Beschleunigte Strafverfahren im deutschen und französischen Recht [1 ed.] 9783428505418, 9783428105410

Die Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, die im Mittelpunkt des am 1.12.1994 in Kraft getretenen Verbrechensbekämp

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Beschleunigte Strafverfahren im deutschen und französischen Recht [1 ed.]
 9783428505418, 9783428105410

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Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Band 36

Beschleunigte Strafverfahren im deutschen und französischen Recht Von Eva Kohler

Duncker & Humblot · Berlin

EVA K O H L E R

Beschleunigte Strafverfahren i m deutschen und französischen Recht

Kölner Kriminalwissenschaftliche Schriften Herausgegeben von Klaus Bernsmann, Hans Joachim Hirsch Günter Kohlmann, Michael Walter Thomas Weigend Professoren an der Universität zu Köln

Band 36

Beschleunigte Strafverfahren im deutschen und französischen Recht

Von Eva Kohler

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kohler, Eva: Beschleunigte Strafverfahren im deutschen und französischen Recht / von Eva Kohler. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Kölner kriminalwissenschaftliche Schriften ; Bd. 36) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10541-9

Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0936-2711 ISBN 3-428-10541-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Sommersemester 2000 als Dissertation angenommen. Neuere Entwicklungen in Rechtsprechung und Literatur wurden nach Abschluß des Manuskripts Ende des Jahres 1999 in den Fußnoten bis November 2000 berücksichtigt. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Professor Dr. Thomas Weigend für die hervorragende Betreuung der Dissertation sowie Herrn Professor Dr. Klaus Bernsmann für die Übernahme des Zweitgutachtens. Danken möchte ich insbesondere auch meinen zahlreichen Gesprächspartnern an den verschiedenen Gerichten und Staatsanwaltschaften. Sie alle waren sehr entgegenkommend und offen für meine Fragen, was die rechtstatsächlichen Ausführungen dieser Arbeit erst möglich gemacht hat. Herr Professor Jean Pradel am Institut de sciences criminelles in Poitiers hat mich mit meinem wissenschaftlichen Anliegen ausgesprochen freundlich aufgenommen und den Kontakt zum dortigen Korrektionalgericht hergestellt. Auch ihm danke ich sehr. Mein Dank gilt ferner Herrn Holger Barth am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i.Br., der sich mir in Einzelfragen zum französischen Recht als Ansprechpartner zur Verfügung gestellt hat. Herrn Professor Dr. Felix Herzog verdanke ich wertvolle Informationen zur rechtstatsächlichen Situation des beschleunigten Verfahrens am Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe bin ich den Herausgebern sehr verbunden. Köln, im Dezember 2000

Eva Kohler

Inhaltsverzeichnis Einleitung

19 Erster Teil

I.

Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

21

Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens 1. Struktur und Zielrichtung des Verfahrens 2. Zulässigkeitsrahmen a) Anwendungsbereich b) Besondere Zulässigkeitsvoraussetzung: Eignung der Sache für das beschleunigte Verfahren aa) Eignung aufgrund einfachen oder beweisklaren Sachverhalts . . . . bb) Eignung zur sofortigen Verhandlung c) Strafrahmenbegrenzung gem. § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO d) Verhältnis zum Strafbefehlsverfahren 3. Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens, § 417 StPO a) Zeitpunkt der Antragstellung b) Rücknahme des Antrags

21 21 22 22

4. Wegfall des Ζ wischen Verfahrens

5.

6. 7.

8.

a) Richterliche Antragsprüfung, § 419 Abs. 1 Satz 1 StPO b) Verfahrensrechtliche Folgen der Ablehnungsentscheidung - vereinfachtes Zwischenverfahren, § 419 Abs. 3 StPO c) Vorbereitung der Hauptverhandlung Notwendige Verteidigung, § 418 Abs. 4 StPO a) Durchführung b) Wirkung Anklageerhebung im beschleunigten Verfahren, § 418 Abs. 3 StPO Vereinfachte Beweisaufnahme, § 420 StPO a) Verlesungsverfahren gem. § 420 Abs. 1-3 StPO aa) Verlesung von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Äußerungen gem. § 420 Abs. 1 StPO bb) Verlesung von Behördenerklärungen gem. § 420 Abs. 2 StPO . . . b) Vereinfachte Ablehnung von Beweisanträgen, § 420 Abs. 4 StPO . . . . Rechtsmittel verfahren a) Auswirkungen von Rechtsfehlern im Berufungs- und Revisionsverfahren

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10

nsverzeichnis

aa) Fehlerhafte Beurteilung der Eignungsfrage bb) Überschreitung der Rechtsfolgenkompetenz b) Vereinfachte Beweisaufnahme auch in der Berufungsinstanz?

54 56 58

II. Rechtsstaatliche Bedenken gegen das beschleunigte Verfahren

60

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2 StPO 1. Inhalt des § 127b StPO 2. Anwendungsbereich des erweiterten Festnahme- und Haftrechts a) Wahrscheinlichkeit einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren, § 127b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO b) Die Voraussetzung des befürchteten Ausbleibens, § 127b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 StPO aa) Unterschied im Wahrscheinlichkeitsgrad bb) Inhaltlicher Unterschied cc) Konkreter Anwendungsbereich 3. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Hauptverhandlungshaft a) Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG? b) Hauptverhandlungshaft und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz c) Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, Art. 3 Abs. 1 GG? 4. Zusammenfassung

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IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens 1. Die Bedeutung des beschleunigten Verfahrens vor Inkrafttreten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes 2. Das Bochumer Modell a) Das Ausgangsprojekt: Justizbehörden und Polizei machen den Weg frei für beschleunigte Strafverfolgung von Ladendieben aa) Das Konzept bb) Ablauf des Verfahrens cc) Die umstrittene Festnahmepraxis b) Erweiterung des Pilotprojekts 3. Das beschleunigte Verfahren am Amtsgericht Frankfurt a.M a) Struktur des beschleunigten Verfahrens am Amtsgericht Frankfurt a.M b) Pilotprojekt: „Intensivierung des beschleunigten Verfahrens" c) Zusammenfassung 4. Allgemeine Anwendungspraxis a) Durchführungsvarianten des beschleunigten Verfahrens aa) Verfahrensdauer bb) Zuständigkeitsverteilung im gerichtlichen Bereich b) Grundsätzlicher Anwendungsbereich c) Anklagepraxis d) Hauptverhandlungsdauer e) Delikts- und Beschuldigtenstruktur

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nsverzeichnis

f) Strafenverteilung g) Verteidigungsrechte des Beschuldigten 5. Praktische Erfahrungen mit der Neuregelung des beschleunigten Verfahrens a) Auswirkungen des Pflichtverteidigertatbestandes, § 418 Abs. 4 StPO . b) Anwendung der vereinfachten Beweisaufnahme nach § 420 StPO.... c) Vereinfachtes Zwischenverfahren, § 419 Abs. 3 StPO d) Rechtsmittelquote e) Zahlenmäßige Bedeutung des beschleunigten Verfahrens nach seiner Neuregelung durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz f) Praktische Erfahrungen mit der Hauptverhandlungshaft g) Zusammenfassung

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114 115 118 118 120 122 123 124 126 127

Zweiter Teil Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht: comparution immédiate und convocation par procès-verbal I.

Dogmatische Konstruktion und systematische Stellung der Verfahren

130 130

II. Historische Entwicklung

132

III. Gesetzliche Regelung 1. Anwendungsbereich a) Für die beschleunigten Verfahrensvarianten allgemein geltende Anwendungsvoraussetzungen b) Nur für die comparution immédiate geltende Anwendungsbeschränkung 2. Die staatsanwaltschaftliche Vorführung - Initiativrecht der Staatsanwaltschaft a) Das der Vorführung vorangehende polizeiliche Vorverfahren b) Ablauf der Vorführung c) Entscheidung der Staatsanwaltschaft aa) Entscheidung zwischen Strafverfolgung (poursuite) und Einstellung (classement sans suite) bb) Wahl der Verfahrensart (a) Die einzelnen Modalitäten der Strafverfolgungseinleitung . . . (b) Entscheidungskriterien (aa) Allgemeines (bb) Entscheidungskriterien der art. 393 ff. CPP (cc) Allgemeine Abwägungskriterien (dd) Summarisches Sozialprofrl (enquête sociale rapide) . . . . d) Verteidigerbestellung e) Vorführungsprotokoll

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nsverzeichnis

3. Das Verfahren der convocation par procès-verbal a) Terminierung der Hauptverhandlung b) Bedeutung des Vorführungsprotokolls c) Gerichtliche Aufsicht (contrôle judiciaire) d) Der weitere Ablauf des Verfahrens bis zur Hauptverhandlung e) Gerichtliches Verfahren f) Rechtsmittel verfahren g) Zusammenfassung 4. Vereinfachte Handhabung der convocation par procès-verbal: convocation par procès-verbal par Γ officier de police judiciaire 5. Das Verfahren der comparution immédiate a) Ablauf der comparution immédiate bis zur Hauptverhandlung bei unmittelbarer Vorführung des Beschuldigten i.S.v. art. 395 CPP b) Ablauf der comparution immédiate bis zur Hauptverhandlung bei verzögerter Vorführung des Beschuldigten i.S.v. art. 396 CPP aa) Ablehnung der Untersuchungshaftanordnung bb) Anordnung der Untersuchungshaft c) Das Verfahren der comparution immédiate vor Gericht aa) Zusammensetzung des Gerichts (a) Zwingende Kollegialbesetzung (b) Zulässige Mitwirkung des über die Untersuchungshaft entscheidenden Richters an der Urteilsfindung? bb) Reaktionsmöglichkeiten des Gerichts auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Tat im Wege der comparution immédiate zu verfolgen (a) Grundsatz (b) Aussetzung des Verfahrens (c) Ablehnung des Verfahrens cc) Ablauf der Hauptverhandlung dd) Entscheidung d) Rechtsmittel verfahren e) Zusammenfassung 6. Beteiligungsrechte des Deliktopfers a) Allgemeines b) Beteiligungsrechte an den beschleunigten Verfahrensvarianten c) Stellung des Verletzten in den beschleunigten Verfahrensvarianten . . . IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen 1. Überblick 2. Zahlenmäßige Bedeutung a) Gesamtfranzösische Anwendungssituation b) Die Anwendungssituation der beschleunigten Verfahrensvarianten im Kontext der allgemeinen korrektionalgerichtlichen Strafklagestatistik. . c) Regionale Verteilung der beschleunigten Verfahrens Varianten

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3. Die beschleunigten Verfahrensvarianten im Modell des traitement direct. a) Das Modell des traitement direct b) Rechtstatsächliche Auswirkungen 4. Dauer der comparution immédiate 5. Bedeutung der staatsanwaltschaftlichen Vorführung 6. Die Hauptverhandlung im Verfahren der comparution immédiate a) Einzelheiten b) Das Zustimmungsrecht des Beschuldigten in der Praxis 7. Comparution immédiate und Verteidigung 8. Die enquête sociale rapide im Verfahren der comparution immédiate... a) Praktische Durchführung b) Auswirkungen auf das Verfahren der comparution immédiate 9. Delikts- und Beschuldigtenstruktur 10. Comparution immédiate und Freiheitsstrafe

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Dritter Teil Rechtsvergleichende Aspekte in der Diskussion um das beschleunigte Verfahren I.

Perspektiven des beschleunigten Verfahrens

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II. Keine besonders beschleunigten Verfahren

229

III. Einführung eines Zustimmungserfordernisses?

230

IV. Verteidigungslösung für das beschleunigte Verfahren

232

V. Rechtspolitische Empfehlungen

237

Literaturverzeichnis

240

Abkürzungsverzeichnis A/

a. Α. a.a.O. Abs. a. F. AG AKStPO al. ALD allg. Alt. Anh. Anm. AnwBl Arch. pol. crim. art. Art. Ass. nat. AsylVfG AT Aufl. AuslG BayObLG BayObLGSt bbV Bd. BewHi BGBl. BGH BGHSt BNN BOMJ BT-Drucks.

Publications of the European Court of Human Rigths/Publications de la Cour européenne des Droits de L'Homme Series A: Judgements and Decisions/Série A: Arrêts et décisions anderer Ansicht am angegebenen Ort Absatz alte Fassung Amtsgericht Reihe Alternativkommentare, Kommentar zur Strafprozeßordnung alinéa Actualité législative Dalloz allgemein Alternative Anhang Anmerkung Anwaltsblatt Archives de politique criminelle article Artikel Assemblée nationale Asylverfahrensgesetz Allgemeiner Teil Auflage Ausländergesetz Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landgerichts in Strafsachen besonders beschleunigtes Verfahren Band Bewährungshilfe Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Badische Neueste Nachrichten Bulletin officiel du ministère de la justice Drucksachen des Deutschen Bundestages

Abkürzungsverzeichnis

BtMG Bull. Bull. crim. Bull. inf. C. cass. bV BVerfG BVerfGE bzw. CA Cass. crim. CGI Chr. CIC Cire. C.L.C.J. Cons, const. CP CPP Crur Ctrav D. DAR DAV D.E.Α. ders. Dév. et Sté. d.h. dies. Diss. DPA DRiZ DRZ Dt. Pén. Einl. EMRK Encycl. Dalloz. f. F Fase. FAZ ff. Fn.

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Betäubungsmittelgesetz Bulletin Bulletin des arrêts de la Cour de cassation, chambre criminelle Bulletin d'information de la Cour de cassation einfach beschleunigtes Verfahren Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beziehungsweise Cour d'appel Arrêt de la Cour de cassation, chambre criminelle Code général des impôts Chronique Code d'instruction criminelle Circulaire Comité de liaison des associations socio-éducatives de contrôle judiciaire Conseil constitutionnel Code pénal Code de procédure pénale Code rural et forestier Code de travail Recueil Dalloz Deutsches Autorecht Deutscher Anwaltverein Diplome d'études approfondies derselbe Déviance et Société das heißt dieselbe(n) Dissertation Deutsche Presseagentur Deutsche Richterzeitung Deutsche Rechtszeitschrift Droit Pénal Einleitung Europäische Menschenrechtskonvention Encyclopédie Dalloz folgende Franc(s) Fascicule Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende Fußnote

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FS GA gem. GerS GG GH GP GVG h. M. HK hrsg. Hrsg. Hs. i.d.R. i.e.S. i. F. d. IR i. S. d. i.S.v i. V. m. i.w.S. JA JCP JGG JMB1NRW JO JR Jur. Jura JurClP JurClPrP JuS JW JZ KG KK KK OWiG K/M-G KMR KOM krit.

Abkürzungsverzeichnis

Festschrift Goltdammers Archiv für Strafrecht gemäß Der Gerichtssaal Grundgesetz Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Gazette du Palais Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Meinung Heidelberger Kommentar herausgegeben Herausgeber Halbsatz in der Regel im engeren Sinne in Form der/eines Informations rapides im Sinne des/der im Sinne von in Verbindung mit im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter Juris-classeur périodique (Semaine juridique) Jugendgerichtsgesetz Justizministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen Journal officiel de la République française Juristische Rundschau Jurisprudence Juristische Ausbildung Juris-Classeur de droit pénal Juris-Classeur de procédure pénale Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Kleinknecht/Meyer-Goßner, Kommentar zur Strafprozeßordnung Kleinknecht/Müller/Reitberger, Kommentar zur Strafprozeßordnung Europäische Kommission für Menschenrechte kritisch

Abkürzungsverzeichnis

KStA 1. Lég. LG Lit. LR MDR Mod. MSchrKrim n° NCP NdsRpfl NJ NJW Nr. NStZ NTS-ZA o.J. OLG o.O. OwiG Rdnr. RDPC RG RGBl. RGSt RIDP RiStBV RpflEntlG RSC Rspr. RuP S. SchlHA Sch-Sch SchwZStr SKSTPO sog. StGB StPO str. StV 2 Kohler

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Kölner Stadt-Anzeiger loi Législation Landgericht Literatur Löwe/Rosenberg, Kommentar zur Strafprozeßordnung Monatsschrift für Deutsches Recht Modalität Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform numéro Nouveau Code pénal Niedersächsische Rechtspflege Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut (Anh. 10 a) ohne Jahr Oberlandesgericht ohne Ort Gesetz über Ordnungswidrigkeiten Randnummer Revue de droit pénal et de criminologie Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Revue internationale de droit pénal Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren Rechtspflegeentlastungsgesetz Revue de science criminelle et de droit pénal comparé Rechtsprechung Recht und Politik Seite/Satz Schleswig-Holsteinische Anzeigen Schönke-Schröder Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz sogenannte(r) Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung ' strittig Strafverteidiger

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StVG SZ TGI u. a. Urt. usw. v. vgl. VRS wistra z.B. zit. ZRP ZStW zust.

Abkürzungsverzeichnis

Straßenverkehrsgesetz Süddeutsche Zeitung Tribunal de grande instance unter anderem Urteil Und so weiter vom vergleiche Verkehrsrechts-Sammlung Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer, Strafrecht zum Beispiel zitiert Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zustimmend

Einleitung Die Neuregelung des beschleunigten Verfahrens stand im Mittelpunkt des am 1.12.1994 in Kraft getretenen Verbrechensbekämpfungsgesetzes. 1 Ziel der Neufassung war es, Gerichte und Staatsanwaltschaften, die von dem beschleunigten Verfahren in der Vergangenheit nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht hatten, zu einer stärkeren Nutzung dieser Verfahrensart zu veranlassen und damit die Gerichte in größerem Umfang als bisher zu entlasten.2 Seit Mitte des Jahres 1997 wird das beschleunigte Verfahren außerdem durch ein spezielles Haft- und Festnahmerecht in § 127b StPO ergänzt. Die vorgenommenen Änderungen haben die Diskussion um das beschleunigte Verfahren neu entfacht. 3 Während sich die Gesetzesinitiatoren und verschiedene Rechtsanwender von der Belebung des beschleunigten Verfahrens eine deutliche Strafverfahrensbeschleunigung und -Vereinfachung erhoffen, haben sich die rechtsstaatlichen Bedenken gegen diese Verfahrensart in der Literatur seit ihrer Neufassung eher noch verstärkt. Inzwischen ist einige Zeit vergangen. Es fragt sich, wie die gesetzlichen Neuerungen in die Praxis umgesetzt worden sind und welchen Stellenwert das beschleunigte Verfahren gegenwärtig einnimmt. Um zu beurteilen, inwieweit den legislatorischen Bemühungen, dem beschleunigten Verfahren zu einer breiteren Akzeptanz zu verhelfen, eine rechtsstaatlich vertretbare Entlastungswirkung gegenübersteht und welche Perspektiven das beschleunigte Verfahren hierzulande hat, erscheint außer1

BGBl. I, 3186. BT-Drucks. 12/6853, 34. 3 Vgl. z.B. Ambos, Jura 1998, 281 ff.; Asbrock, StV 1997, 43 ff.; Bandisch, StV 1994, 153 ff.; Bürgte, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens; dies., StV 1998, 514 ff.; Faupel, NJ 1999, 182 f.; Fezer, ZStW 106 (1994), 1 ff.; Grasberger, GA 1998, 531 ff.; Hamm, StV 1994, 456 ff.; Hartenbach, AnwBl 1996, 83 f.; Hellmann, NJW 1997, 2145 ff.; Herzog, StV 1997, 215 ff.; Keller, Kriminalistik 1998, 677 ff.; Keller/Schairer, Die Polizei 1997, 311 ff.; König/Seitz, NStZ 1995, 1 ff.; Lemke/Rothstein-Schubert, ZRP 1997, 488 ff.; Loos/Radtke, NStZ 1995, 569 ff.; dies., NStZ 1996, 7 ff.; Pofalla, AnwBl 1996, 466 f.; Radtke, NStZ 1998, 370 f.; Scheffler, NJW 1994, 2191 ff.; ders., ZRP 1998, 455 f.; ders., NStZ 1999, 268 f.; ders., NJ 1999, 113 ff.; Schlothauer, StV 1995, 46 ff.; Schwer, Beschleunigtes Verfahren; ders., NStZ 1999, 213 f.; Sprenger, NStZ 1997, 574 ff.; Stintzing/Hecker, NStZ 97, 569 ff.; Tiemer, Verteidigerbestellung im beschleunigten Verfahren; Wächtler, StV 1994, 159 ff. 2

2*

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Einleitung

dem der Blick über die deutsch-französische Grenze lohnenswert. In Frankreich wird eine Neugestaltung der dortigen abgekürzten Verfahrensvarianten zu Beginn der 80er Jahre als sehr erfolgreich angesehen. Die beiden beschleunigten Verfahrensmodalitäten - comparution immédiate und convocation par procès-verbal - haben durch ihre gesetzliche Neufassung einen deutlichen Anwendungsschub erlebt und werden derzeit in beachtlichem Umfang praktiziert. Die nachfolgende Arbeit hat die beschleunigten Verfahrensmodelle im deutschen und französischen Strafverfahrensrecht zum Gegenstand. Neben einer Darstellung der gesetzlichen Ausformung dieser Verfahren soll die Untersuchung außerdem einen Einblick in die jeweilige Anwendungspraxis geben.

Erster Teil

Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens 1. Struktur und Zielrichtung des Verfahrens Das beschleunigte Verfahren ist eine vereinfachte Verfahrensart für die kleine bis mittlere Kriminalität, bei der das Urteil dem Delikt gewissermaßen auf dem Fuße folgt. Lange Zeit war das beschleunigte Verfahren, das die deutsche Strafprozeßordnung seit ihrem Inkrafttreten vorsieht, 4 als Anhängsel des Zwischenverfahrens in den §§ 212-212b StPO geregelt. Charakterisiert wurde das beschleunigte Verfahren bisheriger Prägung durch einen Verzicht auf prozessuale Förmlichkeiten bis zum Beginn der Hauptverhandlung: das Zwischenverfahren mit einem gesonderten Eröffnungsbeschluß entfiel, die Ladungsfristen waren auf 24 Stunden verkürzt; unter bestimmten Voraussetzungen konnte die Hauptverhandlung auch sofort durchgeführt werden, ohne daß es einer Ladung bedurfte. Zudem bestand die Möglichkeit, die Anklage mündlich zu erheben. Von diesen Vereinfachungselementen abgesehen, folgte das beschleunigte Verfahren den Regeln des Normalverfahrens. Durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz wurde das beschleunigte Verfahren in den §§ 417-420 StPO neu gestaltet. Im Zuge der Neuregelung wurde der systematisch verfehlte Standort des beschleunigten Verfahrens als Anhängsel des Zwischenverfahrens beseitigt und das Verfahren in das 6. Buch der Strafprozeßordnung (Besondere Arten des Verfahrens) gerückt. 5 Inhaltlich knüpft die Neufassung - mit gewissen Modifikationen - an der bisherigen Gesetzesfassung an. Die prägenden Besonderheiten des beschleunigten Verfahrens a. F. wurden auch in der revidierten Fassung des beschleunigten Verfahrens beibehalten. Neu hinzugekommen ist ein spezieller Fall 4 StPO 1877, RGBl., S. 291 (§ 211). Zur historischen Entwicklung des beschleunigten Verfahrens vgl. Lehmann, DRiZ 1970, 287 ff.; Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 5 ff. 5 Für eine Einfügung des beschleunigten Verfahrens in das 6. Buch schon LR 2 4 Rieß, § 212, Rdnr. 1.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

notwendiger Verteidigung; ein vereinfachtes Zwischenverfahren erleichtert außerdem den Übergang vom beschleunigten ins Regelverfahren. Besonderes Gewicht erhält die Neuregelung des Verfahrens jedoch vor allem dadurch, daß sich der Beschleunigungseffekt des Verfahrens nicht mehr nur auf das Verfahren bis vor Beginn der Hauptverhandlung erstreckt, sondern nun auch die Hauptverhandlung erfaßt: Ein eingeschränktes Beweisantragsrecht und erweiterte Verlesungsmöglichkeiten sollen die Beweisaufnahme vereinfachen und damit das Verfahren insgesamt weiter beschleunigen.

2. Zulässigkeitsrahmen a) Anwendungsbereich Das beschleunigte Verfahren ist begrenzt auf Verfahren vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht, also den beiden Spruchkörpern beim Amtsgericht, § 417 StPO. Nicht anwendbar ist das beschleunigte Verfahren nach § 79 Abs. 2 JGG auf Jugendstrafsachen. An seine Stelle tritt das vereinfachte Jugendverfahren nach den §§76 ff. JGG. 6 Gegen Mitglieder einer ausländischen Truppe oder eines zivilen Gefolges eines NATO-Entsendestaates sowie deren Angehörige, Art. 27 NTS-ZA, ist das beschleunigte Verfahren ebenfalls nicht zulässig. Schließlich finden die Vorschriften der §§ 417 ff. StPO keine Anwendung im Privatklageverfahren. 7 Die Beteiligung als Nebenkläger am Verfahren ist dagegen auch im beschleunigten Verfahren möglich. Auf den Deliktscharakter kommt es nach den Anwendungsvorgaben eigentlich nicht an, so daß auch der Verbrechensbereich nicht von vornherein von der Anwendung des beschleunigten Verfahrens ausgeschlossen ist. Der Ausnahmecharakter der Behandlung eines Verbrechens im beschleunigten Verfahren ergibt sich allerdings aus der Beschränkung der Strafgewalt nach § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO.8 I m beschleunigten Verfahren können neben Geldstrafen nur Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr verhängt werden, § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO. Unabhängig von der dann zumeist fehlenden Eignung kommt das beschleunigte Verfahren für Verbrechen deshalb nur in Betracht, wenn die Verhängung der Mindeststrafe genügt oder wenn wegen

6

Für Heranwachsende gilt der Ausschluß des § 79 Abs. 2 JGG nicht - unabhängig davon, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewandt wird, §§109 Abs. 1, Abs. 2 JGG e contrario. Ein beschleunigtes Verfahren gegen einen Heranwachsenden ist deshalb ohne weiteres möglich; vgl. hierzu AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 5. 7 K/M-G, § 417, Rdnr. 6; HK-Krehl, § 417 Rdnr. 7; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 11; AKStPO-Löoy, § 417, Rdnr. 5. 8 Vgl. hierzu unten I. 2. c).

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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eines Milderungsgrundes 9 keine höhere Strafe als ein Jahr Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Die Sanktionsbegrenzung läßt jedoch nicht nur den Verbrechensbereich an sich zur Ausnahme des beschleunigten Verfahrens werden. Im Zusammenspiel mit der sich nach den §§ 25, 28 G V G 1 0 richtenden Kompetenzverteilung zwischen Einzelrichter und Schöffengericht wird auch die Zuständigkeit des Schöffengerichts im beschleunigten Verfahren sehr stark eingeschränkt. Gem. § 25 Nr. 2 GVG ist der Strafrichter bis zu einer Straferwartung von zwei Jahren Freiheitsstrafe im Vergehensbereich 11 ausschließlich 12 zuständig. Für ein beschleunigtes Verfahren vor dem Schöffen9 In Betracht kommt z.B. eine Strafrahmenverschiebung gem. § 49 Abs. 1 StGB oder das Vorliegen eines minder schweren Falles, wie z.B. § 249 Abs. 2 StGB. 10 § 25 GVG wurde durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz (RpflEntlG) v. 11.01.1993, BGBl. I, 50, neu geregelt. Dabei ist die Zuständigkeit des Strafrichters gegenüber dem Schöffengericht erweitert worden, indem die Straferwartungsgrenze von einem (§ 25 Nr. 3 GVG a.F.) auf zwei Jahre angehoben wurde, § 25 Nr. 2 GVG. Gleichzeitig wurde die zu der Straferwartungsgrenze kumulativ hinzutretende Voraussetzung, wonach die Staatsanwaltschaft speziell vor dem Strafrichter anzuklagen hatte (§ 25 Nr. 3 GVG a.F.) gestrichen. Insgesamt wurde die amtsgerichtliche Strafgewalt von drei (§ 24 Abs. 2 GVG a.F.) auf vier Jahre erhöht, § 24 Abs. 2 GVG. 11 Nach einer Mindermeinung von Bandemer, JA 1994, 491, ist der Vergehensbegriff in § 25 GVG untechnisch i.S.v. „Straftat" zu verstehen, so daß ihrer Meinung nach der Strafrichter in der geltenden Straferwartungsgrenze auch für Verbrechen zuständig ist. Der Auffassung Bandemers steht jedoch nicht nur der eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegen. Ziel der mit dem RpflEntlG v. 11.01.1993 (BGBl. I, 50) erfolgten Neufassung des § 25 GVG war es u.a., für die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Schöffengericht und Strafrichter eine eindeutige Grundlage zu schaffen. Die abweichende Auslegung vermag deshalb nicht zu überzeugen, vgl. BT-Drucks. 12/1217, 46; Michel, MDR 1995, 1198 f. 12 H.M.: OLG Oldenburg, MDR 1994, 1139; OLG Düsseldorf, StV 1995, 238; NStZ 1996, 206; OLG Köln, StV 1996, 298; LG Stuttgart, wistra 1994, 40; LG Koblenz, StV 1995, 517; Rieß, NStZ 1995, 376; Fischer, NJW 1996, 1044; Böttcher/ Mayer, NStZ 1993, 157; K/M-G, § 25 GVG, Rdnr. 3; KK-Kissel, § 25 GVG, Rdnr. 5. Um einer Aushöhlung des schöffengerichtlichen Kompetenzbereiches entgegenzuwirken, wird zum Teil angenommen, § 25 GVG begründe trotz des eindeutigen Wortlauts keine ausschließliche Zuständigkeit des Strafrichters. Vielmehr gelte das vom BVerfG (E 22, S. 254 ff.) für § 25 GVG a.F. entwickelte Kriterium der „iSache von minderer Bedeutung" zusätzlich weiter. Begründet wird diese Auffassung u.a. damit, daß das Verbrechensbekämpfungsgesetz im Zuge der Neuregelung des beschleunigten Verfahrens weniger als ein Jahr nach dem RpflEntlG die schöffengerichtliche Zuständigkeit ausdrücklich aufrechterhalten und damit inzident anerkannt habe, das Schöffengericht könne in einem Bereich tätig sein, den § 25 GVG dem Strafrichter vorbehalte, vgl. Siegismund/Wickern, wistra 1993, 137; Fuhse, NStZ 1995, 165; Hohendorf,; NJW 1994, 1454; Bachem, NStZ 1996, 207; AG Höxter, MDR 1994, 1139. Zu bedenken ist allerdings, daß für die sachliche Zuständigkeit der Strafgerichte allein das GVG maßgeblich ist. Außerdem ist die oben zitierte Meinung insofern nicht ganz korrekt, als auch bei der von der h. M. angenom-

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

gericht ist demnach nur Raum, wenn ein Verbrechen Gegenstand des Verfahrens ist. 1 3 Da der Anwendungsbereich des Verfahrens auf Verbrechen mit der geltenden Strafrahmengrenze denkbar limitiert ist, wird der schöffengerichtlichen Zuständigkeit im beschleunigten Verfahren kaum mehr als nur eine theoretische Bedeutung 14 zukommen. 15 b) Besondere Zulässigkeitsvoraussetzung: Eignung der Sache für das beschleunigte Verfahren Der allgemeine Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens wird durch das Erfordernis einer besonderen Eignung ergänzt: Das beschleunigte Verfahren ist zulässig, wenn sich die Sache aufgrund des einfachen Sachverhaltes oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung eignet, § 417 StPO. Inhaltlich knüpft die Neufassung weitgehend an § 212 StPO a.F. an, wonach ein Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren gestellt werden konnte, wenn der Sachverhalt einfach und die sofortige Aburteilung möglich war.

menen ausschließlichen Zuständigkeit des Strafrichters eine schöffengerichtliche Zuständigkeit im beschleunigten Verfahren - wenn auch nur sehr eingeschränkt bei Verbrechen - erhalten bleibt. Gegen die abweichende Meinung spricht schließlich entscheidend wiederum der Zweck des Novellierungsgesetzes, eine verfassungsrechtlich eindeutige Grundlage der Kompetenz Verteilung zu schaffen. Diese würde mit der Weitergeltung des Kriteriums der minderen Bedeutung gerade wieder vernichtet werden. Auf die ZuständigkeitsVerteilung im beschleunigten Verfahren hätte die abgelehnte Auffassung ohnehin nur geringe Auswirkungen. Es sind zwar (theoretisch) Fälle denkbar, in denen einer Sache größerer Bedeutung ein einfacher oder beweisklarer Sachverhalt zugrundeliegt, so daß die für das beschleunigte Verfahren erforderliche Eignung vorläge. Die Kombination höhere Bedeutung der Sache - Eignung für das beschleunigte Verfahren dürfte allerdings die Ausnahme bilden. 13 So auch SKStPO-Paeffgen, § 417, Rdnr. 6; AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 7; K/M-G, § 417, Rdnr. 2; HK-Krehl, § 417, Rdnr. 6; Loos/Radtke, NStZ 1996, 8. 14 Eine Zuständigkeit des Schöffengerichts „in nicht unerheblichem Maßewie von Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 68, angenommen, erscheint demgegenüber nicht realistisch. 15 Das erweiterte Schöffengericht kommt aus zweierlei Gründen nicht in Betracht: Zum einen erfolgt die Anordnung, einen zweiten Richter hinzuzuziehen, gem. § 29 Abs. 2 GVG bei Eröffnung des Haupt Verfahrens. Eine Eröffnung des Hauptverfahrens findet im beschleunigten Verfahren gerade nicht statt. Zum anderen setzt die Hinzuziehung des zweiten Amtsrichters einen besonderen Umfang der Sache voraus, der bei der die Eignung des beschleunigten Verfahrens ausmachenden Einfachheit oder Beweisklarheit des Sachverhalts nicht gegeben sein kann, vgl. SYS&O-Paeffgen, §417, Rdnr. 6; LR24-Rieß, §212, Rdnr. 10; a.A. Deisberg/ Hohendorf,\ DRiZ 1984, 261, 264.

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Mit der vorgenommenen Änderung wird lediglich auch gesetzestextlich klargestellt, daß es sich bei der Eignung um die zentrale Anwendungsvoraussetzung des beschleunigten Verfahrens handelt. Nach bisheriger Rechtslage ließ sich dies nur mittels Umkehrschlusses aus § 212b Abs. 1 Satz 1 StPO a.F. folgern. 16 Zusätzlich wurde der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens leicht erweitert, indem sich die Eignung nicht nur allein aus einem einfachen, sondern auch aus einem beweisklaren Sachverhalt ergeben kann. 17 Im Zuge der Neufassung des Verfahrens wurde außerdem die (sprachlich harte) Formulierung „sofortige Aburteilung" durch den Terminus „sofortige Verhandlung" ersetzt. 18 aa) Eignung aufgrund einfachen oder beweisklaren Sachverhalts Ein Sachverhalt ist nach allgemeinem Verständnis einfach, wenn er für alle Verfahrensbeteiligten leicht überschaubar ist. 1 9 Die Sachverhaltsermittlung muß sozusagen „schematisch" 20 , „mechanisch" 21 erfolgen können. Dies gilt sowohl für die tatsächlichen Voraussetzungen des Schuldspruches als auch bzgl. der Strafzumessungstatsachen. 22 Demnach fehlt es an einem einfachen Sachverhalt, wenn eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig ist oder die Person des Beschuldigten genauer zu erforschen i s t 2 3 Wird gegen den Beschuldigten wegen einer Vielzahl von Straftaten ermittelt, liegt ein einfacher Sachverhalt ebenfalls nicht vor. 2 4 Materiellrechtliche Schwierigkeiten sollen die Einfachheit des Sachverhaltes dagegen nicht berühren. 25 Jedoch ist es schon ein sprachlicher Wider16

Vgl. LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 21. Die beiden Kriterien des beweisklaren und einfachen Sachverhalts wurden erst später durch den Vermittlungsausschuß hinzugefügt. Nach dem ursprünglichen Entwurf zu § 417 StPO sollte die Durchführung des Verfahrens allein von der Eignung für eine sofortige Verhandlung abhängig sein, vgl. BT-Drucks. 12/6853, 35. Diese Fassung war als zu nichtssagend kritisiert worden, vgl. Neumann, StV 1994, 276. 18 Für eine sprachliche Änderung von „Aburteilung" in „Verhandlung" oder „Entscheidung" schon früher Dahn, Baumann-FS, S. 355, Fn. 49. 19 K/M-G, § 417, Rdnr. 15; AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 13; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 22; Fezer, ZStW 106 (1994), 10; UK-Krehl, § 417, Rdnr. 2; Loos/Radtke, NStZ 1995, 573; KK-Tolksdorf, § 417, Rdnr. 8; krit.: Herzog, ZRP 1991, 129, der davon ausgeht, daß ein einfacher Sachverhalt niemals per se existieren kann, sondern immer nur durch selektive Darstellung als solcher konstituiert wird. 20 Schünemann, NJW 1968, 975. 21 Dahn, Baumann-FS, S. 355. 22 Vgl. hierzu Nr. 146 I RiStBV; Schmitt, ZStW 89 (1977), 645. 23 Zu der Frage, inwieweit ein Sachverhalt noch als einfach eingeschätzt werden kann, wenn die Verhängung einer Freiheitsstrafe zu erwarten steht, vgl. unten II. 24 So auch Loos/Radtke, NStZ 1995, 572; HK-Krehl, § 417, Rdnr. 2; KK -Tolksdorf, § 417, Rdnr. 8; K/M-G, § 417, Rdnr. 15; SKStFO-Paejfgen, § 417, Rdnr. 13. 17

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Spruch, bei einer komplexen Rechtslage von einem einfachen Sachverhalt zu sprechen. Außerdem erhöht sich in diesem Fall die Wahrscheinlichkeit dafür, daß Rechtsmittel eingelegt werden, was dem Zweck des beschleunigten Verfahrens, das Verfahren möglichst schnell abzuschließen, gerade zuwiderläuft. Sachverhalte mit materiellrechtlich schwierigen Fragen können demnach nicht als einfach eingeschätzt werden. 26 Die Eignung der Sache für das beschleunigte Verfahren kann sich gem. §417 StPO auch aus einer klaren Beweislage ergeben. Beweisklarheit ist anzunehmen, wenn ein Sachverhalt als aufgeklärt gelten kann, 27 insbesondere wenn ein glaubwürdiges Geständnis des Beschuldigten oder genügende und sichere Beweismittel zur Verfügung stehen. Fraglich ist aber, wie das Verhältnis der im Gesetzestext alternativ aufgeführten Beweisklarheit zur Einfachheit des Sachverhaltes zu bestimmen ist. Problematisch erscheint dies insbesondere deshalb, weil die leichte Aufklärbarkeit nach alter Gesetzeslage in das Kriterium des einfachen Sachverhalts hineingelesen wurde. 28 Die Auflistung der Kriterien könnte nun darauf hindeuten, daß die Frage der Aufklärbarkeit aus der Prüfung des einfachen Sachverhalts herauszunehmen und nur noch innerhalb des Kriteriums der Beweisklarheit zu berücksichtigen ist. Eine solche Annahme muß jedoch schon deshalb ausscheiden, weil es vollkommen widersprüchlich wäre, trotz umfangreicher Beweisaufnahme einen einfachen Sachverhalt annehmen zu wollen. Die Tatsache, daß ein Sachverhalt einfach ist, impliziert vielmehr seine leichte Aufklärbarkeit. 2 9 Fraglich ist dann aber, ob dies auch umgekehrt gilt, d.h. zu fragen ist, ob auch ein einfacher Sachverhalt die zwingende Folge eines beweisklaren Sachverhalts ist. In den meisten Fällen dürften die Kriterien beweisklarer und einfacher Sachverhalt zusammenfallen. Ein schwer zu überschauender,

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K/M-G, § 417, Rdnr. 15; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 22; KMR-Fezer, § 417, Rdnr. 11; KK-Tolksdorf, §417, Rdnr. 8; KK 3-Treier, §212, Rdnr. 15; Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 32 f.; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 78. LR2A-Rieß, a.a.O., und Y>MR-Fezer, a.a.O., differenzieren insofern, als materiellrechtlich schwierige Sachverhalte zwar nicht die Einfachheit des Sachverhaltes tangieren sollen, jedoch die Eignung der Sache für das beschleunigte Verfahren beseitigen können. Ahnlich Schwer, a.a.O., nach dem die Eignung der Sache bei einem Sachverhalt mit materiellrechtlichen Schwierigkeiten nicht nur entfallen kann, sondern in diesem Fall immer entfällt. 26 So auch SKSiPO-Paejfgen, § 417, Rdnr. 13. 27 SKSiPO-Paejfgen, § 417, Rdnr. 14. 28 LR2A-Rieß, § 212, Rdnr. 22; Schünemann, NJW 1968, 975; Lueken, DAR 1960, 251; Dahn, Baumann-FS, S. 352; Schultz, DAR 1957, 94. 29 So auch Loos/Radtke, NStZ 1995, 572; HK-Krehl, § 417, Rdnr. 2; SKStPOPaeffgen, §417, Rdnr. 13; AKStPO-Loos, §417, Rdnr. 11; Schlüchter/Fülber/ Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 79.

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aber beweisklarer Sachverhalt ist allenfalls dann denkbar, wenn sich der Sachverhalt als komplex darstellt, der Beschuldigte jedoch ein glaubwürdiges, als stabil einzuschätzendes Geständnis abgelegt hat. 3 0 Zwar könnte man hiergegen einwenden, ein an sich schwer überschaubarer Sachverhalt sei dann nicht mehr schwer zu überblicken und damit i.S.v. § 417 StPO einfach, wenn der Beschuldigte die Tat glaubhaft gestanden hat. 3 1 Die Konsequenz dieser Interpretation wäre allerdings, daß das Anwendungskriterium des beweisklaren Sachverhalts ohne jede Bedeutung bliebe. Da der Gesetzgeber die Beweisklarheit ausdrücklich - mit der Sprachfigur der Oder-Anbindung an den einfachen Sachverhalt - erwähnt, kann diese Interpretation keinesfalls richtig sein. Die Schwierigkeit eines Sachverhalts ist deshalb abstrakt zu bestimmen, so daß sich das Geständnis eines Beschuldigtes allein auf die Aufklärbarkeit eines Sachverhalts auswirkt, während es seine Überschaubarkeit nicht beeinflußt. bb) Eignung zur sofortigen Verhandlung Aus der in § 417 StPO vorausgesetzten Eignung zur sofortigen Verhandlung ergibt sich zum einen, daß die mit dem beschleunigten Verfahren einhergehenden Verfahrens Verkürzungen nur hinnehmbar sind, wenn das Verfahren in erheblich kürzerer Zeit als ein Normalverfahren durchgeführt werden kann. 3 2 M i t Blick auf die gesetzgeberische Vorstellung, wonach dem beschleunigten Verfahren eine Zeitspanne von bis zu zwei Wochen zwischen dem erforderlichen Antrag und dem Hauptverhandlungstermin entspricht, 33 erscheint es allerdings geboten, die zeitliche Dimension des beschleunigten Verfahrens weiter einzugrenzen. Ist zum Zeitpunkt der Antragstellung erkennbar, daß die 2-Wochen-Frist nicht nur unwesentlich überschritten wird, so ist die Eignung zu verneinen. 34 30

Vgl. Loos/Radtke, NStZ 1995, 573; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 80; AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 13. 31 Vgl. z.B. Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 81. 32 OLG Düsseldorf, NStZ 1998, 370; HK-Krehl, § 417, Rdnr. 4; Up-Rieß, § 212, Rdnr. 24; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 81; Loos/Radtke, NStZ 1995, 573; SKStPO-Paeffgen, § 417, Rdnr. 17; KMR-Fezer, § 417, Rdnr. 13. 33 BT-Drucks. 12/6853, 36. Nicht geklärt ist bislang die Frage, inwieweit die Dauer des Ermittlungsverfahrens in die Eignungsprüfung miteinzubeziehen ist. Nach einer Entscheidung des OLG Stuttgart, StV 1998, S. 586, ist die Eignung ohne weiteres zu bejahen, wenn die Ermittlungen innerhalb weniger Wochen durchgeführt werden. An der Eignung soll es jedoch jedenfalls dann fehlen, wenn zwischen Tatbegehung und Antragstellung mehr als sieben Monate liegen. Das AG Erfurt, NStZRR 2000, 47, spricht sich ebenfalls für eine zeitliche Begrenzung des Ermittlungsverfahrens aus.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Bei der Frage nach der Eignung zur sofortigen Verhandlung ist nach herrschender Auffassung auch zu berücksichtigen, inwieweit die Geschäftslage des Gerichts eine rasche Durchführung des beschleunigten Verfahrens zuläßt. 35 Diese Voraussetzung, die zu § 212 StPO a.F. durchaus berechtigt war, müßte nun deutlich an Relevanz verlieren. So ist zu bedenken, daß Staatsanwaltschaften und Gerichte nach neuer Gesetzesfassung bei Vorliegen der Anwendungsvoraussetzungen verpflichtet sind, das beschleunigte Verfahren durchzuführen. Da diese Pflicht auch darauf gerichtet ist, die für das beschleunigte Verfahren notwendigen organisatorischen Mittel bereitzustellen, 36 dürfte die gerichtliche Geschäftslage deshalb nur in Ausnahmefällen der Durchführung eines beschleunigten Verfahrens entgegenstehen.37 Die Möglichkeit sofortiger Verhandlung setzt zudem grundsätzlich 38 voraus, daß die erforderlichen Beweismittel verfügbar sind, insbesondere daß notwendige Auszüge aus dem Bundeszentral- und Verkehrszentralregister vorliegen. Nach allgemeiner Ansicht ist der Eignungsklausel auch zu entnehmen, daß weder die Wahrheitsfindung noch das Recht des Beschuldigten auf wirksame Verteidigung durch die beschleunigte Verfahrensführung beeinträchtigt werden dürfen. 39 Daß es sich hierbei um mehr als eine bloße petitio principii handelt, erscheint allerdings zweifelhaft, da das beschleunigte Verfahren insgesamt auf eine Verkürzung der Verteidigungsmöglichkeiten hinausläuft. c) Strafrahmenbegrenzung

gem. § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO

Im beschleunigten Verfahren dürfen neben Geldstrafen Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr ausgesprochen werden, § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO. 40 Die 34

OLG Stuttgart, StV 1998, 479; StV 1998, 586; mit zust. Anm. Scheffler, NStZ 1999, 268; OLG Düsseldorf, StV 1999, 202. 35 Vgl. K/M-G, § 417, Rdnr. 17; HK-Krehl, § 417, Rdnr. 4; SKStPO-Paeffgen, § 417, Rdnr. 17. 36 BT-Drucks. 12/6853, 36. 37 Mit Blick auf die neue Gesetzesfassung ist AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 12 sogar der Auffassung, daß die gerichtliche Geschäftslage bei Beurteilung der Eignung i.S.d. §§ 417, 419 StPO nicht mehr zu berücksichtigen sei. 38 Das Erfordernis des präsenten Beweismittels kann allenfalls dann gelockert werden, wenn gesichert erwartet werden kann, daß die Verfahrensbeteiligten einer Verlesung nach § 420 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO zustimmen. 39 So auch HK-Krehl, § 417, Rdnr. 4; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 21; Fezer, ZStW 106 (1994), 10 f.; KK-Tolksdorf, § 417, Rdnr. 10; Dahn, Baumann-FS, S. 355; KMR-Fezer, § 417, Rdnr. 10. 40 Ein zusätzlicher Rückgriff auf Nebenfolgen oder auf die Nebenstrafe des Fahrverbots (§ 44 StGB) soll durch § 419 Abs. 1 StPO nicht gesperrt werden. Eine Ver-

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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Strafrahmenbegrenzung bezieht sich dabei nach h.M. auch auf eine zu bildende Gesamtstrafe. 41 Als Maßregel der Besserung und Sicherung ist im beschleunigten Verfahren allein die Entziehung der Fahrerlaubnis zulässig, § 419 Abs. 1 Satz 3 StPO 4 2 Die Grenze des § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO ist in der gesetzlichen Regelung des beschleunigten Verfahrens nach ihrem Wortlaut und Standort lediglich als Rechtsfolgengrenze ausgebildet. Betrachtet man den Sinn und Zweck der Strafrahmengrenze, erscheint es jedoch besser, in der Einhaltung der Strafrahmengrenze eine besondere Prozeßvoraussetzung zu sehen: 43 §419 Abs. 1 Satz 2 StPO beschränkt die Strafgewalt für eine besondere Verfahrensart, die gegenüber dem Normalverfahren zahlreiche Vereinfachungen und damit verfahrensverkürzende Eingriffe zu Lasten des Beschuldigten enthält. Eine über die Rechtsfolgengrenze des § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO hinausgehende Strafe darf im beschleunigten Verfahren nicht verhängt werden, sondern nur in einem Verfahren, in dem ein Eröffnungsbeschluß ergangen ist und das nach den Regeln des Normalverfahrens abgelaufen ist. Die Durchführung des beschleunigten Verfahrens ist in der gesetzlichen Rewarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder das Absehen von Strafe (§ 60 StGB) sind zwar ebenso zulässig, in diesem Fall dürfte es allerdings zumeist an der Eignung für das beschleunigte Verfahren fehlen, vgl. SKSiPO-Paejfgen, § 419, Rdnr. 5; LR -Rieß, § 212b, Rdnr. 2. 41 Nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, inwieweit die Strafrahmengrenze des § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO auch dann zu berücksichtigen ist, wenn ein beschleunigtes Verfahren mit einem Regelverfahren verbunden wird. Der BGH, BGHSt 35, 254, scheint die Grenze des § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO in diesem Fall lediglich auf die Einzelstrafen beziehen zu wollen. So außerdem: OLG Oldenburg, NdsRpfl 1989, 13 f.; Köckerbauer, NJW 1990, 171; KK-Treier, § 212b, Rdnr. 6. A.A.: OLG Hamm, JMB1NW 1979, 59 f.; OLG Schleswig, SchlHA 1984, 103; OLG Oldenburg, NStZ 1988, 323; Schweckendieck, NStZ 1989, 486; SKStPO-Paeffgen, § 419, Rdnr. 4; KMR-Fezer, § 419, Rdnr. 4; Ranft, Strafprozeßrecht, § 72 C (S. 525). Dagegen darf die Gesamtstrafe nach allgemeiner Ansicht ein Jahr übersteigen, wenn bei Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB eine zuvor im beschleunigten Verfahren ausgesprochene (unterhalb eines Jahres liegende) Strafe einbezogen wird, BGHSt 35, 254; KMR-Fezer, § 419, Rdnr. 4; AKStPO-Loos, § 419, Rdnr. 4; KK-Tolksdorf, Vor § 417, Rdnr. 4; Schweckendieck, NStZ 1989, 486. 42 Vgl. §§ 61 Nr. 5, 69 StGB. Im Gegensatz zum Strafbefehlsverfahren unterliegt die Entziehung der Fahrerlaubnis im beschleunigten Verfahren keiner zeitlichen Beschränkung, vgl. K/M-G, § 419, Rdnr. 1. 43 So auch BayObLGSt 1997, 16, 176; OLG Hamm, JR 1978, 120; JMB1NW 1979, 59; OLG Celle, NStZ 1983, 233; SKStPO-Paejfeen, § 419, Rdnr. 15; HKKrehl, § 419, Rdnr. 2; K/M-G, § 419, Rdnr. 13; LR -Rieß, § 212b, Rdnr. 22; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 200 f.; Meyer-Goßner, JR 1978, 122; ders., JR 1984, 78; Ranft, Strafprozeßrecht, § 72 D II, (S. 526). A.A. BGHSt 35, 255; OLG Oldenburg, JR 1983, 303; Wagner, JR 1983, 304; KK-Tolksdorf, §419, Rdnr. 19; Treier, NStZ 1983, 234; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 113 f.; KMR-Fezer, § 419, Rdnr. 14.

