Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte: Am Beispiel der deutschen und europäischen Gleichbehandlungsrechtsprechung zur betrieblichen Altersversorgung [1 ed.] 9783428499212, 9783428099214

Das Recht der betrieblichen Altersversorgung ist geprägt durch den oft jahrzehntelangen Bestand der Rechtsbeziehung zwis

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Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte: Am Beispiel der deutschen und europäischen Gleichbehandlungsrechtsprechung zur betrieblichen Altersversorgung [1 ed.]
 9783428499212, 9783428099214

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TOB lAS HUEP

Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte

Beiträge zum Europäischen Wirtschaftsrecht Herausgegeben im Auftrag des Instituts für Europäisches Wirtschaftsrecht der Universität Erlangen-Nümberg durch die Professoren Dr. Wolfgang Blomeyer und Dr. Karl Albrecht Schachtschneider

Band 17

Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte Am Beispiel der deutschen und europäischen Gleichbehandlungsrechtsprechung zur betrieblichen Altersversorgung

Von

Tobias Huep

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Huep, Tobias: Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte : am Beispiel der deutschen und europäischen Gleichbehandlungsrechtsprechung zur betrieblichen Altersversorgung I von Tobias Huep. - Berlin : Duncker und Humblot. 2001 (Beiträge zum europäischen Wirtschaftsrecht ; Bd. 17) Zugl.: Erlangen. Nürnberg. Univ.• Diss.• 1999 ISBN 3-428-09921-4

Alle Rechte vorbehalten

© 2001 Duncker & Humblot GmbH. Berlin Fremddatenübemahme: Selignow Verlagsservice. Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH. Berlin Printed in Germany ISSN 0947-2452 ISBN 3-428-09921-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97068

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Bestandsaufnahme

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Erstes Kapitel Einführung und Problemaufriß I. Einleitung............................................................................. 11. Gang der Darstellung ................................................................. III. Die allgemeine Problematik rückwirkender Rechtsprechung ........................ 1. Der Begriff der rückwirkenden Rechtsprechung .................................. 2. Ausgangspunkt: Rechtsfortbildung durch Richterrecht ........................... 3. Die Zulässigkeit der Rückwirkung von Richterrecht .............................. 4. Grenzen rückwirkenden Richterrechts ............................................. IV. Die Problematik im Kollisionsverhältnis von nationalem und Gemeinschaftsrecht .. V. Die zugrundeliegenden gesetzlichen Regelungen .................................... 1. Gesetzliche Grundlagen des Lohngleichheitsgrundsatzes ......................... a) Grundlagen des Lohngleichheitsgebots in der BRD .......................... aa) Verfassungsrecht ......................................................... bb) Einfaches Gesetzesrecht ................................................. cc) Der Lohngleichheitsgrundsatz im deutschen Recht der betrieblichen Altersversorgung ........................................................... b) Gesetzliche Grundlagen des Lohngleichheitsgrundsatzes in der Europäischen Union.... ..... ... ................. ............................................. aa) Primäres Gemeinschaftsrecht .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Sekundäres Gemeinschaftsrecht ......................................... 2. Gesetzliche Beschränkungen der temporalen Reichweite des Lohngleichheitsgrundsatzes im Betriebsrentenrecht ...............................................

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Zweites Kapitel Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle der gerichtlichen Praxis und der Literatur I. Untersuchung der bisherigen Ansätze im deutschen Arbeitsrecht.. .. ... ... . . .. .. . ... I. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ................................... a) Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen zur Gewährung von Vertrauensschutz aa) Die Vertrauensposition ..................................................

32 32 32 32 34 37

6

Inhaltsverzeichnis

(1) Die Teilzeitbeschäftigtenproblematik ............................... (2) Die Teilzeitbeschäftigten in der Zusatzversorgungskasse des öffentlichen Dienstes ...................................................... (3) Die Hinterbliebenenversorgung ..................................... (4) Altersgrenzen ....................................................... bb) Die Disposition der Betroffenen......................................... cc) Interessenabwägung ..................................................... dd) Zusammenfassung.... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ....... , ., ........ , . .. .. ... . . . a) Vertrauensschutz gegen die Rückwirkung von Gesetzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragung der Grundsätze auf den Vertrauensschutz gegenüber einer Rechtsprechungsänderung? ......................................................... aa) Nichtannahmebeschluß in Sachen ,,Bilka" .............................. bb) Nichtannahmebeschluß zur Frage der Anwendung nationaler Diskriminierungsverbote trotz gemeinschaftsrechtlichem Rückwirkungsverbot . cc) Zusammenfassung... .... .. .. . .. . . .. . . .. . .... .... . .... . . .. .. . .. . .. . . . .. .. 3. Darstellung der unterinstanzlichen Rechtsprechung ............................. " 4. Die Standpunkte in der Literatur .................................................. a) Verfassungsrechtliche Ansätze ................................................ aa) Ableitung des Vertrauensschutzes aus den Grundrechten ............... bb) Das Rechtsstaatsprinzip ................................................. b) Zivilrechtliche Ansätze........................................................ aa) Materiellrechtlicher Rückwirkungsausschluß ........................... bb) Mißbrauchsgedanke oder unzulässige Rechtsausübung ................. cc) Wegfall der Geschäftsgrundlage......................................... 11. Untersuchung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.. . .. . . . .. .. .. . ... 1. Grundlagen - Rechtssicherheit und Objektivität des Rechts ...................... a) Der Grundsatz materieller Richtigkeit ........................................ aa) Die Objektivität des Rechts ..... .. .. .. .. . .. . .. .. .. . .. .. .. .. . .. . . . .. .. . .. . bb) Auslegung als Begründung grundsätzlicher Rückwirkung.............. b) Der Grundsatz der Rechtssicherheit- Vertrauensschutz als Korrektiv im Einzelfall ................. ............. ...................................... ...... 2. Die Konkretisierung des Vertrauenstatbestands ................................... a) Der gute Glaube ............................................................... aa) Die urunittelbare Anwendbarkeit des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV - ,,Defrenne 11" .................................................... bb) Die Ausnahme bei versicherungsmathematischen Faktoren - "Worringharn" ..................................................................... cc) Die mittelbare Diskriminierung- von ,,Jenkins" bis "Bilka" ............ dd) Die Altersgrenzenproblematik - von ,,Burton" zu "BarbeI" .. .. . .. .. . .. . ee) Die Hinterbliebenenversorgung .............................. , . . . .. .. . . . . ff) Die Differenzierung zwischen Zugang und Leistung .................... gg) Die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst - kein Kollisionsproblem hh) Das Protokoll zu Art.ll9 (neu: Art. 141) EGV .......................... ii) Zusammenfassung ....................................................... b) Die Gefahr schwerwiegender Störungen ...................................... c) Zusammenfassung.. .. . .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. . . .. .. .. . . . .. . . .. .. . .. . . . . . .. . ..

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66 66 67 67 69 69 69 71 72 72 73 79 81 84 92 93 99 101 103 105 107

Inhaltsverzeichnis

7

Zweiter Teil Eigene Lösung

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Drittes Kapitel Die Lösung der Rückwirkungsproblematik im deutschen Recht

108

I. Voriiberlegung ........................................................................ 108 H. Grundlagen des Vertrauensschutzes - Vertrauen im Recht ........................... 110 III. Vertrauensschutz gegenüber Änderungen der Rechtslage durch die Rechtsprechung 111 1. Verfassungsrechtliche Ableitung .................................................. 111 2. Zivilrechtliche Ableitung .......................................................... 117 a) Begründung des zivilrechtlichen Vorrangs .................................... 117 b) Das arbeitsrechtliche Vertragsverhältnis als AusgangspUilkt .................. 120 c) Die Geschäftsgrundlagenlehre als zivilrechtlicher Lösungsansatz ............ 121 aa) Die dogmatischen Grundlagen der Geschäftsgrundlagenlehre .......... 123 (1) Abriß der historischen Entwicklung ................................ 124 (2) Die Risikolehren als moderner Ansatz .............................. 126 bb) Der Tatbestand des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ................... 128 (1) Wesentliche Änderung der Geschäftsgrundlage - die Äquivalenzstörung als objektive Unangemessenheit ............................ 129 (2) Risikoverteilung und Vertrauensschutz - das subjektive Element der Unvorhersehbarkeit ................................................. 129 (a) Grundlagen .................................................... 129 (b) Vorhersehbarkeit als funktionaler Vertrauensschutz ........... 133 (c) Die Vertrauensgrundlage zum ZeitpUilkt des Vertragsschlusses - mögliche Problemlagen .... .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ... 134 (aa) Das Gesetz als Vertrauensgrundlage .................... 134 (bb) Richterrecht als Vertrauensgrundlage ................... 135 (a) Methodische Anerkennung ......................... 135 (P) Positivrechtliche Anerkennung ..................... 137 (y) Faktische Anerkennung ............................. 137 (cc) Die Vertrauensgrundlage bei bislang fehlendem Gesetz oder fehlender höchstrichterlicher Rechtsprechung ..... 139 (d) Kriterien für die Bestimmung der Vorhersehbarkeit bei richterrechtlicher Änderung der Rechtslage .......................... 140 (e) Maßstab für die Vorhersehbarkeit bei Änderung der Rechtsprechung .......................................................... 143 (3) Kriterium der Unzumutbarkeit - die abschließende Interessenabwägung ................................................................. 144 cc) Rechtsfolgenproblem: Wegfall der Geschäftsgrundlage als Einwendung gegen die Begründung eines Versorgungsanspruchs aus dem Gleichbehandlungsgebot? ......................................................... 145 (1) Grundlagen .......................................................... 145 (2) Konkretisierung der Rechtsfolgen bei Änderungen der Geschäftsgrundlage von Dauerschuldverhältnissen ........................... 146 IV. Zusammenfassung ..................... : .............................................. 149

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Inhaltsverzeichnis Viertes Kapitel Anwendung der Geschäftsgrundlagenlehre auf die vorliegende Problematik

I. Anwendbarkeit auf Änderungen der Rechtslage durch die Rechtsprechung im Bereich der betrieblichen Altersversorgung ............................................. 11. Voraussetzungen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage bei Rechtsprechungsänderungen im Bereich des Lohngleichheitsgrundsatzes in der betrieblichen Altersversorgung .................................................................................. 1. Wesentliche Änderung der Geschäftsgrundlage ................................... a) Geschäftsgrundlage in der betrieblichen Altersversorgung ................... b) Wesentliche Änderung ........................................................ 2. Fehlende Risikozuweisung ........................................................ a) Risikozuordnung durch den Lohngleichheitsgrundsatz ....................... b) Modifikation der grundsätzlichen Risikobelastung des Versorgungsschuldners aufgrund der betriebsrentenrechtlichen Besonderheiten ................. aa) § 16 BetrAVG ............................................................ bb) Widerrufsmöglichkeiten ................................................. 3. Einschränkung der Risikoverteilung durch die Vorhersehbarkeit ................. a) Hinterbliebenenrenten.. . . . .. . .. .. .. . .. .. .. . .. . . .. .. .. . .. .. . . .. .. . . . . . . .. .. .... aa) Die friihere Rechtslage als Anknüpfungspunkt .......................... (1) Situation in der gesetzlichen Hinterbliebenenversorgung ........... (2) Die Situation in der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung ..... bb) Keine Übergangsfrist in der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung ., (1) Bedeutung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - Übergangsfrist aufgrund der Abhängigkeit vom Sozialversicherungssystem - Synchronisierungsgebot ....................... (2) Keine übergangsweise typisierende Betrachtung ................... cc) Vorhersehbarkeit der Rechtsentwicklung aufgrund der bisherigen Rechtsprechung ................................................................ b) Mittelbare Diskriminierung - die Teilzeitbeschäftigtenproblematik .......... aa) Die Rechtslage - der ungeklärte Begriff der mittelbaren Diskriminierung im Entgeltbereich ........................................................ bb) Anhaltende Unstimmigkeiten des Begriffs .............................. (1) Geschlechtsneutral gefaSte Formulierung .......................... (2) Überwiegend nachteilige Betroffenheit einer Gruppe .............. (3) Benachteiligende Wirkung aufgrund des Geschlechts .............. (4) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ............................ cc) Entwicklung des Begriffs der mittelbaren Diskriminierung ............. c) Altersgrenzen .................................................................. 4. Unzumutbarkeit .. .. . .. .. .. . .. .. . .. .. .. . .. .. .. . .. . .. .. . . .. . .. .. . .. . .. . . . .. . . .. . . . . .. 111. Zusammenfassung ....................................................................

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Inhaltsverzeichnis

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Fünftes Kapitel Die gemeinschaftsrechtliche Lösung I. Vorüberlegung ........................................................................ 11. Das kollisionsrechtliche Problem- Vorrang des Gemeinschaftsrechts? .............. 1. Präzisierung des Problems ......................................................... 2. Kollision zwischen geschlechtsbezogenem gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Lohngleichheitsgebot ....................................................... 3. Kollision zwischen gemeinschaftsrechtlichem Lohngleichheitsgebot und dem allgemeinem Gleichheitsgrundsatz gern. Art. 3 Abs. 1 GG .......................... 4. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts als Kollisionsregel ........................ a) Umfang und Grenzen des Vorrangprinzips im Gemeinschaftsrecht ........... aa) Die normativen Vorgaben im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (1) Art. 5 (neu: Art. 10) EGV ........................................... (2) Art. 189 (neu: Art. 249) EGV ....................................... bb) Ableitung aus allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen ..... (1) Die Europäische Union als autonome Rechtsordnung .............. (2) Grenzen des gemeinschaftsrechtlichen Vorrangs ................... (3) Die normativen Vorgaben des Grundgesetzes und die Position des Bundesverfassungsgerichts ......................................... (4) Bestimmung des richtigen Verhältnisses zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedsstaatlichem Verfassungsrecht ................... 5. Die Reichweite des Vorrangs bei einzelnen Fallgruppen .......................... a) Vorrang und Art. 3 Abs.2 GG ................................................. b) Vorrang und Art. 3 Abs.l GG ................................................. 6. Zusammenfassung ................................................................. III. Die Zuständigkeit innerhalb des Vorabentscheidungsverfahrens ..................... 1. Die Kompetenzzuordnung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 177 (neu: Art. 234) EGV ..................................................... a) Grundlagen der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzverteilung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gern Art. 177 (neu: Art. 234) EGV ....... b) Diffenzierung zwischen Auslegung und Anwendung ......................... c) Der dogmatische Standort der Wirkungsbestimmung ......................... 2. Lösungsansatz: Geteilte Zuständigkeit zwischen vorlegendem Gericht und EuGH .............................................................................. a) Bestimmung der Kompetenzverteilung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens ..................................................................... b) Funktion des Auslegungsverfahrens .......................................... c) Rechtfertigung der alleinigen Kompetenz durch den Grundsatz der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung und der loyalen Zusammenarbeit (Art. 5 [neu: Art. 10] EGV) ................................................................. d) Beschränkung durch das Subsidiaritätsprinzip ................................ e) Begrenzung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ....................... 3. Ergebnis: Geteilte Zuständigkeit bei der Beurteilung des Vertrauensschutzgrundsatzes .............................................................................. IV. Die materielle Konkretisierung der Rückwirkungsproblematik im Gemeinschaftsrecht ..................................................................................

189 189 189 189 190 192 193 194 194 194 195 195 196 197 198 200 202 202 202 203 203 204 205 206 206 209 210 211

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Inhaltsverzeichnis

1. Ableitung des Vertrauensschutzgrundsatzes im EU-Recht ........................ 220 a) Der Geltungsgrund ............................................................ aa) Positivrechtliche Anknüpfung im EGV ................................. bb) Originäre Ableitung ..................................................... b) Der Vertrauensschutz als ungeschriebener Rechtsgrundsatz im Gemeinschaftsrecht .................................................................... c) Exkurs: Der EuGH als ..Schöpfer" allgemeiner Rechtsgrundsätze ............ 2. Konkretisierung des gemeinschaftsrechtlichen Vertrauensschutzgrundsatz ....... a) Die Rückwirkung der Entscheidungen des EuGH als Problem des Vertrauensschutzes im Gemeinschaftsrecht .............................................. b) Die Voraussetzungen einer zeitlichen Limitierung im Einzelfall ............. aa) Der Vertrauensschutzgedanke: Gutgläubigkeit der Betroffenen - die allgemeinen Grundsätze .................................................... (1) Das objektive Element: die Vertrauenslage ......................... (2) Das subjektive Element: die Schutzwürdigkeit des Vertrauens - Anwendung des Vertrauensschutzgedankens auf die einzelnen Fallgruppen ............................................................. (a) Altersgrenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (b) Mittelbare Diskriminierung .................................... (c) Versicherungsmathematische Faktoren ........................ (d) Hinterbliebenenrenten ......................................... aa) Der Dispositionsschutzgedanke: die Gefahr schwerwiegender Störungen ....................................................................... cc) lnteressenabwägung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Bedeutung des Protokolls für die Rückwirkungsproblematik ................. a) Rechtsnatur des Protokolls .................................................... b) Auslegung des Protokolls ..................................................... c) Rechtswirksamkeit des Protokolls ............................................ d) Die Bedeutung des Sozialabkommens für die Rückwirkungsproblematik .... V. Die Konkretisierung der eigenen Lösung für die Entscheidung des vorlegenden nationalen Gerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Zusammenfassung der Vorgaben des EuGH ....................................... a) Rückwirkung vom EuGH ausgeschlossen .................................... b) Rückwirkung vom EuGH zugelassen ......................................... c) Art. 119 (neu: Art. 141) EGV materiell nicht einschlägig ..................... 2. Ergebnisse bei Anwendung auf die einzelnen Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Teilzeitbeschäftigung - mittelbare Diskriminierung .......................... b) Altersgrenzen .................................................................. c) Hinterbliebenenversorgung .................................................... d) Versicherungsmathematische Faktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

222 222 224 226 226 228 229 232 232 232

234 235 236 237 238 238 240 241 242 244 245 246 248 248 249 250 250 250 250 251 252 252

Zusammenfassung der Ergebnisse ....................................................... 254 Literaturverzeichnis ....................................................................... 259 Sachverzeichnis ............................................................................ 276

Abkürzungsverzeichnis a.A. ABI. abI. Abs. abw. AcP a.E. ÄndG a.F. AG AiB Alt. ABI. EG. AnI. Anm. Anm. d. Verf. AO ao. AöR AP

AR-Blattei ArbG ArbGG

ArbN arg. Art. ART. AuA Aufl. AuR

anderer Ansicht Amtsblatt ablehnend Absatz abweichend Archiv für civilistische Praxis, Tübingen am Ende Änderungsgesetz alter Fassung Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift), Hamburg Arbeitsrecht im Betrieb (Zeitschrift) Alternative Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Anlage Anmerkung Anmerkung des Verfassers Abgabenordnung vom 16.3.1976, zuletzt geändert durch Gesetz v.20.12.1996 außerordentlich Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Arbeitsrechtliche Praxis, Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, der Landesarbeitsgerichte und Arbeitsgerichte; bis 1954 Nr. 166 zitiert nach Jahrgang und Nr. der Entscheidung; später als Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts jeweils mit der Nr. der Entscheidung zu den einzelnen Vorschriften entsprechend der Gestaltung der Loseblattausgabe Arbeitsrechts-Blattei, Arbeitsrechtliches Nachschlagewerk, Stuttgart Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz v. 3.9.1953, in der Fassung der Bekanntmachung v. 2.7.1979, zuletzt geändert durch Gesetz v.28.10.1996 Arbeitnehmer Argument aus Artikel Allgemeiner arbeitsrechtlicher Teil Arbeit und Arbeitsrecht (Zeitschrift) Auflage Arbeit und Recht (Zeitschrift), Köln

12 Az. BAG BAGE BAT BB Bd. Begr. Beil. BergmVersSchG Beschl. BetrAV

BetrAVG BetrR BetrVG

BFH BFHE BFH/GS BGB BGBI. BGH BGHZ BR-Drucks. BSG BStBI. BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG bzgl. CMLR. DB ders. d.h. dies.

Abkürzungsverzeichnis Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, amtliche Sammlung, Berlin - New York Bundesangestelltentarifvertrag Der Betriebs-Berater (Zeitschrift), Heidelberg Band Begründung Beilage Bergmanns-Versorgungs-Schein-Gesetz Beschluß Betriebliche Altersversorgung, Mitteilungsblatt der ABA - Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung e. V., Heidelberg Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19.12.1974, zuletzt geändert durch Gesetz v.5.lO.l994 Der Betriebsrat, Mitteilungen für die Betriebsräte der IG-ChemiePapier-Keramik, Hannover Betriebsverfassungsgesetz v.15.1.1972, in der Fassung der Bekanntmachung v. 23.12.1988, zuletzt geändert durch Gesetz v.25.9.1996 Bundesfinanzhof Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofes, Stollfuß Verlag GmbH & Co. KG, Bonn Großer Senat des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch v.18.8.1896, zuletzt geändert durch Gesetz v.20.12.1996 Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, Carl Heymanns Verlag KG, Köln, Berlin Bundesrats-Drucksache Bundessozialgericht Bundessteuerblatt (Zeitschrift) Bundestags-Drucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Verlag J. C. B. Mohr (paul Siebeck), Tübingen Gesetz über das Bundesverfassungsgericht v.12.3.1951, in der Fassung der Bekanntmachung v. 11.8.1993 Bundesverwaltungsgericht bezüglich Common Market Law Rewiev (Zeitschrift) Der Betrieb (Zeitschrift), Düsseldorf derselbe das heißt dieselben

Abkürzungsverzeichnis Diss. DJT DStR DRdA DWiR ebd. EG EG-Richtlinie EGV

Einl. Entsch. EStR EU EuGH EuR EuroAS EuZW EWiR EzA f. ff. FG Fn FS GG ggf. GmbH GmbHR GmSOGB grds. GrS GS Halbbd. HGB h.M. Hrsg. Hs. i.d.F. i. d. R. i.e.S. insbes.

13

Dissertation Deutscher-Juristen-Tag Deutsches Steuerrecht (Zeitschrift), München Das Recht der Arbeit (Zeitschrift), Wien Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift), Köln ebenda Europäische Gemeinschaft Richtlinie des Rates (Europäische GemeinschaftlUnion) Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft v.25.3.1957 in der Fassung des Vertrages über die Europäische Union v. 7.2.1992, geändert durch Beitrittsvertrag v. 24.6.1994 in der Fassung des Beschlusses v.1.1.1995 Einleitung Entscheidung Einkommensteuer-Richtlinien Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europarecht (Zeitschrift), Baden-Baden Informationsdienst Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (Zeitschrift) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Zeitschrift), München Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Zeitschrift), Köln Entscheidungssarnmlung zum Arbeitsrecht, Neuwied folgende fortfolgende Finanzgericht Fußnote Festschrift Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland v. 23.5.1949, zuletzt geändert durch Gesetz v. 3.11.1995 gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau (Zeitschrift), Köln Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes grundsätzlich Großer Senat Gedächtnisschrift Halbband Handelsgesetzbuch v.l0.5.1897, zuletzt geändert durch Gesetz v.28.10.1994 herrschende Meinung Herausgeber Halbsatz in der Fassung in der Regel im engeren Sinne insbesondere

14 IPR IPRAX L S.

LV.m. Lw.S. Jhb.

nR. JR JuS JZ KO Komm. krit. LAG LAGE LG lit. LM Ls LSG MDR m.w.N. m. zust. Anm. n.F. NJW Nr. n.v. NZA NZA-RR OLG OVG PK PSV RAG

RdA RdNr. RdNrn. Reg.-Begr. Reg.-Entw. RL

Abkürzungsverzeichnis Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift), Bielefeld im Sinne in Verbindung mit im weiteren Sinn Jahrbuch junger Zivilrechtswissenschaftler Jahrbuch für Internationales Recht Juristische Rundschau (Zeitschrift), Berlin Juristische Schulung (Zeitschrift), München Juristen-Zeitung (Zeitschrift), TIibingen Konkursordnung v.lO.2.1877, in der Fassung v. 20.5.1898, zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. lO. 1996, außer Kraft am 31.12.1998 Kommentar kritisch Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte, Loseblattausgabe Neuwied Landgericht litera (Buchstabe) Lindenmaier-Möhring: Das Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, München Leitsatz Landessozialgericht Monatsschrift für deutsches Recht (Zeitschrift), Hamburg mit weiteren Nachweisen mit zustimmender Anmerkung neuer Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift), München und Berlin, Frankfurt a. Main Nummer nicht veröffentlicht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (Zeitschrift), München NZA-Rechtsprechungs-Report Arbeitsrecht (Zeitschrift), München Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Pensionskasse Pensionssicherungsverein, Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, Köln Reichsarbeitsgericht Recht der Arbeit, Zeitschrift für die Wissenschaft und Praxis des gesamten Arbeitsrechts, München Randnummer Randnummern RegierungsbegrUndung Regierungsentwurf Richtlinie

Abkürzungsverzeichnis RG RGBI. RGZ RIW RRG 1972 RRG 1992 Rs. Rspr. RÜG RWS

s. S. SAE SGB Slg. sog. std. Rspr. StGB u.a. UmwG Urt.

v. VBL verb. VersR VGH vgl. VO VW VwGO

VwVfG WIB WM YbEuL. ZAS z.B. ZfA

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Reichsgericht Reichsgesetzblatt Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Zeitschrift Rentenrefonngesetz v. 16.10.1972, zuletzt geändert durch Gesetz v.18.12.1989 Rentenrefonngesetz v.18.12.1989, zuletzt geändert durch Gesetz v.13.6.1994 Rechtssache Rechtsprechung Rentenüberleitungsgesetz v. 25.7.1991, zuletzt geändert durch Gesetz v.15.12.1995 Kommunikationsforum Recht, Wirtschaft, Steuern siehe Seite Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen, Düsseldorf Sozialgesetzbuch, Bücher I-XI Sammlung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sogenannt ständige Rechtsprechung Strafgesetzbuch v.15.5.l871 in der Fassung der Bekanntmachung v.l0.3.1987, zuletzt geändert durch Gesetz v.21.8.1995 unter anderem Umwandlungsgesetz v. 28. 10.1994 Urteil vom Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder verbunden Versicherungsrecht, Juristische Rundschau für die Individualversicherung, Karlsruhe Verwaltungsgerichtshof vergleiche Verordnung Versicherungswirtschaft (Zeitschrift), Karlsruhe Verwaltungsgerichtsordnung v. 21.1.1960, in der Fassung der Bekanntmachung v.19.3.1991, zuletzt geändert durch Gesetz v. 1.11.1996 Verwaltungsverfahrensgesetz v. 25.5.1976, zuletzt geändert durch Gesetz v.12.9.1996 Wirtschaftsrechtliche Beratung, Zeitschrift für Wirtschaftsanwälte und Unternehmensjuristen, München, Frankfurt Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht. Wertpapier-Mitteilungen, Teil IV, Köln Yearbook of European Law Zeitschrift f. Arbeits- u. Sozialrecht (Österreich) zum Beispiel Zeitschrift für Arbeitsrecht, Köln - Bonn - München

16 ZGR ZHR ZIAS zit. ZIP ZPO

z.T. ZTR

ZZP

Abkürzungsverzeichnis Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, Berlin, New York Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht, Stuttgart Zeitschrift für ausländisches und internationales Arbeits- und Sozialrecht, Heidelberg zitiert Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis, Köln Zivilprozeßordnung v. 30.1.1877, in der Fassung der Bekanntmachung v.12.9.1950, zuletzt geändert durch Gesetz v.28.10.1996 zum Teil Zeitschrift für Tarif-, Arbeits- und Sozialrecht des öffentlichen Dienstes, München, Münster Zeitschrift für Zivilprozeß, Köln u. a.

Erster Teil

Bestandsaufnahme Erstes Kapitel

Einführung und Problemaufriß I. Einleitung Das Recht der betrieblichen Altersversorgung ist geprägt durch den oft jahrzehntelangen Bestand der Rechtsbeziehung zwischen dem Arbeitgeber als Schuldner und dem Arbeitnehmer als Gläubiger der Versorgungszusage. Die kontinuierlich voranschreitende gesellschaftliche und soziale Entwicklung und deren rechtliche Durchdringung üben insbesondere auf arbeitsrechtliche Dauerschuldverhältnisse wie die betriebsrentenrechtliche Versorgungszusage einen besonderen Druck aus. Dementsprechend anfällig ist diese Beziehung für Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen. In der betrieblichen Altersversorgung wurde das Rückwirkungsproblem insbesondere im Bereich des Grundsatzes der Lohngleichheit für männliche und weibliche Arbeitnehmer virulent. Auf diesem Gebiet fand eine der vielleicht rasantesten Entwicklungen im Recht der betrieblichen Altersversorgung der letzten drei Jahrzehnte statt. Grund ist die zügig voranschreitende Ausdifferenzierung des nationalen und des gemeinschaftsrechtlichen Lohngleichheitsgrundsatzes durch das Richterrecht auf der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene. Diese Rechtsentwicklung stellt alle davon betroffenen Bereiche des Arbeitsrechts vor erhebliche Anpassungsschwierigkeiten. In hohem Maße gilt dies jedoch für die betriebliche Altersversorgung, da hier dem Lohngleichheitsgebot besondere Bedeutung zukommt und spezifische, aus den Besonderheiten des Betriebsrentenrechts resultierende Problemlagen entstehen. So verwundert es nicht, daß Fragen der zeitlichen Reichweite und Geltung der Judikate zum Lohngleichheitsgrundsatz im Betriebsrentenrecht in den letzten drei Jahrzehnten regelmäßig Bestandteil der Entscheidungen sowohl der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit als auch des Europäischen Gerichtshofs waren. Die allgemeine, über den betriebsrentenrechtlichen Bereich hinausgehende Bedeutung wird durch die Tatsache illustriert, daß die Rückwirkung gerichtlicher Entscheidungen auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) erstmals in einem Urteil zur Lohngleichheit in der betrieblichen Altersversorgung problematisiert wurde, das nach 2 Huep

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1. Teil: Bestandsaufnahme

wie vor die Leitentscheidung für die Rückwirkungsfrage im Gemeinschaftsrecht darsteiltI. Die Besonderheit der betrieblichen Altersversorgung unterstreicht der EuGH in seiner Stellungnahme zu der Rückwirkungsproblematik im Urteil "Moroni"2: "Diese Entscheidung trug der Besonderheit dieser Fonn des Entgelts Rechnung, die in einer zeitlichen Trennung zwischen der Entstehung des Rentenanspruchs, zu der es nach und nach im Laufe des Arbeitslebens eines Arbeitneluners kommt, und der tatsächlichen Gewährung der Leistung, die demgegenüber bis zur Erreichung eines bestimmten Alters hinausgeschoben ist, besteht."

