgericht eine erneute Sachprüfung zu verwehren. Revisibel seien also nur solche Fehler, die der Revisionsrichter ohne erneute Beweiserhebung erkennen könne. 104 98

Vgl. oben KapitelS I 1 zur Rechtsprechung des RG.

Dazu Kapitel 16. 100 Ich beschränke mich im Text wieder auf die strafprozessuale Situation.

99

101 KK-Pikart, § 337 Rz. 3; Kleinknecht I Meyer, § 337 Rz. 1; Schlüchter, Strafverfahren, Rz. 692 - 697. 102 Henkel, Strafverfahrensrecht, 374 f; Peters, Strafprozeß, 638; Schlüchter, Strafverfahren, Rz. 692.1. 103 Allgemein dazu schon Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 92 ff.-

104 So etwa Henkel, Strafverfahrensrecht, 375; etwas anders Peters, Strafprozeß, 565 f, der darauf abstellen will, ob sich die Fehlerhaftigkeit aus den dem Revisionsrichter vorliegenden Akten herleiten läßt; wieder anders Roxin, Strafverfahrensrecht, § 53 III: Eine tatsächliche Feststellung liegt dann vor, wenn unter Alltagsbegriffe subsumiert wird, eine rechtliche dann, wenn unter Rechtsbegriffe subsumiert wird. Ähnlich auch Neumann, GA 1988, 387 - 402. Aus dem Blickwinkel der Rechtstheorie Rüßmann in: Koch, Juristische

86

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Die Rechtsprechung folgt im wesentlichen der h.L. und beschränkt die Revision auf die rechtliche Würdigung des Tatrichters. Sie läßt aber in mehreren Punkten Ausnahmen zu, was ihr gelegentlich den Vorwurf der Inkonsequenz eingebracht hat: 105 So soll auch eine Verletzung der "Denkgesetze" die Revision begründen106, ebenso die Mißachtung anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse107 und die Nichtberücksichtigung von Sätzen der allgemeinen Lebenserfahrung. 108 Schließlich soll auch die Mißachtung "offenkundiger Tatsachen" der Revision unterliegen. 109 Darüber hinaus prüfen die Revisionsgerichte auch die Vollständigkeit der untergerichtlichen Beweiswürdigung daraufhin, ob alle grundsätzlich als relevant erscheinenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte ausgelotet wurden. 110 Durch diese Praxis wird in die Beweiswürdigung der Tatgerichte oft bedenklich weit eingegriffen. Noch fragwürdiger sind allerdings Entscheidungen, die sogar einen erneuten Augenscheinsbeweis vor dem Revisionsgericht zulassen. 111 Hierbei handelt es sich zweifellos um Tatsachenfragen, die in der Revisionsinstanz geprüft werden. Wenn eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die über einen so langen Zeitraum hinweg mit so großer Gründlichkeit betrieben wurde, nicht einmal ansatzweise zu einer Einigung gefiihrt hat, so deutet dies daraufhin, daß schon die Fragestellung und die grundlegende Begriffiichkeit unzweckmäßig formuliert sind. Der Leitgedanke der h.M., in der Revisionsinstanz keine neue Beweiserhebung mehr zuzulassen, erscheint als praktikabler Ansatzpunkt fiir eine präzisere begriffliche Fassung des Abgrenzungsproblems. In die Abgrenzung von Rechtsund Tatfrage spielen allerdings Probleme hinein, die üblicherweise in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie diskutiert werden, etwa die Frage nach der logischen Struktur der Rechtsanwendung und die Subsumtion unter Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe. Diese Fragen können in der vorliegenden Arbeit nicht behandelt werden. 112

Methodenlehre und analytische Philosophie, 242- 270. 105 Vgl. schon Otto, NJW 1978, 1 - 11; Rieß, NStZ 1982, 49- 54. 106 Vgl. nur Kleinknecht I Meyer, § 33 7 Rz. 30. 107 Aus der Judikatur vgl. besonders BGHSt 6, 72: Nichtberücksichtigung einer wissenschaftlich gesicherten Radarmessung. Weitere Nachweise zur Rechtsprechung bei Kleinlcnecht I Meyer, § 337 Rz. 31. 108 Vgl. die Nachweise bei KK-Pikart, § 337 Rz. 28. 109 Dazu Kleinknecht I Meyer, § 337 Rz. 25, § 244 Rz. 50 tT mwN. 110 Vgl. etwaBGHNJW 1953, 1440; BGHSt 12, 312; KK-Pikart, § 337 Rz. 29 fmwN. 111 So schon OLG Karlsruhe JZ 1974, 514; OLG Frankfurt JZ 1974, 516; BGHSt 29, 18; vgl. auch Schmid, ZStW 85 (1973), 893 - 915. 112 Vgl. aber meine Untersuchung zur Argumentation in der Jurisprudenz, 32-38,43 - 55 (zur logischen Struktur der Rechtsanwendung).

Kap. 6: Der Tatsachenbegriff in verschiedenen Rechtsgebieten

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Diegenaue Bestimmung des Begriffes "Tatsache" stellt in der Auseinandersetzung um die Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage nur ein Randproblem dar. 113 Statt von der Diskussion um die Trennung von Tat- und Rechtsfrage eine Klärung der Begriffe "Tatsachenaussage" und "Werturteil" zu erhoffen, erscheint es vorzugswürdig, eine passende Begriffiichkeit zunächst fiir das materielle Strafrecht zu entwickeln. In einem zweiten Schritt kann dann untersucht werden, ob die so entwickelte Terminologie auch bei der Abgrenzung von Tatfrage und Rechtsfrage anwendbar ist. Insgesamt erweist sich so der Problemkomplex "Rechts- und Tatfrage" als fiir den vorliegenden Zusammenhang wenig ergiebig.

113

Larenz, Methodenlehre, 310 f.

Kapitel7: Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen im Medienrecht I. Einleitung Im Medienrecht1 ist die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen oder Werturteilen schon wiederholt eingehend erörtert worden. Dies kann kaum überraschen, stehen doch die Medien in einem ganz besonderen Spannungsfeld zwischen dem Schutz durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. I Satz 2 und 3 GG) einerseits und Schadensersatz- und Strafnormen (wie§§ 824 BGB, 185, 186 und 187 StGB) andererseits. Insbesondere der in den §§ 11 bzw. 12 der Landespressegesetze geregelte Gegendarstellungsanspruch2 kann sich nach ganz h.M. nur aufTatsachenbehauptungen, nicht aber auf Werturteile und Meinungsäußerungen beziehen. Grundsätzlich wird im Medienrecht der Begriff der Tatsachenaussage ebenso definiert wie im Strafrecht und den anderen Rechtsgebieten. So heißt es bei Seitz I Schmidt I Schoener: "Allgemein wird als Tatsache angesehen alles Vorhandene, Geschehene oder Geschehende, das durch äußere oder innere Wahrnehmungen erfaßt wird". 3 Wie im Strafrecht wird die Beweisbarkeit von Tatsachenaussagen besonders hervorgehoben: "Die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil bestimmt sich nach dem Kriterium der Beweisbarkeit. Nur Tatsachenbehauptungen sind einem Beweis zugänglich, nicht Werturteile, letztere deshalb nicht, weil sie letztlich auf einer rein subjektiven Beurteilung beruhen. Der Tatsachenbegriffist derselbe wie in den anderen Rechtsgebieten".4 Es finden sich im Medienrecht aber auch Stimmen, die über eine bloße Repetition der alten reichsgerichtliehen Definitionen hinausgehen und eigenständige, theoretisch anspruchsvolle Lösungsansätze zur Diskussion stellen. Im Strafrecht wurden diese Lösungsvorschläge bislang nicht rezipiert, ja größtenteils nicht ein1 Bamberger, Einführung in das Medienrecht, 1986; Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 1994. 2 Dazu umfassend Seitz I Schmidt I Schoener, Der Gegendarstellungsanspruch, 1990; Überblick bei Bamberger, Medienrecht, 163 - 177. 3 Der Gegendarstellungsanspruch, Rz. 295. 4 Bamberger, Medienrecht, 169; zum Kriterium der Beweisbarkeit auch Rickler in: Handbuch des Presserechts, Kapitel 42 Rz. 23 mwN. Dieneuere Rechtsprechung wird nachgewiesen bei Soehring, NJW 1997, 362 f.

Kap. 7: Die Abgrenzung im Medienrecht

89

mal registriert. Dies rechtfertigt es, auf die wichtigsten Vorschläge zur Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen im Medienrecht relativ ausruhrlieh einzugehen. II. Die Übernahme der strafrechtlichen Rechtsprechung

Schon in den 20er Jahren hat Häntzschef in seiner einflußreichen Kommentierung des Reichspressegesetzes den engen Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen gesucht: "Tatsache ist, was sinnlich wahrgenommen und nach festem (objektivem) Maßstab seinem Wesen nach bestimmt werden kann". 6 Ausdrücklich schreibt Häntzschel, der Tatsachenbegriff des Presserechts sei derselbe wie im Strafrecht. 7 Eine Tatsache setze "etwas Geschehenes oder Bestehendes voraus, das in Erscheinung getreten und dadurch Gegenstand menschlicher Wahrnehmung geworden ist".8 Häntzsche/ betont im Anschluß an RGSt 55, 129 besonders die Beweiszugänglichkeit von Tatsachenaussagen. Deshalb seien "Mitteilungen über das Leben auf dem Mars oder über erst zukünftig zu erwartende Ereignisse" keine Tatsachenaussagen.9 Daraus dürfte zu entnehmen sein, daß Häntzschel mit "Beweisbarkeit" nicht bloß "grundsätzliche Beweisbarkeit" meint, sondern Beweisbarkeit hic et nunc. Hypothesen, logische Erwägungen und Schlußfolgerungen sind fiir Häntzschel keine Tatsachenaussagen, wohl aber Behauptungen über "innere Tatsachen", sofern sie nach außen in Erscheinung treten. 10 Nur was "nach einem festen, objektiven, von subjektiven Erwägungen, Auffassungen und Empfindungen unabhängigen Maßstab seinem Wesen nach bestimmt und bezeichnet werden kann, kann Gegenstand einer tatsächlichen Mitteilung sein"} 1 Ein "absolut feststehender Maßstab dafiir, was logisch oder unlogisch, wissenschaftlich richtig oder falsch ist", fehlt nach Häntzschels Ansicht, so daß derartige Äußerungen keine Tatsachenbehauptungen darstellen. 12 Insbesondere die "rein subjektiven Begriffsbestimmungen darüber, ob etwas gut oder schlecht, schön oder häßlich, dienlich oder schädlich usw. ist", sind nach Häntzsche/ keine Tatsachenaussagen. 13

s Häntzschel, Reichspressgesetz, § 11 Anm. 7. 6 Reichspressgesetz, 82. 7

8

lbid. Reichspressgesetz, 82 unter Berufung aufRGSt 22, 158 (159) und 55, 129 (131).

lbid. Reichspressgesetz, 83, 84 f. 11 Reichspressgesetz, 83. 12 lbid.

9

10

13

lbid.

Teil I: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

90

Der Gegenbegriff zu "Tatsachenbehauptung" ist bei Häntzschel nicht "Werturteil", sondern "Meinungsäußerung". Als Unterscheidungskriterium zwischen Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen schlägt er vor, darauf abzustellen, "daß wir bei Meinungsverschiedenheiten über etwas tatsächlich Feststehendes bei dem anderen, Gegenteiliges behauptenden Teil eine Sinnestäuschung oder eine Verwechslung elementarer Begriffe annehmen, während wir bei Meinungsverschiedenheiten über nicht dem Tatsachengebiet angehörige Dinge nur eine abweichende subjektive Beurteilung, eine andere logische Deduktion, Empfindungsoder Geschmacksrichtung des anderen Teiles voraussetzen". 14 Diese Beobachtung ist im Kern zweifellos zutreffend. In problematischen Fällen dürfte ein einfach auf die Konventionen des Alltags verweisendes Abgrenzungskriterium ·freilich nicht mehr ausreichen. Auffallend an Häntzschels Ausführungen scheint mir vor allem zweierlei. Das eine ist die überaus enge Anknüpfung an die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen. Häntzschels Tatsachendefinition und die angefügten Erläuterungen stimmen bis ins Detail mit den entsprechenden Ausführungen in RGSt 22, 158 und RGSt 55, 129 überein. Bemerkenswert ist zweitens eine extreme Betonung der "Objektivität" und "Sicherheit", die von Tatsachenaussagen verlangt werden. Wenn nicht einmal mehr wissenschaftliche Aussagen als Tatsachenaussagen gelten sollen, weil für ihre Wahrheit kein absolut feststehender Maßstab existiert, so wird übersehen, daß "absolute Sicherheit" bei keiner empirischen Aussage erzielt werden kann. Alle Tatsachenaussagen sind Hypothesen, die grundsätzlich widerlegt werden können. 15 Das gilt auch für wissenschaftliche Aussagen. Die Grundlage für diese Ansicht hat vor allem Kar! Popper in seiner "Logik der Forschung" gelegt (die allerdings erst im Jahre 1934 erschien). 16 Heute ist sie Allgemeingut. Verlangte man mit Häntzschel absolute Sicherheit, so gäbe es gar keine Tatsachenaussagen. 111. Sachverhaltsprinzip versus Bewertungsprinzip 1. Grundlagen der Unterscheidung

In neuerer Zeit hat sich Wenzel besonders eingehend mit der Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen beschäftigt. 17 Wenzel geht dabei Reichspressgesetz, 84. Etwas anderes gilt für logisch wahre Sätze, deren Wahrheit auf Konvention beruht. Es ist deshalb erstaunlich, daß Häntzschel "logische Erwägungen" und "Schlußfolgerungen" als bloß "subjektiv" ansieht. Häntzschel folgend aber etwa Seitz-Schmidt-Schoener, Der Gegendarstellungsanspruch, Rz. 328. 16 10. Aufl. 1994. 17 Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 95- 115; ders., AtP 1979, 14

15

276-283.

Kap. 7: Die Abgrenzung im Medienrecht

91

vom Zweck der Unterscheidung im Medienrecht aus: "Es soll ermittelt werden, ob die Voraussetzungen eines äußerungsrechtlichen Anspruches erfiillt sind. Äußerungsrechtliche Ansprüche setzen voraus, daß die streitige Äußerung einen oder mehrere Rechtsträger individuell betrifft". Sei dies nicht der Fall - Wenzel nennt als Beispiele eine Äußerung über "die Europäer" oder über einen naturwissenschaftlichen Lehrsatz-, würden äußerungsrechtliche Ansprüche von vomherein entfallen, so daß die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen sich erübrige. 18 Daraus ergeben sich fiir Wenzel folgende Konsequenzen: "Wird die Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen nur bei Aussagen über einzelne Rechtsträger praktisch, gründen die in Betracht kommenden Aussagen sich nicht nur ,letztlich' auf äußere oder innere Tatsachen, wie die Rechtsprechung dies gelegentlich formuliert[ ... ]. Es geht stets und ausnahmslos um die Beschreibung von Sachverhalten". 19 Die Sachverhaltsbeschreibung, so Wenzel, erfolge im Wege der Subsumtion: "Der Sachverhalt wird unter sprachliche Begriffe subsumiert". 20 Um Tatsachenaussagen von Meinungsäußerungen abzugrenzen, schlägt Wenzel vor, "die Subsumtionsvorgänge zu kategorisieren, in solche, die tatsächlichen Charakter haben[ ... ] und in andere, die keinen tatsächlichen Charakter haben". 21 Eine derartige Kategorisierung, so Wenzel weiter, könne "sinnvollerweise nur anband der schon von Max Weber gestellten Frage erfolgen, ob die streitige Beschreibung einen Sachverhalt mitteilt oder ob sie einen als bekannt vorausgesetzten Sachverhalt bewertet".22 Sachverhaltsmitteilungen ließen sich auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und hätten damit die Qualität einer Tatsachenbehauptung. Sachverhaltsbewertungen dagegen könnten zwar anband einer Werteskala als richtig oder falsch einzustufen sein. ,Beweisbar' seien sie aber nicht. Deswegen hätten Sachverhaltsbewertungen keinen Tatsachen-, sondern Meinungscharakter. 23 Es ist auffallend, daß Wenzel hier offenbar Werturteile und Meinungsäußerungen gleichsetzt/4 eine Identifizierung, die bei Max Weber nicht auftaucht. Es ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich, wie typische Meinungsäußerungen wie "Ich glaube, daß es morgen regnen wird" mit Hilfe einer "Werteskala" einzustu-

Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 105. lbid. 20 lbid. 18

19

21

lbid.

Wenzel, Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 106 verweist dabei auf Max Weber, Werk und Person, 113. 22

Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 106. Vgl. aber auch seine Kritik am Begriff des Werturteils in: Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 98. 23

24

92

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

fen wären. In der Alltagssprache ist der Ausdruck "Meinungsäußerung" sehr viel weiter als der Ausdruck "Werturteil". Um Tatsachenaussagen von Werturteilen abzugrenzen, schlägt Wenzel zwei Prinzipien vor: das Sachverhaltsprinzip und das Bewertungsprinzip. Wenzel erläutert seinen Vorschlag wie folgt: "Das Sachverhaltsprinzip besteht darin, der streitigen Aussage den wirklichen Sachverhalt gegenüberzustellen bzw. im Prozeß zu fragen, ob der Betroffene einen Grundsachverhalt vorträgt, der von dem abweicht, der mit der streitigen Aussage behauptet worden ist". Dagegen soll das "Bewertungsprinzip" darin bestehen, "auf eine solche sachverhaltsmäßige Überprüfung ganz, zumindest aber weitgehend zu verzichten und stattdessen abzuwägen, welcher Teil der Aussage, der tatsächliche oder der wertende, im Vorderbzw. im Hintergrund" stehe. 25 Ergänzend führt Wenzel noch den Begriff "Detailsachverhalt" ein, der im Rahmen des "Sachverhaltsprinzips" neben den bereits erwähnten "Grundsachverhalt" treten soll. Um zu zeigen, wie die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen anband der vorgeschlagenen Kriterien durchgeführt werden kann, wählt Wenzel folgendes Beispiel: 26 Zur Vorbereitung der Gesamtbeurteilung eines Hotels in einem Hotelführer bezeichnet ein Tester den ihm servierten Frühstückskaffee als "kalt". Der "Grundsachverhalt" besteht hier nach Wenzel darin, daß dem Tester überhaupt Kaffee serviert worden ist. Dagegen betriffi der "Detailsachverhalt" die Temperatur des Kaffees. Um nun die fragliche Äußerung als Tatsachenaussage oder als Meinungsäußerung qualifizieren zu können, unterscheidet Wenzel folgende Fallvarianten: 1. Fehle es schon am Grundsachverhalt, habe also "in Wahrheit ein Test überhaupt nicht stattgefunden"27, so liegt nach Wenzels Ansicht eindeutig eine Tatsachenaussage vor. Ebenso wäre nach Wenzels Ansicht im schon erwähnten28 Fall von BGHSt 6, 357 die Äußerung, der Bundeskanzler K bereite einen neuen Weltkrieg vor, jedenfalls dann als Tatsachenaussage zu qualifizieren, wenn K als Bundeskanzler gar nicht mehr aktiv wäre. 29 Wenzel möchte aber darüber hinaus nicht nur den Grundsachverhalt berücksichtigen, sondern grundsätzlich30 auch den Detailsachverhalt Dabei seien folgende drei Ergebnisse möglich: Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 106 f. Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 107 f. 27 Eindeutiger wäre es wohl, darauf abzustellen, ob dem Tester überhaupt Kaffee serviert wurde. 28 Vgl. oben KapitelS I 2. 29 Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 107. 30 Zu den von Wenzel gemachten Ausnahmen vgl. Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 112 ff. 25

26

Kap. 7: Die Abgrenzung im Medienrecht

93

2. Es könne sich ergeben, "daß der Sachverhalt mit der streitigen Darstellung auch insoweit übereinstimmt, als sie scheinbar wertenden Charakter hat". Das wäre im Kaffeetassenbeispiel etwa dann der Fall, wenn sich herausstellte, "daß der vom Tester als ,kalt' bezeichnete Kaffee mit einer Temperatur serviert worden ist, die unter Zimmertemperatur liegt. Ein solcher Kaffee ist wirklich kalt. Die Behauptung ist also wahr". 31 3. Ebenso möchte Wenzel entscheiden, wenn der Sachverhalt mit der streitigen Darstellung eindeutig nicht übereinstimmt. Dies soll etwa dann der Fall sein, wenn sich herausstellt, daß die Temperatur des servierten Kaffees kurz unter dem Siedepunkt lag: "Ein Kaffee, der bei einer um nur einige Grade gesteigerten Temperatur verdampfen würde, ist nicht kalt, sondern warm bzw. ,heiß'. Bei diesem Sachverhalt ist die dennoch aufgestellte Behauptung, der Kaffee sei ,kalt' gewesen, unwahr". 32 4. Sind dagegen "unterschiedliche Meinungen" darüber möglich, ob die streitige Behauptung mit dem Sachverhalt (noch) übereinstimmt oder nicht, so soll eine bloße Meinungsäußerung vorliegen. Im Kaffeebeispiel soll dies etwa dann der Fall sein, wenn "der Kaffee eine über Körpertemperatur liegende Temperatur hatte, die der eine bereits als ,heiß', ein anderer als ,lauwarm', ein Dritter aber so empfinden kann, daß sich von ,kalt' sprechen läßt". 33 2. Offene Fragen Wenzel gehört zu den wenigen Autoren, die sich nicht damit zufriedengeben, die überkommenen Abgrenzungskriterien unreflektiert zu wiederholen, sondern versuchen, ein neues, präziseres und intersubjektiv nachvollziehbares Abgrenzungsmodell zu entwickeln. Für die ganz überwiegende Mehrzahl der Fälle reicht Wenzels Schema aus. Dennoch bleiben auch bei ihm einige Fragen offen:

Problematisch ist zunächst, daß Wenzel nicht einmal ansatzweise erläutert, wie die Unterscheidung zwischen Grund- und Detailsachverhalt vorgenommen werden soll. Dies ist schon deshalb von Bedeutung, weil nach seinem Modell bei unzutreffendem Grundsachverhalt ohne weiteres eine Tatsachenbehauptung anzunehmen ist. In dem Kaffeebeispiel legt Wenzel einfach fest, daß die Temperatur des Kaffees den Detailsachverhalt darstellt, die Frage, ob überhaupt ein Test durchgefiihrt wurde, dagegen den Grundsachverhalt Im Vergleich dazu und unter Berücksichtigung des allgemeinen Sprachgebrauchs dürfte wohl auch die Hautfarbe oder das Alter des Kellners dem Detailsachverhalt zuzuordnen sein. Wie aber steht es mit solchen Faktoren wie der Außentemperatur oder den KaffeeRecht der Wort- und Bildberichterstattung, 108. lbid. 33 lbid.