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gelung zwingend an die Einhaltung der Einjahresgrenze gebunden. Auch wenn es dabei nicht um die Frage der sachlichen Zuständigkeit geht, so erscheint die Sanktionsbeschränkung des § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO mit der Regelung des § 24 Abs. 2 GVG doch insoweit vergleichbar, als hierdurch die Strafgewalt jeweils absolut begrenzt werden soll. 4 4 d) Verhältnis

zum Straßefehlsverfahren

Neben den in §§ 417 ff. StPO enthaltenen AnwendungsVoraussetzungen wird der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens durch das Verhältnis des Verfahrens zum Strafbefehlsverfahren bestimmt. Der Anwendungsbereich des Strafbefehlverfahrens, das seiner Funktion nach ebenfalls eine Erledigungsform für die kleinere und mittlere Kriminalität ist, stimmt von den möglichen Rechtsfolgen her betrachtet mit dem des beschleunigten Verfahrens in weiten Teilen überein. Lediglich bei Freiheitsstrafen ohne Bewährung, Verbrechen und bei einer Entziehung der Fahrerlaubnis von mehr als zwei Jahren geht das beschleunigte Verfahren über den Anwendungsbereich des Strafbefehlverfahrens hinaus. Steht eine niedrigere Strafe zu erwarten, kommen dagegen sowohl das beschleunigte als auch das Strafbefehlsverfahren in Betracht. Welches der beiden Verfahren in diesem Konkurrenzbereich anwendbar ist, lassen die jeweiligen gesetzlichen Regelungen offen. Nach der Gesetzesbegründung zum Verbrechensbekämpfungsgesetz ist davon auszugehen, daß das Strafbefehlsverfahren als die schnellere, einfachere und weniger aufwendige Erledigungsart dem beschleunigten Verfahren grundsätzlich vorzuziehen ist. 4 5 Daß das beschleunigte Verfahren dabei überhaupt noch zur Anwendung kommen kann, ergibt sich aus der Tatsache, daß das Strafbefehlsverfahren ein schriftliches Verfahren ohne mündliche Verhandlung darstellt. Ist eine Hauptverhandlung erforderlich - z.B. aus spezialpräventiven Gesichtspunkten oder weil es auf den persönlichen Eindruck des Beschuldigten ankommt 4 6 - scheidet ein Strafbefehlsverfahren aus, so daß in diesem Fall Raum für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens bleibt.

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So auch OLG Celle, NStZ 1983, 233; OLG Hamm, JR 1978, 121; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 200 f.; Meyer-Goßner, JR 1978, 122; ders., JR 1984, 78; SKStPO-Paejfgen, § 419, Rdnr. 16. 45 Vgl. BT-Drucks. 12/6853, 35; vgl. außerdem König/Seitz, NStZ 1995, 4. 46 Zu der Frage, wann von der Erforderlichkeit einer Hauptverhandlung im einzelnen auszugehen ist, vgl. HK-Kurth, § 407, Rdnr. 10; AKStPO-Loas, § 407, Rdnr. 21-23; LR24-Gössel, § 407, Rdnr. 45.

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3. Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens, § 417 StPO Das beschleunigte Verfahren ist von einem Antrag der Staatsanwaltschaft abhängig. Nach § 417 StPO stellt die Staatsanwaltschaft den Antrag, wenn sich die Sache auf Grund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage für das beschleunigte Verfahren eignet. Voraussetzung für die Einleitung des Verfahrens ist außerdem, daß der oben dargestellte Zulässigkeitsrahmen (amtsgerichtlicher Anwendungsbereich, Strafrahmengrenze) vorliegt und eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren ausscheidet. Lag die Einleitung des beschleunigten Verfahrens nach alter Rechtslage 47 im pflichtgemäßen Ermessen der Staatsanwaltschaft, 48 so ist sie nach der neuen Gesetzesfassung bei Vorliegen der Voraussetzungen verpflichtet, die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zu beantragen, vgl. § 417 StPO49 Ob der geänderte Wortlaut das bisher bestehende Ermessen auszuschließen vermag, muß allerdings bezweifelt werden. Zwar beseitigt der verpflichtende Wortlaut das bislang bestehende Rechtsfolgeermessen, auf der Voraussetzungsseite der Norm liegen jedoch weiterhin ausschließlich unbestimmte Rechtsbegriffe vor: Die Anwendungsvoraussetzung des „einfachen, beweisklaren Sachverhalts" und der „Eignung der Sache" sind genauso wie die Frage nach der Straferwartung stark normativ geprägt und eröffnen einen weiten Beurteilungsspielraum. Das heißt nun aber, daß auch die Rechtsfolgeentscheidung von dem bestehenden Entscheidungsspielraum beherrscht wird, die Anwendungsverpflichtung letztendlich nicht zwingend sein kann. 5 0 Die Antragstellung dürfte deshalb auch in der geltenden Gesetzesfassung von der Einschätzungsprärogative des einzelnen Staatsanwaltes bzw. der Politik des leitenden Oberstaatsanwaltes abhängig sein. Lediglich die einmal erfolgte Antragstellung erfährt eine Überprüfung inso47

§ 212 StPO a.F. lautete: „Im Verfahren vor dem Strafrichter oder dem Schöffengericht kann die Staatsanwaltschaft schriftlich oder mündlich den Antrag auf Aburteilung im beschleunigten Verfahren stellen [...]". 48 Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 79; Herzog, ZRP 1991, 127; Schultz, DAR 1957, 93; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 16; KK 3-Treier, § 212, Rdnr. 6. Enger war allerdings schon während der alten Rechtslage Nr. 146 Abs. 1 Satz 1 RiStBV. Die Staatsanwaltschaft ist nach dieser Vorschrift in allen geeigneten Fällen gehalten, den Antrag zu stellen. 49 Allg. Meinung: AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 7; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 105; SKStPO-Paejfgen, §417, Rdnr. 9; HK-Krehl, §417, Rdnr. 5; König/Seitz., NStZ 1995, 4; KK-Tolksdorf, § 417, Rdnr. 3. A.A. nur Bürgle, StV 1998, 517, die von einer Soll-Vorschrift spricht. 50 So auch Sprenger, NStZ 1997, 573 (Nr. 3); Lemke/Rothstein-Schubert, ZRP 1997, 490 f.; Hellmann, Strafprozeßrecht, § 2, Rdnr. 2 (S. 315).

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weit, als das Gericht nach § 419 StPO seinerseits die Eignung der Sache für das beschleunigte Verfahren positiv festzustellen hat. 5 1 Der Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens kann mündlich oder schriftlich gestellt werden. Er stellt eine besondere Prozeßvoraussetzung dar, 5 2 womit das Verfahren bei Gericht anhängig wird. 5 3 Von der Anklageerhebung ist der Antrag nach § 417 StPO methodisch streng zu trennen. 54 Es ist aber möglich, einen schriftlich gestellten Antrag mit einer Anklageschrift zu verbinden. 55 Der Beschuldigte selbst hat weder ein Antragsrecht 56 noch kann er der Durchführung des beschleunigten Verfahrens widersprechen. 57 a) Zeitpunkt der Antragstellung Der Antrag kann frühestens nach Abschluß der Ermittlungen gestellt werden. 58 Auch ist es möglich, daß die Anklageerhebung der Antragstellung 51

Vgl. unten I. 4. a). BayObLGSt 1997, 176; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 104; Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 83; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 17; AKStPO-Loay, § 417, Rdnr. 7. 53 Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 84; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 106; Loos/Radtke, NStZ 1995, 472. 54 Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 8; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 105; Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 200. 55 Zu dem Meinungsstreit, inwieweit sich ein den Erfordernissen des § 200 Abs. 1 StPO entsprechender, schriftlicher Antrag in eine Anklageschrift umdeuten läßt, vgl. unten I. 6., Fn. 141. 56 Es spricht allerdings nichts dagegen, den Wunsch des Beschuldigten nach Durchführung eines beschleunigten Verfahrens in geeigneten Fällen aufzugreifen, vgl. SKStPO-Paejfgen, § 417, Rdnr. 9; KK 3-Treier, § 212, Rdnr. 6; Ehlers, NJ 2000, 469. 57 A.A. Deumeland, NStZ 1983, 41, der das Verfahren aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nur bei Einverständnis des Beschuldigten für zulässig erachtet. Nach Lemke/Rothstein-Schubert, ZRP 1997, 491, soll das beschleunigte Verfahren faktisch von der Zustimmung des Beschuldigten abhängen: Schweigt der Beschuldigte oder bestreitet er die Tatbegehung, fehle es an einer klaren Beweislage, so daß sich das Verfahren dann nicht mehr zur sofortigen Verhandlung eigne. Für ein Zustimmungsrecht de lege ferenda: Scheffler, NJW 1994, 2192; Loos/Radtke, NStZ 1996, 10, 14; Dahn, Baumann-FS, S. 356, 359; Ambos, Jura 1998, 293; nach Fezer, ZStW 106 (1994), 39, sowie LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 9, sollte der Beschuldigte die Einhaltung einer einwöchigen Ladungsfrist verlangen können. Teilweise wird angenommen, daß der Beschuldigte gem. § 33 Abs. 3 StPO vor der Antragstellung zu hören ist, vgl. SKStPO-Paeffgen, Rdnr. 9; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 17; KK 3-Treier, § 212, Rdnr. 6. 58 Den Abschluß der Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft gem. § 169a StPO in den Akten zu vermerken, allg. Meinung: K/M-G, § 417, Rdnr. 12; AKStPO52

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vorausgeht. 59 Umstritten ist allerdings, ob die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens auch noch nach Zulassung der Anklage, d. h. im Falle eines bereits ergangenen Eröffnungsbeschlusses (§ 207 StPO) beantragt werden kann. Zu § 212 StPO a.F. wurde eine Antragstellung nach Eröffnung des Hauptverfahrens überwiegend abgelehnt, 60 da andernfalls der Zweck des beschleunigten Verfahrens, die Vermeidung eines Eröffnungsbeschlusses, nicht mehr erreicht werden könne. Unter der neuen Gesetzesfassung, die über den Wegfall des Zwischenverfahrens weitere Vereinfachungsmöglichkeiten in der Hauptverhandlung vorsieht, wird die Antragstellung nun vermehrt auch nach einem Eröffnungsbeschluß im regulären Verfahren für zulässig erachtet. 61 Diese Auffassung erscheint jedoch bedenklich. Zwar stellen die neu hinzugekommenen Vereinfachungen der Hauptverhandlung gewichtige Vereinfachungselemente des beschleunigten Verfahrens dar. Die wesentliche und unverzichtbare Besonderheit des beschleunigten Verfahrens ist jedoch auch nach neuer Gesetzeslage weiter in dem Wegfall des Zwischenverfahrens zu sehen. Mit der Möglichkeit, den Antrag auch noch nach Eröffnung des Hauptverfahrens stellen zu können, würde ein Normalverfahren mit vereinfachter Beweisaufnahme kreiert werden. Zudem ließe sich nicht ausschließen, daß der Antrag nach § 417 StPO bewußt erst kurz vor der Hauptverhandlung gestellt wird, um auf diese Weise sozusagen im Normalverfahren eine vereinfachte Beweisaufnahme durchführen zu können. Der Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens gem. § 417 StPO kann deshalb nur bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens zulässig sein. 62 b) Rücknahme des Antrags Kontrovers diskutiert wird außerdem die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft den Antrag zurücknehmen kann. Die bislang noch herrschende Meinung läßt eine Rücknahme des Antrags bis zum Beginn der Vernehmung des Angeklagten zur Sache zu. 6 3 Sie geht hierbei Loos, § 417, Rdnr. 8; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 84. 59 Allg. Ansicht: LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 18; K/M-G, § 417, Rdnr. 12; Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 80; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 106; Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 197. 60 BayObLG, MDR 1988, 77; OLG Oldenburg, NJW 1960, 352; LR24-Rieß, §212, Rdnr. 19; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 212, Rdnr. 10. A.A.: LR Kohlhaas, § 212, Rdnr. 1; KK3-Treier, § 212, Rdnr. 8, der die h.M. schon immer als zu „formal" ablehnte. 61 SKStPO-Paeffgen, § 417, Rdnr. 10; KK-Tolksdorf, § 417, Rdnr. 5; HK-Krehl, §417, Rdnr. 5; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 85 f.; Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 197. 62 So auch: K/M-G, § 417, Rdnr. 12; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 106. 3 Kohler

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

davon aus, daß dies der Zeitpunkt ist, der funktionell dem Eröffnungsbeschluß im Normal verfahren entspricht und die Rechtswirkungen des § 156 StPO auslöst. Zwar erscheint es richtig, im beschleunigten Verfahren die Vernehmung des Angeklagten zur Sache funktionell dem Eröffnungsbeschluß gleichzusetzen und in diesem Zeitpunkt den Eintritt der Rechtshängigkeit zu sehen. 64 Aus dieser Annahme folgt gem. § 156 StPO analog auch, daß die Staatsanwaltschaft die Anklage im beschleunigten Verfahren auch nur bis zu diesem Zeitpunkt zurücknehmen kann. 65 Fraglich ist jedoch, ob dies in gleichem Maße auch für den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren gilt. § 156 StPO bezieht sich dem Wortlaut nach allein auf die Erhebung der öffentlichen Klage. Dieser entspricht der Antrag gem. § 417 StPO (im Gegensatz zum Strafbefehlsverfahren) aber gerade nicht, Anklage und Antrag sind im beschleunigten Verfahren vielmehr nach einhelliger Ansicht aufgrund der unterschiedlichen Funktion dogmatisch streng zu trennen. 66 Eine den Analogieschluß rechtfertigende Lage ist demnach nicht gegeben, so daß sich § 156 StPO auf den Zeitpunkt einer möglichen Rücknahme des Antrags nicht auszuwirken vermag. Insoweit ist davon auszugehen, daß die Staatsanwaltschaft mangels entgegenstehender Regelung den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren bis zur Urteilsverkündung zurücknehmen kann. 6 7 Für diese Ansicht spricht daneben auch der notwendige Schutz des Beschuldigten: Die aus der vereinfachten Beweisaufnahme gem. § 420 StPO resultierende Einschränkung an Verfahrensgarantien macht es erforderlich, daß die Anwendung des beschleunigten Verfahrens sowohl unter der Kontrolle des Gerichts als auch unter der Kontrolle der Staatsanwaltschaft steht. 68 Damit spricht alles dafür, 63

OLG Oldenburg, NJW 1961, 1127; LR2A-Rieß, §212, Rdnr. 20; K/M-G, § 417, Rdnr. 13; KMR-Fezer, § 417, Rdnr. 8; KK3-Treier, § 212a, Rdnr. 6; Schwer, NStZ 1999, 213 f. 64 So die überaus herrschende Auffassung: OLG Oldenburg, NJW 1961, 1127; L R 2 4 - ^ , § 212a, Rdnr. 2; Loos/Radtke, NStZ 1995, 572; Treier, NStZ 1983, 235; Meyer-Goßner, JR 1984, 76; KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 4; K/M-G, § 418, Rdnr. 4; KMR-Fezer, § 418, Rdnr. 5; SKStPO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 16; Differenzierend Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 198, wonach die Rechtshängigkeit mit der Terminsanberaumung eintreten soll, wenn der Antrag entsprechend den §§ 199, 200 StPO gestellt wurde. Wird die Anklage nicht mit dem Antrag verbunden, soll die Anklageerhebung zu Beginn der Hauptverhandlung die Rechtshängigkeit begründen. 65 KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 4; SKStPO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 16; Treier, NStZ 1983, 235; Meyer-Goßner, JR 1984, 76; Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 199 f.; a.A. OLG Celle, NStZ 1983, 233: Rücknahme bis zur Urteilsverkündung, da das beschleunigte Verfahren einen Eröffnungsbeschluß nicht enthält. Gegen eine endgültige Bindung auch BGHSt 15, 316. 66 Vgl. oben I. 3. 67 BayObLG, NJW 1998, 2152 f.; OLG Celle, NStZ 1983, 233; Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 200; UK-Krehl, §417, Rdnr. 5; SKStPO-Paeffgen, §417, Rdnr. 11; KK-Tolksdorf, § 417, Rdnr. 6.

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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daß die Staatsanwaltschaft - korrespondierend mit der gerichtlichen Befugnis, das beschleunigte Verfahren noch bis zur Urteilsverkündung abzulehnen, § 419 Abs. 2 StPO - den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren ebenfalls bis zu diesem Zeitpunkt zurücknehmen kann. 4. Wegfall des Zwischenverfahrens Die bislang wesentliche Besonderheit des beschleunigten Verfahrens wurde auch mit der Neugestaltung des Verfahrens beibehalten: Das beschleunigte Verfahren wird durchgeführt, ohne daß es einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bedarf und ohne daß ein Eröffnungsbeschluß nach §§ 203, 207 StPO ergeht, § 418 Abs. 1 StPO. Die §§ 201, 202, 205 StPO gelten demnach nicht. Die Durchführung des beschleunigten Verfahrens ist allein von der richterlichen Prüfung des staatsanwaltschaftlichen Antrags auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens abhängig, § 419 Abs. 1 Satz 1 StPO. Die Prüfung der allgemeinen Prozeßvoraussetzungen 69 wird durch den Verzicht auf das Zwischenverfahren nach allgemeiner Meinung nicht tangiert. Da ihr Fehlen die Strafverfahrenseinleitung generell unzulässig macht, 70 hat das Gericht auch im beschleunigten Verfahren die Prozeßvoraussetzungen (in jeder Lage des Verfahrens) von Amts wegen zu prüfen. 71 Seit jeher umstritten ist in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit das Fehlen der Eröffnungsentscheidung die nach § 203 StPO erforderliche Prüfung des hinreichenden Tatverdachts sperrt. M i t dem Argument, eine (generelle) Prüfung des hinreichenden Tatverdachts führe das im beschleunigten Verfahren gerade ausgeschlossene Zwischenverfahren wieder ein, wurde zu § 212a StPO a.F. vielfach eine Prüfungsbefugnis 72 oder zumindest eine Prüfungspflicht 73 abgelehnt. Dagegen stimmt die neuere Kommentarliteratur und 68

Vgl. BayObLG, NJW 1998, 2153. Zum Begriff der allgemeinen Prozeßvoraussetzungen vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 21, Rdnr. 1. 70 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 21, Rdnr. 1, 23; K/M-G, Einl., Rdnr. 150. 71 Allg. Meinung: LR24-Rieß, § 212a, Rdnr. 11; K/M-G, § 418, Rdnr. 2; HKKrehl, § 418, Rdnr. 1; SKStPO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 3; KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 3; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 212a, Rdnr. 2; Feyer, Das Verfahren nach § 212, S. 36, 38; a. A. nur Lewald, ZStW 10 (1890), 91. 72 Eine Prüfungsbefugnis verneinend: OLG Oldenburg, NJW 1961, 127; Dünnebier, GA 1959, 275; Salzmann, Die beschleunigte Ahndung von Verkehrsdelikten, S. 20; LR22-Kohlhaas, § 212a, Rdnr. 2; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 212a, Rdnr. 5; Schultz, DAR 1957, 95. 73 Eine Prüfungsbefugnis annehmend: Meyer-Goßner, JR 1984, 53; K/M-(? 3y § 418, Rdnr. 3; KK^-Treier, § 212a, Rdnr. 1; Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 102; Lüttger, GA 1957, 207; KMR 1-Paulus, § 212, Rdnr. 7. 69

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Rechtsprechung erfreulicherweise nun allgemein darin überein, daß das Gericht zur Prüfung des hinreichenden Tatverdachts verpflichtet sei. 74 Für diese Auffassung sprechen neben der Grundstruktur des deutschen Strafprozeßrechts in erster Linie rechtsstaatliche Erwägungen. Es muß grundsätzlich unabhängig von der Durchführung eines Zwischenverfahrens gesichert sein, daß ein Beschuldigter nicht vorschnell, d.h. ohne ausreichende Verdachtsmomente mit einer (öffentlichen) Hauptverhandlung überzogen wird. Auch erscheint der Einwand falsch, mit der Prüfung des Tatverdachts entfalle jeglicher Beschleunigungseffekt. Da die §§ 201, 202 StPO nicht anwendbar sind, kann die Prüfung nur in summarischer Form anhand des Akteninhalts erfolgen. Dies führt schon deshalb zu keiner nennenswerten Verzögerung, weil das Gericht im Rahmen der Eignungsprüfung ohnehin Einsicht in die Akten nehmen muß. Im Gegenteil gilt es gerade aus Gründen der Verfahrensökonomie, die Durchführung einer unnötigen Hauptverhandlung zu vermeiden. Gegen die Annahme einer generellen Prüfungspflicht könnte allenfalls die Regelung des vereinfachten Zwischenverfahrens in §419 Abs. 3 StPO sprechen. Aus der Tatsache, daß die Vorschrift nach einer Ablehnungsentscheidung des Gerichts gem. § 419 Abs. 2 StPO den Übergang vom beschleunigten ins Regelverfahren vorsieht, wenn der Angeschuldigte hinreichend der Tat verdächtig ist, wird zum Teil gefolgert, daß eine Prüfung des Tatverdachtes auch erst an dieser Stelle zu erfolgen habe. 75 Es ist schon zweifelhaft, ob diese Auslegung zwingend ist. Aber selbst wenn man dies annehmen wollte, muß man eine generelle Prüfungspflicht zumindest aus verfassungskonformer Auslegung der §§417, 418 Abs. 1, 419 Abs. 1 Satz 1 StPO bejahen. Mit der mittlerweile herrschenden Auffassung ist deshalb davon auszugehen, daß das Gericht im Rahmen der Eignungsprüfung auch zur prüfen hat, inwieweit der Beschuldigte der Tat hinreichend verdächtig ist. Aufgrund der Besonderheiten des beschleunigten Verfahrens kann die Prüfung allerdings nur in summarischer Form erfolgen. 76 74

BGH, NStZ 2000, 443; BayObLG, StV 2000, 302; OLG Hamburg, StV 2000, 300 f.; Fezer, Strafprozeßrecht, II 9/185, Rdnr. 129 (S. 119); KMR-Fezer, § 419, Rdnr. 1; AKStPO-Loos, § 418, Rdnr. 3; SKSxRO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 9; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 123 f.; Loos/Radtke, NStZ 1995, 573; KK-Tolksdorf,\ § 418, Rdnr. 2; Ambos, Jura 1998, 292; K/M-G, § 418, Rdnr. 3; Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 198; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 42; Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 717. So außerdem schon LR24-Rieß, § 212a, Rdnr. 9 f.; Gössel, Strafverfahrensrecht, § 14 A II; Werner, DRZ 1947, 147; in der Rspr. jetzt auch: OLG Hamburg, NStZ 1999, 267. 75 Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 42. 76 So auch Loos/Radtke, NStZ 1995, 573 f.; Fülber/Putzke, DRiZ 1999, 198; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 43; SKStPO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 9.

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

a) Richterliche Antragsprüfung,

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§ 419 Abs. 1 Satz 1 StPO

Nach § 419 Abs. 1 Satz 1 StPO hat das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens zu entsprechen, wenn sich die Sache für das beschleunigte Verfahren eignet. M i t der richterlichen Antragsprüfung greift das Gesetz die in § 417 StPO als Voraussetzung des staatsanwaltschaftlichen Antrags genannte Eignung wieder auf. Aus § 419 Abs. 2 StPO ergibt sich außerdem, daß die Sache bis zum erstinstanzlichen Abschluß des Verfahrens für ein beschleunigtes Verfahren geeignet bleiben muß. Die Eignung, die also während des gesamten Verfahrens bestehen muß, bildet damit „Grund und Grenze" 77 des beschleunigten Verfahrens. Ist sie nicht oder nicht mehr gegeben, ist das Verfahren abzulehnen bzw. abzubrechen. Das Gericht lehnt die Verhandlung im beschleunigten Verfahren in diesem Fall durch unanfechtbaren 78 Beschluß 79 ab vor Eintritt der Rechtshängigkeit gem. § 419 Abs. 1 Satz 1 e contrario, Abs. 2 Satz 1 StPO, nach diesem Zeitpunkt bis zur Urteilsverkündung 80 gem. § 419 Abs. 2 Satz 1 StPO. Hält das Gericht die Sache für eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren für geeignet, beraumt es die Hauptverhandlung an. 8 1 Nach herrschender Auffassung ist die Eignung umfassend zu verstehen. Sie umfaßt nicht nur die besonderen Eignungsvoraussetzungen des § 417 StPO (einfacher oder beweisklarer Sachverhalt, sofortige Verhandlungsmöglichkeit) 8 2 und die nach § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO erforderliche Sanktionsprognose 83 . Die Eignungsprüfung soll sich darüber hinaus auf alle Umstände erstrecken, die der Durchführung des beschleunigten Verfahrens entgegenstehen könnten, also auch auf die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen 77

So SKStPO-Paejfgen, § 419, Rdnr. 2. Die Beschwerde gegen den Ablehnungsbeschluß wird durch § 419 Abs. 2 Satz 2 StPO ausdrücklich ausgeschlossen. 79 Der Beschluß ist zu begründen (§ 34 StPO) und bekanntzumachen (§ 35 StPO). Zu den verfahrensrechtlichen Folgen des Ablehnungsbeschlusses vgl. unten I. 4. b). 80 In der Rechtsmittelinstanz kann das Verfahren nach h. M. nicht mehr abgelehnt werden, vgl. OLG Oldenburg, JR 1983, 302; AKStPO-Loay, § 419, Rdnr. 16; LR 2 4 Rieß, § 212b, Rdnr. 14; SKStPO-Paejfgen, § 419, Rdnr. 7; K/M-G, § 419, Rdnr. 6; KK-Tolksdorf, §419, Rdnr. 9. A.A.: KK 3-Treier, § 212b, Rdnr. 2; KMR-Fezer, §419, Rdnr. 7, die eine Ablehnung des beschleunigten Verfahrens auch in der Berufungsinstanz zulassen wollen. 81 Eine besondere Entscheidung mit dem Inhalt, daß die EignungsVoraussetzungen vorliegen, ergeht in diesem Fall nicht - „das Gericht hat dem Antrag zu entsprechen", § 419 Abs. 1 Satz 1 StPO, vgl. hierzu KMR-Fezer, § 419, Rdnr. 3. Zur Vorbereitung der Hauptverhandlung vgl. unten I. 4. c). 82 Vgl. oben I. 2. b). 83 Vgl. oben I. 2. c). 78

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

und auf den hinreichenden Tatverdacht. 84 Das bedeutet, daß im beschleunigten Verfahren bei Fehlen dieser Voraussetzungen nicht, wie an sich in der StPO vorgesehen, ein Beschluß nach § 204 StPO ergeht, sondern ein Ablehnungsbeschluß nach §§419 Abs. 1 Satz 1 e contrario, Abs. 2 Satz 1 StPO. Methodisch erscheint diese Auffassung zunächst verfehlt, da das Fehlen allgemeiner Prozeßvoraussetzungen nicht die spezielle Eignung der Sache für das beschleunigte Verfahren berührt, vielmehr die Strafverfahrensdurchführung schlechthin unzulässig macht. Die Richtigkeit dieser Auffassung läßt sich aber mit Blick auf die mit einem Beschluß nach § 204 StPO verbundene Rechtskraftwirkung (§211 StPO) belegen. Da die Prüfung der Prozeßvoraussetzungen im beschleunigten Verfahren nur summarisch aufgrund der Aktenlage, oft sogar allein aufgrund des staatsanwaltschaftlichen Antrags erfolgt, wäre die Sperrwirkung in diesem Fall nicht sachgerecht. Genauso wie die Staatsanwaltschaft ist das Gericht in der gesetzlichen Neufassung bei Vorliegen der besonderen EignungsVoraussetzungen verpflichtet, das beschleunigte Verfahren durchzuführen. Da die Beurteilung der nach § 417 StPO erforderlichen Eignung von einer hohen Einschätzungsprärogative gekennzeichnet ist, 8 5 kann auch 8 6 diese Verpflichtung nur eingeschränkt wirken. Der verpflichtende Wortlaut der Vorschrift wird schließlich auch dadurch eingeschränkt, daß die Ablehnung des beschleunigten Verfahrens nicht anfechtbar ist, § 419 Abs. 2 Satz 2 StPO. Wenn aber die Anwendung des beschleunigten Verfahrens wegen der vagen Anwendungsvoraussetzungen nicht durchgesetzt werden kann, so bedeutet dies umgekehrt auch, daß sich die Annahme der Eignungsvoraussetzungen wegen des bestehenden Beurteilungsspielraums nur eingeschränkt überprüfen läßt. 8 7 Die Eignungsprüfung bleibt damit im Ergebnis sowohl in negativer wie in positiver Hinsicht weitgehend dem richterlichen Ermessen überlassen. b) Verfahrensrechtliche Folgen der Ablehnungsentscheidung vereinfachtes Zwischenverfahren, § 419 Abs. 3 StPO Lehnt das Gericht die Entscheidung im beschleunigten Verfahren ab, so muß es nach § 419 Abs. 3 StPO entscheiden, ob es ein Normal verfahren durchführt. Die Möglichkeit, direkt vom beschleunigten ins Regelverfahren überzuleiten, besteht erst seit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz. Nach 84

Ambos, Jura 1998, 290, Fn. 137; Fezer, ZStW 106 (1994), 10; Ranft, Strafprozeßrecht, S. 524 (Kap. 12 Β III 1). 85 Vgl. oben I. 3. 86 Vgl. oben I. 3. 87 Vgl. hierzu unten I. 8. a) aa).

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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alter Rechtslage zu § 212 ff. StPO a.F. fiel die Sache bei Ablehnung des beschleunigten Verfahrens an die Staatsanwaltschaft zurück, eine schon eingetretene Rechtshängigkeit entfiel. 88 Mit der neuen Regelung wird eine Rückgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft und deren etwaiges Wiedereinreichen vermieden. 89 Gem. § 419 Abs. 3 StPO prüft das Gericht nunmehr sofort, ob der Beschuldigte hinreichend der Tat verdächtig ist und erläßt gegebenenfalls darauf einen Eröffnungsbeschluß i.S.d. §§ 207, 419 Abs. 3, Hs. 1 StPO, 90 so daß das Verfahren wie nach Anklage und Zulassung der Anklage im gewöhnlichen Verfahren fortgesetzt wird. Zugeschnitten ist das vereinfachte Zwischenverfahren neuer Art auf Sachverhaltskonstellationen, in denen die speziellen Eignungsvoraussetzungen für das beschleunigte Verfahren nicht gegeben sind oder eine Überschreitung des Sanktionsrahmens notwendig erscheint. Fehlt es am hinreichenden Tatverdacht oder liegen die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen nicht vor, kann ein Eröffnungsbeschluß nicht ergehen. In diesem Fall bleibt es bei einem Ablehnungsbeschluß nach § 419 Abs. 1 Satz 1 e contrario, Abs. 2 Satz 1 StPO, so daß prozeßrechtlich genau die nach alter Rechtslage einer Ablehnungsentscheidung nachfolgende Situation eintritt: Die Akten werden an die Staatsanwaltschaft zurückgegeben, die damit die volle Entscheidungsfreiheit zurückerhält. Sie kann das Verfahren nach §§ 170 Abs. 2, 153 ff. StPO einstellen oder Anklage 9 1 im Normalverfahren erheben. Ein nochmaliges Vorgehen nach den §§ 417 ff. StPO ist jedoch ausgeschlos92

sen. Schwierigkeiten bereitet die genaue systematische Einordnung und der Ablauf des neuartigen Zwischenverfahrens. Fraglich ist dabei insbesondere, inwieweit die für das Zwischenverfahren geltenden Vorschriften der §§199 ff. StPO auch in dem vereinfachten Zwischenverfahren nach § 419 Abs. 3 StPO gelten sollen. 88

Vgl. BGHSt 15, 314; LR24-Rieß, § 212b, Rdnr. 17. BT-Drucks. 12/6853, 36. Zusätzlich entfällt die Begründungspflicht des § 34 StPO, vgl. AKStPO-Loos, § 419, Rdnr. 9; Radtke, NStZ 1998, 371. 90 Der (abgelehnte) Antrag der Staatsanwaltschaft auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens wird in diesem Fall in einen Antrag auf Eröffnung des (Regel-)hauptverfahrens umgedeutet, vgl. Loos/Radtke, NStZ 1995, 12; SKStPOPaeffgen, § 419, Rdnr. 10. 91 Dabei enthält die Vorschrift des § 419 Abs. 3, Hs. 2 StPO insoweit eine Erleichterung, als sie dann, wenn die Staatsanwaltschaft schon schriftlich Anklage erhoben hat, auf das erneute Einreichen einer Klageschrift verzichtet. Die Einreichung einer Klageschrift ist dagegen erforderlich, wenn die Staatsanwaltschaft von der Möglichkeit des § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO, die Anklage nicht schriftlich zu fixieren, Gebrauch gemacht hat. 92 Allg. Meinung: OLG Hamburg, NJW 1964, 2124; LR24-Rieß, § 212b, Rdnr. 17; K/M-G, § 419, Rdnr. 9. 89

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Um dem Beschuldigten rechtliches Gehör zu gewähren, muß, wie auch in den Gesetzgebungsmaterialien angenommen, 93 § 201 StPO zumindest entsprechend gelten. 94 Weiter kommt eine analoge Anwendung von § 202 StPO in Betracht, wonach vor Eröffnung des Hauptverfahrens zusätzliche Beweiserhebungen durchgeführt werden können. Die herrschende Meinung lehnt eine Anwendung dieser Vorschrift mit der Begründung ab, zusätzliche Beweiserhebungen liefen der Intention des Gesetzgebers entgegen, mit §419 Abs. 3 StPO einen zeitlich schnellen und sachlich vereinfachten Übergang ins Regelverfahren zu schaffen. 95 Dieser Einwand mag berechtigt sein; dennoch erscheint es nicht unproblematisch, ein Normalverfahren ohne die vollständig darin enthaltenen Garantien zu führen, nachdem die Eignung für eine vereinfachte Verfahrenserledigung mit dem Ablehnungsbeschluß nach § 419 Abs. 1 Satz 1 e contrario, Abs. 2 Satz 1 StPO gerade verneint wurde. c) Vorbereitung

der Hauptverhandlung

Hält das Gericht die Eignung für eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren für gegeben, so wird die Hauptverhandlung sofort oder zumindest mit kurzer Frist 9 6 durchgeführt, § 418 Abs. 1 StPO. Im Zuge der Neufassung des Verfahrens wurde das Fristerfordernis der „kürzesten" Frist in § 212a StPO a.F., zugunsten einer jetzt „kurzen" Frist - gemeint ist dabei eine 1- bis 2-Wochenfrist zwischen Antragstellung und Hauptverhandlung - 9 7 etwas großzügiger gefaßt. Mit dieser Entzerrung erhofft sich der Gesetzgeber, eine breitere Anwendung des Verfahrens forcieren zu können. 98 93

BT-Drucks. 12/6853, 36. Allg. Meinung: AKStPO-Z/ws, §410, Rdnr. 11; K/M-G, §419, Rdnr. 9; SKStPO-Paeffgen, § 419, Rdnr. 10; Radtke, NStZ 1998, 371; KK-Tolksdorf, § 419, Rdnr. 13. Problematisch ist, wie genau das rechtliche Gehör zu gewähren ist, vgl. hierzu näher Loos/Radtke, NStZ 1995, 572. 95 AKStPO-Loos, § 419, Rdnr. 11; Loos/Radtke, NStZ 1995, 572; S K S t P O - i ^ gen, § 419, Rdnr. 10; KK-Tolksdorf, § 419, Rdnr. 13. 96 Der Fristlauf ist auf den Abschluß des Ermittlungsverfahrens zu beziehen. 97 BT-Drucks. 12/6853, 36; HK-Krehl, § 418, Rdnr. 2; SKStPO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 13; vgl. hierzu außerdem OLG Stuttgart, StV 1998, 479; StV 1998, 586; OLG Düsseldorf, StV 1999, 202; OLG Hamburg, StV 2000, 300; BayObLG, StV 2000, 302; AG Erfurt, NStZ-RR 2000, 47; Müller, NStZ 2000, 108, sowie oben unter Fn. 33. Vgl. hierzu den Gesetzesentwurf des Bundesrates vom 26.11.1999 (BT-Drucks. 14/2444). Um den Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens zu verbreitern und Unsicherheiten hinsichtlich der Voraussetzungen dieser Verfahrensart zu begegnen, sieht der Entwurf vor, folgenden Satz an § 418 Abs. 1 StPO anzuhängen: „Zwischen dem Eingang des Antrags bei Gericht und dem Beginn der Hauptverhandlung sollen nicht mehr als sechs Wochen liegen." 98 BT-Drucks. 12/6853, 36. 94

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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Mit der beschleunigt anberaumten Hauptverhandlung korrespondiert eine Abkürzung der Ladungsfrist bzw. der Verzicht auf die Ladung: Nach wie vor ist eine Ladung im beschleunigten Verfahren entbehrlich, wenn sich der Beschuldigte freiwillig zur Hauptverhandlung stellt" oder dem Gericht vorgeführt 1 0 0 wird, § 418 Abs. 2 Satz 1 StPO. In Betracht kommt dabei eine Vorführung im Rahmen des § 128 Abs. 1 StPO nach vorläufiger Festnahme gem. den §§ 127, 127b Abs. 1 StPO, aus der allgemeinen Untersuchungshaft, §§112 ff. StPO, sowie aus der neueingeführten Hauptverhandlungshaft gem. § 127b Abs. 2 StPO. In allen anderen Fällen - wenn der Beschuldigte sich nicht freiwillig stellt und keine Möglichkeit besteht, ihn vorzuführen ist die Ladungsfrist 101 auf 24 Stunden verkürzt, § 418 Abs. 2 Satz 3 StPO. 5. Notwendige Verteidigung, § 418 Abs. 4 StPO Vor Inkrafttreten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes bestimmte sich die Verteidigung auch im beschleunigten Verfahren allein nach den allgemeinen Regeln. 1 0 2 Das heißt, der Beschuldigte konnte sich in jeder Lage des Verfahrens einen Verteidiger wählen, § 137 StPO. Die Pflichtverteidigung richtete sich nach den §§140 ff. StPO. Allerdings dürfte bei Durchführung eines beschleunigten Verfahrens nur ausnahmsweise ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 StPO vorliegen. 103 Insbesondere eine 99

Eine freiwillige Gestellung zur Hauptverhandlung liegt vor, wenn das Erscheinen des Beschuldigten vor Gericht auf seinem freien Willen beruht, ohne daß ihm gegenüber eine Pflicht zum Erscheinen geltend gemacht worden ist, vgl. LR24-Rieß, § 212a, Rdnr. 20. Auch ein (äußerlich) Vorgeführter kann sich freiwillig stellen. Das ist dann der Fall, wenn die Vorführung zur Hauptverhandlung auf sein Betreiben hin erfolgt, vgl. RGSt 66, 111. Schließlich ist ein freiwilliges Erscheinen i.S.d. Vorschrift anzunehmen, wenn ein zur Hauptverhandlung geladener und erschienener Beschuldigter oder ein zu einer Hauptverhandlung vorgeführter Beschuldigter damit einverstanden ist, daß eine weitere Tat beschleunigt verhandelt wird, vgl. KG, DAR 1956, 334; Siemens, JR 1928, 159. 100 Eine Vorführung liegt vor, wenn der Beschuldigte zwangsweise oder zumindest ohne seinen Willen aus einer behördlichen Verwahrung vor Gericht gebracht wird, vgl. LR74-Rieß, § 212a, Rdnr. 21; K/M-G, § 418, Rdnr. 6. 101 Nach allgemeiner Ansicht ist die Frist von der Stunde der Zustellung an zu berechnen, KMR 1-Paulus, § 212a, Rdnr. 18; AKStPO-Loos, § 418, Rdnr. 11. 102 Vgl. Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 157, 131 ff. 103 Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 57 f. Vereinzelt wurde die Auffassung vertreten, bei Durchführung des beschleunigten Verfahrens sei aufgrund der mit dem Verfahren einhergehenden rechtsstaatlichen Verfahrenseinbußen immer ein Fall notwendiger Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen, vgl. Siegert, GerS (102) 1933, 49; Molketin, Die Schutzfunktion des § 140 Abs. 2 StPO, S. 97; differenzierend Schmitt, ZStW 89 (1977), 646, der von einer generell notwendigen Verteidigung im beschleunigten Verfahren ausging, wenn der Beschuldigte gem. § 212a Abs. 3 StPO a.F. dem Gericht vorgefühlt wurde. Auch wenn diese Auffassung de lege ferenda denkbar oder wünschenswert erscheint, war sie mit der gelten-

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Anwendung des § 140 Abs. 2, 1. und 2. Mod. StPO wird regelmäßig mit dem Hinweis abgelehnt, die Durchführung des beschleunigten Verfahrens setze einen einfachen Sachverhalt voraus, so daß die Rechtslage nicht i.S.v. § 140 Abs. 2, 2. Mod. StPO schwierig sein könne - eine Verteidigerbestellung wegen der Schwere der Tat i.S.v. § 140 Abs. 2, 1. Mod. StPO scheide aus, da das beschleunigte Verfahren nur Freiheitsstrafen von einem Jahr zulasse. 104 Mit § 418 Abs. 4 StPO wird nun speziell für das beschleunigte Verfahren ein weiterer Fall notwendiger Verteidigung statuiert. Ist eine Einzel- oder Gesamtfreiheitsstrafe 105 von mindestens sechs Monaten zu erwarten, muß einem unverteidigten Beschuldigten im beschleunigten Verfahren ein Verteidiger bestellt werden, § 418 Abs. 4 StPO. Dabei ist unerheblich, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden soll. 1 0 6 Die Vorschrift wurde erst auf Empfehlung des Vermittlungsausschusses eingeführt. 107 Auslöser für den neuen Pflichtverteidigertatbestand war die allgemein heftige Reaktion 1 0 8 auf die geplanten Vereinfachungen der Beweisaufnahme, durch die sich der Reformgesetzgeber gezwungen sah, einen Ausgleich zu schaffen. Die in Anlehnung an § 408b StPO entstandene Regelung des § 418 Abs. 4 StPO soll dem Beschuldigten insbesondere eine sachgerechte Ausübung des Zustimmungsrechtes aus § 420 Abs. 3 StPO ermöglichen. Dem Verfahrenszweck der Beschleunigung scheint die Beteiligung eines Verteidigers zu widersprechen. 109 Die Verbindung von Verteidigung und beden Gesetzeslage nicht zu vereinbaren. Gerade die Einführung des § 418 Abs. 4 StPO zeigt, daß der Gesetzgeber für das beschleunigte Verfahren nicht von einem Fall generell notwendiger Verteidigung ausging. 104 Denkbar erscheinen allein zwei Konstellationen notwendiger Verteidigung: zum einen § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO, wenn ein Verbrechen Gegenstand des Verfahrens ist, zum anderen § 140 Abs. 2, 3. Mod. StPO für den Fall, daß ein ausländischer Beschuldigter der deutschen Sprache nicht mächtig ist, vgl. Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 57; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 23. Es ist allerdings umstritten, inwieweit bei fehlenden Sprachkenntnissen grundsätzlich ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO anzunehmen ist, so z.B. OLG Zweibrücken, StV 1988, 379; OLG Köln, StV 1990, 59. Dagegen wird vertreten, daß es auf den jeweiligen Einzelfall ankomme, ob § 140 Abs. 2 StPO in diesem Fall greife, vgl. OLG Düsseldorf, StV 1992, 363; OLG Frankfurt a.M., StV 1997, 574; zustimmend Molketin, AnwBl 1998, 178. Zum Teil wird ein Rückgriff auf § 140 Abs. 2 StPO auch grundsätzlich abgelehnt, da die sprachlichen Defizite allein durch die Mitwirkung eines Dolmetschers ausreichend ausgeglichen würden, vgl. OLG Hamm, NStZ 1990, 143. 105 OLG Bremen, StraFo 1998, 124; OLG Karlsruhe, StV 1999, 364. 106 K/M-G, § 418, Rdnr. 11; SKSiPO-Paejfgen, § 418 Rdnr. 19. 107 Vgl. BT-Drucks. 12/7837, 4. 108 Vgl. Bandisch, StV 1994, 157; Neumann, StV 1994, 276; Hamm, StV 1994, 458; Wächtler, StV 1994, 160; Schejfler, NJW 1994, 2191.

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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schleunigtem Verfahren wurde schon immer per se für problematisch, 110 wenn nicht sogar für unmöglich gehalten. 111 Selbst wenn diese Kritik in der Sache zutreffen mag, erscheint sie im Ansatzpunkt verfehlt. Angesichts der allgemein kritisierten rechtsstaatlichen Gefahren des beschleunigten Verfahrens kann jede Aufwertung der Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten konsequenterweise nur begrüßt werden. Insoweit ist die Regelung des § 418 Abs. 4 StPO in der Tendenz zu befürworten, so daß die aus der Mitwirkung eines Verteidigers resultierenden Verfahrensverzögerungen und Anwendungsbeschränkungen des beschleunigten Verfahrens hinnehmbar erscheinen. 112 Eine andere Frage ist es, ob die Regelung des § 418 Abs. 4 StPO gelungen ist. Ihr haftet das Bild eines zu flüchtig und mit dem Normalverfahren wenig abgestimmten Kompromiß Vorschlags an. 1 1 3 Problematisch erscheint dabei auch die Tatsache, daß die Regelung zu einer Zweiteilung im beschleunigten Verfahren führt, indem sie eine Pflichtverteidigung nur bei einer Straferwartung von sechs Monaten vorschreibt. 114 a) Durchführung Die Staatsanwaltschaft beantragt die Bestellung eines Verteidigers nach § 418 Abs. 4 StPO grundsätzlich 115 zusammen mit dem Antrag auf Verhandlung im beschleunigten Verfahren. Der Richter hat diesem Antrag zu entsprechen, wenn er im beschleunigten Verfahren verhandelt und die Strafprognose der Staatsanwaltschaft teilt. Ergibt sich erst im Laufe der Verhandlung, daß eine Freiheitsstrafe von mind, sechs Monaten zu erwarten ist, muß der Richter nachträglich einen Verteidiger bestellen und in dessen Anwesenheit die wesentlichen Teile der Verhandlung wiederholen. 116 Die Vorschrift enthält insoweit keinen Entscheidungsspielraum. Das sich trotz des eindeutigen Wortlauts ergebende Ermessen entsteht wiederum erst indi-

109 KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 10; Loos/Radtke, NStZ 1996, 10; Rüping, Strafverfahren, Rdnr. 718. 110 Vgl. Dünnebier, GA 1959, 273; Schmitt, ZStW 89 (1977), 639, 645 f.; Schünemann, NJW 68, 975 f. 111 Vgl. Baumann, Klug-FS, S. 459, 462. 112 Ähnlich AKStPO-Loos, § 418, Rdnr. 16. 113 K/M-G, Vor § 417, Rdnr. 5; SKStPO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 18; Sprenger, NStZ 1997, 575; Göbel, Strafprozeß, S. 243. 114 Vgl. hierzu näher unten Dritter Teil, IV. 115 Zum Meinungsstreit, inwieweit die Verteidigung auch schon im Vorverfahren beantragt werden kann, vgl. unten I. 5. a). 116 BayObLG, NStZ 1998, 37; OLG Karlsruhe, StV 1999, 364; zust. KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 11; HK-Krehl, § 418, Rdnr. 6; K/M-G, § 418, Rdnr. 12.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

rekt: Die angesprochene Pflichtverteidigerbeiziehung ist neben der vorgegebenen Straferwartung von der Durchführung des beschleunigten Verfahrens und damit vom Vorliegen der speziellen Eignungsvoraussetzungen 117 abhängig. Da deren Bejahung oder Ablehnung wie die notwendige Strafprognose kaum angreifbar sind, 1 1 8 bleibt aber auch die Hinzuziehung des Verteidigers nach § 418 Abs. 4 StPO faktisch weitgehend dem Ermessen des Richters überlassen. 119 Nichts hindert ihn, die Voraussetzungen des § 417 StPO zu verneinen und statt dessen lieber im Regelverfahren ohne Verteidiger zu verhandeln. 120 Genausogut kann er es bei einer geringeren Strafe als sechs Monate bewenden lassen, um auf diese Weise einer Verteidigerbestellung auszuweichen. Die notwendige Verteidigung nach den §§140 ff. StPO bleibt neben der Spezialregelung des § 418 Abs. 4 StPO weiter anwendbar. Sollte sie ausnahmsweise greifen, geht sie einer Bestellung nach § 418 Abs. 4 StPO vor.121 Ungeklärt ist bislang, inwieweit die §§140 ff. StPO im Rahmen des §418 Abs. 4 StPO Geltung beanspruchen sollen. Konkret wird die Problematik ihrer Anwendbarkeit bei der Frage nach einer möglichen Antragstellung schon im Vorverfahren gem. § 141 Abs. 3 StPO diskutiert sowie bei der Frage, ob die nach § 142 Abs. 1 Satz 2, 3 StPO bestehende Vorschlagsmöglichkeit des Beschuldigten auch im Rahmen des § 418 Abs. 4 StPO zu respektieren ist. Als Anhaltspunkt ist davon auszugehen, daß § 418 Abs. 4 StPO systematisch zu den Regeln über die notwendige Verteidigung gehört, 1 2 2 so daß es eines ausdrücklichen Verweises deshalb nicht unbedingt bedarf. 123 Zwar wird diese Ansicht mit dem Hinweis auf andere Sonderregeln notwendiger Verteidigung in der StPO 1 2 4 verneint. Diese verweisen im Gegensatz zu § 418 Abs. 4 StPO explizit auf die §§ 140 ff. StPO, so daß aus dem Rückschluß nur eine Nichtgeltung der Vorschriften der §§140 ff. StPO folgen könne. 1 2 5 Angesichts der Flüchtigkeit, mit der die Regelung des § 418 Abs. 4 StPO (die auch in anderem Zusammenhang 117

Vgl. oben I. 2. b). Vgl. oben I. 3. sowie I. 4. a). 119 So auch SKStPO-Paejfgen, § 418, Rdnr. 20. 120 So z.B. Sprengen NStZ 1997, 575; K/M-G, Vor § 417, Rdnr. 5; Volk, Strafprozeßrecht, § 33, Rdnr. 33 (S. 240). 121 Allg. Meinung, vgl.: K/M-G, § 418, Rdnr. 13; HK-Krehl, § 418, Rdnr. 5; KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 16. 122 Loos/Radtke, NStZ 1996, 10; AKStPO-Loos, § 418, Rdnr. 16; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 140; Tiemer, Verteidigerbestellung im beschleunigten Verfahren, S. 101 f. 123 So Loos/Radtke, NStZ 1996, 10; AKStPO-Loos, § 418, Rdnr. 16. 124 Vgl. §§ 118a Abs. 2 Satz 4, 117 Abs. 4 Satz 3, 408b Satz 2 StPO. 125 K/M-G, § 418, Rdnr. 11, 14; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 140. 118

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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eine mangelnde Feinabstimmung mit dem Regelverfahren offenbart) konzipiert worden ist, erscheint diese Argumentation nur vordergründig stringent. Auch die Gesetzesbegründung läßt eher vermuten, daß der Gesetzgeber die angesprochene Problematik schlichtweg übersehen hat. 1 2 6 Mit der neueingeführten Pflichtverteidigung soll den Nachteilen und Gefahren der erleichterten Beweisaufnahme des § 420 StPO Rechnung getragen werden, insbesondere soll die Regelung eine sachgerechte Ausübung des Zustimmungsrechtes aus § 420 Abs. 3 StPO gewährleisten. 127 Die in Rede stehende Zustimmung entspricht inhaltlich der Zustimmung nach § 251 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Satz 1 StPO. Somit ist schwer verständlich, warum für das Vertrauensverhältnis Mandant-Verteidiger im beschleunigten Verfahren andere Maßstäbe als im Normalverfahren gelten sollen. Verschiedentlich wird eingewandt, die Vorschlagsmöglichkeit des § 142 Abs. 1 Satz 2, 3 StPO sei mit der Intention eines in kurzer Frist durchgeführten Verfahrens nicht zu vereinbaren. 128 Angesichts der zeitlichen Verkürzung des Verfahrens, die den Aufbau eines Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Verteidiger ohnehin erschwert, erscheint es jedoch gerade in einem beschleunigten Verfahren um so dringlicher, dem Beschuldigten den Verteidiger seines Vertrauens zuzubilligen. Die Verteidigerwahl des Beschuldigten muß somit - unabhängig davon, ob man eine Anwendbarkeit des § 142 Abs. 1 Satz 2, 3 StPO aus systematischen Gründen zuläßt allein aufgrund seines Anspruchs auf ein faires Verfahren und auf eine angemessene Verteidigung aus Art. 6 Abs. 3c EMRK respektiert werden. 1 2 9 Was den Zeitpunkt der Verteidigerbestellung angeht, so wird eine vorherige Antragstellung nach § 141 Abs. 3 StPO oft schon aus technischen Gründen kaum möglich sein. Aber wiederum erscheint es gerade wegen der engen Zeitgrenzen sachgerecht, den Verteidiger möglichst frühzeitig in das Verfahren eintreten zu lassen. Ein Ausschluß des § 141 Abs. 3 StPO wäre deshalb mit dem Recht des Beschuldigten auf angemessene Verteidigung, Art. 6 Abs. 3c EMRK, nicht zu vereinbaren. 130

126

Vgl. SKStPO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 19. Vgl. BT-Drucks. 12/7837, 4. 128 K/M-G, § 418, Rdnr. 14; K M R - F ^ r , § 418, Rdnr. 15. 129 So auch Loos/Radtke, NStZ 1996, 10 f.; Pfeiffer/Fischer, § 418, Rdnr. 4; AKStPO-Loas, § 418, Rdnr. 16; Tiemer, Verteidigerbestellung im beschleunigten Verfahren, S. 126; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 141; EK-Krehl, § 418, Rdnr. 6. A.A.: KMR-Fezer, § 418, Rdnr. 15; K/M-G, § 418, Rdnr. 14. Die vorherige Befragung lediglich als sachgerecht einschätzend: SKStPO-Paejfgen, § 418, Rdnr. 21; ähnlich KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 12. 130 So auch SKStPO-Paejfgen, § 418, Rdnr. 19; a.A.: K/M-G, § 418, Rdnr. 11; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 142; HK-Krehl, § 418, Rdnr. 7. 127

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

b) Wirkung Die nach § 418 Abs. 4 StPO erfolgende Bestellung gilt ausschließlich für das beschleunigte Verfahren. 131 Lehnt der Richter das beschleunigte Verfahren ab, ist damit inzident auch der Antrag auf die Verteidigerbestellung nach § 418 Abs. 4 StPO abgelehnt. Aber auch, wenn die Ablehnung des beschleunigten Verfahrens erst in der Hauptverhandlung erfolgt, ist die schon erfolgte Beiordnung gleichfalls automatisch beendet - unabhängig davon, ob das Gericht von der Möglichkeit des § 419 Abs. 3 StPO Gebrauch macht. 1 3 2 So zeigt sich auch an dieser Stelle, daß die Vorschrift des § 418 Abs. 4 StPO nur mangelhaft mit dem Normalverfahren abgestimmt wurde: Wird später im Normalverfahren weiterverhandelt, entsteht wie bei § 408b StPO 1 3 3 die unbefriedigende Situation, daß der zunächst verteidigte Angeklagte nun ohne Verteidiger ist. Aus Billigkeitsgründen erscheint in diesem Fall der Rückgriff auf eine Verteidigerbestellung in erweiterter Auslegung des § 140 Abs. 2 StPO angebracht. 1 3 4 6. Anklageerhebung im beschleunigten Verfahren, § 418 Abs. 3 StPO Im beschleunigten Verfahren bedarf es seit jeher keiner Anklageschrift. Der Verzicht auf die Anklageschrift bedeutet jedoch nicht die Entbehrlichkeit einer Anklage; diese ist wie im Normalverfahren Prozeßvoraussetzung. 1 3 5 Die Besonderheit des beschleunigten Verfahrens besteht allein darin, daß die Anklage nicht schriftlich eingereicht zu werden braucht, sondern mündlich zu Beginn der Hauptverhandlung erhoben werden kann, § 418 Abs. 3 StPO. Die mündliche Erhebung der Anklage 1 3 6 tritt dabei an die Stelle der Verlesung des Anklagesatzes nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO. Da sich die Verlesung des Anklagesatzes nur auf den wesentlichen Inhalt der Anklageschrift nach § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO bezieht, 137 wird vielfach angenom131 Die isolierte Wirkung der Beiordnung nur für das beschleunigte Verfahren muß aus der Bestellung deutlich werden, vgl. K/M-G, § 418, Rdnr. 12; HK-Krehl, §418, Rdnr. 7. Zur Frage, inwieweit sich die Verteidigung nach § 418 Abs. 4 StPO auch in das Βerufungsverfahren erstreckt, vgl. unten I. 8. b). 132 KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 14; K/M-G, § 418, Rdnr. 15; HK-Krehl, § 418, Rdnr. 7; KMR-Fezer, § 418, Rdnr. 16. 133 Vgl. hierzu Hohendorf, MDR 1993, 598. 134 So auch K/M-G, § 418, Rdnr. 15; UK-Krehl, § 418, Rdnr. 7; KK -Tolksdorf, § 418, Rdnr. 14. 135 Vgl. SKStPO-Paeffgen, S 418, Rdnr. 15; UK-Krehl, § 418, Rdnr. 3; KKTolksdorf, § 418, Rdnr. 8; LR -Rieß, § 212a, Rdnr. 22; Schlüchter, Das Strafverfahren, Rdnr. 779.2; OLG Hamburg, StV 2000, 127.