Die Ursachen für Veränderungen der Rechtslage können im legislativen, aber auch im judikativen Bereich liegen. Es stellt sich dann regelmäßig die Frage, wie sich die fortschreitende rechtliche Entwicklung auf bestehende Rechtsbeziehungen auswirkt, die unter den Vorgaben des alten Rechts begründet wurden. Gilt das neue Recht auch uneingeschränkt für die Vergangenheit oder ergeben sich hier Grenzen zugunsten der durch die Entwicklung nachteilig Betroffenen? Diese Frage betrifft die herkömmlich unter dem Begriff der Rückwirkung behandelten Probleme der zeitlichen Geltung von Rechtsänderungen. In der vorliegenden Arbeit sollen aus diesen Gründen die spezifischen Probleme dargestellt und untersucht werden, die sich im Bereich der betrieblichen Alterssicherung hinsichtlich der zeitlichen Geltung gerichtlicher Entscheidungen zu Fragen des Lohngleichheitsgrundsatzes stellen. Nachdem dieser Grundsatz in den achtziger Jahren durch mehrere Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des EuGH erheblich weiterentwickelt und ausgedehnt wurde, mußte die Frage nach der zeitlichen Reichweite weiterentwickelter richterlicher Standpunkte zwangsläufig, insbesondere durch den drohenden, erheblichen Kostendruck bei rückwirkender Gleichbehandlung, mehr und mehr in den Vordergrund rücken. Den vorläufigen Höhepunkt stellte die umstrittene und viel diskutierte "Barber"-Entscheidung des EuGH dar3• Das Betriebsrentenrecht ist durch die Rechtsprechung in den zurückliegenden Jahrzehnten ständig fortgeschrieben worden. Dabei hat sie in starkem Maße nicht allein auslegend, sondern rechtsfortbildend gewirkt. Gerade im Bereich des Lohngleichheitsgrundsatzes haben sich in den letzten Jahren erstmals Rechtsfiguren entwickelt, die bislang unbekannt oder besser "unentdeckt" waren. Gleichwohl sollen ihnen Sachverhalte unterworfen werden, die bereits vor ihrer "Entdeckung" entstanden sind. Es geht somit auch um die Wirkung sich neu entwickelnden Richterrechts für die davon materiell betroffenen, jedoch in der Vergangenheit liegenden Tatbestände. Insbesondere die Rechtsprechung des EuGH im Bereich des geschlechtsbezogenen Lohngleichheitsgrundsatzes läßt sich nur begrenzt als Rückwirkung geänderter Rechtsprechung subsumieren. In den meisten Fällen betrat der EuGH Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43{75 - "Defrenne", Slg. 1976, S. 455 ff. EuGH Urt. v. 14.12.1993 - Rs C-1I0/91- "Moroni", Slg. 1993, S. 6591 ff., RdNr.29. 3 EuGH Urt. v. 17.5.1990 - Rs C-262/88 - "Barber" , Slg. 1990, S. 1889 ff. =AP Nr.20 zu Art. 119 EWG-Vertrag. I

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I. Kap.: Einführung und Problemaufriß

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EuGH juristisches Neuland und entschied erstmals Einzelfragen etwa im Anwendungsbereich von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV4. Im europäischen Rahmen treffen die Verfahrensbeteiligten weit seltener auf eine gefestigte, über einen längeren Zeitraum kontinuierlich entwickelte Rechtsprechung. Immer noch ist das Fundament der europäischen Rechtsprechung vergleichsweise schwach entwickelt, sind die meisten Rechtsfragen allenfalls auf der Basis einiger weniger vorangegangener Entscheidungen zu lösen. Leider fehlt es bis heute an einer überzeugenden und damit berechenbaren Gesamtkonzeption der Problematiks. Der Rückwirkungsproblematik kommt nicht zuletzt deshalb im Bereich des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV so große Bedeutung zu, weil bzgl. der Gleichbehandlung der Geschlechter kaum ein anstehendes Problem abschließend geklärt ist. In jedem dieser Bereiche stellt sich die Frage der intertemporalen Geltung richterlicher Entscheidungen. Die einzelfallorientierte Jurisdiktion bietet weder dogmatisch noch im Ergebnis ein einheitliches Bild. Zusätzlich erschwert wird die Situation durch erhebliche Abweichungen in der Spruchpraxis von BAG und EuGH, die auf die Praxis verunsichernd wirken und dem Anliegen betrieblicher Alterssicherung nicht förderlich sind. Damit ist die Frage nach der Rechtsgeltung gerichtlicher Entscheidungen im Normengefüge zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedsstaatlicher Rechtsordnung, d. h. in der Verzahnung zweier aufeinander abzustimmender Rechtskreise angesprochen. Die Verfestigung, die die betriebliche Altersversorgung auf europäischer Ebene erlangt hat, ist fast ausschließlich dem auf Art. 119 (neu: Art. 141) EGV gegründeten Richterrecht des EuGH zu verdanken. Am Beispiel der Betriebsrentensysteme ist maßgeblich und kontinuierlich der Entgeltbegriff als zentrales Tatbestandsmerkmal dieser Norm herausgearbeitet worden. Leistungen der betrieblichen Alterssicherung unterfallen dem Entgeltbegriff des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV und nach inzwischen wohl einhelliger Meinung gilt die Norm als direkte Anspruchsgrundlage zwischen Privaten auf einzelstaatlicher Ebene. Ein deutscher Arbeitnehmer kann sich gegenüber seinem Arbeitgeber vor den Arbeitsgerichten unmittelbar auf Art. 119 (neu: Art. 141) EGV berufen. In der Ausprägung durch den EuGH stellt sich die Norm, vom Gesetzgeber ursprünglich wettbewerbsrechtlich intendiert und nur an die Mitgliedsstaaten gerichtet, in der Tat als "die Speerspitze im Europäischen Arbeitsrecht"6 dar. Ohne diese richterrechtliche "Entdeckung" könnte die hier interessierende Frage nach einer temporalen Geltung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsprechung im Privatrechtsverhältnis kaum in dieser Form thematisiert werden. Das Bundesarbeitsgericht, aber auch die unterinstanzlichen deutschen Gerichte haben diese Entwicklung durch ihre Vorlagen zum EuGH mitgeprägt. Den daraus hervorgegangenen Vorgaben zur zeitlichen Geltung der richterlichen Erkenntnisse des obersten europäischen Gerichts folgt die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit jedoch nicht unisono. Sie beurteilt die Frage der temporären Geltung ihrer Entscheidungen 4 Der EuGH ging gleichwohl davon aus, er betreibe dabei reine Auslegung, dazu unten 2. Kapitel, 11. 1. a) bb). , So explizit Hanau/Preis, DB 1991, S.1276. 6 Griebeling. FS-Gnade. S.597.



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1. Teil: Bestandsaufnahme

auf der Grundlage des deutschen Gleichbehandlungsgebots oftmals anders. Keinesfalls übersichtlicher ist die Lage durch den Versuch des europäischen Gesetzgebers geworden, den gordischen Knoten der Rückwirkungsproblematik durch eine zeitlich differenzierende Bestimmung des Entgeltbegriffs zu durchschlagen7• Eine sichere Beurteilung ist für die Betroffenen nicht möglich, es herrscht oftmals (Rechts-)Unsicherheit. Diese drückt sich auch in der literarischen Behandlung des Themas aus8 • Die beteiligten Parteien, dazu zählen neben Arbeitgebern und Arbeitnehmern auch die weiteren an der betrieblichen Altersversorgung beteiligten Versorgungsträger, der Pensionssicherungsverein usw., haben ein hohes Sicherheitsoder Kontinuitätsinteresse an der Gültigkeit der jeweiligen Versorgungszusage. Andererseits besteht in Fällen späterer Rechtsänderungen und -fortentwicklungen ein Bedürfnis nach Anpassung der Versorgungszusage an die nunmehr materiell richtige Rechtserkenntnis. Die Beurteilung ihrer Zulässigkeit und Rechtmäßigkeit kann sich im Zeitpunkt der Erfüllung vollkommen anders darstellen als bei ihrer Begründung. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, dieses Spannungsfeld für die Rechtsprechung zum Lohngleichheitsgrundsatz in der betrieblichen Altersversorgung auszuleuchten. Die zugrundeliegende, grundsätzliche Thematik der Rückwirkung soll dabei nicht allgemein, sondern in enger Anbindung an den materiellrechtlichen Hintergrund behandelt werden. Ein Blick auf die Fülle von Abhandlungen zum Thema Rückwirkung der Rechtsprechung9 zeigt, daß allgemeine und breit angelegte Untersuchungen nur sehr beschränkt in der Lage sind, auf die spezifischen Besonderheiten des jeweiligen Rechtsgebiets einzugehen. Dieser Gefahr, die konkreten Probleme des jeweiligen Rechtsgebiets zu vernachlässigen, die bei einer rein theoretisch-dogmatisch angelegten Untersuchung drohen lO , soll entgangen werden. Auf Grundlage einer Analyse der gegenwärtigen Situation soll ein tragfabiger Lösungsvorschlag für 7 Gemäß der Protokollnotiz zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV im Vertrag von Maastricht unterfallen Leistungen der betrieblichen Altersversorgung aus der Zeit vor Erlaß des ,,Barber"-Urteils nicht mehr dem Entgeltbegriff. a Hanau/Preis, DB 1991, S. 1276ff.; Heither, DB 1991, S. 165ff.; Lubnow, BB 1992, S.1204ff.; Griebeling, FS-Gnade 1992, S.597ff.; ders., NZA 1996, S.449 ff.; Blomeyer, NZA 1995, S. 49ff.; Hö!er, BB 1994, S. 2139ff.; Langohr-Plato, EuZW 1995, S. 239ff.; Weber, Jahrb. junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S. 221 ff.; Engelbrecht, EuZW 1996, S. 395 ff.; Griebeling, NZA 1996, S.449, 450f. 9 Monographisch Arndt, Rechtsprechungsänderung; Bischojf, Änderung; Knittel, Rückwirkung; Viets, Rechtsprechungsänderung; Grunsky, Grenzen der Rückwirkung; Rüberg, Vertrauensschutz; Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht; für das Gemeinschaftsrecht Schlokkermann, Rechtssicherheit; Borchordt, Vertrauensschutz; begrenzt auf das Arbeitsrecht: Louyen, Rückwirkende Rechtsprechung; unselbständig: Tröndle, FS-Dreher 1977, S.117; Olzen, JZ 1985, S.155ff.; Buchner, GS-Dietz 1973, S.175ff.; Birk, JZ 1974, S. 735ff.; Blomeyer, FSMolitor 1988, S. 41 ff.; Schumann, DB 1988, S. 25 10 ff.; Hanau/Preis, DB 1991, S. 1276ff.; KnödlerlDaubner, BB 1992, S.1861 ff.; Nicolai, ZfA 1996, S.481 ff.; Löwisch, in: 100 Jahre Deutscher Arbeitsgerichtsverband, S. 601 ff.; Robbers, JZ 1988, S.481 ff.; Vogel, JZ 1988, S. 833 ff.; Weber, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S. 221 ff. 10 In diesem Sinn auch Schumann, DB 1988, S.251O.

1. Kap.: Einführung und Problemaufriß

21

diesen Teilbereich der sehr viel umfassenderen Problematik des intertemporalen Rechts und ihrer Grenzen entwickelt werden. Aufgrund der Divergenzen zwischen EuGH und BAG liegt ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit in der Bestimmung des Verhältnisses von gemeinschaftsrechtlicher zu einzelstaatlicher Judikative.

11. Gang der Darstellung Thema der Arbeit ist die intertemporale Rechtsprechung im Betriebsrentenrecht unter Beschränkung der Rückwirkungsproblematik auf den Lohngleichheitsgrundsatz. Dennoch bedarf es einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung mit der allgemeinen Problematik rückwirkender Rechtsprechung. Am Anfang steht die Untersuchung der vorgefundenen Rechtspositionen, d. h. der Rechtsprechung der beiden damit maßgeblich befaßten Gerichte, des EuGH und des BAG, aber auch der einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) sowie einiger unterinstanzlicher Arbeitsgerichte. Nach der Untersuchung der unterschiedlichen Positionen der einzelnen Gerichte und der Auseinandersetzung mit den bisherigen Lösungsansätzen in der Literatur wird im letzten Teil der Arbeit der eigene Ansatz herausgearbeitet. Entsprechend dem Gang der Untersuchung soll auch hier zunächst die nationale Rechtslage Ausgangspunkt sein, ehe im weiteren Verlauf der eigene gemeinschaftsrechtliche Ansatz dargestellt wird. Dabei ist jeweils nach der Grundlage und Berechtigung des Schutzes von Vertrauen in den "status quo" zu fragen, d. h. nach der Herleitung und Reichweite eines Anspruchs auf Kontinuität bestehender Rechtsprechung einerseits bzw. dem Schutz vor zeitlicher Rückwirkung neu entstehender Rechtsprechung andererseits. Schließlich ist das Verhältnis der beiden Rechtskreise in bezug auf die gegenseitige Einflußnahme und Abhängigkeiten untereinander mit dem Ziel der Entwicklung eines eigenen, geschlossenen Konzepts zur Bewältigung der Rückwirkungsproblematik im Verhältnis zwischen deutscher Arbeitsgerichtsbarkeit und dem Europäischen Richter zu untersuchen.

111. Die allgemeine Problematik rückwirkender Rechtsprechung 1. Der Begriff der rückwirkenden Rechtsprechung Zur Kennzeichnung der Problematik rückwirkender Geltung gerichtlicher Entscheidungen ist die Formulierung von der rückwirkenden RechtsprechunglI, der Rückwirkung bei Änderung der Rechtsprechung 12 oder ähnlicher Begriffe 13 weit 11 12

448.

Louven, Grenzen rückwirkender Rechtsprechung; Medicus, NIW 1995, S. 2577. Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung; Götz, FS-BVerfG, S.421,

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1. Teil: Bestandsaufnahme

verbreitet. Es ist Teil des intertemporalen Rechts, welches sich mit der zeitlichen Geltung von Recht befaßt. Der Begriff des intertemporalen Rechts in der Rechtsprechung betrifft ganz allgemein die Frage nach der zeitlichen, insbesondere nach der in die Vergangenheit reichenden Wirkung gerichtlicher Entscheidungen. Diese wirken regelmäßig zurück, weil sie an einen Sachverhalt anknüpfen, der z. Z. der Entscheidung bereits Vergangenheit istl 4, der Fall geht der Rechtsanwendung auf ihn voraus lS • Dabei handelt es sich um eine hier nicht interessierende Selbstverständlichkeit, wenn das nachträglich auf den konkreten Fall anzuwendende Recht bei Entstehung des Tatbestandes bereits gegeben war l6 • Terminologisch soll deshalb insoweit nicht von Rückwirkung gesprochen werden l7 • Da die Rechtsprechung stets an vorangegangenen Sachverhalten anknüpft, muß der Begriff enger gefaßt werden. Verstanden werden soll er als Anwendung neuer Rechtserkenntnisse auf den zu entscheidenden Sachverhalt, die bislang in dieser Form nicht bestanden. Rückwirkung bedeutet somit eine zeitlich dem Tatbestand nachfolgende rechtliche Würdigung desselben, die von der im Zeitpunkt seiner Entstehung vorgefundenen Rechtslage abweicht. Nur die in die Vergangenheit wirkende Änderung der ursprünglich für einen Tatbestand vorgesehenen Rechtsfolge stellt eine Frage der Rückwirkung darl8 • Begriffsprägend ist allein die zeitlich versetzte, unterschiedliche rechtliche Beurteilung einunddesselben Sachverhalts. Die Rückwirkung enthält zudem stets einen zeitlich-inhaltlichen Bezugspunkt, die bis dahin bestehende Rechtslage. Diese Rechtslage ist der Ausgangspunkt, sie beschreibt die rechtliche ,,1st"-Situation vor der richterlichen Entscheidung. Sie kann in verschiedenen Konstellationen auftreten - dem völligen Fehlen einer auf den Sachverhalt bezogenen Rechtsprechung oder Gesetzesregelung, dem Abrücken von einer Judikatur, die bis dahin gefestigt und allseits von den übrigen damit befaßten Rechtskreisen akzeptiert wurde l9 , bis hin zur Änderung des positiven Gesetzes- oder Gewohnheitsrechts. Die Ausgangslage wird durch die richterrechtliche Gestaltung einer neuen rechtlichen Beurteilung zugeführt.

13 Robbers, JZ 1988, S.481: "Rückwirkende Rechtsprechungsänderung"; Löwisch, FSDAGV, S. 601: ,.Rechtsprechungsänderungen". 14 Ausnahmen sind besondere Verfahrensarten, die stärker in die Zukunft gerichtet sind, meist jedoch auch einen in der Vergangenheit liegenden Ausgangs- oder Bezugspunkt haben. 15 Lerche/v.Pestalozza, BB 1986, Beil. 14, S.I, 14. 16 Ebenso Louven, S.5. 17 BverfG, BVerfGE 13, S.279, 282; Pieroth, S. 30; Robbers, S. 483; a. A. Griebeling, FSGnade, S.597, 605/606. 1I Robbers, JZ 1988, S.481, 483. 19 Vgl. Louven, Grenzen rückwirkender Rechtsprechung, S.14ff.; Weber, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.221ff., 225.

1. Kap.: Einführung und Problemaufriß

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2. Ausgangspunkt: Rechtsfortbildung durch Richterrecht Die Frage der Rückwirkung bzw. eines Schutzes gegen die Rückwirkung von Rechtsprechung hängt davon ab, inwieweit die Rechtsprechung überhaupt befugt ist, eine bestehende Rechtslage abzuändern, wenn dadurch in Rechtspositionen belastend eingegriffen wird. Eine solche richterliche Änderungsbefugnis durch Neuoder Weiterentwicklung der bestehenden Rechtslage betrifft das Problem des Richterrechts. Der Begriff des Richterrechts ist vielschichtig und umstritten. Richterrecht meint die richterliche Erkenntnis, die über die reine Gesetzesanwendung auf den zu entscheidenden Fall hinausgeht. Er ist weitgehend identisch mit dem Begriff richterlicher Rechts/ortbildung und urnfaßt die materiell-inhaltlichen Aussagen und Erkenntnisse richterlicher Emanationen, die hinsichtlich ihrer Bedeutung und Wrrkungen über das zu entscheidende Verfahren hinausgehen, in ihren für weitere potentiell betroffene Rechtskreise relevanten Implikationen. Dahinter steht das Bedürfnis nach eigenständiger Normgewinnung durch den Richter. Dem Richter ist es verwehrt, unmittelbar abstrakt-verbindliche Rechtsregeln mit normativer Wirkung aufzustellen. Seine verfassungsrechtlich zugewiesene und begrenzte Aufgabe ist allein die Einzelfallentscheidung. Allerdings kann die richterliche Entscheidung allgemeine Rechtsaussagen enthalten, die einen über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehenden Sinn haben. Hält man diese Art der Normsetzung neben dem Gesetzes- und dem Gewohnheitsrecht für zulässig und erforderlich, stellt sich die Frage nach seiner Entstehung. Verändert der Richterspruch die bestehende Rechtslage, über das vorhandene positive Gesetzes- oder Gewohnheitsrecht hinaus20 , wird sie mittelbar durch ~ie abstrakte-generalisierende Aussage der Entscheidung über den Einzelfall hinaus gestaltet21 , kann von Richterrecht gesprochen werden. Seine Existenz ist weitgehend anerkannt, nur noch vereinzelt wird die richterliche Rechtsfortbildung geleugnet und die Tätigkeit des Richters allein auf die klassische Subsumtion beschränkt22 • Umstritten, aber von zentraler Bedeutung für die vorliegende Problematik ist dagegen die Frage, inwieweit das so gebildete Richterrecht Wirkung für die Vergangenheit zukommt. Die Frage nach der zeitlichen Wrrkung von Richterrecht ist in ihrem Kern ein Vertrauensschutzproblem. Im legislativen Bereich betrifft es die Rückwirkung von Gesetzen21, im Bereich der Rechtsprechung die Rückwirkung gericht20 Bydlinski, Methodenlehre, S. 502; Picker, JZ 1984, S. 153, 154; vgl. auch LerchelPestalozza, BB 1986, Beil. 14, S.13,Ii.Sp.; BVerfGE 13, S.272; 30, S.286; 72, S.260. 21 In diesem Sinn etwa Picker, JZ 1984, S.153, 154. 22 Adomeit, Rechtsquellenfragen, S. 37 ff.; German, Methoden der Rechtsfindung, S. 43 f.; Ipsen, Richterrecht, passim; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, passim; Koch! Rüßmann, Juristische Begrtindungslehre, S. 186ff.; Schmidt, Gesetzesvollziehung, S. 140; Bydlinski, Methodenlehre, S. 501 ff.; Buchner, GS-Dietz, S. 175, 179; Fikentscher, ZfRV 1985, S. 163, 166ff.; Picker, S. 155f.; ders., JZ 1988, S. 1 ff.; v. Hoyningen-Huene, BB 1986, S. 2133ff.; Mayer-Maly, JZ 1986, S.557ff. 23 Pieroth, Rückwirkung, S. 21.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

licher Entscheidungen. Die Frage nach der Rückwirkung ist immer auch die Frage nach der ,,Nichtrückwirkung" in Fällen, in denen sich eine Rückwirkung belastend auswirken würde. Führt man den Schutz vor solch belastender Rückwirkung ganz pauschal auf einen möglichen Vertrauensschutz zurück, stellt sich die Frage nach dem Vertrauen in die bisherige Rechtslage. Bzgl. der Rückwirkung neuer Gesetzgebung sind Grundsätze von der Rechtsprechung entwickelt worden, deren Übertragung auf die rückwirkende Rechtsprechung jedoch äußerst umstritten ist. Dies liegt, bei allen vorhandenen Einzelproblemen24, an der klaren Rechtsquellenqualität der Rechtsnormen im Vergleich zur Rechtsprechung. Der im Gesetzgebungsverfahren entstandenen Norm kommt die höchste Richtigkeits- und Kontinuitätsgewähr zu. Ihre Ablösung durch die nachfolgende Rechtssetzung unterliegt in ihrem zeitlichen Regelungsbereich strengen formalen und inhaltlichen Rechtmäßigkeitsanforderungen. Einer unbegrenzten zeitlichen Wirkung stehen hier unstreitig beachtliche Vertrauensschutzaspekte entgegen. Gleiches gilt nicht zwingend für die Rechtsprechung. Angesichts seiner umstrittenen Rechtsqualität2.5 mit einer geringeren Verbindlichkeit ist zweifelhaft, ob, bzw. welcher richterlichen Entscheidung eine dem Gesetz vergleichbare Geltung zukommt.

3. Die Zulässigkeit der Rückwirkung von Richterrecht Das Problem von Reichweite und Grenzen der Rückwirkung kann sich nur stellen, sofern diese überhaupt zulässig ist. Daß die Gerichte befugt sind, ihre Rechtsprechung zu ändern oder neu zu entwickeln, ist im Grundsatz zumindest für die höchstrichterliche Rechtsprechung nicht umstritten. Dies zeigt positivrechtlich schon das Revisionsrecht mit seinem vielfältigen Instrumentarium bis hin zur Einrichtung des Gemeinsamen Senats der Obersten Bundesgerichtshöfe, der keine geringere Funktion hat, als Abweichungen in der bislang geltenden Rechtsprechung zwischen den obersten Revisionsinstanzen zu harmonisieren, nicht jedoch zu verhindern. Die Rechtsprechung erschöpft sich in diesem Bereich nicht in der Entscheidung von Einzelfällen, sondern sie wirkt darüber hinaus zumindest mittelbar rechtsfortbildend. Sie ist darauf angewiesen, auf neu entstehende Konfliktlagen durch Entwicklung und Anpassung der rechtlichen Bewertung zu reagieren. Die gefundene Rechtsauffassung steckt den Rahmen für die weitere rechtliche Beurteilung vergleichbarer Fälle ab. Dies gilt jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft. Allerdings darf Rechtsprechung nie direkt auf die Entscheidung künftiger, abstrakter Problemlagen gerichtet sein. Die durch den Grundsatz materieller Gerechtigkeit zu rechtfertigende Anwendung veränderter oder neu gefundener Rechtserkenntnis auch auf in der Vergangenheit liegende Sachverhalte, kollidiert offensichtlich stärker mit anderen, konträren Gerechtigkeitsideen, denen die Rechtsprechung ebenfalls verpflichtet 24 Dazu eingehend Pieroth, passim, für das deutsche Recht; Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, passim, für das Gemeinschaftsrecht. 2.5 V gl. dazu die Nachweise in Fn. 22.

1. Kap.: Einführung und Problemaufriß

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ist. Es besteht ein elementares Bedürfnis des rechtsunterworfenen Bürgers auf Konstanz einer einmal entstandenen Rechtslage, das sich letztlich mit dem Dispositionsoder Vertrauensschutzgedanken rechtfertigen läßt. Dennoch ist dieses Kontinuitätsinteresse nicht geeignet, die Rückwirkung gerichtlicher Entscheidungen von vornherein auszuschließen. Dagegen steht das Bedürfnis nach Herstellung materieller Gerechtigkeit. Das als richtig erkannte Recht muß grundsätzlich auch dann Anwendung finden, wenn der davon betroffene Sachverhalt in der Vergangenheit liegt. Allenfalls kann ein subjektiv verstandener, d. h. im Einzelfall nachzuweisender, Dispositions- oder Vertrauensschutz im Einzelfall eine Beschränkung gebieten, die Anwendung jedoch nicht generell ausschließen. Da dies schon für rückwirkende Gesetzgebungen nicht in Betracht kommt, kann es für die Rechtsprechung erst recht nicht gelten. Ihr kommt keine, der Gesetzgebung vergleichbare, normative Kraft zu, dementsprechend sind die Anforderungen an Konstanz und Abänderungsbefugnis abweichend, d. h. weniger streng, zu beurteilen. Die Gerichte sind somit befugt, ihre Rechtsprechung auch mit Wirkung für die Vergangenheit abzuändern.

4. Grenzen rückwirkenden Richterrechts Der Schwerpunkt der Rückwirkungsproblematik liegt in der Bestimmung der Einschränkungen, denen die an sich zulässige Rückwirkung gerichtlicher Entscheidungen unterworfen ist. Dies hängt entscheidend von der Frage ab, auf welcher Grundlage das Vertrauen gebildet wurde und in welchem Maße die Rechtsprechung in einen eventuellen Vertrauenstatbestand eingreifen darf. Als Vertrauensgrundlage wirkt die bisherige Rechtslage, die sich aus der gesetzlichen Situation, aber auch wiederum aus älteren richterrechtlichen Entscheidungen ergeben kann. Fraglich ist, ob das Richterrecht eine dem Gesetz vergleichbare Vertrauensgrundlage darstellt, es präjudiziell wirkt26 • Darüber hinaus ist fraglich, ob auch bei fehlender rechtlicher Bestimmung eine Vertrauensgrundlage bestimmbar ist. Stellt man sich auf den Standpunkt, das Rechtsprechung stets nur den Inhalt einer vorgegebenen Norm im Wege der Auslegung konkretisiert, ist die Rückwirkung der Rechtsprechung gewissermaßen der wesenseigene Regelfall, der keiner weiteren Begründung bedarf27 • Je weiter man einen eigenen rechtssetzenden Charakter von Rechtsprechung im oben angesprochenen Sinne anerkennt, umso schärfer stellt sich die Frage nach ihrer zeitlich rückwirkenden Geltung. Die Bestimmung von Reichweite und Grenzen der Rückwirkung von Rechtsprechung geht letztlich aber nach allen Ansichten von der Prämisse aus, daß 26 Grunsky, Grenzen der Rückwirkung, S.6f.; Ossenbühl, DÖV 1972, S. 25, 29ff.; Canaris, SAE 1972, S.22; Götz, Festgabe BVerfG, S. 421,448; Burmeister, Vertrauensschutz im Prozeßrecht, S. 25ff.; Blomeyer, FS-Molitor, S. 41, 43ff.; Griebeling, FS-Ahrend, S.208, 217; Schumann, DB 1988, S.251O; Robbers, JZ 1988, S.481, 484; Vogel, JZ 1988, S.833, 835f.; Loritz, ZfA 1989, S. I, 33 f.; Nicolai, ZfA 1996, S.481, 483, für das Gemeinschaftsrecht. 27 So etwa Tröndle, FS-Dreher, S.117, 136; Griebeling, RdA 1992, S. 373,375.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

der betroffene Bürger und Rechtsunterworfene Schutz seines, wie auch immer gearteten Vertrauens fordern kann. Die Grenzen zulässiger Rückwirkung finden sich deshalb in der unterschiedlichen Bestimmung der Reichweite schutzwürdigen Vertrauens. Dieser konsentierte Ausgangspunkt führt aber sofort zurück auf den größeren Zusammenhang der Berücksichtigung von Vertrauen in der Rechtsordnung. Vertrauen und der Schutz von Vertrauen findet in nahezu allen Rechtsgebieten Berücksichtigung. Eine auch nur ansatzweise umfassende Aufarbeitung kann und soll im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. So überzeugend und einleuchtend das Erfordernis und die Notwendigkeit einer Berücksichtigung von Vertrauen aus höherer Warte ist, so schwierig und mühsam ist die Herausarbeitung von Konzepten zur Berücksichtigung von Vertrauen im Recht28 • Ein allumfassendes und zugleich operables Modell zur Berücksichtigung von Vertrauen gibt es nicht29 • Erforderlich ist eine Umsetzung der abstrakten rechtsphilosophischen Idee vom Vertrauen im Recht in den einzelnen Rechtsgebieten. Die möglichen und dazu gehandelten dogmatischen Ansätze unterscheiden sich erheblich. Dies gilt etwa für die verfassungsrechtliche Verankerung von Vertrauensschutz30 gegenüber einem einfachgesetzlich begründeten Ansatz zur Berücksichtigung von Vertrauenslagen, etwa im Zivilrecht. Auch läßt sich kein einheitliches Verständnis von Vertrauen erkennen; schon das Zivilrecht kennt verschiedenste Vertrauenslagen, auf die mit den unterschiedlichsten dogmatischen Mitteln reagiert wird, die wiederum zueinander in allenfalls losem Zusammenhang stehen3l • Diese Erkenntnis zwingt dazu, vom Besonderen zum Allgemeinen zu arbeiten. Nur auf der Grundlage einer vorrangigen Analyse der Besonderheiten des fraglichen Problemkomplexes können dann allgemeine Vertrauensgrundsätze zur Erarbeitung konkreter Lösungsmodelle herangezogen werden. Dementsprechend ist die Problematik rückwirkender Rechtsprechung zum Lohngleichheitsgrundsatz im Betriebsrentenrecht vorrangig auf dem Boden des Zivilrechts unter Berücksichtigung der Wertungen des Betriebsrentenrechts zu lösen.

IV. Die Problematik im Kollisionsverhältnis von nationalem und Gemeinschaftsrecht Angesichts des oben bereits angedeuteten gemeinschaftsrechtlichen Bezugs der zu behandelnden Fragestellung kann die Untersuchung sich nicht auf das deutsche Betriebsrentenrecht beschränken. Die Rückwirkungsproblematik gewinnt in diesem Bereich ihre besondere Bedeutung nicht zuletzt durch die immer gewichtiger wer28 Vgl. Canaris, Vertrauenshaftung, passim, als vorbildliche Aufarbeitung der Vertrauensproblematik für den Bereich der privatrechtlichen Vertrauenshaftung. 29 Eichler, Vertrauen, S.4ff.; Pieroth, Rückwirkung, S. 143; Luhmann, Vertrauen, S.37; Burmeister, Vertrauensschutz, S. 240; Canaris, Vertrauenshaftung, S. 3; Larenz, Methodenlehre, S.459. )() V gl. dazu Muckel, Verfassungsrechtlicher Vertrauensschutz, S. 29 ff., m. w. N. 31 Canaris, Vertrauenshaftung, S.4; Pieroth, Rückwirkung, 196f.

1. Kap.: Einführung und Problemaufriß

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dende Rechtsprechung des EuGH. Die Vertrauensschutzproblematik stellt sich auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts. Darüber hinaus ergibt sich ein weiterer Schwerpunkt durch die Differenzen in der Rechtsprechung beider Rechtskreise zur Rückwirkung des Lohngleichheitsgrundsatzes. Auch das Gemeinschaftsrecht enthält mit Art. 119 (neu: Art. 141) EGV eine primärrechtliche Norm zum Lohngleichheitssatz mit unmittelbar privatrechtsgestaltender Wirkung32 • Nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Lohngleichheitssatz konkurrieren miteinander. Zugleich bedeutet dies auch das Aufeinadertreffen der unterschiedlichen Auffassungen über das Verständnis der Rückwirkung richterlicher Entscheidungen in diesem Bereich. Die Lösung hat deshalb auch die gemeinschaftsrechtlichen Implikationen zu berücksichtigen, es geht dabei nicht mehr allein um Vertrauen in den unterschiedlichen Rechtsgebieten einer Rechtsordnung, sondern um den Vertrauensschutz in zwei unabhängigen, aber miteinander verflochtenen Rechtsordnungen. Die Anerkennung von Vertrauensschutz im Gemeinschaftsrecht bedarf der besonderen Begründung und unterliegt eigenen Besonderheiten33 •

V. Die zugrundeliegenden gesetzlichen Regelungen Angesichts der vielfältigen gesetzlichen Regelungen auf z. T. unterschiedlichen Rechtsebenen des Gemeinschafts- und des nationalen Rechts, die für die Behandlung der Problematik bedeutsam sind und auf die immer wieder rekurriert werden muß, ist ein, vor die Klammer gezogener, kurzer Überblick erforderlich.

1. Gesetzliche Grundlagen des Lohngleichheitsgrundsatzes a) Grundlagen des Lohngleichheitsgebots in der BRD Der Lohngleichheitsgrundsatz findet in der Bundesrepublik verschiedene gesetzliche Grundlagen. Er ist als zentraler Ordnungsgrundsatz des Arbeitsrechts anerkannt34 •

aa) Verfassungsrecht

Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt für das Lohngleichheitsgebot ist der Gleichberechtigungsgrundsatz, Art. 3 Abs. 2 GG, und das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG. Diese, gegenüber Art. 3 Abs.l GG spezielleren Verfassungs32 33

Seit EuGH Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43nS - "Defrenne", anerkannt. Umfassend Schlockermann, Rechtssicherheit, passim; Borchardt, Vertrauensschutz, pas-

sim. J4 BAGE I, S. 185, 193ff.; 4, S. 274,276; 24, S.438, 441; Schlachter, Gleichberechtigung, S. 87; MünchArbRiRichardi, § 11, RdNr.26.