31

32

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Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

gewohnheiten des Testers? Im Winter schmeckt Kaffee heiß, der im Sommer als lau empfunden würde, und manche Menschen mögen ihren Kaffee nur dampfend -jeder andere Zustand gilt ihnen als "kalt". Dies spricht daftir, die genannten Faktoren nicht dem Detail- sondern schon dem Grundsachverhalt zuzurechnen. Andererseits scheinen mir Faktoren wie die Außentemperatur und die Kaffeegewohnheiten des Testers keineswegs "grundlegender" zu sein als die Temperatur des Kaffees, die Wenzel dem "Detailsachverhalt" zugeordnet hatte. Wenzel gibt keinerlei Kriterien an, wie diese Fragen zu beantworten sind. Ein anderer Kritikpunkt betrifft den Unterschied zwischen moralischen bzw. ästhetischen Wertungen (die Max Weber im Auge hatte, als er von "Werturteil" sprach) und Einstufungen auf einer Temperaturskala. So dürfte zumindest bei Menschen unseres Kulturkreises in der Regel eine relative Übereinstimmung bestehen, wann das Wetter "kalt" ist, während die Ansichten in moralischen oder ästhetischen Fragen oft hoffnungslos divergieren. Andererseits scheint die Qualifizierung eines Gegenstandes oder eines Zustandes als "kalt" aber doch erheblich stärker subjektiv geprägt zu sein als die Bezeichnung als "schwarz" oder die Quantifizierung "161 cm groß". Wenzel äußert sich zu den aufgeworfenen Fragen nicht, offensichtlich weil er die Bezeichnung als "kalt" ebenso als Wertung auffaßt wie die Qualifizierung als "gut" oder "schön". Dem steht freilich entgegen, daß der Maßstab, den wir bei der Verwendung des Wortes "kalt" anwenden, immer noch einigermaßen objektivierbar ist, nämlich in Anknüpfung an die menschliche Körpertemperatur. Was in Mitteleuropa wohnende Menschen als "kalt" empfinden, ist grundsätzlich auf einer Skala abbildbar, die zwar nicht so feine Unterteilungen aufweist wie eine übliche metrische Skala, dennoch aber exakt genug ist, um die Entscheidung über "warm" oder "kalt" nicht als rein subjektiv erscheinen zu lassen. Auch die Tatsache, daß die näheren Umstände die Entscheidung über "warm" oder "kalt" nicht unwesentlich beeinflussen können, 34 steht dem nicht entgegen. Um Meinungsäußerungen handelt es sich nach Wenzel immer dann, wenn "unterschiedliche Meinungen möglich sind". Dabei wirdjedoch die entscheidende Frage offengelassen, wann unterschiedliche Meinungen möglich sind. Der Satz "Sokrates trank im Jahr 399 vor Christus den Schierlingsbecher" ist nach wohl allgemeiner Ansicht eine Tatsachenbehauptung; trotzdem läßt sich nicht bestreiten, daß darüber unterschiedliche Ansichten möglich sind. Erst recht gilt dies ftir falsche Tatsachenbehauptungen. Was soll "möglich" hier überhaupt bedeuten? Die Möglichkeit, eine divergierende Aussage aufzustellen, existiert immer. Man könnte "möglich" im Sinn von "ernsthaft möglich" verstehen, doch müßte dann präzisiert werden, wann "Ernsthaftigkeit" gegeben ist. Eine ftir alle 34 Bekannt ist folgende Versuchsanordnung: Zunächst hält man die linke Hand in heißes und die rechte Hand in kaltes Wasser. Anschließend werden beide Hände in lauwarmes Wasser getaucht. Für die linke Hand erscheint das Wasser kalt, für die rechte warm.

Kap. 7: Die Abgrenzung im Medienrecht

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Fälle klare und nachvollziehbare Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen oder Werturteilen läßt sich auf diesem Wege nicht erreichen. Wenn Wenzel die Abgrenzung von der Möglichkeit unterschiedlicher Meinungen abhängig macht, bietet er keine Lösung des Abgrenzungsproblems, sondern appelliert letztlich an das RechtsgefühL

IV. Tatsachenmitteilungen und Tatsachenbehauptungen Ein anderer Versuch, die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen im Medienrecht zu präzisieren, stammt von Franziskus Pärn. 35 Ausgangspunkt Pärns ist das "Schriftsachverständigen-Urteil" des Bundesgerichtshofes. 36 Ein Graphologe war beauftragt worden, den Verfasser einer Serie von anonymen Briefen zu ermitteln. Der Gutachter prüfte verschiedene Schriftproben und kam zu dem Ergebnis, die A habe die Briefe geschrieben. Dies sprach sich schnell herum. Erst später stellte sich heraus, daß A in Wahrheit völlig unschuldig war und keinen der anonymen Briefe verfaßt hatte. Trotzdem wurde ihr Widerrufsbegehren vom Bundesgerichtshof mit dem Argument abgewiesen, bei dem Gutachten des Graphologen handele es sich um ein Werturteil, das als solches nicht widerrufsfähig sei. Pärn hält zwar das Ergebnis für einleuchtend, nicht dagegen die Qualifizierung des Sachverständigengutachtens als Werturteil. "Werturteil" sei gar kein Rechtsbegriff; der Ausdruck sei zwar für Lehrzwecke nützlich, für die Rechtsanwendung aber überflüssig und sogar schädlich. 37 Deshalb, so Pärn, könne der Rechtsanwenderauf den Begriff "Werturteil" weitgehend verzichten. Stattdessen möchte Pärn bei den Tatsachenaussagen die neue Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Tatsachenmitteilungen einführen.38 Unter "Tatsachenmitteilung" versteht Pärn das "Mitteilen eines Tatsachenurteils"39, also die Mitteilung von durch den menschlichen Verstand "urteilend" verarbeiteten Tatsachen.40 Dagegen ist die Tatsachenbehauptung für Pärn "eine besonders qualifizierte Art der

35

Pärn, NJW 1979, 2544 - 2549.

BGH NJW 1978, 751 = MDR 1978, 395 = JZ 1978, 102 = GRUR 1978, 258 mit Anm. Bielenberg. Für eine ausfuhrliehe Urteilskritik vgl. Schneider, MDR 1978, 613619. Schneider bestimmt allerdings den Ausdruck "Werturteil" in einer Weise, die sich mit der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Terminologie (Kapitel 13, 14) nicht vereinbaren läßt. Zum Schriftsachverständigen-Urteil vgl. auch unten Kapitel 15 II 2 am Ende. 36

37

NJW 1979, 2545.

38

NJW 1979, 2545 f. NJW 1979, 2546.

39 40

lbid.

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Tatsachenmitteilung", nämlich eine solche, die mit dem "Ausdruck der Überzeugung (Zweifelsfreiheit, Gewißheit, Sicherheit)" auftrete. 41 Im Strafrecht sind nach Pärns Ansicht nur Tatsachenbehauptungen relevant: "Denn bestraft wird nur, wer einen geschuldeten Wahrheitsbeweis nicht führt (vgl. § 186 StGB). Diese peinliche Beweislast triffi allein den Wahrheitsbürgen. Fehlt ein solcher und damit eine Behauptung, so fehlt es auch an einem Objekt für den Wahrheitsbeweis. Daraus folgt: Eine unverbürgte Mitteilung ist im strafrechtlichen Sinne keine Tatsachenbehauptung".42 Dagegen kommt es Pärn zufolge im Presserecht allein auf das Vorliegen einer Tatsachenmitteilung an: Im Medienrecht gehe es "um den Eindruck, den die Veröffentlichung zu erwecken geeignet war". Für den Anspruch des Betroffenen auf eine Gegendarstellung sei es "unerheblich, wenn die Zeitung ihrer Meldung angefügt hatte, sich für sie nicht verbürgen zu können". Pärn begründet seine Ansicht mit dem Hinweis, Massenmedien träten als besondere Autoritäten auf. Durch die Entscheidung, die Öffentlichkeit über zugestandenerweise Fragwürdiges, etwa einen Verdacht oder ein Gerücht, zu unterrichten, gäben sie der Meldung Informationswert: Die Auswahl durch eine "mit Kompetenzanspruch auftretende [...] Instanz schafft Betroffenheit".43 Auch im Zivilrecht, und dort insbesondere bei § 824 BGB, sei allein das Vorliegen einer Tatsachenmitteilung ausschlaggebend: "Bei den gesetzlich nicht näher normierten Verletzungen persönlicher oder gewerblicher Positionen bleibt ebenfalls ungeprüft, ob der Autor der Mitteilung sich für ihre Wahrheit verbürgt hatte oder ob sie einem Wahrheitsbeweis zugänglich ist". 44 Pärn verweist besonders auf die Interessenlage, die der im Medienrecht durchaus ähnele, "denn beeinträchtigen und verletzen kann eine tatsächliche Mitteilung, die ungerechtfertigt ist, auch dann, wenn sie nicht in behauptender Form präsentiert wird". 45 Eigenartig sei schließlich die Lage im Wettbewerbsrecht Da § 14 UWG eine Zivilrechtsnorm sei, § 15 UWG dagegen eine Vorschrift des Strafrechts, müßten die gleichen Worte in unterschiedlicher Bedeutung verstanden werden, nämlich einmal im Sinne von "Tatsachenmitteilung", das andere Mal im Sinne von "Tatsachenbehauptung" .46 Pärns Bezugnahme auf die jeweilige Interessenlage ist überzeugend. Seine Ausführungen stellen insofern geradezu ein Paradebeispiel für eine methodisch aufgeklärte Rechtsdogmatik dar, die Begriffe nicht mystifiziert (was ist das "Wesen" der Tatsachenbehauptung?), sondern im Hinblick auf die jeweils 41 lbid. 42 Ibid. 43 lbid. 44

Ibid.

45 Ibid. 46

lbid.

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verfolgten Ziele zweckmäßig definiert. Problematisch ist allerdings, daß das Spektrum möglicher Ehrverletzungen und sonstiger Schädigungen durch die Medien nicht auf Tatsachenmitteilungen- seien es nun "bloße" Tatsachenmitteilungen oder Tatsachenbehauptungen - beschränkt ist. Auch Pärn erkennt dies: "Das Kernproblem des Äußerungsrechts ist die Abgrenzung der Tatsachenmitteilung gegen Äußerungen, die es nicht sind".47 In dieser Grauzone prallen das Persönlichkeits- und das Gegendarstellungsrecht mit der grundrechtlich geschützten Meinungsäußerungsfreiheit aufeinander. 48 Nach Pärn muß bei der Abgrenzung zweierlei in Rechnung gestellt werden: die "faktische Qualität des Äußerungsinhalts" und die "Urteilsqualität der Mitteilung".49 Daraus ergibt sich nach Pärns Ansicht für das Abgrenzungsproblem folgendes: "Jedes Tatsachenurteil ist eine Antwort. Wer das Gewicht eines Briefes feststellt, hat sich zuvor danach gefragt. Um die Frage zu beantworten, muß er den Briefwiegen [ ... ].Verallgemeinert: Ein Tatsachenurteil gewinnt, wer über Tatsachen, die er unter Anwendung eines Maßstabes prüft, eine Feststellung trifft. Auf den Schwierigkeitsgrad der Beurteilung, auf den Modus der Auswahl oder die Art der berücksichtigten Tatsachen sowie Maßstäbe, auf des Urteilers Sachkunde und Sorgfalt wie auch auf die Festigkeit seines Urteils kommt nichts an [sie]. Gleich dem Zeugen, der jemanden identifiziert, fällt auch der Schriftexperte, der eine Schreiberidentität konstatiert, ein TatsachenurteiL " 50 Kein Tatsachenurteil soll dagegen vorliegen, "wenn eine Beurteilung offenbar überhaupt nicht stattgefunden hat oder wenn es sich bei dem Gegenstand des Urteils nicht um Tatsachen handelt".51 Deshalb will Pärn Äußerungen wie die eines Hellsehers, Wahrsagers oder Humoristen nicht als Tatsachenmitteilungen ansehen. Ihnen fehle mangels einer "würdigenden Beurteilung" der Urteilscharakter.52 Auch wer ins Blaue hinein über die Gedanken oder Motive anderer spekuliere, gebe kein Tatsachenurteil ab. Unerheblich sei dabei, ob der Urteilsgegenstand, die Tatsache, in der Urteilsaussage miterwähnt sei. Es reiche aus, wenn implizit ein "Tatsachenkern" angedeutet werde.n Abstraktionen - Pärn nennt "Denkfiguren, Dogmen, Lehren, Prinzipien und ähnliches" - seien keine Tatsachen, denn es handele sich nicht um konkrete Zustände oder Geschehnisse. 54 Dasselbe gelte für Hypothesen und Prognosen. 55 47

NJW 1979, 2547.

48

Ibid.

49

Ibid.

50

Ibid. NJW 1979, 2546.

SI

52 SJ

Ibid. Ibid.

Ibid. ss Ibid.

54

7 Hilgendorf

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

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Weiter liegt nach Ansicht Pärns "im Rechtssinne" [!] kein Tatsachenurteil vor, "wenn ein Urteil wegen der Art des benutzten Maßstabes der Überprüfung durch einen anderen nicht zugänglich ist".56 Dies klingt plausibel, doch die Begründung Pärns dafiir ist sehr merkwürdig: "Wir gewinnen ein Tatsachenurteil, indem wir Tatsachen zu etwas in Beziehung setzen. Diese Bezugspunkte bilden den Beurteilungs- oder Bewertungsmaßstab. Nur weil eine solche Bewertung stattfindet, können wir von einem Urteil sprechen; von daher ließe sichjedes Tatsachenurteil, wenngleich nicht ohne sprachliche Vorbehalte, auch als Tatsachen-Werturteil[!] bezeichnen". 57 Hier scheint es mir doch an der erforderlichen begrifflichen Klarheit zu fehlen. Wer ein Urteil fällt - etwa über die Temperatur von Kaffee, die Größe eines Kindes oder die moralische Qualität eines anderen Menschen58 - verknüpft sprachlich ein Subjekt mit einem Prädikat, etwa in: "Der Kaffee ist kalt", "Das Kind ist 130 cm groß" oder in "Gabi ist ein gutes Mädchen". Die derartigen Urteilen zugrunde liegenden Beurteilungs- oder Bewertungsmaßstäbe sind ganz unterschiedlicher Natur: Im ersten Fall handelt es sich um das Temperaturempfinden, im zweiten um eine normierte Skala59 und im dritten, problematischsten Fall liegt ein moralischer Maßstab dem Urteil zugrunde. Auch hinsichtlich der Nachprüfbarkeit unterscheiden sich die genannten Maßstäbe deutlich: Während im Falle der Längenmessung eine Nachprüfung durch Dritte (zumindest bei Vorhandenseins eines Metermaßes) jederzeit möglich ist, werden Urteile über "heiß" oder "kalt" allgemein schon als weniger "objektiv" und damit als in geringerem Maße intersubjektiv überprüfbar eingeschätzt. Wertund Geschmacksurteile sind erst recht kaum nachprüfbar: De gustibus non est disputandum. Eine moralische Stellungnahme findet nur im letztgenannten Exempel statt. Für alle diese Fälle den Ausdruck "Bewertung" zu verwenden, erscheint in höchstem Grade irrefiihrend. Auf dieses Problem war schon bei der Untersuchung der Vorschläge Wenzels hingewiesen worden. 60 Festzuhalten bleibt Pärns aus der Interessenlage der Betroffenen entwickeltes Begriffspaar "Tatsachenbehauptung" und "Tatsachenmitteilung". Beide Ausdrücke unterscheiden sich durch den Grad der mit der Tatsachenaussage verbundenen Wahrheitsverbürgung. Hingegen können Pärns Überlegungen zur logischen Struktur von (Wert-)Urteilen und möglicherweise dahinterstehenden Maßstäben nicht überzeugen. Ihnen mangelt es an begrifflicher Klarheit, was sich 56

57

lbid. NJW 1979, 2547.

58 Nach dem im Alltag üblichen Verständnis handelt es sich nur im letztgenannten Fall um ein Werturteil! 59 Einführend zur Meßtheorie Mainzer, in: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 2, 862 ffmwN. 60

Vgl. oben III.