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men, daß auch die mündliche Anklageerhebung nur den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO zu genügen habe, die Nennung der Beweismittel nicht erforderlich sei. 1 3 8 Dieser Auffassung ist allerdings entgegenzuhalten, daß sie die Besonderheiten des beschleunigten Verfahrens nicht ausreichend berücksichtigt. So sind die Beweismittel im Normalverfahren schon in der Anklageschrift anzugeben und dem Beschuldigten auch mitzuteilen, 1 3 9 während dies im beschleunigten Verfahren mangels Zwischenverfahrens und aufgrund der Möglichkeit, von der Einreichung einer Anklageschrift abzusehen, nicht geschieht. Damit der Beschuldigte auch im beschleunigten Verfahren erfährt, worauf die Staatsanwaltschaft ihre Anklage stützt, erscheint es deshalb abweichend von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO geboten, in der mündlichen Anklageerhebung gem. § 418 Abs. 3 StPO auch die Beweismittel zu nennen. 140 Trotz des gesetzlichen Verzichts auf die Anklageschrift ist die Staatsanwaltschaft nicht gehindert, die Anklageerhebung - was Nr. 146 Abs. 2 RiStBV empfiehlt - wie gewöhnlich schriftlich einzureichen. In diesem Fall kann die schriftliche Anklage dem Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens beigefügt oder ihm nachgereicht werden. 141 Möglich ist auch, daß sie dem Antrag vorausgeht. 142 136 Der wesentliche Anklageinhalt ist wie die Tatsache der mündlichen Anklageerhebung in das Sitzungsprotokoll nach § 273 Abs. 1 StPO aufzunehmen, § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO. 137 Vgl. K/M-G, § 200, Rdnr. 5. 138 OLG Hamburg, StV 2000, 127; LR-Rieß, § 212a, Rdnr. 4, 6; Schwer, Beschleunigtes Verfahren, S. 109; KK3-Treier, § 212a, Rdnr. 3; KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 8. 139 Vgl. §§ 200 Abs. 1 Satz 2, 201 Abs. 1 StPO. 140 So auch Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 159 ff.; AKStPO-Loos, § 418, Rdnr. 12; HK-Krehl, § 418, Rdnr. 3; ähnlich SYStVO-Paeffgen, § 418, Rdnr. 15, sowie Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 87, die die Mitteilung der Beweismittel dringend empfehlen. Gängige Praxis ist es, daß der Antrag den Formerfordernissen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entsprechend gestellt wird und die (mündliche) Anklage dann unter Bezugnahme auf den Antrag erfolgt, vgl. Fezer, ZStW 106 (1994), 10, Fn. 34; LR24-Rieß, § 212a, Rdnr. 3. 141 Umstritten ist, ob ein Antrag, der den Voraussetzungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entspricht, in eine Anklageschrift umgedeutet werden kann. Zwar folgt aus § 418 Abs. 3 StPO, daß der Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens und die Anklage als zwei voneinander zu trennende Prozeßvoraussetzungen anzusehen sind und demnach auch ein schriftlicher Antrag die Anklageschrift grundsätzlich nicht zu ersetzen vermag, vgl. Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 84. Trotzdem erscheint eine strikte Trennung in dieser Konstellation als zu formalistisch, so daß mit der h.M. eine Umdeutungsmöglichkeit anzunehmen ist, vgl. OLG Hamburg, NJW 1966, 2179; K/M-G, §417, Rdnr. 11; AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 8; LR -Rieß, § 212a, Rdnr. 3; a.A. Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 83.

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

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7. Vereinfachte Beweisaufnahme, § 420 StPO Der wesentliche Unterschied zum beschleunigten Verfahren bisheriger Prägung besteht in der Einfügung des § 420 StPO, mit dem nun auch die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren vereinfacht wird. Bislang basierte der Beschleunigungseffekt des Verfahrens allein auf einer Abkürzung des Zwischenverfahrens. Der Ablauf der Hauptverhandlung folgte, abgesehen von der Möglichkeit, zu Beginn der Sitzung mündlich Anklage zu erheben, vollständig den für das Normalverfahren geltenden Vorschriften. Mit den neueingeführten Erleichterungen der Beweisaufnahme erhofft sich der Gesetzgeber, die Hauptverhandlung des beschleunigten Verfahrens straffen und verkürzen zu können, so daß sich das Verfahren insgesamt noch schneller abwickeln läßt. Die einzelnen Vorschriften des § 420 StPO, die praktisch identisch aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht übernommen wurden, 1 4 3 tangieren den Unmittelbarkeitsgrundsatz und das Beweisantragsrecht. Neben den rechtsstaatlichen Bedenken, die ohnehin gegen das beschleunigte Verfahren geäußert werden, 1 4 4 wurde die Vorschrift des § 420 StPO zur zentralen Angriffsfläche der K r i t i k . 1 4 5 Kritisiert wird die Vorschrift nicht nur im Hinblick auf das beschleunigte Verfahren und, ausgehend von der Verweisungsvorschrift des §411 Abs. 2 Satz 2 StPO, bzgl. des Strafbefehlverfahrens. 146 Zur Kritik gehört auch die Befürchtung, daß den neueingeführten Vereinfachungen eine Vorreiterrolle zukommt und hiermit die Erosion des Beweisantragrechts im gesamten amtsgerichtlichen Strafverfahren bevorsteht. 147

142

Dies ist der Fall, wenn der Antrag nach § 417 StPO erst später, vor Eröffnung des Hauptverfahrens, gestellt wird. 143 Vgl. §§ 77 Abs. 1 Satz 1, 77a Abs. 1, 2, 4 Satz 1 OWiG. 144 Vgl. unten II. 145 Vgl. Scheffler, NJW 1994, 2191 ff.; ders., ZRP 1998, 456; Bandisch, StV 1994, 153, 157 f.; Neumann, StV 1994, 273, 276; Hamm, StV 1994, 456, 458; Wächtler, StV 1994, 159, 160 f.; HK-Krehl, Vor § 417, Rdnr. 3; § 420, Rdnr. 1; AKStPO-Loos, Vor § 417, Rdnr. 7 f. 146 Gem. § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO bestimmt sich der Umfang der Beweisaufnahme auch im Verfahren nach Einspruch gegen einen Strafbefehl nach § 420 StPO. 147 Vgl. Scheffler, NJW 1994, 2195; König/Seitz, NStZ 1995, 5; Wächtler, StV 1994, 160; Salditt, Diskussionsbeitrag bei Hürten, AnwBl 1994, 408. Daß diese Annahme nicht unbegründet ist, zeigt der Vorentwurf eines 2. Rechtspflegeentlastungsgesetzes, besprochen bei Freund, ZRP 1995, 270; Bertram, ZRP 1996, 47. In die gleiche Richtung geht ein Dikussionsbeitrag Huber-Stentrups vom 10.02.1995 bei Barth, ZStW 108 (1996), 159. Huber-Stentrup begründet die von ihm befürwortete Beschränkung des formellen Beweisantragrechts schon weniger als drei Monate nach Inkraftsein des Verbrechensbekämpfungsgesetzes damit: „ein allein den Regeln der Amtsaufklärungspflicht unterstelltes Beweisverfahren ist im übrigen unserer

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

a) Verlesungsverfahren

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gem. § 420 Abs. 1-3 StPO

§ 420 StPO statuiert in Abs. 1 und 2 der Vorschrift eine weitere bzw. eine im Hinblick auf die §§ 251 Abs. 2 Satz 1, 256 StPO erweiterte Ausnahme vom Unmittelbarkeitsgrundsatz, § 250 StPO. Die Vorschriften der §§ 251 Abs. 1 Nr. 1-3, Abs. 2 Satz 2, Abs. 3, Abs. 4, 252, 253 StPO bleiben neben der vereinfachten Beweisaufnahme unverändert anwendbar. 148 aa) Verlesung von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Äußerungen gem. § 420 Abs. 1 StPO Nach Abs. 1 der Vorschrift, die wörtlich § 77a Abs. 1 OWiG entspricht, darf die Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten durch die Verlesung von Vernehmungsniederschriften und schriftlichen Erklärungen ersetzt werden. Für die Verlesbarkeit richterlicher Vernehmungsniederschriften ergibt sich damit kein Unterschied zum Normalverfahren, vgl. § 251 Abs. 1 StPO. 1 4 9 Die Verlesung nichtrichterlicher Vernehmungsniederschriften wie die Verlesung schriftlicher Erklärungen ist dagegen im Normalverfahren grundsätzlich 1 5 0 nur dann möglich, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat, vgl. § 251 Abs. 2 Satz 1 StPO. Im beschleunigten Verfahren sind diese Schriftstücke nun gem. § 420 Abs. 1 StPO verlesbar unabhängig davon, ob ein Verteidiger am Verfahren mitwirkt. 1 5 1 Dieser Unterschied zum NormalStrafprozeßordnung nicht fremd - wie die §§ 384 Abs. 3, 411 Abs. 2 Satz 2 und § 420 Abs. 4 StPO zeigen". 148 BT-Drucks. 12/6853, 37. Der Gesetzgeber hielt insofern eine gesetzliche Klarstellung - anders als in § 77a Abs. 4 OWiG - nicht für erforderlich. 149

Richterliche Vernehmungsniederschriften sind ohne Zustimmung der Verfahrensbeteiligten verlesbar, wenn der Vernehmung unüberwindliche oder gravierende Hindernisse entgegenstehen, wie zum Beispiel Tod, Krankheit oder Unzumutbarkeit des Erscheinens wegen großer Entfernung, vgl. § 251 Abs. 1 Nr. 1-3 StPO. Liegen diese Gründe nicht vor, dürfen die Vernehmungsprotokolle verlesen werden, wenn Angeklagter, Staatsanwalt und der Verteidiger (falls ein Verteidiger am Verfahren mitwirkt) der Verlesung zustimmen, § 251 Abs. 1 Nr. 4 StPO. 150 Zusätzlich ist die Verlesung (zustimmungsfrei) zulässig, wenn eine Vernehmung des Zeugen, Sachverständigen oder Mitbeschuldigten wegen seines Todes oder aus einem anderen Grund nicht möglich ist, § 251 Abs. 2 Satz 2 StPO. 151 Umstritten ist, wie sich das nach § 252 StPO bestehende Verwertungsverbot auf das beschleunigte Verfahren auswirkt. Problematisch ist dies insofern, als der Zeugnisverweigerungsberechtigte grundsätzlich in der Hauptverhandlung gem. § 52 Abs. 3 StPO nochmals über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt wird, die Verlesungsmöglichkeit des § 420 Abs. 1 StPO jedoch gerade auf das Erscheinen des Zeugen in der Hauptverhandlung verzichtet. Demnach ist im Rahmen des § 420 4 Kohler

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

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verfahren relativiert sich nur insoweit, als im beschleunigten Verfahren ab einer Straferwartung von sechs Monaten ein Verteidiger mitwirken muß, §418 Abs. 4 StPO, der Fall des unverteidigten Angeklagten also nur bis zu einer Straferwartung von sechs Monaten auftreten kann. Entsprechend den §§251 StPO, 77a Abs. 4 OWiG ist die Verlesbarkeit an die Zustimmung 1 5 2 der anwesenden 153 Verfahrensbeteiligten, d.h. des Abs. 1 StPO fraglich, ob die protokollierte Aussage eines Zeugnisverweigerungsberechtigten nur verlesen werden darf, wenn vorher geklärt ist, ob der Zeugnisverweigerungsberechtigte mit der Verlesung seiner Aussage einverstanden ist. Nach h.M. sollen richterliche Vernehmungsniederschriften ohne Rückfrage verlesen werden können, vgl. K/M-G, § 420, Rdnr. 5; KK OWiG-Senge, § 77a Rdnr. 6 f. Folgt man dieser Auffassung, bliebe § 252 StPO bei richterlichen Vernehmungsniederschriften im beschleunigten Verfahren bedeutungslos. Zweifelhaft ist außerdem, ob sich die Unterscheidung zwischen richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungsniederschriften, die nach h.M. in der Frage relevant ist, inwieweit die nach § 252 StPO unzulässige Verlesung durch die Vernehmung der Verhörsperson ersetzt werden kann, auf die Problematik der Verlesbarkeit nach § 420 Abs. 1 StPO ausdehnen läßt. Im Hinblick auf den Schutzzweck des § 252 StPO und ausgehend davon, daß § 252 StPO nach ausdrücklichem Willen des Gesetzgebers im Rahmen der erweiterten Verlesungsmöglichkeiten unberührt bleiben soll, vgl. BT-Drucks. 12/6853, 36, muß vielmehr daran festgehalten werden, daß auch im beschleunigten Verfahren für die Hauptverhandlung geklärt werden muß, ob der vernommene Zeuge in diesem Fall mit der Verlesung seiner Aussage einverstanden ist. Zwar ist zuzugeben, daß eine Klärung in der Hauptverhandlung ausscheidet, da sonst der Zweck der Verlesungsmöglichkeit leerliefe. An Stelle der Belehrung in der Hauptverhandlung muß deshalb eine formlose Rückfrage zeitnah vor der Hautverhandlung treten, so auch AKStPO-Loös, § 420, Rdnr. 6. Lehnt der Zeugnisverweigerungsberechtigte eine Verlesung ab, bleibt im Rahmen des § 420 Abs. 1 StPO die Frage, inwieweit § 252 StPO die Verlesung der protokollierten Aussage der Verhörsperson sperrt. Im Normalverfahren läßt die h.M. das Verwertungsverbot des § 252 StPO bei richterlichen Verhörspersonen nicht eingreifen und gestattet deren Vernehmung, wenn ein zuvor von ihnen richterlich vernommener Zeugnisverweigerungsberechtigter in der Hauptverhandlung die Aussage verweigert (Voraussetzung ist dabei, daß der das Zeugnis Verweigernde als Zeuge vernommen worden ist, sein Zeugnisverweigerungsrecht bei der Vernehmung bereits existiert hat, er wirksam belehrt worden ist und wirksam auf sein Zeugnisverweigerungsrecht verzichtet hat. Näher zu diesem Streit vgl. Geppert, Jura 1988, 308; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 44, Rdnr. 21; AKStPOMeier, § 252, Rdnr. 11). Geht man von dieser Auffassung aus, muß im Rahmen des § 252 StPO konsequenterweise auch die Verlesung von Urkunden, die eine Erklärung der richterlichen Verhörsperson enthalten, zulässig sein. 152

Die Zustimmung i.S.v. § 420 Abs. 3 StPO richtet sich nach den zu den §§ 251 StPO und 77a Abs. 4 OWiG entwickelten Grundsätzen, vgl. hierzu SKStPOSchliichter, § 251, Rdnr. 19 ff. Die Verlesung wird entsprechend § 251 Abs. 4 Satz 1 StPO vom Gericht durch einen Beschluß angeordnet, vgl. K/M-G, § 420, Rdnr. 8; SKStPO-Paejfgen, § 420, Rdnr. 9. Zweifelhaft ist, inwieweit die Zustimmung - wie im Rahmen von § 251 StPO, § 77a Abs. 4 OWiG anerkannt - auch stillschweigend erteilt werden kann. Ist der Beschuldigte unverteidigt, besteht ohnehin die Gefahr, daß er die Folgen seines Verzichts auf die Vernehmung nicht überblicken kann; in diesem Fall muß deshalb auch die Annahme einer konkludenten

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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Beschuldigten, der Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls seines Verteidigers geknüpft, § 420 Abs. 3 StPO. Der Unterschied zwischen dem beschleunigten Verfahren und dem Normalverfahren besteht hinsichtlich der in den §§ 251, 420 Abs. 1, 3 StPO offerierten Verlesbarkeit im Ergebnis somit darin, daß bis zu einer Straferwartung von sechs Monaten auch bei einem unverteidigten Angeklagten die Verlesung nichtrichterlicher Vernehmungsniederschriften allein mit der Zustimmung der anwesenden Verfahrensbeteiligten möglich ist. bb) Verlesung von Behördenerklärungen gem. § 420 Abs. 2 StPO § 420 Abs. 2 StPO erweitert die Vorschrift des § 256 StPO, wonach im Normalverfahren behördliche Zeugnisse und Gutachten verlesen werden dürfen. Genauso wie im OWi-Verfahren 154 sind im beschleunigten Verfahren nun darüber hinaus sämtliche von Behörden, sonstigen Stellen 1 5 5 oder deren Angehörigen schriftlich verfaßte Erklärungen über dienstliche 156 Wahrnehmungen, Untersuchungen und Erkenntnisse verlesbar. Der Unterschied wirkt sich hauptsächlich dahingehend aus, daß auch behördliche Aktenvermerke, die verfahrensinterne Verwendungszwecke haben, der Verlesung zugänglich werden. 1 5 7 Die Verlesung ist wiederum nach § 420 Abs. 3 StPO zustimmungsbedürftig. Mit der nach § 420 Abs. 3 erforderlichen Zustimmung geht die Vorschrift über die Regelung des § 256 hinaus, der die Verlesung dort unabhängig von einer Zustimmung generell zuläßt.

Zustimmung ausscheiden. Allenfalls das Schweigen eines Angeklagten zur Zustimmung seines Verteidigers läßt sich als (konkludente) Zustimmung werten, so auch AKStPO-Loos, § 420, Rdnr. 12. 153 Die in § 420 Abs. 1 StPO gebrauchte Formulierung „sofern sie anwesend sind" soll klarstellen, daß das Zustimmungsrecht nur besteht, soweit die Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung anwesend sind. Machen der Angeklagte oder sein Verteidiger von ihrem Anwesenheitsrecht keinen Gebrauch, so entfällt damit das Zustimmungserfordernis i.S.v. § 420 Abs. 3 StPO, vgl. BT-Drucks. 12/ 6853, 37. Mit AKStPO-Loas, § 420, Rdnr. 13, ist allerdings zu fordern, daß der Beschuldigte in der Ladung über die Folgen einer Abwesenheit im Hinblick auf § 420 Abs. 1-3 StPO belehrt wird. 154 Vgl. § 77a Abs. 2 OWiG. 155 „Sonstige Stellen" sind Einrichtungen, die zwar nicht zu den Behörden im organisatorischen Sinn zählen, aber ebenfalls Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehmen, vgl. KK OWiG-Senge, § 77a, Rdnr. 12. 156 Ausgeschlossen bleibt damit die Verlesung von Erklärungen über Wahrnehmungen rein privater Natur. 157 Vgl. K/M-G, § 420, Rdnr. 7; Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 149; SKStFO-Paeffgen, § 420, Rdnr. 8. 4*

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

b) Vereinfachte

Ablehnung von Beweisanträgen,

§ 420 Abs. 4 StPO

Neben der erweiterten Verlesungsmöglichkeit sieht § 420 StPO in Abs. 4 eine gegenüber dem Normalverfahren erleichterte Ablehnung von Beweisanträgen v o r . 1 5 8 Während im Normalverfahren Beweisanträge nur in den von § 244 Abs. 3-5 StPO enumerativ aufgezählten Fällen abgelehnt werden können, bestimmt im beschleunigten Verfahren vor dem Strafrichter 159 dieser, unbeschadet des § 244 Abs. 2 StPO, den Umfang der Beweisaufnahme. Die Amtsaufklärungspflicht des Gerichts (§ 244 Abs. 2 StPO) bleibt nach dem Wortlaut der Vorschrift unberührt, so daß das Gericht auch im beschleunigten Verfahren die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Werden Beweisanträge durch den Beschuldigten oder die Staatsanwaltschaft gestellt, so kann der Richter diese, ohne an die Einschränkungen des § 244 Abs. 3-5 StPO gebunden zu sein, schon dann ablehnen, wenn er die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält und aufgrund des bisherigen Beweisergebnisses der Auffassung ist, die weitere Beweiserhebung werde an der bereits vorliegenden Überzeugung des Gerichts nichts ändern. 160 In der Literatur wird die vereinfachte Ablehnung von Beweisanträgen teilweise mit der Abschaffung des Beweisantragsrechts gleichgesetzt. 161 Dieser Vergleich ist insoweit irreführend, als der Beschuldigte im revidierten beschleunigten Verfahren in genau dem gleichen Umfang wie bisher Beweisanträge stellen kann. Durch die vereinfachte Ablehnungsmöglichkeit verlieren Beweisanträge aber ihre formell-verbindliche Wirkung und werden zu bloßen Beweisanregungen. 162 Damit wird dem Beschuldigten ein wichtiges Beteiligungsrecht genommen und das Beweisantragsrecht in 158 § 420 Abs. 4 StPO ist nach dem Vorbild des Privatklageverfahrens, § 384 Abs. 3 StPO, sowie nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG verfaßt worden. Nicht übernommen wurde dagegen § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG, wonach ein Beweisantrag wegen verspäteter Antragstellung abgelehnt werden kann. 159 Im beschleunigten Verfahren vor dem Schöffengericht ist § 420 Abs. 4 StPO nicht anwendbar. Die Beschränkung auf Verfahren vor dem Einzelrichter wurde erst auf Initiative des Vermittlungsausschusses eingefügt, vgl. Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 22. Da beschleunigte Verfahren aufgrund der Zuständigkeitsverteilung zwischen Schöffengericht und Einzelrichter praktisch ausschließlich vor dem Strafrichter durchgeführt werden, vgl. oben I. 2. a), hat die Unterscheidung jedoch kaum Bedeutung. 160 BT-Drucks. 12/6853, 36. 161 Bandisch, StV 1994, 157; Hamm, StV 1994, 458; Schlüchter, Kernwissen Strafprozeßrecht, S. 192; Scheffler, NJ 1999, 113; ähnlich Wächtler, StV 1994, 160, der in diesem Zusammenhang von einer „vollständigen Demontage des Beweisantragrechts" spricht.

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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seiner Funktion entwertet. 163 So wird das Beweisantragsrecht durch § 420 Abs. 4 StPO auf die Reichweite der richterlichen Aufklärungspflicht reduziert und verliert damit seine Eigenschaft als Kontrollmittel gegen eine nicht ausreichend sorgfältig gehandhabte Aufklärungspflicht sowie als Korrektiv einer im Rahmen der Aufklärungspflicht unvermeidbar 164 erfolgenden Beweisantizipation. Dieser Verlust erscheint nicht weniger bedeutsam, weil das beschleunigte Verfahren allein auf einfache und beweisklare Sachverhalte ausgerichtet ist. Je vermeintlich klarer die Beweislage oder je einfacher der Sachverhalt ist, um so weniger wird der Richter an der bereits erfolgten Sachverhaltsfeststellung zweifeln und eine weitere Aufklärung für notwendig erachten. Selbst wenn ihre Anzahl gering sein sollte, wird es gerade auch im Hinblick auf die im beschleunigten Verfahren anzutreffende Verfahrensbeschleunigung - immer auch Fälle geben, in denen die Beweislage verkannt wird. Da die richterliche Aufklärungspflicht dem Beschuldigten in diesen Fällen keinen genügenden Schutz bietet, erscheint es unabdingbar, daß der Beschuldigte mit dem formellen Beweiserhebungsanspruch eine durchsetzbare Möglichkeit hat, Entlastungsbeweise zu führen, um so die richterliche Überzeugung gegebenenfalls zu erschüttern. 165 Die Ablehnung von Beweisanträgen erfolgt wie im Normalverfahren durch begründeten Beschluß. 166 Welche Anforderungen an die Begründung zu stellen sind, wird dabei nicht einheitlich beurteilt. Nach herrschender Literaturansicht soll es in Anlehnung an § 77 Abs. 3 OWiG genügen, daß das Gericht erklärt, eine (weitere) Beweiserhebung sei zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich. 167 In diese Richtung geht auch die Gesetzesbegründung, die in diesem Zusammenhang von einer „kurzen Begründung" spricht. 1 6 8 Um einer mißbräuchlichen Anwendung des § 420 Abs. 4 StPO entgegenzuwirken und das gerichtliche Ermessen (ansatzweise) überprüfbar zu machen, erscheint es jedoch notwendig, daß die Begründung erkennen läßt,

162

So auch HK-Krehl, § 420, Rdnr. 5; Dahs, NJW 1995, 553; Ambos, Jura 1998, 292; Pfeiffer/Fischer, § 420, Rdnr. 1. 163 Weigend, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band II/l, M 30. 164 Vgl. Frister, ZStW 105 (1993), 357; SKStPO-Paejfgen, § 420, Rdnr. 13 ff.; Herdegen, NStZ 1984, 98 f.; Wildmaier, NStZ 1994, 416; Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 120; K/M-G, § 244, Rdnr. 12. 165 Scheffler, ZRP 1998, 456; ders., NJ 1999, 117. 166 OLG Köln, VRS 99 (2001), 64; K/M-G, § 420, Rdnr. 11; KK-Tolksdorf, § 420, Rdnr. 8; Ambos, Jura 1998, 292; KMR-Fezer, § 420, Rdnr. 9; König/Seitz, NStZ 1995, 5; AKStPO-Loos, § 420, Rdnr. 25. 167 K/M-G, § 420, Rdnr. 11; KK-Tolksdorf, § 420, Rdnr. 8; Schlüchter/Fülber/ Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 41. 168 BT-Drucks. 12/6853, 36.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

warum der Sachverhalt so eindeutig geklärt ist, daß eine zusätzliche Beweiserhebung an der Auffassung des Gerichts nichts mehr zu ändern vermag. 1 6 9 8. Rechtsmittelverfahren Gegen ein im beschleunigten Verfahren ergangenes Urteil sind die gewöhnlichen Rechtsmittel - Berufung und Revision - zulässig. Eine Einschränkung der Berufungsmöglichkeit resultiert für das beschleunigte Verfahren jedoch (mittelbar) aus dem Institut der Annahmeberufung, § 313 StPO, das im Zuge des Rechtspflegeentlastungsgesetzes von 1993 für Fälle leichterer Kriminalität eingeführt worden ist. Gem. § 313 Abs. 1 StPO ist die Annahme der Berufung notwendig, wenn der Angeklagte zu einer Geldstrafe von nicht mehr als 15 Tagessätzen, einer entsprechenden Verwarnung mit Strafvorbehalt oder einer Geldbuße verurteilt worden ist. Da das beschleunigte Verfahren speziell ein Verfahren für die kleine bis mittlere Kriminalität darstellt, dürfte sich die Annahmeberufung gerade auch im Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens besonders auswirken. a) Auswirkungen von Rechtsfehlern

im Berufungs- und Revisionsverfahren

In der Rechtsmittelinstanz wird das Vorliegen allgemeiner und besonderer Prozeßvoraussetzungen von Amts wegen geprüft. 1 7 0 Auf das beschleunigte Verfahren bezogen heißt das, daß im Rechtsmittel verfahren z.B. von Amts wegen geprüft wird, ob die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens gestellt hat. Fehlt dieser, ist das Verfahren einzustellen. 171 aa) Fehlerhafte Beurteilung der Eignungsfrage Umstritten ist dagegen, ob auch die Beurteilung der Eignungsfrage dem Rechtsmittelschutz unterliegt. Da es sich bei der Eignungsprognose um eine Ermessensentscheidung handelt, 1 7 2 ergibt sich allein schon aus diesem Grund eine eingeschränkte Überprüfungsmöglichkeit der Rechtsmittelgerichte. Nach herrschender Auffassung soll die gerichtliche Beurteilung der Eignungsfrage jedoch nicht nur auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt sein, die Frage, ob das erstinstanzliche Gericht die Eignungsfrage zutreffend beurteilt hat, soll gänzlich vom Rechtsmittelschutz ausgenommen 169 170 171 172

So auch AKStPO-Löos, § 420, Rdnr. 25; KMR-Fezer, § 420, Rdnr. 9. Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 21, Rdnr. 21, § 53, Rdnr. 55. RGSt 66, 60. Vgl. oben I. 3. und I. 4. a).

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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sein. 1 7 3 Eine Überprüfung der Eignungsprognose kann danach (auf entsprechende Rüge) allenfalls inzident erfolgen, wenn die fehlende Eignung zu einem Verfahrensverstoß, wie zum Beispiel zu einer Verletzung der Amtsaufklärungspflicht oder zu einer unzulässigen Beschränkung der Verteidigung i.S.v. § 338 Nr. 8 StPO geführt hat. 1 7 4 Hat das Gericht trotz fehlender Eignung eine vereinfachte Beweisaufnahme durchgeführt, so liegt außerdem ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz oder gegen § 244 Abs. 3-5 StPO v o r . 1 7 5 Die Gründe für diesen Rechtsmittelausschluß werden in der Literatur nicht diskutiert. Lediglich das OLG Hamburg führt aus, in der Zulassung des beschleunigten Verfahrens durch das Gericht sei eine Vorentscheidung zu sehen, die mit dem Erlaß eines Eröffnungsbeschlusses oder der Anordnung auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu vergleichen sei. Da auch ein hier unterlaufener Fehler keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses bzw. die Anordnung des Gerichts auf Wiederaufnahme des Verfahrens habe, könne auch die mangelnde Eignung einer Sache für das beschleunigte Verfahren diesem nicht die Grundlage entziehen. 176 Diese Auffassung vermag den Rechtsmittelausschluß allerdings insofern nicht überzeugend zu begründen, als sie Wirksamkeit und Anfechtbarkeit gerichtlicher Entscheidungen nicht hinreichend unterscheidet. Insoweit könnte man 173 BayObLGSt 1997, 17; OLG Hamburg, NJW 1966, 128; LR24-Rieß, § 212b, Rdnr. 20; K/M-G, § 419, Rdnr. 12; ¥MR 7-Paulus, § 212a, Rdnr. 24; Eb. Schmitt, Lehrkommentar II, § 212a, Rdnr. 18; HK-Krehl, § 419, Rdnr. 6; AKStPO-Loos, §419, Rdnr. 16; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 113; Göbel, Strafprozeß, S. 246; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 197. In der neueren Rechtsprechung wird die erstinstanzliche Beurteilung der Eignungsfrage von den Rechtsmittelgerichten nunmehr zumindest daraufhin überprüft, ob die u. a. Voraussetzung der Eignung bildende kurze Frist zwischen Antragstellung und Hauptverhandlung nach § 418 Abs. 1 StPO eingehalten worden ist, vgl. OLG Düsseldorf, NStZ 1997, 613 f.; StV 1999, 202 f.; OLG Stuttgart, StV 1998, 585 ff.; StV 1998, 479 f.; OLG Hamburg, NStZ 1999, 266 ff.; StV 2000, 299 ff.; BayObLG, StV 2000, 302. Umstritten ist dabei, ob das bei mangelnder Eignung rechtsfehlerhafte Unterlassen des Ablehnungs- und Eröffnungsbeschlusses gem. §§419 Abs. 1 Satz 1 e contrario, 419 Abs. 2 Satz 1, 419 Abs. 3, Hs. 1 StPO von Amts wegen zu berücksichtigen ist, so OLG Düsseldorf, NStZ 1997, 613; StV 1999, 202 f.; zust. Müller, NStZ 2000, 108, oder nur auf eine entsprechende Verfahrensrüge gem. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, so OLG Stuttgart, StV 1998, 479 f.; StV 1998, 585 ff.; BayObLG, StV 2000, 302; OLG Hamburg, NStZ 1999, 266 ff.; StV 2000, 299 ff. 174 LR24-Rieß, § 212b, Rdnr. 20; Eb. Schmitt, Lehrkommentar II, § 212a, Rdnr. 18; HK-Krehl, § 419, Rdnr. 6; AKStPO-Loos, § 419, Rdnr. 16; Schlüchter/ Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 113; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 197. 175 So auch Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 114. 176 OLG Hamburg, NJW 1966, 1280.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

allenfalls daran denken, in der Zulassung des beschleunigten Verfahrens lediglich die Eröffnung des Hauptverfahrens zu sehen, die auch im Normalverfahren nicht anfechtbar i s t . 1 7 7 Doch ist zu bedenken, daß die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens nicht nur die Einleitung des gerichtlichen Hauptverfahrens bedeutet, sondern daß diese Verfahrensart durch wesentliche Abweichungen zum Normalverfahren charakterisiert ist. Von der Beurteilung der Eignungsfrage hängt die Art der Beweisaufnahme ab, eine beschleunigte Verfahrensführung nach §417 StPO impliziert verkürzte Ladungsfristen und den Wegfall des Zwischenverfahrens. Aus diesem Grund scheint es geboten, auch die Beurteilung der Eignungsfrage unter den allgemeinen Rechtsmittelschutz zu stellen. 178 Folgt man dieser Auffassung, ist die Auslegung von Rechtsfragen, die die Eignung betreffen, vollumfänglich überprüfbar. Abgesehen von Auslegungsfragen unterliegt die richterliche Eignungsprognose einem Beurteilungsspielraum, der zumindest auf seine Vertretbarkeit hin überprüft werden kann. 1 7 9 bb) Überschreitung der Rechtsfolgenkompetenz Nach wie vor ungeklärt ist außerdem, wie sich eine Überschreitung der im beschleunigten Verfahren geltenden Rechtsfolgenkompetenz durch das erstinstanzliche Gericht im Rechtsmittelverfahren auswirkt. Geht man, wie hier vorgeschlagen, davon aus, daß die Einhaltung der Strafrahmengrenze des § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO eine besondere Verfahrensvoraussetzung des beschleunigten Verfahrens, ihre Überschreitung damit ein Verfahrenshindernis darstellt, 180 so ist das angefochtene Urteil in der Berufungsinstanz aufzuheben und an das Amtsgericht zurückzuverweisen. 181 Dieses muß dann nach § 419 Abs. 3 StPO entscheiden: Es kann nach § 419 Abs. 3, Hs. 1 StPO im Wege des vereinfachten Zwischenverfahrens ins Regelver-

177

Vgl. § 210 Abs. 1 StPO. So auch OLG Stuttgart, StV 1998, 585 ff.; OLG Düsseldorf, NStZ 1997, 634 f.; SKStPO-Paeffgen, § 419, Rdnr. 13; KK 3-Treier, § 212a, Rdnr. 8; KK-Tolksdorf,; § 419, Rdnr. 18; Jerusalem, NJW 1966, 1279. 179 So auch OLG Stuttgart, StV 1998, 586; KK-Tolksdorf, § 418, Rdnr. 18; Herzler, NJ 2000, 404. 180 Vgl. oben I. 2. c). 181 OLG Celle, NStZ 1983, 233; OLG Hamm, JR 1978, 121; JMB1NW 1979, 60; SKStPO-Paeffgen, § 419, Rdnr. 14 ff.; K/M-G, § 419, Rdnr. 14; HK-Krehl, § 419, Rdnr. 2; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 201 f. Vor Einführung des § 419 Abs. 3 StPO wurde von den Vertretern dieser Auffassung vielfach eine Verfahrenseinstellung nach den §§ 206a, 260 Abs. 3 StPO befürwortet, vgl. Meyer-Goßner, JR 1978, 122; ders., JR 1984, 76; ders., Jura 1987, 327; LR-Rieß, § 212b, Rdnr. 22. 178

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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fahren überleiten oder aber das beschleunigte Verfahren beibehalten und das Strafmaß reduzieren. Nach der Gegenmeinung, die in § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO lediglich eine Rechtsfolgengrenze für eine bestimmte Verfahrensart sieht, 1 8 2 soll das Berufungsgericht - sofern es eine Strafe innerhalb der Einjahresgrenze für tatund schuldangemessen betrachtet - die Strafe auf das nach § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO erlaubte herabsetzen können. 1 8 3 Hält das Berufungsgericht eine höhere Strafe als ein Jahr Freiheitsstrafe für erforderlich, so ist unter den Vertretern dieser Ansicht umstritten, ob das Gericht das Verfahren einzustell e n 1 8 4 oder ob es auch über den Strafrahmen des beschleunigten Verfahrens hinausgehend auf die von ihm für angemessen erachtete Strafe zu erkennen hat. 1 8 5 Im Revisionsverfahren wird die Einhaltung der im beschleunigten Verfahren geltenden Rechtsfolgengrenze nach der hier vertretenen Ansicht von Amts wegen geprüft. Mit Blick auf § 419 Abs. 3 StPO ist das Verfahren allerdings nicht mehr wie unter den §§ 212 ff. StPO a.F., einzustellen, 186 sondern gem. § 354 Abs. 2, 3 StPO an das Amtsgericht zurückzuverweisen. 1 8 7 Demgegenüber nimmt die Gegenansicht an, die Überschreitung des Strafrahmens sei nur auf eine Verfahrensrüge (§ 344 Abs. 2 StPO) hin beachtlich, was ebenfalls zu einer Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht führe. 1 8 8

182

Vgl. oben I. 2. c), Fn. 43. BGHSt 15, 255; KK 3-Treier, § 212, Rdnr. 6; Treier, NStZ 1983, 234; KMR 7 Paulus, § 212a, Rdnr. 25; KK-Tolksdorf, § 419, Rdnr. 19; Schlüchter/Fülber/ Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 113 f.; KMR-Fezer, §419, Rdnr. 14. 3 184 KK -Treier, § 212b, Rdnr. 6; KMR-Fezer, § 419, Rdnr. 19. 183

185 KK-Tolksdorf, § 419, Rdnr. 19; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 113 f. Vom BGH, BGHSt 15, 255, wird die Frage offengelassen, wie das Berufungsgericht zu verfahren hat, wenn es eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr für angemessen hält. 186 Vgl. Meyer-Goßner, JR 1978, 122; ders., JR 1984, 78; LR-Rieß, § 212b, Rdnr. 22. 187 OLG Celle, NStZ 1983, 233; OLG Hamm, JR 1978, 120; JMB1NW 1979, 59; SKStPO-Paeffgen, § 419, Rdnr. 16 f.; K/M-G, § 419, Rdnr. 15; Ranft, Strafprozeßrecht, § 72 D II (S. 526); Meyer-Goßner, JR 1978, 122; ders., JR 1984, 78; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 202; LR2*-Rieß, § 212b, Rdnr. 22; UK-Krehl, § 419, Rdnr. 2. iss YX?-Treier, § 212b, Rdnr. 6; KMtiC-Paulus, § 212a, Rdnr. 25; Treier, NStZ 1983, 234; Schlüchter/Fülber/Putzke, Herausforderung: Beschleunigtes Verfahren, S. 114; KMR-Fezer, §419, Rdnr. 16. Abweichend: Wagner, JR 1983, 304, nach dem die Überschreitung des im beschleunigten Verfahren zulässigen Strafrahmens mit der Sachrüge angreifbar sein soll.

58

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

b) Vereinfachte

Beweisaufnahme auch in der Berufungsinstanz?

Fraglich ist weiter, inwieweit einzelne Vorschriften des beschleunigten Verfahrens auch im Berufungsverfahren vor dem Landgericht gelten sollen. Solange die Besonderheiten des beschleunigten Verfahrens in einem Wegfall des Zwischenverfahrens, einer verkürzten Ladungsfrist und der Möglichkeit, mündlich Anklage zu erheben, bestanden, war diese Problematik ohne praktische Relevanz: Die Einreichung einer Klageschrift und der Eröffnungsbeschluß i.S.d. §§ 203, 207 StPO sind verfahrenstechnisch auf die erste Instanz limitiert; 24-stündige Ladungsfristen zu Berufungsverhandlungen erscheinen praktisch nicht vorstellbar. Dagegen sind Vereinfachungen der Beweisaufnahme auch in der Berufungsverhandlung möglich, so daß sich die Frage einer Fortgeltung der Vorschriften des beschleunigten Verfahrens in der Berufungsverhandlung mit der Einführung des § 420 StPO neu stellt. Eine Geltung auch im Berufungsverfahren kommt jedoch allenfalls für § 420 Abs. 1, 2 i.V.m. Abs. 3 StPO in Betracht, da § 420 Abs. 4 StPO ausdrücklich auf Verfahren vor dem Strafrichter und damit auf die erste Instanz beschränkt ist. Die § 420 Abs. 1-3 StPO enthalten eine derartige Limitierung nicht. Aus dem Fehlen dieser Beschränkung soll nun mittels Umkehrschlusses folgen, daß die Vereinfachungsregeln des § 420 Abs. 1-3 StPO auch im Berufungsverfahren gelten. 1 8 9 Dahinter steht der Gedanke, daß nicht ohne Überleitungsnorm von einem beschleunigten in ein Regelverfahren übergegangen werden könne. Demnach bleibe ein als beschleunigtes eingeleitetes Verfahren auch in der Berufungsverhandlung als beschleunigtes Verfahren anhängig, für das die Regeln dieses Verfahrens gelten, soweit sie nicht ausdrücklich ausgeschlossen werden. 1 9 0 Unabhängig davon, welche Bedeutung man diesem Argument beimißt, erscheint die Annahme, daß sich § 420 Abs. 1-3 StPO auch ins Berufungsverfahren erstrecken soll, schwer mit der Verteidigungsregelung in § 418 Abs. 4 StPO vereinbar. § 418 Abs. 4 StPO ist dem Wortlaut nach auf das amtsgerichtliche Verfahren beschränkt. Da die notwendige Verteidigung speziell eine sachgerechte Ausübung des Zustimmungsrechtes aus § 420 StPO gewährleisten soll, muß sie aber teleologisch an die Geltung des 189 K/M-G, § 420, Rdnr. 12. Zusätzlich wird in diesem Zusammenhang auf die Vertretungsregelung im Strafbefehlsverfahren, § 411 Abs. 2 Satz 1 StPO, hingewiesen, die nach einhelliger Ansicht ebenfalls ohne ausdrückliche Verweisung in der Berufungsinstanz gelten soll. 190 OLG Oldenburg, JR 1983, 302; Wagner, JR 1983, 304; Meyer-Goßner, JR 1984, 76 f.; K/M-G, § 420, Rdnr. 14; a.A.: OLG Stuttgart, StV 1998, 587; Loos/ Radtke, NStZ 1996, 9, insb. Fn. 90; KK-Tolksdorf, § 419, Rdnr. 19; SKStPO-Paeffgen, § 420, Rdnr. 31, wonach das beschleunigte Verfahren mit Abschluß der ersten Instanz endet und bei Einlegung von Rechtsmitteln in das Regelverfahren übergeht.

I. Gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens

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§ 420 Abs. 1-3 StPO geknüpft sein. Ob man diesem Widerspruch dadurch entgehen kann, daß man die notwendige Verteidigung ebenfalls - wortlautwidrig - in der Berufungsverhandlung anwendet, erscheint kaum mögl i c h . 1 9 1 Daneben spricht auch die Systematik der Berufungsvorschriften, insbesondere § 325 StPO, gegen die ausdehnende Anwendung. 1 9 2 Die Berufung führt zu einer Überprüfung des Urteils sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht. Abgesehen von den Sondervorschriften der §§ 324-326 StPO, folgt die Berufungshauptverhandlung nach § 332 StPO unabhängig davon, ob das erstinstanzliche Verfahren nach den allgemeinen Vorschriften oder nach denjenigen für besondere Verfahrensarten stattgefunden hat - den für die erstinstanzliche Hauptverhandlung geltenden Vorschriften der §§ 226-275 StPO. Demnach richtet sich auch die Beweisaufnahme in der Berufungshauptverhandlung nach der im Normalverfahren geltenden Vorschrift des § 244 Abs. 3-6 StPO und den allein nach Maßgabe des § 325 StPO modifizierten §§ 250 ff. StPO. Hinzukommt, daß die Regelung des § 325 StPO ihrerseits für das Berufungsverfahren eine Einschränkung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes vorsieht. Voraussetzung für die Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes nach § 325 StPO ist, daß die Beweiserhebung in erster Instanz unmittelbar erfolgte. Ließe man eine Anwendung von § 420 StPO über die erste Instanz hinaus zu, so würde dadurch im Widerspruch zu § 325 StPO in beiden Instanzen auf eine unmittelbare Beweiserhebung verzichtet. Vor diesem Hintergrund läßt sich eine Geltung der Vorschriften des § 420 StPO auch in der Berufungsverhandlung zumindest de lege lata nicht annehmen, es hätte hierfür eines ausdrücklichen Verweises bedurft. Diese Annahme läßt sich auch mit Blick auf die Parallelvorschrift aus dem Privatklageverfahren, § 384 Abs. 3 StPO, bestätigen. Für § 384 Abs. 3 StPO steht aufgrund der Gesetzgebungsgeschichte fest, 1 9 3 daß die vereinfachte Beweisaufnahme nur in der ersten Instanz erfolgt. Da § 420 StPO bewußt an die Regelung in § 384 Abs. 3 StPO angelehnt wurde, wäre bei Ausdehnung der vereinfachten Beweisaufnahme in die Berufungsinstanz auch deshalb eine ausdrückliche Regelung zu erwarten gewesen. 194 191

So aber K/M-G, § 418, Rdnr. 15. Vgl. Schlothauer, StV 1995, 47; Loos/Radtke, NStZ 1996, 9. 193 Vgl. hierzu näher Schlothauer, StV 1995, 47. 194 Der Gesetzesbegründung läßt sich zu der Frage, inwieweit die Vorschrift des § 420 StPO auch in der Berufungsinstanz zur Anwendung kommen soll, keine eindeutige Stellungnahme entnehmen. Der hier vertretenen Annahme entspricht jedoch, daß der Gesetzgeber mit der Neuregelung des beschleunigten Verfahrens auf eine Beschleunigung des amtsgerichtlichen Verfahrens hinzielt. Von einer Erstreckung der Regelung der vereinfachten Beweisaufnahme nach § 420 StPO in die Berufungsverhandlung ist in den Gesetzgebungsmaterialien nicht die Rede, vgl. BTDrucks. 12/6853, 41. 192

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Schließlich ist die ausdehnende Auslegung aus rechtsstaatlichen Gründen abzulehnen. So ist davon auszugehen, daß die mit dem beschleunigten Verfahren verbundenen Verfahrensverkürzungen zwangsläufig zu einer erhöhten Fehleranfälligkeit des erstinstanzlichen Urteils führen. Daher muß gewährleistet sein, daß diese Defizite zumindest ansatzweise dadurch kompensiert werden, daß im Berufungsverfahren eine vollständige Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils möglich ist. Die Vorschriften der §§ 417 ff. StPO sind deshalb auf die erste Instanz zu beschränken. 195

II. Rechtsstaatliche Bedenken gegen das beschleunigte Verfahren Das beschleunigte Verfahren unterliegt seit jeher erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken. Die Literatur stand ihm deshalb überwiegend skeptisch bis ablehnend gegenüber. 196 Schon der grundsätzliche Ansatz eines verkürzten, vom Regelverfahren abweichenden Strafverfahrens wurde für falsch erachtet. Die Regeln des Normalverfahrens seien wohlüberlegt, 197 so daß jede Abweichung hiervon eo ipso suspekt erscheinen müsse. 198 Auch wurde darauf hingewiesen, daß friedensstiftende Urteile nur in einer Atmosphäre ruhiger Gelassenheit gedeihen könnten. 1 9 9 Seitdem mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz eine Intensivierung des beschleunigten Verfahrens angegangen worden ist, sind von Seiten der Praktiker erstmals auch positive Stimmen über das beschleunigte Verfahren zu hören. 2 0 0 In der Literatur

195

OLG Hamburg, NStZ 1999, 267; StV 2000, 301; OLG Stuttgart, StV 1998, 587; OLG Köln, VRS 99 (2001), 65; Hohendorf,\ StV 1995, 47; Schlothauer, StV 1995, 47; Tiemer, Die Verteidigerbestellung im beschleunigten Verfahren, S. 19, 80; AKStPO-Looy, § 420, Rdnr. 27 f.; SKStPO-Paeffgen, § 420, Rdnr. 31; HK-Krehl, § 420, Rdnr. 6; Loos/Radtke, NStZ 1996, 9. 196 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 59, Rdnr. 1; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 8; Rieß, in: Schreiber, Strafprozeß und Reform, S. 129; Schünemann, NJW 1968, 975 f.; Dahn, Baumann-FS, S. 357; Lehmann, DRiZ 1970, 287, 289; Herzog, ZRP 1991, 125 ff.; Peters, Strafprozeß, § 63 I (S. 567); Siegert, GerS 102 (1932), 31 ff. A.A. Schmitt, ZStW 89 (1977), 648, sowie Baumann, Klug-FS, S. 462, die sich schon nach altem Recht für eine vermehrte Verwendung des beschleunigten Verfahrens aussprachen. Ähnlich Schlüchter, GA 1995, 399, nach der das beschleunigte Verfahren keinesfalls nur negativ zu beurteilen ist. 197 K/M-G, Vor § 417, Rdnr. 3. 198 LR23-Meyer-Goßner, Vor § 198, Rdnr. 16; Scheffler, NJW 1994, 2191. 199 Roxin, zit. nach Schünemann, NJW 1968, 976. Von Herzog, ZRP 1991, 126, wurde das beschleunigte Verfahren als eine „Verfahrensweise des Feindstrafrechts" bezeichnet; Lehmann, DRiZ 1970, 287, zog Vergleiche mit einer „Husarenjustiz'4. 200 Vgl. z.B. Lemke/Rothstein-Schubert, ZRP 1997, 490 ff.; König/Seitz, NStZ 1995, 4; Pofalla, AnwBl 1996, 466.