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I. Teil: Bestandsaufnalune

nonnen enthalten ein allgemeines Differenzierungsverbot für Regelungen, die allein nach dem Geschlecht unterscheiden. Beide Grundsätze sind vom BAG frühzeitig als Grundlage des Lohngleichheitsgrundsatzes im Arbeitsverhältnis herangezogen worden3', wenn auch beschränkt auf kollektivrechtliche Regelungen. Der Lohngleichheitsgrundsatz stellte auch in der weiteren Entwicklung stets den unumstrittenen Kembestand dieser verfassungsrechtlichen Nonnen in ihrer arbeitsrechtlichen Bedeutung dar36 •

bb) Einfaches Gesetzesrecht Das einfache Gesetzesrecht enthält erst seit Inkrafttreten des Gleichbehandlungsgesetzes37 im Jahre 1980 mit § 612 Abs. 3 BGB eine ausdrückliche Bestimmung über die Lohngleichheit. Die Einführung ihrerseits erfolgte in Umsetzung der entsprechenden EG-Richtlini&8. Zuvor konnte der Lohngleichheitsgrundsatz einfachgesetzlich aus § 611 a Abs.l BGB abgeleitet werden. Beide Nonnen betreffen ausdrücklich sowohl kollektiv- als auch individualarbeitsvertragliche Ungleichbehandlungen. cc) Der Lohngleichheitsgrundsatz im deutschen Recht der betrieblichen Altersversorgung Eine unmittelbare gesetzliche Regelung hat der Lohngleichheitsgrundsatz im deutschen Arbeitsrecht bislang nicht erfahren. In § 1 Abs. 1 Satz 4 BetrAVG ist lediglich der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz als mögliche Anspruchsgrundlage einer Versorgungsverpflichtung genannt39• Die Geltung des in den allgemeinen Vorschriften nonnierten Lohngleichheitsgrundsatzes ist gleichwohl für das Recht der betrieblichen Altersversorgung allgemein anerkannt«'. Angesichts des umstrittenen Rechtscharakters der betrieblichen Altersversorgung ist diese, rückschauend fast selbstverständlich erscheinende, Erkenntnis nicht ganz unproblematisch. Nach 35 BAG V.15.1.1955 -AP Nr.4 zu Art. 3 GG; diese Entscheidung markiert zugleich den Beginn der Diskussion um die Drittwirkung der Grundrechte, vg!. dazu Gamillscheg, AcP 164 (1964), S. 385ff.; Mayer-Maly, FS-HerscheI1982, S. 257 ff. 36 PfarrlBertelsmann, Lohngleichheit, S. 380 ff. 37 "Gesetz über die Gleichbehandlung von Männem und Frauen am Arbeitsplatz - Arbeitsrechtliches EG-Anpassungsgesetz" vom 13.8.1980, BGBl.I, S. 1308. 38 Richtlinie des Rates v. 10.2.1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (75/117/EWG) AB!. v.19.2.1975, Nr.L 45/19. 39 Dazu allgemein BlomeyerlOtto, BetrAVG, § I, RdNr.49. 010 BAG Urt. v. 11.9.1974 - 5 AZR 567 AP Nr. 39 zu § 242 Gleichbehandlung; v.14.1O.1986- 3 AZR 66/83 - AP Nr.lI zu Art. 119 EWG-Vertrag (Pfarr); v.14.3.1989- 3 AZR 490/87 - AP Nr.5 zu § I BetrAVG Gleichberechtigung; BlomeyerlOtto, BetrAVG, Ein!., RdNr.195, 207f.; HöferlReinerslWüst, ART, RdNr.542ff.

n3 -

1. Kap.: Einführung und Problemaufriß

29

noch herrschender Meinung kommt dem betrieblichen Ruhegeld ein Doppe1charakter zu, der sich aus dem Versorgungs- und dem Entgeltmoment zusammensetzt4l . Der Entgeltcharakter hat sich nach dem zweiten Weltkrieg 42 erst zögerlich durchgesetzt und wurde vom BAG erst in seiner Entscheidung vom 10.2.1968 anerkannt43• Da der Entgeltcharakter des Ruhegeldes seither zumindest auch den Rechtscharakter geprägt hat, wirken sich die Besonderheiten des Versorgungscharakters jedenfalls seit dieser Entscheidung nicht im Sinne eines völligen Ausschlusses des Lohngleichheitsgrundsatzes in der betrieblichen Altersversorgung aus. Angesichts der zuvor bestehenden dogmatischen Unsicherheiten44 kann dies für den davorliegenden Zeitraum nicht uneingeschränkt gelten. b) Gesetzliche Grundlagen des Lohngleichheitsgrundsatzes in der Europäischen Union aa) Primäres Gemeinschaftsrecht

Der Lohngleichheitsgrundsatz, nach gemeinschaftsrechtlicher Terminologie der Entgeltgleichheitsgrundsatz, ist primärgemeinschaftsrechtlich in Art. 119 (neu: Art. 141) EGV verankert, der nach seinem Wortlaut jedoch nur die Mitgliedstaaten verpflichtet, den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden und zu gewährleisten. Die Norm war bereits Bestandteil des EWG-Vertrages von 1957, sie ging allerdings nicht über eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten hinaus und entfaltete weder vom Wortlaut noch von ihrer Intention eine Wirkung für einzelne Arbeitsverhältnisse in den Mitgliedstaaten. Ihre überragende Bedeutung für die Entwicklung des Lohngleichheitsgrundsatzes erhielt die Norm erst mit ihrer Weiterentwicklung durch den EuGH. In der Entscheidung "Defrenne 11" verlieh der EuGH der Norm unmittelbare Wirkung im Privatrechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer4s. Entgelt sind nach gefestigter Auslegung des EuGH auch die Ansprüche auf betriebliche Versorgungsleistungen wegen Alters, Invalidität oder Tod eines Arbeitnehmers46 • Die anfangs streng formelle Aus41

BAG Urt. v. 10.2.1968 - 3 AZR 4/67 - AP Nr.2 zu § 119 BGB; v. 12.2.1971 - 3 AZR

83nO - AP Nr.3 zu § 242 BGB Ruhegehalt - Unterstützungskassen; v. 5.7.1979 - 3 AZR 197n8 - AP Nr.9 zu § 242 BGB Ruhegehalt - Unterstützungskassen; v. 5.6.1984 - 3 AZR 33/84 - AP Nr.3 zu § 1 BetrAVG Unterstützungskassen (Schulin); BlomeyerlOtto, BetrAVG, Einl., RdNr.132ff., m. umfangreichen Nachw.; HöferlReinerslWüsl, ART, RdNr.40ff.; Hi/ger, RdA 1981, S.6ff.; Sleinmeyer, Betriebliche Altersversorgung, S. 36ff., 49ff. 42 Zur Rechtslage davor Sleinmeyer, S. 11 ff.; BlomeyerlOtto, BetrAVG, Einl., RdNr. 132f. 43 BAG Urt. v. 10.2.1968 - 3 AZR 4/67 - AP Nr.2 zu § 119 BGB (Hueck). 44 Vgl. etwa HuecklNipperdey, Arbeitsrecht, § 52, S.477n8, m. w. N., wonach die frühere Auffassung vom Ruhegeld als Lohn weitgehend aufgegeben sei; Lemke, BB 1957, S. 512ff. 45 EuGH Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43n5 - "Defrenne". 46 EuGH Urt. v.8.4.1976-Rs43n5-"Defrenne"; v.l1.3.1981-Rs96/80-"Worringham", Slg. 1981, S. 767ff.; v.13.5.1986-Rs 170/84-"Bilka", Slg. 1986, S.1607ff.; v.17.5.1990-Rs 262/88 - "Barber".

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1. Teil: Bestandsaufnahme

richtung des Entgeltgleichheitsgebots in Art. 119 (neu: Art. 141) EGV hat durch das "Abkommen zum Protokoll über die Sozialpolitik" im Vertrag von Maastricht in Art. 6 Abs. 3 eine gewisse Modifikation in Richtung eines materiellen Verständnisses der Gleichbehandlung erfahren, da begünstigende Regelungen zum Nachteilsausgleich zugunsten der weiblichen Beschäftigten beibehalten werden dürfen47 •

bb) Sekundäres Gemeinschaftsrecht Der gemeinschaftsrechtliche Entgeltgleichheitsgrundsatz ist durch zwei sekundärrechtliche Regelungen konkretisiert worden. Die Richtlinie über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen48 regelt in Art. 1 Satz 1, daß der Entgeltgleichheitsgrundsatz für gleiche oder gleichwertige Arbeit hinsichtlich sämtlicher Entgeltbedingungen und -bestandteile gilt. Nach Abs. 1 Satz 2 muß ein betriebliches Entgeltsystem auf Kriterien beruhen, die nicht zwischen den Geschlechtern unterscheiden und durch die Diskriminierungen wegen des Geschlechts ausgeschlossen sind. Die Richtlinie erfaßt damit auch betriebliche Versorgungssysteme, die nach gemeinschaftsrechtlicher Auffassung dem Entgeltbegriff des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV unterfallen49 • Durch die Richtlinie zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen SicherheitSO hat der Entgeltgleichheitsgrundsatz eine spezielle Ausformung für das Betriebsrentenrecht erfahren. Aufbauend auf den früheren Richtlinien, sollte damit, über den Grundsatz der Entgeltgleichbehandlung hinaus, der Grundsatz der Gleichbehandlung allgemein bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit verwirklicht werden. Ihr Regelungsbereich erfaßt betriebliche Sicherungssysteme außerhalb der Richtlinie 79(1 /EWQSI, die Erwerbstätigen Leistungen gewährt und durch die gesetzlichen Sicherungssysteme ergänzt oder ersetzt werden, ohne daß es auf eine Pflichtmitgliedschaft in diesen Systemen 47 Das Verhältnis des Protokolls zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGVist umstritten, vgI. dazuAhrendiBeucher, BetrAV 1993, S.253, 257; KleinlReichenbach, DB 1994, S.1618, 1621, (für den Vorrang des Protokolls); Borchardt, EuZW 1994, S. 353 ff.; Höler, BB 1994, Bei1.15, S.l, 3 f.; Berenz, BB 1996, S.530ff., (Vorrang ablehnend). 41 Richtlinie des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (75/117/EWG), AbI. v. Nr. L 45/19. 49 V gI. Nw. zur Rechtsprechung des EuGH in Fn.46. 50 Richtlinie des Rates v. 24. Juli 1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (86/378/EWG), AbI. v. 12.8.1986, Nr. L 225/40, geänd. durch die Richtlinie des Rates vom 20. Dezember 1996 zur Änderung der Richtlinie 86/378/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (96/97/EG), AbI. v.17.2.1997, Nr.L 46/20. 51 Richtlinie des Rates v. 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79n/EWG), AbI. v. 10.1.1979, Nr. L 6/24, die sich auf die gesetzlichen Sicherungssysteme bezieht.

1. Kap.: Einführung und Problemaufriß

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ankommt. Die diesbzgl. umfassende Gleichbehandlungspflicht betrifft den Zugang, die Beitragspflicht und die Beitrags- und Leistungsberechnung.

2. Gesetzliche Beschränkungen der temporalen Reichweite des Lohngleichheitsgrundsatzes im Betriebsrentenrecht Eine unmittelbare gesetzliche Regelung hat der Komplex der Rückwirkung des Lohngleichheitsgrundsatzes im Betriebsrentenrecht zunächst auf der gemeinschaftrechtlichen Ebene erfahren. Durch das Protokoll zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV des Vertrages von MaastrichtS2 haben die Vertragsparteien, in Reaktion auf das "Barber"-Urteil des EuGH, die WIrkung des Artikels im Bereich der betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit zeitlich auf den 17. Mai 1990 begrenzt. Beschäftigungszeiten vor diesem Zeitpunkt unterfallen Art. 119 (neu: Art. 141) EGV danach nicht, erst für Beschäftigungszeiten nach dem Stichtag kann sich der benachteiligte Arbeitnehmer auf das gemeinschaftsrechtliche Entgeltgleichheitsgebot berufen. Dieser gesetzgeberische Versuch einer Rückwirkungsbegrenzung in Anlehnung an die Vorgaben der Rechtsprechung zeigt die Brisanz des hier zu behandelnden Themas aufSJ • Auf der sekundärrechtlichen Ebene wurde die Vorgabe des ,,Barber"-Urteils durch die Richtlinie 96/97/EG zur Änderung der Richtlinie 86/378/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit umgesetztS4. Danach muß jede Maßnahme in Umsetzung der Richtlinie für den Zeitraum ab dem 17.5.1990 die Gleichstellung der Geschlechter sicherstellen. Im deutschen Recht ist es durch das Rentenreformgesetz 1999 ebenfalls zu einer Berücksichtigung der Rückwirkungsproblematik gekommen. In Art. 8 RRG wird § 30a BetrAVG neu eingefügt. Damit wird die Gleichstellung mit den weiblichen Arbeitnehmern hinsichtlich der Altersgrenze entsprechend der gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe umgesetzt. Danach sind männlichen Arbeitnehmern unter weiteren Voraussetzungen mit Vollendung des 60. Lebensjahres für den Beschäftigungszeitraum ab dem 17. Mai 1990 Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu gewähren. Hat ein Arbeitnehmer bereits vor dem 17. Mai 1990 ein Rechtsmittel gegen die Ungleichbehandlung eingelegt, gilt die Regelung für Beschäftigungszeiten nach dem 8. April 1976. Beide Daten rekurrieren auf die Rechtsprechung des EuGHsS zum Lohngleichheitsgrundsatz in der betrieblichen Altersversorgung und übernehmen die gemeinschaftsrechtlich relevanten Rückwirkungsstichtage auch für das deutsche Betriebsrentenrecht. 2. Protokoll zu Art. 119 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Dazu ausführlich unten 5. Kapitel, IV. 3. S4 Richtlinie vom 20.12.1996, ABI. Nr.L vom 17.2.1997. ss Urt. vom 8.4.1976 - Rs 43n5 - "Defrenne 11", Slg. 1976, S.455ff. und vom 17.5.1990- Rs C-262/88 - "Barber", Slg. 1990, S.1889ff. S2

S3

Zweites Kapitel

Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle der gerichtlichen Praxis und der Literatur I. Untersuchung der bisherigen Ansätze im deutschen Arbeitsrecht 1. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Die Urteile des Bundesarbeitsgerichts bilden den Ausgangspunkt des nachfolgenden Abschnitts. Sie sind sowohl im Hinblick auf ein zugrunde liegendes Gesamtkonzept als auch hinsichtlich der Behandlung der Vertrauensschutzproblematik im Rahmen der einzelnen Diskriminierungstatbestände darzustellen und zu analysieren.

a) Grundlagen Das BAG nahm zur zeitlichen Wirkung seiner Entscheidungen zum Lohngleichheitsgebot im Bereich der betrieblichen Altersversorgung wiederholt Stellung, jedoch ohne daß ein einheitliches Konzept zugrunde gelegt wird l . Die Dogmatik des BAG stützt sich im wesentlichen auf ein aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitetes Rückwirkungsverbot2 • Dahinter steht der Verfassungsgrundsatz des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes, der der richterlichen Rechtsanwendung Grenzen setzt. Das BAG beruft sich dabei auch auf Entscheidungen des BVerfG zur betrieblichen Altersversorgung, etwa zur Zulässigkeit eines rückwirkenden Widerrufs von Leistungen einer Unterstützungskasse3 oder zur I BAG Urt. v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 - AP Nr. 11 zu Art. 119 EWG-Vertrag; v.5.9.1989-3 AZR575/88-APNr.8 zu § 1 BetrAVG Hinterbliebenenversorgung (Höfer/Reiners); v. 23.1.1990 - 3 AZR 58/88 - AP Nr.7 zu § 1 BetrAVG Gleichberechtigung; v.20.11.1990- 3 AZR 613/89-AP Nr. 8 zu § 1 BetrAVG Gleichberechtigung; v.5.10.19933 AZR 695/92 - AP Nr. 20 zu § 1 BetrAVG Lebensversicherung; i. E. ähnlich Louven, Grenzen rückwirkender Rechtsprechung, S. 78 f. 2 BAG Urt. v. 14.10.1986- 3 AZR 66/83 -, zu 111.2. der Gründe; v. 20.11.1990 - 3 AZR 573/89 - AP Nr. 14 zu § 1 BetrAVG Ablösung, zu B. 11.1. der Gründe; v. 5.10.1993 - 3 AZR 695/92 -, zu B. I. 5. der Gründe, insoweit nicht abgedruckt. 3 BVerfG Beschl. v.14.1.1987 -1 BvR 1052/79-APNr.ll zu § 1 BetrAVG Unterstützungskassen =BVerfGE 74, S.129ff.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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mittelbaren Diskriminierung Teilzeitbeschäftigter in einem Versorgungswerk4 • Dies wird z. T. explizit als rechts staatliches RückwirkungsverbotS, an anderer Stelle als verfassungsrechtlicher Vertrauenstatbestand oder als der im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz des Vertrauensschutzes bezeichnefi. Unter Berufung auf das BVerfG lehnt das BAG ein Rückwirkungsverbot entsprechend der dafür entwickelten Grundsätze bei Gesetzesänderungen aufgrund der Verschiedenheit von Gesetzes- und Rechtsprechungsänderung ab; letztere schaffe keine vergleichbare Vertrauenssituation und damit keine der Gesetzesänderung entsprechende Bindung an die früheren Standpunkte? Die Grundsätze über die rückwirkende Änderung von Gesetzen können zudem nicht die bei einer Rechtsprechungsänderung erforderliche Einzelfallabwägung gewährleisten8 • In den Hintergrund sind demgegenüber zivilrechtliche Ansätze zur Lösung des Rückwirkungsproblems getreten. In der neueren Rechtsprechung werden z. T. Übergangsfristen- oder Anpassungsfristen nach den Grundsätzen der Geschäftsgrundlagenlehre erwogen. In der Entscheidung zur Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern in einer betrieblichen Hinterbliebenenversorgung erwägt das BAG das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage als Anpassungsinstrument, um finanzielle Belastungen durch die rückwirkende Gleichstellung in Gesamtversorgungssystemen zu begrenzen9 • Im eigentlichen Begründungszusammenhang zur Frage der Rückwirkung dagegen taucht die Geschäftsgrundlagenlehre nicht mehr auf. In einer Entscheidung zur mittelbar diskriminierenden Wirkung einer Versorgungsordnung prüft das Gericht dagegen, ob der Beklagten nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage eine Übergangsfrist zur Anpassung ihrer Versorgungsordnung einzuräumen ist lO • Diese Übergangsfrist wäre rückwirkend einzuräumen und betrifft damit tw. denselben Zeitraum, der bei Eingreifen des Vertrauensschutzgedankens von der Gleichbehandlung auszunehmen gewesen wäre. Vereinzelt fehlt es an der Nennung einer exakten Grundlage, auf der das Rückwirkungsproblem zu behandeln wäre; so begründet das BAG eine - rückwirkende Übergangsfrist pauschal "aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes"Il oder es führt nur aus, daß sich die Beklagte nicht auf einen "verfassungsrechtlich geschützten Vertrauenstatbestand"12 berufen könne. Der, vom Gericht konkretisierte, verfassungsrechtliche Ansatz gibt kaum dogmatisch fundierte und abgesicherte Beurtei4 BVerfG Beschl. v.28.9.1992-1 BvR 496/87-AP Nr.32 zu Art. 119 EWG-Vertrag = EWiR Art. 119 EWG-Vertrag 1992, S. 1195 (Kreitner). 5 BAG Urt. v. 14.10.1986- 3 AZR 66/83 -, zu III. 2. der GIiinde. 6 BAG Urt. v. 23.1.1990 - 3 AZR 58/88 -, zu III. 2. der GIiinde. 7 BAG Urt. v.14.10.1986-3 AZR 66/83-, zu III.2.b) der Gründe; v.23.1.1990-3 AZR 58/88 -, zu 2. a) der Gründe. 8 Ebd. 9 BAG Urt. v. 5.9.1989 - 3 AZR 575/88 -, zu III. 3. b) der Gründe. 10 BAG Urt. v.20.11.1990- 3 AZR 613/89-, zu V.2. der Gründe. 11 So im U rt. v. 5.9.1989 - 3 AZR 575/88 -, zu 11. 1. u.2. der Gründe. 12 BAG Urt. v. 23.1.1990 - 3 AZR 58/88 -:-' zu 2. b) der Gründe.

3 Hucp

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1. Teil: Bestandsaufnahme

lungsmaßstäbe vor. Im offensichtlichen Bemühen, keine Bindungswirkungen zu erzeugen, bleibt das BAG bewußt vage und offen. Die grundsätzliche Anerkennung von verfassungsrechtlichem Vertrauensschutz hilft den Betroffenen kaum, da letztlich die Entscheidung von der Abwägung im Einzelfall abhängt, die sich wiederum am Maßstab der Verhältnismaßigkeit und Zumutbarkeit auszurichten hat l3 • Im Ergebnis ist die Rechtsprechung überraschend eindeutig; in keinem Fall setzten sich Vertrauensschutzüberlegungen gegen den Lohngleichheitsgrundsatz im Betriebsrentenrecht durch. .

b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen zur Gewährung von Vertrauensschutz Deutlicher als die dogmatische Herleitung entwickelt das BAG die tatbestandlichen Voraussetzungen, von denen die Gewährung des Vertrauensschutzes im Einzelfall abhängt. Hier sind, auch unter Berücksichtigung der übrigen Rechtsprechung des BAGI4, Kriterien erkennbar, von denen das Gericht die Gewährung von Vertrauensschutz abhängig macht. Bei der Entscheidung über die zeitliche Wirkung sind die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips, des Vertrauensschutzes und der materiellen Gerechtigkeit im einzelnen Fall nach den jeweiligen Gegebenheiten zu konkretisieren und nach den Kriterien der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit gegeneinander abzuwägen's. Das rechtstaatlich abgeleitete Rückwirkungsverbot gerichtlicher Entscheidungen zielt auf den Schutz des Vertrauens in den Fortbestand der bisherigen Rechtslage. Voraussetzung ist nach Ansicht des BAG "ein Vertrauenstatbestand im Hinblick auf eine bestimmte Rechtslage"16. Entscheidend ist eine bestehende Vertrauenslage auf Seiten der Betroffenen. Die Anforderungen daran sind hoch, muß doch festgestellt werden können, daß eine eindeutige Gesetzeslage oder eine gefestigte Rechtsprechung bestand, die für die Rechtsauffassung der Vertrauensschutz begehrenden Partei sprach und mit der das Gericht nunmehr gebrochen hatl7 • Die Vertrauenslage kann sich auf eine bestehende allgemeine Rechtsanschauung gründen, hervorgerufen insbesondere durch die bis13 BAG Urt. v. 14.10.1986- 3 AZR 66/83 -, zu III. 2. b) der Gründe, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 14 BAG Urt. v. 5.12.1969 - 3 AZR 514/68 = AP Nr.lO zu § 75b HGB = BB 1970, S. 309 (Gumpert); v.l0.3.1972-3 AZR 278/91 =AP Nr.156 zu §242 BGB Ruhegehalt (Weitnauer); v.20.4.1972-3 AZR 337m =AP Nr.12 zu §75b HGB; v.1O.6.1980-1 AZR 822/79=AP Nr.64 zu Art. 9 GG Arbeitskarnpf; v. 5.4.1984 - 6 AZR 70/83 - AP Nr. 13 zu § 78a BetrVG 1972; v. 15.5.1984 - 3 AZR 520/81 - AP Nr.22 zu § 9 BergmannsVersorgScheinG NRW; v. 20.1 1.1990- 3 AZR 573/89- AP Nr.14 zu § 1 BetrAVG Ablösung = BAGE 66, S.228ff.; vgl. dazu auch die ausführliche Darstellung bei Louven, S. 27 ff. IS BAG Urt. v.20.11.1990-3 AZR 613/89-; v.20.11.1990- 3 AZR 573/89-AP Nr.14 zu § 1 BetrAVG Ablösung = BAGE 66, S. 228 ff. 16 BAG Urt. v.14.10.1986- 3 AZR 66/83-, zu III.2.a) der Gründe. 17 BAG Urt. v.5.9.1989- 3 AZR 575/88 -, zu 11.2. b) der Gründe.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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herige Rechtsprechung des BAG selbst, aber auch des BVerfG18 .Entscheidend ist, daß es sich um eine gefestigte Rechtsprechung hande1t'9; wann dies der Fall ist, bleibt jedoch offen. Kein berechtigtes Vertrauen entsteht, wenn die Rechtslage unklar und in der Entwicklung begriffen ist20 • Der Betroffene muß die Diskussion in Rechtsprechung und Schriftum verfolgen und berücksichtigen. Konkret muß eine gefestigte Rechtsprechung nachweisbar sein, die einen für den Vertrauensschutz erheblichen Tatbestand begründen kann21 , bestehende Unklarheiten einer sich erst entwickelnden Rechtsprechung gehen zu Lasten dessen, der sich auf einen Vertrauenstatbestand beruft22 • Da jedoch das seit Verabschiedung des Grundgesetzes geltende Lohngleichheitsgebot in Art. 3 Abs. 200, alle, durch die Rechtsprechung nur konkretisierten, Diskriminierungsformen der jüngeren Zeit umfaßt, fehlt es an einer eindeutigen Gesetzeslage, nach der die Ungleichbehandlung für zulässig gehalten werden durfte23 • Auch das Gemeinschaftsrecht begründet keine Vertrauenslage. Die einschlägigen Richtlinien24 entfalten keine vertrauens begründende Wirkung, sofern, wie im bundesdeutschen Recht, das Lohngleichheitsgebot inhaltlich bereits den Vorgaben der Richtlinien entspricht2S • Schließlich habe auch die eigene Rechtsprechung keinen Vertrauens tatbestand begründen können, da das Lohngleichheitsgebot im Bereich der betrieblichen Altersversorgung gerichtlich seit 1955 anerkannt sej26 und die spätere Rechtsprechung kein Vertrauen in den rechtlichen Bestand diskriminierender Regelungen begründet habe, da es in keinem Sachgebiet zu einer, die Ungleichbehandlung rechtfertigenden, Verfestigung gekommen sei. Die Unklarheit der Rechtsprechung verhindert nach Ansicht des BAG das Entstehen eines Vertrauenstatbestands27 • Dementsprechend wird kein Schutz vor Rückwirkung eine "Erstlingsfallentscheidung" gewährt. Grundannahme dieser Rechtsprechung, die angesichts der hohen Anforderungen an die Gewährung von Vertrauensschutz regelmäßig zur Rückwirkung ihrer Ent18 Vgl. BAG Urt. v.14.10.1986- 3 AZR 66/83 -, zu III. 2. a) der Gründe; Urt. v.5.9.19893 AZR 575/88 -, zu 11.2. a) der Gründe. 19 BAG Urt. v. 5.9.1989 - 3 AZR 575/88 -, zu 11.2. b) der Gründe. 20 BAG Urt. v.14.10.1986- 3 AZR 66/83-, zu III. 2. a) der Gründe. 21 Ebd., zu 11.2. b) der Gründe. n Vgl. BAG Urt. v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -, zu III.2.a) der Gründe; Urt. v.20.11.1990- 3 AZR 613/89-, zu IV.1.b) der Gründe. 23 BAG Urt. v.14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -, zu III. 2. a) der Gründe. 24 Richtlinie des Rates v. 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79/7/EWG), ABI. v. 10.1.1979, Nr. L 6/24; Richtlinie des Rates v. 24.7.1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (86/378/EWG), ABI. v.12.8.1986, Nr.L 225/40. 2.1 BAG Urt. v.23.1.1990- 3 AZR 58/88-, zu III.2.d) der Gründe. 26 BAG Urt. v. 15.1.1955 - 1 AZR 305/54 - BAGE I, S. 258ff. = AP Nr.4 zu Art. 3 GG

(Beitzke). 27

BAG Urt. v.14.10.1986- 3 AZR 66/83-, zu III.2.a) der Gründe.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

scheidungen kommt, ist das Verständnis des Gericht über seine Tätigkeit als reine Auslegung, nicht jedoch als richterrechtliche Rechtsfortbildung oder Ausbildung von Gewohnheitsrecht. Das Gericht vermeidet so, den Maßstab für die Gewährung von Vertrauensschutz herabzusetzen. Denn je niedriger die Rechtsprechung in der Rechtsquellenhierarchie angesiedelt wird, desto höher sind die an die Gewährung von Vertrauensschutz zu stellenden Anforderungen. Die rechtsfortbildende Wrrkung höchstrichterlicher Rechtsprechung, insbesondere im Arbeitsrecht, wird dabei außer acht gelassen. Solange die Rechtsprechung ihre Tätigkeit nur als Erkenntnisprozeß begreift, dem keinerlei rechtsfortbildende Relevanz zukommt, ist die dementsprechend strenge Beurteilung des Vertrauensschutzes zumindest konsequent. Der Vertrauenstatbestand hängt aber auch für das BAG von der Frage ab, ob es sich bei der abändernden Entscheidung um die Auslegung des vorhandenen Rechts oder um lückenfüllende Rechtsfortbildung handelt28 • Stellen einzelne Diskriminierungstatbestände einen Fall richterlicher Rechtsfortbildung dar, ist ein anderer, weniger strenger Maßstab anzulegen29 • Ein solcher rechtschöpferischer Akt kommt der Gesetzgebung näher und unterliegt damit den dafür entwickelten, strengeren Maßstäben in bezug auf die Zulässigkeit seiner rückwirkenden Geltung. Das Bestreiten der rechtsfortbildenden Funktion der eigenen Tätigkeit vernachlässigt die offensichtliche Erkenntnis, daß die Ausprägung des Lohngleichheitsgebots im Lauf der Zeit eine zunehmende Verfeinerung erfahren hat, die es ermöglicht, Sachverhalte zu erfassen, die früher nicht im Blickfeld von Rechtsprechung und Wissenschaft lagen. Angesichts der dynamischen Entwicklung im Bereich der Lohngleichheit30 kann es unter diesen strengen Anforderungen nie zur Bildung von Vertrauen kommen. Denn nach Ansicht des BAG kann Vertrauen nur bei Bestehen einer Rechtsprechung gebildet werden, die den jeweiligen Diskriminierungstatbestand positiv billigt. Die Rechtsprechung belastet durch diese hohen Anforderungen an den Vertrauensschutztatbestand letztlich die Betroffenen mit den Folgen einer sich erst langsam und zögerlich entfaltenden Rechtsprechung31 • Geht man davon aus, daß die Rechtsprechung bestimmte Diskriminierungsfälle, wie etwa die mittelbare Diskriminierung, früher anders entschieden hätte als heute, muß sich auch die Gewährung von Vertrauensschutz an den jeweiligen Erkenntnissen orientieren. Alles andere überspannt die Anforderungen an den Vertrauenstatbestand. Eine gefestigte Rechtsprechung erfordert zunächst, daß ein Sachverhalt als Diskriminierung BAG Urt. v. 20.11.1990 - 3 AZR 613/89 -, zu IV. 1. b) der Gründe. Griebeling, FS-Ahrend, S.208, 217; so auch das BAG, Urt. v. 16.1.1996 - 3 AZR 767/94 - SAE 1997, S. 105ff. (v. MaydelllSeibold) = AiB 1997, S. 127ff. (Tlwnnheiser), zu III. 1. der Grunde. 30 Colneric, FS-Gnade 1992, S.627, 640. II Ähnl. Louven, S.272: der Irrtum der Arbeitsgerichte kann nicht einseitig zu Lasten des Bürgers gehen; für Aden, DWiR 1992, S. 353, 359, kann den Betroffenen nicht angesonnen werden, theoretische Erwägungen über die fortwährende Bestandskraft ihrer vertraglichen Vereinbarungen über die, durch die herrschende Rechtsprechung geprägte, vorgefundene Rechtslage hinaus anzustellen. 21 29

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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erkannt wird. Daran fehlt es jedoch in vielen Fällen. Kennzeichnend für die Entwicklung im Bereich des Lohngleichheitsgebots ist, daß bestimmte Lebenssachverhalte erst nach jahrzehntelanger Praxis von den Gerichten als Diskriminierungstatbestände erkannt und definiert werden. Nach verbreiteter Auffassung stellt die Entwicklung und zunehmende Ausdifferenzierung des Lohngleichheitsgebots ein Paradebeispiel richterlicher Rechtsfortbildung dar32 • Letztlich kommt es entscheidend auf die Bestimmung des Maßstabs an, der der Beurteilung der Vertrauensposition zugrunde gelegt wird. Dabei kann die rechtsquellenbezogene Bewertung der richterlichen Tätigkeit u. U. Anhaltspunkte vorgeben. Zu berücksichtigen ist dabei, daß es sich bei Auslegung und richterlicher Rechtssetzung nicht um scharf voneinander zu scheidende Bereiche handelt, der Übergang vielmehr fließend ist33 • Die Einstufung kann deshalb nicht als endgültige Entscheidung für oder gegen die Gewährung von Vertrauens schutz herangezogen werden. Dennoch sollte sich das BAG der Erkenntnis nicht verschließen, daß, gerade in gesetzlich nur ansatzweise geregelten Lebensbereichen, eine differenzierte Betrachtung erforderlich ist, die sich der eigenen Rechtsquellenqualität bewußt ist und sich mit ihr unbefangen auseinandersetzt34 • Dies läßt das BAG vermissen und bietet damit erhebliche dogmatische Angriffsflächen.

aa) Die Vertrauensposition Inhaltlich liegen der Rechtsprechung mehrere Diskriminierungstatbestände zugrunde, die nachfolgend im Hinblick auf die jeweilige Vertrauensposition dargestellt und analysiert werden.

(1) Die Teilzeitbeschäftigtenproblematik Der mit Abstand am intensivsten behandelte Komplex betrifft die Teilzeitbeschäftigung. Die Entwicklung der Rechtsprechung zu diesem Problem zog sich über einen Zeitraum von annähernd zwanzig Jahren hin, in dem die juristische Wahrnehmung der Teilzeitbeschäftigtenproblematik bemerkenswerte Veränderungen erfuhr. Die Entwicklung ist im wesentlichen einer Entscheidungskette zu verdanken, die sich mit der Versorgungsordnung einer bundesweit agierenden Kaufhauskette zu 32 HanauiPreis, ZiA 1988, S. 177, 180f.; P/arrIBertelsmann, Diskriminierung, S. 111 ff.; Steindorff, RdA 1988, S.129, 132; Lieb, ZfA 1996, S.319, 339ff.; Louven, S.69ff., 1l2ff.; da-

gegen für die mittelbare Diskriminierung ausdrücklich BAG Urt. v. 20.11.1990 - 3 AZR 613/89-, Leitsatz 5.a); grdl. Picker, IZ 1988, S.l ff., 62ff. für die Betriebsrisikolehre; v.Hoyningen-Huene, BB 1986, S.2133ff.; Mayer-Maly, IZ 1986, S.557ff. 33 Larenz, Methodenlehre, S.366. 34 Zur eigenen Auseinandersetzung mit den vertrauensbegründenden Auswirkungen unterschiedlicher Rechtsquellenqualität vgl. unten 3. Kapitel, III. 2. c) bb) (2) (c).