Kap. 7: Die Abgrenzung im Medienrecht

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eklatant an der Bildung von Ausdrücken wie "Tatsachen-Werturteil" zeigt. Pärns Ausruhrungen kranken letztlich daran, daß er die Diskussion um Tatsachenaussagen und Werturteile, die in der Philosophie und vor allem in der Logik und Wissenschaftstheorie seit langem gefiihrt wird, völlig ausblendet. In den nachfolgenden Kapiteln wird es nicht zuletzt darum gehen, diese Lücke zu fiillen. Zunächst sollen aber noch zwei weitere interessante Stellungnahmen aus dem Medienrecht vorgestellt werden. V. Exakte Begriffsbestimmung versus "funktionale Sicht"

Steffen61 hält die Unterscheidung von Tatsachenaussagen und Werturteilen ebenfalls nicht fiir grundlegend. Mit Blick auf die weitgehende Irrelevanz der Unterscheidung fiir Art. 5 GG62 bezweifelt er insbesondere die Fruchtbarkeit einer abstrakten Differenzierung, etwa mit Hilfe des Merkmals der "theoretischen Beweisbarkeit". Wichtiger sei es, auf den Zweck der Unterscheidung abzustellen: "Das Merkmal der Tatsachenbehauptung [...] ist keine nur erkenntnistheoretische Kategorie. Es hat eine Aufgabe zu erfiillen. Diese Aufgabe orientiert sich nicht nur an den prozessualen Möglichkeiten. Sie hat den Schutz des Kritisierten und die Bewegungsfreiheit des Kritikers im Auge. Tatsachenbehauptungen sind herausgehoben wegen ihrer spezifischen Wirkungen[ ...] in der Kritik".63 Eine Tatsachenaussage erhebe den Anspruch, daß sich jede weitere Diskussion erübrige; deshalb sei sie "viel gefährlicher fiir den Kritisierten als ein subjektives Urteil des Kritikers, das diesen Geltungsanspruch nicht hat".64 Steffen plädiert deshalb fiir eine "funktionale Sicht" des Ehrenschutzes im Medienrecht: Das Vorliegen einer Tatsachenbehauptung bestimme sich nicht nach der theoretischen Beweisbarkeit des Behaupteten, sondern nach den Bedürfnissen des "Meinungsmarktes".65 Steffens Betonung von Sinn und Zweck der Unterscheidung von Tatsachenaussagen einerseits, Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen andererseits ist überzeugend. Wie schon mehrfach bemerkt, sind Rechtsbegriffe (wie alle Begriffe) nicht bindend vorgegeben, sondern müssen mit Blick auf die jeweiligen Ziele festgelegt (definiert) werden. Deshalb ist fiir die Abgrenzung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen oder Meinungsäußerungen die Rückbindung an den Zweck dieser Unterscheidung unverzichtbar. Sehr fraglich ist aber, ob der bloße Blick auf den Regelungszweck eine klare und nachvollziehbare Begriffsbestimmung ersetzen kann. Bei der Auslegung des Steifen, AtP 1979, 284- 285. Dazu Kapitel 6 II. 63 AtP 1979, 284. 64 lbid. 65 AtP 1979, 285. 61

62

7•

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Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Artikel 5 GG ist eine exakte Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen im Prinzip verzichtbar, weil nach h.M. beide Kategorien von Äußerungen durch Artikel 5 GG geschützt sein sollen.66 Im Recht des Ehrenschutzes hingegen besteht die Notwendigkeit, zwischen solchen Äußerungen, die Sanktionen nach sich ziehen, und solchen, die dies nicht tun, zu unterscheiden. Diese Unterscheidung kann nicht in jedem Einzelfall teleologischen Erwägungen - die ja dem Rechtsgefühl einen weiten Spielraum gewähren - überlassen werden. Wie sonst auch benötigt der Rechtsanwender klare und möglichst einfach zu handhabende allgemeine Kriterien, um die Unterscheidung zwischen Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen zu treffen. Gerade im Strafrecht sind die Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit und die Voraussehbarkeit richterlicher Entscheidungen besonders groß. 67 Eine nicht begrifflich kontrollierte ad-hocRechtsprechung ist schon aus rechtstaatlichen Gründen abzulehnen.

VI. Ein Dreistufenmodell zur Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen Im Anschluß an die Vorschläge von Wenzel hat Benedikt-Jansen68 ein Dreisrufenmodell für die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen vorgeschlagen. Zunächst, so Benedikt-Jansen, müsse ermittelt werden, welche Bedeutung der fraglichen Äußerung zukomme. Dies sei abhängig vom Kontext; eine Aussage mit ein und demselben Wortlaut könne "unter verschiedenen Umständen einmal Tatsachenbehauptung, ein andermal Werturteil" sein. 69 Ausschlaggebend ist nach Ansicht Benedikt-Jansens der Empfängerhorizont 70 Auf der zweiten Stufe wird die in Frage stehende Äußerung in die Kategorien "Tatsachenaussage" oder "Werturteil" eingeordnet: "Die Weichen für die Einordnung einer Äußerung als Tatsachenbehauptung oder Werturteil werden dort gestellt, wo die Beziehung zwischen Aussageinhalt und Aussagegegenstand (Sachverhalt) bedeutsam wird. Ist diese Beziehung absolut, d.h. vom Standpunkt des Äußernden losgelöst, liegt eine Tatsachenbehauptung vor". 71 So soll etwa die Äußerung, eine Person A sei 20 Jahre alt, eine Tatsachenbehauptung darstellen, denn "theoretisch kannjedermann nachprüfen, ob Aussagegegenstand (Alter des Vgl. oben Kapitel 6 II. BVerfGE 29, 269 (285) und die st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 78, 374 (382); 80, 244 (256). 66

67

68

Benedikt-Jansen, AfP 1987, 669-673.

AtP 1987, 670. Benedikt-Jansen verweist dabei aufBVerfGE 61, 1, wo es um die Behauptung ging, die CSU sei die "NPD Europas". Wie das BVerfG zu Recht ausfiihrte, konnte kein normaler Zuhörer diese Äußerung wörtlich nehmen. 69

70

71

AfP 1987, 672.

Kap. 7: Die Abgrenzung im Medienrecht

101

A) und Aussageinhalt (20 Jahre alt) übereinstimmen". 72 Auf der dritten Stufe werden solche Äußerungen untersucht, die gleichzeitig tatsächliche und wertende Bestandteile enthalten. Benedikt-Jansen schlägt vor, zunächst zu versuchen, den tatsächlichen und den wertenden Teil voneinander zu trennen ("Trennungsmethode"). Nur wenn dies nicht möglich ist, möchte der Autor darauf abstellen, wo der jeweilige "Schwerpunkt" der Äußerung liegt und danach entweder eine Tatsachenaussage oder ein Werturteil anzunehmen. 73 In Benedikt-Jansens Dreistufenmodell werden die zentralen Prüfungsschritte, die sich aus der herrschenden Meinung zur Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen ergeben, klar und nachvollziehbar zusammengefaßt. Ohne eine Berücksichtigung des Kontextes, in dem die fragliche Äußerung gefallen ist (Stufe 1), wird jede Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen oder Meinungsäußerungen unbefriedigend bleiben. Auch das gleichzeitige Auftreten von wertenden und tatsächlichen Bestandteilen in ein und derselben Äußerung (Stufe 3) stellt ein Problem dar, das noch ausfUhrlieh zu diskutieren sein wird. Dabei wird insbesondere kritisch zu untersuchen sein, ob die Schwerpunktformel Benedikt-Jansens tatsächlich eine klare und nachvollziehbare Lösung erlaubt. Das Kernproblem jeder Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen verbirgt sich auf Stufe 2 des Benedikt-Jansen 'sehen Modells. Der Autor will darauf abstellen, ob die Beziehung zwischen Aussageinhalt und Aussagegegenstand "absolut" oder "relativ", ob sie "objektiv" oder bloß "subjektiv" ist. Damit sind zweifellos für die Abgrenzung wichtige Begriffe genannt. Trotzdem scheint mir Benedikt-Jansens Abgrenzungsvorschlag die entscheidenden Fragen offenzulassen. Fraglich ist nämlich gerade, welche Äußerungen für jedermann theoretisch nachvollziehbar und damit objektiv beweisbar und welche in erster Linie vom Betrachtungsstandpunkt abhängen und damit relativ oder "subjektiv" sind. Um noch einmal auf das Kaffeebeispiel Wenzels14 zurückzukommen: Ob Kaffee, der in etwa Körpertemperatur aufweist, "heiß" oder "kalt" ist, ist stets vom Standpunkt des Sprechers abhängig. Dasselbe gilt für die Bezeichnung anderer Menschen als "groß" oder "klein" oder für die Einschätzung eines Fahrzeugs als "schnell" oder "langsam". Nach dem üblichen Sprachgebrauch handelt es sich aber in allen genannten Fällen um Tatsachenaussagen. Benedikt-Jansen wiederholt letztlich das Abgrenzungskriterium Wenzels, wonach es für das Vorliegen eines Werturteils darauf ankommen soll, ob man über die Richtigkeit der Äußerung "unterschiedlicher Meinung" sein kann. 75 Dieses Kriterium istjedoch zu unbestimmt, um stringente Ergebnisse zu ermögli72

Ibid.

73

AfP 1987, 673.

74

Vgl. oben II. 1.

75

Dazu oben III 2 a.E.

102

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

eben. Letztlich kann man über alle Aussagen "unterschiedlicher Meinung" sein. Das Problem einer klaren und nachvollziehbaren Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Werturteilen oder Meinungsäußerungen ist so nicht zu lösen. Auch Benedikt-Jansen scheint mir zudem nicht durchweg die erforderliche begriffliche Klarheit erreicht zu haben. So schreibt er etwa, ein Werturteil sei das "kontradiktorische Gegenteil der Tatsachenbehauptung".76 Dies würde bedeuten, daß immer dann ein Werturteil vorliegt, wenn keine Tatsachenbehauptung angenommen werden kann. 77 Folgt man dem, so müßten auch Interjektionen oder Fragen als Werturteile angesehen werden, denn bei ihnen handelt es sich ja ebenfalls nicht um Tatsachenbehauptungen. Es ist offenkundig, daß dies nicht gemeint sein kann. Auch Benedikt-Jansen möchte übrigens zwischen Werturteilen und Meinungsäußerungen keinen Unterschied machen, so daß der Begriff des Werturteils nach seiner Theorie streng genommen überflüssig ist.

VII. Zusammenfassung Das Medienrecht orientiert sich bei der Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen oder Werturteilen an der strafrechtsdogmatischen Begriffsbildung und insbesondere an der Rechtsprechung des Reichsgerichts in Strafsachen. Einige neuere Definitionsansätze weichen aber nicht unerheblich von der strafrechtsdogmatischen Begrifflichkeil ab: So will Wenzel eine Tatsachenaussage dann nicht annehmen, wenn unterschiedliche Meinungen darüber möglich sind, ob die Äußerung zutrifft oder nicht; Pärn stellt auf den Grad von Sicherheit ab, der mit einer Äußerung verbunden wird und unterscheidet dabei Tatsachenbehauptungen von bloßen Tatsachenmitteilungen und Steffen schlägt vor, den Versuch einer exakten Begriffsbestimmung zugunsten einer "funktionalen" Abgrenzung zurückzustellen. Benedikt-Jansens Dreistufenmodell schließlich faßt die im Medienrecht herrschende Abgrenzungskonzeption klar und anschaulich zusammen. Alle genannten Modelle (vielleicht mit Ausnahme von Steffens Vorschlag) sind zumindest im Grundsatz geeignet, die richterliche Entscheidungstindung zu strukturieren und so der Willkür der Rechtsanwender Schranken zu setzen. Die Modelle sind deshalb praktikabel. Dennoch vermag keines restlos zu befriedigen. Als Manko erscheint mir vor allem der fehlende theoretische Unterbau von Begriffen wie "Tatsache", "Tatsachenaussage", "Meinungsäußerung" und "Werturteil". Nur eine grundsätzliche Klärung dieser Begriffe ist geeignet, der Abgrenzung zwischen ihnen wirklich scharfe Konturen zu verleihen. AfP 1987, 672. Der Autor beruft sich dabei u.a. aufBGHZ 3, 270 (274). In der traditionellen Logik bedeutet Kontradiktion einen logischen Widerspruch, der durch die gleichzeitige Bejahung und Verneinung ein und desselben Ausdrucks entsteht, also etwa ,,Anton ist klug" und "Anton ist nicht klug", vgl. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 357 f. 76 77

Kapitel 8: Tatsachenbegriff und Opfermitverantwortung Eingehend ausgearbeitete Vorschläge, den Tatsachenbegriff des § 263 StGB zu modifizieren, existieren in der jüngeren Strafrechtsdogmatik nicht. In der neueren Literatur finden sich aber zahlreiche Stimmen, die für eine Restriktion des Betrugstatbestandes insgesamt durch den Gedanken der Opfermitverantwortung1 plädieren. Als möglicher Ansatzpunkt einer derartigen Restriktion wird teilweise auch der Tatsachenbegriff diskutiert. 2 Eine Auswahl der wichtigsten Stellungnahmen dazu soll kurz vorgestellt und danach die Grundlagen des eigenen Ansatzes skizziert werden. I. Die Thesen Nauckes In den Kapiteln 2 und 3 wurde die Geschichte der Abgrenzung von Tatsachenbehauptungen und Werturteilen im deutschen Strafrecht untersucht. Dabei wurde wiederholt bemerkt, daß die besondere Pönalisierung beleidigender oder täuschender Tatsachenbehauptungen in den §§ 186, 187 und 263 StGB auf der Vorstellung des Gesetzgebers beruht, derartige Äußerungen seien gefährlicher als bloße Werturteile. Dieser Ansatzpunkt und die hinter ihm stehende Diskussion um die Täuschungseignung betrügerischen Verhaltens geriet aber seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Vergessenheit. Es verdient deshalb besonderes Interesse, daß Wolfgang Naucke bereits vor drei Jahrzehnten im Kontext einer kriminalpolitischen Analyse der Betrugsdogmatik den Vorschlag unterbreitet hat,

1 Allgemein zu den Vorschlägen fiir eine "Viktimo-Dogmatik" Arzt, MschKrim 67 (1984), 105- 124; W. Hassemer, FS Klug, Band 2, 217- 234; Schünemann, NStZ 1986, 193- 200, 439- 443; sehr kritisch Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 1981,; ders., Der Einfluß des Opferverhaltens auf die dogmatische Beurteilung der Tat, 1983. Zusammenfassend Roxin, AT 14 I 15 - 24, der zu Recht vor einer Überschätzung des viktimodogmatischen Ansatzes warnt. Skeptisch auch Sch-Sch-Lenckner, vor § 13 Rz. 70 b mwN. 2 Als weitere Ansatzpunkte kommen vor allem in Frage: der Irrtum, der Zusammenhang zwischen Täuschungshandlung und Irrtum und der Vermögensschaden. Speziell zum Irrtum bei § 263 StGB und dem Opferschutzgedanken R. Hassemer, Schutzbedürftigkeit des Opfers und Strafrechtsdogmatik, 99 - 180. Eingehend zu den verschiedenen neueren Vorschlägen einer Deliktseinschränkung Ellmer, Betrug und Opfermitverantwortung, 144 - 165; Kurth, Die Mitverantwortung des Opfers beim Betrug, Teil3 (99 - 243).

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

104

bei § 263 StGB die Täuschungseignung und damit die Gefährlichkeit der jeweils konkret in Frage stehenden Äußerung wieder stärker zu berücksichtigen. 3

Nauckes Kernthese lautet, fiir den Betrug solle nicht jeder Kausalzusammenhang zwischen Täuschungshandlung und Irrtumserregung genügen, sondern nur ein solcher kausaler Zusammenhang, der sich im Hinblick auf die Intensität der Täuschung und die Gründe fiir die Täuschungsanfälligkeit des Opfers noch als "adäquat" ansehen lasse.4 Dieser Gedanke war bereits früher von Sauer angedeutet worden, doch hat erst Naucke eingehendere Argumente dafiir vorgebracht: Die h.M., die jede Erregung eines Irrtums ausreichen lasse, verfolge zwar das billigenswerte Ziel, auch die geschäftlich Hilflosen und im Rechtsverkehr Unerfahrenen zu schützen. Sie versuche dies aber um den Preis, "daß die mangelnde intellektuelle Übung, die unvollständige Unterrichtung über vermögensgefährdendes Verhalten anderer, die mangelnde Übung im täglichen Geschäftsverkehr hingenommen und festgeschrieben werden". 6 Im Gegensatz dazu plädiert Naucke dafiir, die Eigenverantwortlichkeit fiir den Vermögensschutz zu betonen und besonders durchsichtige Täuschungen aus dem Tatbestand des § 263 StGB herausfallen zu lassen. Die Unbeachtlichkeit offensichtlicher Täuschungen ergebe sich auch aus der Gesetzesgeschichte.7 Das Strafrecht solle "nicht die Aufgabe übernehmen, verbreitete Formen intellektueller Ungeübtheit und Unsicherheit ertragbar zu machen durch Bestrafung dessen, der diese Ungeübtheil fiir sich einsetzt".8 Freilich müsse das Strafrecht auch "den Schutz der Törichten und Lebensfremden dann übernehmen, wenn Torheit und Lebensfremdheit im gegebenen Augenblick nicht änderbar sind (wie bei Kindern und Geisteskranken) oder wenn andere Mittel, vom Zivilrecht bis zur gezielten sozialpolitischen Maßnahme, versagt haben". 9 Ziel müsse es sein, umfassend "zu erörtern, wie geschickt man sein muß, um Strafe wegen Betruges zu riskieren, und wie unwissend man sein darf, ohne den Schutz des Vermögensstrafrechts zu verlieren". 10

Nauckes Überlegungen zu einer Zurückdrängung des Strafrechts sind erstaunlich aktuell. Sie gehen in dieselbe Richtung wie die jüngsten Warnungen vor 3 Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 232 f, 248 und passim; ders., FS Peters, 109-120.

FS Peters, 118.

4

System des Strafrechts. Besonderer Teil, 4, 81; vgl. auch Ganske, Prozeßbetrug und Adäquanz, 45 ff. 5 Sauer, 6

FS Peters, 115.

FS Peters, 116. FS Peters, 117. 9 lbid. 7

8

°FS Peters, 118 f.

1

Kap. 8: Tatsachenbegriffund Opfermitverantwortung

105

einem "Strafrecht der Risikogesellschaft" und einem Gesetzgeber, der angesichts immer drängender werdender Großrisiken 11 dazu übergeht, das Strafrecht nicht mehr als ultima, sondern als prima und nicht selten sogar als sola ratio zu verwenden. Das Strafrecht wird so zum Mittel der Sozialpolitik. 12 Man hat Naucke vorgeworfen, den Opferschutz unangemessen weit zurückzunehmen und stattdessen die Täter zu begünstigen. 13 Damit scheinen mir aber Nauckes knapp formulierte Thesen überinterpretiert zu werden. Immerhin spricht er sich selbst dafiir aus, die "Törichten und Lebensfremden" zu schützen. 14 Das Grundanliegen Nauckes ist es, die Verantwortungsbereiche von Betrugsopfer und Betrugstäter schärfer herauszuarbeiten. Damit sind "unsoziale" Festlegungen keineswegs präjudiziert. Für Nauckes Ansatz sprechen insbesondere folgende Überlegungen: Im modernen Geschäftsleben hat nur der Erfolg, der immer "ein klein bißeben schlauer" ist als sein Konkurrent. Die Grenze zwischen strafbarem Betrug und nicht strafbarer, ja sogar öffentlich geforderter Geschäftstüchtigkeit ist dabei häufig unklar. 15 Insofern ist der Betrug ein typisches Delikt einer "Grenzmoral".16 Die Bedeutung der Wirtschaft fiir unser Leben ist heute zudem so groß wie nie zuvor. Jeder wird fast unablässig mit raffinierter Werbung und lockenden Angeboten konfrontiert. Geht man auf sie ein, so ist der Ärger oft groß. Entsteht gar ein Vermögensschaden, so muß geklärt werden, ob ein strafbarer Betrug vorliegt. Letztlich ist eine einigermaßen klare Abschichtung der Verantwortungs- und Risikosphären zwischen den Partnern im Geschäftsverkehr also unverzichtbar. Es muß geklärt werden, welches Maß an Täuschung noch zulässig ist und ab welchem Punkt Täuschung im Geschäftsverkehr strafrechtlich relevant wird. Nauckes Vorschläge bieten hierfür einen wichtigen Ansatzpunkt, während die bislang h.M. klare Kriterien vermissen läßt. Allenfalls bei der Täuschung durch Unterlassen und der konkludenten Täuschung hat die h.M. versucht, eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche zwischen Täuschendem und Getäuschtem vorzunehmen. 17 Dasselbe Problem stellt sich aber auch beim Normalfall betrügerischen Verhaltens, den Täuschungen durch falsche Tatsachenaussagen. 11

Nachweise bei Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, 17 - 28.

Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung, 40- 57 mwN. So zuletzt Seier, Der Kündigungsbetrug, 270 f; ablehnend auch Amelung, GA 1977, 9; El/mer, Betrug und Opfennitverantwortung, 154 ff; Hillenkamp, Vorsatztat und Opferverhalten, 85 ff; LK-Lackner, § 263 Rz. 91; Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 43; SK-Samsonl Günther,§ 263 Rz. 62; Tröndle, JR 1974, 224; ders., StGB-Komm., § 263 Rz. 19; Wessels, BT 2, Rz. 474, 494. 12

13

14

FS Peters, 117.

Vgl. den prägnanten Titel von Kühne, Geschäfstüchtigkeit oder Betrug?, 1978. Zusammenfassend Arzt I Weber, LH 3, Rz. 383 ff. 16 Haft, ZStW 88 (1976), 370. 15

17

Vgl. oben KapitelS III 1, 2.

106

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Es kann somit nicht überraschen, daß Nauckes Thesen im neueren Schrifttum verstärkt aufgegriffen werden. 18 Allerdings scheint fraglich, ob die Verortung des Problems im Kausalzusammenhang zwischen Täuschungshandlung und Irrtumserregung, wie sie Naucke vorschlägt, zweckmäßig ist. Die Adäquanz, die Naucke als zusätzliche Tatbestandslimitierung verlangt, wird üblicherweise als Wahrscheinlichkeitseinstufung verstanden. 19 Es wird also darauf abgestellt, ob eine Irrtumserregung "im Regelfall" zu erwarten war. Damit bindet man die Abschichtung zwischen den Verantwortungsbereichen von Betrugsopfer und -täter zu sehr an die gesellschaftliche Wirklichkeit. Vorzugswürdig erscheint es, die Abgrenzung aus einer übergeordneten Perspektive zu versuchen, die grundsätzlichere Überlegungen erlaubt. Auch Naucke spricht davon, die Abschichtung "normativ" vorzunehmen, wobei insbesondere die Täuschungsintensität und die Gründe fiir die Täuschungsanfälligkeit des Opfers berücksichtigt werden sollen. 20 Die Abschichtung der Verantwortungssphären zwischen Täter und Opfer ist letztlich ein Problem, das bei der Auslegung und rechtsdogmatischen Durchdringung aller Tatbestandsmerkmale des § 263 StGB zu berücksichtigen ist. Grundsätzlich kann jedes Tatbestandselement, ja sogar mehrere oder auch alle Tatbestandsmerkmale als Anknüpfungspunkt fiir den Topos "Opfermitverantwortung" gewählt werden. In der Tat wurden dazu schon die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht. 21 Im folgenden sollen einige dieser Vorschläge zur Sprache kommen. Ziel ist es, auszuloten, ob und inwieweit der Gedanke der Opfermitverantwortung schon bei der Fassung des Begriffs "Tatsachenbehauptung" berücksichtigt werden kann.

II. Opfermitverantwortung und Täuschungshandlung - einige neuere Vorschläge 1. Die Kritik Samsons an der herrschenden Meinung Samsan geht davon aus, daß die Bezugnahme auf Tatsachen bei§ 263 StGB Ausdruck einer Abgrenzung zwischen sozial mißbilligten Vermögensschädigungen einerseits und sozial gebilligten Vermögensminderungen andererseits darstellt. 22 Dem § 263 StGB liege das Modell eines ",besonnenen' Menschen 18 Etwa bei Ellmer, Betrug und Opfennitverantwortung, 158; Kurth, Mitverschulden des Opfers, 169, 183; See/mann, Grundfälle zu den Eigentums- und Vennögensdelikten, 65; abwägend Arzt/ Weber, LH 3, Rz. 379 ff; deutlicher in Rz. 410.

19

Vgl. nur Jescheck/ Weigend, AT, 285.

°FS Peters, 118.

2

21

Vgl. die Übersicht bei Kurth, Das Mitverschulden des Opfers, Teil3 .

22

SK, § 263 Rz. 3. Die relevanten Passagen wurden inzwischen von dem neuen Korn-

Kap. 8: Tatsachenbegriffund Opfermitverantwortung

107

zugrunde, der eine Entscheidung über den Einsatz seines Vermögens auf der richtigen Tatsachenbasis treffen können soll". 23 Zu Recht weist er daraufhin, daß die h.M. die überkommene Definition von "Tatsachenaussage" u.a. durch die Zulassung "innerer Tatsachen" und die Annahme von "Tatsachenkemen" innerhalb von Werturteilen weitgehend ausgehöhlt habe. 24 Er wirft deshalb die Frage auf, ob das Begriffspaar Tatsache I Werturteil die gemeinte Grenze überhaupt angemessen bezeichnen könne. 25 Literatur und Rechtsprechung liege letztlich das Bestreben zugrunde, solche Täuschungsfälle aus dem Anwendungsbereich des § 263 StGB auszuscheiden, "in denen die Entscheidung des Opfersangesichts der gelieferten Entscheidungsgrundlage extrem leichtfertig ist".26 Leider verzichtet Samsan darauf, den hier angedeuteten Gedanken einer Risikoabschichtung zwischen Täuschendem und Getäuschtem weiter auszuarbeiten. Interessant ist sein abschließender Hinweis, daß auch die h.M. den Einfältigen anders als den bloß Leichtfertigen behandle. Während der Einfältige, der die Täuschung nicht erkennen kann, durch § 263 StGB geschützt werde, werde dieser Schutz dem Leichtfertigen entzogen, der das durch die mangelhafte Tatsachengrundlage bedingte Risiko erkennt, sich aber dennoch auf das Geschäft einläßt. 27 2. Der Topos der Opfermitverantwortung als Instrument der dogmatischen Feinsteuerung

Ähnliche Überlegungen wie bei Samsan finden sich bei Arzt und Weber.28 Als das zentrale kriminalpolitische und dogmatische Problem des Betruges betrachten die Autoren die Frage, "wie der Gedanke der Mitverantwortlichkeit des Opfers fiir den Schutz seiner Rechtsgüter [...] nutzbar gemacht werden kann und wie arglistige Täuschung (mit zivilrechtliehen Folgen, vgl. § 123 BGB) von betrügerischer Täuschung (mit strafrechtlichen Folgen) abzugrenzen ist". 29 Damit wird genau die Frage umschrieben, die schon einmal, nämlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Mittelpunkt der Diskussion gestanden hatte. 30 Wie eine Restriktion des § 263 StGB dogmatisch ereicht werden könne, sei jedoch noch mentator Günther weitgehend unverändert übernommen. 23 SK, § 263 Rz. 3 unter Berufung auf Joecks, Zur Vermögensverfügung beim Betrug, 54 ff, 81 ff. 24 SK, § 263 Rz. 10 ff. 25 26

SK, § 263 Rz. 17. SK, § 263 Rz. 18.

SK, § 263 Rz. 19. LH 3, Rz. 379 ff, 383 ff, 397 ff, 410. 29 LH 3, Rz. 381. 30 Vgl. Kapite12 II.

27 28

108

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

weithin ungeklärt. Ein genereller Verzicht auf den Betrugstatbestand würde nach Arzt und Weber als ein "unerträglicher Anreiz zur Ausbeutung unserer Schwächen wirken" und sei deshalb indiskutabel.31 Dem ist ohne weiteres zuzustimmen. Doch auch die Versuche, die Opferverantwortung "gewissermaßen als Instrument für eine Grobsteuerung des § 263 (oder auch nur eines der zentralen Betrugsmerkmale) einzusetzen", sind nach Ansicht Arzts und Webers gescheitert. 32 Erreichbar sei allein noch eine komplizierte "Feinsteuerung, die bei allen Tatbestandsmerkmalen und ihren Unterbegriffen die Opferverantwortung innerhalb des dogmatischen Systems bewußt macht und zur Problemlösung heranzieht". 33 Bei ihrer Diskussion des Tatsachenbegriffs gehen Arzt und Weber auf den Gedanken der Opfermitverantwortung nicht direkt ein. Sie weisen jedoch zu Recht darauf hin, daß die Praxis bei der Abgrenzung von Aussagen über (vor allem innere) Tatsachen und Werturteilen bzw. Meinungsäußerungen sich am Gedanken der Opfermitverantwortung34 orientiert: Vertrauenswürdige Werturteile würden als die Behauptung innerer Tatsachen behandelt und so in den Schutz des § 263 StGB einbezogen. Marktschreierische Anpreisungen würden dagegen als bloßes Werturteil angesehen und damit aus dem Anwendungsbereich des § 263 StGB ausgeschlossen. 35 3. Die .. Täuschungslösung" Ellmers

Besonders eingehend hat sich Manfred Ellmer mit dem Gedanken der Opfermitverantwortung und seiner Bedeutung für den Betrugstatbestand beschäftigt. 36 Ausführlich setzt er sich mit der historischen Genese und aktuellen Bedeutung des Prinzips der Opfermitverantwortung im deutschen Strafrecht auseinander. Im Ergebnis37 plädiert Ellmer dafür, die gebotene Restriktion des Betruges im Bereich der Täuschungshandlung vorzunehmen. Tatbestandsmäßig sollen nur Täuschungshandlungen sein, die "einen bestimmten Grad an konkreter Gefahrlichkeit aufweisen". 38 Zur Beurteilung der konkreten Gefahrlichkeit will Ellmer auf die "individuelle Opferperspektive" abstellen: "Die konkrete Gefahrlichkeit ist zu 31

LH 3, Rz. 380.

32

LH 3, Rz. 381.

33

lbid. Arzt I Weber, LH 3, Rz. 381, sprechen von "Opferselbstverantwortung".

34

35 LH 3, Rz. 397 unter Hinweis auf SK-Samson I Günther, § 263 Rz. 18 und Ellmer, Betrug und Opferrnitverantwortung, 90 ff.

36

El/mer, Betrug und Opferrnitverantwortung, 1986.

Im Unterschied zu seinen beeindruckenden historischen und systematischen Ausführungen fallen Ellmers Äußerungen zur dogmatischen Lozierung des Gedankens der Opfermitverantwortung im Rahmen des § 263 StGB eher knapp aus. 37

38

Betrug und Opferrnitverantwortung, 287.

Kap. 8: Tatsachenbegriffund Opfermitverantwortung

109

verneinen, wenn der Irrtum auf grober Fahrlässigkeit des Opfers beruht".39 Nur solche Täuschungen, "die das Opfer selbst bei sorgfältigem oder nur fahrlässigem Verhalten nicht hätte vermeiden können" will Ellmer als betrugsrelevant anerkennen.40 Er greift damit einen Lösungsansatz auf, den Gustav Geib bereits im Jahr 1840 entwickelt hatte. 41 Ellmers Vorschlag, den Gedanken der Opfermitverantwortung bereits bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals "Tatsachenbehauptung" i.S.v. § 263 StGB zu berücksichtigen, soll im folgenden weiter verfolgt werden. Es verdient deshalb besonderes Interesse, daß Kurth 42 gegen diese "Täuschungslösung" einige grundsätzliche Argumente vorgebracht hat, die die Berücksichtigung des Topos "Opfermitverantwortung" bei der Prüfung und näheren Bestimmung des Merkmals "Tatsachenbehauptung" von vomherein ausschließen sollen. Seiner Ansicht nach scheitert eine besondere Qualifizierung der Täuschungshandlung schon an der Unmöglichkeit, durch Hinzufügung von Merkmalen wie "arglistig" oder "mittels eines listigen Kunstgriffs" eine hinreichend bestimmte Grenze zwischen erlaubter Täuschung und unerlaubtem Betrug zu ziehen. 43 Eine derartige Beschränkung würde sich auch, wie die Judikatur zu § 123 BGB zeige, in der Rechtsprechung nicht durchsetzen. 44 Überdies würde die "Täuschungslösung" ausschließlich auf das Verhalten des Betrügers abstellen und erscheine somit "wenig geeignet[... ], das Mitverschulden des Betrogenen und die Situation, in der sich beide befinden", zu berücksichtigen.45 Kurths Argumente sind nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Insbesondere der Hinweis auf die mangelnde Bestimmtheit von Merkmalen wie "arglistig" oder "mittels eines listigen Kunstgriffs" erscheint zutreffend. Kurth übersiehtjedoch die Möglichkeit, eine "Täuschungslösung" über eine präzisere oder zumindest modifizierte Fassung des Tatbestandsmerkmals "Tatsachenbehauptung" zu versuchen. Insbesondere der Begriff der "Behauptung" kann so festgelegt werden, daß bestimmte, besonders ungefährlich erscheinende Äußerungen nicht mehr darunter fallen. Erinnert sei hier an Pärns Differenzierung zwischen Tatsachenbehauptungen und Tatsachenmitteilungen.46

39

Ibid.

lbid. 41 Geib, Archiv des Criminalrechts N.F. Band 21 (1840), 97- 134; 195- 222. Vgl. dazu auch El/mer, Betrug und Opfennitverantwortung, 32 f, 48 fundoben Kapitel2 II. 42 Kurth, Das Mitverschulden des Opfers beim Betrug, 1984. 40

43

Kurth, Mitverschulden, 104.

Das Merkmal "arglistig" wird bei§ 123 BGB ganz überwiegend als "vorsätzlich" interpretiert, vgl. nur Larenz I Wolf, Allgemeiner Teil,§ 37 Rz. 10. 45 Kurth, Mitverschulden, 105. 46 Vgl. Kapitel 7 IV. 44

110

Teil l: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Auch Ellmers Vorschlag dürfte Kurths Einwänden entgehen, denn Ellmer will dem Betrugstatbestand nicht ein neues Merkmal wie "arglistig" oder "mittels eines listigen Kunstgriffs" hinzufügen, sondern nur die Täuschungseignung der in Frage stehenden Tatsachenbehauptung explizit in Rechnung stellen. Insgesamt scheint mir deshalb die "Täuschungslösung" durch Kurths Argumente nicht widerlegt zu sein. Jede Einschränkung des Begriffes "Tatsachenbehauptung" wird freilich so bestimmt sein müssen, daß die Abgrenzung zwischen erlaubter Täuschung und unerlaubtem Betrug nicht bloß nach dem Rechtsgefühl gezogen wird, sondern auf zumindest einigermaßen stringenten, nachvollziehbaren Kriterien beruht.

111. Der Topos "Opfermitverantwortung" und der Begriff der Tatsachenbehauptung Im folgenden geht es darum, den Gedanken der Opfermitverantwortung für die Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen und Meinungsäußerungen fruchtbar zu machen. Es wurde bereits angesprochen, daß auch die h.L. und die Rechtsprechung die Opfermitverantwortung bei der Prüfung von Tatsachenaussagen indirekt berücksichtigen, allerdings ohne dies hinlänglich deutlich werden zu lassen. 47 Im Bereich der Werbung neigt die Rechtsprechung dazu, übertreibende Äußerungen, die für den Adressaten durchschaubar sind, nicht als Tatsachenaussagen anzusehen. Bei der konkludenten Täuschung und der Täuschung durch Unterlassen wird teilweise sogar ausdrücklich eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche vorgenommen.48 Unter dem Gesichtspunkt der Opfermitverantwortung ist dieser Weg richtig. Allerdings gehen Rechtsprechung und h.L. bei der Berücksichtigung des Gedankens der Opfermitverantwortung nicht konsequent vor. So ist es beispielsweise sehr fragwürdig, im "Sirius-Fall"49 Betrug anzunehmen. Wer in derartigen Fällen ohne weiteres Betrug bejaht, setzt sich in eklatanten Widerspruch zur Rechtsprechung im Bereich der Werbung, insbesondere zur Einschätzung "marktschreierischer Anpreisungen". Es ist nicht ersichtlich, warum die Behauptung, man sei ein Sendbote des Sirius, eine Tatsachenbehauptung darstellen soll, Anpreisungen wie "Nichts wäscht weißer als Persil" oder "Mit diesem Präparat fühlen Sie sich in zwei Tagen wieder jung" dagegen nur als unverbindliche und für § 263 StGB irrelevante Meinungsäußerungen qualifiziert werden. An Unglaubwürdigkeit stehen sich die erwähnten Äußerungen in nichts nach. Überdies erscheint das methodische Instrumentarium, das die h.M. bei der Einstufung von Äußerungen

Vgl. Kapitel 8 II I, 2. Vgl. KapitelS III 2. 49 BGHSt 32, 38- 43. Der Sachverhalt ist in Kapitel 9 III 3 wiedergegeben. 47 48

Kap. 8: Tatsachenbegriffund Opfermitverantwortung

111

als Tatsachenbehauptungen, Werturteilen oder anderen Meinungsäußerungen verwendet, als teilweise sehr problematisch. In den folgenden Kapiteln soll eine tragfahige Alternative zur bisherigen Theorie und Praxis vorgeschlagen und begründet werden. Die Ausdrücke "Tatsachenbehauptung", "Werturteil" und "Meinungsäußerung" sollen inhaltlich neu bestimmt werden, und zwar auf eine Weise, die zum einen die Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten der bisherigen Lehre vermeidet und zum anderen dem Gedanken der Opfermitverantwortung hinlänglich Rechnung trägt. Tatsachenaussagen sind danach alle Behauptungen, die grundsätzlich empirisch prüfbar sind (Kapitel 9). Sie können in den verschiedensten grammatikalischen Formen auftreten (Kapitel 12). Zu der Kategorie der Tatsachenaussagen gehören auch Behauptungen über "innere Tatsachen" (Kapitel 10), Prognosen (Kapitel 11) und grundsätzlich auch Rechtsbehauptungen (Kapitel 16). Keine Tatsachenaussagen sind die Werturteile. Sie stellen eine eigene Kategorie dar, die sich durch ein Moment der persönlichen Stellungnahme auszeichnet (Kapitel 13 und 14). Alle Werturteile sind Meinungsäußerungen. Aber auch Tatsachenaussagen, deren Geltungsanspruch (Verbindlichkeitsgrad) deutlich abgemindert ist, sind bloße Meinungsäußerungen und damit nicht betrugsrelevant (Kapitel 15). Dies gilt zum einen für solche Tatsachenaussagen, deren Geltung der Sprecher selbst durch Ausdrücke wie "Ich vermute" oder "Ich meine" einschränkt. Bloße Meinungsäußerungen sind aber auch solche Tatsachenaussagen, die nach dem Verständnis eines durchschnittlichen Adressaten, insbesondere eines durchschnittlichen Teilnehmers am Geschäftsverkehr, in besonderer Weise unglaubwürdig sind. Sie sind damit nicht betrugsrelevant. Ausnahmen sind nur dann anzunehmen, wenn der Getäuschte etwa infolge geistiger Mängel oder hohen Alters als besonders schutzwürdig erscheint. IV. Zusammenfassung der Kapitel 2 - 8 Die Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen im Strafrecht ist grundsätzlich ein terminologisches Problem. Terminologische Festlegungen sind nicht wahr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig. Die dabei zugrundezulegenden Zwecke bestimmen sich nach den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs. Deshalb ist bei der Abgrenzung von Tatsachenaussagen und Werturteilen im Strafrecht vor allem der Schutzzweck der§§ 263 und 186, 187 StGB zu berücksichtigen. Grund für die Restriktion von vermögensschädigenden Täuschungen auf Tatsachen bzw. Tatsachenbehauptungen und die erhöhte Strafbarkeit von Ehrverletzungen durch unwahre Tatsachenbehauptungen ist deren besondere Gefährlichkeit fiir die geschützten Rechtc;güter. Sie ist es also, die bei der Abgrenzung zwischen Tatsachenbehauptungen und bloßen Meinungsäußerungen den Ausschlag zu geben hat.