II. Rechtsstaatliche Bedenken gegen das beschleunigte Verfahren

61

haben sich die Bedenken gegen diese Verfahrensart seither eher noch verstärkt. 201 Zusammengefaßt erwachsen gegen das beschleunigte Verfahren Bedenken, weil es erhebliche Gefahren für die Wahrheitsfindung und die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten beinhaltet. 202 Mit dem Verzicht auf das Zwischenverfahren, in dem die Zulässigkeit und Notwendigkeit einer weiteren Strafverfolgung durch einen unabhängigen Richter überprüft w i r d , 2 0 3 entfällt ein wesentliches Kontrollelement zugunsten des Beschuldigten. Somit ist es leicht möglich, daß die Hauptverhandlung nicht ausreichend sorgfältig vorbereitet und der Beschuldigte vorschnell mit einer Hauptverhandlung überzogen wird. Durch die Auslassung des Zwischenverfahrens verkürzt sich außerdem die Gewährung rechtlichen Gehörs. Da mit dem Zwischenverfahren auch die §§ 201, 202 StPO entfallen, wird dem Beschuldigten die Möglichkeit abgeschnitten, nach Mitteilung der Anklageschrift durch Beweisanträge und Einwendungen Einfluß auf die Eröffnung des Hauptverfahrens zu nehmen. Nachteilig auf das Verteidigungsrecht des Beschuldigten wirkt sich außerdem die kurzfristige Anberaumung der Hauptverhandlung aus. Die verkürzte Ladungsfrist bzw. der Verzicht auf die Ladung ist nicht ohne weiteres mit Art. 6 Abs. 3b EMRK vereinbar: 204 Art. 6 Abs. 3b EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten, dem Beschuldigten ausreichend Zeit und Gelegenheit zu geben, seine Verteidigung vorzubereiten. Wieviel Zeit dies im Einzelfall erfordert, läßt sich nicht pauschal festlegen, sondern muß gemäß den jeweiligen Umständen beurteilt werden. 205 Der Beschuldigte 201

Vgl. Scheffler, NJW 1994, 2195; Ambos, Jura 1998, 291 f.; Fezer, ZStW 106 (1994), 14 f.; Loos/Radtke, NStZ 1996, 11; Weigend, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band I I / l , M 22; Wächtler, StV 1994, 160; Bandisch, StV 1994, 157; Hamm, StV 1994, 458; Neumann, StV 1994, 275 f.; Schlothauer, StV 1995, 46; HK-Krehl, Vor § 417, Rdnr. 3; AKStPO-Loos, Vor § 417, Rdnr. 6 f.; SKStPO-Paejfgen, Vor § 417, Rdnr. 4; K/M-G, Vor § 417, Rdnr. 3; KMR-Fezer, Vor § 417, Rdnr. 7. 202 Loos/Radtke, NStZ 1996, 11; Fezer, ZStW 106 (1994), 14; HK-Krehl, Vor § 417, Rdnr. 3; SKStPO-Paeffgen, Vor § 417, Rdnr. 7; Rieß, in: Schreiber, Strafprozeß und Reform, S. 129; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 8; Peters, Strafprozeß, § 63 I (S. 576). 203 Zum Zweck des Zwischenverfahrens, vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 40, Rdnr. 2 ff. 204 Fezer, ZStW 106 (1994), 14; Schmitt, ZStW 89 (1977), 645 f.; Dähn, Baumann-FS, S. 856; Dünnebier, GA 1959, 273; AKStPO-Loos, Vor § 417, Rdnr. 6; KMR-Fezer, Vor § 417, Rdnr. 7; LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 7; Wächtler, StV 1994, 160; Bandisch, StV 1994, 158; Schünemann, NJW 1968, 975; KMR-Fezer, Vor § 417, Rdnr. 7; AKStPO-Loay, Vor § 417, Rdnr. 6; Loos/Radtke, NStZ 1995, 573; dies., NStZ 1996, 11; Herzog, ZRP 1991, 126.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

muß jedenfalls den Tatvorwurf kennen, und er muß überlegen können, wie er auf den Tatvorwurf reagiert. Auch muß er Zeit erhalten, um sich nach einem Verteidiger umzusehen und um mit diesem seine Verteidigungsstrategie zu erörtern. Der Verteidiger wiederum benötigt seinerseits eine gewisse Zeit, um sich in die Strafsache einzuarbeiten. Ein Zeitraum von nur 24 Stunden, auf den die Ladungsfrist im beschleunigten Verfahren verkürzt ist, § 418 Abs. 2 Satz 3 StPO, wird hierfür selbst in unproblematischen Fällen kaum genügen. 206 Noch gravierender wird das Verteidigungsrecht des Beschuldigten beschnitten, wenn der Beschuldigte wie nach § 418 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 StPO ebenfalls möglich direkt nach der Festnahme dem Gericht zur Verhandlung vorgeführt wird. In diesem Fall hat der Beschuldigte nicht einmal die Chance, den Schock der Festnahme zu verarbeiten, geschweige denn, daß er ausreichend Zeit erhält, sich auf den Tatvorwurf einzustellen und seine Verteidigung vorzubereiten. Insgesamt gesehen kann der Beschuldigte eigentlich nur überrumpelt werden, wenn die nach dem Gesetz mögliche Beschleunigung ausgeschöpft wird. Sein Anspruch auf ein faires Verfahren und sein Recht auf wirksame Verteidigung sind in diesem Fall massiv verletzt. Eine Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten wird auch darin gesehen, daß der Beschuldigte wegen der Möglichkeit einer mündlichen Anklage unter Umständen erst zu Beginn der Hauptverhandlung erfährt, was ihm vorgeworfen wird und wogegen er sich zu verteidigen hat. 2 0 7 Zwar ist richtig, daß der Beschuldigte nicht, wie im Normal verfahren durch § 201 StPO vorgesehen, die Anklageschrift zugesandt erhält. Aber auch für das beschleunigte Verfahren ist anerkannt, daß die gegebenenfalls erfolgende Ladung den Tatvorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht enthalten muß, vgl. § 418 Abs. 2 Satz 2 StPO. 2 0 8 Wird der Beschuldigte nicht geladen, sondern zur Hauptverhandlung vorgeführt, so erfährt er den Tatvorwurf entweder aus der Verkündung des Haftbefehls, von dem er dann auch eine Abschrift erhält, vgl. die §§ 114, 114a StPO oder - falls er unmittelbar nach der Festnahme dem Gericht zur Entscheidung vorgeführt wird - aus der polizeilichen Vernehmung, vgl. § 163a Abs. 1, 4 Satz 1 StPO. Demnach erscheint auch für das beschleunigte Verfahren kein Fall denkbar, in dem 205

Vgl. Spartiol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 91 ff. Schünemann, NJW 1968, 976, sowie Dünnebier, GA 1959, 273, halten für eine wirksame Verteidigung beispielsweise den Zeitraum von einer Woche für erforderlich; nach Tiemer, Verteidigerbestellung im beschleunigten Verfahren, S. 131, sind drei Tage ausreichend. 207 Vgl. Scheffler, NJW 1994, 2193; Wächtler, StV 1994, 160; Herzog, ZRP 1991, 127; Ambos, Jura 1998, 292; vgl. außerdem Dünnebier, GA 1959, 279. 208 Vgl. oben I. 4. c). 206

II. Rechtsstaatliche Bedenken gegen das beschleunigte Verfahren

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der Beschuldigte erst in der Hauptverhandlung mit dem gegen ihn erhobenen Tatvorwurf konfrontiert wird. Die rechtsstaatlichen Einbußen, die von dem Verzicht auf die Anklageschrift und ihrer Zustellung an den Beschuldigten ausgehen, erscheinen somit weit weniger schwerwiegend als der massive Eingriff in das Verteidigungsrecht des Beschuldigten, der aus der kurzfristigen Anberaumung der Hauptverhandlung resultiert. Bedenklicher als der Verzicht auf die Mitteilung der Anklageschrift erscheint in diesem Zusammenhang auch der Umstand, daß einem Untersuchungshäftling (mangels Erforderlichkeit der Ladung) nicht mitgeteilt werden muß, wann seine Hauptverhandlung stattfindet. 209 Die psychischen Belastungen, die ohnehin für jeden Betroffenen von der Untersuchungshaft ausgehen, 210 werden in diesem Fall durch die Unsicherheit über den Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch verstärkt. Mit der Neufassung des beschleunigten Verfahrens werden die Risiken für die Wahrheitsfindung und die Verteidigungsmöglichkeiten gegenüber dem Verfahren nach der alten Fassung noch verschärft. 211 Die Einschränkungen der Beweisaufnahme und die erweiterten Verlesungsmöglichkeiten bedeuten einen weiteren Abbau von Verteidigungsrechten, der um so bedenklicher erscheint, als die Wahrscheinlichkeit einer unzureichenden oder fehlerhaften Sachverhaltsaufklärung im beschleunigten Verfahren größer als im Normalverfahren ist. Dies zum einen, weil das Zwischenverfahren entfällt; zum anderen dürfte nicht selten auch das polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Vorverfahren weniger gründlich durchgeführt werden. Denn auch wenn das Ermittlungsverfahren im beschleunigten Verfahren formal nicht vom Normalverfahren abweicht, läßt die dem Verfahren immanente Zielsetzung, der Tat möglichst auf dem Fuße ihre Strafe folgen zu lassen, erwarten, daß auch das Ermittlungsverfahren sehr zügig abgewickelt w i r d . 2 1 2 Das Risiko für die Wahrheitsfindung, das aus den erweiterten Verlesungsmöglichkeiten gem. § 420 Abs. 1 u. 2 StPO resultiert, soll durch ein Zustimmungserfordernis ausgeglichen werden, § 420 Abs. 3 StPO. Ob das Zustimmungserfordernis die mit der Vorschrift einhergehenden Garantieverluste zu kompensieren vermag, darf bezweifelt werden. Ist der Beschuldigte unverteidigt, bleibt die Frage, ob er die Folgen seiner Zustimmung für den weiteren Verfahrensgang beurteilen kann. 2 1 3 Bislang deutet alles darauf hin, daß vom beschleunigten Verfahren in erster Linie Beschuldigte überzogen 209

Vgl. Scheffler, NJW 1994, 2193. Vgl. unten III. 3. a), Fn. 292. 211 Vgl. Wächtler, StV 1994, 160; Bandisch, StV 1994, 157; Hamm, StV 1994, 458; Neumann, StV 1994, 275 f.; UK-Krehl, § 417, Rdnr. 3, § 420, Rdnr. 5; Ambos, Jura 1998, 291 f.; Loos/Radtke, NStZ 1996, 11; K/M-G, § 420, Rdnr. 3. 212 So auch Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 145; Loos/ Radtke, NStZ 1996, 11. 210

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

werden, die einer sozial benachteiligten Schicht angehören. 214 Dieser Personengruppe dürfte die Wahrnehmung ihrer Interessen vor Gericht aus unterschiedlichen Gründen ohnehin schwerfallen, so daß kaum erwartet werden kann, daß sie ohne fremde Hilfe die Zusammenhänge der Verlesungsmöglichkeiten und die Tragweite ihrer Zustimmung nach § 420 Abs. 3 StPO übersehen können. Selbst eine sehr sorgfältig gehandhabte Belehrungspflicht scheint diese Defizite nicht ohne weiteres ausgleichen zu können. Außerdem besteht die Gefahr, daß der Beschuldigte aus Zeitgründen oder aus Bequemlichkeit von Seiten des Gerichts zu einer voreiligen Zustimmung gedrängt w i r d . 2 1 5 Hat der Beschuldigte einen Verteidiger, bestehen in dieser Hinsicht keine Bedenken. Die Zustimmungsbedürftigkeit der Verlesung könnte bei einem verteidigten Beschuldigten allenfalls die Möglichkeit eines „ausgedealten Urteils" eröffnen. 216 Eine herausragende Bedeutung dürften die Verlesungsmöglichkeiten des § 420 StPO in der Absprachenpraxis allerdings nicht erlangen. Gegen das beschleunigte Verfahren spricht außerdem, daß es keine Zeit läßt, die für spezialpräventive Aspekte notwendigen Kenntnisse über Tathintergründe und die Täterpersönlichkeit zu erforschen. Somit besteht die Gefahr, daß die Strafzumessung einseitig von generalpräventiven Elementen beherrscht w i r d . 2 1 7 Daraus resultiert eine gewisse Mißbrauchsgefahr des Verfahrens, die im beschleunigten Verfahren aufgrund der wenig präzisen 218 AnwendungsVoraussetzungen nur mangelhaft gebannt ist. Die Eignungsklausel, die Voraussetzung des einfachen Sachverhalts und der Möglichkeit sofortiger Verhandlung sind allesamt unbestimmte Rechtsbegriffe und eröffnen einen weiten Beurteilungsspielraum. Hinzukommt, daß der Beschuldigte keinerlei Einfluß auf die Durchführung des beschleunigten Verfahrens nehmen kann: Der Beschuldigte hat weder die Möglichkeit, das Verfahren abzulehnen, d.h. dem Strafbefehlsverfahren vergleichbar einen Übergang ins Regelver213

Zweifelnd auch: Scheffler, NJW 1994, 2195; Loos/Radtke, NStZ 1996, 11; Ambos, Jura 1998, 292; Neumann, StV 1994, 276; Bandisch, StV 1994, 157; Bürgte, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 151. 214 So auch Herzog, ZRP 1991, 126; Wächtler, StV 1994, 160; Loos/Radtke, NStZ 1996, 12; Scheffler, NJW 1994, 2195; Fezer, ZStW 106 (1994), 13 f. 215 So auch Scheffler, NJW 1994, 2195. 216 So auch Ambos, Jura 1998, 292; Loos/Radtke, NStZ 1996, 12; Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 152. 217 Schünemann, NJW 1968, 975; Herzog, ZRP 1991, 129; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 59, Rdnr. 1; Peters, Strafprozeß, § 63 I (S. 566); Ranft, Strafprozeßrecht, S. 525; AKStPO-Loos, § 417, Rdnr. 12; Schlächter, Das Strafverfahren, Rdnr. 779.3; Ambos, Jura 1998, 291; Scheffler, NJW 1994, 2192. 218 LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 7; SKStPO-Paeffgen, § 417, Rdnr. 9; Lehmann, DRiZ 1970, 289; Herzog, ZRP 1991, 127.

II. Rechtsstaatliche Bedenken gegen das beschleunigte Verfahren

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fahren zu erzwingen, noch kann er die Durchführung des beschleunigten Verfahrens mit einer Beschwerde angreifen oder die Einhaltung einer angemessenen Ladungsfrist verlangen. 219 Da die Rechtmäßigkeit der Einleitung und Durchführung eines beschleunigten Verfahrens auch in der Rechtsmittelinstanz nur beschränkt überprüft werden kann, 2 2 0 ist einer mißbräuchlichen Anwendung Tür und Tor geöffnet. Das beschleunigte Verfahren kann leicht als „präventiv-polizeiliche Drohgebärde" 221 gegen bestimmte Kriminalitätsbereiche, ja bis hin zur Waffe gegen politisch Andersdenkende 222 mißbraucht oder als Demonstration wirksamer Verbrechensbekämpfung in Zeiten politischer oder wirtschaftlicher Unruhe eingesetzt werden. 223 So konnte in der Vergangenheit wiederholt beobachtet werden, wie das beschleunigte Verfahren bevorzugt gegen Straftaten mit politischem Hintergrund eingesetzt wurde, um mit einem kurzen Prozeß eine besonders generalpräventive Wirkung zu erzielen. 224 Ferner ist zu fragen, ob die Strafrahmengrenze des Verfahrens, die auch die Verhängung zu vollziehender Freiheitsstrafen zuläßt, mit der Anwendungsvoraussetzung des einfachen Sachverhalts überhaupt in Einklang gebracht werden kann. 2 2 5 Werden die Grundsätze des modernen Strafrechts ernstgenommen, muß jeder ausgesprochenen Freiheitsstrafe eine eingehende Beschäftigung mit der Täterpersönlichkeit vorausgehen. Ausgehend von den erforderlichen Ermittlungen der Strafzumessungstatsachen, insbesondere der nach § 56 Abs. 1 StGB erforderlichen Prognoseentscheidung 226, kann ein Sachverhalt deshalb niemals einfach sein, wenn eine Freiheitsstrafe zu erwarten ist. 219

Vgl. oben I. 3. und I. 4. a). Vgl. oben I. 8. a) aa). 221 LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 8. 222 Ambos, Jura 1998, 291. 223 Vgl. LR24-Rieß, § 212, Rdnr. 8; Herzog, ZRP 1991, 126. 224 So wurde der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens während der Weimarer Republik und während der Jahre des Nationalsozialismus in zahlreichen Verordnungen sehr stark ausgeweitet und das Verfahren (vornehmlich) zur Bekämpfung politischer Gegner eingesetzt.224 In den von den Studentenunruhen geprägten 60er Jahren wurde mit dem beschleunigten Verfahren vielfach gegen Demonstranten vorgegangen. Die in diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Fälle waren zumeist durch eine extrem kurze Zeitspanne zwischen Tatbegehung und Beginn der Hauptverhandlung sowie durch die Verhängung hoher Strafen gekennzeichnet, vgl. hierzu die Beispiele bei Lehmann, DRiZ 1970, 287; Skriver, ZRP 1968, 33; Schünemann, NJW 1968, 975 f.; Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 10 ff.; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 36 f.; Fezer, ZStW 106 (1994), 15. 225 Loos/Radtke, NStZ 1996, 9; Ambos, Jura 1998, 291; Fezer, ZStW 106 (1994), 14; SKStPO-Paeffgen, Vor § 417, Rdnr. 5, § 417, Rdnr. 15. 226 Zu Inhalt und Anforderungen der Prognose vgl. Sch/Sch-Siree, § 56, Rdnr. 18 ff. 220

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III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2 StPO Um die Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung zu sichern, wird das beschleunigte Verfahren seit Juli 1997 durch die sog. Hauptverhandlungshaft in § 127b StPO ergänzt. In der Begründung des Gesetzesentwurfs beklagen die Urheber erneut 2 2 7 , daß Staatsanwaltschaften und Gerichte in nur geringem Umfang von dem beschleunigten Verfahren Gebrauch machten. 228 Den Grund der immer noch nicht stattfindenden Aktivierung sehen die Entwurfsverfasser nun in dem geltenden Haftrecht: Der zunächst Festgenommene könne sich leicht der Hauptverhandlung entziehen, da er wieder freigelassen werden müsse, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorlägen. Da das beschleunigte Verfahren aber in der Praxis nur greifen könne, wenn die Anwesenheit des Beschuldigten sichergestellt sei, sei es notwendig, das Verfahren nach den §§ 417 ff. StPO durch ein verschärftes Haft- und Festnahmerecht zu ergänzen. Insbesondere gegen reisende Straftäter stelle die geplante Hauptverhandlungshaft ein wirksames Mittel dar - eine unmittelbar auf die Tat folgende Konfrontation des Täters mit den strafrechtlichen Folgen beinhalte insoweit eine erhebliche erzieherische und abschreckende Wirkung. 2 2 9 Über das beschleunigte Verfahren hinaus soll die neue Regelung Staatsanwaltschaften und Gerichte veranlassen, insgesamt auf eine möglichst zügige Anberaumung der Hauptverhandlung zu achten. 230 Die Idee der Hauptverhandlungshaft ist nicht neu. § 127b StPO findet sich gleichlautend schon im Entwurf zum Verbrechensbekämpfungsgesetz. 2 3 1 Ihre Einführung scheiterte am Widerstand der damaligen Oppositionsparteien 232 sowie an der breiten Ablehnung in Wissenschaft und Praxis. 233 A l l dies hinderte die Regierungsparteien nicht, schon ein Jahr später exakt den gleichen Änderungsvorschlag, diesmal isoliert vorzulegen. 2 3 4 Zwar wurde die vorgeschlagene Hauptverhandlungshaft auch im 227

Vgl. BT-Drucks. 12/6853, 34. BT-Drucks. 13/2576, 3. 229 BT-Drucks. 13/2576, 3; vgl. außerdem: Geis, Erklärung zu den Ergebnissen der Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuß zum Gesetzesentwurf der Hauptverhandlungshaft v. 18.06.1996, www.cducsu.bundestag.de/texte/geis8.htm; zustimmend auch Ρ of alla, AnwBl 1996, 466. 228

230

BT-Drucks. 13/2576, 3. Vgl. BT-Drucks. 12/6853, 10 (Art. 4 Nr. 5). 232 Vgl. BT-Drucks. 12/7872. 233 Neumann, StV 1994, 276; Bandisch, StV 1994, 156; Scheffler, NJW 1994, 2191; Wächtler, StV 1994, 160; Dünkel, StV 1994, 617. Vgl. hierzu die Kritik zum 2. Gesetzesentwurf bei Hartenbach, AnwBl 1996, 83 f., und Asbrock, StV 1997, 43 ff. 231

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2 StPO

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zweiten Anlauf zunächst im Bundesrat gestoppt und an den Vermittlungsausschuß überwiesen, 235 der wiederum mit ablehnender Stellungnahme 236 reagierte. Da § 127b StPO ohne das 1994 verabschiedete Gesetzespaket nicht von der Zustimmung des Bundesrates abhing, ließ sich die geplante Hauptverhandlungshaft nun gegen den Willen des Bundesrates 237 durchsetzen. Nachdem der Bundestag den Einspruch des Bundesrates am 12.06.1997 zurückgewiesen hatte, 2 3 8 trat die Hauptverhandlungshaft am 24.07.1997 in Kraft. 1. Inhalt des § 127b StPO Die Vorschrift des § 127b StPO hat die Einführung eines vorläufigen Festnahmerechts und eines neuen Haftgrundes zur Sicherung der Hauptverhandlung im beschleunigte Verfahren zum Gegenstand. Nach § 127b Abs. 1 StPO kann der auf frischer Tat Betroffene oder Verfolgte auch dann vorläufig festgenommen werden, wenn 1. eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren wahrscheinlich ist und 2. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, der Festgenommene werde der Hauptverhandlung fernbleiben. Liegen diese Voraussetzungen vor, darf gegen einen der Tat dringend Verdächtigen auf Antrag der Staatsanwaltschaft dann ein Haftbefehl ergehen, wenn die Durchführung der Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren binnen einer Woche nach der Festnahme zu erwarten ist, § 127b Abs. 2 Satz 1 StPO. Der Haftbefehl ist nach § 127b Abs. 2 Satz 2 StPO auf höchstens eine Woche ab dem Tag der Festnahme zu befristen. Über den Erlaß des Haftbefehls soll der für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens zuständige Richter entscheiden, § 127b Abs. 3 StPO. Die besondere Zuständigkeitsregelung des § 127b Abs. 3 StPO, die § 34 Abs. 2 Satz 1 JGG nachgebildet ist, wird in der Gesetzesbegründung 239 mit der besonderen Eilbedürftigkeit der im beschleunigten Verfahren verhandelten Fälle und der Sachnähe des in der Hauptverhandlung entscheidenden Richters begründet. Der aktuellen rechtstatsächlichen Situation des be234

Auch hier trifft die Beobachtung zu, daß spätere Gesetzesvorhaben frühere Projekte, die aufgrund rechtsstaatlicher Bedenken umstritten und deshalb gescheitert waren, zu einem späteren Zeitpunkt (nachdem die Kritikwelle erst einmal abgeflaut ist) wieder aufgreifen und schließlich durchsetzen, vgl. Rieß, NStZ 1994, 412. 235 Vgl. BT-Drucks. 13/6084. 236 Vgl. BT-Drucks. 13/6134. Vgl. schon BT-Drucks. 12/7837, 2. 237 Vgl. BT-Drucks. 13/6630. 238 Der Einspruch wurde mit der „Kanzlermehrheit" (342 gegen 317) Stimmen zurückgewiesen. 239 BT-Drucks. 13/2576, 3. *

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

schleunigten Verfahrens dürften diese Zuständigkeitsvorgaben dagegen insgesamt eher zuwiderlaufen. 240 So werden für die Durchführung des beschleunigten Verfahrens oftmals keine ausschließlichen Zuständigkeiten eines oder mehrerer Strafrichter begründet, die anfallenden beschleunigten Verfahren werden vielmehr im Rahmen des haftrichterlichen Bereitschaftsdienstes oder zwischen den einzelnen Richtern im Wechsel durchgeführt. 241 Innerhalb der beiden letzten Organisationsformen dürfte sich die geforderte Identität des über die Hauptverhandlungshaft und des in der Sache entscheidenden Richters nur schwer realisieren lassen. Folgt man der gesetzgeberischen Auslegung, wonach von der Sollvorschrift nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf, 2 4 2 müßten die organisatorischen Rahmenbedingungen des beschleunigten Verfahrens vielfach neu gestaltet werden. Abgesehen von der abweichenden Zuständigkeitsbestimmung, § 127b Abs. 3 StPO, und der zeitlichen Limitierung, § 127b Abs. 2 Satz 2 StPO, gelten für den Erlaß, die Vollstreckung und den Vollzug der Hauptverhandlungshaft die allgemeinen Vorschriften, insbesondere die §§112 Abs. 1 Satz 2, 114, 116 StPO sowie die gegen Haftbefehle gerichteten Rechtsbehelfe (Haftprüfung, Haftbeschwerde). 243 Systematisch wäre es deshalb besser gewesen, das vorläufige Festnahmerecht dem § 127 StPO und den neuen Haftgrund den §§ 112 ff. StPO anzufügen. 2. Anwendungsbereich des erweiterten Festnahme- und Haftrechts Mit den Begriffen „eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten" 2 4 4 wie der Voraussetzung des dringenden Tatverdachts 245 knüpft der neueingeführte Tatbestand zunächst an altbekannte Begriffe des Festnahme- und Haftrechts in § 127 StPO bzw. § 112 StPO an. 240

Kritisch auch HKl-Lemke, § 127b, Rdnr. 16 f. Vgl. unten IV. 4. a) bb). 242 BT-Drucks. 13/2576, 3. 243 BT-Drucks. 13/2576, 3. 244 § 127b Abs. 1 StPO. Zum Tatbestandsmerkmal des auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten, vgl. K/M-G, § 127, Rdnr. 5 f.; SKStPO-Paejfgen, § 127, Rdnr. 4. 245 § 127b Abs. 2 Satz 1 StPO. Dringender Tatverdacht ist nach Literatur und Rechtsprechung gegeben, wenn nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis eine große Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat begangen hat, vgl. BGH, NJW 1992, 1976; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 3; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 159 (S. 114); Pfeiffer/ Fischer, § 112, Rdnr. 2; Peters, Strafprozeß, § 47 Α Π a (S. 420); SKStPO-Paeffgen, §112, Rdnr. 4. Sachlich übereinstimmend fordern Roxin , Strafverfahrensrecht, § 30, Rdnr. 6, und LR24-Wendisch, § 112 Rdnr. 22, einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. 241

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2 StPO

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a) Wahrscheinlichkeit einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren, § 127b Abs. 1 Nr. 7, Abs. 2 Satz 1 StPO Voraussetzung der Festnahme ist nach § 127b Abs. 1 Nr. 1 StPO sowie über den Verweis nach § 127b Abs. 2 Satz 1 StPO für den Erlaß des Haftbefehls, daß eine unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren wahrscheinlich ist. Der Anwendungsbereich der neuen Regelung ist damit von vornherein auf das Verfahren nach §§ 417 ff. StPO beschränkt; sowohl die Festnahme als auch der Erlaß des Haftbefehls nach § 127b StPO können nur in Verbindung mit einem beschleunigten Verfahren erfolgen. Entgegen der sonstigen Systematik hat der Gesetzgeber erstmals ein Haft- und Festnahmerecht speziell für einen bestimmten Verfahrenstyp entwickelt, d. h. für einfache, beweisklare Fälle, die im äußersten Fall eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe aufweisen. Ein auf ein beschleunigtes Verfahren beschränktes Haftrecht ist somit ganz klar ein gesondertes Haftrecht für Massendelikte aus dem Bereich der kleinen oder mittleren Kriminalität. Gleichzeitig fällt auf, daß mit der Regelung des § 127b StPO erstmals auch das Ermittlungsverfahren im beschleunigten Verfahren einer zeitlichen Beschränkung unterworfen ist. Die gesetzliche Regelung des Verfahrens in den §§ 417^120 StPO bezieht sich allein auf die Zeitspanne zwischen Antragstellung und Hauptverhandlungstermin, während sie das Ermittlungsverfahren unberührt läßt, vgl. § 418 Abs. 1 StPO. Der Begriff der Unverzüglichkeit in § 127b Abs. 1 Nr. 1 StPO ist dabei in Verbindung mit Abs. 2 der Vorschrift zu sehen. Eine unverzügliche Entscheidung bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Hauptverhandlung innerhalb einer Woche 2 4 6 ab Festnahme stattfinden muß. 2 4 7 Bei der Frage nach der Wahrscheinlichkeit einer unverzüglichen Entscheidung im beschleunigten Verfahren handelt es sich um eine Prognoseentscheidung. Diese ist nicht nur vom Vorliegen der gesetzlichen Anwendungsvoraussetzungen der §§ 417, 419 StPO abhängig, sondern auch von der rechtstatsächlichen Situation des beschleunigten Verfahrens an dem jeweiligen Amtsgericht. Das bedeutet aber, daß die Anwendung der Hauptverhandlungshaft zu einem wesentlichen Teil von den geschaffenen oder fehlenden organisatorischen Umständen, der Terminsdichte des jeweiligen Gerichts und nicht zuletzt von der Bereitschaft der zuständigen Staatsanwälte und Richter, das beschleunigte Verfahren anzuwenden, bestimmt w i r d . 2 4 8 Wird die mit der Neugestaltung des Verfahrens eingeführte gesetz246

Zur Berechnung der Wochenfrist vgl. LR25-Hilger, § 127b, Rdnr. 11; K/M-G, § 127b, Rdnr. 18. 247 Vgl. K/M-G, § 127b, Rdnr. 9; LR25-Hilger, § 127b, Rdnr. 10. 248 BK l-Lemke, § 127b, Rdnr. 8; Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 573.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

liehe Verpflichtung, das beschleunigte Verfahren anzuwenden und die hierfür notwendigen organisatorischen Maßnahmen zu treffen, ernstgenommen, 2 4 9 kann der angesprochenen rechtstatsächlichen Abhängigkeit keine allzu große Bedeutung zukommen. Sollte es dagegen bei der bislang für das beschleunigte Verfahren charakteristischen regional wie örtlich sehr unterschiedlichen Anwendung des beschleunigten Verfahrens bleiben 2 5 0 - was angesichts der unbestimmten Anwendungsvoraussetzungen sehr leicht möglich i s t 2 5 1 - wird über § 127b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO auch die Hauptverhandlungshaft von diesen Schwankungen beeinflußt sein. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor resultiert daraus, daß sich die ex ante zu treffende Prognose nur darauf beziehen muß, daß die unmittelbare Durchführung eines beschleunigten Verfahrens wahrscheinlich ist. Ist das Wahrscheinlichkeitsurteil korrekt, sind Festnahme und Untersuchungshaft auch dann rechtmäßig, wenn es hernach nicht zur Durchführung eines beschleunigten Verfahrens kommt. Da eine Wahrscheinlichkeitsprognose zwangsläufig einen rechtlich nur begrenzt überprüfbaren Beurteilungsspielraum eröffnet, 2 5 2 bleibt auch für die Anwendung der Hauptverhandlungshaft ein weiter Spielraum. Schon aus diesem Grund wird es leicht möglich sein, die neue Haftregelung mißbräuchlich als kurzzeitige, schockartige Inhaftierung einzusetzen, 253 wozu gerade die Hauptverhandlungshaft aufgrund ihrer zeitlichen und aus der Deliktsschwere gegebenen Begrenzung prädestiniert sein dürfte. b) Die Voraussetzung des befürchteten Ausbleibens, § 127b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1 StPO Neben der Verknüpfung mit dem beschleunigten Verfahren enthält die neueingeführte Regelung noch eine zweite neuartige Voraussetzung. Das Recht zur vorläufigen Festnahme sowie der Erlaß eines Haftbefehls setzen weiter voraus, daß auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, der Festgenommene werde der Hauptverhandlung fernbleiben, § 127b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Satz 1. Diese Bedingung, die sich verkürzt mit „befürchtetes 249

Siehe oben I. 3. und I. 4. a). Siehe unten IV. 1. 251 Siehe oben I. 3. und I. 4. a). 252 Vgl. hierzu Kühne, NJW 1979, 619. Gegen den Haftbefehl kann der Betroffene allenfalls im Wege der Beschwerde vorgehen, § 304 StPO, oder nach Inhaftierung mit einer Haftprüfung. Die Rechtmäßigkeit einer beendeten Festnahme wird auf Antrag des Betroffenen gem. § 98 Abs. 2 StPO analog gerichtlich überprüft, vgl. BGH, NJW 1998, 3654; K/M-G, § 127, Rdnr. 23, § 98, Rdnr. 23. 253 Zur Verwendung der Untersuchungshaft als kurzzeitige, schockartige Inhaftierung, vgl. Dünkel, StV 1994, 613. 250

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2

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Ausbleiben" wiedergeben läßt, stellt gleichzeitig den Haftgrund der Hauptverhandlungshaft dar. Nach seinem Wortlaut scheint sich das befürchtete Ausbleiben von den klassischen Haftgründen deutlich zu unterscheiden. Inhaltlich liegt jedoch die Überschneidung mit dem Haftgrund der Fluchtgefahr auf der Hand. Fluchtgefahr besteht nach der Legaldefinition des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, wenn bei Würdigung der Umstände des Einzelfalls die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde. In diesem Fall dürften jedoch immer genügend Anhaltspunkte für die Befürchtung bestehen, der Angeklagte werde nicht zum Hauptverhandlungstermin erscheinen. Es bleibt damit die Frage, was genau unter einem „befürchteten Ausbleiben" zu verstehen ist und inwieweit dieses über den Haftgrund der Fluchtgefahr hinausgeht. Der Gesetzesbegründung läßt sich hierzu, abgesehen von dem Hinweis auf den reisenden Straftäter, nichts entnehmen. aa) Unterschied im Wahrscheinlichkeitsgrad Stellt man (abstrakt) die Termini „Befürchtung" und „Gefahr" einander gegenüber, so könnte der Unterschied zwischen den Haftgründen in dem Wahrscheinlichkeitsgrad liegen, der für das Nichterscheinen des Beschuldigten spricht. Die h.M. bejaht Fluchtgefahr, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung der Umstände des Einzelfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen. 254 Gefahr meint hiernach also überwiegende Wahrscheinlichkeit. Nach der Auffassung von H i l g e r 2 5 5 und Stintzing/Hecker 256 ist die Wahrscheinlichkeitsintensität des Befürchtens ebenfalls hier anzusetzen. 257 Befürchtung bedeute insoweit nichts anderes als Gefahr. Die übrigen Literaturmeinungen 258 zu § 127b StPO gehen dagegen allesamt davon aus, daß im

254

OLG Köln, StV 1997, 642; StV 1994, 582; Pfeiffer/Fischer, § 112, Rdnr. 6; HK-Lemke, § 112, Rdnr. 17; KK-Boujong, § 112 Rdnr. 15; K/M-G, § 112, Rdnr. 17; strenger LR24-Wendisch, § 112, Rdnr. 35, sowie SKStPO-Paeffgen, § 112, Rdnr. 24, die eine hohe Wahrscheinlichkeit voraussetzen. 255 LR25-Hilger, § 127b, Rdnr. 13. 256 NStZ 1997, 571, Fn. 14. 257 Da nach Hilger für die Annahme von Fluchtgefahr das Vorliegen hoher Wahrscheinlichkeit zu fordern ist, setzt Hilger konsequenterweise auch im Rahmen des § 127b StPO eine hohe Wahrscheinlichkeit bzgl. des Ausbleibens voraus, vgl. LR 2 5 Hilger, § 127b, Rdnr. 13. 258 HK 1 -Lemke, § 127b, Rdnr. 11; Hartenbach, AnwBl 1996, 83; Asbrock, StV 1997, 227; K/M-G, § 127b, Rdnr. 2, 10; Hellmann, NJW 1997, 2147; Neumann, StV 1994, 276; Wächtler, StV 1994, 160; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 59, Rdnr. 9; Keller, Kriminalistik 1998, 678. In diese Richtung gehen auch verschiedene

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Rahmen des § 127b Abs. 1 Nr. 2 StPO schon ein geringerer Wahrscheinlichkeitsgrad genügt: Nach Hellmann 2 5 9 liegt ein Befürchten i.S.v. § 127b Abs. 1 Nr. 2 StPO vor, wenn in nicht geringem Maße zu erwarten ist, der Beschuldigte werde dem Hauptverhandlungstermin fernbleiben. Scheffl e r 2 6 0 , Asbrock 2 6 1 und Meyer-Goßner 262 wollen schon den bloßen Verdacht oder die bloße Vermutung terminlicher Unzuverlässigkeit genügen lassen. Hattenbach 263 sieht schließlich einen neuen Begriff in die StPO eingeführt, der sich jeglichen Auslegungsversuchen entzieht und viel eher „bei Wahrsagern zu suchen ist". Daß zumindest Hartenbach von falschen Ausgangsvoraussetzungen ausgeht, zeigt ein Blick in die StPO. Der fragliche Begriff ist dort an verschiedenen Stellen, nämlich in den §§ 81a Abs. 1 Satz 2, 81c Abs. 2 Satz 1, 231b Abs. 1 Satz 1, 168c Abs. 3 Satz 2, 247 Satz 1-3 StPO aufgeführt. Aus diesem Vergleich lassen sich auch Anhaltspunkte für eine Auslegung des „befürchteten Ausbleibens" entnehmen: Die Kommentierungen zu den angesprochenen Vorschriften setzen einerseits, wie von Hilger sowie Stintzing/Hecker im Rahmen des § 127b Abs. 1 Nr. 2 StPO angenommen, Befürchtung mit Gefahr gleich. 2 6 4 In diese Richtung weist auch die Vorschrift des § 168c Abs. 3 StPO: Das befürchtete Verhalten wird dort explizit als Unterfall einer Gefährdung ausgewiesen. Neben der Gleichstellung mit dem Gefahrbegriff findet sich (auch im Rahmen der Kommentierungen zu § 168c Abs. 3 StPO) die von Hellmann favorisierte Auffassung, wonach der Begriff des Befürchtens als „gewisse, naheliegende Wahrscheinlichkeit" etwas unterhalb der überwiegenden Wahrscheinlichkeit festzumachen ist. 2 6 5 Und auch dann, wenn eine Bestimmung des genauen Wahrscheinlichkeitsgehaltes erst gar nicht vorgenommen w i r d 2 6 6 bzw. dadurch umgangen wird,

Kommentarstellen zu § 212 StPO, die Fluchtgefahr dann ablehnen, wenn die Flucht nur zu befürchten ist, vgl. HK-Lemke, § 112, Rdnr. 21; K/M-G, § 112, Rdnr. 22. 259 NJW 1997, 2147. 260 NJW 1994, 2192. 261 Asbrock, StV 1997, 44 (1.). 262 K/M-G, § 127b, Rdnr. 2. 263 ZRP 1997, 227. 264 So z.B. SKStPO-Schlüchter, § 247, Rdnr. 7 (zu § 247 Satz 1 StPO); Pfeiffer/ Fischer, § 247, Rdnr. 2 (zu § 247 Satz 1 StPO); Granderath, MDR 1983, 799 f. (zu § 247 Satz 1 StPO). 265 Vgl. Löjfler, NJW 1951, 822 (2.) (zu § 81a StPO); KMR-Paulus, § 81a, Rdnr. 25 („gewisse Wahrscheinlichkeit"); SKStPO-Schlüchter, § 231b, Rdnr. 3 („naheliegende Wahrscheinlichkeit"); K/M-G, § 168c, Rdnr. 3 („wenn in nicht geringem Maße zu erwarten ist" ); LR l A -Dahs, § 81a, Rdnr. 26 ( „gewisse Wahrscheinlichkeit"). 266 Vgl. z.B. BGHSt 15, 19 (zu § 247 Satz 1 StPO); OLG Düsseldorf, StV 1989, 473 (zu § 247 Satz 1 StPO); OLG Koblenz, MDR 1977, 777 (zu § 247 Satz 2

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2

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daß das Befürchten mit gleichermaßen auslegungsbedürftigen Begriffen wie „Besorgnis" 2 6 7 oder „Erwartung" 2 6 8 umschrieben wird, nähert man sich dem Bedeutungsgehalt des Befürchtens doch zumindest durch eine negative Eingrenzung. So herrscht Einstimmigkeit darüber, daß das Befürchten immer begründet sein, also auf Tatsachen beruhen muß. 2 6 9 Betont wird ebenso einhellig, daß die bloße Vermutung oder die bloße Möglichkeit des jeweiligen Verhaltens nicht ausreichen. 270 Vor diesem Hintergrund kann zum einen den Stimmen eine Absage erteilt werden, die dem „befürchteten Ausbleiben" eine komplett konturenlose Begrifflichkeit attestieren und es als bar jeder Anwendungshürde begreifen. Aus dem Vergleich ergibt sich weiter, daß dem in § 127b Abs. 1 Nr. 2 StPO enthaltenen Verweis, welcher die Befürchtung weitergehend als die angeführten Gesetzesstellen an das Vorliegen bestimmter Tatsachen knüpft, nur deklaratorische Bedeutung zukommt. Ausgehend von der gesetzgeberischen Intention, die mit § 127b StPO ein gegenüber § 112 StPO erweitertes Haftrecht schaffen wollte, spricht vieles dafür, den Wahrscheinlichkeitsgrad des Befürchtens in § 127b StPO unter dem der überwiegenden Wahrscheinlichkeit festzumachen. Dem Vergleich mit den zitierten Kommentarstellen ist aber zu entnehmen, daß der Unterschied nur gering sein kann. Für eine deutlich über dem einfachen Anfangs-

StPO); Krause, NJW 1975, 2283 (zu § 168c Abs. 3 StPO); KMR-Paulus, § 247 (zu § 247 Satz 1 StPO), Rdnr. 13; Tzschaschel, NJW 1990, 749 (zu § 247 Satz 3 StPO); LR25-Gollwitzer, § 231b, Rdnr. 6. 267 So z.B. BGH, NJW 1968, 806 („naheliegende Besorgnis" zu § 247 Satz 1 StPO); StV 1987, 6 (zu § 247 Satz 2 StPO); BGHSt 22, 20 („naheliegende Besorgnis" zu § 247 Satz 1 StPO); OLG Hamburg, NJW 1975, 1574 („Besorgnis" zu § 247 Satz 1 StPO); K/M-G, § 231b, Rdnr. 6; KK-Diemer, § 247, Rdnr. 5 („Besorgnis" zu § 247 Satz 1 StPO); LR24-Gollwitzer, § 247, Rdnr. 17 („Besorgnis" zu § 247 Satz 1 StPO); KMR-Paulus, § 231b, Rdnr. 7 („Besorgnis"); AKStPO-Meier, § 247, Rdnr. 6, 10 („Besorgnis" zu § 247 Satz 1 u. 3 StPO). 268 BGHSt 8, 147 (zu § 81a StPO); OLG Düsseldorf, StV 1989, 473 (zu § 247 Satz 1 StPO); HK -Julius, § 247, Rdnr. 2 (zu § 247 Satz 1 StPO). 269 OLG Düsseldorf, StV 1989, 473 (zu § 247 Satz 1 StPO); OLG Koblenz, GA 1981, 475 (zu § 247 StPO allgemein); AKStPO-Meier, § 247, Rdnr. 3, 10 (zu § 247 Satz 1 u. 3 StPO); Krause, NJW 1975, 2283 (zu § 168c Abs. 3 StPO); LR 24 -Go//witzer, § 247, Rdnr. 15 (zu § 247 Satz 1 StPO); KK-Diemer, § 247, Rdnr. 5 (zu § 247 Satz 1 StPO); Pfeiffer/Fischer, § 247, Rdnr. 2 (zu § 247 Satz 1 StPO); HKJulius, § 247, Rdnr. 2 (zu § 247 Satz 1 StPO); Tzschaschel, NJW 1990, 749 (zu § 247 Satz 3 StPO); SKStPO-Schlüchter, § 247, Rdnr. 16 (zu § 247 Satz 1 StPO); KK-Wache, § 168c, Rdnr. 6; vgl. hierzu auch Kühne, NJW 1979, 622. 270 Vgl. OLG Düsseldorf, StV 1989, 473 (zu § 247 Satz 1 StPO); SKStPOSchlüchter, § 247, Rdnr. 8 (zu § 247 Satz 1 StPO); HK-Julius, § 247, Rdnr. 2 (zu § 247 Satz 1 StPO); LR24-Rieß, § 168c, Rdnr. 17; LR24-Gollwitzer, § 247 (zu § 247 Satz 1 StPO), Rdnr. 15.

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verdacht liegende Anwendungshürde spricht außerdem die Eingriffsintensität der Hauptverhandlungshaft. Im Ergebnis ist deshalb mit Hellmann ein befürchtetes Ausbleiben i.S.v. § 127b Abs. 1 Nr. 2 StPO anzunehmen, 271 wenn in nicht geringem Maße zu erwarten ist, der Beschuldigte werde dem Hauptverhandlungstermin fernbleiben. Die Abweichung des befürchteten Ausbleibens zum Haftgrund der Fluchtgefahr ist démnach gering, wenn man das jeweilige Verhalten allein unter Wahrscheinlichkeitsgesichtspunkten betrachtet. bb) Inhaltlicher Unterschied Der eigentliche Unterschied zwischen den beiden Haftgründen besteht in der inhaltlichen Abweichung, die aus den zu vergleichenden Begriffen der „Flucht" und dem „Sich-Entziehen" einerseits sowie dem Begriff „Von-derHauptverhandlung-Fernbleiben" andererseits resultiert. Das die Flucht ausmachende Sich-Entziehen wird abstrakt angenommen, wenn der Beschuldigte den Fortgang des Verfahrens dadurch zu verhindern sucht, daß er für Ladungen und Vollstreckungsmaßnahmen nicht (mehr) zur Verfügung steht. 2 7 2 Verbindet schon der allgemeine Wortsinn mit dem Begriff Flucht ein Untertauchen oder eine räumliche Entfernung, so impliziert auch das Sich-Entziehen i.S.d. § 112 StPO nach h.M. irgendeine aktive Einwirkung seitens des Beschuldigten auf das Verfahren. Ein rein passives Verhalten oder der bloße Ungehorsam gegenüber Ladungen genügen dagegen nicht. 2 7 3 Demgegenüber knüpft § 127b StPO an ein Fernbleiben an. Der neue Haftgrund bezieht sich damit auf jedes Nichterscheinen des Beschuldigten zu einer Hauptverhandlung unabhängig davon, ob der Beschuldigte Ladungen entgegennimmt oder gewillt ist, Vollstreckungsmaßnahmen über sich ergehen zu lassen. Ein Fernbleiben liegt demnach schon dann vor, wenn der Beschuldigte einer Ladung nicht nachkommt, untätig bleibt, sich rein passiv verhält. Läßt sich Flucht schlagwortartig mit aktiver Verfahrenssabotage 2 7 4 , Fluchtgefahr damit mit der Gefahr aktiver Verfahrenssabotage wie-

271

Hellmann, NJW 1997, 2147. BGHSt 23, 384; OLG Düsseldorf, NJW 1986, 2205; K/M-G, § 112, Rdnr. 18; HK-Lemke, § 112, Rdnr. 18; Pfeiffer/Fischer, § 112, Rdnr. 6; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 16; LR24-Wendisch, § 112, Rdnr. 35. 273 BGHSt 23, 384; LG Verden, StV 1986, 256; OLG Koblenz, StV 1992, 424; OLG Brandenburg, StV 1996, 381 f.; HK-Lemke, § 112, Rdnr. 18; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 17; K/M-G, § 112, Rdnr. 18; Pfeiffer/Fischer, § 112, Rdnr. 6. 274 Vgl. SKStPO-Paeffgen, § 112, Rdnr. 28. 272

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dergeben, so bezieht sich der neue Haftgrund des befürchteten Ausbleibens auch schon auf die rein passive Verfahrenssabotage. Der Unterschied zwischen den beiden Haftgründen besteht daher im Ergebnis nicht so sehr in der geringeren Wahrscheinlichkeitsanforderung, die § 127b Abs. 1 Nr. 2 StPO an das Ausbleiben des Beschuldigten stellt. Entscheidend ist die Ausdehnung der Untersuchungshaft auf befürchtete Fälle bloßer Untätigkeit. cc) Konkreter Anwendungsbereich Konkret werden von der neuen Regelung in erster Linie (gerichtsbekannte) Beschuldigte tangiert, die regelmäßig oder zumindest schon mehrfach auf eine Ladung nicht reagiert haben. In diesem Fall bestehen Tatsachen, die in nicht geringem Maße erwarten lassen, der Beschuldigte werde auch dieses Mal die Ladung nicht befolgen. 275 Weniger klar ist dagegen, ob der neue Haftgrund auch schon dann eingreift, wenn der Beschuldigte erst einmal unentschuldigt der Hauptverhandlung ferngeblieben ist. Nach Hellmann soll sich ein erneutes Ausbleiben in diesem Fall nicht ausreichend belegen lassen. 276 Da der Beschuldigte, der sich erstmals einer Ladung widersetzt, zum ersten Mal auch mit den Negativfolgen seines Verhaltens - Vorführung oder Ungehorsamshaft nach § 230 Abs. 2 StPO - konfrontiert wird, sei es sehr gut möglich, daß er sich in Zukunft ordnungsgemäß dem Verfahren stellen werde. In Hinblick auf eine restriktive Handhabung des Untersuchungshaftrechts erscheint diese Auffassung durchaus naheliegend. Blickt man jedoch vergleichend auf den Haftgrund der Fluchtgefahr, so bejaht die Kommentarliteratur dort regelmäßig Fluchtgefahr schon dann, wenn der Beschuldigte sich erst einmal dem Verfahren entzogen hat. 2 7 7 Bedenkt man zusätzlich, daß der Gesetzgeber mit § 127b StPO die Haftanwendungsvoraussetzungen herabsetzen wollte, so dürfte ein befürchtetes Ausbleiben regelmäßig dann angenommen werden, wenn der Beschuldigte erst einmal auf eine Ladung nicht reagiert hat. 2 7 8 Doch selbst wenn diese Personengruppe zum Anwendungsbereich des § 127b StPO zählt, stellt sich die Frage, ob die Hauptverhandlungshaft hier einen deutlichen Gewinn gegenüber der alten Rechtslage bringt. Es liegen keine Zahlen vor, in welchem Ausmaß Beschuldigte den Ladungen zu

275 Vgl. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 571; K/M-G, § 127b, Rdnr. 10; LR 2 5 Hilger, § 127b, Rdnr. 14; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 94 f. 276 NJW 1997, 2147. 277 Vgl. K/M-G, § 112, Rdnr. 20; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 20; SKSiPO-Paejfgen, § 112, Rdnr. 27. 278 Im Ergebnis so auch Hartenbach, AnwBl 1996, 83.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

einem Hauptverhandlungstermin keine Folge geleistet haben. 2 7 9 In der Praxis wird davon ausgegangen, daß es sich hierbei um eine klar abgegrenzte Beschuldigtengruppe handelt. Auch darüber hinaus ist nicht offensichtlich, welch neuer Anwendungsbereich, in dem Fluchtgefahr noch nicht, aber schon das befürchtete Ausbleiben vorliegt, sich durch die Hauptverhandlungshaft eröffnet. Handelt es sich um Ersttäter oder um Beschuldigte, die in der Vergangenheit ordnungsgemäß die gegen sie gerichteten Ladungen befolgt haben, erscheint es sehr schwierig, jenseits vom Haftgrund der Fluchtgefahr Tatsachen festzustellen, die auf ein Fernbleiben des Beschuldigten hindeuten. Liegen indizielle Gründe für die Annahme von Fluchtgefahr nicht vor, d.h. verfügt der Beschuldigte über einen festen Wohnsitz, eine Arbeitsstelle und stabile soziale Beziehungen, ermangelt es auch an einer Tatsachengrundlage für die Vermutung, der Beschuldigte werde die Ladung nicht befolgen und sich damit den Folgen des § 230 Abs. 2 StPO aussetzen. 280 Denkbar ist hier allenfalls das eher theoretische Konstrukt des Beschuldigten, der im Vorfeld ankündigt, er werde nicht zum Hauptverhandlungstermin erscheinen. 281 Auch hinsichtlich der im Gesetzgebungsverfahren vielbeschworenen reisenden Straftäter, fragt sich, ob die neue Haftregelung zu einer spürbaren Verbesserung führt. Gerade bei dem sog. „reisenden Straftäter" wird vielfach schon der Haftgrund der Fluchtgefahr eingreifen. 282 Die neue Regelung könnte sich in der Praxis dahingehend auswirken, daß allein die Tatsache, daß der Täter der rechts- oder linksextremen Szene angehört, mitreisender aktiver Fußballfan oder als Nichtdeutscher auf der Durchreise ist, zu einer Anwendung des § 127b StPO führt. Weiter ist zu befürchten, daß das befürchtete Ausbleiben in noch stärkerem Maße, als dies bisher schon im Rahmen der Fluchtgefahr geschieht, 283 auf Faktoren wie fehlenden Wohnsitz, Arbeitslosigkeit sowie soziale Bindungslosigkeit gestützt werden w i r d . 2 8 4 Der neue Haftgrund des § 127b StPO würde damit in erster Linie sozial Schwache und Desintegrierte dieser Gesellschaft erfassen.