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1. Teil: Bestandsaufnahme

beschäftigen hatte35 • Die fragliche Versorgungsordnung unterschied beim Anspruch auf eine Altersrente zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten. Letzteren stand nur dann ein Versorgungsanspruch zu, wenn sie innerhalb einer Gesamtbetriebszugehörigkeit von 20 Jahren mindestens 15 Jahre als Vollzeitkraft beschäftigt waren. Diese Voraussetzungen erfüllte die Klägerin nicht, sie hatte während ihrer 15jährigen Betriebszugehörigkeit nur 11 ~ Jahre vollzeitig gearbeitet. Das BAG befaßte sich erstmals 1982 mit der Versorgungsordnung der Beklagten36 • Hier zeigen sich deutlich begriflliche und inhaltliche Unsicherheiten in bezug auf die Rechtsfigur der "verdeckten" oder "mittelbaren" Diskriminierung, die das Gericht hier erstmals heranzog. Es sah im Ausschluß der Teilzeitbeschäftigten primär einen Verstoß gegen den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der sachliche Gründe bis zur Grenze der Willkür genügen läßt; erst in zweiter Linie erwog das Gericht einen Verstoß gegen Artikel 3 Abs. 2 und 3 GG, da eine "verdeckte" Diskriminierung vorliegen könne. Nach dem damaligen Verständnis des BAG handelte es sich um einen Umgehungstatbestand37• Endgültig nahm das BAG zur Frage der Diskriminierung nicht Stellung, sondern verwies an das LAG zurück. Nachdem dieses keinen Verstoß gegen das Lohngleichheitsgebot oder den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz feststellen konnte38 , legte das BAG auf die Revision hin dem EuGH 1984 erstmals die Frage vor, ob es sich beim Ausschluß der Teilzeitbeschäftigten um eine, nunmehr als "mittelbar" bezeichnete Diskriminierung und damit um einen Verstoß gegen Art. 119 (neu: Art. 141) EGV handeln könne3 9• Erstmals räumt das BAG dem spezielleren und strengeren geschlechtsbezogenen Gleichbehandlungsgebot den Vorrang vor dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot ein. Das Verhältnis der beiden einschlägigen Normen, Art. 3 Abs. 2 und 3 GG einerseits und Art. 119 (neu: Art. 141) EGV andererseits, ist in der Vorlage unklar. Das BAG trifft keine genaue Aussage über den jeweiligen Anwendungsbereich. Jedenfalls erscheint es möglich, daß Art. 119 (neu: Art. 141) EGV im Einzelfall die weiterreichende Norm ist. Das Gericht sah sich erst nach der Vorabentscheidung des EuGH imstande, endgültig die Reichweite beider Grundsätze und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Auffällige Unsicherheit herrschte über die genauen Konturen der "mittelbaren" Diskriminierung, die im Anschluß an die ,,Jenkins"-Entscheidung des EuGH lang35 BAG Urt. vom 6.4.1982- 3 AZR 134n9-AP Nr.l zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -; v. 14.3.1989 - 3 AZR 490/87 - AP Nr.5 zu § 1 BetrAVG Gleichberechtigung; v. 23.1.1990 - 3 AZR 58/88 -; v. 20.11.1990 - 3 AZR 613/89-. l6 BAG Urt. v. 6.4.1982 - 3 AZR 134n9 -; diese Entscheidung markiert entgegen der Ansicht von Louven, S. 71, den Beginn der ,,Bilka"-Rechtsprechung des BAG. 37 Ebd., zu III. 2. b) der Gründe. 31 LAG FfM. Urt. v.5.11.1982-6 Sa 664/82- BB 1983, S.966. 39 BAG Urt. v.5.6.1984- 3 AZR 66/83-AP Nr.3 zu Art. 119 EWG-Vertrag.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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sam auch ins Blickfeld der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit geriet'O. Dem Urteil des EuGH41 folgend, das den Ausschluß der Teilzeitbeschäftigten als Verstoß gegen Art. 119 (neu: Art. 141) EGV ansah, jedoch keine Aussage zur zeitlichen Geltung seiner Entscheidung machte, bejahte auch das BAG einen Verstoß gegen Art. 119 (neu: Art. 141) EGV durch die Versorgungsordnung des beklagten Kaufhauses, da der objektive Tatbestand einer mittelbaren Diskriminierung erfüllt sei. Dabei orientierte sich das Gericht an der vom EuGH42 aus Art. 119 (neu: Art. 141) EGV entwikkelten Definition, die eine Differenzierung voraussetzt, von der wesentlich mehr Frauen als Männer nachteilig betroffen sind und die nur mit dem Geschlecht oder den Geschlechtsrollen erklärt werden kann, ohne daß die Ungleichbehandlung objektiv gerechtfertigt werden kann. Rechtsfolge ist nach Ansicht des BAG die rückwirkende Gleichstellung der benachteiligten Gruppe mit den bisher berechtigten Arbeitnehrnem43 . Dagegen berief sich die Beklagte auf den Schutz ihres Vertrauens in die Zulässigkeit ihrer Versorgungsordnung. Das Gericht verwirft diesen Einwand. Es verweist dabei zum einen auf Art. 119 (neu: Art. 141) EGV, der bereits seit 1958 gelte, zum anderen auf seine eigene frühere Ableitung des Lohngleichheitsgebots aus Art. 3 Abs. 2 GG44. An dieser Stelle stützt es sich erstmals auf einen innerstaatlichen Gleichheitssatz. Zwar konzediert das BAG, daß die Reichweite beider Normen bei weitem noch nicht eindeutig bestimmt war, die bestehenden Auslegungsprobleme hätten jedoch die Entstehung schutzwürdigen Vertrauens verhindert. Obwohl diese Erwägungen die Entscheidung zur zeitlichen Geltung bereits getragen hätten, geht das Gericht in einem obiter dictum darüber hinaus's. Es unterstellt eine schützwürdige Vertrauensposition in Form einer bestehenden, der Beklagten günstigen Rechtsprechung. Die dann erforderliche Abwägung zwischen dem Interesse an der Durchsetzung des Diskriminierungsverbots einerseits und der drohenden ökonomischen Belastung fiele zum Nachteil der beklagten Arbeitgeberin aus. Bei der Gewichtung dieser Interessen sei erheblich, daß die Beklagte aufgrund ihrer überlegenen Position, die auch die rechtliche Beurteilung ihrer Versorgungsordnung umfaßt, das Risiko der Rechtsunsicherheit zu tragen habe. Dogmatisch bleibt unklar, auf welcher Grundlage das Gericht die Rückwirkungsproblematik beurteilt. Ausdrücklich wendet es sich gegen die Übertragung der für die rückwirkende Änderung von Gesetzen vom Bundesverfassungsgericht entwikkelten rechtsstaatlichen Grundsätze. Es müsse vielmehr eine am Maßstab der Ver40 EuGH Urt. v. 31.3.1981 - Rs 96/80 - AP Nr.2 zu Art. 119 EWG-Vertrag; die Entscheidung wird auch vom BAG in seiner Vorlage zitiert, vgl. 11. 2. der Gründe. 41 EuGH Urt. v. 13.5.1986 - Rs 170/84 - AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag. 42 EuGH Urt. v.13.5.1986-Rs 170/84-, zur I. Frage. 43 BAG Urt. v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -, zu III.l. der Gründe. 44 Ebd., zu III. 2. a) der Gründe. Ebd., zu 111. 2. b) der Gründe.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

hältnismäßigkeit und Zumutbarkeit orientierte Einzelfallabwägung vorgenommen werden46 • Neben der Rückwirkungsbeschränkung erwägt das BAG eine durch Art. 8 der gemeinschaftsrechtlichen Richtlinie 86/378/EWG vorgegebene Übergangsfrist47 • Da sich diese Übergangsfrist jedoch an die Mitgliedstaaten und nicht unmittelbar an die Bürger wendet, entfalte sie zwischen den Verfahrensbeteiligten keine Wirkung. Obwohl in diesem Zusammenhang die Entscheidung des EuGH in der Sache "Defrenne"48 zitiert wird, geht das Gericht nicht auf den dort problematisierten Schutz vor einer rückwirkenden Belastung ein. Noch deutlicher entwickelte das BAG seine Position zum Vertrauensschutz gegenüber seinen Entscheidungen im nächsten ,,Bilka"-Urteil vier Jahre später49 • Da es sich bei den Fragen der mittelbaren Diskriminierung allein um die Auslegung von Rechtsnormen handele, die älter sind als die in Frage stehenden Versorgungszeiträume, zudem keine Rechtsfortbildung vorgelegen habe, durften die Betroffenen nicht auf die Richtigkeit der ihnen günstigen Rechtspositionen vertrauen. Das Risiko einer ungeklärten, in der Entwicklung befindlichen Rechtslage haben die jeweiligen Parteien zu tragenso. Damit geht das Gericht davon aus, das keine Änderung oder Weiterentwicklung der Rechtsprechung vorliege. Hilfsweise weist es erneut daraufhin, daß selbst in einem solchen Fall bestehender, gefestigter Rechtsprechung das Vertrauen der Betroffenen nicht schutzwürdig sei, da die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter zum Vorrang der materiellen Gerechtigkeit gegenüber dem Vertrauensschutzgedanken führe. Klarer als in der vorangegangenen Entscheidung stützt sich die Argumentation des Gerichts auf das verfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip, dessen widerstreitende Grundsätze des Vertrauensschutzes und der materiellen Gerechtigkeit im Einzelfall, ohne statische Festschreibung, gegeneinander abzuwägen seien. Die Grundsätze, nach denen Rückwirkungsverbot und Vertrauensschutz bei Gesetzesänderungen zu berücksichtigen sind, können auf die Rechtsprechung nicht übertragen werden sl . Auch eine Übergangsfrist, sei sie gemeinschaftsrechtlich abgeleitet oder auf die zivilrechtliche Lehre des Wegfalls der Geschäftsgrundlage gestützt, ist nach Ansicht des BAG abzulehnens2 .

46 Ebd., zu III. 2. b) der Gründe, unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 59, S.128, 165f. 47 Ebd., zu III. 3. der Gründe. 48 EuGH Urt. v. 8.4.1976- Rs 43n5 - "Defrenne 11", Slg. 1976, S.455ff. 49 BAG Urt. v.20.11.1990- 3 AZR 613/89-. so Ebd., zu IV. 1. der Gründe. ,. Ebd., zu IV. 2. a) der Gründe. '2 Ebd., zu V. der Gründe.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle geriehtl. Praxis und Literatur

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Unter dem Einfluß der EuGH-Urteile in der Sache "Bilka"s3 selbst, aber auch der Entscheidungen "Defrenne" und "Barber"S4, wird den gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien jedoch nunmehr eine vertrauensbildende Wirkung, unabhängig von ihrer auf die Mitgliedstaaten beschränkten rechtlichen Reichweite, zuerkannt. Da jedoch das innerstaatliche Recht bereits den Tatbestand der mittelbaren Diskriminierung erfasse, mußte die Beklagte mit einer entsprechenden, richtlinienkonfonnen Auslegung rechnen. Dies gelte, obwohl die mittelbare Diskriminierung erst wesentlich später, im Zuge der Reehtsentwicklung auf Gemeinschaftsebene von Rechtsprechung und Literatur der Bundesrepublik aufgegriffen worden seiss . Aus diesem Grund könne auch die zeitliche Limitierung des Urteils "Defrenne II" innerstaatlich nicht gelten; die Situation in der Bundesrepublik war aufgrund des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 Abs. 2 und 3 GG nicht mit anderen Mitgliedstaaten vergleichbar, in denen die nationale Rechtsentwicklung weniger weit fortgeschritten warS6 . Die gegen diese Entscheidung eingelegte VerfassungsbeschwerdeS', die sich gegen die Rückwirkungsentscheidung richtete, blieb erfolglos. Auch in dieser Entscheidung zeigt sich der argumentative Spagat des Gerichts: einerseits ist die Rechtslage so unsicher, daß kein Vertrauen darauf gegründet werden kann - andererseits ist die gegenwärtige Rechtslage schon immer in den einschlägigen Nonnen enthalten, also in irgendeiner Fonn erkennbar gewesen, weshalb wiederum kein Vertrauen in eine abweichende rechtliche Beurteilung gesetzt werden durfte. Das BAG mutet den betroffenen Versorgungsschuldnern mehr Erkenntnisfähigkeit zu, als es selbst zeigtS8 . (2) Die Teilzeitbeschäftigten in der Zusatzversorgungskasse des öffentlichen Dienstes Eine weitere Vertiefung und zugleich Modifikation erfuhr die Rückwirkungsproblematik durch die Urteile zur Behandlung der Teilzeitbeschäftigten in den Zusatzversorgungskassen des öffentlichen Dienstess9 . Die Differenzierung zwischen Vollzeit- und unterhälftig beschäftigten Arbeitnehmern beruhte in diesen Fällen auf der Regelung des einschlägigen Versorgungstarifvertrags. Danach war letztere Gruppe bis dato von der Zusatzversorgung ausgeEuGH Urt. v.13.5.1986-Rs 170/84-. EuGH Urt. v.8.4.1976-Rs43n5-, und v.17.5.1990-RsC-262/88-Slg. 1990.S.1889ff. ss BAG Urt. v.20.11.1990- 3 AZR 613/89-, zu V.l.e) der Gründe. 56 Ebd., zu V. 1. e) der Gründe. S7 BVerfG Besehl. v.28.9.1992-1 BvR 496/87 -, vgl. dazu unten 1.2. S8 Krit. aueh HanaulPreis, OB 1991, S.1279ff.; Preis, ZlP 1995, S. 891,898. S9 BAG Urt. v.28.7.l992 - 3 AZR 173/92- AP Nr.18 zu § 1 BetrAVG Gleiehbehandlung; 7.3.1995 - 3 AZR 282/94- AP Nr. 26 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung (Bauschke)(Parallelverfahren: Urteile v. 7.3.1995 - 3 AZR 625, 321, 583, u.499/94); v. 16.1.1996 - 3 AZR 767/94 -; v. 27.2.1996 - 3 AZR 886/94 - AP Nr.28 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; v.12.3.1996- 3 AZR 993/94-AP Nr.l zu §24 TV Arb Bundespost. S3

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1. Teil: Bestandsaufnahme

schlossen60 • Den Klagen der durch diese Regelung nachteilig betroffenen Arbeitnehmerinnnen wurde durchweg stattgegeben. Anders als in den vorangegangenen Urteilen zur Teilzeitbeschäftigung stützt das Gericht den Anspruch nunmehr hauptsächlich auf den allgemeinen, aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Gleichheitssatz. Der in der Differenzierung zwischen Voll- und Teilzeitkräften liegende Verstoß sei durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigt. Insbesondere könne ein, von den Tarifparteien unterstellter, unterschiedlicher Versorgungsbedarf den Ausschluß nicht rechtfertigen 61 • Die Anwendbarkeit des spezielleren Lohngleichheitsgrundsatzes lehnt das Gericht ab. Es stellt lapidar fest, daß die unterschiedliche Behandlung von Voll- und Teilzeitbeschäftigten mit dem Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen nichts zu tun habe62 • Diese Feststellung überrascht angesichts der "Bilka"-Entscheidungskette, in der die Ungleichbehandlung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer(innen) vorrangig unter dem Aspekt der mittelbaren Diskriminierung im Entgeltbereich behandelt wurde, und der intensiven wissenschaftlichen Diskussion zu diesem Thema. So führte das Gericht in einem früheren Urteil u. a. aus, daß der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz vernachlässigt werden kann, wenn das speziellere und strengere Gebot der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verletzt wird63 • Die weitere Feststellung des erkennenden Senats, es gehe nur um die unterschiedliche Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten, das Geschlecht spiele dagegen keine Rolle, wirkt wie ein Rückfall in die Zeiten vor der Entwicklung der mittlerweile anerkannten Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung, die gerade solche Fälle von Ungleichbehandlungen erfassen will, die auf den ersten Blick keinen geschlechtsbezogenen Anknüpfungspunkt erkennen lassen. Daß dies vom BAG nicht gesehen wurde, erscheint zweifelhaft. Obwohl spekulativ, scheint sich das Gericht, gerade auch im Hinblick auf die nachwievor ungelöste und umstrittene Rückwirkungsproblematik, des Problems einer erneuten Auseinandersetzung mit der mittelbaren Diskriminierung entziehen zu wollen64 • Dieser Schluß drängt sich auch deshalb auf, weil das Gericht sich zumindest mit der gemeinschaftsrechtlichen "Schwester" des Lohngleichheitsgebots, Art. 119 (neu: Art. 141) EGV, und der zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV beschlossenen Protokollerklärung befaßt. Wenn es sich hier tatsächlich eindeutig nicht um einen Fall des Lohngleichheitsgebots gehandelt hätte, wären die diesbzgl. Aussagen des BAG eigentlich nicht erforderlich. Der rechtliche Ansatz in Art. 3 Abs. 1 GG enthebt das Gericht jedoch nicht von der erneuten Auseinandersetzung mit der Frage, ob die richterlichen Erkenntnisse auch für die zurückliegenden Zeiträume gelten. Aufwendig begründet, jedoch ohne 60 Zwischenzeitlich wurde der Versorgungstarifvertrag geändert; er enthält nun den Ausschluß der geringfügig Beschäftigten aus der Versorgung - dazu unten 4. Kapitel, 11.3. b). 61 BAG Urt. v. 12.3.1996 - 3 AZR 993/94 -, zu C.1. 2. der Gründe. 62 So explizit BAG Urt. v.16.1.1996- 3 AZR 767/94-, zu C.IV.2. der Gründe. 63 BAG Urt. v.5.6.1984- 3 AZR 66/83 -, zu 1.3. der Gründe. 64 So auch v. MaydelllSeibold, Anm. zu BAG Urt. v. 7.3.1995 u. 16.1.1996, SAE 1997, S.108,112.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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wirkliche Neuorientierung, deutet das Gericht eine gewisse Nähe zu den für die Gesetzgebung geltenden Grundsätze an, will sich diesem strengen Maßstab aber nicht vorbehaltlos unterwerfen. Aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG kann Vertrauensschutz allenfalls als Schutz gegen Rückwirkung rechtsfortbildender und damit der Rechtsetzung nahe kommender Rechtsprechung abgeleitet werden. Da die Rechtsprechung lediglich die Rechtslage aufgrund eines prinzipiell irrtumsanfälligen Erkenntnisprozesses feststellt, fehle es grundsätzlich an einer den Gesetzen vergleichbaren rechtlichen Bindung65. Die endgültige Entscheidung darüber kann nur im konkreten Einzelfall getroffen werden. Für diese "Konkretisierung nach den sachlichen Gegebenheiten"66 entwickelt das BAG erneut seine Entscheidungsparameter: aufgrund der unterschiedlichen Bindungswirkung können Rechtsprechung und Rechtsetzung nicht gleichgesetzt werden, andererseits ist das Vertrauen der Betroffenen eher schutzwürdig, wenn sich die richterliche Tatigkeit in den Bereich der Rechtsfortbildung bewegt67 • Die Konkretisierung erfolgt durch die Ermittlung, ob schutzwürdiges Vertrauen begründet wurde sowie der anschließenden Abwägung des Vertrauensschutzinteresses gegenüber dem Gedanken materieller Gerechtigkeit nach den allgemein anerkannten Verhältnismäßigkeitserwägungen. Dabei berücksichtigt das BAG insbesondere die Funktion von Rechtsprechung mit seinem, gegenüber der Rechtssetzung größeren Bedürfnis nach Flexibilität. Die Abwägung hängt darüber hinaus entscheidend vom Gewicht des betroffenen rechtlichen Interesses ab. Verfassungsrechtlich verankerten und geschützten Rechten kommt bei der Abwägung größeres Gewicht zu als einfachgesetzlichen Rechtspositionen. Dementsprechend hoch bewertet das BAG die Durchsetzung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, der ein elementares Rechtsprinzip verkörpert; dagegen fällt die wirtschaftlich und verwaltungstechnisch bedingte Mehrbelastung des Versorgungsschuldners, insbesondere unter der Berücksichtigung der bereits bestehenden Gesamtbelastung, ab. Keine Veranlassung sah das Gericht für eine Vorlage an den EuGH in Bezug auf das Verhältnis der gemeinschaftsrechtlichen Rückwirkungsbegrenzung zum nationalen Recht. Die Rechtslage sei für den gemeinschaftsrechtlichen Bereich und für seine Ausstrahlung auf das mitgliedsstaatliche Recht so eindeutig, an der Auslegung kein vernünftiger Zweifel angebracht. Die vom EuGH auf Gemeinschaftsebene u. a. anhand der zeitlichen Anwendungsbeschränkung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV entwickelten Grundsätze zum Vertrauensschutz sowie die im Maastrichter Abkommen beschlossene Protokollerklärung wirken sich auf das nationale Recht nicht aus. Sie enthalten keinen allgemeinen, von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV losgelösten Vertrauensschutzgrundsatz, der auf die nationalen Gleichheitsgrundsätze anwendbar sein könnte. Darüber hinaus betrifft Art. 119 (neu: Art. 141) EG V sachlich allein die Benachteiligung wegen des Geschlechts und ist auf sonstige Differenzierungen nicht anwendbar. Damit nimmt das BAG erneut 65 BAG Urt. v. 7.3.1995- 3 AZR 282/94-, zu B.IV.2. b) der Gründe; v.12.3.1996- 3 AZR 993/94 -, zu C. I. 4. der Gründe. 66 Ebd., zu B. IV. 2. b) der Gründe. 67 Ebd., zu B. IV. 2. der Gründe.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

die Ungleichbehandlung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer aus dem Anwendungsbereich des geschlechtsbezogenen Lohngleichheitsgrundsatzes mit seinem strengeren Maßstab heraus. Das BAG beurteilt das Verhältnis zwischen gemeinschaftsrechtlicher und einzelstaatlicher Ebene nach einer Art Günstigkeitsprinzip: gewährt die mitgliedsstaatliche, konkurrierende Anspruchsnorm weitergehenden sozialen Schutz, geht sie der restriktiver ausgelegten Gemeinschaftsnorm vor. Entscheidend ist, daß dies auch dann gilt, wenn dadurch in gemeinschaftsrechtlich oder einzelstaatlich geschützte Rechtspositionen Dritter eingegriffen wird. Mehrere der Entscheidungen des BAG vom 7.3.1995 wurden aus diesem Grund mit dem Ziel, eine Vorlage vor dem EuGH zu erzwingen, durch Verfassungsbeschwerde angegriffen. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerden durch Nichtannahmebeschluß zurückgewiesen68 •

(3) Die Hinterbliebenenversorgung Die Rückwirkungsproblematik wurde schließlich auch im Bereich der Hinterbliebenenversorgung akut. Versorgungszusagen mit Hinterbliebenenrentenansprüchen unterschieden in der Vergangenheit oftmals, in Anlehnung an das Modell der gesetzlichen Rentenversicherung, zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern. Den hinterbliebenen Ehepartnern der letzteren Gruppe wurde keine Rentenleistung erbracht, Witwen dagegen hatten Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente. Der Grund für diese Ungleichbehandlung wurde in der sog. typisierenden Bedarfssituation gesehen. Unter Betonung des Entgeltcharakters von Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sah das BAG in dieser Differenzierung einen Verstoß gegen das Lohngleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 2 und 3 GG und Art. 119 (neu: Art. 141) EGV sowie den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz69• Dieses, durch die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Systemen der gesetzlichen Rentenversicherung vorgegebene Ergebnis kam nicht überraschend und entsprach letztlich einem sich verändernden sozialen und gesellschaftlichen Verständnis der Geschlechterrollen. Die Typisierung entsprach nicht mehr der gesellschaftlichen Realität, zudem war im arbeitsrechtlichen Versorgungsbereich die rechtliche Beurteilung wesentlich stärker vom individualbezogenen Entgeltgedanken geprägt, der nur begrenzt Raum läßt für gesamtgesellschaftlich orientierte, gruppenbezogene Differenzierungen. Angesichts der Vielzahl der, in der Vergangenheit unter Verstoß gegen den Lohngleichheitsgrundsatz erteilten Versorgungszusagen mit differenzierender Hinterbliebenenversorgung, stellte sich auch hier die Frage nach dem Schutz der betroffenen Versorgungsschuldner vor rückwirkender 68

69

BVerfG Besehl. v.5.8.l998 - 1 BvR 264/98 - vgl. dazu unten 1.2. b). BAG Urt. v. 5.9.1989 - 3 AZR 575/88 -.

2. Kap.: Oie Ausgangssituation - Lösungsmodelle geriehtl. Praxis und Literatur

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Belastung. Naheliegend schien es, die Ungleichbehandlung, wie in der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 1986, übergangsweise zu dulden. Konstruktiv behandelt das BAG diese Frage nicht unter dem Signet des rechtsstaatlich gebotenen Vertrauensschutzes, sondern fragt nach der Rechtfertigung einer Übergangsfrist7o • Damit lehnt es sich an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts7' zur Hinterbliebenenversorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung an. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist zur Verwirklichung der Gleichbehandlung zugebilligt, auf die sich auch die beklagten Arbeitgeber berufen hatten. Entgegen der damals herrschenden Ansicht in der Literaturn und auch der unterinstanzlichen Gerichte73 , beurteilte das BAG die Situation für die Vergangenheit gleichwohl grundlegend anders. Weder eine Übergangsfrist noch ein Vertrauensschutz im übrigen käme in Betracht, da die Situation in der gesetzlichen Rentenversicherung mit der betrieblichen Altersversorgung nicht vergleichbar sei. Hier stehe der Entgeltgedanke für geleistete Arbeit im Vordergrund, der die Berücksichtigung unterschiedlicher Versorgungs- und Bedarfssituationen wie in den Solidarsystemen der gesetzlichen Rentenversicherung nicht zulasse74 • Vertrauensschutz wäre nach Ansicht des BAG zu gewähren, wenn eine gefestigte Rechtsprechung bestanden hätte, nach der die Ungleichbehandlung in der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung zulässig gewesen wäre; daran fehle es jedoch. Auch die mögliche wirtschaftliche Belastung durch den Mehraufwand kann keinen Vertrauensschutz rechtfertigen. Die Erwägungen zum Vertrauensschutz lassen kaum verallgemeinerungsfähige Aussagen erkennen. Die Argumentation des Gerichts ist in kein Konzept eingebettet, vielmehr werden die verschiedenen Gesichtspunkte, die insgesamt Voraussetzung für Vertrauensschutz wären, getrennt voneinander behandelt und nicht zueinander in Bezug gesetzt. Die Frage, ob eine vertrauensbildende Rechtsprechung bestand, kann ebensowenig wie die wirtschaftliche Belastung allein eine zeitliche Anwendungsbegrenzung der gewonnenen Rechtserkenntnis begründen; völlig unklar bleibt die dogmatische Herleitung einer Übergangsfrist.

Ebd., zu 11.2. der Gründe. BVerfG Besehl. v.12.3.1975 - 1 BvL 15/71- BVerfGE 39, S.169ff. 72 Höfer, OB 1984, Beil. 27, S. 2ff.; ders., BetrAV 1987, S.185ff.; Ahrerui/Beucher/Förster, OB 1985, Beil. 22, S.2, 6; Hilger/Stumpf, FS-Müller, S.219; Paschek, BetrAV 1985, S.129, 134; Lubnow, BetrAV 1986, S. 34ff.; Isenberg, BB 1987, S. 1175ff.;Hill/Klein, BB 1989, S. 837ff.; Hanau/Preis, OB 1991, S.1276ff. 73 LAG Hamm Urteile v.25.1.1983 und 11.1.1984-6 Sa 1410/82 u.4 Sa 113/83 -BB 1983, S.508bzw. OB 1984, S.1202; LAGFfM Urt. v.5.11.1987-8 Sa 1709/87-BB 1989, S.561. 74 BAG Urt. v.5.9.1989- 3 AZR 575/88-, zu 11.1. der Gründe. 70 71

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1. Teil: Bestandsaufnahme

(4) Altersgrenzen

Bislang werden geschlechtsdifferenzierende Altersgrenzen im deutschen Arbeitsrecht von der Rechtsprechung durchweg für zulässig erachtet. Während in vielen Bereichen die geschlechtsbezogene Differenzierung in der Gegenwart nicht mehr aufrechterhalten wird, trifft dies für die Altersgrenzen nicht zu. Auch heute noch sind unterschiedliche Altersgrenzen zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern zu finden. Die Entwicklung verlief sowohl im gesetzlichen als auch im betrieblichen Versorgungsrecht in der Rechtsprechung sehr einheitlich. Unterschiedliche Altersgrenzen waren in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt. Die betriebliche Altersversorgung knüpfte in diesem Bereich ebenfalls an die Regelungen der gesetzlichen Sicherungssysteme an, in denen bis zum Rentenreformgesetz weibliche Rentenempfänger durch ein früheres Rentenzugangsalter privilegiert wurden. Diese, mit dem Nachteilsausgleich zugunsten der durch Haushaltsführung, Kindererziehungszeiten etc. doppelt belasteten Frauen gerechtfertigte Differenzierung wurde vom BVerfG und vom BAG bislang nicht beanstandet7s. Die Entscheidungen des BAG befaßten sich jedoch nicht unmittelbar mit der Zulässigkeit geschlechtsdifferenzierender Altersgrenzen. In der Entscheidung vom 31.8.1978 ging es um die unterschiedlichen Höchsteintrittsalter von weiblichen und männlichen Arbeitnehmern. Die Beklagte hatte sich zur Rechtfertigung dieser Regelung auf die Begünstigung weiblicher Arbeitnehmer durch die Möglichkeit eines früheren Rentenbezugs ab dem 60. Lebensjahr gegenüber den männlichen Arbeitnehmern berufen. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz folgte das BAG dieser Argumentation für die betriebliche Versorgungsregelung nicht, gab aber dennoch zu erkennen, daß es in der früheren Altersgrenze für Frauen grundsätzlich eine nicht zu beanstandende Besserstellung der Frauen sehe76 • In der Entscheidung vom 6.2.1985 hielt das Gericht eine tarifliche Regelung über den Zeitpunkt des möglichen Bezuges von vorgezogenem Altersruhegeld für zulässig, da die zugrundeliegende Differenzierung des § 1248 RVO ihrerseits vor Art. 3 Abs. 2 GG Bestand habe. Unter Hinweis auf die entsprechenden Urteile des BSG und des BVerfG zur geschlechtdifferenzierenden Altersgrenze in den Sozialversicherungssystemen stellt das BAG auf die Doppelbelastung der Frau durch Haushalt und Beruf ab, der einen privilegierenden, da früheren Rentenbezug rechtfertige77 • Die in diesen Entscheidungen anklingende Nähe der Übertragung der in der gesetzlichen Rentenversicherung zulässigen Differenzierungen auf die Altersgrenzen in den betrieblichen Versorgungssystemen fand eine zusätzliche Stütze in der ge7S BVerfG v. 28.1.1987 -1 BvR 455/82- AP Nr.3 zu §25 AVG; BAG Urt. v. 31.8.19783 AZR 313n7 - AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Gleichberechtigung (Beitzke), bzgl. unterschiedlicher Eintrittsalter und ruhegeldfähiger Dienstzeiten; v. 6.2.1985 - 4 AZR 275/83 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Süßwarenindustrie (v. Stebut und Brackmann), bzgl. vorgezogenem Altersruhegeld; v.18.3.1997 - 3 AZR 759/95 - NZA 1997, S.824ff. 76 BAG Urt. v. 31.8.1978 - 3 AZR 313n7 - zu III. 2.c) der Gründe. n BAG Urt. v.6.2.1985-4 AZR 275/83 -zu 5. der Gründe.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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setzlichen Regelung des § 6 BetrAVG. Die dadurch bewirkte Koppelung beider Regelungsbereiche findet ihren Sinn in der Ergänzungsfunktion der betrieblichen Altersversorgung. Der Leistungsbeginn der ergänzenden Altersicherung aus dem betrieblichen Bereich sollte an die Grundleistung, die gesetzliche Altersrente, gebunden werden. Kennzeichnend für die Diskussion über die unterschiedlichen Altersgrenzen ist aus diesen Gründen regelmäßig die tatsächlich oder vermeintlich bestehende Benachteiligung der männlichen Arbeitnehmer, die durch ihr höheres Zugangsalter erst mit 65 Jahren in den Genuß ihrer Rente kommen. Rückwirkungsfragen im Zusammenhang mit geschlechtsdifferenzierenden AItersgrenzenregelungen waren vom BAG erstmals in seiner Entscheidung vom 18.3.1997 zu behandeln78 • Die Entwicklung der Rechtslage zwang auch auf diesem Gebiet zu einer Auseinandersetzung mit der Rückwirkungsproblematik. Der Entscheidung lag die Klage eines männlichen Arbeitnehmers zugrunde, dessen Anspruch auf Altersrente aufgrund seines Ausscheidens vor Erreichen der Höchstbeschäftigungsdauer um den Unverfallbarkeitsfaktor gemäß § 2 Abs. 1 BetrAVG zu kürzen war. Streitbefangen war die Berechnung der Betriebsrente unter Zugrundelegung des richtigen zeitanteiligen Kürzungsbetrags. Zwar konnte der Kläger, entgegen der vorgesetzlichen Versorgungsordnung aus dem Jahre 1969, gern. § 6 BetrAVG bereits bei Vollendung des 60. Lebensjahres Rentenleistungen beanspruchen. Da es sich dabei für ihn jedoch um eine vorzeitige Inanspruchnahme der Betriebsrente handelte, war diese, zumindest für männliche Arbeitnehmer mit einer Regelaltersgrenze von 65 Jahren, zeitratierlich zu kürzen. Damit ergab sich ein Unterschied zu den weiblichen Arbeitnehmern, bei denen durch die Inanspruchnahme der Rente mit Vollendung des 60. Lebensjahres aufgrund der abweichenden Regelaltersgrenze keine Kürzung erfolgt wäre. Gegen diese Ungleichbehandlung wandte sich der Kläger ohne Erfolg. Das BAG stellte für das deutsche Recht, in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu der ähnlich gelagerten Situation in den gesetzlichen Rentensystemen79 , auf eine materielle Betrachtung der Gleichbehandlung ab80 • Der den weiblichen Arbeitnehmern günstigere Unverfallbarkeitsfaktor rechtfertigt sich durch die in der Regel kürzere Betriebszugehörigkeit. Es sei daher gerechtfertigt, zum Ausgleich der daraus resultierenden Benachteiligungen für die absolute Rentenhöhe, typisierend auf die nachwievor bestehenden Benachteiligungen von Frauen in ihrer beruflichen Entwicklung abzustellen und zumindest für eine Übergangszeit einen Ausgleich durch das frühere Rentenzugangsalter zu schaffen81 • Geschlechtsdifferenzierende Altersgrenzen sind, nach der maßgeblichen Regelung in § 6 BetrAVG, in Anlehnung an die Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung, zulässig. Die rechtliche Wirksamkeit der RegeBAG Vrt. v. 18.3.1997 - 3 AZR 759/95 - NZA 1997, S. 824ff. BVerfG Besch!. v.12.3.1975-1 BvL 15m -; v.28.1.1987 -1 BvR455/82-BVerfGE 74, S. 163ff.; v. 28.1.1992 - 1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83 u.1O/91 - BVerfGE 85, S. 191,209. 80 BAG Vrt. v. 18.3.1997 - 3 AZR 759/95 - NZA 1997, S. 824ff., zu III.2. der Gründe. 81 Ebd., zu III.2. der Gründe. 78