112

Teil 1: Die überkommenen Abgrenzungsvorschläge

Speziell im Hinblick auf den Betrug tritt noch der Gesichtspunkt hinzu, daß unter den Bedingungen des modernen Wirtschaftslebens eine Abschichtung der Verantwortungsbereiche zwischen Betrugsopfer und Betrugstäter erfolgen muß. Diesen Belangen ist bei der Abgrenzung zwischen Tatsachenaussagen einerseits, Werturteilen und anderen Meinungsäußerungen andererseits Rechnung zu tragen. Dabei sollte insbesondere die Täuschungseignung der jeweiligen Tatsachenaussage in stärkerer Weise als bisher berücksichtigt werden. In den nachfolgenden Kapiteln wird dieser Abgrenzungsvorschlag erläutert und begründet.

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag Kapitel 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht In diesem Kapitel geht es darum, im Anschluß an die Tatsachendefinition von Rechtsprechung und Lehre einen verbesserten Begriff der "Tatsachenaussage" zu erarbeiten. Mein Vorschlag lautet, als Tatsachenaussage jede Aussage anzusehen, die sich prinzipiell empirisch überprüfen (beweisen) läßt. Dem gleichzustellen sind Aussagen, die sich logisch oder mathematisch beweisen lassen. I. Begriffliche Vorfragen Zu trennen sind zunächst die Begriffe "Tatsache" und die auf Tatsachen bezogene "Tatsachenaussage". "Tatsachenaussagen" sind Aussagen über Tatsachen. 1 Bei der Formulierung des § 263 StGB hat der Gesetzgeber diesen wichtigen Unterschied nicht ausreichend beachtet. Tatsachen sind Bestandteile der realen Außenwelf (die auch psychische Phänomene Dritter umfaßf). Tatsachenaussagen hingegen sind sprachliche Einheiten. So können etwa niemals Tatsachen das Ergebnis einer Schlußfolgerung sein,4 sondern bloß Tatsachenaussagen. Logische Schlüsse sind fiir Tatsachen gar nicht definiert. Davon strikt zu unterscheiden sind Werturteile. In einem Urteil werden Eigenschaften von Gegenständen behauptet oder vemeint. 5 Häufig wird "Urteil" als Synonym fiir "Aussage"6 oder "Aussagesatz" verwendet. 7 Ein Werturteil ist also nur ein Unterfall des Urteils. Auch Tatsachenaussagen sind Urteile. In der heutigen Logik ist der Ausdruck 1 Ähnlich Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß, 30: Tatsachen sind "die Objekte des realen Seins im Gegensatz zum Urteil als der gedanklichen Vorstellung des Objekts". Vgl. auch Stein, Das private Wissen des Richters, 8 mwN.

So auch Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 32 f. Die Trennung zwischen eigenem Bewußtsein und der dieses umgebenden ,,Außenwelt" geht zurück auf die Unterscheidung Descartes' zwischen "res cogitans" und "res extensa", vgl. dazu Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Band 2, 108- ll3 (mit Quellennachweisen). 2 3

So aber etwa Rumpf, Der Strafrichter, Band 1, 195. Wörterbuch der Logik, 488-491. 6 Kondakow, Wörterbuch der Logik, 50. 7 Zur Begriffsgeschichte oben Kapitel 4 II. 4

5 Kondakow,

8 Hilgendorf

114

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

"Urteil" allerdings unüblich geworden. Wenn man bedenkt, daß in der Logik nur wahrheitsfähige Sätze als Aussagen gelten,8 bleibt der terminologische Unterschied zwischen "Tatsachenaussage" und "Werturteil" aber immer noch sinnvoll. Außerordentlich mißverständlich ist es jedoch, "Urteil" synonym mit "Werturteil" zu verwenden9• Völlig zu Recht weist Blei daraufhin, das relevante Gegensatzpaar sei nicht Tatsachenbehauptung I Urteil, sondern Tatsachenurteil I Werturteil.10 II. Juristischer und philosophischer Tatsachenbegriff

"Tatsachen" sind nach der in der Literatur und Rechtsprechung allgemein akzeptierten Definition "konkrete Vorgänge oder Zustände der Vergangenheit oder Gegenwart, die sinnlich wahrnehmbar in die Wirklichkeit getreten und damit dem Beweis zugänglich sind." 11 Der Begriff wird im gesamten Strafrecht einheitlich verwendet. 12 Diese Begriffsbestimmung hat sich seit vielen Jahrzehnten in der Rechtsprechung bewährt. Sie liegt auch der Umgangssprache zugrunde. Der Ausdruck "Tatsache" wird aber nicht nur im Sinn von "Vorgang oder Zustand in der realen Außenwelt", sondern auch im Sinn von "wahre Aussage" verwendet. Ein Beispiel bildet der Satz: "Es ist eine Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht seinen Sitz in Karlsruhe hat". Gebraucht man"Tatsache" auf diese Weise, so wird der Ausdruck "x ist eine Tatsache" zu einem Synonym für "x ist wahr". In diesem Sinn soll der Ausdruck im folgenden nicht verwendet werden.

Büh/er, Einfiihrung in die Logik, 52. So aber etwa Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 9 und mit ihm die h.M. in Rechtsprechung und Literatur. Stets hat es aber auch abweichende Stellungnahmen gegeben, vgl. schon Staub, JW 1886, 131-137. 8

9

10 Blei, BT, 222; ebenso schon Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 84 ff; Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 107. 11 So die prägnante Begriffsbestimmung in RGSt 41, 193; 55, 129 (131); dem folgend etwa LK-Herdegen § 185 Rz. 4; Sch-Sch-Lenckner, § 186 Rz. 3. Für das Zivilrecht vgl. BGH DRiZ 1974, 27: "Tatsachen sind konkrete, nach Raum und Zeit bestimmte, der Vergangenheit oder Gegenwart angehörende Geschehnisse oder Zustände der Außenwelt und des menschlichen Seelenlebens". Ganz ähnlich wird der Tatsachenbegriff übrigens auch in der griechischen Rechtswissenschaft definiert, vgl. Mitsopou/os, Studi in onore di Tito Carnacini, Band 3, 461 -476. Dort in Fn. 1 auch Nachweise zur italienischen Literatur. Für den angelsächsischen Rechtskreis vgl. Twining, Facts in Law, 1983 (behandelt in erster Linie Beweisprobleme). 12 Der Ausdruck "Tatsache" findet sich in folgenden Normen des StGB: §§ 93, 99, lOOa, 144, 186,187,190, 192, 263,264,264a,268,271,348,353d,354.

Kap. 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht

115

Dagegen ist der Begriff der "Tatsache" in der Philosophie und Wissenschaftstheorie außerordentlich umstritten. 13 Die größte Zustimmung dürfte wohl der Tatsachenbegriff Wirtgensteins finden, wonach Tatsachen bestehende Sachverhalte (der Welt) sind. 14 Tatsachenaussagen sind danach Aussagen über Sachverhalte; sind sie wahr, so heißen die Sachverhalte "Tatsachen". 15 Abgesehen von der Definition des Ausdrucks "Tatsache" lassen sich in der philosophischen Diskussion vor allem zwei große Themen ausmachen, bei denen die Begriffe "Tatsache" und "Tatsachenaussage" eine Rolle spielen: Die Diskussion um die Wahrheitstheorien und der berühmte Werturteilsstreit, der u.a. um die Möglichkeit "objektiver", nur an den "Tatsachen" orientierter Wissenschaft gefiihrt wurde. Beide Themenkomplexe sind auch fiir die Rechtswissenschaft von Bedeutung, allerdings in unterschiedlichem Maße. Die Auseinandersetzung um die verschiedenen Wahrheitstheorien wurde zwar mit z.T. beträchtlichem geistigen Aufwand betrieben, hat aber dennoch bislang kein auch nur einigermaßen konsensfahiges Resultat erbracht. In der Jurisprudenz wird ebenso wie im Alltag allgemein die Korrespondenztheorie der Wahrheit (Wahrheit als "Übereinstimmung von Tatsache und Satz") 16 zugrundegelegt, ohne daß diese Theorie auch nur problematisiert würde.17 Eine Aussage ist danach dann und nur dann wahr, wenn das, was sie aussagt, auch tatsächlich der Fall ist. Nach meiner Einschätzung besteht die Zurückhaltung gegenüber der philosophischen Diskussion zu Recht. Die Fruchtbarkeit der verschiedenen philosophischen Wahrheitstheorien fiir die Rechtswissenschaft ist sehr zweifelhaft.18 Deshalb soll diese Auseinandersetzung hier unberücksichtigt bleiben. Der Werturteilsstreit 13 Zur philosophischen Diskussion vgl. Adams u.a., Studies in the Nature ofFacts, 1932; Austin, Gesammelte philosophische Aufsätze, 201 - 228; 0/son, An Essay on Facts, 1987; Rundle, Facts, 1993; Simpson, Facts, 1966. Vgl. auch Parthey I Wittich, Begriff und Funktion der Tatsache, 1969; Stöhr, Tatsache- Weltanschauung- Theorie, 1985. Ausführliche Nachweise zur älteren philosophischen Diskussion über den Tatsachenbegriff bei Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 39- 60, insbes. 49 mit Fn. 2 und Grunicke, Der Begriff der Tatsache in der positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, 1930. 14 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus ( 1921 ), Satz 1 bis 1.21 (hier benutzt die Werkausgabe Band 1). Dazu ausführlich Stenius, Wittgensteins Traktat, 47-54. Wittgenstein folgend etwa von Kutschera, Die falsche Objektivität, 164. 15 Vgl. auch Weinberger, FS Topitsch, 177: Tatsachen sind "das gegenständliche Pendant der Tatsachenbeschreibungen". 16 Die Scholastik verwendete die Formel: "adaequatio rei et intellectus". 17 Vgl. aber immerhin Adomeit, JuS 1972, 628 - 634. 18 Ebenso schon Mittermaier; Die Lehre vom Beweise, 63- 65. In: GA 1993, 547559, habe ich meine Ansicht zur Verwendbarkeit der philosophischen Wahrheitstheorien in der Jurisprudenz ausführlicher dargelegt und begründet. Speziell zum Begriff der Tatsache im Kontext der Wahrheitstheorien Franzen, Die Bedeutung von "wahr" und "Wahrheit", 61 - 70; 186 - 194 sowie Patzig, Sprache und Logik, 39 - 76.

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

116

berührt dagegen die Legitimitätsgrundlagen der Rechtswissenschaft. Thesen wie die von der notwendigen Parteilichkeit jeder Wissenschaft und der Unmöglichkeit, politische Postulate von wissenschaftlichen Aussagen zu trennen, sind für die Jurisprudenz von großer Bedeutung. Allerdings dürfte der Werturteilsstreit im Kern eine moralische oder politische und keine wissenschaftliche Auseinandersetzung sein. Er ist im vorliegenden Zusammenhang deshalb nur bedingt von Interesse. 19 Insgesamt soll im folgenden der Tatsachenbegriff grundsätzlich im Sinne der bewährten juristischen Begriffsbestimmung verwendet werden. Allerdings erscheint es zweckmäßig, einige Klarstellungen vorauszuschicken, die für die weitere Untersuchung von Bedeutung sein werden, und zudem einige kleinere Modifikationen vorzuschlagen.

111. Die einzelnen Elemente des juristischen Sprachgebrauchs 1. Vorgänge oder Zustände

Nach der oben20 wiedergegebenen Definition der h.M. muß es sich zunächst um eine Behauptung über "Vorgänge oder Zustände" handeln. 21 Der Duden22 definiert "Vorgang" als "etwas, was vor sich geht, abläuft, sich entwickelt", während das Wort "Zustand" bestimmt wird als "augenblickliches Beschaffen-, Geartetsein, Art und Weise des Vorhandenseins von jemandem, einer Sache in einem bestimmten Augenblick.•m Kennzeichnend für einen Vorgang ist also eine Veränderung, während ein Zustand als sich momentan nicht verändernd, als statisch, betrachtet wird. Allerdings impliziert der Sprachgebrauch nicht, daß ein Zustand auf Dauer unveränderlich ist. Es reicht aus, wenn die Veränderung so langsam vor sich geht, daß sie sinnlich nicht mehr unmittelbar wahrgenommen werden kann. Auch Existenzbehauptungen beschreiben einen Zustand. Sagt man also "Es gibt schwarze Schwäne" oder "Es gibt keine fleischfressenden Kühe", so beschreibt man einen Zustand. Verändert sich der Zustand, so handelt es sich um 19 Albert, Zeitschrift fiir die gesamten Staatswissenschaften 112 ( 1956), 410- 439; ders. in: König, Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band I, 64 ff, 89 f; Hi/gendorf, Universitas 53 (1998), 151-164; Keuth, Wissenschaft und Werturteil, 1989; Patzig, Tatsachen, Normen, Sätze, 76-97 und Waas, Ethik und Wissenschaft, 1982.

20

Vgl. oben II.

Skeptisch gegenüber der Berücksichtigung von ,,Zuständen" Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision, 50. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 103 f, hält die Unterscheidung von "Vorgängen" und ,,Zuständen" fiir überflüssig. 22 Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 6, 2813. 23 Duden, Band 6, 2976. 21

Kap. 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht

117

einen Vorgang. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch können die Ausdrücke "Zustand" und "Vorgang" nicht nur aufreal Existierendes angewendet werden, sondern genausogut auf Phantasiewelten. Äußerungen wie, der Katzenkönig24 verlange ein neues Opfer oder man sei vom Sirius entsandt worden, um einige auserwählte Menschen zu retten25 , betreffen mithin bestimmte "Vorgänge oder Zustände" i.S. der obigen Tatsachendefinition. Ereignisse sind (zeitlich eng begrenzte) Vorgänge. Fraglich ist, ob nicht bloß Einzelvorgänge, sondern auch Regelmäßigkeiten der äußeren Welt als "Tatsachen" angesehen werden können. So wurde vertreten, daß Wasser abwärts fließe, sei keine Tatsache, sondern ein allgemeiner Erfahrungssatz.26 Hier ist zunächst zu beachten, daß "Tatsache" eine außersprachliche Erscheinung ist, während ein "allgemeiner Erfahrungssatz" stets sprachlich formuliert ist. 27 Berücksichtigt man dies, so ergeben sich die Gegensatzpaare Einzeltatsache28 I Regelmäßigkeit der Natur und, auf der sprachlichen Ebene, singuläre Tatsachenbehauptung I generelle Tatsachenbehauptung. Die Behauptung, daß Wasser stets abwärts fließt, ist also eine generelle Tatsachenbehauptung. Dasselbe gilt fiir Sätze wie "Alle Menschen sind sterblich" oder "Reibung erzeugt Wärme". Singuläre Tatsachenbehauptungen lassen sich ohne Zugrundelegung genereller Sätze gar nicht formulieren. So setzt etwa die Tatsachenaussage "Dies ist ein Glas Wasser" u.a. generelle Sätze über die Zusammensetzung von Wasser und von Glas voraus. 29 Deshalb müssen nicht bloß Einzeltatsachen, sondern auch Regelmäßigkeiten der uns umgebenden Welt als Bezugspunkte von Tatsachenaussagen zugelassen werden. Der allgemeine Sprachgebrauch erlaubt es, insofern von "Zuständen" zu sprechen. Daß Wasser stets abwärts fließt, ist also ein Zustand, dessen sprachliche Beschreibung als Tatsachenaussage anzusehen ist. Erfahrungssätze sind generell formulierte Tatsachenaussagen.30 Insgesamt kommt man so zu dem Ergebnis, daß der mit "Vorgang" und "Zustand" bezeichnete Bereich außerordentlich weit ist. 31 Alles, was geschieht oder 24 Vgl. den "Katzenkönig-Fall" BGHSt 35, 347 ff. 25 BGHSt 32, 38 ff ("Sirius-Fall"). 26

Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision, 47.

27 Dies übersieht etwa Graul, JZ 1995, 598 f. 28 Der Ausdruck "Einzeltatsache" ist insofern ungenau, als sich jede Tatsache der

Wirklichkeit als Zusammensetzung untergeordneter Tatsachen verstehen läßt. Es gibt keine atomaren Tatsachen. 29 In der Wissenschaftstheorie spricht man von der "Transzendenz der Darstellung", vgl. etwa Popper, Logik der Forschung, 61. Ähnliche Gedanken tauchen bemerkenswerterweise schon vor Popper bei Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 46 f, auf. 30 Ebenso Graul, JZ 1995, 599. 31 Vgl. auch die Auflistung ,juristischer Tatsachen" bei Manigk, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Band 5, 857.

118

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

existiert oder was als geschehend und existierend hingestellt wird, kann Gegenstand einer Tatsachenaussage sein. Auch sogenannte "negative Tatsachen"32 können Gegenstand einer Tatsachenaussage sein. Betrachten wir Sätze wie "In Konstanz gibt es kein Hofbräuhaus" oder "Maria ist noch nicht 25 Jahre alt". Diese Sätze sind im Sinne der Korrespondenztheorie wahr, wenn sie den "negativen Tatsachen" entsprechen, daß es in Konstanz tatsächlich kein Hofbräuhaus gibt und daß Maria tatsächlich noch nicht 25 Jahre alt ist. Als "positive Tatsache" ließe sich hingegen ansehen, daß das Hofbräuhaus in München steht und daß Maria 20 Jahre alt ist. -Negativ ist allerdings nicht die Tatsache als solche, also nicht eine außersprachliche Wirklichkeit, sondern unsere Behauptung über diese Tatsache: Es ist nicht der Fall, daß in Konstanz ein Hofbräuhaus steht, und es ist auch nicht der Fall, daß Maria 25 Jahre alt ist. Die Behauptung einer "negativen Tatsache" ist nichts anderes als eine negativ formulierte Tatsachenbehauptung. 33 Auch Äußerungen darüber, daß etwas nicht der Fall ist, können also als Tatsachenaussagen angesehen werden. Schon hier wird deutlich, daß es sich sehr häufig als zweckmäßig erweist, nicht auf die "Tatsachen" (als Bestandteile der außersprachlichen Wirklichkeit) abzustellen, sondern den Begriff der "Tatsachenaussage" (ein sprachliches Konstrukt) in den Mittelpunkt zu rücken. 34 Ontologische Fragestellungen wie das Problem "negativer Tatsachen" sind notorisch unklar. Die Hinwendung zur Sprache hat sich hingegen in zahlreichen Grundlagenfragen der modernen Wissenschaften als sehr tragfahig erwiesen35 und ist auch in der Rechtswissenschaft geeignet, unfruchtbare metaphysische Auseinandersetzungen zu vermeiden, 2. Die "Konkretheil" des behaupteten Vorganges oder Zustandes Nach der Definition der h.M. muß es sich um "konkrete" Vorgänge oder Zustände handeln. Das Wort "konkret" ist außerordentlich vieldeutig. In einer verbreiteten Bedeutung meint "konkret" dasselbe wie "sinnlich erfahrbar". In diesem Sinn spricht man etwa von der "konkreten Wirklichkeit". "Konkret" kann aber auch im Sinn von "aktuell" oder "gerade anstehend" verwendet werden, etwa in der Wendung: "ein konkreter Anlaß"_ Schließlich meint "konkret" auch 32 Zu diesem Begriff vgL etwa Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 253 f, 259 mwN, Aus der Rspr. einschlägig RGSt 1, 5; RG Rspr. 8, 693; RG JW 1913, 163; RG JW 1931, 1815; BGH NStZ 1993,550 mit Anm. Widmaier, NStZ 1993,602 und Hamm, StV 1993,455. VgL auch Larguier, Revue Trimistrielle de Droit Civil (1953), 1-48, 33

Ebenso von Greyerz, Der Beweis negativer Tatsachen, 17 f

Ebenso für das Zivilprozeßrecht Rosenberg I Schwab-Gottwa/d, Zivilprozeßrecht, § 113 I 2; a_A_ Blomeyer, Zivilprozeßrecht, 352. Skeptisch auch Mitsopou/os, ZZP 191 (1978), 133 f. 35 Einen Überblick gibt Rorty, The Linguistic Turn, 1992. 34