279

Hartenbach, AnwBl 1996, 83; Asbrock, StV 1997, 45 (9.). So auch: Hartenbach, AnwBl 1996, 83; Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 571. 281 So das Beispiel von LR25-Hilger, § 127b, Rdnr. 14. 282 So auch Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 571; Hartenbach, AnwBl 1996, 83; LR25-Hilger, § 127b, Rdnr. 7. 283 Vgl. Cornel , StV 1994, 204; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 207 ff. 284 Vgl. Hellmann, NJW 1997, 2147; Herzog, StV 1997, 216; Hartenbach, AnwBl 1996, 83; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 102; K/M-G, § 127b, Rdnr. 10. 280

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2 StPO

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3. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Hauptverhandlungshaft a) Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG? Entsprechend der fundamentalen Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person unterliegen freiheitsbeschränkende wie -entziehende Maßnahmen engen Voraussetzungen. Die Untersuchungshaft als Inhaftierung eines Beschuldigten, über dessen Schuld noch nicht (rechtskräftig) geurteilt i s t , 2 8 5 greift in besonders gravierender Weise in das Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 GG) e i n . 2 8 6 Auch mit der in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerten Unschuldsvermutung läßt sie sich nicht ohne weiteres vereinbaren - „Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegenüber einem Unschuldigen" 287 . Allein das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Interesse an der Verteidigung der Rechtsordnung und das unabweisbare Bedürfnis nach einer wirksamen Verbrechensbekämpfung machen sie dennoch in manchen Fällen unentbehrlich. Das Spannungsverhältnis zwischen dem verfassungsrechtlich gesicherten Freiheitsanspruch des einzelnen und der Unschuldsvermutung einerseits sowie den Erfordernissen einer funktionsfähigen Strafrechtspflege andererseits gebietet es deshalb, auf die Untersuchungshaft nur in zwingend gebotenen Ausnahmefällen zurückzugreifen. 2 8 8 Zweck der Untersuchungshaft darf es allein sein, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Vollstreckung eines auf Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Sicherungsmaßregel lautenden Urteils sicherzustellen. 289 In keinem Fall dürfen im Vorgriff auf die Strafe Maßnahmen getroffen werden, die in ihrer Wirkung einer Freiheitsstrafe gleichkommen. 290

285

Vgl. HK-Lemke, Vor § 112, Rdnr. 2; K/M-G, Vor § 112, Rdnr. 1. So auch Seebode, StV 1989, 118; Cornel , StV 1994, 203; vgl. außerdem LR24-Wendisch, Vor § 112, Rdnr. 4, 12; Peters, § 47 A I (S. 419); Seebode, Vollzug der Untersuchungshaft, S. 37 ff. 287 Hassemer, StV 1984, 40. 288 BVerfG, NJW 1966, 243; NJW 1966, 1259; NJW 1973, 1364; NJW 1980, 1448; StV 1992, 122 f.; KK-Boujong, Vor § 112, Rdnr. 2 f.; HK-Lemke, Vor § 112, Rdnr. 2, 3; K/M-G, Vor § 112, Rdnr. 3. 289 BVerfG, NJW 1966, 244; BGH, NJW 1987, 2526; OLG Düsseldorf, MDR 1986, 956; Hassemer, StV 1984, 40; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 30, Rdnr. 1; AKStPO-Deckers, § 112, Rdnr. 9; LR24-Wendisch, Vor § 112, Rdnr. 1; LR25-Hilger, Vor §112, Rdnr. 1,5; K/M-G, Vor §112, Rdnr. 5; KK-Boujong, Vor §112, Rdnr. 10; a.A.: SKStPO-Paeffgen, Vor § 112, Rdnr. 11, wonach die Sicherung der Strafvollstreckung keinen legitimen Zweck der Untersuchungshaft darstellt, Untersuchungshaft allein der Sicherung der Verfahrensdurchführung dienen darf. 290 BVerfG, NJW 1966, 243 f.; NJW 1987, 2427 f.; StV 1991, 112; NJW 1974, 27; SKStPO-Paejfgen, Vor § 112, Rdnr. 22; KK-Boujong, Vor § 112, Rdnr. 8, 11; HKLemke, Vor § 112, Rdnr. 7; Wolter, ZStW 93 (1981), 453; Hassemer, StV 1984, 41. 286

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§ 127b StPO gestattet die Inhaftierung eines Beschuldigten im Vorfeld einer gerichtlichen Schuldfeststellung, so daß die Hauptverhandlungshaft als Untersuchungshaft im o.g. Sinne anzusehen i s t . 2 9 1 Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, daß der Haftbefehl auf maximal eine Woche zu befristen ist. Die bekannte psychische und soziale Beschädigung (Inhaftierungsschock, Stigma der Untersuchungshaft) 292 tritt regelmäßig bereits mit der Anordnung der Untersuchungshaft e i n . 2 9 3 Die Dauer der Untersuchungshaft spielt lediglich für die Schadenstiefe eine Rolle und ist deshalb im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu beachten. 294 Für die grundsätzliche Einordnung des Zwangsmittels als Untersuchungshaftmaßnahme ist sie demgegenüber nicht entscheidend. Die Gesetzesbegründung der neuen Hauptverhandlungshaft läßt eine Diskussion zu dem oben aufgezeigten Ausnahmecharakter der Haft vermissen. Die eingeführte Hauptverhandlungshaft soll nicht nur die Anwesenheit des Beschuldigten im beschleunigten Verfahren sichern. Dahinter steckt das gesetzgeberische Ziel, auf diese Weise die erhoffte vermehrte Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu bewirken, um damit auch den erzieherischen und abschreckenden Zweck einer schnellen Bestrafung besser nutzen zu können. Ob diese Zwecke die Einführung einer weiteren Art von Untersuchungshaft zu rechtfertigen vermögen, erscheint zweifelhaft. 295 Der Entwurfsbegründung läßt sich nicht eindeutig entnehmen, daß nur die präventive Wirkung der schnellen Bestrafung genutzt werden soll. So führt die Gesetzesbegründung aus: „Gerade bei reisenden Straftätern kann das Mittel der Hauptverhandlungshaft seine Wirkung entfalten. Die unmittelbar auf die Tat folgende Konfrontation des Täters mit den strafrechtlichen Folgen kann eine erhebliche erzieherische Wirkung haben und dadurch auch abschreckend wirken." 2 9 6 Diese Ausführungen lassen sich auch dahingehend verstehen, daß die Hauptverhandlungshaft selbst abschreckend und erziehend wirken soll. Damit hätte sie mit dem vornehmlichen Zweck von Untersuchungshaft, nämlich der Verfahrenssicherung, nichts zu tun. General- und Spezialprävention sind typische Elemente der verhängten Strafe nach erbrachtem Schuldnachweis. 297 Das aber hieße, die Hauptverhand291

So auch K/M-G, Vor § 112, Rdnr. 7; Stintzing/Hecker, NStZ 1989, 572. Vgl. hierzu Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 1 ff.; Seebode, Vollzug der Untersuchungshaft, S. 37 ff. 293 So auch Herzog, StV 1997, 216. 294 BVerfG, NJW 1980, 1449; NJW 1966, 1259; StV 1992, 123; Wolter, ZStW 93 (1981), 455. 295 Vgl. hierzu Asbrock, StV 1997, 44; Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 571; HK 1 Lemke, § 127b StPO, Rdnr. 12; Hellmann, NJW 1997, 2146. 296 BT-Drucks. 13/2576, 3. 297 Vgl. Roxin, AT I, § 3, Rdnr. 33 ff, 37 ff. 292

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lungshaft zielte, sollte sie wirklich als Präventivhaft konzipiert sein, von vornherein auf eine vorweggenommene Bestrafung. Der Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und gegen das Recht des einzelnen auf persönliche Freiheit wäre damit evident. 2 9 8 Aber auch, wenn die Ausführungen zu diesem Punkt nur mißverständlich formuliert sein sollten, die Gesetzesbegründung also auf den Charakter einer schnellen Bestrafung abheben wollte, wäre dieser Verweis für die hier interessierende Frage unergiebig. Die (bislang nicht belegte) 299 These, daß eine schnelle Bestrafung aus pädagogischen und präventiven Gesichtspunkten vorteilhaft ist, legitimiert zunächst nur die Existenz eines beschleunigten Verfahrens, jedoch nicht die Erforderlichkeit weiterer Untersuchungshaft. Noch weniger läßt sich der Freiheitsentzug auf den gesetzgeberischen Wunsch nach einer stärkeren Anwendung des beschleunigten Verfahrens stützen. Dieses Anliegen mag für sich genommen lauter sein, denn es bleibt dem Gesetzgeber sicher unbenommen, einen bestimmten Verfahrenstyp zu favorisieren; den schwerwiegenden Eingriff einer freiheitsentziehenden Maßnahme vermag ein derartiges kriminalpolitisches Interesse jedoch nicht zu rechtfertigen. Weiter verweist die Entwurfsbegründung auf berechtigte Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit. 3 0 0 Zwar ist richtig, daß in extremen Ausnahmefällen das öffentliche Interesse über die Verfahrenssicherung hinaus die Verhängung von Untersuchungshaft zu legitimieren vermag: So hat das BVerfG den Haftgrund der Wiederholungsgefahr, bei dem es nicht um Verfahrenssicherung, sondern um präventive Zwecke geht, nur deshalb für zulässig erklärt, weil es um die Bewahrung eines besonders schutzwürdigen Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden schweren Straftaten geht. 3 0 1 Das BVerfG betont jedoch, daß angesichts des fehlenden verfahrenssichernden Zwecks noch strengere Maßstäbe an die Untersuchungshaft zu stellen sind. Voraussetzung dafür ist eine empfindliche Störung des Rechtsfriedens, es muß sich sowohl in abstrakter wie in konkreter Hinsicht um sehr schwere Straftaten handeln. 302 A l l dies trifft auf die von der Hauptverhandlungshaft tangierten Fälle gerade nicht zu. Es handelt sich unbestritten um alltägliche Massendelikte 298

So auch Roxin, Strafverfahrensrecht, § 59, Rdnr. la. So auch Weigend, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band I I / l , M 19; Hillenkamp, JR 1975, 135; Asbrock, StV 1997, 44. 300 Vgl. BT-Drucks. 13/2576, 3. 301 BVerfG, NJW 1973, 1365; NJW 1966, 243; kritisch: Roxin, Strafverfahrensrecht, § 30, Rdnr. 14; Wolter, ZStW 93 (1981), 484. 302 BVerfG, NJW 1973, 1365. 299

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der kleinen, höchstens der mittleren Kriminalität. Diese werden auch deshalb beschleunigt verfolgt, weil sie den Rechtsfrieden in geringerem Maße stören, als die typischerweise im Normalverfahren verfolgten Delikte. Als mögliche Legitimierung der Hauptverhandlungshaft bleibt demnach allein die anwesenheitssichernde Funktion der Hauptverhandlungshaft. Für Grasberger 303 ist die Hauptverhandlungshaft deshalb, „da sie wie jede andere Form der Untersuchungshaft der Verfahrenssicherung dient" ohne weiteres mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Die Richtigkeit ihrer Ansicht soll ein Verweis auf ein Urteil des BVerfG 3 0 4 belegen, wonach „eine wirksame Strafverfolgung (welche die Untersuchungshaft grundsätzlich erforderlich macht) eine zügige Verfahrenserledigung mit einschließe". Ein Blick in die angesprochene Entscheidung weckt Bedenken gegen die Argumentation Grasbergers in doppelter Hinsicht. Zum einen ist das Zitat insofern wenig glücklich gewählt, als sich die Entscheidung allgemein auf einen wirksamen Rechtsschutz vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit bezieht und insoweit keine Aussagen zur Effektivität der Strafverfolgung trifft. Zum anderen geht es in der Entscheidung um die mögliche Auswirkung überlanger Verfahrensdauer zugunsten des Beschuldigten. Speziell im Zusammenhang mit der überlangen Srra/verfahrensdauer wird diskutiert, 305 ob und wann eine massive Verfahrensverzögerung ein Verfahrenshindernis darstellt oder unter Strafzumessungsgesichtspunkten zu berücksichtigen ist. In keiner der zu diesem Problemkreis ergangenen Entscheidungen 306 wird ein Konnex zwischen der überlangen Verfahrensdauer und einem beschleunigten Verfahren hergestellt. Dies wäre auch nicht richtig: Ein Gebot zur Verfahrensbeschleunigung resultiert zum einen aus Art. 6 Abs. 1 E M R K . 3 0 7 Diese Vorschrift bezieht sich jedoch allein auf einen Anspruch des Beschuldigten, der keine für den Beschuldigten belastende Wirkung entfalten kann. 3 0 8 Aus diesem Grund kann Art. 6 Abs. 1 EMRK auch keine legitimierende Wirkung bzgl. eines die Rechts303

GA 1998, 531. BVerfGE 55, 369. 305 Schwenk, ZStW 79 (1967), 721 ff.; Hanack, JZ 1971, 705 ff.; Hillenkamp, JR 1975, 133 ff.; Klopfer, JZ 1979, 209 ff.; Schroth, NJW 1990, 29 ff.; Pfeiffer, Baumann-FS, S. 329 ff.; Scheffler, Überlange Strafverfahrensdauer; Imme Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 44 ff., S. 144 ff. 306 BVerfG, NJW 1984, 967; StV 1992, 122 ff.; StV 1993, 352 ff.; BVerfGE 46, 17 ff.; BGHSt 21, 81 ff.; 24, 239 ff.; 35, 137 ff.; BGH, NStZ 1989, 238 f.; StV 1989, 51 ff.; StV 1989, 187 ff.; StV 1996, 526 f.; StV 1996, 537 f.; StV 1997, 408 f.; StV 1998, 376; StV 1998, 377; vgl. außerdem die Rspr.-Übersichten bei Imme Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 4 ff., 84 ff, sowie die Nachweise bei Scheffler, Überlange Strafverfahrensdauer, S. 21 ff. 307 Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK wird durch Art. 5 Abs. 3 Satz 2 EMRK ergänzt, wonach der inhaftierte Beschuldigte einen unmittelbaren Anspruch auf Beschleunigung des Verfahrens oder auf Haftentlassung während des Verfahrens hat. 304

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Stellung des Beschuldigten massiv einschränkenden beschleunigten Verfahrens entfalten. Kommt man weiter zu dem im Rechtsstaatsprinzip angesiedelten 309 allgemeinen Beschleunigungsgebot, so läßt sich daraus ebenfalls nicht ohne weiteres das Recht auf verfahrensverkürzende Eingriffe zu Lasten des Beschuldigten ableiten. Denn auch das allgemeine Beschleunigungsgebot dient primär dem Schutz des Beschuldigten. 310 Dieser eingleisigen Ausrichtung entspricht, daß der Beschuldigte grundsätzlich keine Verantwortung für die Verfahrensdauer trägt, diese allein bei den Strafverfolgungsorganen liegt. 3 1 1 Im öffentlichen Interesse liegt eine zügige Strafverfahrensdurchführung erst in zweiter L i n i e : 3 1 2 So umfaßt die aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende staatliche Verpflichtung, die Sicherheit der Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege zu erhalten, auch die Pflicht zur grundsätzlichen Durchsetzung des staatlichen Strafanspruches. 313 Diese Pflicht wäre nur ungenügend erfüllt und auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege nur unzureichend geschützt, wenn die Strafverfolgungsdurchsetzung nicht in angemessener Zeit zum Abschluß gebracht würde. 3 1 4 Allerdings bedeutet „angemessen" nicht „schnellstmöglich", d.h. auch das im Interesse der Allgemeinheit liegende allgemeine Beschleunigungsgebot kann nur auf die Vermeidung überlanger und unnötiger Verfahrensverzögerungen gerichtet sein. Daneben ist zu bedenken, daß das allgemeine 308 v g L Weigertet, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band I I / l , M 18; Eser, ZStW 108 (1996), 120; Scheffler, Überlange Strafverfahrensdauer, S. 58; Rüping, ZStW 91 (1979), 361. Im übrigen gewährt Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK das Recht auf einen Verfahrensabschluß „innerhalb angemessener Frist", was sich aus Wortlautgesichtspunkten, aber auch im Hinblick auf das in Art. 6 Abs. 3b EMRK enthaltene Recht des Beschuldigten auf ausreichende Verteidigungsvorbereitungszeit nicht mit einem besonders beschleunigten Verfahrensabschluß in höchstens einer Woche interpretieren läßt. 309 BVerfG, NJW 1984, 967; StV 1993, 353; BVerfGE 41, 250; 46, 28 f.; 63, 69; BGHSt 24, 240; 26, 4; Hanack, JR 1971, 711; Imme Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 149. 310 BGHSt 26, 232; K/M-G, Einl., Rdnr. 160; Pfeiffer, Baumann-FS, S. 232; Weigend, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band II/l, M 18, geht sogar davon aus, daß der Beschleunigungsgrundsatz ausschließlich ein Recht des Beschuldigten darstellt. 311 Weigend, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band II/l, M 18; Scheffler, Überlange Strafverfahrensdauer, S. 76; Pfeiffer, Baumann-FS, S. 345; Imme Roxin, Rechtsstaats verstoße, S. 160. 312 BGHSt 26, 323; K/M-G, Einl., Rdnr. 160. 313 BVerfGE 51, 343. 314 BGHSt 26, 323; Imme Roxin, Rechtsstaatsverstöße, S. 159; Klopfer, JZ 1979, 212; Pfeiffer, Baumann-FS, S. 333 f. 6 Kohler

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Beschleunigungsgebot den grundlegenden Zielen des Strafprozesses wie der Wahrheitsfindung dient. Insoweit kann es auch aus diesem Grund keine Legitimation und noch weniger eine staatliche Pflicht dahingehend entfalten, Strafverfahren weitestgehend in möglichst abgekürzten, die Wahrheitsfindung beeinträchtigenden Modellen durchzuführen. Weiter muß bezweifelt werden, inwieweit sich die Einführung neuer Untersuchungshaft pauschal mit dem Hinweis auf ihre anwesenheitssichernde Funktion legitimieren läßt. Zwar ist der Beschuldigte zur Anwesenheit im Strafprozeß grundsätzlich verpflichtet, 315 die Sicherung der Anwesenheit des Beschuldigten ist ihm Rahmen des Verfahrenssicherungszweck ein zulässiges Untersuchungshaftziel 316 . Die Frage ist allerdings, mit welcher Durchsetzungsstärke diese Anwesenheitspflicht wirkt und in welchem Umfang der Staat die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren sicherstellen darf. Allgemein ist davon auszugehen, daß die Untersuchungshaft als prozeßsichernde Maßnahme nur an solchen Verfahrensbeeinträchtigungen anknüpfen kann, die im Pflichtenbereich des Beschuldigten liegen. 3 1 7 Die anwesenheitssichernde Untersuchungshaft setzt damit ein gegen die Anwesenheitspflicht verstoßendes Verhalten des Beschuldigten voraus. So macht z.B. der Beschuldigte, der flieht oder Anstalten zur Flucht trifft, seine Anwesenheit im Strafverfahren zunichte bzw. gefährdet sie. Auch der Beschuldigte der eine Ladung unentschuldigt nicht befolgt (und sich damit der Gefahr einer Ungehorsamshaft nach § 230 Abs. 2 StPO aussetzt) verletzt seine Anwesenheitspflicht. Der Haftgrund des befürchteten Ausbleibens nach § 127b StPO greift demgegenüber schon nach einem in der Vergangenheit erfolgten Ausbleiben des Beschuldigten ein, bei seiner Ankündigung, nicht zum Termin zu erscheinen sowie bei fehlender sozialer Eingliederung. 318 Ein Fehlverhalten des Beschuldigten in bezug auf seine Anwesenheitspflicht bzw. ein Indiz für ein weiteres Fehlverhalten ist hierbei nur bei den ersten beiden Varianten (wiederholtes Ausbleiben /Ankündigung des Ausbleibens) gegeben; dagegen läßt sich in einer fehlenden sozialen Eingliederung keine derartige Mißachtung der Anwesenheitspflicht sehen. So ist der Beschuldigte natürlich auch in diesem Fall zur Anwesenheit im

315 In den §§ 163a Abs. 3, 230 Abs. 1, 231a StPO ist die Anwesenheitspflicht positiviert. Die Berechtigung dieser Vorschriften wird allgemein nicht in Zweifel gezogen, vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 42, Rdnr. 39; Paeffgen, Vorüberlegungen Untersuchungshaft, S. 81 ff.; Peters, Strafprozeß, § 28 IV 1 (S. 204); LR 2 4 Gollwitzer, § 230, Rdnr. 1; Ranft, Strafprozeßrecht, § 59 D I (S. 338). 316 Hassemer, StV 1984, 40; Wolter, ZStW 93 (1981), 453; KK-Boujong, Vor §112, Rdnr. 10; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 30, Rdnr. 1; Beulke, Strafprozeßrecht, Rdnr. 208. 317 Vgl. ausführlich Paeffgen, Vorüberlegungen Untersuchungshaft, S. 74 ff. 318 Vgl. oben III. 2. b) cc).

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Strafverfahren verpflichtet, es trifft ihn aber keine weitergehende Pflicht, sich für staatliche Verfahren eine Arbeit zu suchen, einen Wohnsitz zu begründen und soziale Bindungen aufzubauen. Darüber hinaus erscheint es nicht möglich, den Umfang der staatlichen Anwesenheitssicherung je nach Verfahrensart beliebig zu verändern. Da die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren grundsätzlich immer erforderlich ist, ist deshalb auch zunächst von einem einheitlichen Maßstab der staatlichen Anwesenheitssicherung auszugehen. Lockerungen 319 wie Verschärfungen bedürfen einer besonderen sachlichen Rechtfertigung. In der hier interessierenden Frage der Hauptverhandlungshaft steht jedoch überhaupt nicht fest, in welchem Umfang Beschuldigte den Ladungen zum Hauptverhandlungstermin keine Folge leisten und in welchem Maße gerade das beschleunigte Verfahren von diesem Ladungsungehorsam betroffen i s t . 3 2 0 Für die mit der Hauptverhandlungshaft vorgenommene Verschärfung des Untersuchungshaftrechts fehlt es damit an einem sachlichen Anknüpfungspunkt. Ließe man eine derart willkürliche Verschärfung der Untersuchungshaft zu, so wäre dies nicht anderes, als wenn man eine Untersuchungshaftregelung doch mit dem rechtspolitischen Anliegen, einem bestimmten Verfahrenstyp zu einer stärken Akzeptanz zu verhelfen oder seine Anwendung bequemer zu gestalten, legitimierte. Dies ist jedoch, wie oben gezeigt, nicht zulässig. 321 Der Haftgrund des befürchteten Ausbleibens verstößt deshalb gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. b) Hauptverhandlungshaft

und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der bei allen hoheitlichen Eingriffen g i l t , 3 2 2 ist im Untersuchungshaftrecht der StPO wiederholt positiviert 3 2 3 und wird auch von der Rechtsprechung gerade für das Haftrecht immer wieder besonders betont 3 2 4 . Er besagt allgemein, daß in Grundrechte nur insoweit eingegriffen werden darf, als der Eingriff ein geeignetes Mittel zur Erreichung eines legitimen Zwecks darstellt, daß der Eingriff so gering wie

319 Bei leichteren Straftaten darf unter den Voraussetzungen der §§ 232, 233 StPO beispielsweise die gesamte Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden. 320 Vgl. oben III. 2. b) cc). 321 Vgl. oben III. 3. a). 322 BVerfGE 6, 439; 16, 201 f.; 23, 133; 61, 134; vgl. auch Jarass/PierotK Art. 20, Rdnr. 57; Sachs, Art. 20, Rdnr. 148; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 13 III (S. 98). 323 Vgl. §§ 112 Abs. 1 Satz 2, 113, 116, 120 Abs. 1, 121 Abs. 1 StPO. 324 BVerfG, NJW 1966, 243; NJW 1966, 1703; NJW 1980, 1448; NJW 1966, 1259.

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möglich gehalten werden muß und daß sein Gewicht nicht außer Verhältnis zu dem mit ihm angestrebten Zweck stehen darf. 3 2 5 In der Literatur wird teilweise schon die Geeignetheit der Hauptverhandlungshaft in Frage gestellt: Die These, ein beschleunigtes Verfahren könne nur greifen, wenn die Anwesenheit des Beschuldigten stärker als bisher gesichert werde, sei falsch. Die vor Einführung der Hauptverhandlungshaft initiierten Pilotprojekte belegten eindrucksvoll, daß eine stärkere Nutzung des beschleunigten Verfahrens allein von geeigneten organisatorischen und personellen Voraussetzungen abhänge, nicht jedoch die Einführung zusätzlicher Untersuchungshaft erfordere. 326 Auch im Hinblick auf eine Entlastungsfunktion wird die Hauptverhandlungshaft für wenig sinnvoll erachtet. Zwar erhalte der Richter etwas mehr Zeit für die Ansetzung der Hauptverhandlung, diese Zeitersparnis werde aber durch den Mehraufwand einer zusätzlichen Anhörung des Beschuldigten vor Erlaß des Haftbefehls wieder aufgesogen. 3 2 7 Schließlich bringe die Hauptverhandlungshaft gerade im Fall der im Gesetzgebungsverfahren angesprochenen Täterzielgruppe des reisenden Straftäters keinen spürbaren Gewinn. 3 2 8 Die Kritik mag berechtigt sein. Allerdings wird dem Gesetzgeber bei der Einschätzung, ob sich eine Sache für einen bestimmten Zweck eignet, ein weiter Prognosespielraum zugebilligt. Eine Verfassungswidrigkeit ist nur dann anzunehmen, wenn das fragliche Mittel offensichtlich untauglich i s t . 3 2 9 Ob eine solche Untauglichkeit im Fall der Hauptverhandlungshaft anzunehmen ist, erscheint zweifelhaft. Aber selbst wenn man diese bejahte, läßt sich die Geeignetheit der Hauptverhandlungshaft nicht ohne weiteres verneinen. Die geäußerte Kritik verneint die Tauglichkeit allein in bezug auf den angestrebten Bedeutungszuwachs des beschleunigten Verfahrens bzw. im Hinblick auf eine allgemeine Strafverfahrensentlastung und -beschleunigung, also Ziele, welche die Hauptverhandlungshaft mittelbar verfolgt. Zu berücksichtigen ist jedoch in erster Linie der unmittelbar mit Einführung der Hauptverhandlungshaft verbundene Zweck der Anwesenheitssicherung. In diesem Punkt ist die Geeignetheit der Regelung ohne weiteres zu bejahen. 330 Fraglich ist weiter, ob die Regelung der Hauptverhandlungshaft erforderlich ist. Das Gebot der Erforderlichkeit ist verletzt, wenn das Ziel der staat325

BVerfGE 53, 143 f.; 61, 134; 61, 312; 68, 218. HK^Lemke, § 127b, Rdnr. 5. 327 K/M-G, § 127b, Rdnr. 3. 328 LR25-Hilger, § 127b, Rdnr. 7. 329 BVerfGE 30, 263; 39, 230; 61, 313 f.; 65, 126; 67, 175 f.; vgl. hierzu Stern, Staatsrecht, Bd. 1, IV 7 e α (S. 866); Sachs, Art. 20, Rdnr. 150 f. 330 So auch Hellmann, NJW 1997, 2198; Schröer, Beschleunigtes Verfahren, S. 98. 326

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2 StPO

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liehen Maßnahme auch durch ein anderes, gleich wirksames, aber das betroffene Grundrecht nicht oder weniger fühlbar einschränkendes Mittel erreicht werden kann. 3 3 1 Der Fall, daß Angeklagte einer Ladung nicht nachkommen, wurde von der StPO auch bisher nicht sanktionslos hingenommen. Erscheint der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht zum angesetzten Hauptverhandlungstermin, so ermöglicht § 230 Abs. 2 StPO eine zwangsweise Vorführung oder den Erlaß eines Haftbefehls, die sog. „Ungehorsamshaft" 332 . Die StPO reagierte also bisher auf ein eingetretenes Ausbleiben, während der neue § 127b StPO es erst gar nicht zu diesem Ungehorsam kommen läßt und damit einen gegenüber § 230 Abs. 2 StPO vorverlagerten Haftbefehl kreiert. § 230 Abs. 2 StPO greift aber nicht nur in den Voraussetzungen, sondern auch in den Folgen weniger stark in das Recht der persönlichen Freiheit ein. Der Ladungsungehorsam wird dort primär durch eine zwangsweise Vorführung sanktioniert; erst wenn diese sich als ungenügend erweist, kann die Anwesenheit des Beschuldigten mit einer vorläufigen Inhaftierung des Beschuldigten sichergestellt werden. 333 § 127b StPO sieht dagegen ausschließlich, d.h. von vornherein, die Maßnahme der Untersuchungshaft vor. Die Erforderlichkeit der neueingeführten Haftregelung läßt sich vor diesem Hintergrund nur dann bejahen, wenn das traditionelle Eingriffsinstrumentarium der §§ 230 Abs. 2, 112 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, 2 StPO im Hinblick auf die Anwesenheitssicherung Lücken aufweist, welche allein die neue Haftregelung als das effektivere Mittel zu schließen vermag. Die durch § 127b StPO unmittelbar und von vornherein gesicherte Anwesenheit des Beschuldigten müßte mithin in ihrer Wirksamkeit über die durch § 230 Abs. 2 StPO verzögert sichergestellte Anwesenheit hinausgehen. Bezogen auf den von der Hauptverhandlungshaft erfaßten Beschuldigtenkreis, der Gerichtstermine bereits mehrmals versäumt hat, ist schon der tatsächliche Anknüpfungspunkt der Erforderlichkeitsprognose verschwommen; so liegen keinerlei Zahlen vor, in welchem Umfang Beschuldigte einer Ladung nicht nachgekommen sind und welchen Verzögerungseffekt dies hat. 3 3 4 Insbesondere ist nicht geklärt, inwieweit Beschuldigte gerade im beschleunigten Verfahren überdurchschnittlich häufig die an sie gerichteten Ladungen nicht befolgen. Aber auch unabhängig von dieser Unsicherheit dürfte der praktische Nutzen des neuen Haftgrundes in diesen Fällen nicht allzu groß sein. Zumindest das Verhalten der Beschuldigten, die ge331

BVerfGE 25, 18; 30, 316; 33, 187; 67, 177; 68, 219. Vgl. hierzu die Übersicht bei KK-Boujong, Vor § 112, Rdnr. 2. 333 Allg. Meinung: BVerfGE 32, 87; OLG Düsseldorf, NStZ 1990, 296; LG Zweibrücken, NJW 1996, 737; SKStPO-Schlüchter, § 230, Rdnr. 16; K/M-G, § 230, Rdnr. 19. 334 Vgl. oben III. 2. b) cc). 332

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

richtsbekannt ausbleiben ohne den Aufenthaltsort zu wechseln, stellte auch nach der bisherigen Rechtslage kein unüberwindbares Hindernis dar. Die zu erwartende Vorführung läßt sich in diesen Fällen ohne größeren Zeit- oder Mehraufwand im Vorfeld der Hauptverhandlung organisieren: 335 Die Hauptverhandlung wird angesetzt, gleichzeitig werden die notwendigen Vorkehrungen für eine Vorführung getroffen. Bleibt der Beschuldigte, wie erwartet, der Verhandlung fern, kann er unmittelbar - ohne daß die Hauptverhandlung ausgesetzt werden muß - vorgeführt werden. Von Vorteil ist die Regelung des § 127b StPO allerdings dann, wenn der Aufenthalt des Beschuldigten unbekannt ist. In diesen Fällen, in denen schon die Ladungszustellung nur fingiert werden kann, 3 3 6 muß eine Vörführungsanordnung ins Leere laufen. Die Vorführung kann naturgemäß erst erfolgen, wenn der Aufenthaltsort des Beschuldigten festgestellt ist. Die Suche nach dem Aufenthaltsort sorgt für einen erheblichen Mehraufwand, verzögert das Verfahren oder macht es gar unmöglich. 3 3 7 § 127b StPO, der eine Flagrantfestnahme vorsieht, bietet demnach für den Fall, daß der Aufenthaltsort des Beschuldigten nicht bekannt ist, eine 335

Vgl. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 571. Vgl. § 40 Abs. 1 StPO. 337 Auch ein Vorgehen im Wege des Strafbefehlverfahrens hilft in diesem Fall nicht weiter. Zwar eröffnet § 408a StPO bei Nichterscheinen des Beschuldigten die Möglichkeit, noch in der Hauptverhandlung ins Strafbefehlsverfahren überzugehen. Da die Verhängung einer Freiheitsstrafe im Strafbefehlsverfahren nur möglich ist, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat, § 407 Abs. 2 Satz 2 StPO, könnte jedoch nur ein Teil der im beschleunigten Verfahren verhandelbaren Fälle ins Strafbefehlsverfahren übergeleitet werden. Zudem sieht das Gesetz den Wechsel ins Strafbefehlsverfahren gem. § 408a StPO nur dort vor, wo ein Hauptverfahren durch Beschluß eröffnet wurde. Im beschleunigten Verfahren ist der Übergang ins Strafbefehlsverfahren nicht zulässig (,Schellenberg, NStZ 1994, 371; KMR-Metzger, § 408a, Rdnr. 1, 6; HK-Kurth, § 408a, Rdnr. 3). Selbst wenn sich dieses Hindernis dadurch umgehen ließe, daß die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren zurücknimmt (so LR-Gössel, § 408a, Rdnr. 16), ist der Erlaß eines Strafbefehls bei unbekanntem Aufenthalt des Beschuldigten nur bedingt hilfreich: Die Zustellung des Strafbefehls kann nach herrschender Auffassung nur persönlich oder im Wege der Ersatzzustellung erfolgen, vgl. OLG Düsseldorf, NJW 1997, 2966; K/M-G, § 407, Rdnr. 4, § 409, Rdnr. 21; KMR-Metzger, § 409, Rdnr. 39; Blankenheim, MDR 1992, 927. Und auch wenn man mit der Mindermeinung eine öffentliche Zustellung des Strafbefehls zuließe (LR24-Wendisch, § 40, Rdnr. 1; LG München I, MDR 81, 71 f.: jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte polizeilich vernommen wurde), machte der Erlaß eines Strafbefehls in dieser Konstellation wenig Sinn - die Strafvollstreckung liefe sehr wahrscheinlich ins Leere. Aus diesem Grund scheidet auch ein Rückgriff auf § 232 StPO aus, wonach die Durchführung der Hauptverhandlung trotz Ausbleibens des Angeklagten bis zu einer Geldstrafenerwartung von 180 Tagessätzen zulässig ist. Konnte eine Ladung nur öffentlich erfolgen, ist ein Verfahren gegen Ausgebliebene kraft Gesetzes ausgeschlossen, § 232 Abs. 2 StPO. 336

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2

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gegenüber § 230 Abs. 2 StPO effektivere Handhabe. Eine Lücke im System der StPO besteht jedoch erst dann, wenn diese Konstellation nicht schon von den Haftgründen der Flucht oder der Fluchtgefahr abgedeckt wird. Ähnlich wie im Rahmen der Abgrenzung des neuen Haftgrundes zum Haftgrund der Fluchtgefahr 338 bleibt hierfür allein der Bereich, in dem der Aufenthalt ungeklärt ist, ohne daß der Beschuldigte aktiv auf eine Verfahrensentziehung hinwirkt bzw. die Gefahr besteht, daß er dies tut, er sich also lediglich passiv verhält. Diese Situation ist allein dann gegeben, wenn der Beschuldigte sich vorübergehend verborgen hält oder wenn er über keinen festen Wohnsitz verfügt - vorausgesetzt, man folgt dem streng am Gesetz orientierten Ansatz, wonach sich Fluchtgefahr nicht schematisch bei fehlendem Wohnsitz bejahen läßt. 3 3 9 Allein in diesen beiden Fällen erweist sich der neue Haftgrund im Vergleich zu den bisher von der StPO zur Verfügung gestellten Maßnahmen als die effizientere Anwesenheitssicherung. Damit kann zugunsten des Gesetzgebers insoweit eine legislatorische Notwendigkeit angenommen werden. 3 4 0 Der Praktische Nutzen der neuen Regelung wird selbst in diesem Bereich geringer ausfallen, hält man sich vor Augen, daß die derzeitige Untersuchungshaftpraxis Fluchtgefahr regelmäßig allein auf das Fehlen eines festen Wohnsitzes stützt. 3 4 1 Umgekehrt kann die neue Haftregelung vor diesem Hintergrund nur als Legalisierung einer bislang gesetzeswidrigen Untersuchungshaftpraxis angesehen werden. Schließlich könnte die Hauptverhandlungshaft aufgrund der Tatsache, daß mit § 127b StPO isoliert für das beschleunigte Verfahren und damit für den Bereich der kleinen Kriminalität ein verschärftes Haftrecht konstituiert wurde, nicht nur systemfremd, 342 sondern darüber hinaus auch unverhältnismäßig i.e.S. sein. In § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO wird die Verhältnismäßigkeit i.e.S. für das Haftrecht gesetzlich konkretisiert: Der Rückgriff auf die Untersuchungshaft ist ausgeschlossen, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht. 34 3 Bei der Beurteilung der Frage, ob der Haftanordnung das Übermaßverbot entgegensteht, sind somit die kon338

Siehe oben III. 2. b) bb). SKStPO-Paejfgen, § 112, Rdnr. 26; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 15; LR24-Wendisch, § 112, Rdnr. 38. 340 A.A., die Erforderlichkeit der neuen Haftregelung verneinend: Hartenbach, AnwBl 1996, 84; Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 573; vgl. auch Asbrock, StV 1997, 45 (9.); zweifelnd auch LR25-Hilger, § 127b, Rdnr. 7; UK-Krehl, Vor § 417, Rdnr. 3. 341 Vgl. Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 207-209, insb. Fn. 220; Gebauer, Rechtswirklichkeit Untersuchungshaft, S. 235 f.; Cornel, StV 1994, 204. 342 Vgl. oben III. 2. a). 339

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

kreten Nachteile und Gefahren, die dem Beschuldigten durch den Freiheitsentzug entstehen, gegen die Sanktionserwartung und die Bedeutung der Sache abzuwägen. Verallgemeinernd läßt sich sagen: Die Maßnahme der Untersuchungshaft ist um so eher als unverhältnismäßig anzusehen, je geringer der Kriminalitätsvorwurf ist. In diese Richtung weisen auch die §§ 112 Abs. 3, 113 StPO: So sind die Voraussetzungen in § 112 Abs. 3 StPO nur deshalb gelockert, weil es um den Verdacht besonders schwerer Taten geht. Hingegen bezieht sich § 113 StPO auf den Bereich der Kleinstkriminalität und läßt die Verhängung von Untersuchungshaft nur unter erschwerten Voraussetzungen zu. Nun sieht die h.M. die Maßnahme der Untersuchungshaft nicht automatisch als unzulässig an, wenn die erwarteten Rechtsfolgen gering sind. 3 4 4 Dies selbst dann nicht, wenn nur eine Geldstrafe zu erwarten steht. 345 Denn außer dem Aspekt der Rechtsfolgenerwartung spielt nach ihrer Auffassung auch die Bedeutung der Sache in die Abwägung hinein. 3 4 6 Da jedoch die Begriffsmerkmale, welche die Bedeutung der Sache ausmachen (gesetzliche Strafandrohung, Art des verletzen Rechtsgut, konkretes Erscheinungsbild der Tat, tatrelevanten Umstände in der Person des Beschuldigten) 347 immer Eingang in die Strafzumessung finden, bleibt ein innerer Zusammenhang zwischen diesen beiden Bezugspunkten - der Bedeutung der Sache und der Rechtsfolgenerwartung - zwangsläufig bestehen. 348 Eine geringe Rechtsfolgenerwartung wird demnach im allgemeinen nur angenommen werden können, wenn auch die Bedeutung der Sache gering ist. Das bedeutet, daß 343

Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, vgl. KK-Boujong, § 112, Rdnr. 43-50; SKStPO-Paejfgen, § 112, Rdnr. 10-20; Seetzen, NJW 1973, 2001. 344 OLG Frankfurt a.M., NStZ 1986, 568 f.; Seetzen, NJW 1973, 2002 f.; KKBoujong, §112, Rdnr. 45; LR24-Wendisch, §212, Rdnr. 17; AKStPO-Deckers, § 212, Rdnr. 35; SKStPO-Paeffgen, § 112, Rdnr. 17; K/M-G, § 112, Rdnr. 11. 345 LG Hamburg, StV 1987, 400; OLG Düsseldorf, NStZ 1993, 594; Seetzen, NJW 1973, 2001; Wagner, NJW 1978, 2003 f.; Hellmann, NJW 1997, 2148; SKStPO-Paeffgen, § 112, Rdnr. 20; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 48; K/M-G, § 112 Rdnr. 11; a.A.: Maunz/Dürig, Art. 2 II, Rdnr. 54; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 30, Rdnr. 3; Wolter, ZStW 93 (1981), 470; ders., Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, S. 47. 346 OLG Frankfurt a.M., StV 1988, 393; SKStPO-Paeffgen, § 112, Rdnr. 18; Paeffgen, Vorüberlegungen Untersuchungshaft, S. 201; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 45 ff.; K/M-G, § 112, Rdnr. 11; Wagner, NJW 1978, 2005. 347 Vgl. KK-Boujong, § 112, Rdnr. 47; K/M-G, § 112, Rdnr. 11; LR25-Hilger, § 112, Rdnr. 58; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 189; Wagner, NJW 1978, 2004; Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft, Rdnr. 110 ff. 348 So auch Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft, Rdnr. 109; KKBoujong, § 112, Rdnr. 47; noch weiter gehen Jehle, StV 1988, 394, sowie Baumann, JZ 1962, 651 f., die das Kriterium der Rechtsfolgenerwartung mit dem der Sachbedeutung in eins setzen, so daß Beurteilungsmaßstab allein die Rechtsfolgenerwartung darstellt.

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2 StPO

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die Untersuchungshaftmaßnahme in aller Regel unverhältnismäßig ist, wenn nur eine Geld- oder Bewährungsstrafe zu erwarten i s t . 3 4 9 § 127b StPO fällt aus dieser Systematik heraus - die Norm schließt Untersuchungshaft im Massendeliktsbereich nicht nur nicht aus, sie wertet vielmehr Untersuchungshaft als generell zu praktizierende Reaktion auf Kleinkriminalität gesetzlich auf, indem sie speziell für den Bereich der Kleinkriminalität ein verschärftes Haftrecht schafft. Rechtstatsächlich steht fest, daß in Verfahren nach §§ 417 ff. StPO zu einem hohen Prozentsatz Geldstrafen und Freiheitsstrafen auf Bewährung verhängt werden. 3 5 0 Angesichts der Anwendungsvoraussetzungen des beschleunigten Verfahrens kann davon ausgegangen werden, daß dieses Ergebnis vielfach schon bei Verfahrensbeginn einigermaßen sicher feststeht, die Verhängung einer zu vollziehenden Freiheitsstrafe also ausgeschlossen werden kann. Das bedeutet aber, daß die Hauptverhandlungshaft in den meisten Fällen die einzige Inhaftierung des Beschuldigten bleiben wird und daß dies zumeist schon bei Verfahrensbeginn offen zu Tage liegt, die neue Haftregelung über einen Vorwegvollzug der Strafe mithin sogar noch hinausgeht. Die Hauptverhandlungshaft widerspricht im Ergebnis dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.e.S., indem sie Untersuchungshaft als generelle Antwort auf Massendelikte ansieht, anstatt den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entsprechend, Untersuchungshaft im Bereich der geringen Kriminalität nur in Ausnahmefällen zuzulassen. 351 Demnach wird auch in diesem Fall eine rechtswidrige Untersuchungshaftpraxis gesetzlich festgeschrieben: Seit langem ist bekannt, daß ein bedeutender Prozentsatz der Untersuchungshaftanordnungen gerade auch im Bagatellbereich und im Bereich der kleinen Kriminalität erfolgt. 3 5 2

349

Kleinknecht/Janischowsky, Untersuchungshaft, Rdnr. 109; Jehle, StV 1988, 394; Seetzen, NJW 1973, 2002; KK-Boujong, § 112, Rdnr. 48; LR24-Wendisch, § 112, Rdnr. 57; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 190; SKStPO-Paejfgen, § 112, Rdnr. 20. 350 Vgl. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 573. HK 1-Lemke, § 127b, Rdnr. 13, sowie Ashrock, StV 1997, 44, gehen sogar davon aus, daß die Verhängung einer zu vollziehenden Freiheitsstrafe im beschleunigten Verfahren die absolute Ausnahme bildet. Nach Hellmann, NJW 1997, 2147, ist das beschleunigte Verfahren faktisch auf Fälle beschränkt, in denen eine Geldstrafe zu erwarten ist. 351 So im Ergebnis auch: Dünkel, StV 1994, 618; Stintzing/Hecker, NStZ 1994, 673; HK1-Lemke, § 127b, Rdnr. 13; Ashrock, StV 1997, 44. 352 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 187 (S. 208); Dünkel, StV 1994, 613 f., 615; Hilger, NStZ 1989, 107; Cornel, StV 1994, 206; Wagner, NJW 1978, 2002, 2005; Gebauer, StV 1994, 626; ders., Rechtswirklichkeit Untersuchungshaft, S. 175, 374 f.; Herzog, StV 1997, 216.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

c) Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, Art. 3 Abs. 1 GG? Die Ausführungen zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 G G 3 5 3 und die Verhältnismäßigkeitsprüfung 354 deuten außerdem darauf hin, daß auch der allgemeine Gleichheitssatz von der Regelung der Hauptverhandlungshaft betroffen ist. Im Ergebnis führt das neue Haftrecht dazu, daß nur ein gewisser Teil von Beschuldigten, nämlich derjenige, gegen den im beschleunigten Verfahren verhandelt wird, einer verschärften Untersuchungshaftregelung unterstellt wird. Die von der Regelung Betroffenen sind Beschuldigte, die in Verdacht stehen, vergleichsweise geringe Delikte begangen zu haben. Für den mutmaßlichen Täter eines schweren Delikts, für den das beschleunigte Verfahren nicht in Betracht kommt, gelten weiter die strengen Voraussetzungen der allgemeinen Haftgründe. Gegen die Annahme einer Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 GG ließe sich allenfalls einwenden, die Dauer der Hauptverhandlungshaft sei beträchtlich kürzer als die allgemeine Untersuchungshaftdauer, so daß es an der Vergleichbarkeit der beiden Institute fehle. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß die Hauptverhandlungshaft den vollständigen Freiheitsentzug für einen Beschuldigten bedeutet, über dessen Schuld noch nicht geurteilt wurde. Auch ist sie in gleichem Maße wie die allgemeine Untersuchungshaft wesentlich durch die stattfindende Inhaftierung des Beschuldigten im Vorfeld einer strafrechtlichen Hauptverhandlung geprägt. Daß ein derartiger Eingriff überhaupt erfolgt, erscheint so gravierend, daß die Dauer der Haft demgegenüber in den Hintergrund rückt bzw. eine kurze Untersuchungshaftdauer den massiven Einschnitt, der durch den vollständigen Freiheitsentzug entsteht, nicht verblassen läßt. Die beiden Haftinstitute sind demnach, trotz ihrer unterschiedlich langen Dauer, als Untersuchungshaftmaßnahmen vergleichbar, so daß die aus der Anwendung der Hauptverhandlungshaft resultierenden Unterschiede zwischen Beschuldigten eine Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 GG darstellen. Diese Ungleichbehandlung ist sachwidrig 355 und verstößt damit gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, weil es nicht zulässig ist, die Art der 353

Vgl. oben III. 3. a). Vgl. oben III. 3. b). 355 Bei den Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen differenziert das BVerfG nach der Intensität, mit der eine Ungleichbehandlung die Betroffenen beeinträchtigt, BVerfGE 88, 96; 91, 401; 95, 316 f. Bei Ungleichbehandlungen geringer Intensität ist das Gleichheitsgebot nach der Rechtsprechung des BVerfG als Verbot einer willkürlichen Ungleichbehandlung zu verstehen. Handelt es sich um eine Ungleichbehandlung größerer Intensität, knüpft das BVerfG die Frage, inwieweit eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, an eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der Gleichheitsgrundsatz ist in diesem Fall 354

III. Das Institut der Hauptverhandlungshaft, § 127b Abs. 2

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vorläufigen Inhaftierung ohne sachliche Rechtfertigung an die Durchführung eines bestimmten Verfahrenstyps zu knüpfen. 3 5 6 Rechtswidrig ist die Ungleichbehandlung auch insofern, als die Hauptverhandlungshaft unverhältnismäßig in das Freiheitsrecht des einzelnen eingreift. Eine weitere sachwidrige Ungleichbehandlung sehen Stintzing/Hecker 359 darin, daß die Anordnung der Hauptverhandlungshaft nur zulässig ist, wenn die Hauptverhandlung innerhalb einer Woche nach der Festnahme zu erwarten i s t , 3 6 0 die Anwendung der Hauptverhandlungshaft damit auch maßgeblich von der Termindichte des jeweiligen Gericht abhängt. 361 Habe der Richter „intensiv" durchterminiert, sei eine Hauptverhandlung binnen Wochenfrist unwahrscheinlich, so daß auch ein Rückgriff auf die Hauptverhandlungshaft ausscheide. Demgegenüber könne die Hauptverhandlungshaft ohne weiteres angeordnet werden, wenn der Richter noch Termine freihabe. Der Ansicht Stintzing/Heckers ist sicherlich dahingehend zuzustimmen, daß die Zufälligkeit richterlicher Terminplanung kein zulässiges Differenzierungskriterium ungleicher Haftanwendung darstellt. Zu bedenken ist jedoch auch, daß Staatsanwaltschaften und Gerichte nach der geltenden Gesetzesfassung bei Vorliegen der Voraussetzungen verpflichtet sind, das beschleunigte Verfahren anzuwenden. 362 Diese Verpflichtung erstreckt sich auch darauf, die notwendigen organisatorischen Maßnahmen für eine problemlose Praktizierung des beschleunigten Verfahrens zu treffen. 363 Zugunsten des Gesetzgebers ist deshalb davon auszugehen, daß die verpflichtende Gesetzesfassung befolgt wird, so daß der unterschiedlichen Terminsdichte in diesem Zusammenhang nunmehr vergleichsweise geringes Gewicht zukommen dürfte. Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG läge erst dann vor, wenn die gesetzliche Verpflichtung unbeachtet bliebe und das beschleunigte Verfahren weiterhin regional sehr unterschiedlich angewendet würde. Der Gesetzgeber verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten, BVerfGE 55, 88; 85, 383; 87, 36; 88, 12; 95, 45. Zum ganzen vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 438 ff.; Sachs, Grundgesetz, Art. 3, Rdnr. 8 ff. 356 Siehe oben III. 3. a). 357 Siehe oben III. 3. b). 358 Im Ergebnis so auch Ashrock, StV 1997, 44; Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 573; zweifelnd auch HK1-Lemke, § 127b, Rdnr. 14. 359 So z.B. Stintzing/Hecker, NStZ 1997, 573. 360 § 127b Abs. 2 StPO. 361 Vgl. oben III. 2. a). 362 Vgl. oben I. 3. und I. 4. a). 363 Vgl. oben I. 3. und I. 4. a).