79

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1. Teil: Bestandsaufnahme

lung wurde auch durch die frühere Rechtsprechung nicht angezweifelt82 • Mit der gemeinschaftsrechtlichen Entwicklung der Altersgrenzenrechtsprechung durch die "Barber"-Entscheidung83 sind differenzierende Altersgrenzen nunmehr auch im deutschen Betriebsrentenrecht nach Art. 119 (neu: Art. 141) EGV in der Auslegung durch den EuGH zu beurteilen. Das BAG übernahm jedenfalls für den Fall differenzierender Altersgrenzen die Position des EuGH zur Rückwirkung, wonach Zeiten vor dem Stichtag des ,,Barber"-Urteils nicht mehr dem gemeinschaftsrechtlichen Lohngleichheitsgrundsatz nach Art. 119 (neu: Art. 141) EGV unterfallen 84 • Die beiden in Betracht zu ziehenden Anspruchsgrundlagen wurden vom BAG nur isoliert nebeneinander herangezogen, gleichwohl im Ergebnis abgelehnt. Dabei spielte die zeitliche Beschränkung nur für Art. 119 (neu: Art. 141) EGV eine Rolle, der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG wurde keiner Rückwirkungsbeschränkung unterworfen, der Anspruch scheiterte allein an materiellen Erwägungen. Zu einer Verknüpfung beider Regelungsebenen in der Frage ihrer zeitlichen Geltung kam es nicht. Bestätigt wurde diese Position durch die Entscheidung vom 3.6.199785 • Der Kläger wandte sich gegen die gegenüber den Ansprüchen gleichaltriger weiblicher Arbeitnehmer gekürzte Invalidenrente, nachdem er mit Vollendung des 60. Lebensjahres aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden war. Auch in dieser Entscheidung stützt das BAG den Anspruch auf Art. 119 (neu: Art. 141) EGV, entsprechend der EuGH-Rechtsprechung begrenzt auf den Stichtag des "Barber"-Urteils, wogegen nach deutschem Recht die unterschiedlichen Altersgrenzen nachwievor noch nicht gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz in Form der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verstoßen 86• Bemerkenswert ist, daß das BAG in § 2 Abs. 1 BetrAVG einen Verstoß gegen Art. 119 (neu: Art. 141) EGV erkennt, mit der Konsequenz, daß diese Norm zumindest für Zeiträume ab dem 17.5.1990 durch das Gemeinschaftsrecht verdrängt, d. h., unanwendbar ist. Durch die Anerkennung des Stichtags kommt das BAG zur getrennten Berechnung des Anspruchs für die Zeiträume vor bzw. nach dem 17.5.1990. Diese neuere Rechtsprechung erkennt, allerdings nur durch die Übernahme der EuGH-Rechtsprechung und ohne dies explizit zu betonen, die Möglichkeit eines schutzwürdigen Vertrauenstatbestands an, der die Begrenzung der zeitlichen Wir82 Vgl. etwa BAG Urt. v.12.11.1985 -3 AZR 606/83-AP Nr.2 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung (Blomeyer); v.25.10.1988- 3 AZR 598/86-AP Nr.15 zu §6 BetrAVG. 83 EuGH Urt. v. 17.5.1990 - Rs C-262/88 - Sig. 1990, S. 1889ff. =AP Nr.20 zu Art. 119 EWG-Vertrag. 84 Ebd., zu III. 1. der Gründe. 85 BAG Urt. v.3.6.1997-3AZR91O/95-EuZW 1997, S. 703ff. AR-Blattei ES 800.2 Nr.5

=

(Fuchsloch). 86 Ebd., zu 3. b) aa) der Gründe; die ,,Einbettung" des Lohngleichheitsgrundsatzes in den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz kann jedoch nicht übeneugen - beide Grundsätze stehen nebeneinander und hängen von ganz unterschiedlichen Maßstäben ab.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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kung gerichtlicher Entscheidungen erfordert. Möglich wurde dies durch das Fehlen eines Diskriminierungstatbestands im deutschen Recht. Andernfalls hätten auch hier die Vertrauensschutzüberlegungen zum deutschen Recht zu einer unbedingten Rückwirkung gezwungen.

bb) Die Disposition der Betroffenen Eine eher untergeordnete Rolle in der Rechtsprechung des BAG kommt der Frage zu, in welchem Maß die Dispositionen der von einer Rückwirkung Betroffenen für die Gewährung von Vertrauensschutz eine Rolle spielen. Die Auseinandersetzung mit dem Kostenfaktor spielt für das BAG angesichts der vorab verneinten Vertrauenslage regelmäßig keine entscheidende Rolle in der Urteilsbegründung, sie ist allenfalls nachgeordnete Hilfserwägung. Dementsprechend läßt sich aus den Ausführungen des Gerichts nur wenig entnehmen. Soweit in den Urteilen Stellung bezogen wird, fließt die finanzielle Belastung in die abschließende Gesamtabwägung ein87 • Dabei sind die Gesamtkosten für ein betriebliches Versorgungssystem im Rahmen der Interessenabwägung88 ins Verhältnis zu setzen zu der durch die rückwirkende Anpassung nach oben entstehenden Mehrbelastung89 • Teilweise wurden auch die Regelungsprobleme erörtert, die auf Seiten der Arbeitgeber bei einer rückwirkenden Anpassung entstehen könnten90 • Dies gilt insbesondere für die Bereiche, in denen die betriebliche Altersversorgung eng mit den Regelungen der gesetzlichen Sicherungssysteme verknüpft ist, wie etwa der Hinterbliebenenversorgung oder den Altersgrenzenregelungen91 • Die Kostenbelastung durch eine Pflicht zur rückwirkenden Einbeziehung stellt den maßgeblichen Gesichtspunkt auf Seiten der Arbeitgeber dar, der aus ihrer Sicht eine Begrenzung der zeitlichen Wirkung auf zukünftige Zeiträume erfordert. Die Belastung für die betroffenen Unternehmen wird vom BAG gesehen, allerdings nur in einigen Urteilen ausdrücklich erwähnt und konkret nur an einer einzigen Stelle näher erörtert92 • Eine Mehrbelastung von etwa 5 % dürfte dabei als vom BAG noch für tragbar angesehen werden. Unberücksichtigt blieb bislang eine mögliche Kumulation durch mehrfache Verpflichtung zur rückwirkenden Angleichung.

BAG Urt. v. 20.11.1990 - 3 AZR 613/89 -, zu IV. 2. a) der Gründe. Dazu sogleich unter cc). 89 BAG Urt. v. 14.10.86 - 3 AZR 66/83 -, zu III.2.b) der Gründe; v. 5.9.1989 - 3 AZR 575/88 -, zu II. 3. a) der Gründe, unter Hinweis auf die Berechnungen von HeubecklJsenberg, DB 1986, S. 799,804, die von einer Zusatzbelastung im Bereich der Hinterbliebeneversorgung von max. 3% ausgehen; v.16.1.1996- 3 AZR 767/94-, zu IV. I. b) der Gründe. 90 BAG Urt. v. 5.9.1989 - 3 AZR 575/88 -, zu II. 3. b); angedeutet auch im Urt. v. 28.7.923 AZR 173/92 - AP Nr. 18 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung, zu III. 2. d) der Gründe. 9\ BAG Urt. v.5.9.1989- 3 AZR 575/88-, zu II.3.b) der Gründe. 92 BAG Urt. v. 5.9.1989 - 3 AZR 575/88 -:-' zu II. 3. a) der Gründe. 87

88

4 Huep

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1. Teil: Bestandsaufnahme

ce) Interessenabwägung Bei Bestehen einer Vertrauenslage will das BAG aufgrund einer zusätzlichen Einzelfallabwägung zwischen den konkreten Interessen entscheiden, ob die bestehende Vertrauenslage tatsächlich zu einem Rückwirkungsverbot zwingt. Angelehnt an die Position des BVerfG werden Rechtssicherheit und materielle Gerechtigkeit im konkreten Fall gegenüber gestellt und nach Maßstäben der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbarkeit abgewogen93 . Im Bereich des Lohngleichheitsgrundsatzes in der betrieblichen Altersversorgung stellt das BAG dabei die gesteigerte finanzielle Belastung des Arbeitgebers durch eine Pflicht zu rückwirkender Gleichstellung dem Interesse des Arbeitnehmers am Erwerb eines Versorgungsanspruch aufgrund der Durchsetzung des Gleichheitsgebots gegenüber94. Unsicherheiten bei der Beurteilung der Rechtslage gehen zu Lasten des ArbG9s. Da jedoch der Gleichheitssatz zu den Grundbestandteilen der verfassungsmäßigen Ordnung gehört, in besonderem Maße Ausdruck materieller Gerechtigkeit ist, und zudem die betrieblichen Versorgungsansprüche von erheblicher Bedeutung für den einzelnen Arbeitnehmer sind, kann weder der erforderliche organisatorische Aufwand noch die Mehrbelastung eine Rückwirkungsbegrenzung rechtfertigen96 • Dieses Ergebnis wird von der zusätzlichen Erwägung gestützt, daß die Arbeitgeber die Kostenlast durch eine zukünftige Umgestaltung ihrer Versorgungsordnungen wieder zurückführen können 97 •

dd) Zusammenfassung Im Ergebnis hat das BAG nur in einer einzigen Fallkonstellation Vertrauensschutz gegen seine Entscheidungen zum Lohngleichheitsgebot in der betrieblichen Altersversorgung gewährt. Allein in seiner jüngeren Altersgrenzenrechtsprechung wurde die zeitliche Beschränkung der Urteils wirkung durch den EuGH übemommen98 . Gleichwohl hat es sich in einer beachtlichen Zahl von weiteren Urteilen mit der Möglichkeit einer Einschränkung der zeitlichen Geltung in diesem Bereich befaßt und im Lauf der Zeit ein stark auf die Einzelfallentscheidung zugeschnittenes Konzept zur Beurteilung dieser Rechtsfrage entwickelt. Es stützt sich wesentlich auf einen im Verfassungsrecht verankerten, an der Rückwirkungsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts orientierten Lösungsansatz. Bei der Entscheidung über die zeit93 Vgl. BAG Urt. v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -, zu I1I.2. b) der Gründe; v. 20.11.19903AZR613/89-, zu IV.2.a) der Gründe; v. 7.3.1995 -3 AZR 282/94-, zu IV. 2. e) der Gründe. 94 BAG Urt. v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -, zu III. 2. b) der Gründe; BAG Urt. v. 20.11.1990 - 3 AZR 613/89 -, zu IV.2.a) der Gründe; v. 7.3.1995 - 3 AZR 282/94 -, zu IV. 2. e) der Gründe. 95 BAG Urt. v.20.11.1990- 3 AZR 613/89-, zu IV.2.a) der Gründe. 96 Ausführlich zusammenfassend BAG Urt. v. 7.3.1995 - 3 AZR 282/94-, zu IV.2.e) der Gründe. 97 BAG Urt. v.14.10.1986- 3 AZR 66/83-, zu I1I.2. b) der Gründe. 98 Vgl. oben aa)(4).

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtI. Praxis und Literatur

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liche Wirkung sind nach Ansicht des BAG die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips, des Vertrauensschutzes und der materiellen Gerechtigkeit nach den jeweiligen Gegebenheiten zu konkretisieren und gegeneinander abzuwägen99 • Neue richterliche Rechtserkenntnisse sind grundsätzlich uneingeschränkt bei der Rechtsanwendung zu berücksichtigen. Dieser Grundsatz kann nur im Ausnahmefall beschränkt werden. Grundlage dafür ist der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Vertrauensschutz gegenüber rückwirkenden Belastungen. Dabei kann sich die betroffene Partei nicht ohne weiteres, etwa ähnlich dem Schutz gegen die Rückwirkung von Gesetzen, auf die frühere Rechtsprechung berufen. Eine Änderung der Rechtsprechung kann nicht mit einer Änderung der objektiven Rechtslage durch den Gesetzgeber gleichgesetzt werden. Der Judikative stehen größere Entscheidungsspielräume bei der Rechtsanwendung zu als dem Gesetzgeberl(lO. Selbst eine bestehende, auf die bisherige Rechtsprechung gestützte Vertrauensposition führt nicht zwangsläufig dazu, daß die Gerichte die objektiv rechtswidrige Benachteiligung einer Personengruppe für die Vergangenheit nicht abändern dürfen 101 • Das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot gegenüber gerichtlichen Entscheidungen schützt das Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Rechtslage. Voraussetzung ist nach Ansicht des BAG "ein Vertrauenstatbestand im Hinblick auf eine bestimmte Rechtslage"I02. Die Vertrauenslage kann sich auf eine bestehende allgemeine Rechtsanschauung gründen, hervorgerufen durch die bisherige Rechtsprechung des BAG selbst, aber auch des BVerfG103. Nur eine gefestigte Rechtsprechung kann einen vertrauenschutzerheblichen Tatbestand begründen lO4 , bestehende Unklarheiten einer sich erst entwickelnden Rechtsprechung gehen zu Lasten dessen, der den Vertrauensschutz für sich in Anspruch nimmt105 • Der Vertrauenstatbestand soll dabei auch von der Frage abhängen, ob es sich bei der abändernden Entscheidung um die Auslegung des vorhandenen Rechts oder um lückenfüllende Rechtsfortbildung handelt 106 • Die Frage nach einer tatsächlich bestehenden Vertrauensposition wird vom BAG an keiner Stelle wirklich beantwortet. Regelmäßig bleibt offen, ob ein Vertrauen auf BAG Urt. v.20.11.1990- 3 AZR 613/89-; v.20.11.1990- 3 AZR 573/89-. BAG Urt. v.12.3.1996-3 AZR 993/94-APNr.1 zu §24 TV Arb Bundespost, zu C.I.4. der Gründe. 101 BAG Urt. v. 7.3.1995 - 3 AZR 282/94-, zu B.IV.2.d)aa) der Gründe. 102 BAG Urt. v.14.10.1986- 3 AZR 66/83-, zu III.2.a) der Gründe. 103 Vgl. BAG Urt. v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -, zu II1.2.a) der Gründe; v. 5.9.19893 AZR 575/88 -, zu 11.2. a) der Gründe. 1001 Ebd., zu 11.2. b) der Gründe. 105 Vgl. BAG Urt. v.14.10.1986- 3 AZR 66/83-, zu III. 2. a) der Gründe; v.20.11.19903AZR 613/89-, zu IV.1.b) der Gründe. 106 BAG Urt. v. 20.11.1990- 3 AZR 613/89-, zu IV. I. b) der Gründe. 99

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4'

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1. Teil: Bestandsaufnahme

die bisherige gerichtliche Gesetzesanwendung im konkreten Fall überhaupt zu schützen ist. Dagegen führt die Abwägung der betroffenen Belange, insbesondere der entstehenden Belastungen - oft können die erforderlichen Aufwendungen von der betroffenen Partei nicht erwirtschaftet werden oder ist die wirtschaftliche Existenz ernstlich in Frage gestellt - und den Interessen der Arbeitnehmer an der Durchsetzung der Gleichbehandlung, stets zur Zumutbarkeit der rückwirkenden Anpassung. Der Schwerpunkt der Ausführungen des BAG liegt dabei eindeutig in der einzelfallbezogenen Erörterung, nicht in seiner theoretischen Herleitung.

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts a) Vertrauensschutz gegen die Rückwirkung von Gesetzen Bedeutendster Vertreter einer verfassungsrechtlich begründeten Rückwirkungsbeschränkung ist das Bundesverfassungsgericht107 • Der Schwerpunkt bisheriger Erörterung zur Rückwirkung lag allerdings im Bereich rückwirkender Gesetzesänderungen 108 • Hier hat das BVerfG Grundsätze zur Bewältigung des Problems aufgezeigt, die jedoch nur z. T. Gefolgschaft in der Literatur finden 109 • Eine solche Rückwirkungsbeschränkung von Gesetzen als Rechtsfolge des Vertrauensschutzgedankes wird vom Gericht auf die Freiheitsgrundrechte insbesondere der Art. 12"0 und 14 GGlll, daneben auf das in Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankerte Rechtsstaatsprinzip gestützt; wesentliche Elemente des dem Rechtsstaatsprinzip zuzuordnenden Gebots der Rechtssicherheit sind die Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der Iudikative ll2 • Das Gericht differenzierte herkömmlich zwischen echter und unechter Rückwirkung"3, in der neueren Dogmatik des zweiten Senats wird zwischen der tatbestandErstmals im Urt. v. 30.4.1952- 1 BvR 14/52 u. a. - BVerfGE I, S. 264, Ls. 5. BVerfG Urt. v. 30.4.1952 - 1 BvR 14/52 u. a.-; Beseh!. v. 24.7.1957 - 1 BvL 23/52-BVerfGE 7, S.89, 92; Beseh!. v.14.11.1961-2BvL 15/59-BVerfGE 13, S.206, 212; Beseh!. v.19.12.1961- 2BvL 6/59 - BVerfGE 13, S. 261, 289f. 109 Kritisch schon Kisker, Rückwirkung, S. 28ff.; KleinlBarbey, Rückwirkung von Gesetzen, S. 39ff.; weiterhin Kisker, VVDStRL 32 (1974), S.149, 178; Leisner, FS-Berber, S. 273, 289f.; Pieroth, Rückwirkung, S.79ff.; Muckel, Vertrauenssehutz bei Gesetzesänderungen, S.68ff. 110 BVerfG Beseh!. v. 15.2.1967 - 1 BvR 569 u. 589/62 - BVerfGE 21, S. 173, 183; Beseh!. v.28.11.1984-1 BvL 13/81- BVerfGE 68, S.272, 286. 111 BVerfG Beseh!. v. 8.7.1971-1 BvR 766/66-BVerfGE 31, S.275, 293. 112 BVerfG Beseh!. v. 19.12.1961- 2BvL 6/59 - S. 271; w. N. bei Buchner, S. 189f. 113 Erstmals BVerfG Beseh!. v. 4.5.1960 - 1 BvL 17/57 - BVerfGE 11, S.64, 72; weiter BVerfG Urt. v.19.12.1961-2BvL6/59-S.271; Beseh!. v.19.7.1967 -2BvL 1/65 -BVerfGE 22, S. 241,248; Beseh!. v. 22.1.1975 - 2BvL 51nl u. a. - BVerfGE 39, S. 128, 143; Beseh!. v.17.1.1979-1 BvR 446 u. 1174n7-BVerfGE50,S.177, 193. 101

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2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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lichen oder sachlichen und der zeitlichen Rückbeziehung einer Nonn unterschieden 1l4 • Die echte (retroaktive) Rückwirkung bezeichnet den nachträglich belastenden gesetzgeberischen Eingriff in einen in der Vergangenheit vollkommen abgeschlossenen Sachverhalt. Ein solcher Eingriff ist grundsätzlich verfassungswidrig, das entsprechende Gesetz nichtig lls • Ausnahmen werden nur sehr begrenzt zugelassen l16 • Die unechte (retrospektive) Rückwirkung erfaßt in die Zukunft wirkende gesetzgeberische Eingriffe in Sachverhalte, die in der Vergangenheit begründet, aber zum Eingriffszeitpunkt noch nicht völlig abgeschlossenen sind 1l7 • Die unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig ll8 , jedoch kann das Vertrauensschutzinteresse des betroffenen Bürgers nach Abwägung im Einzelfall überwiegen. Dabei sind das vom Gesetzgeber intendierte Allgemeinwohl und die Vertrauensposition des belasteten Bürgers gegenüberzustellen 1l9 • Die zeitliche Rückbeziehung meint die Rückbewirkung von Rechtsfolgen und entspricht der echten Rückwirkung. Ihre Zulässigkeit ist an den Grundrechten zu messen. Die tatbestandliche oder sachliche Rückanknüpfung meint eine zukünftige Rechtsfolgenanordnung für einen in der Vergangenheit, bezogen auf den Zeitpunkt vor Geltung der Nonn, liegenden Sachverhalt. Sie ist an den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu messen.

\14 BVerfG Beschl. v. 22.3.1983 - 2 BvR 475n8 - BVerfGE 63, S.343, 356; Beschl. v.14.5.1986-2BvL 2/83-BVerfGE 72, S.200, 241; Beschl. v.20.1.1988 -2BvL 23/82-77, S. 370,377; dazu Vogel, lZ 1988, S. 833, 837f.; Fiedler, NJW 1988, S.1624ff. 115 Grdl. BVerfG Urt. v. 19.12.1961 - 2 BvL 6/59 - BVerfGE 13, S.261, 271; Beschl. v. 23.3.1971 - 2 BvL 2/66 - BVerfGE 30, S. 367,389; allerdings beschränkt das BVerfG die Nichtigkeit oftmals und geht im Einzelfall, durch die Differenzierung zwischen Nichtigkeit und "Unvereinbarkeit" auf Grundlage des § 79 Abs. 2 BVerfGG, von der ex-nunc Wirkung seiner Entscheidung aus, vgl. etwa Beschl. v. 8.8.1980-1 BvL 122n8 u. a. - BVerfGE 55, S.I00, 113; Beschl. v. 21.6.1988 - 2 BvR 638/84 - BVerfGE 78, S. 350, 363. \16 BVerfG Beschl. v.23.3.1971-2BvL 2/66-S. 390 m. w.N.: zwingende Gründe des Gemeinwohls und unverhältnismäßig geringer Schaden durch die Rückwirkung; Urt. v. 30.4.1952 - 1 BvR 14/52 u. a. - S. 280: Adressat mußte mit belastender Änderung rechnen; Beschl. v. 24.7.1957 - 1 BvL 23/52- S. 92f.: unklare Rechtslage. 117 BVerfG Beschl. v. 11.10.1962 - 1 BvL 22/57 - BVerfGE 14, S.288, 300; Beseht. v. 22.1.1975 - 2BvL 51nl u. a. -BVerfGE 39, S.128, 145f.; Beschl. v. 9.2.1983 -1 BvL 8/80 u.a.-BVerfGE 63, S.152, 175; Beschl. v.13.5.1986-1 BvL 55/83-BVerfGE 72, S.141, 155; Beschl. v. 13.5.1986 - 1 BvR 99 u.461/85 - BVerfGE 72, S.175, 196. \18 Nw. Fn.l11. \19 Nw. Fn. 111.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

b) Übertragung der Grundsätze auf den Vertrauensschutz gegenüber einer Rechtsprechungsänderung? Soweit zur Lösung der Problematik rückwirkender Gerichtsentscheidungen ein verfassungsrechtlicher Ansatz gewählt wird, liegt die Übertragung dieser Grundsätze nahe. Das BVerfG hat bislang jedoch stets eine eindeutige Festlegung in der Frage der Rückwirkungsbegrenzung von gerichtlichen Entscheidung vermieden. Es ist nach seiner stereotyp wiederholten Aussage ,,nicht ohne weiteres" möglich, die Grundsätze über die rückwirkende Änderung von Gesetzen auf die Änderung der Rechtsprechung zu übertragen 120. Die Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen unterscheide sich von der der Gesetze121 • Eine exakte Bestimmung, in welcher Form und in welchen Grenzen der im Grundsatz anerkannte Vertrauensschutz gegenüber Rechtsprechungsänderungen verwirklicht werden soll, bleibt offen. Gleichwohl legt das Gericht auch hier seinen Entscheidungen Vertrauensschutzerwägungen zugrunde. Es vermeidet eine starre Festlegung und geht stattdessen von einer Einzelfallprüfung aus, bei der jeweils anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes abzuwägen ist. Die Aussagen des BVerfG zum Komplex des Lohngleichheitsgrundsatzes in der betrieblichen Altersversorgung finden sich in zwei Beschlüssen zur Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer. Beide Entscheidungen sind von erheblicher Zurückhaltung bestimmt, was sich prozessual schon darin äußert, daß die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen wurden.

aa) Nichtannahmebeschluß in Sachen "Bi/ka" Gegen die zweite Revisionsentscheidung des BAG in der ,,Bilka"-Entscheidungskette wurde vom beklagten Kaufhaus Verfassungsbeschwerde eingelegt, die auf die Verletzung des verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz gestützt wurde. Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen122• Ohne sich grundsätzlich zum möglichen Vertrauensschutz, seiner Reichweite und seinen Grenzen gegenüber gerichtlichen Entscheidungen festzulegen, verneint das höchste deutsche Gericht - in voller Übereinstimmung mit dem BAG - das Vorliegen eines Vertrauenstatbestands. Zum einen komme Gerichtsentscheidungen keine, den Gesetzen vergleichbare Rechtsbindung zu l2J • Zum anderen habe die Beschwerdeführerin, angesichts der von ihr vertretenen und zumindest umstrittenen Rechtsauffassung, schon in der Vergangenheit nicht auf deren Gültigkeit vertrauen dürfen. In diesem Zusammenhang weist das Bundesverfassungsgericht auf die Rechtsprechung des BAG zur betrieblichen Altersversorgung und die kontroverse wissenschaftliche BVerfG Beseh!. v.28.9.1992-1 BvR 496/87 -, zu 2.b) der Gründe. Ebd., unter2.b. m.w.N. 122 Ebd. 123 Ebd., zu 2. b) der Gründe.

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2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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Diskussion zur Stellung der Teilzeitbeschäftigten, aber auch auf sein eigenes Urteil aus dem Jahre 1958 zur Parteienfinanzierung hin, in dem das Gericht die frühe erstmalige Begründung der Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung erkennt l24 • Angesichts dieser Situation könne auch die Entscheidung des BAG aus dem Jahre 1978, in der der Ausschluß von Teilzeitbeschäftigten aus der Versorgungsordnung nicht beanstandet wurde, kein verläßliches Vertrauen begründen l2S • Der wohl auf HanaulPreis l26 zurückgehende Hinweis auf das Parteienfinanzierungurteil kann jedoch nicht überzeugend gegen die Entstehung schutz würdigen Vertrauens angeführt werden. Dies folgt bereits aus der Unterschiedlichkeit der betroffenen Sachgebiete. Zwischen dem Recht der politischen Parteien und der betrieblichen Altersversorgung gibt es kaum Bezugspunkte. Die Übertragung der zum einen Rechtsgebiet entwickelten Grundsätze auf den anderen Bereich liegt keinesfalls auf der Hand und bedarf der gesonderten Begründung. Zumindest müßte sich eine Übertragung durch Rechtsprechung oder Literatur anführen lassen, da anderenfalls den betroffenen Rechtskreisen mehr juristisches Gespür abverlangt würde als allen anderen, mit der Lohngleichheitsproblematik befaßten Kreisen. Der Verdacht liegt nahe, daß hier aus der ex-post Betrachtung einer zurückliegenden Entwicklung ein passender Argumentationsbaustein zur nachträglichen Rechtfertigung eingeführt werden sollte. Aber auch eine Übertragung der damaligen Grundaussage auf das Lohngleichheitsgebot im Betriebsrentenrecht führt nicht unmittelbar zur Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung. So führen auch HanaulPreis das Urteil als Beispiel formaler Gleichbehandlung bei materieller Ungleichheit und zur Begründung einer Kausalbeziehung zwischen der Regelung und eintretender Diskriminierung als Zurechnungskriterium ein l21 • Dem Urteil kann lediglich die Unwirksamkeit einer formalgesetzlichen Gleichbehandlung entnommen werden, sofern diese im Ergebnis zu Ungleichheiten führt. Die mittelbare Diskriminierung betrifft jedoch eine offensichtliche Ungleichbehandlung, etwa der Teil- gegenüber den Vollzeitbeschäftigten, die allerdings keinen unmittelbaren Bezug zum Geschlecht der Arbeitnehmer aufweist. Faktisch jedoch werden zugleich weitere, von der Rechtsordnung besonders geschützte Gruppen - etwa die weiblichen Arbeitnehmer - benachteiligt. Der äußere Tatbestand unterscheidet sich somit erheblich. Zwar sind Parallelen durchaus erkennbar, diese beschränken sich jedoch auf die im weitesten Sinne nur mittelbar erkennbare diskriminierende Auswirkung der fraglichen Regelung. Dies reicht, auch angesichts der völlig unterschiedlichen Rechtskreise, im hier interessierenden Zusammenhang nicht aus, um dem Urteil die Ähnlichkeit zur mittelbaren Diskriminierung im Arbeitsrecht zuzuerkennen, die erforderlich wäre, um ein Vertrauen in die Zulässigkeit solcher Gestaltungen zu erschüttern.