Kap. 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht

119

"bestimmt" oder "präzise", so etwa in der Frage "Wie sehen deine Pläne konkret aus?" Im seihen Sinn verwenden wir das Verb "konkretisieren", etwa in: "Diese These sollten Sie noch etwas konkretisieren!". Damit sind nur einige der Bedeutungsvarianten des Wortfeldes "konkret" angesprochen. Vor allem in der Wissenschaftssprache treten noch zahlreiche Varianten hinzu. Für den Bereich der Rechtswissenschaft hat sie Engisch detailliert analysiert. 36 Vor diesem Hintergrund wird fraglich, was der Ausdruck "konkrete Vorgänge oder Zustände" genau bedeuten soll. In der Kommentarliteratur findet sich folgendes Beispiel: Die Ankündigung, über einen anderen "auszupacken", sei auch dann keine Tatsachenbehauptung, wenn damit zum Ausdruck gebracht werden solle, es seien irgendwelche Unregelmäßigkeiten vorgekommen. 37 Hier wird das Adjektiv offenbar in der Bedeutung von "bestimmt" oder "substantiiert" verwendet. 38 Eine Tatsachenaussage setzt also voraus, daß der behauptete Vorgang oder Zustand präzise, d.h. mit bestimmten Einzelmerkmalen, angegeben wird. Offenkundig ist aber die Zahl der Einzelmerkmale, die im Hinblick auf einen als isoliert vorgestellten Zustand oder Vorgang angegeben werden kann, unendlich groß. Damit wird fraglich, welche Einzelmerkmale angegeben sein müssen, um von einer "Tatsachenaussage" sprechen zu können. Es liegt nahe, zumindest genaue räumliche und zeitliche Angaben zu verlangen. Der Sprachgebrauch läßt es aber zu, den Satz "lrgendwo in Deutschland gibt es wieder Wölfe" als Tatsachenbehauptung zu qualifizieren, obgleich die Aussage räumlich nur sehr wenig spezifiziert ist. Sogar den Satz "Es gab auf der Erde einmal Saurier" kann man trotz seiner extremen räumlichen und zeitlichen Unbestimmtheit noch als Tatsachenaussage ansehen. Problematischer sind Aussagen wie "Es gab auf der Erde einmal fleischfressende Kühe", "Ich bin ein Bote des Sternes Sirius" oder "Es gibt geflügelte Pferde". Alle Aussagen betreffen Phantasiewesen, was freilich allein nicht ausreicht, um ihnen den Charakter von Tatsachenaussagen abzusprechen. Die ersten beiden Aussagen sind immerhin noch grundsätzlich empirisch verifizierbar und falsifzierbar, während die dritte allenfalls verifizierbar ist (wenn tatsächlich einmal ein geflügeltes Pferd auftauchen sollte), aber aus logischen Gründen nicht falsifiziert werden kann. 39 Trotzdem sind nach allgemeinem Sprachgebrauch alle Behauptungen noch als Tatsachenaussagen anzusehen. Es verdient besondere Beachtung, daß hier wieder nicht auf Tatsachen, sondern auf eine Tatsachenaussage abgestellt werden muß. Tatsachen können nicht

Engisch, Die Idee der Konkretisierung, 1968. Sch-Sch-Lenckner, § 186 Rz. 3 unter Berufung auf RG JW 35, 2370 und OLG Koblenz OLGSt § 186 Nr. 9. 38 Ebenso etwa OLG Saarbrücken JR 1989, 390 (391) mit Anm. Keller. 39 Popper, Logik der Forschung, 40. 36

37

120

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

"konkret" i.S.v. "bestimmt" oder "substantiiert" sein; diese Eigenschaft kann nur Tatsachenaussagen zukommen. Nach dem Ausgeruhrten erscheinen die Anforderungen an die Bestimmtheit ("Konkretheit") möglicher Tatsachenaussagen als sehr gering. Um dennoch Äußerungen wie die zuletzt angeruhrten nicht als beleidigungs- oder betrugsrelevante Tatsachenbehauptungen qualifizieren zu müssen, wird man entscheidend auf den Zweck abzustellen haben, den der Gesetzgeber bei der Verwendung des Begriffes "Tatsache" in den§§ 186 fund 263 StGB anstrebte. Wie bereits dargelegt, war der leitende Gedanke bei der Herausarbeitung der Unterscheidung von Beleidigung und Verleumdung im frühen 19. Jahrhundert, daß Tatsachenbehauptungen rur den jeweiligen Adressaten "gefährlicher" sind als persönliche Werturteile oder sonstige Meinungsäußerungen. 40 Diese Gefährlichkeit ergibt sich aber nur bei solchen Tatsachenaussagen, die hinreichend substantiiert sind. Eine rur § 263 oder rur die §§ 186, 187 StGB relevante Tatsachenaussage dürfte also nur dann vorliegen, wenn die Äußerung hinreichend mit Information versehen ist, um aus der Sicht eines durchschnittlichen Empfängers "ernstgenommen" zu werden. Eine Aussage ist nicht schon dann hinreichend substantiiert, wenn sehr viele Einzeldaten dazu angegeben werden; es muß sich vielmehr um solche Daten handeln, die im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einem durchschnittlichen Sprachverwender als relevant eingestuft wurden. In Kapitel 15 werden die damit angerissenen Probleme noch vertieft zu behandeln sein. 3. Die Wirklichkeit des behaupteten Vorganges oder Zustandes

Der behauptete Vorgang oder Zustand muß ferner "in die Wirklichkeit getreten" sein. Mit dieser bildhaften Umschreibung ist gemeint, daß der Vorgang oder Zustand in der realen Außenwelt41 stattfinden bzw. belegen sein muß. Dies wird von der Rechtsprechung aber durchaus großzügig ausgelegt. So wurde etwa im Sirius-Fall42, bei dem sich ein Scharlatan als Sendbote des Sternes Sirius ausgab, neben versuchtem Mord und vorsätzlicher Körperverletzung auch ein vollendeter

40

V gl. Kapitel 3 II.

Philosophisch gesehen ist die Bezeichnung "reale Außenwelt" natürlich mit zahlreichen Problemen befrachtet, die hier jedoch offenbleiben können. Vgl. dazu Engisch, Vom Weltbild des Juristen, insbes. 44- 66 mit umfangreichen Nachweisen zur philosophischen Literatur. Immerhin ist es bemerkenswert, daß idealistische Vorstellungen (i.S. der Erkenntnistheorie) in die Jurisprudenz offenbar nie Eingang gefunden haben. 42 BGHSt 32,38-43 mitAnm. vonRoxin, NStZ 1984, 71; Schmidhäuser, JZ 1984, 195 und Sippe/, NStZ 1984, 357. 41

Kap. 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht

121

Betrug angenommen, ohne daß dies in der Revision in Zweifel gezogen oder auch nur von den Rezensenten gerügt wurde. 43 Schon im Hinblick auf die Lehre vom "irrealen Versuch"44 hätte die rechtliche Relevanz der täuschenden Äußerung zumindest problematisiert werden können: "Wo der Täter magische Mittel anwenden will [ ... ], bewegt er sich überhaupt nicht in demjenigen Lebensbereich, für den allein das Strafgesetzbuch gilt". 45 Während freilich beim irrealen Versuch allgemein eine echte Bedrohung eines Rechtsgutes verneint wird, so daß der irreale Versuch auf die Rechtsgemeinschaft keinen Eindruck zu machen vermag,46 war die Berufung auf die Sphäre des Phantastischen im Sirius-Fall überaus erfolgreich. Insofern hatte der Rekurs auf das Übernatürliche durchaus real greifbare Folgen. 47 Hinsichtlich der Beweisbarkeit derartiger Phänomene hat die Rechtsprechung allerdings stets auf wissenschaftliche Maßstäbe rekurriert und etwa die Parapsychologie oder die katholische Wunderlehre strikt abgelehnt. 48 In Literatur und Rechtsprechung herrscht weitgehend Einigkeit, daß auch Unmögliches Gegenstand einer Tatsachenaussage sein kann. 49 Es reicht also aus, daß ein Zustand oder Vorgang als Bestandteil der sinnlich erfahrbaren Welt behauptet wird. Auch offenkundig falsche Aussagen können Tatsachenaussagen sein. Hier wird erneut deutlich, daß für die juristische Arbeit nicht der Begriff "Tatsache", sondern der Begriff "Tatsachenaussage" entscheidend ist. Etwas Unmögliches ist keine Tatsache; wohl aber kann eine Behauptung über etwas Un43 Mit einer ähnlich abenteuerlichen Geschichte wurde auch im "Katzenkönig-Fall" BGHSt 35, 347 ff getäuscht. V gl. die Anmerkungen von Herzberg, Jura 1990, 16; Küper, JZ 1989,617, 935; Schaffstein, NStZ 1989, 153 und Schumann, NStZ 1990,32. Der "Katzenkönig-Fall" betraf allerdings nicht Fragen des Betrugs, sondern in erster Linie die Abgrenzung von mittelbarer Täterschaft und Anstiftung bei einem Täter, der sich in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befand. Vgl. auch BGHSt 8, 237 - 239; in wistra 1987, 255 f hat der BGH die Frage, ob die phantastischen Äußerungen des Angeklagten noch als Tatsachenaussagen zu werten waren, umgangen.

44 Ob sich die Straflosigkeit des irrealen Versuchs aus § 23 Abs. 3 StGB oder aus allgemeinen Grundsätzen ergibt, ist umstritten, vgl. Sch-Sch-Eser, § 23 Rz. 13 fmwN., kann aber hier offenbleiben.

Bocke/mann, Strafrechtliche Untersuchungen, 160. Weigend, AT, 532. 47 Näher zur rechtlichen Würdigung des Sirius-Falles Kapitel 15 III. 48 So schon RGSt 33, 321 (322 f) und seither die st. Rspr. Dazu sehr kritisch Grochtmann, Unerklärliche· Ereignisse, überprüfbare Wunder und juristische Tatsachenfeststellung, 1989 mit umfassenden Nachweisen. Grochtmann folgt der katholischen Wunderlehre. 49 Vgl. nurLK-Lackner, § 263 Rz. 16; SK-Samson/Günther, § 263 Rz. 19; Welzel, Lb., 369; aus der Rechtsprechung vgl. etwa RG LZ 1915, 1530; JW 1916, 1200; HRR 1926 Nr. 199 sowie die in Fn. 42 genannte Entscheidung. 45

46 Jescheck I

122

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

mögliches als Tatsachenaussage verstanden werden. So ist etwa die Behauptung, in China würden die Frauen erst nach 18-monatiger Schwangerschaft Kinder zur Welt bringen, eine Tatsachenaussage, doch sträubt sich das Sprachempfinden, in diesem Fall von einer "Tatsache" zu sprechen: Ist eine Tatsachenbehauptung unzutreffend, so ist das Behauptete keine Tatsache. In dem Beispiel ist die Möglichkeit einer 18-monatigen Schwangerschaft also keine Tatsache, sie wird lediglich als Tatsache hingestellt. Ein interessantes Sonderproblem stellen logisch falsche Aussagen dar. So ist etwa der Satz: "Dieser Schimmel ist schwarz" bereits aus logischen Gründen falsch, weil "Schimmel" als "weißes Pferd" definiert ist. Ich schlage vor, auch logisch falsche Sätze als Fälle von "Unmöglichkeit" zu betrachten. Der Satz: "Dieser Schimmel ist schwarz" behauptet danach ebenso etwas Unmögliches wie der Satz, in China würden die Frauen erst nach 18-monatiger Schwangerschaft gebären. Im ersten Fall handelt es sich um logische Unmöglichkeit, im zweiten um Unmöglichkeit im Hinblick auf unser Erfahrungswissen. so In beiden Fällen liegen (falsche) Tatsachenaussagen i.S.d. §§ 263, 186, 187 StGB vor. 51 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Anforderungen an die Wirklichkeit des behaupteten Vorgangs oder Zustandes ebenfalls sehr gering sind. Es genügt, etwas als Tatsache hinzustellen. Abzustellen ist wiederum auf das Vorliegen einer Tatsachenaussage, nicht auf das Gegebensein einer vorsprachliehen Tatsache. 4. Die sinnliche Wahrnehmbarkeif

Die in die Wirklichkeit getretenen Vorgänge oder Zustände müssen "sinnlich wahrnehmbar" sein. Die sinnliche Wahrnehmbarkeit umfaßt nur die Wahrnehmbarkeit mittels Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten; sonstige Wahrnehmungsweisen - etwa ein (wie auch immer geartetes) "intuitives Erschauen" -sind nicht zugelassen. 52 Die sinnliche Wahrnehmbarkeit muß nicht unmittelbar -für den Täter zum Zeitpunkt der Äußerung oder für den Richter zum Zeitpunkt 50 Dabei darf man nicht übersehen, daß unser gesamtes Erfahrungswissen lediglich aus Hypothesen besteht. Selbst gut bewährte Erfahrungssätze können prinzipiell jederzeit durch neue, widerstreitende Daten widerlegt werden. Was nach heutiger Erfahrung unmöglich erscheint, kann deshalb im Lichte neuer Erfahrungen möglich werden. Spätestens seit Poppers "Logik der Forschung" aus dem Jahr 1934 ist dies Allgemeingut der Wissenschaftstheorie. Ebenso auch schon Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 42; Stein, Das private Wissen des Richters, 30. 51 In der Logik hingegen werden derartige Aussagen üblicherweise nicht als Tatsachenaussagen angesehen, sondern bilden eine eigene Kategorie. 52 Zum Problem besonderer Erkenntnismethoden vgl. Kraft, Einführung in die Philosophie, 50 - 67.

Kap. 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht

123

der Beweiserhebung- gegeben sein. Es reicht aus, wenn der behauptete Vorgang oder Zustand wenigstens prinzipiell von Menschen sinnlich wahrgenommen werden kann. Berücksichtigt man zudem, daß auch Unmögliches Gegenstand einer Tatsachenaussage sein kann, so muß es genügen, daß etwas als prinzipiell sinnlich wahrnehmbar hingestellt wird. Äußerungen, deren Bezugsgegenstände zwar grundsätzlich sinnlich wahrgenommen werden können, aber nur bei Vorliegen entsprechender technischer Möglichkeiten tatsächlich beobachtbar sind, sind danach ebenfalls Tatsachenaussagen. Beispiele hierfiir sind etwa Äußerungen über bestimmte vermutete Vorgänge im subatomaren Bereich oder Behauptungen über weit entfernte Sternensysteme (etwa über Sirius). Die Beispiele zeigen, daß die grundsätzliche sinnliche Wahmehmbarkeit (ohne Rücksicht auf die jeweils erreichten technischen Möglichkeiten) ausschlaggebend zu sein hat. Ansonsten wären die Gerichte gezwungen, bei der Beweiserhebung die sich rasch wandelnden technischen Möglichkeiten einer empirischen Prüfung mitzuberücksichtigen. Außer Betracht können nur solche technischen Fertigkeiten bleiben, die nach gegenwärtiger Einschätzung eindeutig in das Reich der science fiction gehören, also etwa die Grenze der Wirklichkeit zu überschreiten vorgeben. Der Bundesgerichtshof hat im Sirius-Fall in dieser Hinsicht aber sehr großzügige Maßstäbe angelegt.

5. Die Beweisbarkeit Mit der sinnlichen Wahmehmbarkeit hängt die Beweiszugänglichkeit der behaupteten Vorgänge oder Zustände eng zusammen. In Rechtsprechung und Lehre wird die forensische Beweisbarkeit oft als das wichtigste Kriterium einer Tatsachenbehauptung angesehen. 53 Diese Ansicht ist nicht unproblematisch: Im deutschen Strafprozeßrecht gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, § 261 StP0. 54 Danach entscheidet das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner "freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung". Die Beweisaufnahme und damit das Ergebnis der Beweisaufnahme beziehen sich nach allgemeiner Ansicht aber ausschließlich auf Tatsachen.55 Dies ergibt sich schon aus § 244 Abs. 2 StPO, wo die Pflicht des Gerichts festgelegt wird, zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen "auf 53 Arzt I Weber, LH 1, Rz. 440 f; LH 3, Rz. 397; Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 107; Ennan-Ehmann, Anhang zu§ 12, Rz. 128 mit Nachweisen zur Rechtsprechung der Zivilgerichte. 54 Neben den einschlägigen Kommentierungen vgl. dazu insbesondere Herdegen, NStZ 1987, 193 - 199. Zur historischen Genese Küper, FS Peters, 23 - 46. 55 Vgl. schon Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 35: "Der Begriff des Beweises ist für uns also identisch mit dem Begriff der kognitiven prozessualen Tatsachenfeststellung".

124

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die fiir die Entscheidung von Bedeutung sind". Gesetzliche Beweismittel sind der Beschuldigte, die Zeugen (§§ 48-71 StPO), Sachverständige(§§ 72- 85 StPO), Augenschein(§§ 86-93 StPO) und Urkunden(§§ 249-256 StPO). Diese Beweismittel dienen der Feststellung der relevanten Umstände der Tat, also wiederum der Feststellung von Tatsachen, so daß insgesamt gesehen lediglich (mögliche) Tatsachen Gegenstand der Beweisaufnahme sind. Bei der Erforschung dieser Umstände sind Zeugen und Sachverständige ebenso wie Richter grundsätzlich auf sinnliche Erfahrung angewiesen; besondere Erkenntnisweisen, etwa "Intuition" oder abergläubische Vorstellungen, dürfen der Tatsachenfeststellung nicht zugrundegelegt werden. Obwohl der Richter in seiner Beweiswürdigung grundsätzlich frei ist, ist er doch an die Logik, also die Gesetze des Denkens, und ebenso an die Gesetze der Erfahrung gebunden. 56 Im seihen Sinne hat der Bundesgerichtshof entschieden, daß fiir eine freie richterliche Überzeugungsbildung kein Raum mehr sei, wenn eine Tatsache aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis feststehe. 57 Noch deutlicher heißt es in einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1991: "Die richterliche Überzeugung setzt neben der persönlichen Gewißheit des Richters objektive Grundlagen voraus. Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluß erlauben, daß das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. [... )Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, daß die Beweiswürdigung auf einer tragfahigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruht und daß die vom Gericht gezogene Schlußfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag".ss Daraus ergibt sich, daß vor Gericht nur das beweisbar ist, was grundsätzlich sinnlich wahrgenommen werden kann. Insofern decken sich also die Bereiche der sinnlichen Wahmehmbarkeit und der Beweisbarkeit vor Gericht. 59 Wichtig ist es, zwischen faktisch gegebener und prinzipieller Beweisbarkeit zu unterscheiden. Es existieren höchstrichterliche Entscheidungen, in denen der Bundesgerichtshof allein auf die faktische Beweisbarkeit abzustellen scheint oder zumindest den Unterschied zwischen rein faktischer und prinzipieller Beweisbarkeit nicht hinrei-

56

So ausdrücklich Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 Rz. 22 mwN.