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

wäre in diesem Fall verpflichtet, seiner Fehlprognose durch eine Aufhebung oder Änderung der maßgeblichen Bestimmung zu begegnen. 364 4. Zusammenfassung Die Hauptverhandlungshaft ist rechtsstaatlich nicht haltbar: Sie verletzt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, außerdem verstößt sie gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. 365 Abgesehen von den rechtsstaatlichen Bedenken, die gegen die Hauptverhandlungshaft sprechen, ist ein Bedarf für ein verschärftes Haftrecht nicht ersichtlich. Speziell im Fall des reisenden Straftäters, den der Gesetzgeber mit § 127b StPO primär im Auge hatte, bringt der neue Haftgrund des befürchteten Ausbleibens keinerlei Vorteile gegenüber dem traditionellen Haftgrund der Fluchtgefahr. 366 Und auch darüber hinaus ist das Anwendungsfeld, das durch den Haftgrund des § 127b StPO neu entsteht, nicht groß, 3 6 7 vielmehr bietet das bisherige Eingriffsinstrumentarium der §§ 112 ff., 230 Abs. 2 StPO eine ausreichende Handhabe, um die Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung sicherzustellen. Damit muß bezweifelt werden, ob die Hauptverhandlungshaft den entscheidenden Anwendungsschub für das beschleunigte Verfahrens bewirken kann. 3 6 8 Hauptanwendungsfall der Hauptverhandlungshaft werden vornehmlich Wohnsitzlose und Personen mit zweifelhaften Aufenthaltsverhältnissen sein. 3 6 9 Da dieser Beschuldigtentypus schon jetzt das Hauptanwendungsfeld des beschleunigten Verfahrens darstellt, 370 würde sich durch einen verstärkten Einsatz der Hauptverhandlungshaft die bisherige Ausrichtung des beschleunigten Verfahrens verfestigen und damit einem Zwei-Klassenstrafrecht weiter Vorschub leisten. Angesichts des mit dem erweiterten Haftrechts verbundenen gesetzgeberischen Anliegens, den erzieherischen und abschreckenden Effekt einer schnellen Bestrafung stärker nutzen zu können, besteht außerdem die Gefahr, daß der Abschreckungsgedanke überbetont und das Verfahren als Zwangsmittel für kriminalpolitische Zwecke mißbraucht wird. Mit der Regelung der Hauptverhandlungshaft, die erstmals auch das Ermittlungsverfahren des beschleunigten Verfahrens determiniert, wird außer364

Vgl. BVerfGE 25, 13; 50, 335; 57, 162. 365 Vg L hierzu näher oben III. 3. 366 367 368 369 370

Vgl. oben III. 2. Vgl. oben III. 2. Zweifelnd auch Hartenbach, AnwBl 1996, 83 f.; Asbrock, StV 1997, 44 f. Vgl. oben III. 2. b) cc). Vgl. unten IV. 4. e).

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

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dem ein beschleunigtes Verfahren in sehr engen Zeitgrenzen favorisiert. Sollte dem beschleunigten Verfahren fortan zunehmend ein Rückgriff auf die Hauptverhandlungshaft vorangehen, bedeutete dies auch, daß der zeitliche Rahmen des beschleunigten Verfahrens mehr und mehr vereinheitlicht würde. Die nach der gesetzlichen Regelung gegebene Aufspaltung in zwei unterschiedliche Zeitmodalitäten des Verfahrens 371 würde damit an Bedeutung verlieren.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens 1. Die Bedeutung des beschleunigten Verfahrens vor Inkrafttreten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes Das beschleunigte Verfahren wurde vor der Gesetzesänderung im Jahre 1994 3 7 2 relativ selten durchgeführt. Gemessen an der Gesamterledigungszahl aller amtsgerichtlichen Strafverfahren nahm der Anteil der im beschleunigten Verfahren erledigten Strafsachen sogar kontinuierlich leicht a b : 3 7 3 In den alten Bundesländern wurden im Jahre 1975 noch 7,1 % 3 7 4 aller amtsgerichtlichen Verfahren im beschleunigten Verfahren erledigt, 1980 waren es 5,6 % 3 7 5 . Bis ins Jahr 1990 reduzierte sich der Anteil der beschleunigten Verfahren am amtsgerichtlichen Verfahrensvolumen weiter auf 4 % und betrug im Jahr vor der Gesetzesänderung (1993) nur noch 3,3%.

371

Vgl. § 418 Abs. 1 StPO, außerdem oben I. 4. c). Zu der Bedeutung des beschleunigten Verfahrens nach seiner Einführung 1877 und in den Jahren des Nationalsozialismus vgl.: Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 27 ff.; Zimmermann, Beschleunigtes Verfahren, S. 18 ff.; Lehmann, DRiZ 1980, 287 ff. 373 Die Zahlen wurden entnommen aus: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Fachserie A, Reihe 9 (Strafgerichte) 1975, 4. Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 2.2: Strafgerichte 1980, 4. Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften 1990, 4. Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften 1993, 4. 374 Da die Statistik in den Jahren 1975 und 1980 Bußgeldverfahren und Erzwingungshaftanträge nach § 96 OWiG in die Gesamterledigungszahl miteinbezog, wurde deren Anteil jeweils von der Gesamterledigungszahl subtrahiert, um mit den übrigen Jahren vergleichbare Werte zu erhalten. Dies ist auch der Grund, weshalb Fezer, ZStW 106 (1994), 13, der keine Korrektur der Statistik vornimmt, d.h. Bußgeldverfahren und Erzwingungshaftanträge nach § 96 OWiG in die Gesamterledigungszahl miteinbezieht, gegenüber dem hier für das Jahr 1980 ermittelten Wert (5,6%) einen deutlich geringeren Anteil bzw. einen deutlichen Rückgang der beschleunigten Verfahren (3,8 %) ermittelt. 375 Zur Berechnung der in Bezug gesetzten Gesamterledigungszahl vgl. oben Fn. 374. 372

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Rückschlüsse für die praktische Bedeutung des beschleunigten Verfahrens ergeben sich außerdem aus der staatsanwaltschaftlichen Erledigungsstatistik; entscheidend erscheint hierbei insbesondere das Verhältnis der Zahl der beschleunigten Verfahren zur Anzahl der Strafbefehlsverfahren, welches seiner Funktion nach ebenfalls eine Erledigungsform für die kleinere und mittlere Kriminalität darstellt. Während die Staatsanwaltschaft 1992 in 542.549 (17,4%) der insgesamt 3.108.846 erledigten Strafsachen einen Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls stellte, wurde die Durchführung des beschleunigten Verfahrens bundesweit in nur 20.866 (0,6%) der Fälle beantragt. 3 7 6 Im Verhältnis zum Strafbefehlsverfahren stellt das beschleunigte Verfahren damit eine unbedeutende Größe dar. Kennzeichnend für das beschleunigte Verfahren bisheriger Prägung war außerdem die von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedliche Anwendungsdichte. Die Amtsgerichte der Länder Rheinland-Pfalz und Saarland praktizierten das beschleunigte Verfahren seit 1975 in nicht einmal 0,1% ihrer Verfahren. Ähnlich gering war der Stellenwert des beschleunigten Verfahrens in den Bundesländern Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, in denen das beschleunigte Verfahren in diesem Zeitraum nicht mehr als ein Prozent der von den Amtsgerichten erledigten Verfahren ausmachte. Im Gegensatz dazu wurde das beschleunigte Verfahren in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen ausgesprochen häufig durchgeführt: In Hamburg verzeichnet man seit jeher einen Anteil der beschleunigten Verfahren am amtsgerichtlichen Verfahrensvolumen von mehr als 20%. Ähnlich hohe Werte (17% des amtsgerichtlichen Verfahrensvolumens) erreichte das beschleunigte Verfahren in den letzten Jahren vor der Gesetzesänderung in Bremen. Die Gründe, weshalb das beschleunigte Verfahren in der Vergangenheit so selten angewandt wurde, sind bislang nicht geklärt - eingehende empirische Untersuchungen über das beschleunigte Verfahren alter Fassung wurden, soweit ersichtlich, nicht durchgeführt. 377 Der Gesetzgeber hielt es trotzdem für erwiesen, daß mit der Vernachlässigung des beschleunigten Verfahrens die Möglichkeit vertan wird, Strafprozesse zu beschleunigen, sie effektiver zu gestalten sowie general- und spezialpräventive Zeichen zu setzen. Mit der Neuregelung, die das Verfahren durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz erfahren hat, wurde auf eine deutliche Anwendungssteigerung des beschleunigten Verfahrens abgezielt. Der auch von innenpolitischer Seite übernommene Ruf nach einer stärkeren Nutzung des beschleu-

376

Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 2: Gerichte und Staatsanwaltschaften 1992, 4. 377 Lediglich Fezer, ZStW 106 (1994), 11 ff., und Herzog, ZRP 1991, 126, unternahmen in den 90er Jahren erste Schritte, die rechtstatsächliche Situation des beschleunigten Verfahrens zu untersuchen.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

95

nigten Verfahrens spiegelte sich im Anlaufen zahlreicher Modellversuche und Pilotprojekte wieder. Es fragt sich nun, ob seither eine Aktivierung des beschleunigten Verfahrens tatsächlich stattgefunden hat und welche Resultate die einzelnen Projekte ergeben haben. Insbesondere erscheint dabei von Interesse, wie sich die 1994 eingefügten Änderungen in der praktischen Anwendung des Verfahrens auswirken und welche Bedeutung ihnen im Hinblick auf den erhofften Bedeutungszuwachs des Verfahrens zukommt. Schließlich erscheint es sinnvoll, nach der Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens schlechthin zu fragen. Die nachfolgende Darstellung beruht auf eigenen Beobachtungen, Gesprächen mit am beschleunigten Verfahren beteiligten Richtern und Staatsanwälten sowie gerichtsinternem Material der Amtsgerichte Bochum, Frankfurt a.M., Stuttgart, München, Berlin-Tiergarten, Köln sowie Bonn, Düsseldorf, Karlsruhe, Ettlingen und Freiburg i. Br. 2. Das Bochumer Modell A m Amtsgericht Bochum läuft seit Mai 1995 ein Pilotprojekt zum beschleunigten Verfahren: Das sog. „Bochumer M o d e l l " 3 7 8 . Bis zu diesem Zeitpunkt spielte das beschleunigte Verfahren am Amtsgericht Bochum praktisch keine Rolle. Anlaß für die Aktivierung des Verfahrens war die Gesetzesänderung aus dem Jahre 1994 sowie die Überzeugung der Projektinitiatoren, das beschleunigte Verfahren biete Möglichkeiten einer effektiven Strafverfolgung. 379

378

Herr AG-Direktor Meyer, Bochum, stellte mir freundlicherweise verschiedene Unterlagen zum Bochumer Modellversuch einschließlich der Protokolle verschiedener Besprechungen zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht zur Verfügung; zum Bochumer Modell vgl. außerdem Meyer, BAG Handelsmagazin 2/ 1996, 14 f.; sowie Leimanzik/Tietz, Kriminalistik 1998, 201. 379 Das Amtsgericht Bochum sieht die Vorteile des beschleunigten Verfahrens in: - der pädagogischen und abschreckenden Wirkung eines tatzeitnahen Urteils, - der erheblichen Ersparnis an Ermittlungsaufwand, - der Garantie eines zügigen Verfahrensabschlusses, - der sicheren Identitätsfeststellung des Täters in der Hauptverhandlung, - der optimalen Erinnerungsfähigkeit der Zeugen, - der Stärkung des Sicherheitsgefühls beim Bürger, - der höheren Vertrauensbildung in die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege.

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

a) Das Ausgangsprojekt: Justizbehörden und Polizei machen den Weg frei für beschleunigte Strafverfolgung von Ladendieben 380 aa) Das Konzept Das beschleunigte Verfahren wurde am Amtsgericht Bochum zunächst ausschließlich in der Form des sog. „besonders beschleunigten Verfahrens" 3 8 1 durchgeführt. Das heißt, die Hauptverhandlung fand noch am Tattage, spätestens aber am folgenden Tage statt, ohne daß der Beschuldigte in der Zwischenzeit aus dem Gewahrsam der Polizei entlassen wurde. In der Versuchsphase sollte das beschleunigte Verfahren fast ausschließlich am Delikt des Ladendiebstahls erprobt werden. Die spezielle Verfolgung dieses Delikts erachtete man am Amtsgericht Bochum deshalb für sinnvoll, weil die auf einen Ladendiebstahl ergangenen Strafbefehle keinerlei Abschreckungseffekt erzeugten und „von den Beschuldigten wie Bußgeldbescheide bezahlt würden". Außerdem wollte man mit der Ausrichtung des Projekts auf Ladendiebstähle Entkriminalisierungstendenzen dieses Delikts entgegenwirken, wie sie in jüngster Zeit wieder verstärkt zu beobachten sind. 3 8 2 Neben dem Delikt des Ladendiebstahls, das mit praktisch 90 % den Hauptanwendungsfall des Pilotversuchs zum beschleunigten Verfahren ausmachen sollte, wurden in der Anfangsphase nur sehr wenige weitere Delikte zum Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens zugelassen z.B. einfache Fälle des Betruges (Zechbetrug, Vertauschen von Preisetiketten), der Sachbeschädigung (z.B. Zerstörung öffentlicher Einrichtungen/ Vandalismus) und der Fälschung von Warenzeichen (Verstöße gegen das Warenzeichengesetz).

380 Der Bochumer Modellversuch hat in der regionalen wie überregionalen Presse insgesamt ein sehr positives Echo hervorgerufen, vgl. z.B. BAG Handelsmagazin 2/ 1996, 14 f.; Hamburger Abendblatt v. 24.05.1996; Westfälische Rundschau Nr. 4 v. 5.01.1996; Artikel über das Bochumer Modell sind weiter in Der Zeit, Der Welt und im Magazin Fokus erschienen. Außerdem erfolgten Berichte im regionalen Rundfunk, im Deutschlandfunk, im WDR und in RTL, vgl. den Bericht des Direktors des AG Bochum, Herr Meyer v. 3.07.1996. Vgl. außerdem: Drucks, der Bürgerschaft Hamburg 15/5442, Antrag der CDU-Fraktion: Schnellere Bestrafung von Tätern durch die Einführung des „Bochumer Modells". Von verschiedener Seite wurde der Bochumer Modellversuch aber auch scharf kritisiert, vgl. die Stellungnahmen zu diesem Antrag von Richter am AG Ullrich, Frankfurt a.M., Richter am AG Waitzinger, Stuttgart, Richter am AG v. Nerée, Hamburg, v. 12.08.1997 im Rechtsausschuß der Hamburgischen Bürgerschaft. 381 Zum Begriff des „besonders beschleunigten Verfahrens" vgl. unten IV. 4. a). 382 Vgl. zum Beispiel den Bericht in der SZ v. 20.11.1998, S. 3 f.; Bernsmann, ZRP 1994, 332; Albrecht, in: Eser/Ka iser/We ig end, Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 572 f.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

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Das beschleunigte Verfahren wurde zudem von vornherein auf Straftaten mit einer Straferwartung von unter sechs Monaten begrenzt. Grund für die Einschränkung war die sonst „drohende" Pflichtverteidigerbestellung nach §418 Abs. 4 StPO, die sich nach Aussagen der Projektplaner in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht organisieren lasse. Nahm der Beschuldigte sein Recht auf (Wahl-)Verteidigung wahr, wurde das beschleunigte Verfahren regelmäßig als ungeeignet abgelehnt. Neben der Ausrichtung auf das Delikt des Ladendiebstahls zielt das Bochumer Modell mit der besonderen Schnelligkeit der Verfahrensdurchführung bzw. der Tatsache, daß der Beschuldigte bis zur Hauptverhandlung einbehalten wird, auf Beschuldigte ohne festen Wohnsitz sowie auf diejenigen Fälle, in denen abzusehen ist, daß die förmliche Zustellung einer Ladung oder eines Strafbefehls vermutlich aussichtslos wäre. An der Projektplanung waren Vertreter der Richterschaft, der Staatsanwaltschaft sowie der Polizei und teilweise auch der I H K beteiligt. Die Beteiligung der I H K an der Projektplanung ergab sich aus der Ausrichtung des Pilotversuchs auf das Delikt des Ladendiebstahls. Die Mitwirkung der Inhaber und Beschäftigten des Einzelhandels war vor allem deshalb notwendig, weil der geplante Ablauf des beschleunigten Verfahrens ein etwas anderes Vorgehen des Einzelhandelspersonals nach einem festgestellten Diebstahl erforderte: Statt, wie bislang durchweg praktiziert, dem mutmaßlichen Täter eines Ladendiebstahls die gestohlene Ware abzunehmen, ihm Hausverbot zu erteilen und irgendwann später Strafanzeige zu stellen, war der Einzelhandel aufgefordert, die Polizei jeweils unmittelbar nach der Tat zu rufen und den Verdächtigen bis zu ihrem Eintreffen im Geschäft festzuhalten. In der Phase der Modellplanung wurden vor allem für das Delikt des Ladendiebstahls konkrete Anwendungs- und Durchführungsvorgaben erstellt. Um den Aufwand möglichst gering zu halten, kam man zusätzlich überein, das Verfahren weitgehend formularmäßig abzuwickeln.

bb) Ablauf des Verfahrens Das beschleunigte Verfahren beginnt am Amtsgericht Bochum praktisch mit der Festnahme des auf frischer Tat gestellten Verdächtigen (da bereits zu diesem Zeitpunkt die ersten organisatorischen Maßnahmen für die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens eingeleitet werden). Der festnehmende Polizeibeamte entscheidet sich schon direkt bei der Festnahme, ob er den jeweiligen Fall dem Gericht für ein beschleunigtes Verfahren präsentiert. Für das Projekt wurden gesonderte Anzeigeformulare entwickelt, in die der einzelne Polizeibeamte mit geringstmöglichem Aufwand alle notwendigen 7 Kohler

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Angaben über den Beschuldigten, den Tathergang sowie über den Geschädigten und die Zeugen einträgt bzw. ankreuzt. Ausgehend von den Vorgaben des Bochumer Modells beziehen sich die Angaben unbedingt auch darauf, ob am Festnahmeort geklärt werden konnte, inwieweit der Beschuldigte einen festen Wohnsitz hat, ob der Beschuldigte geständig ist, ob ein Dolmetscher erforderlich ist und wo die Zeugen innerhalb der nächsten 24 Stunden telefonisch erreichbar sind. Zusätzlich erhielten die Polizeibeamten Checklisten, wie sie nach Aufnahme der Anzeige für die Vorführung am Festnahmetag oder am nächsten Tag zu verfahren haben. Der Polizeibeamte informiert telefonisch noch vom Festnahmeort aus die Eingangsgeschäftsstelle des Gerichts über die beabsichtige Vorführung des Beschuldigten zum beschleunigten Verfahren. Die Geschäftsstelle stellt dann alle weiteren organisatorischen Maßnahmen für die Durchführung des Verfahrens sicher - sie unterrichtet u.a. den Eildienstamtsanwalt bei der Staatsanwaltschaft und organisiert in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Richter den Termin zur Hauptverhandlung, lädt gegebenenfalls einen Dolmetscher und die Zeugen. In der verbleibenden Zeit, bis sie den Beschuldigten dem Gericht zuführt, vernimmt die Polizei den Beschuldigten auf ihrer Dienststelle; dort werden auch eine computermäßige Abfrage der Vorstrafen und notwendige erkennungsdienstliche Maßnahmen durchgeführt. Das weitere Verfahren hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt der Tatverdächtige festgenommen wird. So kann die Hauptverhandlung aus organisatorischen Gründen noch am Tattage stattfinden, wenn die Festnahme vor 13.00 Uhr erfolgt ist. Damit stehen für die polizeilichen Ermittlungen und die Zuführung des Beschuldigten zum Gericht maximal zwei Stunden Zeit zur Verfügung. Ist der Tatverdächtige nachmittags oder abends festgenommen worden, wird die Hauptverhandlung am nächsten Tag durchgeführt. Der Beschuldigte wird in diesem Fall über Nacht in Polizeigewahrsam ge383

nommen. Der Eildienstamtsanwalt erhält die Verfahrensakten, wenn der Beschuldigte dem Gericht zugeführt wird. Er prüft, ob sich die Sache für ein beschleunigtes Verfahren eignet und stellt dann gegebenenfalls auf einem ebenfalls weitgehend vorformulierten Formblatt den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren. Verneint er die Eignung für das beschleunigte Verfahren, veranlaßt er die Entlassung des Beschuldigten. Im gerichtlichen Bereich wurde das beschleunigte Verfahren in den normalen Geschäftsverteilungsplan integriert. Dazu wird für jeden Wochentag ein 383

Der Bochumer Modellversuch sah zunächst allein ein beschleunigtes Verfahren mit der Hauptverhandlung am Tattage, spätestens am darauffolgenden Tag vor. Erst seit Inkraftsein der Hauptverhandlungshaft wird das beschleunigte Verfahren gegebenenfalls über den der Festnahme folgenden Tag hinaus durchgeführt, vgl. hierzu unten IV. 2. b).

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

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Richter bestimmt, der an diesem Wochentag planmäßig Sitzung hat. Die beschleunigten Verfahren finden dann jeweils im Anschluß an die normale Sitzung gegen 14.30 bzw. 15.00 Uhr statt. Nach gut zwei Jahren konnte die Versuchsphase als abgeschlossen gelten. Im Jahre 1995 wurden 39 Hauptverhandlungen 384 im beschleunigen Verfahren durchgeführt, im Jahre 1996 waren es hochgerechnet 120 Verfahren. 385 Die Sanktionen bewegten sich dabei zwischen Geldstrafen von 15 Tagessätzen und 5 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung. 386 Von den Beteiligten wird der Modellversuch insgesamt als sehr positiv bewertet. Als Nebeneffekt hat sich gezeigt, daß die Ermittlungen der Polizei unter dem bestehenden Zeitdruck im allgemeinen effektiver geführt werden. Auch was die Ausrichtung auf das Delikt des Ladendiebstahls angeht, halten die Verantwortlichen den Pilotversuch für erfolgreich, da Ladendiebstähle in Bochum infolge des Abschreckungseffektes, der von dem beschleunigten Verfahrensmodell ausgehe, inzwischen merklich zurückgegangen seien. Man gibt allerdings am AG Bochum zu, daß serienmäßig Ladendiebstähle begehende Täter, gegen die sich die Bekämpfung des Ladendiebstahls hauptsächlich richtet, nicht etwa ihr kriminelles Wirken aufgegeben hätten, sondern in die benachbarten Städte abgewandert seien. cc) Die umstrittene Festnahmepraxis Abgesehen von der Kritik an der extrem schnellen Verfahrensführung, wurde der Bochumer Modellversuch vor allem im Hinblick auf seine Festnahmepraxis für problematisch gehalten. 387 Das Amtsgericht Bochum selbst hält einen 24-stündigen Freiheitsentzug „vor dem Hintergrund des derzeit geltenden und praktizierten Untersuchungshaftrechts, insbesondere im Hinblick auf § 113 StPO, dann für verhältnismäßig, wenn eine Geldstrafe in der Größenordnung von 20 Tagessätzen zu erwarten ist". Ausgehend von dieser Prämisse haben die an der Projektplanung beteiligten Vertreter der Richter- und Staatsanwaltschaft sowie der Polizei für das Delikt des Ladendiebstahls konkrete Anwendungsgrenzen hinsichtlich der Person des Festgenommenen sowie des Beuteweites ausgearbeitet: 384

Die Anwendungshäufigkeit im ersten Jahr des Projekts erscheint nicht sehr hoch. Dies wird damit erklärt, daß der Einzelhandel der Aufforderung, die Polizei an den Tatort zu rufen, anfangs nur sehr zögernd nachkam. 385 Neueres Zahlenmaterial konnte mir leider nicht mitgeteilt werden. 386 Eine Statistik über die genaue Verteilung der im beschleunigten Verfahren verhängten Strafen wird nach Angaben des AG Bochum nicht geführt. 387 So beispielsweise Richter am AG Waitzinger, Stuttgart, und Richter am AG v. Nerée, Hamburg, in den jeweiligen Stellungnahmen (vgl. Fn. 380) v. 12.08.1997 vor dem Rechtsausschuß der Hamburgischen Bürgerschaft zu der Drucks. 15/5442. 7*

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1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Bei einem Verdächtigen mit festem Wohnsitz 3 8 8 , geklärter Identität und ohne Vorstrafen wird das beschleunigte Verfahren am Festnahmetag durchgeführt, wenn der Wert der Beute mehr als 50,- D M beträgt. Verfügt der Festgenommene über keinen festen Wohnsitz oder ist er vorbestraft 389 , wird ein beschleunigtes Verfahren schon ab einem Beuteweit von 10,- D M eingeleitet. Kann das beschleunigte Verfahren aus organisatorischen Gründen erst am darauffolgenden Tag stattfinden, soll der notwendig werdende Freiheitsentzug unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten dann unbedenklich sein, wenn der Verdächtige keinen festen Wohnsitz hat oder seine Identität ungeklärt bleibt und der Wert der gestohlenen Ware über 50,- D M liegt. Auf das Vorliegen von Vorstrafen kommt es in diesem Fall nicht an. Hat der Beschuldigte einen festen Wohnsitz und ist seine Identität geklärt, scheidet ein Festhalten über Nacht im Rahmen des Polizeigewahrsams nach den Bochumer Modellvorgaben aus, ein beschleunigtes Verfahren wird in diesem Fall nicht durchgefühlt. Die Verantwortlichen des A G Bochum sehen ihre Festnahmepraxis allein mit dem Verweis auf die Beachtung der Verhältnismäßigkeitsgrenzen gerechtfertigt. Dies genügt jedoch nicht: Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO ist zunächst, daß Gefahr im Verzug ist und die Voraussetzungen eines Haftbefehls, d. h. dringender Tatverdacht, ein Haftgrund und Verhältnismäßigkeit, § 112 Abs. 1 StPO, vorliegen. Blickt man auf die Bochumer Modellvorgaben, werden Tatverdächtige, zumindest wenn das beschleunigte Verfahren am Tag der Festnahme abgeschlossen wird, auch dann vorläufig festgenommen und dem beschleunigten Verfahren (zwangsweise) zugeführt, wenn kein Haftgrund besteht. Die Bochumer Festnahmepraxis ist damit vom geltenden Festnahmerecht eindeutig nicht gedeckt. Auch durch den neu hinzugekommenen § 127b StPO wird diese Festnahmepraxis nicht legitimiert. Zwar erfordert die Festnahme nach § 127b StPO nicht das Vorliegen eines Haftgrundes i.S.d. § 112 Abs. 2 StPO. Voraussetzung ist in diesem Fall aber, daß die begründete Befürchtung besteht, der Beschuldigte werde nicht zum Hauptverhandlungstermin erscheinen. Insoweit ist es auch im Rahmen des § 127b StPO nicht möglich, einen Tatverdächtigen mit festem Wohnsitz ohne Prüfung, inwieweit Tatsachen vorlie388 Als fester Wohnsitz gilt am AG Bochum nicht: ein möbliertes Zimmer, ein Untermietverhältnis oder ein Zimmer in einem Wohnheim (z.B. Aussiedler-, Asylbewerberwohnheim). 389 Unter Vorstrafe ist in diesem Zusammenhang nur eine einschlägige Vorstrafe zu verstehen.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

101

gen, die sein Ausbleiben ernsthaft erwarten lassen, zwangsweise festzuhalten und dem beschleunigten Verfahren zuzuführen.

b) Erweiterung

des Pilotprojekts

Im Hinblick auf die neu eingeführte Hauptverhandlungshaft und den zur Routine gewordenen Ablauf des beschleunigten Verfahrens wurde das laufende Projekt Mitte des Jahres 1997 erweitert: Dabei wurde die Begrenzung auf die oben genannten Delikte aufgehoben. Von nun an werden am Amtsgericht Bochum - bei bestehender Eignung nach § 417 StPO grundsätzlich alle Delikte dem beschleunigten Verfahren zugeführt. Neben den bislang beschleunigt verfolgten Delikten (Ladendiebstähle, Zechbetrug, Betrug durch Vertauschen von Preisetiketten, Verstöße gegen das Warenzeichengesetz, Sachbeschädigung durch Zerstörung öffentlicher Einrichtungen) wird hierbei insbesondere an einfache Fälle des Diebstahls, auch an Einbruchsdiebstahl, § 243 StGB, gedacht sowie an Diebstahl mit Waffen, § 244 StGB, Verstöße gegen § 53 Waffengesetz, Betrug oder Unterschlagung beim Tanken, §§ 263, 246 StGB, Computerbetrug, § 263a StGB, Verstöße gegen § 92 AuslG (insbesondere § 92 Abs. 1 Nr. 1 u. 2, Abs. 2 Nr. 1 AuslG: Aufenthalt ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung/ ohne gültigen Paß; unerlaubte Einreise/unerlaubter Aufenthalt nach bereits erfolgter Ausweisung oder Abschiebung) sowie Verstöße gegen § 85 Nr. 3 AsylVfG (unerlaubte Erwerbstätigkeit eines Asylbewerbers). Zwar strebt das Amtsgericht Bochum auch weiterhin eine Hauptverhandlung am Tat- oder am Folgetage an. M i t der Hauptverhandlungshaft sehen die Verantwortlichen dort nun aber die Möglichkeit, das beschleunigte Verfahren über einen Zeitraum von bis zu einer Woche auszudehnen. Die Voraussetzungen der Hauptverhandlungshaft sind nach Einschätzung der Projektplaner bei der anvisierten Zielgruppe des Pilotversuchs, den Beschuldigten ohne festen Wohnsitz, regelmäßig gegeben. Die Verhältnismäßigkeit der maximal einwöchigen Hauptverhandlungshaft sei ab einer Straferwartung von drei Monaten Freiheitsstrafe oder entsprechend ab 90 Tagessätzen Geldstrafe gewahrt. Durch den möglichen Rückgriff auf die Hauptverhandlungshaft werde der hohe Zeitdruck abgemildert, unter dem das beschleunigte Verfahren bislang durchgeführt werden mußte. Für einen Außenstehenden wird allerdings nicht klar, warum ein Beschuldigter bei Vorliegen der Untersuchungshaftvoraussetzungen gegebenenfalls nicht schon in der Anfangsphase des Projekts mit einer kurzen Untersuchungshaft belegt worden ist. Der organisatorische Aufwand müßte der gleiche wie im Falle einer Hauptverhandlungshaft sein, da auch die Hauptverhandlungshaft eine gesonderte richterliche Anhörung voraussetzt.

102

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§417 ff. StPO

Da die Dauer des beschleunigten Verfahrens mit der Erweiterung des Pilotversuchs bis zu einer Woche ausgedehnt werden kann, sieht man sich am Amtsgericht Bochum nun auch in der Lage, eine Wahl- oder Pflichtverteidigung zu organisieren. Die selbstgesetzten Anwendungsgrenzen des Verfahrens auf Fälle bis zu einer Straferwartung von fünf Monaten wurden in diesem Zusammenhang - wie im Gesetz vorgesehen - auf ein Jahr Freiheitsstrafe angehoben. Außerdem wurde ein anwaltschaftlicher Bereitschaftsdienst ins Leben gerufen. Die Mitwirkungsbereitschaft der Anwaltschaft und die Zusammenarbeit mit den Verteidigern werden allgemein als gut bezeichnet. Bei der Verteidigerbestellung wird das aus § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO resultierende Wahlrecht des Beschuldigten zunächst respektiert. Ist der gewählte Verteidiger verhindert, wird das beschleunigte Verfahren nicht als ungeeignet abgelehnt. Dem Beschuldigten wird in diesem Fall ein Pflichtverteidiger aus der Liste beigeordnet bzw. im Falle der Wahlverteidigung eine Auswahl aus der Liste angeboten. 3. Das beschleunigte Verfahren am Amtsgericht Frankfurt a.M. Anders als beim A G Bochum gehört das beschleunigte Verfahren am AG Frankfurt a.M. seit langem zum Gerichtsalltag. Bekannt wurde das beschleunigte Verfahren am A G Frankfurt a.M. durch den Modellversuch „Verkehrsschnellgericht" 390 , der dort zu Beginn der 60er Jahre vor der Umstellung der leichteren Verkehrsstraftaten in Ordnungswidrigkeiten durchgeführt worden war. Aber auch in den Jahren danach war die zahlenmäßige Bedeutung des beschleunigten Verfahrens hier im Vergleich zum Bundesdurchschnitt verhältnismäßig hoch. 3 9 1 Seit August 1996 läuft am A G Frankfurt a.M. auf Initiative des Hessischen Justizministeriums ein weiterer Pilotversuch zum beschleunigten Verfahren. Mit dem Projekt „Intensivierung des beschleunigten Verfahrens" erhofft man sich zunächst eine Anwendungssteigerung des Verfahrens und damit eine Entlastung von Amtsgericht und Staatsanwaltschaft. Das Pilotprojekt zielt daneben aber auch auf eine allgemeine Verkürzung der Untersuchungshaftdauer. Mit dieser Zielvorgabe fügt es sich ein in die Reihe zweier anderer in Frankfurt geführter Projekte, die ebenfalls zu einer Vermeidung und Verkürzung von Untersuchungshaft beitragen sollten: Das 390 Vgl. hierzu die Berichte von Bohnenberger, DAR 1960, 197; Lueken, DAR 1960, 250; Cordier, NJW 1961, 393. 391 Zu Beginn der 90er Jahre wurden jährlich um die 600 Verfahren pro Jahr durchgeführt. Gemessen an allen Einzelrichteranklagen, entspricht dies einem prozentualen Anteil des beschleunigten Verfahrens von ca. 8%.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

103

1984 bis 1987 in der JVA Frankfurt für weibliche Untersuchungshaftgefangene durchgeführte Pilotprojekt „Rechtsberatung Untersuchungshaft" sowie das von Okt. 1991 bis Sept. 1994 geführte Projekt „Entschädigung von Anwälten für die Rechtsberatung von Untersuchungsgefangenen" 392. a) Struktur des beschleunigten Verfahrens am Amtsgericht Frankfurt a.M. 393 Da das beschleunigte Verfahren am Amtsgericht Frankfurt a.M. seit längerem praktiziert wurde, konnte bei Beginn des Pilotversuchs auf eine bestimmte Grundstruktur zurückgegriffen werden, die mit dem jetzigen Projekt in weiten Teilen beibehalten wurde. So wird das beschleunigte Verfahren am A G Frankfurt a.M. weiterhin nicht als besonders beschleunigtes Verfahren durchgefühlt. Die Dauer des gerichtlichen Verfahrens vom Eingang des Antrags bei Gericht bis zur Hauptverhandlung beträgt im Durchschnitt 16 Tage, der durchschnittliche Zeitraum von der Vollstreckung des Haftbefehls 394 bis zum Eingang des Antrags bei Gericht liegt bei 24 Tagen. Ein beschleunigtes Verfahren i.d.F. des besonders beschleunigten Verfahren hält man am A G Frankfurt a.M. auch nicht für sinnvoll, da ein zu schnelles Verfahren zum einen die Rechte des Beschuldigten in untragbarer Weise verkürze. Zum anderen sei es aus organisatorischen und zeitlichen Gründen am AG Frankfurt a.M. nicht möglich, ein so kurzfristig angesetztes Verfahren durchzuführen: Die notwendigen Ermittlungen zur Tat und zur Person des Täters, insbesondere die erforderlichen Identitätsüberprüfungen könnten nicht so schnell geleistet werden, die erforderlichen Registerauszüge (Bundes-, Ausländerzentralregister) lägen nicht oder nur unvollständig vor; außerdem sei der Zeitraum zu kurz, um notwendige Beiakten beizuziehen. Beschleunigt verfolgt werden am Amtsgericht Frankfurt a. M. - vorausgesetzt die Eignung nach § 417 StPO ist gegeben - grundsätzlich alle Delikte. Lediglich Verstöße gegen das BtMG, die Abgabenordnung und das Umweltrecht, die man aus sachlichen Gründen nicht für ein beschleunigtes 392

Ziel dieser Modellversuche war es außerdem, die Chancengleichheit sozial schlechter gestellter Untersuchungsgefangener zu verbessern; zu diesen Pilotversuchen vgl. Schöch, StV 1997, 323 ff.; Gebauer, StV 1994, 622 ff. 393 Die Darstellung der Frankfurter Praxis basiert auf verschiedenen Materialien des Amtsgerichts Frankfurt a.M., die mir freundlicherweise von Herrn Richter am AG Ullrich zur Verfügung gestellt wurden. Die genannten Zahlen beziehen sich auf eine interne Sonderauswertung des AG Frankfurt a.M. für den Zeitraum v. 01.07.1997 bis zum 26.11.1997. 394 Das beschleunigte Verfahren wird am Amtsgericht Frankfurt a.M. praktisch ausschließlich in Untersuchungshaftfällen angewandt.

1 0 4 1 .

Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Verfahren geeignet hält, sind gerichtsintern von seiner Anwendung ausgenommen. Nach den praktischen Erfahrungen konzentriert sich der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens am Amtsgericht Frankfurt a.M. in erster Linie auf Verstöße gegen das Ausländergesetz, allein oder in Verbindung mit Urkundenfälschung oder Mißbrauch von Ausweispapieren. Einen hohen Prozentsatz der Anwendungsfälle machen außerdem Diebstahlsdelikte aus. In Frankfurt a.M. spielen seit jeher 3 9 5 Taschendiebstähle und Diebstahlsdelikte in Zusammenhang mit der Beschaffungskriminalität drogenabhängiger Beschuldigter eine große Rolle. Ladendiebstähle werden hier erst ab einem Beute wert von 100,- D M dem beschleunigten Verfahren zugeführt. Ist der Beutewert geringer, wird das Verfahren eingestellt oder die Tat mit einem Strafbefehl geahndet. Neben diesen beiden Deliktsgruppen (Verstöße gegen das Ausländergesetz, Diebstahlsdelikte), die den Hauptanwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens ausmachen, werden außerdem Computerbetrugsdelikte in der Form des Kreditkartenmißbrauchs, Körperverletzungen und Verstöße gegen das Waffengesetz im Verfahren nach §§ 417 ff. StPO verhandelt. Das beschleunigte Verfahren findet außerdem seit jeher praktisch ausschließlich in Untersuchungshaftfällen statt. Von beispielsweise 429 im Jahre 1997 untersuchten Fällen waren nur fünf Beschuldigte nicht in Untersuchungshaft. Dabei betonen die Verantwortlichen am A G Frankfurt a.M., daß keinesfalls vermehrt Beschuldigte vorläufig inhaftiert würden oder Haftbefehle allein deshalb erlassen würden, um ein beschleunigtes Verfahren durchführen zu können. Das beschleunigte Verfahren werde vielmehr vornehmlich in Untersuchungshaftfällen eingesetzt, um so die Untersuchungshaftdauer möglichst kurzhalten zu können. Genausowenig wirke sich die angestrebte Ausdehnung des beschleunigten Verfahrens nach Aussagen von Verantwortlichen zu Lasten der Verfahrenserledigungen von Strafbefehl und Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO aus. Im Bereich der Klein- und Bagatellkriminalität hält man die erwünschte schnelle und ressourcengerechte Reaktion der Justiz durch ein Vorgehen gem. §§153 ff. StPO oder das Strafbefehlsverfahren für allein angemessen. Dies ist auch der Grund, weshalb Ladendiebstahlsdelikte erst ab einem Beute wert von 100,- D M dem beschleunigten Verfahren zugeführt werden. Im gerichtlichen Bereich besteht für das beschleunigte Verfahren seit Ende des Jahres 1978 eine ausschließliche Zuständigkeit, die über die Jahre hinweg schrittweise ausgebaut worden ist. Die Durchführung des beschleunigten Verfahrens wurde einer Abteilung (der Abteilung 932), bestehend aus einer eigenen Geschäftsstelle und drei Richtern zugewiesen. Neben beschleunigten Verfahren verhandelt die Abteilung zu etwa einem 395

Vgl. z.B. schon Herzog, StV 1991, 126.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

105

Viertel Einzelrichteranklagen im Normalverfahren, wobei sich die Beschuldigten in diesem Fall ebenfalls (bei Anklageerhebung) in Untersuchungshaft befinden. Diese Zuständigkeitsaufteilung unterstreicht noch einmal die Ausrichtung des beschleunigten Verfahrens auf Untersuchungshaftfälle. b) Pilotprojekt:

„Intensivierung

des beschleunigten Verfahrens"

Die Neuerungen des initiierten Pilotprojekts beruhen auf eigentlich „banal klingenden" 3 9 6 organisatorischen Veränderungen: In einer Vorlaufphase haben Amtsanwaltschaft und Amtsgericht die Verlaufsphasen des beschleunigten Verfahrens, insbesondere die Aktenwege analysiert, nämlich die Wege vom Eingang der Akte bei dem sog. Haftamtsanwalt zu dem Haftrichter, von diesem zu seiner Geschäftsstelle, von dieser Geschäftsstelle zur Geschäftsstelle der Amtsanwaltschaft, innerhalb der Amtsanwaltschaft von deren Geschäftsstelle zu dem zuständigen Amtsanwalt etc. und sodann den Weg zurück zu den erkennenden Richtern des AG. Aus dieser Untersuchung ergaben sich deutliche Beschleunigungsmöglichkeiten, mit deren Realisierung sich 24 Anlaufstellen bis zum Eingang der Akte beim Amtsgericht auf 16 vermindern ließen. Eine weitere, wesentliche Beschleunigung wurde dadurch erreicht, daß das Hessische Justizministerium zwei zusätzliche Justizwachtmeister zur Verfügung stellte, die allein in diesem Projekt eingesetzt werden. Ihre Arbeit besteht - verkürzt gesagt zum einen darin, daß sie den Aktentransport übernehmen und erforderliche Kopien unmittelbar erstellen. Zusammen mit der oben geschilderten Einsparung an Aktenanlaufstellen konnte die Aktenumlaufzeit durch diese Neueinstellung insgesamt von etwa 14 Tagen auf vier bis fünf Tage reduziert werden. Zum anderen werden die Vorführungen der Angeklagten bei den erkennenden Richtern nun von jeweils zwei Wachtmeistern im Wechsel durchgeführt. Damit entfällt die bislang gegebene Wartezeit auf vorzuführende Angeklagte, was eine Zeitersparnis um deutlich mehr als eine Stunde pro Sitzungstag darstellt. Zusätzlich wurden organisatorische Veränderungen in der für die beschleunigten Verfahren zuständigen Abteilung vorgenommen. So wurden die beteiligten Richter sowie die Geschäftsstelle und die Amtsanwaltschaft mit vernetzten PCs ausgestattet. Für die Verwaltung steht der Abteilung ein Softwareprogramm zur Verfügung, die routinemäßigen Schreibarbeiten 396

So Richter am AG Ullrich, Frankfurt a.M., in seiner Stellungnahme v. 12.08.1997 im Rechtsausschuß der Hamburgischen Bürgerschaft zu dem Antrag der CDU-Fraktion, Drucks. 15/5442: Schnellere Bestrafung von Tätern durch die Einführung des „Bochumer Modells".

106

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

werden durchweg mit Textbausteinen erledigt. Die beteiligten Rechtsanwälte, Zeugen und Dolmetscher werden von der Geschäftsstelle, zum Teil auch von den Richtern selbst, telefonisch geladen. Auch die Vorführungsersuchen an die Haftanstalten erfolgen telefonisch oder per Fax. In Zusammenhang mit dem Pilotversuch wurde die Abteilung noch einmal um eine Richterstelle, auf jetzt drei Richter vergrößert, so daß die anstehenden Verfahren noch schneller terminiert und durchgeführt werden können. Jede der z.Zt. drei Richterinnen nimmt zwei Sitzungstage pro Woche wahr. Diese sind derart verteilt, daß an jedem Tag beschleunigte Verfahren, in der Regel fünf bis neun Fälle, durchgeführt werden können. Die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren wird im 30 MinutenTakt anberaumt. Die durchschnittliche Hauptverhandlungsdauer beträgt nach der internen Statistik 36 Minuten. Allerdings hängt dieser Zeitraum nicht spezifisch mit der beschleunigten Verfahrensführung zusammen, da auch für den normalen Fall vor dem Einzelrichter nur eine halbe Stunde Zeit veranschlagt wird. Die Anklage wird mündlich erhoben, indem der schriftlich, den Anforderungen des § 200 Abs. 1 StPO entsprechend gestellte Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens verlesen wird. Von der vereinfachten Beweisaufnahme nach § 420 StPO wird bislang kein Gebrauch gemacht. Nach Aussagen der beteiligten Richterinnen wird das beschleunigte Verfahren unterschiedslos gegen verteidigte - auch gegen nach § 418 Abs. 4 StPO pflichtverteidigte - und unverteidigte Beschuldigte durchgeführt. Dies läßt sich an Hand der internen Statistik bestätigen, nach welcher der Prozentsatz der verteidigten Beschuldigten mit 75 % verhältnismäßig hoch liegt. Die im beschleunigten Verfahren ausgesprochenen Strafen liegen etwas über der bundesweit 397 zu beobachtenden allgemeinen Strafenverteilung: In 77 % der mit einer Strafe entschiedenen Fälle wurden Geldstrafen verhängt, in 23 % Freiheitsstrafen. Dabei wurden ungefähr zwei Drittel der Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt. 398 Die Anwendungshäufigkeit des beschleunigten Verfahrens, die in den 90er Jahren bei 600 Verfahren pro Jahr lag, stieg nach Anlaufen des Pilotversuchs noch einmal deutlich an. 1996 wurden 853 beschleunigte Verfahren verhandelt, was einem prozentualen Anteil an der Gesamtzahl aller 397 1997 betrug der Geldstrafenanteil bundesweit 81,7%, der Freiheitsstrafenanteil 18,3% (Strafaussetzungen: 12,6%), vgl. die Zahlen in: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 3: Strafverfolgung 1997, S. 44 f., 48 f. 398 Die verhängten Geldstrafen bewegten sich in 53% zwischen 16 u. 90 Tagessätzen, in 35% zwischen 91 und 150 Tagessätzen. In 11% der Fälle wurden Geldstrafen über 150 Tagessätze, in weniger als 1 % Geldstrafen unter 15 Tagessätzen verhängt.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten V e r f a h r e n s 1 0 7

Einzelrichteranklagen von 12,23% entspricht. 1997 waren es hochgerechnet 948 beschleunigte Verfahren; das sind 14,35% der Einzelrichteranklagen. Da das beschleunigte Verfahren nur in Haftsachen angewandt wird, führt der Pilotversuch, wie geplant, zu einer deutlichen Verkürzung der Untersuchungshaftdauer und damit zu einer Einsparung der Untersuchungshaftkosten 3 9 9 . c) Zusammenfassung Nach den Modellvorgaben und den erzielten Ergebnissen stellt sich das Frankfurter Projekt als Erfolg dar. Positiv fällt vor allem ins Gewicht, daß das beschleunigte Verfahren nicht in einer übereilten Form durchgeführt wird. Auch als Beobachter vor Ort gewinnt man den Eindruck eines gut organisierten und effektiv funktionierenden, dabei die Rechte des Beschuldigten wahrenden Verfahrens. Alles in allem vermag der Pilotversuch deshalb zu überzeugen. Vergleicht man den Zeitrahmen des beschleunigten Verfahrens am Amtsgericht Frankfurt a.M. mit den Zeitvorgaben des Bochumer Modells, so ist leicht zu erkennen, daß es sich um zwei ganz unterschiedliche Ansatzpunkte für eine beschleunigte Verfahrensführung i.S.v. §§ 417 ff. StPO handelt. So wird das beschleunigte Verfahren am Amtsgericht Bochum in der schnellstmöglichen Form durchgeführt. Im Vergleich dazu erscheint das beschleunigte Verfahren am AG Frankfurt a.M. geradezu in einer gedehnten Form und erinnert so schon fast an ein sehr zügig durchgeführtes „Normalverfahren". Der Eindruck eines sehr zügig durchgeführten Normalverfahrens bestätigt sich auch insofern, als das Instrumentarium, das der Gesetzgeber mit dem beschleunigten Verfahren zur Verfügung gestellt hat, am A G Frankfurt a. M. kaum zur Anwendung gelangt: Die Vereinfachungen der Beweisaufnahme werden bislang nicht genutzt. 4 0 0 Aus der Möglichkeit, mündlich Anklage zu erheben, resultiert in der Frankfurter Praxis nur ein formaler Unterschied zum Normalverfahren: Zwar wird die Anklage regelmäßig mündlich erhoben. Da aber der Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens, der dann in der Hauptverhandlung verlesen wird, zuvor schriftlich, den Anforderungen einer Klageschrift entsprechend, gestellt worden ist, 4 0 1 bleibt der Aufwand gegenüber dem Normalverfahren identisch.

399

In Hessen sollen die Kosten für Untersuchungshaft pro Tag, die Gebäudekosten nicht mit eingerechnet, durchschnittlich 120,- DM betragen. 400 Vgl. oben IV. 3. b). 401 Vgl. oben IV. 3. b).

1 0 8 1 .

Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Mit dieser Feststellung soll den eingesetzten Maßnahmen keineswegs der Beschleunigungseffekt und der Erfolg abgesprochen werden. Es wird an dieser Stelle nur deutlich, daß die Erfolge des Frankfurter Projekts nicht auf der (bestmöglichen) Ausnutzung der spezifischen Elemente des beschleunigten Verfahrens beruhen. Daneben zeigt vielleicht gerade das überzeugende Frankfurter Projekt, das eine breite Beschleunigungswirkung allein durch Umstrukturierung und organisatorische Maßnahmen sowie engagierte und effektive Verfahrensführung aller Beteiligten erreicht hat, daß auf diesem Gebiet Potential für eine allgemeine (amtsgerichtliche) Strafverfahrensbeschleunigung besteht. 4. Allgemeine Anwendungspraxis Die beiden vorgestellten 402 Modelle des A G Bochum und des A G Frankfurt a.M. lassen sich in vieler Hinsicht stellvertretend für die aktuelle Anwendungssituation des beschleunigten Verfahrens anführen. a) Durchführungsvarianten

des beschleunigten Verfahrens

aa) Verfahrensdauer Unterschiede in der Praxis des beschleunigten Verfahrens bestehen zum einen in der Dauer des Verfahrens. Die Anwendungspraxis der Gerichte läßt sich hierbei grob in zwei Gruppen unterteilen: Zum einen wird das beschleunigte Verfahren wie am A G Bochum 4 0 3 in der schnellstmöglichen Form mit der Hauptverhandlung noch am Tag der festgestellten Tat oder spätestens ein, zwei Tage danach praktiziert. Für diese Variante des beschleunigten Verfahrens, in der das Verfahren i.S.v. §418 Abs. 1,1. Mod. StPO sofort oder zumindest in kürzester Frist durchgeführt wird, hat sich allgemein der Begriff des „besonders beschleunigten Verfahrens" 404 (bbV) etabliert. Ein bbV praktizieren neben dem Amtsge-

402

Vgl. oben IV. 2. und IV. 3. Vgl. oben IV. 2. a) aa). 404 So z.B. der Bericht des Strafrechtsausschusses über die Anwendung des beschleunigten Verfahrens zur 68. Konferenz der Justizministerinnen am 11. und 12. Juni in Saarbrücken; Richter am AG Klepper, Berlin-Tiergarten, Thesenpapier, Sept. 1998; Senatsverwaltung für Justiz, Berlin, Schreiben v. 21.01.1998; DPA Pressemeldung v. 17. Mai 1997 (ah0791997-05-08). Teilweise wird in diesem Zusammenhang auch von „Turboverfahren" gesprochen, vgl. z.B. BNN v. 11.10.1997, S. 4; Gespräch mit Herrn Staatsanwalt Eberlein, Karlsruhe, Dez. 1997; SZ v. 12.09.1997, S. 9. 403

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

109

rieht Bochum beispielsweise die Amtsgerichte München, Berlin-Tiergarten, Stuttgart, Karlsruhe und Freiburg i . B r . 4 0 5 Der Anwendungspraxis i.d.F. des bbV steht das einfach beschleunigte Verfahren (bV) gegenüber, bei dem sowohl das Ermittlungsverfahren als auch das gerichtliche Verfahren einen (zum Teil deutlich) längeren Zeitraum einnimmt. Neben dem A G Frankfurt a. M. gehen nach dieser Variante beispielsweise die Amtsgerichte Köln, Bonn und Bremen vor. Eine Zuweisung der verschiedenen Gerichte zu dem Modell des bbV und dem bV läßt sich dabei nicht immer klar vornehmen. Vor allem an Gerichten, die im Zuge jüngster Intensivierungskampagnen des beschleunigten Verfahrens bbV eingerichtet haben, sind teilweise Splittingmodelle zu beobachten: Neben den bbV praktizieren beispielsweise die Amtsgerichte Berlin-Tiergarten, Karlsruhe, Stuttgart und Freiburg i.Br. auch bV. Aber auch in diesen Fällen werden die beiden Varianten im organisatorischen Bereich streng von einander getrennt, 406 so daß die verschiedenen Durchführungsvarianten des beschleunigten Verfahrens wiederum klar voneinander zu unterscheiden sind. bb) Zuständigkeitsverteilung im gerichtlichen Bereich Unterschiedlich geregelt haben die verschiedenen Gerichte zum anderen die Zuständigkeiten für das beschleunigte Verfahren im gerichtlichen Bereich. Dem Beispiel des Amtsgerichts Frankfurt a. M . 4 0 7 vergleichbar, wurden an verschiedenen Amtsgerichten (z.B. den Amtsgerichten Köln, Bonn, Bremen) besondere Zuständigkeiten für das beschleunigte Verfahren begründet, indem die Durchführung dieser Verfahren einer Abteilung oder einem bzw. zwei Richtern fest übertragen wurde. Dabei handelt es sich zumeist nicht um ausschließliche Zuständigkeiten, d. h. die für das beschleunigte Verfahren zuständigen Richter bearbeiten zu einem gewissen Prozentsatz auch allgemeine Einzelrichteranklagen. Eine besondere Zuständigkeit für beschleunigte Verfahren findet sich ferner in der Form, daß die Durchführung dieser Verfahren intern den Haft405

Nicht einheitlich beantwortet wird dabei die Frage, inwieweit die erforderlichen Registerauszüge (Bundes-, Verkehrs-, Ausländerzentralregister) so kurzfristig beigezogen werden können. Während an verschiedenen Gerichten davon ausgegangen wird, eine Auskunftserteilung sei so kurzfristig nicht möglich, geben andere Gerichte an, die erforderlichen Auszüge könnten auch bei einem bbV unproblematisch per Fax oder Online-Übermittlung rechtzeitig eingeholt werden. Ob dies zutrifft, erscheint allerdings zweifelhaft: Am AG Bochum und am AG Köln gibt man offen zu, daß man gegebenenfalls auf ein Vorstrafenregister verzichtet. 406 Vgl. unten IV. 4. a) bb). 407

Vgl. oben IV. 3. a).

1 1 0 1 .

Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

richterabteilungen zugewiesen wird. Diese Praxis ist vor allem an den Gerichten anzutreffen, die ein bbV eingerichtet haben (die Amtsgerichte München, Berlin-Tiergarten, Düsseldorf, Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg i.Br.). Die Haftrichter verhandeln dabei nur bbV. Werden daneben, wie an den Amtsgerichten Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg i.Br., Berlin-Tiergarten auch bV praktiziert, werden diese von den allgemeinen Strafrichterabteilungen nach der gewöhnlichen Buchstabenverteilung durchgeführt. Die beiden Varianten des beschleunigten Verfahrens werden also an den Gerichten, die sowohl bV als auch bbV praktizieren, im organisatorischen Ablauf vollständig voneinander getrennt. Schließlich finden sich ähnlich dem AG Bochum, an dem eine wechselnde Zuständigkeit nach Sitzungstagen begründet worden i s t , 4 0 8 rollierende Systeme: A m A G Duisburg wurde beispielsweise für jeden Tag des Monats ein Richter bestimmt, der für das beschleunigte Verfahren in dem Amtsgerichtsbezirk zuständig i s t . 4 0 9 b) Grundsätzlicher

Anwendungsbereich

Ohne an dieser Stelle schon auf die Delikts- und Beschuldigtenstruktur des beschleunigten Verfahrens 410 im einzelnen eingehen zu wollen, läßt die Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens verschiedene Übereinstimmungen in grundsätzlicher Hinsicht erkennen. In keinem Modell wird das beschleunigte Verfahren nach Aussage aller Befragten vor dem Schöffengericht durchgeführt. Das beschleunigte Verfahren stellt rechtstatsächlich ein Verfahren vor dem Einzelrichter dar. Ebensowenig wird von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das beschleunigte Verfahren gegen Heranwachsende zur Anwendung zu bringen. Das beschleunigte Verfahren erscheint in diesen Fällen zum einen wegen der erwünschten erzieherischen Wirkung des Verfahrens nicht sinnvoll. Die verfahrensrechtlichen Einrichtungen des Jugendstrafverfahrens, die im Verfahren gegen Heranwachsende auch bei der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht zu beachten sind, 4 1 1 machten das beschleunigte Verfahren aus organisatorischer Sicht außerdem kaum durchführbar. 412 408

Vgl. oben IV. 2. a) bb). Bericht des Strafrechtsausschusses über die Anwendung des beschleunigten Verfahrens zur 68. Konferenz der Justizministerinnen am 11. und 12. Juni in Saarbrücken, S. 36. 410 Vgl. hierzu näher unten IV. 4. e). 411 Vgl. § 109 Abs. 1 JGG. 412 Vereinzelt weisen die Gerichte in diesem Zusammenhang auf die de facto überwiegende Anwendung von Jugendstrafrecht hin. Dieser Einwand ist jedoch falsch: Die Vorschrift des § 79 Abs. 2 JGG, die beschleunigte Verfahren nach den 409

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

111

Die Tatsache, daß das beschleunigte Verfahren vielfach den Haftrichtern übertragen worden ist, läßt außerdem erahnen, daß das beschleunigte Verfahren überwiegend gegen vorgeführte Beschuldigte stattfindet. Dies ist zwangsläufig der Fall, wenn das beschleunigte Verfahren als bbV mit der Hauptverhandlung am Tag der Festnahme oder spätestens am nachfolgenden Tag praktiziert wird. Das beschleunigte Verfahren fällt in diesem Fall, soweit ersichtlich, immer mit der richterlichen Vorführung, § 128 StPO, nach einer erfolgten Festnahme zusammen. 413 Aber auch das einfach beschleunigte Verfahren kommt, wie z.B. am Amtsgericht Frankfurt a.M., vornehmlich gegen in Untersuchungshaft bzw. in Hauptverhandlungshaft befindliche Beschuldigte zur Anwendung. Beschleunigte Verfahren gegen geladene Beschuldigte spielen nach Angaben der Befragten in der Rechtswirklichkeit des beschleunigten Verfahrens eine untergeordnete Rolle. Schließlich wird von Seiten aller Gerichte hervorgehoben, daß sich die Anwendung des beschleunigten Verfahrens rechtstatsächlich auf geständige Beschuldigte konzentriert. 414 c) Anklagepraxis Von der Möglichkeit, mündlich Anklage zu erheben, wird in der Praxis offenbar nur sehr eingeschränkt bzw. nur formal Gebrauch gemacht. Das liegt zum einen daran, daß die Staatsanwaltschaft nach RiStBV Nr. 146 Abs. 2 gehalten ist, auch im beschleunigten Verfahren die Anklage schriftlich einzureichen. Zum anderen dürfte kaum ein Richter bereit sein, ohne vorherige schriftliche Fixierung des Anklagevorwurfes zu verhandeln. Im beschleunigten Verfahren wird deshalb vielfach wie im Normalverfahren schriftlich angeklagt. Eine mündliche Anklageerhebung findet sich allenfalls in der am A G Frankfurt a.M. praktizierten F o r m 4 1 5 : Dabei wird der Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens schriftlich, den Anforderungen einer

§§ 417 ff. StPO im Jugendstrafverfahren ausschließt, ist im Verfahren gegen Heranwachsende, unabhängig davon, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommt, nicht anwendbar, vgl. § 109 JGG. 413 Dabei betonen die meisten Gerichte, daß Festnahmen zum beschleunigten Verfahren unter Beachtung von § 127 Abs. 2 StPO nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls gegeben sind. 414 Genaue prozentuale Angaben hierzu ließen sich im Rahmen dieser Untersuchung nicht ermitteln. Im Landgerichtsbezirk Potsdam besteht offenbar sogar eine Übereinkunft zwischen Gerichten und Staatsanwaltschaften, nur bei geständigen Beschuldigten im beschleunigten Verfahren zu verhandeln, vgl. Ehlers, NJ 2000, 468; Zum Landgerichtsbezirk Frankfurt (Oder) vgl. außerdem Herzler, NJ 2000, 405 f. 4

Vgl. oben IV. 3.

).

112

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Klageschrift entsprechend gestellt. Die Anklage erfolgt zu Beginn der Hauptverhandlung mündlich, indem der schriftlich gestellte Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren verlesen wird, was im Ergebnis nur einen formalen Unterschied zum Normalverfahren bedeutet. d) Hauptverhandlungsdauer An den Amtsgerichten Köln und Berlin werden die einzelnen Hauptverhandlungen des beschleunigten Verfahrens im 15-Minutentakt angesetzt. In Frankfurt a.M. und Bonn beträgt der veranschlagte Zeitraum 30 Minuten. Vergleichsweise lange erscheint die Hauptverhandlungsdauer an den befragten Gerichten Baden-Württembergs (Stuttgart, Karlsruhe und Ettlingen). Hier wird auch in einem beschleunigten Verfahren regelmäßig über eine Stunde verhandelt. 416 Daß eine Beschäftigung mit der Person des Angeklagten in einer viertelstündigen Hauptverhandlung 417 illusorisch ist und auch in einer 30-minütigen Verhandlung nicht stattfinden kann, ist offensichtlich. Bevor man sich allerdings mit dem Hinweis auf die kurze Hauptverhandlungsdauer gegen das beschleunigte Verfahren wendet, ist zu bedenken, daß sich die in dieser Verfahrensart durchgeführten Hauptverhandlungen nicht von den sonstigen Hauptverhandlungen unterscheiden. 418 In Köln, Berlin, Frankfurt und Bonn wird auch der „normale" amtsgerichtliche Fall vor dem Einzelrichter im 15 bzw. 30-Minutentakt anberaumt. Die Kritik an der beschleunigten Verfahrensführung kann in diesem Punkt nur eine Kritik an der amtsgerichtlichen Verfahrenspraxis schlechthin sein. e) Delikts- und Beschuldigtenstruktur Zwischen den einzelnen Gerichten bestehen zwar Unterschiede in den Anwendungsschwerpunkten. So haben z.B. das A G Bochum und das A G Freiburg i.Br. das beschleunigte Verfahren zunächst nur bei Ladendiebstählen eingesetzt. Außerdem bewirkt die jeweils anders geartete Kriminalitätsstruktur in den verschiedenen Gerichtsbezirken Unterschiede in der Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens. Insgesamt jedoch läßt die praktische Anwendung dieses Verfahrens einen ganz spezifischen Anwendungsbereich erkennen: 416

Eine halbtägige Hauptverhandlung, wie von Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 152, angenommen, erscheint selbst unter optimistischen Bedingungen kaum jemals denkbar. 417 Die kurze Hauptverhandlungsdauer läßt in Köln nicht einmal Zeit für die Verlesung des Anklagesatzes bzw. einer den Anforderungen des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entsprechenden mündlichen Anklageerhebung. Statt dessen wird der Beschuldigte gefragt, „ob er weiß, um was es geht." 418 Vgl. hierzu unten IV. 5. b).

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten V e r f a h r e n s 1 1 3

Die beiden Hauptanwendungsfälle des beschleunigten Verfahrens bilden zwei Deliktsgruppen: zum einen sind es ausländerrechtliche Verstöße (§§ 92 AuslG, 85 AsylVfG) - allein oder in Verbindung mit Urkundsdelikten. Zum anderen sind es Diebstahlsdelikte (Laden-, Trick- oder Taschendiebstähle, teilweise auch Auto- und Einbruchsdiebstähle). Dabei handelt es sich nicht selten um Diebstähle in Zusammenhang mit unmittelbarer und mittelbarer Drogenbeschaffungskriminalität. Im beschleunigten Verfahren verhandelt werden außerdem einfache Betrugsfälle i.d.F. des Zech- oder Kreditkartenbetrugs, Leistungserschleichung, § 265a StGB (v.a. „Schwarzfahren"), Betäubungsmittelkriminalität, Zoll verstoße (z.B. illegaler Zigarettenhandel, §§ 370, 374 AO) sowie Verstöße gegen das Waffengesetz, Sachbeschädigungen und Hausfriedensbrüche. Teilweise zählen auch einfache Körperverletzungsdelikte und Verkehrsstraftaten (§ 316 StGB, §§ 21, 22 StVG) zum Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens. Mit der vorliegenden Deliktsstruktur eng zusammenhängend ergibt sich das durchschnittliche Profil der im beschleunigten Verfahren Verfolgten. Übereinstimmend wird ein extrem hoher Ausländeranteil verzeichnet. A m Amtsgericht Frankfurt am Main liegt der Anteil ausländischer Beschuldigter im beschleunigten Verfahren regelmäßig bei 90 % . 4 1 9 A m Amtsgericht Düsseldorf wurde das Verfahren bislang in drei Viertel der Fälle gegen Beschuldigte nichtdeutscher Herkunft geführt. Ein ähnlich hoher Wert wird am AG Stuttgart erreicht: allein in 72 % der verhandelten Fälle mußten Dolmetscher hinzugezogen werden. Bei den übrigen befragten Gerichten ließen sich keine genauen Werte ermitteln. Der Anteil ausländischer Beschuldigter im beschleunigten Verfahren wird dort aber ähnlich hoch eingeschätzt. Das Bild des typischerweise im beschleunigten Verfahren verfolgten Beschuldigten ist außerdem durch Wohnsitzlosigkeit, fehlende soziale Eingliederung und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Dabei sind die Beschuldigten nicht selten suchtkrank. Statistische Angaben über diese Aspekte sind allerdings nur schwer auszumachen, da die soziale Hintergrundsituation von Beschuldigten selbst in gerichtsinternen Rechtspflegestatistiken kaum aufgeführt ist. Lediglich über den Umstand eines festen bzw. fehlenden Wohnsitzes wird an einigen Gerichten Buch geführt: So hatten beispielsweise am Amtsgericht Stuttgart von 109 im bbV Verfolgten nur neun Beschuldigte einen festen Wohnsitz. A m A G Düsseldorf waren 75% der Beschuldigten ohne festen Wohnsitz. Dies dürfte nach Aussage der Befragten und den Erfahrungen vor Ort in etwa repräsentativ für die allgemeine Situation im beschleunigten Verfahren sein.

419

8 Kohler

Vgl. hierzu schon Herzog, ZRP 1991, 126.

1 1 4 1 .

Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

Dagegen sind die im Schrifttum der 60er und 70er Jahre häufig genannten Beispiele 4 2 0 des beschleunigten Verfahrens gegen gewalttätige Demonstranten in der heutigen Praxis nicht mehr verstärkt anzutreffen. Auch Straftaten randalierender Fußballanhänger zählten in den letzten Jahren nicht mehr 4 2 1 zum spezifischen Anwendungsfeld des beschleunigten Verfahrens. Nach den erschreckenden Ausschreitungen deutscher Fußballrowdies bei der Fußball Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich und den nachfolgenden Presseberichten über die Verurteilung und Ausweisung deutscher Fußballrowdies durch französische Schnellgerichte, wurden allerdings Forderungen laut, das beschleunigte Verfahren auch hierzulande wieder vermehrt gegen diese Tätergruppe anzuwenden. 422 Insoweit erscheint es gut möglich, daß Fußballrowdies, zumindest bei einfachen Fällen kleinerer Kriminalität, wieder stärker ins Visier des beschleunigten Verfahrens geraten. In den neuen Bundesländern scheint das beschleunigte Verfahren außerdem eine gewisse Rolle bei Prozessen gegen rechtsradikale Täter zu spielen. f) Strafenverteilung Genaue Angaben über die Strafenverteilung im beschleunigten Verfahren waren im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu erhalten: Offizielle Rechtspflegestatistiken weisen die Strafenverteilung in den verschiedenen Verfahrensarten nicht gesondert aus, und auch gerichtsintern wird die im beschleunigten Verfahren anzutreffende Strafenverteilung anscheinend nur in Ausnahmefällen statistisch ausgewertet. A m Amtsgericht Frankfurt a.M., das als eines der wenigen Gerichte eine Statistik über die im beschleunigten Verfahren verhängten Strafen führt, wurde ein Verhältnis von 77% Geldstrafen zu 23% Freiheitsstrafen festgestellt, wobei zwei Drittel der Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt wurden. In der Tendenz ähnlich wird die Situation an den anderen der hier befragten Gerichte eingeschätzt, so daß sich an Hand dieser Auskünfte die im beschleunigten Verfahren vielfach angenommene 423 Dominanz der Geld- und Bewährungsstrafen zwar bestätigte, andererseits aber kaum Unterschiede zur allgemeinen bundesweiten Strafenverteilung bestehen. 424 An Hand der Verfahrenspraxis wird damit 420 Lehmann, DRiZ 1970, 287; Schünemann, NJW 1968, 975 f.; Skriver, ZRP 1968, 33. 421 Vgl. hierzu zum Beispiel den Bericht Priestophs, Die Polizei 1979, 296 ff. 422 So der ehemalige Justizminister Schmidt-Jortzig nach Angaben der FAZ v. 24.06.1998, S. 3; Manfred Kanther und Rudolf Scharping nach der Bildzeitung v. 20. Juni 1998; Otto Schily nach dem KStA v. 24.06.1998, S. 1. 423 Vgl. oben III. 3. b). 424 Vgl. hierzu die Zahlen in: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 3: Strafverfolgung 1997, S. 44 f., 48 f. (Geldstrafe: 81,7%; Freiheitsstrafe: 18,3%, Strafaussetzungen: 12,6%).

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

115

auch deutlich, daß es an der rechtstatsächlichen Situation des beschleunigten Verfahrens vorbeiginge, das beschleunigte Verfahren ausschließlich auf den Geldstrafenbereich beschränkt ansehen zu wollen. 4 2 5 Denn selbst die angenommene Dominanz der Geldstrafen gilt wahrscheinlich nicht uneingeschränkt: Im Stuttgarter Modellversuch zum bbV wurden nahezu 100% der zu einer Strafe Verurteilten mit einer Freiheitsstrafe, davon 45% mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung belegt. 4 2 6 Wenngleich es sich hierbei in der Hauptsache um Gesamtstrafen handeln soll, bleibt der Freiheitsstrafenanteil dennoch auffallend hoch. Diese krasse Dominanz im Freiheitsstrafenbereich könnte dadurch zu erklären sein, daß das AG Stuttgart, welches bbV nur in Haftsachen durchführt, Untersuchungshaft konsequent zumindest nicht bei zu erwartender Geldstrafe verhängt. In dem Stuttgarter Resultat könnte sich aber auch der Trend andeuten, mit dem beschleunigten Verfahren nicht nur durch eine schnelle Verfahrensführung, sondern auch durch die ausgesprochene Strafe staatliche Härte zu demonstrieren. g) Verteidigungsrechte

des Beschuldigten

Neben den organisatorischen Schwierigkeiten einer Verteidigung bleibt die Frage, wie sich die Verteidigung substantiell im beschleunigten Verfahren darstellt. Berücksichtigt man die festgestellten Unterschiede in der Dauer des beschleunigten Verfahrens, wird klar, daß sich diese Fragestellung nicht pauschal beantworten läßt, mithin auch in diesem Punkt zwischen dem bbV und dem bV differenziert werden muß. Wird das beschleunigte Verfahren als bbV durchgefühlt, treffen alle Bedenken zu, die üblicherweise gegen ein beschleunigtes Verfahren geäußert werden 4 2 7 - eine wirksame Verteidigung ist in diesem Fall nicht möglich. Eine bb Verfahrensführung läßt dem Beschuldigten kaum Zeit, sich auf die Hauptverhandlung einzustellen und seine Verteidigung vorzubereiten. Da er zumeist noch unter dem Schock der Festnahme steht, besteht die Gefahr, daß er seine Rechte nicht wahrnimmt (indem er z.B. auf anwaltschaftlichen Beistand verzichtet) oder daß er eine geständige Einlassung abgibt, allein um möglichst schnell seine Freiheit wiederzuerlangen. Diese Verteidigungsdefizite lassen sich selbst dann nicht ausreichend kompensieren, wenn dem Beschuldigten ein Wahl- oder Pflichtverteidiger zur Seite steht. Der Beschuldigte kann in einem bbV nur ein verkürztes Gespräch mit seinem Ver425

Vgl. oben III. 3. b). Es handelte sich hierbei in der Hauptsache um Diebstahls- (teilweise auch besonders schwere Diebstähle i.S.d. § 243 StGB) und Urkundsdelikte sowie um Verstöße gegen § 85 AsylVfG, das AuslG und gegen § 29 BtMG. Die Deliktsstruktur weist demnach keine Besonderheiten auf. 426

427

8*

Vgl. oben II.

1 1 6 1 .

Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

teidiger führen, oft wird ihm hierfür nicht mehr als eine Viertelstunde Zeit eingeräumt. Die Unterredung findet zumeist direkt vor der Hauptverhandlung, zudem nicht selten auf dem Gerichtsflur vor dem Sitzungszimmer statt. Auch hat der Verteidiger nur beschränkt Zeit, sich mit der Sache vertraut zu machen und mit dem Beschuldigten die Verteidigung vorzubereiten. Unbefriedigend ist außerdem der Umgang mit dem Wahlrecht des Beschuldigten aus § 142 Abs. 1 Satz 2, 3 StPO. Zwar wird dem Beschuldigten zugebilligt, einen Verteidiger seiner Wahl zu bestimmen. Kann dieser die Verteidigung so kurzfristig nicht wahrnehmen, was bei einem Strafverfahrensabschluß innerhalb von 24 Stunden nicht unwahrscheinlich ist, wird das beschleunigte Verfahren nach Angaben der hier Befragten nicht etwa abgelehnt. Statt dessen wird dem Beschuldigten der Pflichtverteidiger der Bereitschaftsliste beigeordnet bzw. der eingetragene Pflichtverteidiger als Wahlverteidiger angeboten. Dies alles zeigt, daß die Verteidigung in derart engen Zeitgrenzen nur sehr mangelhaft realisiert wird und daß ein bbV in massiver Weise in die Verteidigungsrechte des Beschuldigten eingreift. Darüber hinaus ist fraglich, ob bbV mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind. Art. 6 Abs. 3b EMRK gewährt dem Beschuldigten das Recht, über ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu verfügen. Wieviel Zeit dies im Einzelfall ist, läßt sich nicht pauschal bestimmen, maßgebend hierfür sind jeweils die Umstände des konkreten Falles, so daß z.B. der Umfang und die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sowie die jeweilige Art des Verfahrens zu berücksichtigen sind. 4 2 8 Bei der Berechnung der Zeitspanne, die dem Beschuldigten im Falle eines beschleunigten Verfahrens nach den §§ 417 ff. StPO mindestens zu belassen ist, kann deshalb auch dem Umstand Rechnung getragen werden, daß es sich hierbei um einfache und beweisklare Sachverhalte handelt. Insoweit sind gewisse zeitliche Abstriche bei der Vorbereitungszeit grundsätzlich nicht zu beanstanden. Fraglich ist jedoch, wie weit diese reichen dürfen. Insgesamt läßt die Rechtsprechung der Europäischen Kommission für Menschenrechte, die sich mit der Frage der Zulässigkeit beschleunigter Verfahrensmodelle im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3b EMRK bislang noch nicht auseinanderzusetzen brauchte, zu dieser Norm eine sehr restriktive Entscheidungspraxis erkennen. Sie nimmt eine Verletzung der Vorschrift des Art. 6 Abs. 3b EMRK nur bei krasser Willkür und offensichtlichem Mißbrauch a n . 4 2 9 Zudem 428 IntKomm EMRK-Vogler, Art. 6, Rdnr. 493; Frohwein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6, Rdnr. 179; Spartiol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 94; Trechsel, SchwZStr 96 (1979), 349. 429 IntKomm EMRK-Vogler, Art. 6, Rdnr. 496; Spartiol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 93, 95; Trechsel, SchwZStr 96 (1979), 350.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

117

bejaht die Kommission einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3b EMRK immer nur dann, wenn der Beschwerdeführer nachweisen kann, daß sich die zu kurze Vorbereitungszeit nachteilig auf seine Verteidigung ausgewirkt hat, ihm mithin konkrete Nachteile in der Hauptverhandlung entstanden sind. 4 3 0 Vor dem Hintergrund dieser restriktiven Spruchpraxis dürfte die Kommission beschleunigte Verfahren zwar in weitem Umfang für zulässig erachten. Die in bbV anzutreffende radikale Abkürzung der dem Beschuldigten zustehenden Verteidigungsfrist dergestalt, daß der Beschuldigte auf seinen Verteidiger erst Minuten vor der Hauptverhandlung treffen kann, ist dagegen mit Art. 6 Abs. 3b EMRK nicht mehr vereinbar. In diesen Fällen dürfte außerdem eine unwiderlegliche Vermutung für die nachteilige Auswirkung der mangelnden Vorbereitungszeit auf die Verteidigung sprechen. 431 Als erheblich besser darf demgegenüber die Verteidigungssituation in einem bV beurteilt werden. Zwar erscheint eine gerichtliche Verfahrensdauer von ca. zwei bis drei Wochen, gemessen an der durchschnittlichen amtsgerichtlichen Verfahrensdauer (1996: 4,3 Monate) 4 3 2 sehr kurz. Doch ist dabei zu bedenken, daß sich in dieser Zeitspanne schon fast ein Normalverfahren durchführen läßt: Die im Normalverfahren einzuhaltende Frist zwischen Ladungszustellung und Hauptverhandlung beträgt eine Woche, §217 Abs. 1 StPO. Nimmt man hinzu, daß es sich bei einem beschleunigt verfolgten Delikt um einen einfachen Sachverhalt handelt, so steht die Verfahrensgestaltung des bV einer genügenden Verteidigungsvorbereitung nicht von vornherein entgegen - vorausgesetzt die zur Verfügung stehende Zeit wird bestmöglich ausgenutzt. Insoweit sollte auch der Zeitpunkt der Verteidigerbestellung überdacht werden. 433 Schon grundsätzlich erscheint es gerade in einem verkürzten Verfahren notwendig, daß die Verteidigung frühzeitig in das Verfahren eintritt. 4 3 4 Blickt man auf das als bV durchgeführte Verfahren, so ist in diesem beschleunigten Verfahrensmodell auch die Dauer des polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens deutlich länger als bei den als bbV durchgeführten Verfahren. 435 Bei einem frühzeitigen Eintritt des Verteidigers zu Beginn der in dieser Verfahrensmodalität regelmäßig angeordneten Untersuchungshaft, 436 ließe sich der Zeitraum zur Vorbereitung der Verteidigung maßgeblich verlängern. Nimmt 430

IntKomm EMRK-Vogler,

Art. 6, Rdnr. 502; Trechsel,

SchwZStr 96 (1979),

502.

431 432

Ähnlich Spartiol, Recht auf Verteidigerbeistand, S. 96. Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte

S. 29. 433 434 435 436

Vgl. hierzu näher unten Dritter Teil, IV. Schöch, StV 1997, 323 ff.; Gebauer, StV 1994, 622 ff. Vgl. oben IV. 4. a) aa). Vgl. oben IV. 4. b).

1996,

118

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

man das Beispiel des A G Frankfurt a.M., so betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer zwischen Vollstreckung des Haftbefehls und dem Hauptverhandlungstermin dort knapp sechs Wochen. 437 Damit ergäbe sich eine Zeitspanne, die eine effektive Verteidigung des Beschuldigten nicht beeinträchtigen dürfte. Daneben fiel allgemein auf (sowohl bei bV als auch bei bbV), daß sich das Verteidigerhandeln durchweg nicht gegen den vom Gericht angenommenen Sachverhalt richtete, sondern allenfalls gegen das beantragte Strafmaß. Die Haupttätigkeit des Verteidigers bestand zumeist in einer Art moralischen Beistandsfunktion für den Beschuldigten, nicht selten auch in einer „Dolmetscherfunktion" zwischen dem Gericht und dem Angeklagten. Wie das Täterprofil 4 3 8 ergibt, handelt es sich bei dem typischerweise im beschleunigten Verfahren Verfolgten um eine Person aus der unter(st)en gesellschaftlichen Schicht. Gegenüber einem akademisch-juristisch gebildeten Gericht, das einer gesellschaftlich privilegierten Schicht angehört, gibt der typische Angeklagte im beschleunigten Verfahren eine ziemlich hilflose Figur ab. Ihm fehlt nicht nur jedwede juristische Versiertheit, oft mangelt es schon an der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit: Der Beschuldigte ist selten in der Lage, seine Belange vor Gericht zu artikulieren. In einigen Fällen versteht er kaum die Sprache des Gerichts bzw. die Verhandlungsführung erfolgt für einen gerichtsunkundigen Beschuldigten viel zu rasch, so daß einige Beschuldigte nicht einmal inhaltlich der Verhandlung folgen können.

5. Praktische Erfahrungen mit der Neuregelung des beschleunigten Verfahrens a) Auswirkungen des Pflichtverteidigertatbestandes,

§ 418 Abs. 4 StPO

Bürgle gelangt in ihrer empirischen Untersuchung über das beschleunigte Verfahren zu dem Ergebnis, daß der neue Pflichtverteidigertatbestand geradezu „abschreckende Wirkung" entfalte. 439 Ob diese Aussage in dieser Absolutheit zutrifft, erscheint jedoch zweifelhaft. Schon ihr eigenes Zahlenmaterial läßt ein solch pauschales Urteil m.E. nicht zu: Bürgle ermittelt zunächst, wie viele der von ihr befragten Richter und Staatsanwälte 440 der Auffassung sind, die Neugestaltung des beschleunigten Verfahrens biete keinen Anreiz, den Verfahrenstyp häufiger anzuwenden. Deren Anteil unter 437 438 439

S. 55. 440

Vgl. oben IV. 3. a). Vgl. oben IV. 4. e). Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 52, vgl. außerdem

Zur Konzeption und zum Ablauf der Untersuchung vgl. Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 38 ff.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten V e r f a h r e n s 1 1 9

den Befragten macht nach ihren Angaben 89,6% aus. Innerhalb dieser Gruppe fragt Bürgle weiter, weshalb eine Anwendungssteigerung des beschleunigten Verfahrens nicht erfolgen werde. Den bzw. einen 4 4 1 Grund hierfür sehen 16,5% der weiter Befragten, also 14,8% aller Umfrageteilnehmer darin, daß sich die Regelung des § 418 Abs. 4 StPO zu der angestrebten Intensivierung geradezu kontraproduktiv erweise. 442 Wenn aber nicht mehr als ein Siebtel aller Umfrageteilnehmer die ihrer Meinung nach nicht erfolgende Belebung des beschleunigten Verfahrens (mit) auf die eingeführte Regelung des § 418 Abs. 4 zurückführt, so mag dieses Resultat darauf hindeuten, daß die Regelung auch in der Praxis teilweise für unbequem gehalten wird und daß sie sich teilweise hemmend auf die angestrebte Aktivierung des Verfahrens auswirkt. Mit einer allgemein abschrekkenden Wirkung können die ermittelten Zahlen dagegen nicht gleichgesetzt werden. Diese Sicht bestätigen auch die Erfahrungen der hier Befragten: So fügen sich zwar in das von Bürgle aufgeworfene Bild die Amtsgerichte Bochum und Freiburg i. Br. ein, die - zumindest in der Anfangsphase - beschleunigte Verfahren von vornherein nur bei einer Straferwartung von weniger als sechs Monaten durchgeführt haben. 443 Die Anwendungspraxis der Amtsgerichte Stuttgart, Bonn, Bremen und Frankfurt belegt diese Abwehrhaltung dagegen nicht: Das beschleunigte Verfahren wird unterschiedslos gegen (nach § 418 Abs. 4 StPO pflichtoder wähl-) verteidigte und unverteidigte Beschuldigte durchgeführt. Die Anwaltsbeteiligung soll sogar im Vergleich zum allgemeinen amtsgerichtlichen Verfahren (1997: 4 4 % ^ ) durchschnittlich etwas höher sein. Die vorliegende interne Statistik des Amtsgerichts Stuttgart ergibt für das beschleunigte Verfahren im Jahr 1997 z.B. einen prozentualen Anteil der verteidigten Beschuldigten von 50%, die des Amtsgerichts Frankfurt a.M. sogar einen von 75%. Der unterschiedliche Umgang mit dem Pflichtverteidigertatbestand dürfte wesentlich damit zusammenhängen, wie schnell das Verfahren abgeschlossen wird. So wenden die Amtsgerichte Bochum und Freiburg i.Br. das beschleunigte Verfahren grundsätzlich in der knappest möglichen Form an, mit der Hauptverhandlung noch am Festnahmetag, spätestens am Folgetag. 441

Die Umfrageteilnehmer konnten jeweils mehrere Gründe angeben. Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 49. 443 Insoweit wird die in der Literatur geäußerte Erwartung, der einzelne Richter werde stillschweigend lieber im Regelverfahren (ohne Verteidiger) verhandeln, anstatt im beschleunigten Verfahren einen Pflichtverteidiger nach § 418 Abs. 4 StPO beizuordnen, vgl. oben I. 5. a), noch etwas durch die Offenheit übertroffen, mit der man die gesetzliche Regelung des § 418 Abs. 4 StPO ausspart. 444 Statistisches Bundesamt, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1996, S. 26 f. 442

1 2 0 1 .

Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

An den Gerichten, welche die Verteidigerbestellung nach § 418 Abs. 4 StPO problemlos zu realisieren scheinen, findet das beschleunigte Verfahren in zum Teil deutlich weiteren Zeitgrenzen statt. 445 Daß die Mißachtung der neuen Pflichtverteidigungslösung v.a. auf dem Zeitdruck gründet, der bei einem bbV besteht, scheint sich auch am Beispiel des A G Bochum zu bestätigen: Seitdem das beschleunigte Verfahren dort unter Zuhilfenahme der Hauptverhandlungshaft gegebenenfalls über den der Festnahme folgenden Tag hinaus durchgeführt wird, sieht man sich auch am A G Bochum in der Lage, eine Verteidigerbestellung nach § 418 Abs. 4 StPO zu realisieren. 446 Fragt man nach der Mitwirkungsbereitschaft der Anwaltschaft, die in der Literatur durchweg sehr skeptisch beurteilt w i r d , 4 4 7 so fallen auch hier die Erfahrungen durchweg positiv aus. A m Amtsgericht Stuttgart und jetzt auch am A G Bochum wurden anwaltliche Bereitschaftsdienste ins Leben gerufen. Die Zusammenarbeit mit den Anwälten und deren Bereitschaft, Termine auch kurzfristig wahrzunehmen, wird allgemein als gut bezeichnet. Faßt man das Zahlenmaterial Bürgles und die Äußerungen der hier Befragten zusammen, so bildet der neu hinzugekommene Pflichtverteidigertatbestand sicherlich keinen Anreiz, das beschleunigte Verfahren häufiger anzuwenden. Wird eine Aktivierung des beschleunigten Verfahrens ernsthaft versucht, so wird diese jedoch kaum an der Regelung des § 418 Abs. 4 StPO scheitern. b) Anwendung der vereinfachten

Beweisaufnahme nach § 420 StPO

An der Neuregelung des beschleunigten Verfahrens werden in der Literatur vor allem die hinzugekommenen Vereinfachungen der Beweisaufnahme kritisiert. 4 4 8 In der Praxis spielen die neuen Verfahrensvereinfachungen des § 420 StPO nach Aussage der hier befragten Gerichte, bislang jedenfalls, keine Rolle. 4 4 9 Diesen Eindruck vermittelten auch die von mir besuchten Hauptverhandlungen. Man kann vielmehr davon ausgehen, daß die Hauptverhandlung des beschleunigten Verfahrens nach wie vor, bis auf die Mög445

Eine Ausnahme bildet in diesem Fall allein das Beispiel des AG Stuttgart, das in seinem Pilotversuch „Schnellgericht in 48 Stunden" die oben genannte Quote von 50% verteidigter Beschuldigter erzielte. Es zeigt, daß eine Verteidigerbeiziehung auch sehr kurzfristig grundsätzlich möglich ist. 446 Vgl. oben IV. 2. b). 447 Vgl. oben I. 5. 448 Vgl. oben I. 7. und II. 449 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der 65-seitige Bericht des Strafrechtsausschusses über die Anwendung des beschleunigten Verfahrens zur 68. Konferenz der Justizministerinnen am 11. und 12. Juni 1997 in Saarbrücken die Verfahrensvereinfachungen des § 420 StPO nur in einem kurzen Satz streift.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

lichkeit einer mündlichen Anklageerhebung, der Hauptverhandlung amtsgerichtlichen Verfahren vor dem Einzelrichter entspricht.

121

im

Den Grund für die Nichtanwendung der vereinfachten Beweisaufnahme sehen die Befragten i.d.R. darin, daß für die eingeführten Verfahrenserleichterungen kein Bedarf besteht: Beweisanträge spielten im amtsgerichtlichen Verfahren vor dem Strafrichter ohnehin kaum eine Rolle, 4 5 0 in beschleunigten Verfahren würden sie erst recht nicht gestellt. Von verschiedener Seite wurde auch geäußert, ein Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens werde regelmäßig abgelehnt, wenn Beweisanträge gestellt werden. Ebensowenig resultiere aus den erweiterten Verlesungsmöglichkeiten der §§ 420 Abs. 1 und 2 StPO ein merklicher Gewinn für die Anwendungspraxis. Ist schon die sachliche Erweiterung gegenüber der bisherigen Regelung in § 251 StPO verhältnismäßig gering, sei ein praktisches Leerlaufen der Regelung angesichts der nach § 420 Abs. 3 StPO erforderlichen Zustimmung praktisch vorprogrammiert: Die Frage nach der Verlesbarkeit einer Zeugenaussage stellt sich in der Praxis erst, wenn ein Beschuldigter nicht geständig ist. In diesem Fall sei aber kaum zu erwarten, daß der Beschuldigte der Verlesung zustimmen werde. 4 5 1 Außerdem gehe die Regelung des § 420 Abs. 1-3 StPO an der Wirklichkeit des beschleunigten Verfahrens auch deshalb vorbei, weil das beschleunigte Verfahren fast immer ohne Sachverständige und überwiegend ohne Zeugen durchgeführt w i r d . 4 5 2 Darüber hinaus zeigten sich die befragten Staatsanwälte und Richter insgesamt sehr zurückhaltend, wenn nicht sogar ablehnend gegenüber der neueingeführten Regelung. Bestreitet der Beschuldigte ernsthaft die Tat, verzichte kaum ein Richter freiwillig auf den persönlichen Eindruck eines Zeugen und verlasse sich auf dessen schriftliche Aussage. Das in der Literatur zwischen den Zeilen zu lesende bzw. vereinzelt gezeichnete Bild des nach Verfahrensvereinfachungen gierenden Schnellrichters 453 läßt sich an Hand der hier gemachten Erfahrungen nicht bestätigen.

450

So auch Sprenger, NStZ 1997, 575; Herzog, StV 1995, 375; Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 89 ff.; Perron, JZ 1994, 826; ders., Beweisantragsrecht, S. 315; Linden, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band II/l, M 46. 451 So auch die Untersuchung von Bürgle, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 51. 452 So auch Ehlers, NJ 2000, 469. Genaue Angaben, um wieviel niedriger die Zeugenbeteiligung im beschleunigten Verfahren gegenüber der im amtsgerichtlichen Normalverfahren liegt, konnten hier leider nicht in Erfahrung gebracht werden. 453 Vgl. z.B. Scheffler, NJW 1994, 2191, 2194.

122

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

c) Vereinfachtes

Zwischenverfahren,

§ 419 Abs. 3 StPO

Das vereinfachte Zwischenverfahren wird auch von der Praxis für sinnvoll erachtet. Der Entlastungseffekt darf aber nach Aussage der befragten Praktiker nicht überbewertet werden. Das liegt vor allem daran, daß schon nach früherem Recht ähnlich verfahren werden konnte und auch wurde: Zu bedenken ist, daß es im beschleunigten Verfahren allein gängige Praxis ist, die Anklage entweder wie im Normalverfahren schriftlich einzureichen oder aber den Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens den Anforderungen einer Klageschrift entsprechend schriftlich einzureichen. 454 In beiden Fällen konnte zusammen mit dem Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens hilfsweise die Eröffnung des Hauptverfahrens beantragt werden, so daß sich schon nach altem Recht, dem vereinfachten Zwischenverfahren vergleichbar, die Rückgabe der Akten an die Staatsanwaltschaft vermeiden ließ. Ein erleichterter Übergang ins Normalverfahren dürfte außerdem deshalb nicht von entscheidender Bedeutung sein, weil dem Antrag nach § 417 StPO in den meisten Fällen entsprochen wird, die Frage nach einem Übergang ins Regelverfahren sich in der Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens verhältnismäßig selten stellt. (So wurden 1996 von 21.136 nach § 417 StPO gestellten Anträgen 4 5 5 lediglich 741 Anträge abgelehnt, 456 1997 waren es 1.543 4 5 7 von 30.819 4 5 8 . Daneben ist zu fragen, inwieweit die Regelung des vereinfachten Zwischenverfahrens auch dann genutzt werden kann, wenn die Durchführung des beschleunigten Verfahrens intern den Haftrichtern obliegt: 4 5 9 Lehnt der für das beschleunigte Verfahren zuständige Haftrichter die Durchführung des beschleunigten Verfahrens ab und bejaht hinreichenden Tatverdacht, muß er nach § 419 Abs. 3 StPO über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden. Unklar ist dann allerdings, vor welchem Gericht er das Hauptverfahren zu eröffnen hat. Nach den allgemeinen Geschäftsverteilungsplänen wäre in diesem Fall die Zuständigkeit eines bestimmten Einzelrichters gegeben. Die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Strafrichter wäre jedoch insofern problematisch, als die StPO die Verfahrenseröffnung vor einem anderen Gericht desselben Spruchkörpers nicht kennt. 4 6 0 Es bliebe 454

Vgl. oben IV. 4. c). Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage 1996, S. 14. 456 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage S. 18. 457 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage S. 16. 458 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage 1997, S. 14. 459 Vgl. hierzu auch Sprenger, NStZ 1997, 576. 455

Staatsanwaltschaften Strafgerichte

1996,

Strafgerichte

1997,

Staatsanwaltschaften

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

123

damit nur die Möglichkeit, an der Zuständigkeit des Haftrichters auch für die Durchführung des Normalverfahrens festzuhalten. Theoretisch erscheint es zwar ohne weiteres denkbar, daß den Haftrichterabteilungen zusätzlich allgemeine Strafrichteraufgaben übertragen werden. Ob dies aber auch in der Praxis so gesehen wird, bleibt abzuwarten. d) Rechtsmittelquote Während im Jahre 1997 bundesweit 13,2% aller amtsgerichtlichen Urteile angefochten wurden, 4 6 1 lag die Rechtsmittelquote im beschleunigten Verfahren am Amtsgericht Stuttgart in den untersuchten Monaten Juni bis August 1997 bei 5%, am A G Freiburg i. Br. zu Beginn des Jahres 1997 bei 0%. Von einer sehr niedrigen Rechtsmittelquote gehen auch die übrigen Gerichte aus. 4 6 2 Die als Folge der Änderungen des Verbrechensbekämpfungsgesetzes in der Literatur erwartete Rechtsmittelflut 463 scheint damit allgemein ausgeblieben zu sein. Einer der Gründe für die geringe Rechtsmittelquote in dieser Verfahrensart dürfte darin zu sehen sein, daß Gegenstand des beschleunigten Verfahrens einfache, beweisklare Sachverhalte sind. In einem Großteil der Fälle sind die Angeklagten geständig, 464 so daß sich schon deshalb eine höhere Akzeptanz des Urteils ergibt. Eine weitere Erklärung für die verhältnismäßig geringe Zahl der eingelegten Rechtsmittel sieht man am A G Freiburg darin, daß die Angeklagten von dem rasch auf die Tat folgenden Urteilsspruch „sehr beeindruckt" sind. Etwas kritischer betrachtet heißt dies nichts anderes, als daß die Beschuldigten von einer derart schnellen Verfahrensführung schlichtweg überrumpelt werden. Die geringe Rechtsmittelquote spricht also nicht unbedingt für die rechtsstaatliche Unbedenklichkeit bzw. die rechtsstaatlich unbedenkliche Abwicklung des beschleunigten Verfahrens.

460

Die Möglichkeit der Verfahrenseröffnung vor einem anderen Gericht besteht in der StPO nur dann, wenn ein übergeordnetes Gericht die Zuständigkeit eines Gerichts niedrigerer Ordnung in seinem Bezirk für gegeben hält, vgl. § 209 Abs. 1 StPO. 461 Statisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1997, 16. 462 So außerdem für Brandenburg: Scheffler, NJ 1999, 117; Faupel, NJ 1999, 183; Herzler, NJ 2000, 405. 463 So z.B. Loos/Radtke, NStZ 1996, 10; SYSiPO-Paeffgen, Vor § 417, Rdnr. 1; Ambos, Jura 1998, 292. 464 Vgl. oben IV. 4. b).

124

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

e) Zahlenmäßige Bedeutung des beschleunigten Verfahrens nach seiner Neuregelung durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz Die jüngsten Rechtspflegestatistiken zeichnen einen schleppenden Bedeutungszuwachs des beschleunigten Verfahrens. Direkt nach der Gesetzesänderung im Jahre 1995 war der prozentuale Anteil der beschleunigten Verfahren am amtsgerichtlichen Verfahrensvolumen mit 2,4 % 4 6 5 gegenüber im Vorjahr 2,6 % 4 6 6 sogar etwas rückläufig. Erst in den Jahren 1996 bis 1998 läßt sich ein leichter Anstieg auf zunächst 2,7 % 4 6 7 , dann 3,5 % 4 6 8 und 4,6 % 4 6 9 feststellen. Die bundesweit zu beobachtende Anwendungssteigerung des beschleunigten Verfahrens wird allerdings durch eine sehr unterschiedliche Entwicklung der Anwendungszahlen in den einzelnen Bundesländern gekennzeichnet. So hat das Bundesland Brandenburg schon zwei Jahre nach der Gesetzesänderung einen Bedeutungszuwachs des Verfahrens auf fast den dreifachen Anteil verzeichnet: Im Jahre 1994 wurde das beschleunigte Verfahren dort noch in 3,2% aller amtsgerichtlichen Verfahren praktiziert, 1996 in 10,1% der amtsgerichtlichen F ä l l e 4 7 0 (für das Jahr 1998 ergibt sich ein Anteil des beschleunigten Verfahrens von 12,8%). Auch in den Bundesländern Bayern und Berlin konnte der prozentuale Anteil des beschleunigten Verfahrens am amtsgerichtlichen Verfahrensvolumen merklich gesteigert werden. Im Bundesland Bayern hat das beschleunigte Verfahren bis ins Jahr 1998 um 5 Prozentpunkte (auf jetzt 9,3 % ) 4 7 1 , in Berlin um 3 Prozentpunkte (auf jetzt 4,3 % ) 4 7 2 zugelegt. Hinzu kommen Bremen und Hamburg, die das beschleu465 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1995, S. 12 f. Ambos nennt in Jura 1998, 291, für das Jahr 1995 den (offensichtlich falschen) prozentualen Anteil des beschleunigten Verfahrens am amtsgerichtlichen Verfahrensvolumen von 0,1 %. Er hat die Zahl der abgelehnten Anträge auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens zu der Gesamterledigungszahl in Bezug gesetzt, anstatt von der Zahl der durchgeführten beschleunigten Verfahren auszugehen. 466 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1994, S. 12. 467 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1996, S. 12. 468 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1997, S. 12. 469 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1998, S. 12. 470 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1995 bis 1996, jeweils S. 12. Vgl. hierzu außerdem den Bericht von Bielefeld, DRiZ 1998, 429, über die Anwendungssituation des beschleunigten Verfahrens am Amtsgericht Potsdam. 471 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1998, S. 13.

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

125

nigte Verfahren mit 13,1% und 17,6% weiterhin in erheblichem Umfang praktizieren. 473 Demgegenüber verzeichnen die meisten übrigen Bundesländer nur einen Anwendungszuwachs bis höchstens 2%, insbesondere in den Bundesländern Rheinland-Pfalz, dem Saarland, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-^Vorpommern und Thüringen spielt das beschleunigte Verfahren auch nach seiner gesetzlichen Neugestaltung eine völlig untergeordnete Rolle. 4 7 4 Aus der unterschiedlichen Entwicklung der Anwendungszahlen des beschleunigten Verfahrens in den einzelnen Bundesländern und den damit weiterhin bestehenden regionalen Unterschieden in der Anwendungshäufigkeit des Verfahrens folgt aber auch, daß die mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz vorgenommenen redaktionellen Änderungen, welche die Anwendung des beschleunigten Verfahrens zusätzlich erleichtern sollten, an der Justizpraxis wirkungslos abgeprallt sind. Die geänderte Gesetzesfassung, die Staatsanwaltschaften und Gerichte verpflichtet, das beschleunigte Verfahren bei Vorliegen der Anwendungsvoraussetzungen anzuwenden, hat offenbar zu keinem gesteigerten Anwendungsdruck geführt, die Eignungsfrage wird von den Gerichten weiterhin subjektiv beantwortet. Dies läßt sich insbesondere auch an den Beispielen der Amtsgerichte Bochum und Freiburg i.Br. veranschaulichen, die ausschließlich Ladendiebstähle als für ein beschleunigtes Verfahren geeignet ansahen. Ebenfalls wirkungslos erweist sich die Änderung des § 418 Abs. 1 StPO, nach der das beschleunigte Verfahren nicht mehr nur in kürzester Frist, sondern in kurzer Frist durchgeführt werden kann. Wie das Beispiel des A G Frankfurt a.M. zeigt, sahen sich die Gerichte auch nach altem Recht nicht gehindert, ein beschleunigtes Verfahren in ihnen sinnvoll und organisatorisch machbaren Zeitgrenzen zu führen. Fragt man nach den Gründen, warum das beschleunigte Verfahren in der Vergangenheit so wenig genutzt wurde und weshalb die Belebung des Verfahrens auch jetzt nur verhalten eingesetzt hat, so wird das beschleunigte Verfahren in der Form des bbV nicht selten als für zu aufwendig angesehen. Vor allem an mittleren und kleinen Gerichten bedeute eine derart kurzfristige Verfahrensführung gegenüber dem Normalverfahren eine personelle und finanzielle Mehrbelastung, 475 so daß das Verfahren keinerlei Entlastung biete und deshalb (zumindest an kleinen Gerichten) auch nicht praktikabel sei. Einen Bedarf für bbV gebe es nur in Großstädten oder grenznahen Städten, 472

Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte

1998,

Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte S. 13; vgl. außerdem oben IV. 1. 474 Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte S. 12 ff. 475 So auch OLG Köln, NStZ-RR 2000, 274; Ehlers, NJ 2000, 469.