124 Ebd., zu 2. b) aa) der Gründe, unter Berufung auf BVerfG Urt. v. 24.6.1958 - 2 BvF 1/57 - BVerfGE 8, S. 51, 64 f. 125 Ebd., zu 2. b) bb) der Gründe. 126 HanaulPreis, ZfA 1988, S.177, 185. 127 HanaulPreis, S.185, 190.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

Das BVerfG überträgt die Grundsätze zur Bewertung rückwirkender Gesetze nicht auf Gerichtsentscheidungen, da dies aufgrund der geringeren Bindungswirkung und der allein auslegenden Funktion von Rechtsprechung nicht ohne weiteres möglich sei 128 • Damit knüpft das Gericht an den unterschiedlichen Rechtsquellencharakter des Richterrechts gegenüber dem Gesetzesrecht an. Durch die richterliche Entscheidung werde keine dem Gesetzesrecht vergleichbare neue Rechtslage geschaffen, sondern lediglich im Wege der Auslegung gesetztes Recht verdeutlicht l29 • Diese Abgrenzung soll darüber entscheiden, ob eine Änderung der Rechtsprechung einer Gesetzesänderung zumindest in ihrer temporären Wtrkung gleichgestellt werden kann oder nicht 130. Auffallig sind die Unterschiede in der Argumentation in einer Entscheidung des Gerichts zum Widerruf von Leistungen einer Unterstützungskasse 131. Hier betont das BVerfG ganz eindeutig die gesetzesvertretende und damit rechts setzende Funktion des Richterrechts und überträgt seine Grundsätze über die Beurteilung einer rückwirkenden Gesetzesänderung auf die temporäre Reichweite der Entscheidung 132. Die vom BAG vertretene Rückwirkung der Entscheidung auf den weit vor Erlaß des BetrAVG liegenden Zeitpunkts der Versorgungszusage verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip in seiner Bedeutung für die Beurteilung einer unechten Rückwirkung '33 • Terminologisch an die Figur der "unechten" Rückwirkung anknüpfend, sei ein Ausgleich zwischen dem Vertrauen auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage, der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für die Allgemeinheit und der grundrechtsgemäßen Ausgewogenheit zwischen den Beteiligten134 zu finden. Die Entscheidung ist allerdings mißverständlich, da nicht genau zwischen der Rückwirkung von Gesetzen und Rechtsprechungsänderungen differenziert wird. Geändert wurde die Rechtslage nicht durch das BetrAVG, sondern durch die den § 7 BetrAVG auslegende Entscheidung des BAG zum Widerruf von Leistungen einer Unterstützungskasse13S •

BVerfG Besehl. v. 28.9.1992 - 1 BvR 496/87 -, unter 2. b. der Gründe. Ebd., zu 2. b) der Gründe. 130 Ebenso Buchner, Dietz-Gedäehtnissehrift, S. 175 ff.; Robbers, lZ 1988, S. 481, 484; angedeutet bei Blomeyer, FS-Molitor, S. 41, 47; krit. Burmeister, S. 28 f. 131 BVerfG Besehl. v.14.1.1987 -1 BvR 1052/79-. 132 Ebd., zu B. 11. 3. der Gründe. 133 Ebd., zu 11. 3. der Gründe; dem Verbot der unechten Rückwirkung zustimmend Blomeyer, EWiR 1987, S. 333,334. 134 Ebd. 135 In diesem Sinn auch Blomeyer, EWiR 1987, S. 333,334. 128 129

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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bb) Nichtannahmebeschluß zur Frage der Anwendung nationaler Diskriminierungsverbote trotz gemeinschaftsrechtlichem Rückwirkungsverbot Mit dieser Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Rechts auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 2 GG, weil das BAG in der Frage, ob Art. 119 (neu: Art. 141) EGV und das ,,Barber"-Protokoll auch die Rückwirkung mitgliedsstaatlicher Diskriminierungsvorschriften zumindest vor dem 17.5.1990 sperrten, nicht den EuGH zur Entscheidung angerufen und damit seine Vorlagepflicht gern. Art. 177 Abs. 3 (neu: Art. 234 S. 3) EGV verletzt habe. Das Verhältnis zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen Rückwirkungsverbot im Bereich von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV und entgegenstehenden einzelstaatlichen Vorschriften ist vom EuGH noch nicht entschieden worden; darüber enthalten weder das "Barber"-Urteil noch die anschließenden Folgeentscheidungen Aussagen. Dennoch handelt es sich dabei um eine der zentralen Fragen nach Reichweite und Schranken der Diskriminierungsverbote in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Beantwortung entscheidet letztlich abschließend über die tatsächliche Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für die Durchsetzung des geschlechtsbezogenen Lohngleichheitsgrundsatzes. Dennoch wurde die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen 136 • Die Ablehnung stützt das BVerfG primär auf seine eingeschränkte Zuständigkeit bei der Überprüfung von Zuständigkeitsverfahrensentscheidungen der Gerichte. Voraussetzung für eine Verletzung von Art. 101 Abs.2 GG durch eine Nichtvorlage an den EuGH sei eine unverständliche und offensichtlich unhaltbare Beurteilung der Vorlagepflicht aus Art. 177 Abs. 3 (neu: Art. 234 S. 3) EGV. Da das BAG seine Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt habe, es den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen nicht in unvertretbarer Weise überschritten habe, fehlt es nach Ansicht des BVerfG auch an einer Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführerin137 • Indirekt stützt das BVerfG das BAG, wenn es zu dem Ergebnis kommt, daß die angegriffene Entscheidung angesichts der bestehenden Rechtslage, insbesondere der Rechtsprechung des EuGH und der Literaturstimmen, zumindest gut vertretbar, d. h. die Gegenposition nicht eindeutig vorzuziehen sei 13s • Diese Selbstverständlichkeit allein genügt dem BVerfG; dabei läßt gerade die Erkenntnis, daß die entscheidende Frage nach dem Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht in einer Kollisionslage bislang noch nicht geklärt ist, eine Grundrechtsverletzung der Beschwerdeführerin möglich erscheinen. Daß sowohl das ,,Barber"-Protokoll als auch die bisher dazu ergangene EuGH-Rechtsprechung sich der Frage nicht angenommen haben, liegt allein an den Modalitäten des Vorabentscheidungsverfahrens - insbesondere der Beschränkung auf die Vorlagefragen - bedeutet aber, entgegen der Ansicht des BVerfG, keinesfalls

136 137

138

BVerfG Beschl. v.5.8.1998-1 BvR 264/98-DB 1998, S.1919=ZIP 1998, S.I728f. Ebd., zu 111. 1., 2. der GÜnde. Ebd., zu 111.1. der Gründe, unter Hinweis auf BVerfGE 82, S.159, 195f.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

eine Klärung dieses Problemkomplexes.1. E. ist der Entscheidung allerdings soweit zuzustimmen, als für den Bereich eines Ausschlusses teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer von der betrieblichen Altersversorgung keine Abweichung zwischen der Position des EuGH139 und des BAGI40 vorliegt, soweit Anspruchszeiträume seit dem 8.4.1976 betroffen sind; beide Gerichte lassen hier die Rückwirkung unbegrenzt zu. Das Ergebnis einer dementsprechenden Vorlage ist somit vorhersehbar. Bedauerlicherweise hat das BVerfG die weitere Frage, ob das gemeinschaftsrechtliche Rückwirkungsverbot auch die rückwirkende Anwendung einzelstaatlicher Ansprüche hindert, nicht mit der wünschenswerten Eindeutigkeit beantwortet. Erneut genügt dem Gericht die Feststellung, daß die Auffassung, das gemeinschaftsrechtliche Rückwirkungsverbot sperre auch die Anwendung nationaler Anspruchsgrundlagen, der gegenteiligen Ansicht des BAG nicht eindeutig vorzuziehen sei'41. Zur Begründung wird die fehlende ausdrückliche Anordnung in Art. 119 (neu: Art. 141) EGV bzw. dem "Barber"-Protokoll sowie das teleologische Ziel der Regelungen anführt. Weitergehende Auseinandersetzungen mit dem grundsätzlichen Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und kollidierendem mitgliedstaatlichen Recht fehlen völlig. Schon aus diesem Grund hätte eine Klärung vor dem EuGH nahe gelegen. Angesichts der gleichzeitig sich abzeichnenden Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht142 läßt sich in diesem Bereich ein starkes Bedürfnis nach weiterer Konkretisierung klar erkennen. Dieser Erkenntnis verschließt sich das BVerfG durch seinen Nichtannahmebeschluß. Das eigentliche Problem liegt jedoch in der letztinstanzlichen Entscheidung des BAG, die von der Beklagten aufgeworfenen gemeinschaftsrechtlichen Fragen nicht dem EuGH vorzulegen. Das BVerfG selbst bleibt in seiner Überprüfung dieser Entscheidung im Rahmen seiner Vorgaben. Bereits in einer früheren Entscheidung hatte es die Voraussetzungen für einen Annahmebeschluß auf die unvertretbare Überschreitung des dem Gericht zukommenden Beurteilungsrahmens beschränkt, die nur dann vorläge, wenn die Gegenposition eindeutig vorzuziehen sei 143.

Im Urt. v. 13.5.1986 - Rs 170/84 - "Bilka". Urt. V. v. 14.10.1986 - 3 AZR 66/83 -; v. 14.3.1989 - 3 AZR 490/87 -; 20.11.19903AZR613/89. 141 BVerfG Beschl. v.5.8.1998-1 BvR 264/98-DB 1998, S.1919 =ZIP 1998, S.I728f., zu III. 2. b) (2) der Gründe. 142 Vgl. EuGH Urt. v.16.12.1976-Rs 45n6- "Comet", Slg. 1976, S.2043, RdNm. 11-19 der Gründe; v.27.10.1993-Rs C338/91- "Steenhorst-Neerings", Slg. 1993 I, S.5497, Rdnm. 25ff.; v.l1.12.1997 - Rs C246/96 - ,,Magorrian", AP Nr.8 zu Art. 119 EG-Vertrag: die Entscheidung befaßt sich ausdrücklich mit dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und einer entgegenstehenden einzelstaatlichen Regelung. Der EuGH verbietet die Anwendung der nationalen Norm, um die Durchsetzung des gemeinschaftsrechtlichen Anspruchs im betreffenden Mitgliedsstaat zu gewährleisten. 143 BVerfG Beschl. v. 31.5.1990 - 2 BvL 12, 13/88,2 BvR 1436/87 - BVerfGE 82, S. 159, 195f. 139

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2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle geriehtl. Praxis und Literatur

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ce) Zusammenfassung I. E. stützt das Bundesverfassungsgericht die Position des BAG, ohne selbst jedoch verläßliche Leitlinien zur Behandlung der Rückwirkungsproblematik zu entwickeln. Seine Entscheidungen sind von starker Zurückhaltung geprägt. Insbesondere durch den jüngsten Nichtannahmebeschluß ist der Weg für die deutschen Arbeitsgerichte erschwert, die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zum deutschen Arbeitsrecht im Bereich der Lohngleichheit und zur Rückwirkungsproblematik einer endgültigen Klärung durch den EuGH zuzuführen.

3. Darstellung der unterinstanzlichen Rechtsprechung Die Judikate der unterinstanzlichen Gerichte weichen in einigen Fällen erheblich von der Position des BAG ab. Mehrere LAG-Entscheidungen l44 zur Teilzeitbeschäftigtenproblematik, beschäftigen sich kritisch mit der Position des BAG, und berücksichtigen in stärkerem Maße die gemeinschaftsrechtlichen Implikationen durch die Rechtsprechung des EuGH als auch durch Art. 119 (neu: Art. 141) EGV und das dazu ergangene Protokoll. In den Entscheidungen verschiedener Kammern der Landesarbeitsgerichte Niedersachsen und Hamburg l4S , die allesamt in Vorlagebeschlüssen zum EuGH mündeten, geht es um den Zusatzversorgungsanspruch unterhälftig beschäftigter weiblicher Teilzeitkräfte. Der dem Anspruch zugrundeliegende Versorgungstarifvertrag sah bis zu seiner Änderung 1987 eine Zusatzversorgung nur bei mindestens hälftiger Beschäftigung vor. Unterhälftig Beschäftigte klagten daraufhin auf rückwirkende, anteilige Gleichstellung mit den übrigen Arbeitnehmergruppen. Das LAG Hamburg hat, bezug nehmend auf die Entscheidungen des BAG zur Zusatzversorgung Teilzeitbeschäftigterl46 , dem EuGH u. a. Fragen nach dem Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und deutschem Arbeitsrecht in bezug auf die Rückwirkungsproblematik vorgelegt l47 • Es hält eine Vorlage, anders als das BAG, angesichts erheblicher Unsicherheiten in der Frage der Rückwirkung für erforderlich. Die Vorlagefragen beziehen sich zum einen auf die sachliche Reichweite des Protokolls zu Art. 119 (neu: Art. 141 ) EGVI48, zum anderen auf einen möglichen Vorrang der gemeinschaftsrechtlichen Rückwirkungslösung vor dem deutschen Verfassungs144 LAG Hmbg. Beseh!. v.20.12.1995-5 Sa21/95-EuZW 1996, S.412ff.; v.6.2.1996-3Sa 52/94 und 3 Sa 63/95 - n. V.; LAG Nieders. Beseh!. v. 10.2.1995 - 3 Sa 2116/93 - n. v. 14S Ebd. 146 BAG Urt. v.28.7.1992- 3 AZR 173/92-AP Nr.18 zu § 1 BetrAVG Gleiehbehandlung; 7.3.1995 - 3 AZR 282/94 - (parallelverfahren: Urteile v. 7.3.1995 - 3 AZR 625, 321, 583, u.499/94); v.16.1.1996-3 AZR 767/94-, vg!. dazu oben 2. Kapitel, I.2.b). 147 LAG Hmbg. Beseh!. v. 20.12.1995 - 5 Sa 21/95 - Vorlagefragen 2 - 6. 148 Ebd., Vorlagefrage 2.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

recht l49 bzw. eine Umgehung durch die rückwirkende Anwendung von § 2 Abs. 1 BeschFGISO. In seiner Begründung wendet sich das Gericht explizit gegen den vom BAG vertretenen Begründungsansatz lSI , die Problematik der Teilzeitbeschäftigung allein anhand des, aus dem Gedanken des Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten, allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichheitssatzes zu beurteilen und somit unabhängig von den Fragen der mittelbaren Geschlechtsdiskriminierung mit der daran gekoppelten, gemeinschaftsrechtlichen Rückwirkungsbeschränkung durch die EuGH-Rechtsprechung und das Protokoll zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV entscheiden zu können. Das LAG ist vielmehr der Ansicht, die Rückwirkung gerichtlicher Entscheidungen zum Lohngleichheitsgebot sei, spätestens seit Verabschiedung des Protokolls zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV, allein gemeinschaftsrechtlich zu beurteilen. Dem Gemeinschaftsrecht komme Vorrang vor abweichendem mitgliedstaatlichen Recht bzw. auf das jeweilige nationale Recht gestützten gerichtlichen Entscheidungen zu. Sein Ergebnis stützt die Kammer auf die Auslegung des Protokolls, die nur dann Sinn mache, wenn sie über die Reichweite der "Barber"-Entscheidung des EuGH1S2 hinausgehe und keinerlei Abweichung durch das Recht der Mitgliedstaaten zulasse, und dem Grundsatz des allgemeinen, absoluten und unbedingten Vorrangs des Gemeinschaftsrechts genüge lS3 . Es weist zudem daraufhin, daß es anderenfalls zu zwei verschiedenen, nebeneinander bestehenden Entgeltbegriffen käme lS4. Entgegen der Ansicht des BAG befürworteten die vorlegenden Landesarbeitsgerichte, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV und das "Barber"-Protokoll, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts für die Rückwirkung gerichtlicher Entscheidungen zum Lohngleichheitsgebot. Sie hoben dabei auch auf die bislang kaum berücksichtigte wettbewerbsrechtliche Bedeutung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV - Schaffung gleicher Lohnkostenbelastung - ab, die nur bei zeitlich einheitlicher Anwendung in allen Mitgliedsstaaten wirksam werden könne. Diese neuere LAG-Rechtsprechung bezieht insgesamt eine pointierte Gegenposition zum BAG und zum Bundesverfassungsgericht.

4. Die Standpunkte in der Literatur Das Problemfeld rückwirkender Rechtsprechung ist aufgrund der rechtsgebietsübergreifenden Relevanz des Themas in der rechtswissenschaftlichen Literatur in einer Fülle monographischer und unselbständiger Arbeiten behandelt wordeniSS. Ebd., Vorlagefrage 3 und 4. Ebd., Vorlagefrage 5. 1S1 Ebd. 1S2 EuGH Urt. v.17.5.1990-Rs C-262/88 - "Barber". 1S3 LAG Hmbg. Beschl. v. 20.12.1995, zu 11.2. b) und 3. der Gründe. 1S4 Ebd. ISS Kisker, Rückwirkung; Knittel, Zum Problem der Rückwirkung; Grunsky, Grenzen der Rückwirkung; Arndt, Probleme rückwirkender Rechtsprechungsänderung; Viets, Rechtspre149

ISO

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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Der nachfolgende, komprimierte Überblick verzichtet auf die Darstellung der vielfach auf ein spezielles Rechtsgebiet bezogenen FundsteIlen, die ohne tiefere dogmatische Auseinandersetzung lediglich den jeweiligen Besonderheiten des betreffenden Rechtsgebietes Rechnung tragen. Besondere Beachtung ist dagegen der zum Arbeitsrecht, insbesondere dem Lohngleichheitsgrundsatz in der betrieblichen Altersversorgung vorgefundenen Literatur zu schenken. Im Kern lassen sich alle Positionen auf die Frage zurückführen, ob und wenn ja, in welchem Maße Vertrauen in die Rechtsprechung gesetzt werden darf1 s6 • Auf der Grundlage des jeweiligen dogmatischen Ansatzes wird dann die dementsprechende Lösung entwickelt. Die dogmatische Ableitung kann einerseits in zivil- und verfassungsrechtliche Ansätze unterteilt werden. Andererseits läßt sich das Meinungsspektrum danach differenzieren, ob die Rückwirkung von Rechtsprechung nach den Grundsätzen der Rückwirkung von Gesetzen behandelt werden oder nicht, hinter der sich zumeist die Frage nach der Qualität des Richterrechts als Vertrauensgrundlage verbirgt 1S7• Innerhalb dieser Ansätze finden sich weitere, oftmals erhebliche Differenzierungen. AuffaIlig ist, daß vielfach die dogmatische Grundlage überhaupt nicht problematisiert wird l58 ; dies mag als Indiz für die damit verbundenen Schwierigkeiten oder die Erkenntnis gelten, daß letztlich den Besonderheiten des Einzelfalls Vorrang vor der theoretischen Ableitung zugemessen wird. Einigkeit besteht allenfalls in der Diachungsänderung; BischojJ, Das Problem der Rückwirkung; Rüberg, Vertrauensschutz gegenüber rückwirkender Rechtsprechungsänderung; Canaris, SAE 1972, S. 22 ff.; Ossenbühl, DÖV 1972, S. 25 ff.; Richardi, RdA 1972, 244 ff.; Buchner, Dietz-Gedächtnisschrift, S. 175 ff.; Wipprecht, Änderung der Rechtsprechung; Götz, BVerfG und GG, 2. Bd., S. 421 ff.; Burmeister, Vertrauensschutz; Veelken, AcP 185 (1985), S.46ff.;LercheIPestalozza, BB 1986, Beil. 14; Picker, JZ 1984, S.153ff.; Olzen, JZ 1985, S.155ff.; Schumann, FS-Ahrend, S.221 ff.; ders., OB 1988, 251Off.; Robbers, JZ 1988, S.481 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 417f.; Blomeyer, FS-Molitor, S. 39ff.;Loritz, ZfA 1989, S.1 ff.; HanaulPreis, OB 1991, S.1276ff.; Lipke, ArbuR 1991, S. 76, 83 ff.; Griebeling, RdA 1992,373 ff.; Ouo, AR-Blattei 0, Betriebliche Altersversorgung, Anm. zu Entscheidung 261; Löwisch, FS-100 Jahre Arbeitsgerichtsverband, S. 601 ff.; Weber, Jhb. junger Zivilrechtswissenschaftler 1994, S.221ff.; Medicus, NJW 1995, S.2577ff.; Louven, Grenzen rückwirkender Rechtsprechung, passim; Nicolai, ZfA 1996, S. 481 ff. 156 für die vertrauensbildende Wirkung der Rechtsprechung Kisker, S.I24; Grunsky, S. 21 ff.; Rüberg, S.158, 189; Buchner, S.179ff., 188; Hilger, BetrAV 1973, S. 9, 15f.; Götz, S.450f.; Wipprecht, S. 127 ff., 140; LerchelPestalozza, S.16; Veelken, S.65 ff.; Olzen, S. 158 f.; Blomeyer, S.48 ff.; Schumann, S. 226f.; Hanau/Preis, S. 280f.; Löwisch, S.61O, 616ff.; Hili/Klein, BB 1989, S. 837; Lipke, S. 76,83; Louven, S. 169ff.; Griebeling, FS-Gnade, S. 597,601, und Nicolai, S. 488 f., für die EuGH-Rechtsprechung; dagegen Ossenbühl, S. 33 f.; Burmeister, S.28ff.; Viets, S.176f.; Robbers, S.485ff.; Boecken, OB 1989, S.924, 926f.; Loritz, S.35f. 157 Dazu grds. Picker, JZ 1988, S.1 ff., m. umfangreichen weiteren Nachweisen in Fn 1,23; Für eine Übertragung etwa Viets, S.176ff., zumindest im Bereich der Richterrechtssetzung; Löwisch, S. 61Of.; dagegen Larenz, Methodenlehre, Götz, S.450; LerchelPestalozza, S. 15; Nüßgens, FS-Stimpel, S. 15, 27; Olzen, S. 160f.; Burmeister, S. 30, sieht diesen Streit ehern ach Glaubensgrundsätzen denn nach rational-rechtlichen Argumenten geführt. 158 Boecken, OB 1989, S. 924ff.; Schumann, S.2511; Weber, S. 221 ff.; das gilt auch für die speziell betriebsrentenrechtlichen Erörterungen, vgl. Hili/Klein BB 1989, S. 837 f.

62

1. Teil: Bestandsaufnahme

gnose, daß für das Problemfeld nachwievor keine abschließend befriedigende Lösung gefunden ist1S9 • a) Verfassungsrechtliche Ansätze Die verfassungsrechtlich begründeten Lösungen leiten den Vertrauensschutzgrundsatz entweder aus den Grundrechten oder bzw. in Verbindung mit dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip ab.

aa) Ableitung des Vertrauensschutzes aus den Grundrechten Die grundrechtliche Ableitung verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes l60 begründet die materiell-rechtliche Aussage und deren temporäre Geltung mit einundderseiben Norm. Diese Verknüpfung folgt aus dem Grundgedanken, daß die grundrechtlichen Gewährleistungen unvollkommen wären, wenn sie zur jederzeitigen Disposition des Staates stünden; Grundrechtsschutz beinhaltet auch Schutz vor Veränderungen durch Eingriffe staatlicher Institutionen, die sich für die Vergangenheit oder die Zukunft belastend auswirken. Es liegt deshalb nahe, das Vertrauen der Grundrechtsträger auf Gewährleistung dieser zeitlichen Konstante in den Grundrechten selbst verankert zu sehen. Zu bestimmen bleibt, welche Grundrechte insoweit taugliche Träger des Vertrauens sind. Von vornherein ausscheiden muß die Anknüpfung arn allgemeinen Gleichheitssatz dergestalt, daß dieser die Gleichbehandlung in der Zeit sicherstellen wolle161 • Alleinige Bezugsebene für einen Gleichheitsverstoß ist der zugrunde liegende Sachverhalt, unabhängig von seinem zeitlichen Bezug. Die Ableitung des Vertrauensschutzes aus den einzelnen Freiheitsgrundrechten kann sich auf die Rechtsprechung des BVerfG stützen. Grundsätzlich sollen nach diesem Ansatz zumindest bestimmte Freiheitsgrundrechte die von ihnen umfaßten Rechtspositionen auch in ihrer zeitlichen Konstanz schützen 162 • Offen bleibt, warum dies allein für grundrechtliche Konfliktlagen gelten soll, warum nicht auch einfachgesetzlich verliehene Rechtspositionen, sofern man deren Existenz außerhalb grundrechtlich geschützter Rechtsgüter anerkennt, aus sich heraus eine zeitliche Konstante beinhalten und erfordern. Jede begünstigende Rechtsposition erweckt beim betroffenen Rechtsträger die Hoffnung auf das Fortbestehen bzw. die Unabänderlichkeit für die Vergangenheit. Da nur einige Grundrechte einen originären Ver159 Blomeyer, S.44; Prütting, FS-Universität Köln, S.305, 322; HanaulPreis, S. 1281 ff.; Lieb, ZiA 1996, S.319, 34Of.; Louven, S.103. 160 Maunz/DUrig/Dürig, GG, Art. 3 I. RdNr. 189; Kisker. S. 14ff.; Grabitz. DYBI. 1973. S. 675ff.; Robbers. S.481 ff.; Louven. S.159f. 161 So aber Dürig. 162 Grabitz. DYBI 1973. S. 675; Robbers. S. 486.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

63

trauensschutz begründen, bleibt dieser lückenhaft. Aus diesen Erwägungen heraus wird z. T. der grundrechtlieh begründete Vertrauensschutz durch das rechtsstaatliehe Vertrauensschutzprinzip ergänzt l63 • In der Unvollkommenheit liegt die Schwäche dieses Ansatzes. Die notwendige, unterstützende Heranziehung eines zweiten Rechtsgrundsatzes muß im Einzelfall zu größerer Rechtsunsicherheit führen. Dies gilt insbesondere, wenn aus beiden Ansätzen unterschiedliche Maßstäbe abgeleitet werden l64 • Andererseits bleibt zu fragen, welchen weiterführenden Nutzen und Erkenntnis gewinn ein lückenhafter grundrechtlicher Vertrauensschutz bringt, der im Ergebnis die gleichen Maßstäbe wie der umfassendere, rechtsstaatlieh begründete Ansatz vorgibt.

bb) Das Rechtsstaatsprinzip Zweiter verfassungsrechtlicher Ansatz zur Bewältigung der Rückwirkungsproblematik ist das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG, an das auch die Rechtsprechung gebunden ist. Anknüpfungspunkt ist zumeist die zur Rückwirkung von Gesetzen entwickelte Dogmatik. In diesem Bereich wird zwischen der echten, der rechtsfolgenbezogenen und der unechten, der tatbestandlichen Rückwirkung unterschieden. Wahrend erstere nachträglich Rechtsfolgen an in der Vergangenheit liegende, abgeschlossene Tatbestände knüpft, greift letztere in noch nicht abgeschlossene, gleichwohl in der Vergangenheit begründete Tatbestände mit Wirkung für die Gegenwart und Zukunft ein l65 • Die echte Rückwirkung soll nur in engen Grenzen zulässig, die unechte Rückwirkung dagegen grundsätzlich zulässig sein. Dieser weitgehende Konsens wird jedoch bei der Übertragung dieser Grundsätze auf die rückwirkende Rechtsprechung sehr schnell verlassen. Heftig umstritten ist die Frage, mit welchen Modifikationen die für die Gesetzgebung entwickelten Grundsätze auf die Jurisdiktion zu übertragen sind. Letztlich hängt die Entscheidung von der Bestimmung der Unterschiede in der Norrnqualität von Gesetz und Richterrecht ab. Die Stimmen, die zwischen legislativer Tätigkeit des Gesetzgebers und der norrnauslegenden Rechtsprechung differenzieren, machen die Entscheidung über das Vorliegen schutzwerten Vertrauens davon abhängig, ob der Rechtsprechung auslegender oder rechtsfortbildender Charakter zuzumessen ist. Je weiter sich die Rechtsprechung der Rechtssetzung annähert, desto eher ist ein schutzwürdiges Vertrauen in diese Rechtsprechung anzuerkennen l66 , bietet sich eine Übertragung der Grundsätze zur Gesetzesrückwirkung an. Bei einer Beschränkung auf eine rein auslegende, norrnverdeutlichende Funktion dagegen kommt der gerichtlichen Entscheidung geringere Verbindlichkeit und Geltungskraft zu, schutzwürdiges Vertrauen entsteht nicht. 163 164

Louven, S. 161. So Louven, S.162/163.

16S

Vgl. dazu noch ausführlich unten 3. Kapitel, III. 1.

166

Buchner, Fn. 53.

64

1. Teil: Bestandsaufnahme

Teils wird die Übertragung rundweg abgelehnt, da Vertrauen in das Richterrecht nicht ähnlich begründet ist wie beim Gesetzesrecht; zwar ist eine faktische Wirkung im Rechtsverkehr feststellbar, eine Analogie ist jedoch wegen fehlender demokratischer Legitimation, mangelnder Kontrolle und geringerer Richtigkeitsgewähr im richterlichen Erkenntnisprozeß mangels Vergleichbarkeit abzulehnen l67 . Nach a. A. kommt dem Gesetzes- und Richterrecht aufgrund seines normsetzenden Charakters prinzipiell gleiche Rechtsqualität zu, entsprechend wird die Rückwirkungsproblematik nach gleichen Maßstäben gelöstl68 . Auf diesen grundsätzlichen Aspekt der intertemporalen Wrrkung des Richterrechts ist nachfolgend noch gesondert einzugehen 169. Schließlich wird aus dem Rechtsstaatsprinzip die Befugnis, aber auch die Pflicht zu einer "Ankündigungsrechtsprechung" abgeleitet, angelehnt an das im angloamerikanischen Rechtskreis geläufige "prospective overruling"170. Mit Picker l7l ist dagegen anzuführen, daß die Ankündigung für die Entscheidung zukünftiger Fälle bei gleichzeitiger Nichtanwendung auf den dem Richter vorliegenden Fall in doppelter Hinsicht die richterliche Arbeitsmethode des Syllogismus außerachtläßt. Weder geht der Richter von einem abstrakten Obersatz als verbindlicher Regel aus, noch ermittelt er einen Untersatz unter Zugrundelegung des konkret vorliegenden Sachverhalts. Zudem ergibt sich durch die, vom konkreten Sachverhalt losgelöste Ankündigung eine in ihren Folgen kaum zu unterschätzende Selbstbindung der Rechtsprechung 172 , die letztlich ihrem Anliegen, der Rechtssicherheit, eher entgegenwirkt. b) Zivilrechtliche Ansätze Zivilrechtliche Ansätze berücksichtigen das Vertrauen in eine bestehende Rechtsprechung über einfachgesetzliche Institute des allgemeinen Zivilrechts oder einzelner Sonderregelungen. Sie gehen damit vom Vorrang der in dem jeweiligen Rechtsgebiet zu Gebote stehenden Rechtsbehelfe vor den allgemeineren verfassungsrechtlichen Ansätzen aus, kommen allerdings ebenfalls nicht umhin, sich mit der grundsätzlichen Frage auseinandersetzen, inwieweit die Rechtsprechung schutzwürdiges Vertrauen schaffen kann 173 . Begründet wird der einfachgesetzliche Vorrang zumeist mit der Besonderheit des richterlichen Eingriffs in das privatrechtliche RechtsverGrunsky, S. 20f.; Robbers, S. 481,482,484. Bischof!, passim; Buchner, S.175ff.; Veelken, S.62ff.; Bunte, NJW 1985, S. 705,710; Löwisch, S. 610f.; Schumann, S. 2510ff.; weitere Nw. für diese Meinung bei Robbers, S.481 ff., Fn.31. 169 Unten 3. Kapitel, III.2.c)bb)(2)(c)(bb). 170 Knittel, passim; Wipprecht, passim. 171 Picker, JZ 1984, S.153, 159; ebenso Hilger, BetrAV 1973, S. 9,16; Mayer-Maly, JZ 1986, S.557,561. 172 So explizit Mayer-Maly. 173 Canaris, S. 22f.; vgl. Köhler, S.630; Blomeyer, S.48f.; Roth, NJW 1991, S.1913, 1916. 167 168

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

65

hältnis, an das angesichts der Gleichordnung der Parteien andere Maßstäbe anzulegen seien als an die einseitig oktroyierende, hoheitlich wirkende Gesetzgebung. Die verschiedenen, im Zivilrecht zumeist auf den Gedanken von Treu und Glauben, aber auch das materielle Zivilrecht l74, rückführbaren Modelle von Vertrauensschutz stellten zudem die der Problemlage adäquateren Regeln dar und seien der Anwendung verfassungsrechtlicher Grundsätze vorzuziehen l75 , weil diese privatrechtsimmanenten Institute im Vergleich zum stark generalisierenden verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot stärker differenzieren l76 • Art. 20 Abs. 3 GG eröffne dagegen nur die Alles-oder-Nichts-Lösung, Zulässigkeit oder Unzulässigkeit rückwirkender Rechtsprechungsänderung 177 • Insoweit bieten die zivilrechtlichen Institute flexiblere Reaktionsmöglichkeiten, insbesondere für eine modifizierende Vertragsumgestaltung l78 • Stets stellt sich dabei die umstrittene Frage nach dem richtigen Ausgleichsgrundsatz, da rückwirkende Rechtsprechung im Privatrecht regelmäßig gestaltend in ein zweiseitiges Privatrechtsverhältnis eingreift und sich nicht nur auf die Belastung eines einzelnen Bürgers in seinem Verhältnis zur staatlichen Gewalt beschränkt. An die Stelle des Staates - dem Sachwalter des Allgemeinwohls - tritt im Privatrecht der Vertragspartner als Nutznießer der Rückwirkung. Es bedarf daher einer Vennittlung zwischen diesen Privatinteressenl79 , die beiden Seiten Rechnung tragen muß. Der Verfassungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG hilft aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage nicht weiter, da es um die Konfliktlösung zwischen (Vertrags-)Parteien auf der Ebene der Gleichordnung, m. a. W. um die Opferung des Vertrauensschutzes einer Partei zugunsten der Interessen der anderen Seite, gehtl80 •

aa) Materiellrechtlicher Rückwirkungsausschluß Zunächst finden sich Ansätze, die bereits über die materiell-rechtliche Wrrkung einfachgesetzlicher Regelungen zu einer Begrenzung oder dem völligen Ausschluß der Rückwirkung geänderter Rechtsprechung gelangen. Dabei ist etwa an Verwirkungs- und Verjährungsregeln zu denken 181, die selbst Ausdruck der zivilrechtlichen Berücksichtigung von Vertrauen sind l82 • Weiter kommen die entsprechende Ausle-

Medicus, NJW 1995, S.2577f. Arndr, Rüberg; Canaris, S. 22 ff.; Richardi, S. 244ff.; Götz, S. 421 ff.; Burmeister; LerchelPestalozza; Olzen, S.161 f.; Robbers, S.481 ff.; Blomeyer, S.39ff.; Loritz, S.1 ff.; Otto; Löwisch, S. 601 ff.; Medicus, S. 2577ff. 176 Canaris, S. 23, zu I. 2. 177 Arndt, S.119; Pieroth, S. 84, bzgl. der Konzeption des BVerfG. 178 Canaris, S.22, zu I. 2.; Blomeyer, S. 50. 179 Blomeyer, S. 43. 180 Arndt, S.118f.; Pieroth, S.188ff.; Blomeyer, S.48; Robbers, S.488. 181 LerchelPestalozza, S.19; Pieroth, S.197; Medicus, S. 2583. 182 Zum Sinn und Zweck der Verjährungsregelungen Pal-Heinrichs, Überblick vor § 194, RdNr.4. 174 175

5 Hucp

66

1. Teil: Bestandsaufnahme

gung etwa der bereicherungsrechtlichen Regeiungen lS3 oder des Verschuldensmaßstabs lS4 sowie der Nichtigkeitsanordnungen der §§ 134,138 BGB in Betracht. Stets soll die frühere Rechtsauffassung der Rechtsprechung für die Auslegung der jeweiligen Norm maßgeblich sein.

bb) Mißbrauchsgedanke oder unzulässige Rechtsausübung

Ein weiterer zivilrechtlicher Ansatz l8S wird aus dem Verbot rechtsmißbräuchlichen Handelns entwickelt. Maßgeblich Canaris sieht dogmatisch in der privatrechtlichen Mißbrauchslehre den richtigen Ansatz, da sich hinter ihr wiederum Vertrauensschutzgesichtspunkte allgemeiner, d. h. über die Frage des Vertrauens in die Rechtsprechung hinausgehender Art verbergen lS6 • Letztlich sei zu erklären, wer von beiden Vertragspartnern bei Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts die Folgen des Vertrauens eines Teils auf dessen Gültigkeit zu tragen hat. Deshalb eigneten sich die verfassungsrechtlichen Rüchwirkungsregeln nicht. Die Verursachung des Vertrauenstatbestands durch die staatlichen Organe kann die Abwälzung auf sie eher rechtfertigen. Gehe es in Wahrheit gar nicht um das spezielle Problem des Vertrauensschutzes gegenüber Rechtsprechungsänderungen, sondern um die viel allgemeineren Fragen des Vertrauensschutzes gegenüber nichtigen Rechtsgeschäften, kommt dem Vertrauen der Parteien in die Kontinuität der Rechtsprechung nur ein vertrauensbildendes Element zu, keinesfalls stellt es die eigentliche Grundlage des Vertrauensschutzes dar l87 • Richtig ist, daß Canaris durch die Anwendung des Mißbrauchsverbots nur in Ausnahmefällen den Vertrauenden schützen will. "Mißbräuchliches" oder "arglistiges" Handeln beschneidet stets nur die äußerste Randzone, es zielt auf besonders ausgeprägte Ungleichgewichtslagen. cc) Wegfall der Geschäftsgrundlage

Verbreiteter ist die Berufung auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage als dem geeigneten Institut zur zivilrechtlich begründeten Lösung der Rückwirkungsproblematik. Ausgehend von positivrechtlich vorgefundenen Konkretisierungen, wie etwa die Vertragsanpassung bei der Landpacht, § 593 Abs. 1 BGB, der Mietzinsanpassung gern. § 4 MHRG, der Anpassungsregelung für Unterhaltsansprüche nach § 1612 a BGB 188 oder der Anpassungsregelung des § 16 BetrAVG im BetriebsrentenLerchelPestalozza, S. 18 f.; Olzen, S. 162; Löwisch, S. 615. Grunsky, S.26; Knittel, S.56; Olzen, S.162f.; Löwisch, S.614Medicus, S.2577f. IU Insbes. Canaris, S.22f.; tiers., Vertrauenshaftung, S. 270ff., 276 ff. , 289f., 311 ff., 470ff.; ähnl. Arndt, S. 125 ff.; Blomeyer, S. 48 ff., beide unter Berufung auf das Urteil des BAG (v. 5.12.1969) zur Hochbesoldetenklausel des §75 S.2 HGB. 1116 Canaris, S.22, zu 1.2. 137 Ebd., S. 22, zu I. 2. 188 Köhler, FS-Steindorff, S.611, 612ff. 183

184

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

67

recht 189 , wird auch die Entwicklung der Rechtsprechung als Veränderung der Geschäftsgrundlage akzeptiertl90 • Allerdings bleiben die Darlegung und Durchdringung der Geschäftsgrundlagenlehre in ihrer Bedeutung für die intertemporalen Auswirkungen von Rechtsprechungsänderungen meist recht knapp. Da die Geschäftsgrundlagenlehre im Mittelpunkt des eigenen Ansatzes im nachfolgenden Kapitel steht, soll auf eine vertiefte Darstellung an dieser Stelle verzichtet werden.