BGHSt 10, 211. Zum Verhältnis der richterlichen Überzeugungsbildung zur wissenschaftlichen Erkenntnis vgl. auch Hilgendoif, Strafrechtliche Produzentenhaftung, 115 121. 58 BGH B. vom 29. Juli 1991-5 St 278/91 (zitiert nach Schäfer, Praxis des Strafverfahrens, Rz. 940). Vgl. auch BGH NJW 1982,2882 fmwN. 59 So auch Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 53. 57

Kap. 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht

125

chend deutlich macht. 60 Wenn man zuläßt, daß der Bereich des gerichtlich Beweisbaren durch Beweisverbote, durch Aufklärungsmängel oder sonstwie eingeschränkt sein kann, so käme man zu dem Ergebnis, daß das gerichtlich Beweisbare nur eine Teilklasse des empirisch Wahrnehmbaren darstellt. Durch das Erfordernis der gerichtlichen Beweisbarkeit würde der Bereich möglicher Tatsachenaussagen also verkleinert. Für eine derartige Einschränkung ist jedoch kein Grund ersichtlich. Sie fiihrt sogar zu offensichtlich untragbaren Ergebnissen. So wäre der Satz "Der Tatverdächtige trug zur Tatzeit am Tatort ein rotes Hemd" keine Tatsachenbehauptung, wenn die Aussage nicht durch Zeugen oder sonstwie forensisch bewiesen werden kann. Existiert zunächst ein Zeuge, stirbt er aber dann und ist ein anderes Beweismittel nicht vorhanden, so wandelt sich die Tatsachenaussage mit dem Tod des Zeugen in eine Meinungsäußerung (oder gar ein "Werturteil"). Sachverhaltsfeststellungen, die unter Verstoß gegen § 136 a StPO gewonnen wurden, wären nicht als Tatsachenaussagen zu qualifizieren. Um derartig unsinnige Folgerungen zu vermeiden, darf nicht auf die faktische, sondern muß auf die prinzipielle Beweisbarkeit abgestellt werden.61 Eine Tatsachenaussage liegt somit dann vor, wenn die Behauptung grundsätzlich beweisbar ist, ohne Rücksicht auf eventuelle Beweisverbote oder Aufklärungsprobleme. Die Aussage muß nicht "wahr" oder "objektiv sicher" sein. Objektiv sichere Erkenntis außerhalb der Formalwissenschaften, also der Logik und der Mathematik, ist gar nicht möglich. Aber auch subjektive Sicherheit, also die eigene Überzeugung, ist nicht erforderlich. Wer behauptet, der zum Verkauf angebotene Pkw sei fabrikneu, obgleich er weiß, daß es sich um einen Gebrauchtwagen handelt, macht eine (falsche) Tatsachenaussage. Anderenfalls wäre Betrug gar nicht denkbar. Dies fiihrt freilich zu dem weiteren Ergebnis, daß der Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren mit dem gerichtlich Beweisbaren identisch ist. 62 Dem Kriterium der gerichtlichen Beweisbarkeit kommt somit grundsätzlich keine eigenständige Bedeutung bei der Abgrenzung von Tatsachenaussagen gegenüber anderen Äußerungsformen zu.63 Den Tatsachenbegriff allein über die forensische Beweisbarkeit definieren zu wollen wäre zirkulär. 64 Stellt man, wie hier vorgeschlagen, nicht auf den vorsprachliehen Begriff "Tatsache", sondern auf Tatsachenbehauptungen ab, 60

So etwa in BGHSt 6, 357 (359).

61

So im Ergebnis schon Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 55 f.

Eine Ausnahme gilt nur im Hinblick auf logisch oder mathematisch beweisbare Behauptungen, die jedoch keine "Tatsachen" im Sinne der eingangs zitierten juristischen Definition betreffen. 62

So auch Kühler, AcP 172 (1972), 199. 1imm, Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen, 37 ff; skeptisch zum Beweisbarkeitskriterium auch Wolter, Der Staat 1997,440 f. 63

64 Näher

Teil2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

126

steht man vor dem zusätzlichen Problem, daß sich der forensische Beweis nur auf singuläre Tatsachenbehauptungen bezieht, nicht auf generelle. Bei der Beweisbarkeit handelt es sich aber jedenfalls um eine wichtige "Faustregel"65 , durch die sich komplizierte, eher praxisferne Überlegungen zu den Möglichkeiten empirischer Wahrnehmung vermeiden lassen. 6. Tatsache oder Tatsachenaussage?

Insgesamt erweist sich danach die Tatsachendefinition der h.M. als außerordentlich weit. 66 "In die Wirklichkeit getretene Vorgänge oder Zustände" sind alle Phänomene der realen Welt. Um auch aufUnmögliches gerichtete Behauptungen als Tatsachenbehauptungen ansehen zu können, muß darauf abgestellt werden, ob ein Vorgang oder Zustand als wirklich behauptet wird, nicht darauf, ob er tatsächlich wirklich ist oder wirklich sein kann. In das Zentrum des Interesses rückt damit anstelle der Tatsachen die Tatsachenaussage als solche. Für die §§ 186, 187 und 263 StGB kommt es also entscheidend auf das Vorliegen von Tatsachenbehauptungen an. Der Begriff "Tatsache" ist demgegenüber sekundär. Genauso wie bei den Begriffen "Werturteil" und "Meinungsäußerung" muß fiir die strafrechtliche Beurteilung auf die Merkmale eines bestimmten sprachlichen Konstrukts und nicht auf die Eigenschaften einer Entität der realen Welt abgestellt werden. Nur durch diese Modifikation lassen sich unnütze metaphysische Spekulationen über Tatsachen oder gar deren "Wesen" vermeiden. Die Abgrenzungsprobleme etwa beim Betrug und im Beleidigungsrecht dürften auch darauf beruhen, daß man bisher "Tatsache" und "Tatsachenaussage" nicht hinlänglich auseinandergehalten hat. Die Parallelisierung des Ausdrucks "Tatsache" mit sprachlichen Konstrukten wie "Urteil" oder "Meinungsäußerung" beruht auf einem Kategorienfehler und ist logisch verfehlt. Die hier vorgeschlagene Terminologie ist mit dem Gesetzeswortlaut ohne weiteres in Einklang zu bringen, indem man das "Behaupten" einer Tatsache(§§ 186, 187 StGB) als "Aufstellen einer Tatsachenbehauptung" interpretiert. Die Beschreibung der Täuschungshandlung im (ohnehin reformbedürftigen) Betrugstatbestand kann als "Wer eine falsche Tatsachenbehaupung aufstellt ..." gelesen werden.67 Daraus ergibt sich weiter, daß das Merkmal der sinnlichen Wahrnehmbarkeil abgeändert werden muß. Anders als Tatsachen sind Tatsachenaussagen nicht sinnlich wahrnehmbar/8 sie sind lediglich durch sinnliche Wahrnehmung 65

Arzt I Weber, LH 1, Rz. 441.

66 Ebenso

1, 27.

schon Sommer, Kritischer Realismus und positive Rechtswissenschaft, Band

67 V gl. auch den Wortlaut des E 1962, wiedergegeben bei Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 229 ("durch Täuschung über Tatsachen"). 68

Allenfalls das materielle Substrat von Tatsachenaussagen ist sinnlich wahrnehmbar,

Kap. 9: Tatsachen und Tatsachenaussagen im Strafrecht

127

überprüfbar. Tatsachenaussagen, so kann zusammenfassend festgestellt werden, sind also alle Aussagen, die prinzipiell empirisch überprüfbar sind. Der hier entwickelte Definitionsvorschlag deckt sich im Ergebnis weitgehend mit der Begriffsbestimmung Maiwalds, der als entscheidendes Kriterium für das Vorliegen einer Tatsachenbehauptung die intersubjektive Nachprüfbarkeil nennt. 69 Allerdings stellt Maiwald nicht auf Tatsachenaussagen, sondern auf (vorsprachliche) Tatsachen ab; zum anderen erfaßt das Kriterium der intersubjektiven Nachprüfbarkeit auch analytisch wahre Aussagen, also Sätze, die mit den Mitteln der Logik oder der Mathematik beweisbar sind. 70 Gerade in den genannten Disziplinen existieren ja allgemein akzeptierte, strenge Beweisverfahren, die es ohne weiteres erlauben, von intersubjektiver Nachprüfbarkeit zu sprechen. Nach dem hier vorgeschlagenen Sprachgebrauch handelt es sich dennoch nicht um Tatsachenaussagen; allerdings lassen sich analytisch wahre Aussagen im Hinblick auf ihre objektive Beweisbarkeit empirischen Tatsachenaussagen gleichstellen. Da derartige Aussagen aber in der Rechtspraxis, soweit ersichtlich, keinerlei Rolle spielen, können sie im folgenden vernachlässigt werden.

also etwa das Blatt Papier, auf dem eine Tatsachenaussage steht, oder die Schallwellen, die eine mündliche Tatsachenaussage tragen. 69 Maurach/Schroeder/ Maiwald, BT 1, § 41 Rz. 27; Larenz /Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II /2, S. 710 fsprechen von "empirischer Nachprüfbarkeit". 70 So ist etwa der Satz: "Drei mal drei ergeben neun" intersubjektiv nachprüfbar, nicht aber empirisch überprüfbar.

KapitellO: Das Problem der inneren Tatsachen I. Der Meinungsstand

Nach heute ganz h.M. 1 sind auch sogenannte "innere Tatsachen" dem strafrechtlichen Tatsachenbegriff zu subsumieren. Dies wird vor allem beim Betrug relevant, dem nach fast allgemeiner Ansicht etwa Täuschungen über die Ernsthaftigkeit eines Geschäftsabschlusses/ das Wissen vom Wert einer Sache3, die Überzeugung von späterer Leistungsfähigkeit4 oder die gegenwärtige Zahlungsbzw. Erfüllungswilligkeie unterfallen sollen. Naucke hat den Vertretern dieser Ansicht bereits vor 30 Jahren entgegengehalten, der Tatsachenbegriffwerde von ihnen in einer unklaren Weise verwendet, die zudem den Anwendungsbereich des § 263 StGB unangemessen ausweite. 6 Er wies darauf hin, daß noch das Preußische Obertribunal Absichten u.ä. nicht dem Tatsachenbegriffsubsumiert habe. 7 Seine Kritik ist jedoch auf taube Ohren gestoßen, wie insbesondere die neuere Entwicklung der Rechtsprechung zeigt. 8 II. Probleme der herrschenden Meinung

Es ist erstaunlich, daß Nauckes Bemerkungen nicht zumindest zum Anlaß genommen wurden, die Figur der "inneren Tatsache" noch einmal kritisch zu 1 BGHSt 15, 24; OLG Celle GA 1957, 220; OLG Schleswig SchiHA 1959, 155; OLG Stuttgart NJW 1958, 1833; Blei, BT, 222; Tröndle, § 263 Rz. 3; LK-Lackner, § 263 Rz. 11; Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 35 f und passim; Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 10. A.A. offenbar nur Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 230 ff und passim.

2

RGSt 24, 405.

3

RG GA Band 46, 323.

4

OLG Braunschweig NJW 1959, 2175; NdsRpfl. 62, 24; OLG Koblenz NJW 1976, 63.

5

BGH vom 7.11.1991, 4 StR 252/91, zitiert nach Tröndle, § 263 Rz. 3.

6

Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 232 und passim. Vgl. dazu oben Kapite12 IV.

strafbaren Betrug, 87 mit Hinweis auf Oppenhojf, Das Strafgesetzbuch fiir die preußischen Staaten,§ 241 Anm. 37 f. Vgl. auch oben Kapitel2 IV. 8 BGH GA 1965, 208; NJW 1983,2827 mit Anm. GauJ, NStZ 1983, 505; StV 1985, 188; OLG DüsseldorfJR 1983,343. Weitere Nachweise bei Sch-Sch-Cramer § 263 Rz. 27 ff sowie oben in Fn. 1. 7 Zur Lehre vom

Kap. 10: Das Problem der inneren Tatsachen

129

überprüfen. Bereits eine kursorische Prüfung hätte ergeben, daß der Begriff außerordentlich problematisch ist: Oben war der Ausdruck "Tatsachenaussage" so definiert worden, daß es sich um eine grundsätzlich empirisch überprüfbare Aussage über einen Vorgang oder Zustand handeln muß. Kann das Vorliegen einer bestimmten Absicht als ein besonderer innerer Zustand angesehen werden? Dies wäre nur dann ohne weiteres möglich, wenn sich Absichten im physischen Substrat des Gehirns nachweisen ließen. Solange dies nicht der Fall ist, sind Absichten jedenfalls nicht direkt empirisch wahrnehmbar. "Innere Tatsachen" scheinen damit in einer anderen Weise zu existieren als physische Gegenstände. In diesem Sinn formulierte bereits Augustinus: "Reden können die Menschen, gesehen können sie werden durch Handlungen ihrer Glieder, gehört in Worten- aber in wessen Gedanken dringt man ein, wessen Herz wird eingesehen? Was er innen trägt, was er innen kann, was er innen treibt, was er innen bereitet, was er innen will, was er innen nicht will- wer begreift's?"9 Hinzu tritt ein weiteres Problem: Der Grundsatz, daß sich für § 263 StGB relevante Täuschungen nur auf Tatsachen beziehen dürfen, würde durch die schrankenlose Zulassung "innerer Tatsachen" ad absurdum geführt. Wenn schon das bloße "Haben" einer Überzeugung als Tatsache verstanden werden muß, kann jedes Werturteil in eine Tatsachenaussage überführt werden, indem man einfach die Worte "Ich bin überzeugt davon, daß ..." oder einen ähnlichen Ausdruck dem Werturteil voranstellt. Die Kategorie der Werturteile würde dadurch weitgehend überflüssig, das eigentliche Sachproblem aber bliebe erhalten, denn es wären nun betrugsrelevante von betrugsirrelevanten Aussagen über innere Tatsachen zu unterscheiden. Über die Konstruktion der "inneren Tatsache", man sei gegenwärtig von einer künftigen Entwicklung überzeugt, lassen sich auch Prognosen ohne weiteres als Tatsachenaussagen interpretieren. Dies mag nicht selten ein "evidentes Strafbedürfnis"10 befriedigen, istjedoch methodologisch nicht akzeptabel, solange keinerlei Kriterien dafür angegeben werden, in welchen Fällen auf das Vorliegen einer "inneren Tatsache" abgehoben und wann allein die Zukünftigkeil der behaupteten Tatsache berücksichtigt werden soll. 11 Besonders deutlich zeigt sich dies in dem Fall OLG Koblenz NJW 1976, 63. Dort hatte ein Angestellter eine Diebin zur Zahlung einer Fangprämie bewegt, indem er ihr vorspiegelte, der Vorgang werde jetzt zwar noch der Polizei vorgelegt, doch sei die Angelegenheit "erledigt". Hierbei handelte es sich, wie auch das Gericht erkannte, um eine 9 Augustinus, Ennarationes in psalmos 41, 13, zitiert nach: Augustinus, Über die Psalmen, 68 (die Übersetzung wurde von mir ergänzt). 10 Seier, Der Kündigungsbetrug, 244.

11 Zutreffend Seier, Kündigungsbetrug, 245 f; vgl. auch LK-Lackner, § 263 Rz. 12 mwN.

9 Hitgendorf

130

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

Prognose über das zukünftige Verhalten Dritter. Als solche war sie nach ganz h.M. nicht betrugsrelevant Das OLG Koblenz gelangte aber trotzdem zu einer Bejahung des § 263 StGB, indem es hervorhob, der Angeklagte habe über seine damalige gegensätzliche Überzeugung, eine innere Tatsache, getäuscht. 12 111. Lösungsmöglichkeiten

Es ist offensichtlich, daß die angesprochenen Probleme einer Lösung zugefuhrt werden müssen. Der zunächst naheliegende Weg, den Begriff der "inneren Tatsache" ganz aufzugeben, ist angesichts der gefestigten Rechtsprechung nicht mehr gangbar. Außerdem sprechen Strafwürdigkeitserwägungen dagegen. 13 Für die Öffentlichkeit wäre es schlechterdings unverständlich, wenn etwa ein Zechpreller nicht mehr als Betrüger strafbar wäre. 14 1. Der Lösungsvorschlag Seiers Seier hat vorgeschlagen, die Anwendbarkeit der Figur der "inneren Tatsache" auf die Zusicherung solcher künftiger Ereignisse zu beschränken, "die der Täter selbst besorgen soll oder die jedenfalls in seinen Einflußbereich fallen". 15 Zutreffend geht Seier davon aus, daß der Gesetzgeber durch die begriffliche Fassung der Täuschungshandlung in § 263 StGB "die Grenzen einer Einstandsgarantie fiir Erklärungen abstecken" wollte: 16 "Für bestimmte (Fehl-)Informationen hat man geradezustehen, an ihnen muß man sich festhalten lassen; fiir andere Äußerungen übernimmt man keine Verantwortung, sie lassen sich ungestraft aufstellen".17 Für zukünftige Ereignisse fände nach der Wertung des Gesetzgebers keine "Garantieübernahme" statt, weil Aussagen über sie immer spekulativ und damit unverbindlich seien. 18 Diese gesetzgebensehe Wertung dürfe durch die Figur der inneren Tatsache nicht unterlaufen werden, indem man Überzeugungen, Vermutungen 12 OLG Koblenz NJW 1976,63-65 (63) mit (insoweit zustimmender) Anm. Meier, in: NJW 1976, 584 f. Aus der älteren Rspr. vgl. RGSt 3, 142; 4, 227 (229); RG JW 1927, 906. Zustimmend auch Sch-Sch-Cramer, § 263 Rz. 8. Ansonsten ist das Urteil auf Kritik gestoßen, vgl. etwa Lange, JR 1976, 182, der die innere Tatseite bezweifelt. Dogmatisch am anspruchsvollsten ist Meurer; JuS 1976, 302 f. Meurer bejaht i.E. ein Werturteil in Form einer Rechtsansicht Vgl. auch Meyer, MDR 1976, 980- 983, der aber auf die Problematik der "inneren Tatsachen" nicht eingeht. 13

Eindringlich Seier, Kündigungsbetrug, 243 f.

14

Zur Zechprellerei vgl. Kapitel 5 I 1.

Seier, Kündigungsbetrug, 251, 265 ff. Kündigungsbetrug, 266. 17 lbid. 18 Kündigungsbetrug, 267. 15

16

Kap. 10: Das Problem der inneren Tatsachen

131

oder Hoffungen in Bezug auf künftige Ereignisse als gegenwärtige "innere Tatsachen" betrachte. Eine Ausnahme möchte Seier aber für Angaben des Täters darüber machen, wie er sich in Zukunft zu verhalten gedenke: "Solche Auskünfte über eigenes Zukunftshandeln haben durchaus Verbindlichkeitscharakter, weil sie den Eindruck des sicheren Bevorstehens [... ] vermitteln. Infolgedessen geht es hier an, dem Erklärenden die Richtigkeilsgewähr für den Eintritt des von ihm beherrschten Ereignisses aufzubürden". 19 Im Ergebnis läuft Seiers Konstruktion also darauf hinaus, eine betrugsrelevante Modifikation von Prognosen mittels der Figur der "inneren Tatsache" nur dann zuzulassen, wenn Gegenstand der Prognose ein Verhalten des Täters in der Zukunft ist. Seiers Abheben auf den "Verbindlichkeitscharakter" einer Äußerung deckt sich zumindest teilweise mit der hier vorgeschlagenen Differenzierung zwischen Tatsachenbehauptungen und bloßen Meinungsäußerungen nach dem jeweils erhobenen Geltungsanspruch. In Kapitel 15 wird dies noch näher auszuführen sein. Nicht überzeugend scheint mir aber, daß Seier Verbindlichkeitscharakter nur Äußerungen des Täters über sein künftiges Verhalten zuerkennen will. Äußerungen wie, daß morgen die Sonne aufgehen oder daß eine Schwangerschaft bei natürlichem Verlauf in neun Monaten beendet sein wird, haben nichts mit dem Verhalten des Äußernden zu tun; dennoch dürfte ihnen nach üblichem Verständnis ein beträchtlicher Verbindlichkeitscharakter zukommen. Dies liegt daran, daß sich die erwähnten Aussagen aus sehr gut bewährten Regeln über die Sonnenund Planetenbewegungen bzw. den natürlichen Verlauf der menschlichen Schwangerschaft ableiten lassen. 20 Schon deshalb erscheint Seiers Vorschlag viel zu eng. Auch ist es unnötig kompliziert, die Betrugsrelevanz von Prognosen mit Verbindlichkeitscharakter über die Figur der "inneren Tatsache" zu konstruieren. In Kapitel ll werde ich zu zeigen versuchen, daß es sich bei Prognosen grundsätzlich um Tatsachenaussagen handelt, deren Verbindlichkeitscharakter- mir erscheint der Ausdruck "Geltungsanspruch" vorzugswürdig - freilich häufig so eingeschränkt ist, daß sie nicht als betrugsrelevante Tatsachenbehauptungen, sondern bloß als Meinungsäußerungen anzusehen sind. Seiers Konstruktionsvorschlag hat im übrigen nichts an der grundsätzlichen Problematik der Figur der "inneren Tatsache" geändert. In welchem Sinn handelt es sich bei Absichten, Überzeugungen usw. überhaupt um "Tatsachen"? Es gilt somit zum einen zu untersuchen, ob sich Aussagen über Absichten und andere "innere Tatsachen" mit dem oben skizzierten allgemeinen Begriff der Tatsachenaussage in Einklang bringen lassen; zum anderen muß geklärt werden, wie eine Verwischung der Unterscheidung von Tatsachenbehauptungen, Werturteilen und

191bid. 20

Dazu näher Kapitel 11.