11. Untersuchung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Ausgangspunkt der Untersuchung der gemeinschaftsrechtlichen Rückwirkungsproblematik für den Bereich betrieblicher Alterssicherungssysteme sind die entsprechenden Entscheidungen des EuGH. Sie werden im folgenden Abschnitt zum einen hinsichtlich ihrer materiell-rechtlichen Aussagen und der Behandlung der zeitlichen Wirkung dargestellt. Die meisten der nachfolgenden Urteile des Gerichtshofs entwickelten bzw. veränderten die Rechtslage. Sie markieren vielfach den Anfang neuer Rechtsentwicklungen und sind deshalb zugleich wichtige Anknüpfungspunkte für die Beurteilung der Vertrauenslage nach dem Gemeinschaftsrecht.

1. Grundlagen - Rechtssicherheit

und Objektivität des Rechts Da die Frage der zeitlichen Geltung einer gerichtlichen Entscheidung auf Gemeinschaftsebene Teil des größeren Problemfeldes der Rückwirkung hoheitlicher Akte ist, für dessen übrige Bereiche, die Legislativ 191 - und Exekutivakte l92 , der Gerichtshof bereits zuvor Leitlinien entwickelt hatte, lehnte sich der EuGH in den 189 BAG Urt. 30.3.1973 - 3 AZR 26{12 - AP Nr.4 zu § 242 BGB Ruhegehalt-Geldentwertung; Steinmeyer, Altersversorgung, S. 141; Hö!erlReinerslWüst, § 16, RdNr. 3381 f., beide m. w. N.; krit. BlomeyerlOtto, BetrAVG, § 16, RdNr.7. 190 Arndt, S.llOff.; Götz, S.448 ff.; Burmeister, S. 35 f.; Olzen, S.161 ff.; Blomeyer, S.50ff.; Köhler, S.629ff.; Robbers, S.482; Schumann, S.2511; Löwisch, S.614f. 191 Grundlegend für diesen Bereich EuGH Urt. v. 5.7.1973 - Rs 1{13 - "Westzucker", Sig. 1973, S. 723ff., RdNm. 5f.; weiterhin Urt. v.5.6.1973-Rs 81{12-,,Kommission/Rat", Sig. 1973, S. 575ff.; v. 25.1.1979 - Rs 98 u.99{18 - ,,Racke" u. "Decker", Sig. 1979, S.69ff., 101 ff.; v. 27.3.1980 - Rs 61{19 - "Denkavit", Sig. 1980, S. 1205ff.; v. 12.11.1981 - Rs 212-217/80- "Salumi 11", Sig. 1981, S. 2735ff., RdNr.9; v. 15.1.1986 - Rs 41/84- ,,Pinna", Sig. 1986, S.1 ff. 192 Grundlegend hier EuGH Urt. v. 12.7.1957 - verb. Rs 7/56 u. 3-7/57 - ,,Algera", Sig. 1957, S.87ff.; v. 22.3.1961 - verb. Rs 42 u. 49/59 - "SNUPAT", Sig. 1961, S. l09ff.; v. 13.7.1965 - Rs 111/63 - ,.Lemmerz-Werke", Sig. 1965, S.883ff.; v. 5.3.1980 - Rs 265{18 - ,,Ferwerda" , Sig. 81980, S. 617 ff.; v. 21.9.1983 - Rs 205-215/82 - ,,Deutsche Milchkontor" , Sig. 1983, S. 2633 ff.

S'

68

1. Teil: Bestandsaufnahme

Grundlagen an die vorgefundene eigene Judikatur an. Der Beurteilung der Rückwirkung und ihrer möglichen Einschränkung liegen danach in allen Bereichen zwei widerstreitende und deshalb zum Ausgleich zu bringende Grundsätze des ungeschriebenen Gemeinschaftsrechts zugrunde. Dies ist zum einen der Grundsatz der Objektivität des Rechts, der die Durchsetzung des materiell als richtig erkannten Rechts ohne temporäre Einschränkungen fordert. Die Begrenzung der zeitlichen WIrkung seiner Entscheidungen stützt der EuGH auf die allgemeinen, in der Rechtsordnung der Gemeinschaft enthaltenen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Dieses dogmatische Fundament zur Beurteilung der zeitlichen Geltung seiner Rechtsprechung wird vom EuGH jedoch in keiner Entscheidung präzise und ausführlicher entwickelt; gerade in der grundsätzlichen Ableitung beschränken sich die Urteilspassagen auf schlagwortartig verkürzte Andeutungen l93 • So berechtigt die darauf bezogene Kritik ist, ist dem Gerichtshof andererseits zu konzedieren, daß so allgemeine Rechtsgrundsätze wie die hier zugrunde Gelegten letztlich in jedem Fall der Konkretisierung im Einzelfall bedürfen l94 • Während der EuGH die Rückwirkung von Legislativakten im allgemeinen durch den Grundsatz der Rechtssicherheit ausschließt und nur ausnahmsweise zuläßt, sofern das gesetzlich angestrebte Ziel es verlangt und ausreichender Vertrauensschutz gewährleistet ist l95 , sind die gerichtlichen Entscheidungen nur ausnahmsweise für in der Vergangenheit liegende Zeiträume zu beschränken, die Rückwirkung ist also der RegelfalP96.

193 V gl. die stets gleichlautenden Formulierungen im Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43n5 - ,,Defrenne 11", Slg. 1976, S. 455ff., RdNr.22; v. 17.5.1990 - Rs C-262/88 - ,,Barbet', Slg. 1990, S.1889ff., RdNr.41; v. 28.9.1994 - Rs C-57193 - ..Vroege", Slg. 1994 I, S.4541 ff., RdNr.21; diese, viele Entscheidungen kennzeichnende, apodiktische Kürze des EuGH wird vielfach beklagt: Schlockermann, Rechtssicherheit, S. 21; Borchardt, Vertrauensschutz, S. 3/4; Groeben/ Krück, EWG-Vertrag, Art. 164, RdNm. 22f.; Clever, DAngVers 1993, S. 71; Griebeling, FSGnade, S.597, 600; ders., NZA 1996, S.449; Kirschbaum, ZAS 1995, S.39, 41; Buschmann, AuR 1996, S.4O. 194 Vgl. EuGH Urt. v.22.3.1961-verb. Rs 42 u.49/59- ..SNUPAT", Slg. 1961, S.I09, 172: ..... daß der Grundsatz der Rechtssicherheit nicht absolut ... Anwendung finden kann. Die Frage, welcher dieser Grundsätze im Einzelfall überwiegt,läßt sich nur beantworten, wenn das öffentliche Interesse gegen die auf dem Spiel stehenden Interessen abgewogen wird."; ebenso Schlockermann, S. 21; Borchardt, S.69; Lenz/Junghans, Art. 119, RdNr. 31; Gilsdorf, RIW 1983, S. 22,25. 195 EuGH Urt. v. 25.1.1979 - Rs 98 u. 99n8 - ,.Racke" u. ,,Decket', RdNr.20, und RdNr. 22; v. 9.1.1990- Rs 337/88 - ,.Fattoria Alimentare", Slg. 1990, S.1 ff., RdNr.13. 196 EuGH Urt. v. 17.5.1990 - Rs C-262/88 - ,,Barbet', RdNr.32; v. 28.9.1994 - Rs C-57/93 - ..Vroege", RdNr.21.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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a) Der Grundsatz materieller Richtigkeit aa) Die Objektivität des Rechts

Mit der Objektivität des Rechts meint der EuGH die Durchsetzung und Anwendung des im Zeitpunkt der Entscheidung als richtig erkannten Rechts. Sie kann auch als Grundsatz der Gesetzmäßigkeit bezeichnet werden und beinhaltet das Postulat materieller Gerechtigkeit l97 • Obwohl im geschriebenen Gemeinschaftsrecht nicht verankert, ist die Rechtsprechung diesem Grundsatz unbedingt verpflichtet, seine Gewährleistung vordringliche Aufgabe.

bb) Auslegung als Begründung grundsätzlicher Rückwirkung

Daß die Rückwirkung einer gerichtlichen Entscheidung einem möglichen Vertrauensschutz l98 vorgeht, wird zudem durch das Verständnis des Gerichtshofs von der Funktion der Auslegung des Gemeinschaftsrechts unterstützt. Danach ist Auslegung ein Erkenntnisvorgang, der den Normgehalt in seiner gesetzgeberischen Intention verdeutlicht. Auslegung schafft kein neues, eigenes Recht. Die gefundene Auslegung bestimmt die materiell ,,richtige" Normbedeutung seit ihrem Inkrafttreten l99 , die temporäre Wirkung von Auslegung hat deshalb zwangsläufig nur einen Bezugspunkt, den Zeitpunkt der N ormsetzung selbst. Die Auslegung muß deshalb auf den Erlaßzeitpunkt zurückwirken und damit auch vor Urteilsverkündung begründete Rechtsverhältnisse erfassen2OO • Der EuGH hat wiederholt entschieden, daß die in den Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 lit. a) (neu: Art. 234 lit. a) EGV gefundene Auslegung die Bedeutung einer Gemeinschaftsnorm vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an bestimmt. In der Entscheidung ,,Barra" heißt es demgemäß, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof im Rahmen von Art. 177 (neu: Art. 234) EGV vornimmt, erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht wird, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder ge197 EuGH Urt. v. 5.2.1963 - Rs 26/62 - "van Gend u. Loos", Sig. 1963, S.3ff.; v. 3.6.1964- Rs 6/64- "Costa/ENEL", Sig. 1964, S.1251 ff.; allgemein dazu Lecheier, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S.56f.; Rengeling, Rechtsgrundsätze, S. 180ff.; GrabitzlPernice, Art. 164, RdNr. 88; Groeben/Krück, Art. 164, RdNm. 22f, 27f. 198 Anders als im Bereich der Legislative und Exekutive, indern der Grundsatz der ,,NichtRückwirkung" gilt, VgI. dazu ausführlich Heukels, Intertemporales Gemeinschaftsrecht, S.50ff. 199 VgI. EuGH Urt. v.27.3.1980-Rs 61n9-,,Denkavit", S.1223, RdNr.16. 200 Groeben/Krück, EWG-Vertrag, Art. 177, RdNr.92.

70

1. Teil: Bestandsaufnahme

wesen wäre201 • Daraus folgt weiterhin, daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden müssen, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils enstanden sind202 • Die Lösung der Rückwirkungproblematik wird somit durch die Aufgabenzuweisung an und die Interpretation dieser Aufgabe durch den Gerichtshof bestimmt. Danach vermag in der Tat allein die Kompetenznorm, die Befugnis zur Auslegung, ihre temporäre Wirkung zutreffend vorgeben203 • Die Rückwirkung ist daher der Grundsatz, Vertrauens schutz dagegen nur im Einzelfall ausnahmsweise möglich. Dies kann jedoch nur geIten, soweit es sich tatsächlich um die Auslegung vorgefundenen Rechts geht. Indem der EuGH seine Tätigkeit durchweg als Auslegung versteht, vernachlässigt er den rechtsfortbildenden und rechtssetzenden Charakter seiner Tätigkeit. Gerade im Gemeinschaftsrecht wirkt der Gerichtshof in starkem Maße rechtsfortbildend204 • Dies ist als Tatsache anzuerkennen und für die Entwicklung der Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft angesichts der normativen Zurückhaltung des Gemeinschaftsgesetzgebers grundsätzlich zu begrüßen, ja der Gerichtshofläuft andernfalls Gefahr, sich dem Vorwurf der Rechtsverweigerung auszusetzen20S • Die richterliche Tätigkeit allein als Auslegung bestehenden Rechts zu verstehen, greift zu kurz. Der Gerichtshof sollte sich dazu bekennen und die Konsequenzen daraus ziehen206 • Auch für die hier zu behandelnde Problematik der Rückwirkung von Rechtsprechung muß streng zwischen diesen beiden Bereichen richterlicher Tätigkeit unterschieden werden, denn die Vertrauenssituation stellt sich für den betroffenen Bürger unterschiedlich dar207 • Ein Vorrang der Rückwirkung läßt sich nicht begründen, soweit sich das Problem auf den Bereich der Rechtsfortbildung erstreckt208 • Er ist nur dort gerechtfertigt, wo sich die Tätigkeit des Gerichtshofs als Auslegung darstellt. Rechtsfortbildung bedeutet eine Neuschöpfung von Recht, die über das vorgefundene ,,Normpotential" hinausgeht. Sie ist für die Betroffenen weit weniger vorhersehbar als die rein auslegende Verdeutlichung der Norm, weil es für sie weit weniger erkennbare Anknüpfungspunkte gibt. Sobald der Bereich der Rechtschöpfung tangiert ist, gewinnt der Vertrauensgrundsatz an Gewicht oder anders ausgedrückt, die Anforderungen an die Gutgläubigkeit der betroffenen Rechtskreise sinken. 201 EuGH Urt. v. 2.2.1988 - Rs 309/85 - ,,Barra", Sig. 1988, S. 371,375 RdNr. 11; ebenso EuGH v.2.2.1988-Rs 24/86-,,Blaizot", Sig. 1988, S.379, RdNrn. 28ff.; v.16.7.1992-Rs C-163/90- ,,Legros", Sig. 1992 I, S.4658, 4667; Vgl. auch die Schlußanträge des Generalanwalt v.Gerven v.28.4.1993-Rs 109/91, 110/91, 152/91 u.200/91-"Moroni" u.a., Sig. 1993 I, S.4893ff., RdNrn. 13f. 202 Ebd. 20] Ebenso Louven, Grenzen rückwirkender Rechtsprechung, S.llOf. 204 Fuß, EuR 1981, S. 392, 401 f.; Borchardt, GS-Grabitz, S. 29 ff. 20' Fuß, S. 402; Borchardt, S. 29, 30. 206 Verschleiernd wirken dagegen Formulierungen wie im Urt. v. 8.4.1976- Rs 43n5 - ,,Defrenne 11", RdNr.13, Art. 119 (neu: Art. 141) EGV sei "großzügig auszulegen". 2117 Ähnlich Nicolai, ZiA 1996, S.481, 485. 201 Loritz, ZiA 1989, S.I, 35; Hanau/Preis, OB 1991, S.1276, 1281; Nicolai, S.487f.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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Der EuGH urteilt im Bereich der betrieblichen Altersversorgung weitgehend rechtsfortbildend209 • So konnte der Gerichtshof im Urteil "Defrenne TI" nur schwerlich begründen, daß die unmittelbare WIrkung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV zwischen Privaten von vornherein in der Nonn enthalten war; die Norm richtete sich allein an die Mitgliedsstaaten. Erst die Anwendung der vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze zur unmittelbaren Anwendbarkeit gemeinschaftrechtlicher Normen, d. h. die Erweiterung der gesetzgeberischen Rechtsfolgenbestimmung21O, führte zu diesem Ergebnis. Dementsprechend mußte auf diese klare Rechtsfortbildung211 mit der Gewährung von Vertrauen reagiert werden. Die Entwicklung der Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung stellt den vielleicht markantesten Bereich der Rechtsfortbildung im europäischen Arbeitsrecht dar, der nicht von vornherein Bestandteil des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV war; seine Entwicklung ist fast ausschließlich der Judikative zu verdanken. b) Der Grundsatz der Rechtssicherheit Vertrauensschutz als Korrektiv im Einzelfall Eine mögliche Einschränkung stützt das Gericht auf den, dem Gemeinschaftsrecht innewohnenden, allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit212 • Der Grundsatz erzwingt Kontinuität für die Zukunft, über auch Unabänderlichkeit in der retrospektiven Beurteilung vergangener Zeiträume oder abgeschlossener Sachverhalte. Ausdruck dieses Grundsatzes ist der Schutz von Vertrauen. Er rechtfertigt als Rückwirkungsverbot213 im Ausnahmefall eine Beschränkung der zeitlichen WIrkung eines Urteils. Auch für diese Grundsätze gilt die oben zum Grundsatz der Objektivität des Rechts angesprochene Begründungsknappheit. Der EuGH nimmt für sich in Anspruch, die zeitliche Geltung seiner Urteile im Einzelfall abweichend von der oben angeführten Grundregel des Vorrangs der materiellen Gerechtigkeit zu bestimmen; nach seiner Auffassung kommt ihm dabei gegenüber den nationalen Gerichten die ausschließliche Kompetenz ZU214 • Von entscheidendem Interesse für die beteiligten Parteien ist letztlich die Konkretisierung des schutzwürdigen Vertrauens. Das Prinzip der Rechtssicherheit ist ohne exakte inhaltliche Bestimmung im Einzelfall zu allgemein, um aus sich heraus die Ebenso AhrendlBeucher, BetrAV 1993,5.253,254. Darauf hebt explizit Nicolai, 5.486 ab. 211 Vgl. Bleckmann, F5-Constantinesco 1983,5.61,76; Buchner, ZiA 1993,5.279,316; Hartmann, Gleichbehandlung 5. 282ff.; Nicolai, 5.486. 212 Ebd. 213 50 die ausdrtickliche Formulierung in den 5chlußanträgen des Generalanwälte Warner zu EuGH Urt. v. 7.7.1976 - Rs 7n6 - ,JRCA", 51g. 1976,5.1229, 1236, und Lenz zu EuGH Urt. v.6.6.1990-Rs C-99/89-"Yanez-Campoy", 51g. 1990, 5.4097ff., RdNr.48. 214 EuGHUrt. v.27.3.1980-Rs 61n9- ..Denkavit", 5.1224; v.27.3.1980-verb. Rs66, 127 u. 128n9- ..5alumi", 51g. 1980, 5. 1237ff.; v.12.6.1980-Rs 130n9- ,.Express Dairy Foods", 51g. 1980,5.1887,1900; dazu Bebr, CMLR 1981, 5.475, 489f. 209

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1. Teil: Bestandsaufnahme

Wertungen und Abwägungsakzente vorzugeben, die für eine rationale Entscheidung und Auflösung der Spannungs lage unerläßlich sind21S • Zum einen leitet sich sowohl der Vertrauenschutz als auch der Grundsatz materieller Gerechtigkeit aus ein und demselben übergeordneten Prinzip, der Rechtsstaatlichkeit ab; zum anderen wird der Grundsatz durch weitere Rechtsgrundsätze, wie etwa den Verhältnismäßigkeitsoder den Gleichbehandlungsgrundsatz216 , begrenzt. Hier hat der Gerichtshof durchweg operable Kriterien zugrundegelegt und zeigt etwa gegenüber dem BAG ein deutlich differenzierteres Problemverständnis217 •

2. Die Konkretisierung des Vertrauenstatbestands Die Konkretisierung des Vertrauens tatbestands wird vom Gerichtshof in seiner nunmehr als gefestigt zu bezeichnenden Rechtsprechung anhand zweier Kriterien vorgenommen, dem guten Glauben der betroffenen Partei und der Gefahr schwerwiegender Störungen218 • a) Der gute Glaube Das erste Kriterium, der gute Glaube, betrifft die Vertrauensposition auf Seiten des Gemeinschaftsbürgers. Sie ist zu unterteilen in die Vertrauenslage einerseits und die Schutzwürdigkeit des Vertrauens andererseits219 • Die Vertrauenslage besteht hier im Verhältnis zwischen der Gemeinschaft und dem einzelnen Gemeinschaftsbürger, vertrauensbildend wirkt die Gesetzeslage und die Judikatur des EuGH. Der Gerichtshof legt der Beurteilung der Vertrauenslage vorrangig das normativ, d. h. auf Grundlage des primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts, gebildete Vertrauen zugrunde220• Die relevanten Normen sind sowohl die einschlägigen Richtlinien zur Gleichbehandlung221 als auch Art. 119 (neu: Art. 141) EGV einschließlich der dazu 21S Ähnl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd.2, S.843; Höjer/Reiners/Wüst, ART, RdNr.574. 216 In diesem Sinn schon EuGH Urt. v. 22.3.1961 - Rs 42 u.49/59 - ..Snupat", Sig. 1961, S.109,172. 217 Ebenso Weber, Jhb. Jg. ZivilrechtswissenschaftI. 1994, S.221, 236. 218 VgI. etwa EuGH Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43/75 - ,,Defrenne 11", RdNrn. 69f.; v. 17.5.1990 - Rs C-262/88 - ..Barber", RdNr. 41; v. 28.9.1994 - Rs C-57/93 - .. Vroege", RdNr.21. 219 Fuß, FS-Kutscher, S. 201 ff.; Gilsdorf, RIW 1983, S. 22,25; Borchardt, S. 76ff.; Louven, S. 234f.; Nicolai, S.490. 220 EuGH Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43/75 - ..Defrenne 11"; v. 16.2.1982 - Rs 19/81 - ,,Burton", Sig. 1982, S. 555ff.; v. 17.5.1990 - Rs C-262/88 - .. Barber"; v. 14.12.1993 - Rs C-llO/91- ,,Moroni", Sig. 1993 I, S.6591 ff.; v. 28.9. 1994 - Rs C-57/93 - ..Vroege". 221 Richtlinie des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (76/207/EWG), ABI. v. 14.2.1976, Nr.39/40; Richtlinie des Rates v. 19.12.1978 zur schrittwei-

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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erlassenen Protokolle, die zur Aufrechterhaltung nationaler Rechtsvorschriften führen oder in den Mitgliedsstaaten direkt Vertrauen auf die Rechtswirksarnkeit diskriminierender Regelungen hervorgerufen haben222 • Darüber hinaus knüpft der EuGH teilweise auch an der durch seine eigene Rechtsprechung geschaffenen Vertrauenslage an, allerdings nicht immer mit der wünschenswerten Klarheit. Die Rechtsprechung ist gerade in bezug auf die Würdigung und Beachtung der durch seine eigenen Urteile geschaffenen Vertrauenslage nicht immer überzeugend. Vertrauen gegenüber der Änderung wird von der Judikatur durch eine kontinuierlich gleichbleibende Rechtsprechung erzeugt. Darüber hinaus wird Vertrauen auch bei erstmaliger Entscheidung einer zuvor noch nicht entschiedenen Frage in das Fortbestehen der Rechtslage gebildet223 • Auch insoweit ist das Vertrauen grundsätzlich schutzwürdig, da auch im Erstlingsfall schon eine Rechtsauffassung bestand - die, die der Betroffene seiner Disposition zugrunde gelegt hat. Unterschiedlich ist hier die Bewertung des Vertrauens. Im ersten Fall ist die Vertrauensgrundlage gefestigter, im zweiten Fall ist die Rechtslage mit größeren Unsicherheiten behaftet. Die Beurteilung der wichtigsten Fallgruppen durch den Gerichtshof im Hinblick auf den Vertrauensschutz soll im Folgenden anhand der jeweiligen Urteile dargestellt und analysiert werden.

aa) Die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV - "Defrenne 11" Erstmalig befaßte sich der EuGH mit der Frage der zeitlichen Reichweite einer Gerichtsentscheidung im Gemeinschaftsrecht überhaupt in seiner Entscheidung vom 8.4.1976, dem zweiten "Defrenne"-Urteil. Bis dahin hatte sich der Gerichtshof nur mit der Rückwirkung von legislativen oder exekutiven Rechtsakten befaßt. Die in dieser Entscheidung entwickelten Leitlinien bestimmen noch heute die Argumentation des Gerichtshofs. Die Entscheidung ist die zweite im "Defrenne-Zyklus" des EuGH; in dieser Entscheidungskette befaßte sich der EuGH in den siebziger Jahren erstmals mit dem Anwendungsbereich des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV in der betrieblichen Altersversorgung224 • Die Rückwirkungsproblematik trat auf, weil der sen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79n/EWG), ABI. v.1O.1.1979, Nr.L 6/24; Richtlinie des Rates v. 24.7.1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (86/378/EWG), ABI. v.12.8.1986, Nr.L 225/40. 222 EuGH Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43n5 - "Defrenne 11", RdNm. 71n3; v. 17.5.1990 - Rs C-262/88-"Barber", RdNm. 42/43. 223 Weber, S. 225. 224 In der Literatur wurde Art. 119 (neu: Art. 141) EGV und speziell seine unmittelbare Geltung schon früher diskutiert; dazu: Nw. bei Langenfeld, Gleichbehandlung, S. 79.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

Gerichtshof in dieser Entscheidung Art. 119 (neu: Art. 141) EGV einen völlig neuen Anwendungsbereich eröffnete, dessen retrospektive Geltung zweifelhaft war. Nach der Vorlagefrage hatte der EuGH zu entscheiden, ob Art. 119 (neu: Art. 141) EGV im Verhältnis der EG-Bürger untereinander unmittelbar anwendbar sei und damit vor den innerstaatlichen Gerichten als eigenständiger Anspruch auf Lohngleichheit dienen könne. Bejahendenfalls sollte der Gerichtshof den genauen zeitlichen Geltungsbereich dieser Wirkung bestimmen. Dem Vorlageverfahren lag die Zahlungsklage einer belgischen Stewardess zugrunde, die in Bezug auf ihr Gehalt, der ihr beim altersbedingten Ausscheiden zustehende Abfindung und durch eine differenzierende Altersgrenzenregelung bei der ihr gewährten Altersrente schlechter als ihre männlichen Kollegen in der gleichen Position gestellt war. Die Vorlagefrage des Cour du travail in Brüssel bezog sich jedoch nur auf die Gehaltsnachzahlung: In der Entscheidung "Defrenne I" hatte der EuGH bereits Art. 119 (neu: Art. 141) EGV für die der Klägerin zu zahlende Rentenleistung für nicht anwendbar erklärt, da es sich um kein vom Arbeitsverhältnis geprägtes, sondern ein gesetzliches System gehandelt habe22s . Die Frage, ob eine differenzierende Altersgrenzenregelung dem Anwendungsbereich des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV unterfällt, verneinte das Gericht in der dritten "Defrenne"-Entscheidung226 : Art. 119 (neu: Art. 141) EGV gebietet nur die Lohngleichheit, nicht die Gleichheit sonstiger Arbeitsbedingungen - z. B. Altersgrenzen -, auch wenn diese sich finanziell auswirkenkönnen. In der Entscheidung "Defrenne 11" befaßte sich das Gericht mit der "unmittelbaren Geltung" des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV227. Das vorlegende Gericht fragte, ob Art. 119 (neu: Art. 141) EGV für sich allein den Grundsatz der Gleichheit des Arbeitsentgelts für männliche und weibliche Arbeitnehmer bei gleicher Arbeit unmittelbar in das innerstaatliche Recht der einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft einführt und er daher den Arbeitnehmern unabhängig von allen innerstaatlichen Rechtsvorschriften das Recht verleiht, vor den innerstaatlichen Gerichten Klage zu erheben228 . Dies hätte die schlagartige Aufwertung und Ausweitung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV, entgegen dem bis dahin herrschenden Verständnisses der Norm, bedeutet. Es würde eine einschneidende, richterrechtlich bewirkte Zäsur in der Normgeschichte des gemeinschaftsrechtlichen Lohngleichheitsgebots darstellen. Eine Entscheidung für die unmittelbare Anwendbarkeit mußte fast zwangsläufig auch die Frage nach deren zeitlicher Geltung aufwerfen. EuGH Urt. v.25.5.1971-Rs 80(70-Slg. 1971, S.445, 451/452. EuGH Urt. v.15.6.1978-Rs 149(77 -Slg. 1978, S.1365ff. 227 Vgl. die Fonnulierung: ..... Frage nach der unmittelbaren Geltung von Art. 119 ..... - EuGH Urt. v. 8.4.1976- Rs 43(75 -, S. 472, RdNr.7. 228 Ebd., S. 458. 225

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2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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Darüber hinaus sollte der Gerichtshof beantworten, ob Art. 119 (neu: Art. 141) EGV nach Maßgabe von Rechtsakten der EWG-Behörden im innerstaatlichen Recht der Mitgliedsstaaten anwendbar geworden ist oder auf diesem Gebiet der innerstaatliche Gesetzgeber ausschließlich zuständig ist229 • Damit zielte die Vorlage auf das bereits in früheren Entscheidungen230 behandelte Problem der subjektiven Wirkung einzelner Vertragsnormen: können Normen des EG-Vertrages entgegen ihrem Wortlaut selbständig Ansprüche begründen, auf die sich private Rechtspersönlichkeiten entweder in ihrem Verhältnis zum einzelnen Mitgliedsstaat (= vertikale Wirkung) bzw. untereinander (= horizontale Wirkung) berufen können231 ? Gegen die unmittelbare Wirkung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV sprach insbesondere eine von den Mitgliedsstaaten verabschiedete "Entschließung" zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV, in der ausdrücklich bestimmt wurde, daß den Mitgliedsstaaten selbst die Durchsetzung in der innerstaatlichen Rechtsordnung obliegen sollte. Der EuGH sprach Art. 119 (neu: Art. 141) EGV dennoch, in konsequenter Fortsetzung seiner eigenen Rechtsprechung, unmittelbare Geltung zu. Der Gerichtshof folgte seinen in den früheren Entscheidungen zur unmittelbaren Anwendbarkeit einzelner Normen des primären Gemeinschaftsrechts entwickelten Grundsätzen. über die unmittelbare Anwendung einer Norm des primären oder sekundären Gemeinschaftsrechts ist danach vom Geist der Vorschrift, ihrer systematischen Stellung und ihrem Wortlaut her zu entscheiden232 • Voraussetzung für die unmittelbare Wtrkung einer Norm ist deren hinreichende inhaltliche Bestimmtheit und Vollständigkeit, so daß sie zu ihrer Durchführung keiner weiterer Maßnahmen bedarf und nicht an zusätzliche Bedingungen geknüpft ist233 • Die Norm muß aus sich heraus durch den einzelstaatlichen Richter operabel sein und darf den Mitgliedsstaaten keinen Ermessensspielraum bzgl. der Anwendung einräumen. Für Art. 119 (neu: Art. 141) EGV leitete der GeEbd., S. 458. EuGH Urt. v. 3.6.1964 - Rs 6/64 - "Costa/Enel", S. 1251, in der Art. 37 Absatz 2 und Art. 53 EGV als Normen anerkannt wurden, auf die sich der Einzelne vor den innerstaatlichen Gerichten berufen kann; v.5.2.1963 -Rs 26/62-"van Gend u. Loos", S.1 ff., in der Art. 12 unmittelbare Wirkung und vor den staatlichen Gerichten zu beachtende individuelle Rechte zuerkannt wurden; v. 9.3.1978 - Rs l06n7 - "Simmenthal", Slg. 1978, S.629ff. 231 Vgl. zur Begriffsklärung näher: Langen/eid, Gleichbehandlung, S. 74ff., die sich aufgrund der weitergehenden Wortbedeutung für die Formulierung unmittelbare "Wirkung" statt "Geltung" ausspricht (unter Hinweis auf Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von Europäischem Gemeinschaftsrecht, in: RessIWil1{Hrsg.]) Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europainstitut/Nr. 119, Saarbrücken 1988). Siehe auch EuGH Urt. v. 9.3.1978 - Rs 106n7 - "Simmenthal", Slg. 1978, S.629f., in der das Gericht als "unmittelbare Geltung" die volle "Wirkung" der fraglichen Bestimmung einheitlich in sämtlichen Mitgliedsstaaten meint, wobei sie unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten für alle, Mitgliedstaat oder Einzelperson, ist (Ls.2.). Zumindest der Gerichtshof geht in dieser Entscheidung von einer begrifflichen Gleichsetzung aus. 232 EuGH Urt. v. 5.2.1963 - Rs 26/62 - "van Gend u. Loos", Slg. 1963, S. I, 24; v. 6.10.1970 - Rs 9nO - "Grad/Finanzamt Traunstein", Slg. 1970, S. 825, 838 f. 233 Vgl. EuGH Urt. v.5.2.1963, S.25f.; v. 8.7.1965 -Rs 10/65 - "Deutschmann", Slg. 1965, S. 636ff.; v. 16.6.1966-Rs 57/65 - ,,Lütticke GmbH", Slg. 1966, S.258ff. 229 230

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l. Teil: Bestandsaufnahme

richtshof dieses Ergebnis aus dem Wesen des Grundsatzes der Entgeltgleichheit, der systematischen Stellung der Norm und ihrer grundlegenden Bedeutung für die Realisierung der sozialpolitischen Zielrichtung des Vertrages ab2 34. Dies gelte zumindest für den Bereich der "unmittelbaren", allein aufgrund der in Art. 119 (neu: Art. 141) EGV angeführten Merkmale "Entgelt" und "gleiche Arbeit" feststellbaren, Diskriminierung23s . Die Anwendbarkeit für versteckte, mittelbare Diskriminierungen wurde dagegen ausgeschlossen236 • Der Grund für diese Differenzierung liegt vordergründig im damaligen Verständnis des Begriffs der mittelbaren Diskriminierung. Der Gerichtshof faßte darunter vielfältige Erscheinungen von nicht direkt an der sprachlichen Formulierung erkennbaren Gestaltungsformen, die nur nach Maßgabe eingehenderer gemeinschaftsrechtlicher oder innerstaatlicher Durchführungsvorschriften festgestellt werden können237 . So verstanden genügte der Begriff nicht der für die unmittelbare WIrkung vom EuGH geforderten Bestimmtheit und Vollständigkeit der Norm. Dies steht gleichwohl in gewissem Widerspruch zur Auffassung des EuGH238, daß Auslegungsschwierigkeiten einer Norm deren unmittelbare Anwendbarkeit nicht ausschließen. Zu vermuten ist, daß der EuGH aufgrund der bestehenden begrifflichen Unsicherheiten noch zögerte, Art. 119 (neu: Art. 141) EGV auch für diese Fälle direkt anzuwenden. Gleichwohl schloß der Gerichtshof die unmittelbare Anwendung auch für Fälle mittelbarer Diskriminierung nicht endgültig aus 239. Erst die Konkretisierung des Begriffs der mittelbaren Diskriminierung in späteren Entscheidungen führte zur Einbeziehung in die unmittelbare Anwendung des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV. Zur zeitlichen Geltung äußerte sich der EuGH im Rahmen der ersten Vorlagefrage nicht. Der Gerichtshof verknüpfte die Frage der Rückwirkung seines Urteils mit dem zweiten Teil der Vorlage, der sich mit der zeitlichen Geltung der unmittelbaren Normwirkung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV befaßte. Der von der Beklagten geltend gemachte Vertrauens tatbestand lag in den vielfältigen Verzögerungen, die in der Vergangenheit bei der den Mitgliedsstaaten obliegenden Durchführung des EuGH Urt. v.8.4.1976-Rs 43nS -"Defrenne 11", S.472ff., insbes. RdNr.7. Ebd., S.473/474, RdNrn. 16/20. 236 Ebd., S.473/474, RdNrn. 16/20. Damit wären Ungleichbehandlungen gemeint, die sich nicht allein anhand der Tatbestandsmerkmale des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV selbst feststellen lassen, sondern die erst nach dem Maßstab weitergehender innerstaatlicher oder gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften erkennbar sind. Rückblickend verwirrt der sprachliche Duktus des EuGH an dieser Stelle, denn der Terminus ,,mittelbare Diskriminierung" hat mittlerweile eine völlig andere Bedeutung und Funktion, auch wenn er nach wie vor im Bereich des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV eine herausragende Rolle spielt. Von seiner früheren Bedeutung hat sich der EuGH selbst längst entfernt. Vgl. dazu eh. Blomeyer, Mittelbare Diskriminierung, S. SI f.; Wisskirchen, Frauendiskriminierung, S. 2 ff. 231 EuGH Urt. v. 8.4.1976 - Rs 43nS - "Defrenne 11", RdNrn. 16/20. 238 Vgl. dazu Schlußanträge des Generalanwalts Trabucchi zum Urteil des EuGH v. 8.4.1976 - Rs 43nS - "Defrenne 11", S.489ff. 239 Vgl. die Formulierung, S.474: ,.zumindest in diesen Fallen (unmittelbarer Diskriminierung/Anm. d. Verf.) ist Artikel 119 unmittelbarer Anwendung fahig ... ". 234

23S

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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Lohngleichheitsgrundsatzes gemäß Art. 119 (neu: Art. 141) EGV eingetreten wären. Die Verwirklichung der Lohngleichheit sollte stufenweise erfolgen. Die nach dem Wortlaut mit Ablauf der ersten Stufe Ende 1961 vorgesehene volle Anwendung des Grundsatzes in den Mitgliedsstaaten wurde jedoch nicht verwirklicht. Durch den hinhaltenden Widerstand einzelner Mitgliedsstaaten wurde die Anwendung immer weiter hinausgeschoben, auch die Kommission verhielt sich zögernd bei ihren Bemühungen, die Durchsetzung sicherzustellen. Der Gerichtshof stellte nunmehr klar, daß Art. 119 (neu: Art. 141) EGV unmittelbare WIrkung seit Ablauf der ersten Stufe Ende 1961 zukommt. Alle zwischenzeitlich ergangenen gemeinschaftsrechtlichen oder innerstaatlichen Rechtsakte konnten den Zeitpunkt der Nonngeltung nicht beeinflussen, ihn insbesondere nicht weiter hinauszögern240 • Andere Nonnen, seien es gemeinschaftsrechtliche Verordnungen oder Richtlinien, innerstaaatliche Gesetze oder Tarifverträge, beschränken die unmittelbare Wirkung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV nicht. Das Lohngleichheitsgebot des Gemeinschaftsvertrages beansprucht unmittelbare innerstaatliche Geltung seit dem 1.1.1962 für die ursprünglichen Mitgliedsstaaten und seit dem 1.1.1973 für die - damals - neuen Mitgliedsstaaten. Damit war die zeitliche Geltung der Nonn bestimmt. Dieser zeitliche Rahmen wurde jedoch vom Gericht im nächsten Schritt wieder relativiert, denn es schränkte die zeitliche Geltung des Urteils ein. Ausgangspunkt wären die von einigen Mitgliedsstaaten vorgetragenen drohenden ökonomischen Belastungen durch Nachzahlungsforderungen, die bei Anerkennung der unmittelbaren Geltung des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV seit 1962 für die betroffenen Unternehmen eintreten könnten. Während der Generalanwalt die Kosten- und Vertrauensschutzgesichtspunkte als limitierende Faktoren der unmittelbaren Anwendung strikt zurückwies241 , führte der EuGH diesen Grundsatz mit dem Urteil erstmals auch für die zeitliche Limitierung seiner eigenen Urteile ein. Obwohl in der dem EuGH gewohnten Kürze gefaßt, treten die widerstreitenden Rechtsgrundsätze klar hervor: Materielle Richtigkeit und Vertrauens schutz als Ausdruck von Rechtssicherheit. Zunächst betonte das Gericht die Objektivität des (Richter-)Rechts. Die vom Richter gefundene Auslegung muß unbeachtet ihrer praktischen Auswirkungen auf den zu entscheidenden und alle weiteren Fälle angewendet werden242 • Dennoch berücksichtigt der Gerichtshof erstmals Vertrauensschutzgesichtspunkte zugunsten der durch seine Rechtsprechung belasteten Parteien. Das Gericht stellte fest, daß es angesichts der Unbekanntheit des rückwirkend nachzuzahlenden Gesamtbetrages der in Betracht kommenden Entgelte zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die sich aus der Gesamtheit der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen ergeben, ausschließen, die Entgelte für in der Vergangenheit liegende Zeiträume in Fra2AO Vgl. zur Entwicklung S.477, RdNm. 43 ff. des Urteils sowie Schlußanträge des Generalanwalts Trabucchi. S.484. 487. 241 Fast süffisant klingt seine Bemerkung: ..... den Regierungen ...• denen die. wie man sie nennen könnte. Kosten der Operation besonders nahe zu gehen scheinen .... ebd .• S.493. 242 Ebd .• S.480. RdNm. 71n3.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

ge zu stellen243 • Dem Vertrauensschutz als Ausdruck der Rechtssicherheit war im konkreten Fall der Vorrang vor der unbedingten Durchsetzung des materiellen Rechts einzuräumen, weil angesichts des Verhaltens mehrerer Mitgliedsstaaten und der Haltung der Kommission, die den interessierten Kreisen wiederholt bekanntgegeben wurde, ausnahmsweise dem Umstand Rechnung zu tragen sei, daß die Betroffenen dazu veraniaßt wurden, lange Zeit Praktiken beizubehalten, die Art. 119 (neu: Art. 141) EGV zuwiderliefen, über nach ihrem nationalem Recht nicht verboten wären; diese Tatsache war dazu angetan, einen unrichtigen Eindruck von den Wirkungen des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV zu verfestigen244 • Wie vom Gericht bereits zur ersten Frage nachgewiesen, wären weder die Kommission noch die Mitgliedsstaaten mit Art. 119 (neu: Art. 141) EGV bislang in einer Weise verfahren, die auf eine unmittelbare Geltung schließen ließ. Nachdem das Gericht zuvor detailliert diese Praxis darstellte, um sie dann für die unmittelbare und rückwirkende Normgeltung nicht zu berücksichtigen, bildet sie den entscheidenden Gesichtspunkt für die zeitliche Wirkung des Urteils. Das zögerliche Verhalten von Kommission und Mitgliedsstaaten war nicht geeignet, der Norm selbst seine unmittelbare WIrkung seit 1962 zu nehmen; es führte jedoch zu einem Vertrauenstatbestand, auf den sich die Betroffenen dem Urteil gegenüber berufen können. Dieser Vorrang der Rechtssicherheit vor der materiellen Richtigkeit gilt jedoch mit bedeutenden Einschränkungen zunächst für die direkt am Verfahren Beteiligten, über auch darüber hinaus. Der Gerichtshof nimmt eine abschließende Interessenabwägung vor, die dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen soll und im praktischen Ergebnis der Objektivität des als richtig erkannten Rechts vorgehen kann. Der grundsätzliche Vorrang des Vertrauensschutzes wird im Rahmen dieser Abwägung wiederum zugunsten der Kläger des Ausgangsverfahrens beschränkt. Ihnen wären durch die Zubilligung des Vertrauensschutzes auch im konkreten Verfahren die Früchte ihrer Bemühungen vorenthalten worden. Insoweit gab der Gerichtshof der materiellen Richtigkeit den Vorrang. Vom Vertrauensschutz wurden darüber hinaus auch sonstige, bereits anhängige Verfahren nicht erfaßt. Soweit Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben, konnten sie ihre Ansprüche, die vor dem Tag der Verkündung des Urteils liegende Lohn- oder Gehaltsperioden betreffen, auf die unmittelbare Geltung von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV stützten24S • Für die Rückwirkungsproblematik im Bereich der betrieblichen Altersversorgung bedeutet das Urteil eine wichtige Zäsur, auf der die nachfolgenden Entscheidungen und die wissenschaftliche Diskussion aufbauen.

Ebd., S.480, RdNrn. 74n5. Ebd., S.480, RdNr.75. 24S Ebd., S.480, RdNrn.74n5.

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2A4

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

79

bb) Die Ausnahme bei versicherungsmathematischen Faktoren " Worringham" Erneut befaßte sich der Gerichtshof mit der Rückwirkungsfrage in der Entscheidung "Worringham"246. Es setzte die mit der Entscheidung "DefrenneII" eingeleitete Rechtsprechung fort, lehnte jedoch i. E. eine Begrenzung der zeitlichen Geltung des Urteils ab. Der Fall betraf ein englisches "contracted-out" - Altersversorgungssystem, bei dem eine betriebliches Versorgungssystem nicht neben, sondern zumindest teilweise an die Stelle der staatlichen Alterssicherung tritt. Das System war als treuhänderisch verwaltetes Fondsystem ausgestaltet, finanziert wurde es durch Beiträge des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer, die mit Begründung ihres Beschäftigungsverhältnis Mitglieder des Fonds wurden. Der Fonds differenzierte in einigen Nebenleistungen (Hinterbliebenenrenten) zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern bzw. Rentnern; aufgrund der versicherungsmathematischen Vorgaben unterschieden sich auch die an den Fonds zu entrichtenden Beiträge. Der von den Klägerinnen gerügte Verstoß gegen das britische Lohngleichheitsgesetz (Equal Pay Act 1970/Sex Discrimination Act 1975) bezog sich auf einen vom Arbeitgeber erbrachten Lohnzuschuß in Höhe des von den Arbeitnehmern zu zahlenden Versicherungsbeitrags, von dem Arbeitnehmerinnen unter 25 Jahren ausgenommen wären. Sinn dieses Zuschusses war der Ausgleich der wiederum von allen übrigen Arbeitnehmern zu erbringenden Beiträge zum Alterssicherungssystem, die aufgrund der versicherungsmathematisch differenzierenden Versicherungstarife geschuldet wurden. Weibliche Arbeitnehmerinnen bis 25 Jahren unterlagen zwar dieser Beitragspflicht247 nicht, insoweit führte die unterschiedliche Bruttolohnhöhe im Ergebnis zu keiner Lohndiskriminierung. Zu einer Besserstellung der übrigen Arbeitnehmer kam es erst bei derem vorzeitigem Ausscheiden, da ihnen dann ein Erstattungsanspruch in Höhe der gezahlten Versicherungsbeiträge zustand, es somit zu einem Rücldluß des Vermögenswerts kam. Ein solcher Anspruch bestand für die unter 25-jährigen Arbeitnehmerinnen nicht. Der EuGH begründete den Entgeltcharakter und damit die Anwendbarkeit von Art. 119 (neu: Art. 141) EGV auf den vom Arbeitgeber unmittelbar an die Versicherung abgeführten Lohnzuschuß damit, daß bei der Berechnung lohnabhängiger Folgeansprüche aus dem Arbeitsverhältnis der Bruttolohn unter Einbeziehung des umstrittenen Zuschusses ermittelt wurde und das es in bestimmten Fällen sogar zu einer unmittelbaren Auszahlung an den Arbeitnehmer kommt. Die Tatsache, daß es EuGH Urt. v. 11.3.1981- Rs 69/80- Slg. 1981, S. 767ff. Warum diese Beitragsfreistellung der unter 25-jährigen Arbeitnehmerinnen erfolgte, läßt sich den veröffentlichen Quellen nicht entnehmen. Leistungen aus dem Fonds erhielten weder weibliche noch männliche Mitglieder unter 25 Jahren. Versicherungsmathematisch hätte es näher gelegen, die männlichen Arbeitnehmer beitragsfrei zu stellen, da Frauen aufgrund der durchschnittlich höheren Lebenserwartung einen größeren Teil der Gesamtleistung des Fonds beanspruchen. 246

2A7

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1. Teil: Bestandsaufnahme

im Regelfall zu keiner unmittelbaren Auszahlung dieses Zuschusses am Ende einer Gehaltsperiode kommt, der Arbeitgeber den Betrag vielmehr direkt an die Versicherung abführt, rechtfertigt nach Ansicht des EuGH keine abweichende Beurteilung248 • Erstmals führte der beklagte Arbeitnehmer zur Rechtfertigung der Ungleichheit den Einfluß der versicherungsmathematischen Faktoren an, die regelmäßig gruppenbezogen zwischen männlichen und weiblichen Versicherten unterscheiden249 • Damit war im weiteren auch die Frage des maßgeblichen Bezugspunkts für die Beurteilung eines Gleichheitsverstosses verknüpft: Kommt es auf den vom Versicherten oder seinem ArbG zu zahlenden Beitrag an (Beitragsbezogenheit) oder ist allein auf die zu einem späteren Zeitpunkt erbrachte Versicherungsleistung (Leistungs bezogenheit) abzustellen. Die Schwierigkeit liegt in der Schnittstelle zwischen den versicherungsrechtlichen Vorgaben und ihren Auswirkungen auf der arbeitsrechtlichen Ebene der Lohngestaltung. In den Entscheidungsgründen setzte sich der Gerichtshof jedoch mit den von der Beklagten vorgetragenen Gründen zur Rechtfertigung der Ungfeichbehandlung nicht mehr auseinander. Der durch die geforderte Gleichstellung belastete Arbeitgeber der Klägerinnen begehrte wegen der drohenden finanziellen Auswirkungen durch eventuelle Nachzahlungsforderungen die Beschränkung des zeitlichen Geltungsbereichs der Auslegung2So. Anders als in der Entscheidung "Defrenne TI" verweigerte das Gericht die geforderte Begrenzung, da es weder ein berechtigtes Vertrauen auf Seiten des Arbeitgebers erkennen konnte noch die finanziellen Auswirkungen seiner rückwirkenden Auslegung gravieränd genug erschienen2SJ • Ausdrücklich betont das Gericht erneut, daß eine Wrrkungsbegrenzung seiner Auslegung einen im Einzelfall nachzuweisende Ausnahme darstellt und daher das Ergebnis der Entscheidung "Defrenne 11" keine Allgemeingültigkeit beansprucht. Eine zeitliche Beschränkung der unmittelbaren Geltung des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV könne zwar im speziellen Fall - wie bspw. der "Defrenne II"-Entscheidung -, jedoch nur ausnahmsweise gerechtfertigt sein2S2 • Die Ausnahme hängt von den zwei, in der Entscheidung "Defrenne 11" genannten Voraussetzungen ab. Zum einen vom Vorliegen eines vertrauensbegründenden Verhalten der Mitgliedsstaaten oder der Kommission, zum anderen von der Interessenabwägung, die insbesondere die Belastungsintensität zu berücksichtigen habe. Im vorliegenden Fall sah das Gericht keinen Anlaß zu einer Ausnahme, da keine dieser Voraussetzungen erfüllt seien, weder im Hinblick auf die den interessierten Kreisen nunmehr zur Verfügung stehenden Informationen über den Geltungsbereich des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV insbesondere im Lichte der dazu in der Zwischenzeit ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs, noch im Hinblick auf die Anzahl der EuGH Urt. v.l1.3.1981-Rs 69/80- "Worringharn", 790, RdNm. 14f. Ebd., S. 775n76. 250 Ebd., S. 780/81. 251 Ebd., S. 793/94, RdNm. 29f. 252 Ebd., S.794, RdNr. 32. 248

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2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gericht!. Praxis und Literatur

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Sachverhalte, die im vorliegenden Fall durch die unmittelbare Geltung dieser Bestimmung erfaßt wurden253 . Erneut wurde die Frage der versicherungsmathematischen Faktoren als zulässiger Differenzierungsgrund in den Entscheidungen ,,Neath" und "Coloroll" behandelt2s4 • Unter Bezug auf das Urteil "Worringham" und in Fortsetzung seiner Judikatur nimmt der EuGH erneut versicherungsmathematische Faktoren vom Anwendungsbereich des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV aus. Zumindest soweit es sich dabei um arbeitgeberseitige Finanzierungsmodalitäten handelt, was regelmäßig der Fall sein wird, kann demnach bei der Gestaltung einer betrieblichen Versorgungsordnung den Vorgaben der Versicherungsmathematik unbegrenzt Rechnung getragen werden. Dies betrifft jedoch nur die Beitragsseite, auf der Leistungsseite ist die Gleichbehandlung dagegen anhand des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV zu beurteilen. Ausgehend von der früheren Entscheidung präzisiert der Gerichtshof seine Position, indem er auf der Seite der Leistungsgewährung an die Arbeitnehmer streng am Gleichbehandlungserfordernis festhält, auf der Beitragsseite jedoch unterschiedliche hohe Arbeitgeberbeiträge zuläßt; sofern allerdings die Beiträge - auch - von den Arbeitnehmern aufgebracht werden, ist insoweit jede Differenzierung unzulässig, da es sich dabei um Entgeltbestandteile handelt.

ce) Die mittelbare Diskriminierung - von "Jenkins" bis "Bi/ka" Die wichtigste Entwicklung im Rahmen des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV während der achtziger Jahre betraf die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung2SS • Zunächst jedoch war die betriebliche Altersversorgung nicht Hintergrund dieser Entwicklung. In der Entscheidung ,,Jenkins"256 hatte sich der Gerichtshof mit der Zulässigkeit unterschiedlich hoher Stundenlöhne bei Voll- und Teilzeitbeschäftigten zu befassen. Die Entscheidung ist, trotz des fehlenden unmittelbaren Bezugs zur betriebsrentenrechtlichen Problematik, für die Entwicklung der mittelbaren Diskriminierung vor der späteren betriebsrentenrechtlichen Leitentscheidung im "Bilka"-Urteil von Bedeutung, obwohl sie keine Aussage zur zeitlichen Wrrkung der Entscheidung enthält. Nach Ansicht des EuGH enthält die Unterscheidung zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten für sich allein keine nach Art. 119 (neu: Art. 141) EGV verbotene Diskriminierung, soweit nicht innerhalb der jeweiligen Gruppe zwischen den GeEbd., S.794, RdNr.33. EuGH Urt. v. 28.9.1994 -Rs C-200/91- ..Coloroll", Sig. 1994 I, S.4389ff. = AP Nr.57 zu Art. 119 EWG-Vertrag. ISS Vgl. dazu Bieback, ZIAS 1990, S.I; Colneric, BB 1988, S. 968; HanaulPreis, ZfA 1988, S.177; Kirsten, RdA 1990, S.282; Kutsch, BB 1991, S.2149; Langen/eid, Gleichbehandlung, S. 211 f., 249f.; Lubnow, BB 1992, S.1204; Wisskirchen, S. 70ff., 85f.; Ch. Blomeyer, passim. 256 EuGH Urt. v. 31.3.1981- Rs 96/80 - Sig. 1981, S. 911 ff. 2S3 254

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1. Teil: Bestandsaufnahme

schlechtem differenziert wird2S7 • Eine Diskriminierung liegt jedoch dann vor, wenn ein erheblich geringerer Prozentsatz der weiblichen als der männlichen Arbeitnehmer der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten angehört2S8 • Der Gerichtshof erfaBte damit erstmals eine Ungleichbehandlung, die nicht direkt am Geschlecht ansetzte, als nach Art. 119 (neu: Art. 141) EGV verbotenen Diskriminierungstatbestand. Noch wurde der Begriff mittelbare Diskriminierung nicht verwendet, auch blieben die Ausführungen zur möglichen Rechtfertigung vage und unbestimmt, denn der Gerichtshof forderte eine Klärung der Ungleichbehandlung durch Umstände, die eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausschlössen 2S9 • Wann dies der Fall sein könne, blieb offen. Als wenig hilfreich für die erforderliche Präzisierung erweist sich dabei auch die Formulierung des Gerichts, es sei nur dann von einer verbotenen Diskriminierung auszugehen, wenn die Ungleichbehandlung ein indirektes Mittel zur Lohnsenkung ist, weil die betroffene Arbeitnehmergruppe ausschließlich oder überwiegend aus weiblichen Personen besteht260. Die mittelbare Diskriminierung gewann mit dieser Entscheidung Konturen, bedurfte jedoch weiterer Präzisierung. Mit der Entscheidung in der Sache ,,Bilka"261 nun erfuhr die rechtliche Bewertung der Teilzeitproblematik als mittelbare Diskriminierung konkretere Gestalt und rückte auch in das Blickfeld der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland. Im Streit stand die diskriminierende Wrrkung einer betrieblichen Altersrentemegelung, nach der Teilzeitbeschäftigte wie die Klägerin nur dann eine Anwartschaft erlangen konnten, wenn sie eine bestimmte Zeit ihrer Gesamtbeschäftigungsdauer bei der Beklagten als Vollzeitkraft tätig wären. Anders ausgedrückt: Nur in Teilzeit arbeitende Beschäftigte wären von der Betriebsrentemegelung gänzlich ausgeschlossen. Kern der Entscheidung stellt die weitere Durchformung des Begriffs der mittelbaren Diskriminierung im Anschluß an die Entscheidung ,,Jenkins"262 dar. Nunmehr wurde mit diesem Begriff auch eine geschlechtsneutrale Regelung erfaBt, sofern diese im Ergebnis Frauen stärker benachteiligte als Männer263 . Obwohl die Entscheidungsgründe selbst keine Ausführungen zur Frage der Rückwirkung enthalten, finden sich im Schlußantrag im Hinblick auf die spätere Rechtsprechung wichtige Ausführungen darüber, ob der Anspruch auf eine Leistung des Arbeitgebers, das "ob" der Leistung, dem Entgeltbegriff des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV unterfaIlt. Der Generalanwalt problematisiert bereits hier die Unterscheidung zwischen dem Leistungsanspruch, dem "Zugang" in der späteren Terminologie des Gerichts, und der Leistungsgewährung m Ebd., S.925, RdNm. 10/11. Ebd., S. 925, RdNr. 12. 259 Ebd., S.926, RdNr. 13. 260 Ebd., S.926, RdNr. 15. 261 EuGH Urt. v.13.5.1986-Rs 170/84-"Bilkau , Slg. 1986, S.I607ff. 262 EuGH Urt. v. 31.3.1981- Rs 96/80 -, RdNr.13: "Stellt sich ... heraus, daß ein erheblich geringerer Prozentsatz der weiblichen Arbeitnehmer als der männlichen Arbeitnehmer die Mindestzahl der Wochenstunden leistet, die die Voraussetzung für den Anspruch auf den Stundenlohn zum vollen Satz ist, so steht das ungleiche Entgelt dann im Widerspruch zu Art. 119 EWG-Vertrag ... 263 Vgl. EuGH Urt. v.13.5.1986-Rs 170/84-"Bilka", RdNr.36. 258

U.

2. Kap.: Die Ausgangssituation - Lösungsmodelle gerichtl. Praxis und Literatur

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selbst. In den neueren Urteilen ist genau diese Unterscheidung Anknüpfungspunkt für die Rückwirkung entgegen der "Barber"- Entscheidung und der Protokollnotiz zu Art. 119 (neu: Art. 141) EGV des Maastrichter Vertrages. Ausgelöst wurde diese Frage durch die Erklärungen der Britischen Regierung, die die Auffassung vertrat, daß die Voraussetzungen für den Zugang oder die Zulassung zu einer Versorgungsordnung nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV falle2 64 • Sie bezog sich dabei auf die Urteile "Defrenne ill" und "Burton"26s. Auch die Kommission unterschied zwischen dem "Ob" einer Altersrente und der "Gewährung" der Altersrentenleistung266 , jedoch ist die Position der Kommission bzgl. der sich aus der Unterscheidung ergebenden Konsequenzen nicht eindeutig erkennbar. Der Generalanwalt trennt den Anspruch als solchen, das Bestehen eines Anspruchs von den aus einem bestehenden Anspruch folgenden Fragen, die die Modalitäten der auf den Anspruch gegründeten Leistung betreffen. In den Entscheidungsgründen greift das Gericht diese Trennung nicht mehr auf; es geht nicht mehr separat der Frage nach, ob bereits die den Zugang regelnden Zulassungsvoraussetzungen unter den Entgeltbegriff des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV zu subsumieren sind. I. E. bezieht das Gericht gleichwohl den Entgeltbegriff auch auf den anspruchs begründenden Teil einer Versorgungszusage und begrenzt ihn nicht auf die nachrangigen Anspruchsmodalitäten. Schließlich war von der Entscheidung eine weitere Präzisierung der Frage der zeitlichen Wirkung zu erwarten, insbesondere da der Generalanwalt darauf in seinen Schlußanträgen ausführlich eingegangen war. Aber der EuGH nahni erstaunlicherweise in dieser Entscheidung zur betrieblichen Altersversorgung Teilzeitbeschäftigter keinerlei Stellung zur zeitlichen Geltung. Das sollte für zukünftige Entscheidungen bedeutsam werden. Zur Rückwirkungsproblematik findet sich keine weitere Aussage. Nach Ansicht des Generalanwalts in einem späteren, die ,,Bilka"-Entscheidung analysierenden Schlußantrag267 war darüber nicht zu befinden, da die Entscheidung aus früheren Urteilen entwickelt worden sei und keine neue Rechtsprechung des Gerichtshof eingeleitet habe. Dementsprechend gelten die Grundsätze der "Bilka"-Entscheidung auch rückwirkend bis zum Erlaß der Entscheidung "Defrenne ll" .

264 VgI. Schlußantrag des Generalanwalts Darmon in der Rs 170/84 ,,Bilka", Slg. 1986, S. 1608, 1611, RdNr.5. 265 EuGH Urt. v.15.6.l978-Rs 149/77 -Slg.1978, S.1365ff.; v.16.2.1982-Rs 19/81-Slg. 1982, S. 555 ff. 266 Schlußantrag des Generalanwalts Darmon, S. 1612, RdNr.6. 267 Genaralanwalt v. Gerven, Schlußanträge in den Rs C-57/93 und C-128/93, Slg. 1994 I, S.4544, 4554, RdNr.16.

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1. Teil: Bestandsaufnahme

dd) Die Altersgrenzenproblematik - von "Burton " zu "Barber" Der weitere Schwerpunkt der Rechtsprechung des EuGH lag in der Beurteilung der geschlechtsdifferenzierenden Altersgrenzen. Aufgrund spezieller Richtlinien268 , die diesen Bereich der allgemeinen Gleichbehandlungsrichtlinie269 entzog, fand die Altersgrenzenproblematik eine detaillierte Regelung: Danach war eine differenzierende Altersregelung sowohl in den gesetzlichen als auch den betrieblichen Systemen der Alters-, Invaliditäts- und Krankheitssicherung und darüber hinaus bei der betrieblichen Hinterbliebenenversorgung weiterhin möglich270 • Zwar ist die differenzierende Altersgrenzenregelung für die betrieblichen Sicherungssysteme prinzipiell in der Richtlinie selbst verboten 271 (und als zeitliche Diskriminierungsgrenze die zu erwartende innerstaatliche oder gemeinschaftsrechtliche Regelung vorgesehen272), die Anwendung dieses Diskriminierungsverbots durfte von den Mitgliedsstaaten jedoch zunächst aufgeschoben werden, Art. 9 lit. a) der Richtlinie 86/378. Das Verhältnis dieser relativ exakten Regelungen zur EG-Vertragsnorm des Art. 119 (neu: Art. 141) EGV war umstritten; nach verbreiteter Ansicht resultierte aus der größeren Konkretisierung der Richtlinien ein Anwendungsvorrang273 • Der EuGH befaßte sich mit der Altersgrenzenproblematik bereits in der Entscheidung "Defrenne lli", als dort die Zulässigkeit einer Altersgrenze als Beendigungstatbestand der Arbeitsverhältnisse - nicht als Vorausssetzung für eine Entgeltzahlung - allein für weibliche Arbeitneluner in Frage stand274 • Entsprechend leitete der Generalanwalt in seinen Schlußanträgen der Sache ,,Burton" aus diesem Urteil ab, daß eine Altersgrenze als Voraussetzung für den Bezug von Vergütungen nicht unter Art. 119 (neu: Art. 141) EGV falle 27S • Sein Entscheidungsvorschlag lautete dementsprechend, Inhalt und Berechnungsweise von Leistungen unter Art. 119 (neu: Art. 141) EGV zu fassen, nicht über die Altersgrenzen, die für die Inanspruchnahme der Leistungen aufgestellt werden276 • 261 Richtlinie des Rates v. 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (79n/EWG), ABI. v.1O.1.1979, Nr.L 6/24; Richtlinie des Rates v.24.7.1986 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männem und Frauen bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (86/378/EWG), ABI. v.12.8.1986, Nr.L 225/4