132

Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

sonstigen Meinungsäußerungen durch die Figur der "inneren Tatsache" vermieden werden kann. 2. Die Verständigung über Fremdseelisches

Menschliche Erkenntnis bezieht sich im Normalfall auf die außerpsychische Körperwelt Auch andere Menschen und deren Geistes- und Gefühlsleben gehören grundsätzlich zu dieser Außenwelt, obgleich psychische Zustände fremder Personen (Fremdseelisches) nicht unmittelbar sinnlich wahrnehmbar sind. Dies gilt für so unterschiedliche Erscheinungen wie fremdes Wissen, fremde Absichten, Glaubenshaltungen, Hoffnungen, Zorn, Angst, Liebe usw.. Das rechtswissenschaftliche Paradebeispiel ist die bereits mehrfach erwähnte Zechprellerei. Aber auch in der Philosophie ist die Frage nach der Existenz und Erkennbarkeil von Fremdpsychischem schon lange Gegenstand intensiven Nachdenkens. 21 Im folgenden möchte ich zu zeigen versuchen, daß die Annahme "innerer Tatsachen" trotz der angesprochenen grundsätzlichen Bedenken gerechtfertigt ist. Trotz der prinzipiellen Unerkennbarkeit des Fremdpsychischen sprechen wir im Alltag ohne weiteres vom großen Wissen des Examenskandidaten, der Absicht unseres Nachbarn, seinen Garten neu zu gestalten, und seiner Hoffnung, die Stare würden diesmal den Kirschbaum verschonen. Derartige Äußerungen erscheinen uns ebenso verständlich wie die Beschreibung eines Bauwerkes oder der Bericht über ein TennisspieL Gelegentlich sind Äußerungen über Fremdpsychisches sogar verständlicher als Informationen über komplizierte Entitäten der Außenwelt. In der Jurisprudenz ist das Fremdpsychische beinahe allgegenwärtig: In fast jedem Strafverfahren muß der Vorsatz des Täters geprüft, seine Schuldfähigkeit bedacht sowie sein Unrechtsbewußtsein berücksichtigt werden. Insbesondere psychiatrische Sachverständige beschäftigen sich ausgiebig mit Fremdseelischem.22 Offensichtlich findet also eine Verständigung über Fremdpsychisches statt. Wir haben uns zu fragen, wie diestrotzseiner prinzipiellen Unerkennbarkeit möglich ist. Gegeben ist uns zunächst die Erfahrung des Eigenpsychischen. Wir spüren, wenn wir zornig sind; wir sind uns einer bestimmten Absicht bewußt usw..23 Schon als Kinder lernen wir außerdem, dieselben psychischen Gegebenheiten auch bei anderen vorauszusetzen. Dabei dürfte von wesentlicher Bedeutung sein, daß sich Menschen in ihrem Äußeren zumindest ähneln. Deshalb liegt 21 Vgl. vor allemAustin, Gesammelte philosophische Aufsätze, 101- 152; Feig/, The "Mental" and the "Physical", 1967; Kraft, Erkenntnislehre, 272- 283; aus jüngerer Zeit von Kutschera, Die falsche Objektivität, 237-246. Vgl. dazu die bereits mehrfach zitierte Schrift Mezgers sowie aus der neueren LiteraNJW 1983, 2049- 2053; Schreiber, FS Wassermann, 1007- 1020. 23 Ausführlich zur Selbstbeobachtung Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 51 ff. 22

tur Foerster,

Kap. 10: Das Problem der inneren Tatsachen

133

es für ein Kind nahe, nicht nur im Äußeren, sondern auch bei Psychischem eine grundsätzliche Identität zwischen dem eigenen und dem fremden Erleben anzunehmen. Dieser Analogieschluß ist natürlich nicht zwingend; es ist aber zu vermuten, daß er dennoch häufig bewußt oder unbewußt gezogen wird. 24 Zu bemerken ist ferner, daß zwar das Fremdpsychische als solches, der "innere Zustand" eines anderen Menschen, nicht direkt wahrnehmbar ist. Etwas anderes gilt aber für bestimmte körperliche Veränderungen, die mit dem jeweiligen inneren Zustand einhergehen und die wir aufgrund unserer Erziehung und unserer eigenen Erfahrung (sowohl bei uns selbst als auch bei anderen) als Ausdruck bestimmter innerer Zustände deuten. 25 So entspricht dem Zorn die Zornesröte, aufgerissene Augen deuten auf Angst hin und wenn einem Menschen beim Anblick von Speisen "das Wasser im Munde zusammenläuft", sind wir ohne weiteres berechtigt, auf das Vorliegen eines gewissen Appetits zu schließen.26 Die Regeln, nach denen wir von der äußeren Erscheinung auf das Fremdpsychische schließen, entstammen der Erfahrung, teils unserer individuellen, teils der früherer Generationen. Selbstverständlich können bei derartigen Schlußfolgerungen Fehler unterlaufen (so wenn wir aus dem Tonfall des Fremden irrigerweise auf Arroganz schließen, statt seine Unwissenheit und Unsicherheit in Rechnung zu stellen)/7 doch häufig scheinen unsere Vermutungen über Fremdpsychisches auch zuzutreffen. Im Behaviorismus wurde versucht, die Psychologie gänzlich auf derartige Beobachtungsdaten zu reduzieren. 28 Die Hypothesen über Fremdseelisches können dazu dienen, fremdes Verhalten zu erklären und vorauszusagen. Dies wäre nicht möglich, wenn derartige Hypothesen völlig beliebig und "sinnlos"29 wären. So kann eine Reihe von an sich ganz disparaten Vorkommnissen - A schenkt der B Blumen; A errötet beim Anblick von B; wenn sie lächelt, beschleunigt sich sein Herzschlag30 - durch eine be 24 Zum Analogieschluß auf Fremdpsychisches Kraft, Erkenntnislehre, 276 f; Russe/, Human Knowledge, 482, 501 - 505; kritisch von Kutschera, Die falsche Objektivität, 238 f. 25 Kraft, Erkenntnislehre, 277 f; Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 60 ff. 26 Zur Erkennbarkeit von Fremdpsychischem auch Carnap, Der logische Aufbau der Welt, 308-313.

27 Die Fallibilität von Hypothesen über Fremdpsychisches ist kein Grund, ihren Charakter als Tatsachenaussage zu leugnen, vgl. von Kutschera, Die falsche Objektivität, 237. 28 Watson, Psychological Review 20 (1913), 158- 177; Skinner; Science and Human Behavior, 1953. Dem eng verwandt sind die Vorschläge des friihen Neoempirismus, vgl. Kraft, Der Wiener Kreis, 150 ff. Ähnlich auch Ryle, The Concept of Mind, 1951. Dt. u.d. T. "Der Begriff des Geistes", 1969. Kritisch dazu Kraft, Erkenntnislehre, 274 f; von Kutschera, Die falsche Objektivität, 2- 10. 29 Der Vorwurf der Sinnlosigkeit wurde vor allem von Vertretern des friihen Wiener Kreises erhoben, vgl. Kraft, Der Wiener Kreis, 151 f. 30 Anders als in den bisher behandelten Fällen handelt es sich hier um eine nicht

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Teil 2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

sondere Affinität zwischen A und B erklärt werden, die man "Liebe" nennt. Desgleichen erlaubt die Absicht meines Nachbarn, sein Rosenbeet in Kürze neu zu gestalten, die Voraussage, daß er demnächst mit zahlreichen Utensilien bewaffnet in seinem Garten erscheinen und dort Unkraut jäten, Steine aufsammmeln und den Boden aufgraben wird - eine Aufeinanderfolge von Verhaltensweisen, die nur durch die dahinterstehende Absicht "ihren Sinn" gewinnt. Indem man aus Hypothesen über Fremdseelisches Verhaltensweisen erklärt und Prognosen ableitet, werden diese Hypothesen empirisch prüfbar und praktisch verwertbar. Kommerzielle und politische Werbung nutzen innerseelische Zustände- etwa Unsicherheit, Geltungssucht, Angst- in großem Stil aus. Auch dies zeigt, daß begründete Annahmen über "innere Zustände" einzelner Personen oder Personengruppen grundsätzlich möglich sind. Hinzu tritt die Besonderheit, daß wir andere Menschen über ihre innerpsychischen Zustände befragen und ihre Antworten mit unseren Vermutungen vergleichen können. Eine derartige Möglichkeit fehlt bei Aussagen über die Außenwelt. So kann der Richter den Angeklagten über seinen Verletzungsvorsatz befragen. Dem Zechpreller kann vorgehalten werden, er habe einem Freund doch kurz vor dem fraglichen Gaststättenbesuch von seiner Absicht erzählt, dort keinesfalls etwas zu bezahlen. In ähnlicher Weise können schriftliche Äußerungen in Briefen oder Tagebüchern "innere Zustände" belegen. Anders als Tatsachen der Außenwelt können wir schließlich "innere Zustände" anderer Menschen grundsätzlich verstehend nacherleben. Voraussetzung dafiir ist allerdings eine gewisse menschliche Reife, d.h. ausreichend eigene Erfahrungen mit entsprechenden "inneren Zuständen". So können wir den Zorn des Geschlagenen über die erlittene Kränkung nachempfinden, wir können die Freude der Studentin über ihre unerwartet gute Note verstehen und die Trauer des Nachbarn über den Verlust einer nahen Angehörigen teilen. Ein derartiges Verstehen von Fremdseelischem ist übrigens eine wichtige Forschungsmethode der Sozialwissenschaften und insbesondere der Geschichtswissenschaft.31 Insgesamt kann damit festgehalten werden, daß sowohl in der Rechtspraxis als auch im Alltag eine Verständigung über Fremdpsychisches in ganz ähnlicher Weise möglich ist wie eine Verständigung über Tatsachen der äußeren Welt.

willensgesteuerte Körperreaktion. In unserem Zusammenhang ist dies jedoch irrelevant. 31 Zum Begriff des "Verstehens" im hier gemeinten Sinn Kraft, Erkenntnislehre, 281; ausfUhrlieh Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Band 1, 389- 500. In der philosophischen Hermeneutik wird das "Verstehen" bisweilen in einem sehr viel weiteren Sinn verwendet, so etwa in den Werken Heideggers und Gadamers. Ablehnend Albert, Traktat über kritische Vernunft, 160 - 170; dazu auch Hilgendoif, Hans Albert zur Einführung, 71 ff, 81 ff. Zur "Juristischen Hermeneutik" insbesondere Rott/euthner, in: Koch, Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 7 - 30.

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3. Die Seinsweise von Fremdseelischem

Offen bleibt aber nach wie vor, in welchem Sinn man davon sprechen kann, "innere Tatsachen" existierten. Wie schon mehrfach festgestellt wurde, sind sie direkt nicht empirisch wahrnehmbar. Doch läßt sich aus der fehlenden direkten Wahrnehmbarkeit nicht ohne weiteres darauf schließen, daß "innere" Zustände nicht existieren.32 Zur Beantwortung der Frage ist es zweckmäßig, sich zunächst an die fiir "innere Tatsachen" zuständige Fachdisziplin zu wenden, die Psychologie. Die Psychologie erhebt den Anspruch, Problemfelder wie das Erleben, das Verhalten, das Wissen und Wollen von Menschen auf wissenschaftliche Weise, also nach Art einer Erfahrungswissenschaft, zu untersuchen. Den Anspruch, empirisch zu arbeiten, erhebt die Psychologie, seitdem sie sich um die Jahrhundertwende von der Philosophie emanzipiert hat: "Die Psychologie kann wie jede Wissenschaft von Tatsachen, so lange sie überhaupt Wissenschaft bleiben will, nur Erfahrungswissenschaft sein".33 Dabei ist den Psychologen die Eigenheit ihres Untersuchungsbereiches durchaus bewußt. Bereits Cornelius spricht von "Tatsachen des geistigen Lebens oder [... ] psychischen Tatsachen".34 In einem neueren Einfiihrungslehrbuch35 heißt es, die "inneren Tatsachen" seien nicht sinnlich wahrnehmbar, sie seien vielmehr "einfach gegeben- es sind Erfahrungsdaten". Spekulationen über die Seinsweise der "inneren Tatsachen" seien unfruchtbar: "Wenn wir von Erfahrungs- oder Beobachtungsdaten sprechen, so meinen wir damit Sachverhalte/Tatsachen, von denen wir als Beobachter den Eindruck haben, sie lägen uns (zum Zeitpunkt des Beobachtens) unmittelbar vor". 36 Auch die Daten unseres Geistes- und Gefiihlslebens sind uns in dieser Weise gegeben. Ebenso wie die Daten der Außenwelt entziehen sich die Daten der Innenwelt dem subjektiven Belieben des Beobachtenden.37 Sie können deshalb ebenso wie die Tatsachen der Außenwelt Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft sein. Auch die Psychologie erkennt "innere Tatsachen" also an, macht aber über die Seinsweise dieser Tatsachen keine Aussagen.38 32 Die These: "Was nicht empirisch wahrnehmbar ist, existiert nicht" ist Ausdruck eines kruden Positivismus und wird jedenfalls heute nicht mehr vertreten. 33

Comelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 3.

34

Psychologie als Erfahrungswissenschaft, 1.

35 Laucken I Schick, Einfiihrung in das Studium der Psychologie, 18. 36 lbid. 37 Laucken I Schick, Einführung in das Studium der Psychologie, 19. 38 Grundlegend Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physi-

schen zum Psychischen 14, 253 f. Für eine weitergehende Auseinandersetzung mit den Gegenständen der Psychologie Breuer, Wissenschaftstheorie fiir Psychologen, 120 ff und Eberlein I Pieper, Psychologie - Wissenschaft ohne Gegenstand? 1976. Nachweise zur älteren psychologischen Literatur bei Mezger, Der psychiatrische Sachverständige, 52 f.

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Teil2: Ein neuer Abgrenzungsvorschlag

Dieselbe Vorgehensweise empfiehlt sich fiir die Jurisprudenz. Ebenso wie die Psychologie kann auch die Rechtsdogmatik über die Seinsweise "innerer Tatsachen" keine fundierten Auskünfte geben. Stattdessen hat sie davon auszugehen, daß in der Umgangssprache über innere Tatsachen wie Absichten, Überzeugungen und Kenntnisse eine Verständigung möglich ist. Daran anknüpfend entwikkelt die Rechtsdogmatik Modelle,39 die das Innerpsychische, den Bereich des Geistes und der Gefiihle, strukturieren. Gelegentlich wird sie auch Modelle aus den Nachbarwissenschaften übernehmen können.40 Die Dreiteilung des Vorsatzes in Absicht, dolus directus und dolus eventualis ist ein derartiges Modell. Innerhalb der rechtsdogmatischen Modelle ist es zulässig, von Absichten, Überzeugungen und Kenntnissen so zu sprechen, als wären sie Tatsachen der realen Welt. 41 Dies istjedenfalls so lange vertretbar, wie eine intersubjektive Verständigung über die jeweiligen "inneren Tatsachen" und ihre Prüfung möglich ist. IV. Die Thesen Hruschkas zur Beweisbarkeit des Vorsatzes In diesem Zusammenhang verdienen einige Ausruhrungen Joachim Hruschkas "Über Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes" besonderes Interesse.42 Hruschka vertritt die These, es sei fehlerhaft, "wenn man den Vorsatz als eine Tatsache versteht und damit als prinzipiell ,objektiv feststellbar". 43 Diese Behauptung scheint auf den ersten Blick der oben entwickelten Auffassung, wonach das Vorliegen von Vorsatz als eine "innere Tatsache" angesehen werden kann, zu widersprechen. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, daß dieser Schein trügt.

39 Nach zutreffender Auffassung ist die Rechtsdogmatik insgesamt nichts anderes als "sprachlicher Modellbau", dazu etwa Zimmer/, Aufbau des Strafrechtssystems, 1930. 40 Man denke etwa an das Modell vom Schichtenaufbau der Persönlichkeit von Rothakker, Die Schichten der Persönlichkeit, 1966. Einen Überblick vermitteln Jescheck I Weigend, AT, 415 ff, die zu Recht betonen, bei dem Schichtenmodell handele es sich "nur um ein Bild". Zur älteren Schichtenlehre vgl. Hofstätter, "Schichtenlehre", in: Fischer Lexikon Psychologie.

41 Auch die Erkenntnis "äußerer Tatsachen", also die Erkenntnis von Sachverhalten der realen Außenwelt, ist streng genommen keinesweg unproblematisch. Was uns gegeben ist, sind nur unsere Erlebnisse; ob und inwieweit sie einer (unterstellten!) realen Außenwelt, also den "Dingen an sich", entsprechen, ist eine ganz offene Frage. Der philosophische Idealismus verneint die Existenz einer derartigen Außenwelt. Diese und verwandte Fragen sollten Juristen aber nicht allzusehr beunruhigen. 42 Hruschka, FS Kleinknecht, 191 - 202. 43 FS Kleinknecht, 202.

Kap. 10: Das Problem der inneren Tatsachen

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1. Das Wissens- und Wollenselement des Vorsatzes Hruschkas Ausgangspunkt ist die Feststellung, "daß der Vorsatz bzw. seine Bestandteile sich gerade auch fiir den Beweise erhebenden und Beweise würdigenden Richter vor den ,äußeren' Tatsachen durch einige auffallende Besonderheiten auszeichnen". 44 Zunächst, so Hruschka, sei es unzutreffend, mit der h.M. anzunehmen, daß beim Vorsatz dem Willens- und dem Wissenselement der gleiche Rang zukäme: "Dabei wird übersehen, daß zwischen dem Willenselement und dem Wissenselement des Vorsatzes ein Abhängigkeitsverhältnis besteht dergestalt, daß ein Täter stets dann, wenn er eine bestimmte Handlung unter bestimmten Umständen vornimmt und dabei den Charakter der Handlung und die Umstände kennt, die fragliche Handlung unter den fraglichen Umständen auch vornehmen will". 45 So sei es etwa "absurd", wenn ein Angeklagter zwar zugeben würde, er habe auf einen anderen geschossen und habe auch gewußt, daß der Schuß tödlich sein werde, er habe aber die tödliche Wirkung nicht gewollt.46 Hruschka nennt dies einen "pragmatischen Selbstwiderspruch".47

Diese Thesen sind nicht unproblematisch. Zwar ist es zutreffend, daß derjenige, der eine Handlung durchfUhrt, diese auch stets durchfUhren will, doch ergibt sich dies schlichtweg aus dem Begriff der Handlung, die als "willensgetragenes Verhalten" definiert ist.48 Die- von Hruschka nicht weiter erläuterte- Konstruktion eines "pragmatischen Selbstwiderspruches" ist deshalb überflüssig. 49 Überdies trifft Hruschkas These nur dann ohne weiteres zu, wenn man den Begriff des "Wollens" in seiner umgangssprachlichen, nicht weiter präzisierten Bedeutung verwendet. Anders liegt es, wenn man, wie in der Strafrechtsdogmatik weithin üblich, zwischen absichtlichem Handeln im Sinne eines "Daraufankommens", bloß wissentlichem Handeln und der Vorsatzform des dolus eventualis unterscheidet. 50 Wer durch eine Fensterscheibe hindurch einen Mann erschießt, "will" im umgangssprachlichen Sinn wohl auch die Scheibe beschädigen; es kommt ihm 44

FS Kleinknecht, 192.

45

1bid. Vgl. auch dens., Strafrecht AT, 435 f.

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