1998,

S. 13. 473

1998,

1

.

Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

da nur hier die spezifische Klientel des beschleunigten Verfahrens, wie Wohnsitzlose, Durchreisende, Personen mit ungeklärten Aufenthaltsverhältnissen und ausländische Personen usw. in vergleichsweise hoher Konzentration in Erscheinung trete. Unter dem Blickwinkel der Untersuchungshaftverkürzung könne das beschleunigte Verfahren an großstädtischen Gerichten eine bedarfsgerechte Rolle spielen, während dies für den klein- und mittelstädtischen Bereich so nicht zutreffe. Das bV wird darüber hinaus strukturell im allgemeinen als wenig attraktiv eingeschätzt. Der Wegfall des Zwischenverfahrens, auf den sich das beschleunigte Verfahren in der Praxis im wesentlichen reduziert, 476 bedeutet offenbar keine große Erleichterung für den Richter, da dem Zwischenverfahren im amtsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich nur geringe Bedeutung zukomme. So soll von der Möglichkeit des rechtlichen Gehörs nach § 201 StPO beispielsweise nur in sehr geringem Umfang Gebrauch gemacht werden. Die Zeit, die der Richter für eine Strafsache aufwende, sei gleich, unabhängig davon, ob er im beschleunigten oder im Regelverfahren vorgehe. Insoweit sei es eine falsche Hoffnung, mit dem beschleunigten Verfahren eine spürbare Entlastung erreichen zu wollen. Auch im Normalverfahren könne - vorausgesetzt, es stimmen die organisatorischen Umstände - in einfachen und beweisklaren Fällen zeitnah terminiert und das Verfahren in wenigen Wochen abgeschlossen werden. f) Praktische Erfahrungen

mit der Hauptverhandlungshaft

Das Institut der Hauptverhandlungshaft war im Untersuchungszeitraum noch sehr jung, so daß Aussagen über die Anwendungssituation hier nur eingeschränkt möglich sind. Die ersten rechtstatsächlichen Erfahrungen deuten auf eine zweigeteilte Anwendungspraxis hin: Während sich ein Teil der Gerichte (die Amtsgerichte Berlin, Frankfurt a.M., Bremen, München, Ettlingen) von vornherein gegen eine Anwendung der Hauptverhandlungshaft ausspricht oder zumindest keinen Bedarf für die Hauptverhandlungshaft sieht, wenden verschiedene andere Gerichte (die Amtsgerichte Köln, Bonn, Bochum) die Hauptverhandlungshaft anscheinend regelmäßig an. Sollte es bei dieser Anwendungssituation bleiben, würde sich nicht nur die Prognose bestätigen, die eine zahlenmäßig unterschiedliche Anwendung der Hauptverhandlungshaft aufgrund der regional unterschiedlichen Bedeutung des beschleunigten Verfahren annimmt. 4 7 7 Es müßte sogar damit gerechnet werden, daß sich die Anwendungsunterschiede des beschleunigten Verfahrens weiter vertieften, da die Hauptverhandlungshaft ihrerseits nicht einheitlich angewandt wird. 476 477

Vgl. oben IV. 3. b), IV. 4. c) und IV. 5. b). Vgl. oben III. 2. a) und III. 3. c).

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

127

g) Zusammenfassung Faßt man die verschiedenen Aspekte zusammen, kann das legislatorische Bemühen, dem beschleunigten Verfahren zu einer stärkeren Nutzung zu verhelfen, bislang nicht als geglückt angesehen werden. Zwar hat der Anteil des beschleunigten Verfahrens am amtsgerichtlichen Verfahrensvolumen seit der Gesetzesänderung um etwa 2% zugenommen. Mit dieser Anwendungssteigerung wurden jedoch nur die weiter rückläufigen Anwendungszahlen des Verfahrens aufgefangen. 478 So hat das beschleunigte Verfahren im Jahre 1998 erstmals wieder den prozentualen Wert erreicht, den der Gesetzgeber im Jahre 1994 zum Anlaß genommen hat, das beschleunigte Verfahren aus seinem Schattendasein zu befreien. 479 Auch die von Bundesland zu Bundesland bestehenden Unterschiede in der zahlenmäßigen Bedeutung des beschleunigten Verfahrens haben sich seit der Neuregelung des Verfahrens keineswegs verringert, sondern noch weiter verstärkt. Insoweit kann von einer erfolgreichen Aktivierung des beschleunigten Verfahrens erst dann gesprochen werden, wenn der aktuelle Aufwärtstrend des Verfahrens anhält und zudem den überwiegenden Teil der Bundesländer erfaßt. Entgegen der statistischen Realität zeichneten die zahlreich erschienen Pressemeldungen ein völlig anderes Bild vom beschleunigten Verfahren: Das Verfahren selbst und seine Entwicklung erfreuten sich seit seiner Neuregelung durchweg einer positiven und optimistischen Einschätzung. Angesichts der nur sehr schleppend angelaufenen Anwendungssteigerung kann es sich hierbei nur um die Darstellung von Einzelfällen handeln. Gleichzeitig bleibt zu fragen, ob hier nicht zu einem guten Teil eine Schönrederei betrieben wird, die nur das derzeitige politische Wunschdenken, nicht aber die tatsächlichen Verhältnisse wiedergibt. Die vom Gesetzgeber unternommene Aktivierung des beschleunigten Verfahrens könnte der Versuch sein, der ob (in ihren Augen) 4 8 0 steigender Kriminalitätsraten beunruhigten Öffentlichkeit, 4 8 1 eine von ihr geforderte handlungsfähige und hart durchgreifende Justiz zu präsentieren. Daneben vermögen die gesetzlichen Änderungen des beschleunigten Verfahrens die beabsichtigte Ausdehnung des Verfahrens nicht zu fördern: 4 8 2 Die Vereinfachungen der Beweisaufnahme gehen am Bedarf des beschleunigten Verfahrens vorbei; aus dem vereinfachten Zwischenverfahren resultiert ein nur unbedeutender Gewinn; die Eignungsfrage wird trotz der ge478

Vgl. oben IV. 1. Vgl. BT-Drucks. 12/6853, 34. 480 Vgl. hierzu Albrecht, StV 1994, 268; Frehsee, StV 1996, 224. 481 Vgl. Eser, Diskussionsbeitrag bei Barth, ZStW 108 (1996), 155. 482 Im Ergebnis so auch die Untersuchung Bürgles, Neuregelung des beschleunigten Verfahrens, S. 53 ff. 479

128

1. Teil: Das beschleunigte Verfahren gem. den §§ 417 ff. StPO

setzlichen Weisung von Staatsanwaltschaften und Gerichten weiter restriktiv beurteilt und der Pflichtverteidigertatbestand vermag ohnehin keine die Anwendung des beschleunigten Verfahrens forcierende Wirkung zu entfal.

483

ten. Die mangelnde Eignung der vorgenommenen Änderungen im Hinblick auf eine breitere Anwendung des Verfahrens, läßt sich auch an Hand der hier untersuchten Pilotversuche festmachen. Auch in diesem Fall ist die breitere Anwendung des Verfahrens nicht auf die vorgenommenen Änderungen des beschleunigten Verfahrens zurückzuführen. Verantwortlich für die erzielten Erfolge waren vielmehr die getroffenen technischen und logistischen Maßnahmen. Zu deren Erfolg hat besonders auch die Tatsache beigetragen, daß Amts- bzw. Staatsanwaltschaft und Polizei sowie Amtsgericht stärker als bisher kooperierten. Darüber hinaus war die Projektführung durch ein hohes Engagement und die Überzeugung der Rechtsanwender gekennzeichnet. Die erreichte Steigerung des beschleunigten Verfahrens beruht damit zusammengefaßt auf organisatorischen Vorkehrungen, Einsatzwillen und Kooperation der verschiedenen Justizorgane. Dies alles sind Elemente, die zwar mit der gesetzlichen Neufassung des beschleunigten Verfahrens in Gang gekommen sind, aber im Kern mit ihr nichts zu tun haben. Im Ergebnis reiht sich die unternommene Reform des beschleunigten Verfahrens außerdem ein in die Reihe zahlreicher Einzeländerungen, die die StPO in den letzten zwanzig Jahren erfahren hat. 4 8 4 Sie alle zielten auf eine Strafverfahrensvereinfachung und -beschleunigung, die nicht, wie erhofft, eingetreten ist. Damit dürften sich auch in diesem Fall die kritischen Stimmen der Literatur bestätigt sehen, welche die Vornahme der stattgefundenen Einzelkorrekturen als unreflektiert und wenig sinnvoll betrachten. 485 Die erfolgreichen Pilotversuche zum beschleunigten Verfahren, die im wesentlichen auf organisatorischen Maßnahmen und Einsatzwillen der Rechtsanwender basieren, geben ferner Anlaß zu überdenken, inwieweit nicht hier das Potential für eine allgemeine Strafverfahrensbeschleunigung erkennbar i s t . 4 8 6 Angesichts der bislang nur sehr verhalten eingetretenen Anwendungssteigerung des beschleunigten Verfahrens und der in vielen Bundesländern 483

Vgl. hierzu oben IV. 5. a)-f). Vgl. hierzu die Auflistung bei Ashrock,, NJ 1995, 341. 485 Scheffler, GA 1995, 461; Rieß, NStZ 1994, 409, 411; Frister, StV 1994, 445; Albrecht, StV 1994, 269, Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht, StV 1997, 498; Meyer-Goßner, DRiZ 1996, 180; Kempft StV 1997, 208. 486 Ygi hierzu Weigend, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band I I / l , M 21; Scheffler, GA 1995, 466; Asbrock, NJ 1995, 341 f.; Barton, StV 1996, 694; Linden, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band II/l, M 35 f.; Scheffold, DRiZ 1983, 406; Hirsch, Diskussionsbeitrag bei Hürten, AnwBl 1994, 408. 484

IV. Aktuelle Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens

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unverändert geringen Akzeptanz dieser Verfahrensart bleibt allgemein zu fragen, ob eine breitere Anwendung des Verfahrens überhaupt möglich und sinnvoll erscheint. Insofern erscheint auch die Frage, ob nicht mit einer weiteren Forcierung des beschleunigten Verfahrens legislatorische und justizpolitische Energien auf ein zahlenmäßig wahrscheinlich auch in Zukunft unbedeutendes Verfahren verschwendet werden, keine bloß rhetorische zu sein.

Zweiter Teil

Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht: comparution immédiate und convocation par procès-verbal I. Dogmatische Konstruktion und systematische Stellung der Verfahren Der französische Strafprozeß kennt zwei Formen des beschleunigten Verfahrens: das Verfahren der comparution immédiate (unmittelbare Vorführung des Beschuldigten vor das erkennende Gericht) und das Verfahren der convocation par procès-verbal (Ladung des Beschuldigten durch staatsanwaltschaftliches Protokoll vor das erkennende Gericht). Das Verfahren der convocation par procès-verbal ist für die leichtere Kriminalität gedacht. Sein Beschleunigungseffekt basiert im wesentlichen auf einer vereinfachten Ladung des Beschuldigten. Demgegenüber zeichnet sich das Verfahren der comparution immédiate, welches für mittelschwere Delikte konzipiert ist, durch eine radikale Verfahrensverkürzung aus und stellt damit das beschleunigte Verfahren i.e.S. dar. Beide Verfahren beginnen übereinstimmend mit der Vorführung des (gewöhnlich auf frischer Tat betroffenen) Beschuldigten. Der Staatsanwalt teilt dem vorgeführten Beschuldigten mit, welcher Straftat er ihn beschuldigt, der Beschuldigte erhält Gelegenheit, sich zum Tatvorwurf zu äußern. Im Verfahren der convocation par procès-verbal wird der Beschuldigte außerdem im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Vorführung zu einer zwischen zehn Tagen und zwei Monaten später stattfindenden Hauptverhandlung geladen. Charakteristisch für dieses Verfahren ist dabei, daß der Beschuldigte frei zur Hauptverhandlung erscheint. Demgegenüber ist das Verfahren der comparution immédiate in erster Linie auf Fälle ausgerichtet, die an sich die vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren gebieten. Die Hauptverhandlung wird in diesem Verfahren grundsätzlich noch für denselben Tag anberaumt. Kann eine Hauptverhandlung nicht mehr am Vorführungstag stattfinden, läßt die Regelung der comparution immédiate unter bestimmten Voraussetzungen den Rückgriff auf eine ein- bis zweitägige Untersuchungshaftmaßnahme zu. Die Hauptverhandlung findet in diesem Fall spätestens am übernächsten Werktag statt. Die Durchführung der Hauptverhandlung ist im Verfahren der comparution immédiate von der Zustimmung des Beschuldigten abhän-

I. Dogmatische Konstruktion und systematische Stellung der Verfahren

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gig. Erteilt er sie nicht, muß das Verfahren für mindestens zwei Wochen ausgesetzt werden. Comparution immédiate und convocation par procès-verbal sind in der französischen Strafprozeßordnung, dem Code de procédure pénale (CPP) zusammen als besondere Verfahrensarten, und zwar als spezielle Verfahren im Vergehensrecht ausgebildet. 487 Die Gesetzesstruktur betont dabei weniger den Charakter der beschleunigten Verfahrensvarianten als besondere Verfahrensaiten, convocation par procès-verbal und comparution immédiate erscheinen vielmehr jeweils als eine mögliche Strafklageart vor dem (für Vergehen zuständigen) Korrektionalgericht, vgl. art. 388 CPP. Systematisch sind die beschleunigten Verfahren innerhalb des korrektionalgerichtlichen Verfahrens im Anschluß an die Darstellung des Normalverfahrens, die citation directe, in den art. 393 bis 397-6 CPP geregelt. 488 Obwohl es sich streng genommen um zwei Verfahrensarten handelt, widerspräche es der gesetzestechnischen Ausformung, die beiden Verfahren völlig abgelöst voneinander zu betrachten. Comparution immédiate und convocation par procès-verbal sind vielmehr als zwei selbständige Varianten eines beschleunigten Verfahrens anzusehen. 489 Über den Beschleunigungseffekt hinaus sind die beschleunigten Verfahrensvarianten weiter insofern bedeutsam, als sie eine Art Zwitterfunktion erfüllen. 4 9 0 So kann im Rahmen der comparution immédiate auf eine (kurzzeitige) Untersuchungshaft, in beiden Varianten auf die freiheitseinschränkende Maßnahme der gerichtlichen Aufsicht zurückgegriffen werden. Bedeutsam ist dies deshalb, weil die genannten Zwangsmittel im französischen Strafprozeß seit jeher nur in Zusammenhang mit der Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung angeordnet werden können, nicht jedoch im gewöhnlichen Verfahren der citation directe. Schon allein aus diesem Grund wird das beschleunigte Verfahren gerade auch im Hinblick auf eine mögliche Entlastung der Untersuchungsgerichtsbarkeit als sehr vorteilhaft beurteilt. 487 Im französischen Schrifttum werden folgende Klassifizierungen benutzt: „une procédure spéciale et accélérée": Stefani/Levasseur/Bouloc , Procédure pénale, Rdnr. 506; Casorla , RIDP 1995, 527; „une procédure particulière", „une procédure sommaire": Merle/Vitu , Procédure pénale, Rdnr. 656; „une saisine simplifiée": Rassat , Procédure pénale, Rdnr. 285. 488 D e r genaue systematische Standort der beschleunigten Verfahren in der französischen Strafprozeßordnung ist § 3 des 1. Abschnitts des korrektionalgerichtlichen Verfahrens: „De la compétence et de la saisine du tribunal correctionnel". 489 So werden die Verfahrensvarianten der comparution immédiate und der convocation par procès-verbal einheitlich als „la procédure correctionnelle sommaire": Merle/Vitu , Procédure pénale, Rdnr. 656, „la procédure de jugement rapide": Lévy, Le flagrant délit, S. 348, oder „la procédure rapide": Puech , ALD 1983, 117, bezeichnet; vgl. hierzu außerdem unten II. 490 Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 20. 9*

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

I I . Historische Entwicklung Blickt man auf die Entwicklung des beschleunigten Verfahrens in Frankreich, so präsentiert sich diese Verfahrensart nicht nur als abgekürzte, sondern ebenso als ein besonderes Verfahren bei Betreffen des Täters auf frischer Tat. Die Konzentrierung auf die frische T a t 4 9 1 spiegelt sich schon im ursprünglichen Wortlaut wider: das Verfahren wurde lange Zeit „Flagrantverfahren" 492 genannt. Eingeführt wurde das Flagrantverfahren mit einem vom Code d'instruction criminelle unabhängigen Gesetz vom 20. Mai 1863 4 9 3 . Das neu eingeführte Verfahren, das wie heute auf den Vergehensbereich beschränkt war, ermöglichte es dem Staatsanwalt, den auf frischer Tat Festgenommenen in kürzester Zeit vor Gericht zu stellen, in der Regel am Tag der Festnahme, spätestens am folgenden T a g . 4 9 4 Zu diesem Zweck hatte die Staatsanwaltschaft ! ) 4 9 5 das Recht, gegen den mutmaßlichen Täter eine kurzzeitige Untersuchungshaft anzuordnen. Eine der convocation par procès-verbal entsprechende Alternative war in dem Einführungsgesetz noch nicht vorgesehen. Mit diesem Verfahren, das sich am Beispiel der in Englands Großstädten entstandenen „Polizeigerichte" orientierte, 496 wandte man sich gegen die immer weiter ansteigenden Untersuchungshaftzahlen und die damit einhergehende Überlastung der Untersuchungsgerichtsbarkeit. 497 Ausgehend 491

Die angesprochene Ausrichtung des Verfahrens auf die frische Tat ist insofern nicht überraschend, als die frische Tat im französischen Strafprozeßrecht in zahlreichen Vorschriften des Ermittlungsverfahrens sowie der gerichtlichen Voruntersuchung gesonderten Regeln unterstellt ist, vgl. z.B. art. 53 ff., 17 al. 2, 18 al. 3, 41 al. 4, 51 al. 2, 144 CPP. Vgl. außerdem Mayer, D. 1980, Chr., S. 101; Schir, in: Problèmes actuels de science criminelle, S. 89 ff. 492 Im CPP wurde das Verfahren „Du flagrant délit" überschrieben; die Literatur spricht allgemein von „la procédure de flagrant délit", vgl. Lévy , Le flagrant délit, S. 26 ff.; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 387; Merle , GP 1980, 1, S. 266; Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 3; Puech , ALD 1983, 116. 493 Loi sur l'instruction des flagrants délits devant les tribunaux correctionnels, Bull, des lois 1863, 4, Bull.-n° 1120-11, 305 (S. 966 f.). 494 Der Beschuldigte konnte sich allerdings auf eine Verteidigungsfrist von drei Tagen berufen (was der damaligen gesetzlichen Mindestfrist zwischen Ladung und Hauptverhandlung entsprach, art. 184 CIC), so daß in diesem Fall eine unmittelbare Aburteilung nicht stattfinden konnte. 495 Die Anordnung von Untersuchungshaft durch die Staatsanwaltschaft widerspricht ganz eindeutig dem im französischen Strafprozeßrecht geltenden Grundsatz der Trennung von Verfolgung und Untersuchung. Seit jeher obliegt es grundsätzlich allein dem Untersuchungsrichter im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung über die Frage der Untersuchungshaft zu entscheiden. 496 Garraud , Procédure pénale, Rdnr. 955 (S. 265); Lévy , Le flagrant délit, S. 41.

II. Historische Entwicklung

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davon, daß die Verhängung von Untersuchungshaft im französischen Strafprozeß streng an die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung gekoppelt ist, wurde die Untersuchungsgerichtsbarkeit zu einem hohen Prozentsatz mit Untersuchungen überschwemmt, die ausschließlich auf die Anordnung von Untersuchungshaft abzielten. Wer diese Fallgruppe näher betrachtet, stellt fest, daß eine Voruntersuchung zumeist allein deshalb eingeleitet wurde, weil der mutmaßliche Täter aufgrund fehlender sozialer Bindungen keine ausreichende Gewähr dafür bieten konnte, daß er für ein Strafverfahren zur Verfügung stehe, nicht aber weil die Tat die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung verlangt hatte. 4 9 8 Genau an dieser Stelle sollte das Flagrantverfahren wirken; es war konzipiert, die Überlastung der Gerichte durch Massen von Wohnungslosen, Bettlern, Landstreichern, Migranten und Ausländern zu verhindern. Ganz offen stand diese Bevölkerungsschicht als fest umrissene Zielgruppe des Flagrantverfahrens fest. 4 9 9 Man sprach von ihr kurz als von der „treibenden städtischen Bevölkerung" 5 0 0 , da sie sich zu einem weit überwiegenden Teil in den Städten konzentrierte. In der Literatur wird die Entkoppelung von gerichtlicher Voruntersuchung und Zwangsmittel (Untersuchungshaft) vielfach begrüßt. 501 Das Flagrantverfahren, das in der Folgezeit fast unverändert 502 beibehalten wurde, 497 Vgl. hierzu allg. Lévy , Le flagrant délit, S. 27 ff. Die Untersuchungshaftzahlen hatten sich in dem Zeitraum der Jahre 1831 bis 1855 von 41.799 auf 80.138 nahezu verdoppelt, Lévy , a.a.O., S. 37. 498 Pradel, D. 1981, Chr., S. 103; Lévy , Le flagrant délit, S. 32. Lévy, a.a.O., S. 35, nennt einen Anteil von 30-40%, den die angesprochene Bevölkerungsschicht in der Untersuchungshaftstatistik einnahm. 499 Vgl. Lévy , Le flagrant délit, S. 39; Garraud, Procédure pénale, Rdnr. 955 (S. 265); Bernât de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 123. Im Gesetzgebungsverfahren war vorgeschlagen worden, das Flagrantverfahren von vornherein nur an großstädtischen Korrektionalgerichten zur Anwendung kommen zu lassen, vgl. Derome, Considérations sur la loi relative à Γ instruction des flagrants délits devant les tribunaux correctionnels, S. 69. 500 „Population flottante urbaine". 501 Vgl. Puech , ALD 1983, 116; Pradel , D. 81, Chr., S. 103; Garraud, Procédure pénale, Rdnr. 961 (S. 273); Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 299. Kritisch dagegen die damalige Opposition: Sie wandte sich vehement gegen die Übertragung der Entscheidungsgewalt über die Untersuchungshaft auf die Staatsanwaltschaft, außerdem war das anvisierte Verfahren in ihren Augen viel zu überhastet. Allerdings äußerte die Opposition ihre Kritik nur im Hinblick darauf, daß ein „ehrenwerter" Bürger mißbräuchlich von dem Flagrantverfahren tangiert werden könne, vgl. Derome, Considérations sur la loi relative à Γ instruction des flagrants délits devant les tribunaux correctionnels, S. 100-126. 502 Die zwischenzeitlich stattfindenden Gesetzesänderungen änderten das beschleunigte Verfahren nur geringfügig: So betrafen die Änderungsgesetze v. 27.05.1885 und v. 12.04.1906 nur den Anwendungsbereich des Verfahrens. Die bestehenden Anwendungsausschlüsse [Pressedelikte, politische Delikte sowie Straftaten, die ein besonderes Strafverfahren nach sich ziehen, vgl. unten III. 1. a)] wurden

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

ist bei der Neufassung der französischen Strafprozeßordnung in den art. 71 und 393-397 in den Code de procédure pénale übernommen worden. Erst Mitte der 70er Jahre wurde das beschleunigte Verfahren weiterentwickelt. Der Grund für den Entwicklungsschub bildete die in den 70er Jahren verstärkt aufgekommene Kritik an dem Verfahren, die sich vor allem auf den ungenügenden Schutz der Beschuldigtenrechte bezog. 5 0 3 Eine erste bedeutendere Änderung erfolgte mit dem Gesetz vom 6. August 1975 5 0 4 . Das Flagrantverfahren wurde im Zuge dieser Gesetzesänderung um die Variante des sog. „rendez-vous judiciaire", einem Vorläufer der heutigen convocation par procès-verbal, ergänzt. Damit war der zuständige Staatsanwalt nicht mehr gezwungen, den ihm vorgeführten Beschuldigten unmittelbar dem Gericht vorzuführen. Genausogut konnte er das Flagrantverfahren auch in der Weise führen, daß er den Beschuldigten (im Rahmen der Vorführung) mündlich zu einer wenige Tage später 505 stattfindenden Hauptverhandlung lud. Darüber hinaus sah die Gesetzesänderung ein Recht auf Verteidigerbeistand 506 nun schon während der Eingangsvorführung vor. Gegen die geäußerte Kritik konnte diese Gesetzesänderung allenfalls ansatzweise etwas bewirken. Zudem entsprach der Wunsch nach Belebung des Flagrantverfahrens genau dem damaligen politischen Zeitgeist: Das Gesetzgebungsverfahren zu dem vielleicht bedeutendsten 507 und umstrittensten 5 0 8 Gesetz Frankreichs seit Inkrafttreten des CPP, dem sog. loi „sécurité et liberté" („Gesetz zur Stärkung der inneren Sicherheit und zum Schutz der Freiheit der Bürger") aus dem Jahre 1981 5 0 9 , wurde begleitet von der

auf Verbannungsverfahren und Jugendstrafsachen ausgedehnt. Das Gesetz v. 23.06.1923 effektivierte das Recht des Beschuldigten auf eine Verteidigungsfrist von drei Tagen insofern, als es eine Belehrungspflicht seitens des Gerichts ausdrücklich vorschrieb, Lévy , Le flagrant délit, S. 67. 503 Vgl. Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 299; Pradel, D. 81, Chr., S. 103; Puech, ALD 1983, 116; Lesclous, JurClPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 4; Périer-DaviUe, GP 1987, 1, S. 5. 504 Gesetz n° 75-701 v. 6.08.1975, „loi modifiant et complétant certaines dispositions de procédure pénale", JO, 7.08.1975, S. 8035 ff., vgl. hierzu Doll , GP 1976, 1, S. 36 f.; Robert , JCP 1975,1.2729 (III § 2); Couvrat, D. 1976, Chr., S. 43. 505 Die Hauptverhandlung konnte frühestens drei Tage und höchstens einen Monat später stattfinden. 506 Ygi hierzu Billières , in: Les procédures d'urgence, S. 200 f. 507 So Pradel, D. 1981, Chr., S. 101. 508 Vgl. z.B. Pradel D. 81, Chr., S. 101 ff.; Périer-DaviUe , GP 1981, 1, S. 20 ff.; ders., GP 1981, 1, S. 100 ff.; Lazerges, Dév. et Sté. 1982, 227 ff.; Merle, GP 1980, 1, S. 266; Varaut, GP 1980, 1, S. 261 ff.; Cimamonti, La loi „sécurité - liberté"; Badinter, Le Monde v. 10.05.1980, S. 1, 12; Bredin, Le Monde v. 04.06.1980, S. 1 f.

II. Historische Entwicklung

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Forderung nach Stärkung der inneren Sicherheit und dem Wunsch nach Zurückdrängung der Gewaltkriminalität, einer erhofften Beschleunigung des Strafverfahrens sowie dem Verlangen nach einem härteren Vorgehen gegenüber Straftätern. 510 Dies alles waren kriminalpolitische Ziele, welche die Änderungsdiskussion um das beschleunigte Verfahren zu einem zentralen Thema des anvisierten Gesetzes werden ließen. Das Ergebnis der Reformbestrebungen war eine komplette Neugestaltung des Flagrantverfahrens. 511 Das Flagrantverfahren wurde im folgenden durch die „saisine directe" abgelöst. Hinter der Namensänderung steckte jedoch mehr als nur die stilistische Abrundung einer umfassenden Änderung: Erstmals seit seiner Einführung wurde das beschleunigte Verfahren von der Fixierung auf die frische Tat gelöst. Das Kriterium der frischen Tat war nämlich immer wieder als wenig sachgerecht kritisiert worden: So konnten komplexe Sachverhalte nach Ergreifung des mutmaßlichen Täters auf frischer Tat ohne weiteres beschleunigt verfolgt werden, während dies im Falle einfacher, nicht frischer Taten nicht möglich w a r . 5 1 2 Aus diesem Grund wurde in der im Jahre 1975 hinzugekommenen Variante des Flagrantverfahrens, die mit dieser Gesetzesänderung in convocation par procès-verbal umbenannt worden ist, das Anwendungskriterium der frischen Tat ersatzlos gestrichen. Im beschleunigten Verfahren i.e.S., der damaligen saisine immédiate, wurde die Zulässigkeit des Verfahrens nunmehr von der Beweisklarheit eines Sachverhaltes abhängig gemacht. Gleichzeitig - quasi als Ausgleich für das erweiterte Anwendungsfeld - wurde der Anwendungsbereich der saisine immédiate auf Delikte mit einer gesetzlichen Strafandrohung von nicht mehr als fünf Jahren beschränkt. Unter dieser Voraussetzung war das beschleunigte Verfahren nun unterschiedslos auf die frische wie die nicht frische Tat anwendbar.

509

Gesetz n° 81-82 v. 2. Febr. 1981, „loi renforçant la sécurité et protégeant la liberté des personnes", D. 1981, Lég., S. 86 ff. Das Gesetz wurde allgemein loi „sécurité et liberté" genannt. 510 Vgl. Pradel D. 1981, Chr., S. 101; Varaut , GP 1980, 1, S. 261; Merle , GP 1980, 1, S. 266, spricht in diesem Zusammenhang von einem „droit pénal de nécessité". 511 Das ursprünglich auf kaum mehr als einer Seite sehr knapp gehaltene und auch in der Folgezeit kaum angewachsene Regelwerk wurde, was den Umfang betrifft, mehr als verdoppelt. Gleichzeitig hob man die Zweiteilung des Flagrantverfahrens auf und lozierte das Verfahren einheitlich in den art. 393 ff. CPP. 512 Um möglichst viele Sachverhalte dem Kriterium der frischen Tat unterstellen zu können, wurden die zeitlichen Voraussetzungen einer frischen Tat in der Praxis außerdem insgesamt sehr großzügig gehandhabt, so daß auch noch zwei Wochen nach Tatbegehung eine Tat ohne weiteres als „frische Tat" eingestuft wurde. Hinzukommt, daß das Kriterium der frischen Tat von den einzelnen Gerichten sehr unterschiedlich interpretiert wurde. Vgl. Pradel D. 1984, Chr., S. 80; ders., D. 1981, Chr., S. 101; Puech, ALD 1983, 116; Lesclous, JurClPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 4.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Die angestrebte breitere Anwendbarkeit sollte vor allem auch durch einen stärkeren Einklang von Verfahrensbeschleunigung und Beschuldigtenrechten ermöglicht werden. 5 1 3 Dazu wurde versucht, das beschleunigte Verfahren in weiten Teilen dem Normalverfahren bzw. der gerichtlichen Voruntersuchung anzugleichen: 514 Konkret heißt dies, daß die Anwaltsbeteiligung im beschleunigten Verfahren entsprechend der Anwaltsbeteiligung innerhalb der gerichtlichen Voruntersuchung ausgestaltet wurde. Der Ablauf der das Verfahren einleitenden Vorführung des Beschuldigten vor den zuständigen Staatsanwalt entsprach nunmehr fast wortgleich der ersten Vorführung vor den Untersuchungsrichter. Außerdem wurde der gesamte Untersuchungshaftkomplex neu gestaltet. In diesem Zusammenhang wurde der Staatsanwaltschaft die Befugnis, über die Verhängung von Untersuchungshaft zu entscheiden, entzogen und hierfür eine Richterkompetenz 515 begründet. Die neue Regelung der im beschleunigten Verfahren möglichen Untersuchungsh a f t 5 1 6 ist dann nach dem geltenden Untersuchungshaftrecht innerhalb der gerichtlichen Voruntersuchung konzipiert worden. Der Ausbau der Beschuldigtenstellung ging schließlich mit einer Anhebung der dem Beschuldigten im Rahmen der saisine immédiate zustehenden „Verteidigungsfrist" auf fünf Tage einher: 5 1 7 Eine unmittelbare Aburteilung kann im französischen Strafverfahren seit jeher nicht gegen den Willen des Beschuldigten stattfinden, auf sein Verlangen ist ihm eine gesetzlich bestimmte Frist zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu gewähren. Gleichermaßen wurde die Mindestfrist zwischen mündlicher Ladung und Hauptverhandlung im Verfahren der convocation par procès-verbal verlän518

gert. Schon Ende des gleichen Jahres wurde das beschleunigte Verfahren infolge des politischen Machtwechsels 519 erneut Gegenstand gesetzgeberi513

Puech, ALD 1983, 116 f.; Pradel, D. 1981, Chr., S. 106. Vgl. hierzu die gegenüberstellende Übersicht von Cabouat/Poignard, GP 1981, 1, S. 178 ff. 515 Um das beschleunigte Verfahren klar von der gerichtlichen Voruntersuchung abzugrenzen, ist für den Erlaß eines Haftbefehls im beschleunigten Verfahren nicht wie im allgemeinen Untersuchungshaftrecht ein Untersuchungsrichter zuständig, sondern der Gerichtspräsident oder ein von diesem beauftragter Richter, vgl. hierzu unten III. 3. c) und III. 5. b). 516 Der Rückgriff auf die Untersuchungshaft ist im beschleunigten Verfahren grundsätzlich möglich: Wenn die Hauptverhandlung nicht für den selben Tag anberaumt werden kann, das Gericht die Verhandlung aussetzt sowie nach erstinstanzlichem Urteil, solange es noch nicht rechtskräftig ist, vgl. unten III. 5. b), III. 5. c) bb) (b) und III. 5. c) dd). 517 Die Verteidigungsfrist, die dem Beschuldigten auf Antrag zu gewähren ist, wurde von drei auf fünf Tage angehoben. 518 Die Hauptverhandlung nach mündlicher Ladung kann seither frühestens zehn Tage nach der Vorführung vor den Staatsanwalt stattfinden. 514

II. Historische Entwicklung

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scher Reformdiskussion. Diese neuerliche Diskussion um das beschleunigte Verfahren war in erster Linie Teil des übergreifenden Vorhabens, das während der vorausgegangenen Legislaturperiode gegen den Willen der nachfolgenden Regierungskoalition entstandene Gesetz zur Stärkung der inneren Sicherheit weitestgehend rückgängig zu machen. Die am 10. Juni 1983 5 2 0 erfolgte Gesetzesänderung ist dementsprechend auch zunächst durch einen Rückschritt gekennzeichnet: Das beschleunigte Verfahren i.e.S., das zu diesem Zeitpunkt die noch heute gültige Bezeichnung: „comparution immédiate" erhielt, wurde wiederum an das Vorliegen der frischen Tat geknüpft. 521 Im Zuge dieser Gesetzesänderung wurde außerdem die Aufspaltung des abgekürzten Verfahrens in zwei Varianten weiter vertieft. So wurde die convocation par procès-verbal, die bislang nur einen Unterfall des Flagrantverfahrens bzw. der saisine directe darstellte, als eigenständige Verfahrensvariante aufgewertet. Darüber hinaus hat sich die Neufassung weniger als inhaltliche Neugestaltung denn als (auf eine redaktionelle Umgestaltung reduzierte) Demonstration politischer Abgrenzung entpuppt. 522 Inhaltlich baute die Gesetzesänderung, abgesehen von einzelnen Retuschen 523 und Wortlautänderungen, 524 vollständig auf der 1981 eingeführten saisine directe auf. 5 2 5 519 10.05.1981: François Mitterand wird im zweiten Wahlgang zum ersten sozialistischen Staatspräsidenten gewählt. 21.06.1981: Die französischen Sozialisten erringen im zweiten Wahlgang zur Nationalversammlung zusammen mit den verbündeten Linksliberalen die absolute Mehrheit. 520 Gesetz n° 83-466 v. 10.06.1983, „loi portant abrogation ou révision de la loi n° 81-82 du 2 février 1981 et complétant certaines dispositions du Code pénal et du Code de procédure pénale", JO, 11.06.1983, S. 1755 ff.; vgl. hierzu Pradel , D. 1984, Chr., S. 75; Puech , ALD 1983, 107 ff.; Périer-Daville GP 1983, 1, S. 305 ff. 521 Der sich durch die Ausdehnung auf die nicht frische Tat ergebende Anwendungsbereich war als gefährlich weit für ein beschleunigtes Verfahren bzw. für die damit einhergehende Verkürzung der Beschuldigtenstellung kritisiert worden, vgl. Merle , GP 1980, 1, S. 266; Pradel D. 1984, Chr., S. 80. 522 So z.B.: Puech , ALD 1983, 117: „le législateur n'a guère fait preuve d'originalité"; vgl. außerdem Périer-Daville , GP 1981, 2, S. 546, 547; ders ., GP 1983, 2, S. 305; Lesclous , JurClPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 7. 523 Konnte z.B. die Mindestfrist zwischen Ladung und Hauptverhandlung im Verfahren der convocation par procès-verbal in der Gesetzesfassung aus dem Jahre 1981 unterschritten werden, wenn der Beschuldigte ausdrücklich auf die Einhaltung der Frist verzichtete, setzte eine Fristunterschreitung nun voraus, daß der ausdrückliche Verzicht in Gegenwart des gegebenenfalls mitwirkenden Verteidigers erfolgte. Weiter mußte die Hauptverhandlung, falls die comparution immédiate nach vorangegangener kurzer Untersuchungshaft stattfand, nun am ersten auf die Vorführung folgenden Werktag durchgeführt werden. Davor mußte die Hauptverhandlung in diesem Fall spätestens vier Tage nach der staatsanwaltschaftlichen Vorführung stattgefunden haben. 524 Hatte der Beschuldigte z.B. bislang ein Recht auf eine Verteidigungsfrist nicht unter fünf Tagen, so war die Durchführung des beschleunigten Verfahrens nun

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Im Rahmen des (franz.) „Verbrechensbekämpfungsgesetzes" vom 9. Sept. 1986 5 2 6 wurde die Regelung der abgekürzten Verfahren noch einmal geändert. Die Gesetzesänderung, die den Beginn einer breit angelegten Intensivierungsphase der beschleunigten Verfahrensvarianten darstellen sollte, 5 2 7 tangierte gleichfalls die Frage der frischen Tat: Das Verfahren der comparution immédiate wurde wie 1981 erneut allgemein und damit auch auf nicht frische Taten anwendbar. 528 Aus der Gesetzesänderung resultierte in erster Linie ein Anwendungsschub der convocation par procès-verbal. Dieser ist darauf zurückzuführen, daß das Verfahren nunmehr ohne direkte Beteiligung der Staatsanwaltschaft eingeleitet werden konnte. Die ursprünglich durch den Staatsanwalt gegenüber dem Beschuldigten persönlich ausgesprochene Ladung des Beschuldigten konnte im folgenden genausogut durch einen leitenden Polizeibeamten auf Anweisung oder auf generelle Direktive der Staatsanwaltschaft hin erhoben werden. Daneben war die im Jahre 1986 stattfindende Änderung insofern bedeutsam, als sie die dem Beschuldigten zustehende Verteidigungsfrist auf mehr als das doppelte (auf zwei Wochen) ausdehnte. Neu war auch, daß das Gericht die Möglichkeit erhielt, das beschleunigte Verfahren abzulehnen. Die Entwicklung der beschleunigten Verfahren erscheint mit dieser Gesetzesänderung erst einmal abgeschlossen. Die nachfolgenden Gesetzesänderungen 529 betreffen die Verfahren n u r 5 3 0 insofern, als sie in anderen von der „Zustimmung" des Beschuldigten abhängig. Wurde sie nicht erteilt, konnte die Hauptverhandlung ebenfalls frühestens nach fünf Tagen stattfinden. 525 Die unter dem Vorsitz von Prof. J. Leauté agierende Änderungskommission, die eine tiefergehende Änderung anvisiert hatte, konnte sich nicht durchsetzen. Die Kommission sah die Einführung eines „Schnellrichters" (juge de comparution) vor, der jeder Entscheidung, eine Straftat im Wege der comparution immédiate zu verfolgen, vorgeschaltet sein sollte. Der Vorschlag war von Praktikerseite als in die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft eingreifend und darüber hinaus das beschleunigte Verfahren unnötig verkomplizierend vehement kritisiert worden, vgl. hierzu den Bericht über die Änderungsvorschläge der Kommission von Périer-Daville , GP 1981, 2, S. 546 ff.; außerdem Pradel, D. 1984, Chr., S. 79; Puech, ALD 1983, 117; Billières y in: Les procédures d'urgence, S. 198. 526 Gesetz n° 86-1019 v. 9.09.1986, „loi relative à la lutte contre la criminalité et la délinquance", D. 1986, Lég., S. 466 ff.; vgl. hierzu: Périer-Daville , GP 1987, 1, S. 1; Lesclous , JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 8. 527 Lesclous , JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 8. 528 Die Rückkehr zum Status quo von 1981 erfolgte allerdings insofern nicht ganz vollständig, als die vorauszusetzende gesetzliche Maximalstrafandrohung eines Tatbestandes für die frische (ein bis fünf Jahre) und die nicht frische Tat (zwei bis fünf Jahre) etwas unterschiedlich gewählt wurden. 529 Gesetz n° 93-2 v. 4.01.1993, JO, 5.01.1993, S. 215 ff.; Gesetz n° 94-89 v. 1.02.1994, JO, 2.02.1994, S. 1803 ff.; Gesetz n° 95-125 v. 8.02.1995, JO, 9.02.1995, S. 2175 ff.

II. Historische Entwicklung

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Bereichen vorgenommene Gesetzesänderungen in die Regelung der beschleunigten Verfahrensvarianten inkorporieren. In diesen Zusammenhang fällt z.B. die Ausdehnung des Anwendungsbereiches im Verfahren der comparution immédiate auf Delikte mit einer gesetzlichen Strafandrohung von bis zu sieben Jahren Freiheitsstrafe. 531 Faßt man die Entwicklung der beschleunigten Verfahren zusammen, so liegen die Schwerpunkte auf dem Ausbau der Beschuldigtenstellung und der damit zusammenhängenden Annäherung an das Normalverfahren. Signifikant für die Entwicklung von comparution immédiate und convocation par procès-verbal ist außerdem die nur zögernd stattfindende Lösung von der frischen Tat und der Ausbau des Flagrantverfahrens zu einem zweigleisigen Verfahren. Gleichzeitig fällt auf, daß sich an der Grundstruktur des beschleunigten Verfahrens i.e.S., der comparution immédiate, seit seiner Einführung nichts geändert h a t : 5 3 2 Das Verfahren nimmt seinen Lauf heute, wie schon 1863, mit der Vorführung des festgenommenen Beschuldigten vor den zuständigen Staatsanwalt. Zu keiner Zeit hat man im französischen Strafprozeßrecht den Charakter der comparution immédiate als den eines beschleunigten Verfahrens, das in einem sehr engen zeitlichen Rahmen durchgeführt wird, in Frage gestellt. Nach wie vor findet die Hauptverhandlung in diesem Verfahren grundsätzlich noch am Tag der staatsanwaltschaftlichen Vorführung statt. 5 3 3 Aber auch die Dauer der Untersuchungshaft, die im Verfahren der comparution immédiate seit jeher zulässig ist für den Fall, daß eine unmittelbare Aburteilung nicht stattfinden kann, ist durchweg sehr kurz gehalten worden: Sie dauerte nie länger als vier Tage. Unangetastet geblieben ist schließlich auch das Recht des Beschuldigten auf eine - in der Entwicklung zunehmend länger werdende - Verteidigungsfrist, so daß der Beschuldigte zu einer unmittelbaren Aburteilung nicht gezwungen werden kann. Wirft man einen Blick auf die mit dem beschleunigten Verfahren verfolgten gesetzgeberischen Ziele, so sind auch hier Parallelen zwischen den einzelnen Gesetzesbegründungen festzustellen. Ziel des beschleunigten Verfah530 Von selbständiger Bedeutung ist lediglich art. 37 des Änderungsgesetzes v. 8.02.1995: für das beschleunigte Verfahren ist nun zwingend die Zuständigkeit der Kollegialspruchkammer begründet. 531 Die Anhebung der Strafgrenze auf sieben Jahre war für sinnvoll erachtet worden, nachdem der Strafrahmen zahlreicher Delikte, die seit jeher im beschleunigten Verfahren verfolgt werden konnten, ebenfalls auf sieben Jahre angehoben worden war. 532 Vgl. z.B.: Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 303; Lévy, Le flagrant délit, S. 25. 533 Die zulässige Untersuchungshaftdauer variierte zwischen einem und vier Tagen.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

rens war immer - neben einer Beschleunigung des Strafprozesses - ganz klar der Rückgang der Untersuchungshaftzahlen sowie eine Verkürzung der Untersuchungshaftdauer. Vor dem Hintergrund der eigentlich untrennbaren Koppelung von Untersuchungshaft und gerichtlicher Voruntersuchung war das beschleunigte Verfahren als eine Art Zwitterverfahren immer auch speziell darauf gerichtet, die Untersuchungsgerichtsbarkeit von der Einleitung solcher (zahlenmäßig sehr starker) Untersuchungen zu befreien, die nur dem Erlaß eines Haftbefehls dienten. 5 3 4

III. Gesetzliche Regelung 1. Anwendungsbereich a) Für die beschleunigten Verfahrensvarianten allgemein geltende Anwendungsvoraussetzungen Die beschleunigten Verfahrensvarianten der französischen Strafprozeßordnung sind gem. art. 393 al. 1 CPP auf den Vergehensbereich 535 (matière correctionnelle) beschränkt, d.h. sie sind von vornherein nicht anwendbar, wenn ein Verbrechen 534

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oder eine Übertretung

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in Rede stehen.

Zum Gesetz v. 20.05.1863 vgl. Derome , Considérations sur la loi relative à l'instruction des flagrants délits devant les tribunaux correctionnels, S. 67. Zum Gesetz v. 6.08.1975 vgl. Gerbet , JO débats Sénat, séance du 6.06.1975, S. 1351 zit. nach Lévy , Le flagrant délit, S. 69. Zum Gesetz v. 2.02.1981 vgl. Peyrefitte , JO débats Ass. nat., séance du 16.06.1980, S. 1885; Cire. crim. v. 07.02.1981, D. 1981, Lég., S. 113 (mittlere Spalte), S. 117 (mittlere Spalte); Pradel , D. 1981, Chr., S. 106; Puech, ALD 1983, 116; Varaut, GP 1980, 1, S. 264. Zum Gesetz v. 10.06.1983 vgl. Badinter , JO débats Sénat, séance du 6.04.1983, S. 67; ders ., JO débats Ass. nat., séance du 19.04.1993, S. 383. Zum Gesetz ν. 9.09.1986 vgl. Périer-Daville , GP 1987, 1, S. 5; Labic , Comparution immédiate, Rdnr. 5. 535 Vergehen sind rechtswidrige Taten, die mit Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren oder mit Geldstrafe in Höhe von mind. 25.000 F bedroht sind, art. 381 al. 2 CPP; vgl. außerdem art. 131-4, 13-3 NCP. 536 Verbrechen werden mit der speziellen Verbrechensstrafe, der sog. „réclusion criminelle" oder „détention criminelle" geahndet. Hierbei handelt es sich um eine Freiheitsstrafe, die sowohl eine zeitige i.H.v. mind, zehn Jahren als auch eine lebenslange sein kann, art. 131-1 NCP. 537 Übertretungen sind Straftaten, die mit Geldstrafe von bis zu 20.000 Fr. geahndet werden können, art. 521 al. 2 CPP, vgl. auch art. 131-12, 131-13 NCP. Das französische Strafrecht kennt noch eine Trichotomie der Straftaten in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen, vgl. art. 111-1 NCP. Zu der angesprochenen Unterteilung und ihrer Bedeutung im französischen Strafund Strafverfahrensrecht vgl. Conte/Chambon , Droit pénal général, Rdnr. 162-179; Stefani/Levasseur/Bouloc , Droit pénal général, Rdnr. 178-186; Robert , Dt. Pén. 1995, Chr., S. 1.

III. Gesetzliche Regelung

141

Die in art. 393 al. 1 CPP explizit aufgeführte Eingrenzung auf den Vergehensbereich ergibt sich eigentlich schon aus der systematischen Stellung der Verfahren: Comparution immédiate und convocation par procès-verbal sind zusammen in dem Gesetzesabschnitt geregelt, der das Verfahren vor dem Korrektionalgericht zum Gegenstand hat. Das Korrektionalgericht ist nun aber sachlich ausschließlich für Vergehen zuständig, art. 381 CPP. Weitere traditionelle 539 Einschränkungen finden sich in art. 397-6 CPP: Die beschleunigten Verfahrensmodalitäten finden keine Anwendung auf Jugendstrafsachen. Pressevergehen (délits de presse) 540 , „politische" Vergehen (délits politiques) 541 sowie Straftatbestände, deren Strafverfolgung spezialgesetzlich geregelt ist, sind ebenfalls vom Anwendungsbereich ausgenommen. Obgleich der Gesetzeswortlaut an dieser Stelle eindeutig i s t , 5 4 2 war der Ausschlußtatbestand, der Straftatbestände mit abweichend geregeltem Straf538

Zur Zulässigkeit einer gemeinschaftlichen Strafverfolgung zusammenhängender Straftaten vgl. Fn. 548. 539 Die angeführten Ausschlußtatbestände waren bis auf den Ausschlußtatbestand der Jugendstrafsachen seit der Einführung des Flagrantverfahrens im Jahre 1863 (vgl. Bull, des lois 1863, 4, Bull.-n° 1120-11, 305 (S. 966 f.), art. 7) von dessen Anwendungsbereich ausgenommen. Der für Jugendstrafsachen geltende Ausschluß, der gleichlautend in art. 5 al. 2 der Ordonnance n° 45-174, v. 2. Febr. 1945 enthalten ist, wurde im Jahre 1906 in die gesetzliche Regelung des Verfahrens aufgenommen. 540 Zum Begriff des délit de presse vgl.: Berthiau, JurClP, Annexes, V° „Presse", Fase. 60. 541 Problematisch ist der Begriff des délit politique. So liest sich an verschiedener Stelle die (falsche) Übersetzung bzw. Definition: „politisch motiviertes Delikt" (vgl. Doucet/Fleck, Wörterbuch der Rechts- und Wirtschaftssprache). Das Gesetz selbst enthält keine Definition des délit politique. Die Rechtsprechung und ihr nachfolgend die Kommentarliteratur favorisierten seit jeher ein objektives Kriterium: Eine politische Straftat liegt demzufolge nur vor, wenn sich eine Straftat gegen die Staatsorganisation, die Staatssicherheit oder die Funktionsfähigkeit des Staates an sich richtet. Dagegen wird eine aus politischer Gesinnung begangene Straftat, die sich zugleich gegen andere Rechtsgüter richtet, nicht als politische Straftat betrachtet (die Rechtsprechung hierzu ist umfassend, vgl. nur: Cass. crim, 12.03.1969, Bull, crim. n° 116; Cass. crim. 26.04.1994, Bull. crim. n° 149). Politische Delikte sind z.B. die in art. 410-1^14-9 NCP enthaltenen Straftatbestände wie Landesverrat, Spionage, Wahlfälschung usw. Dagegen ist die in Zusammenhang mit einer Demonstration verübte Körperverletzung kein politisches Delikt und damit grundsätzlich im beschleunigten Verfahren verfolgbar. Zum ganzen vgl. Moehlmann, Strafzweck und Amnestie nach französischem Strafrecht, S. 17 ff., 71 f.; Levasseur/Chavanne/ Montreuil, Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 60 ff.; Pradel, Droit pénal, Rdnr. 273 ff., Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général, Rdnr. 190 ff. 542 In art. 397-6 CPP heißt es: Les dispositions des art. 393-397-5 ne sont applicables aux matières [...] d'infractions dont la procédure de poursuite est prévue par une loi spéciale.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

verfahren vom Anwendungsbereich der beschleunigten Verfahren ausnimmt, wiederholt Gegenstand gerichtlicher Klärung: 5 4 3 Betont wird immer wieder, es komme ausschließlich darauf an, inwieweit die Strafverfolgung spezialgesetzlich geregelt i s t . 5 4 4 Nicht damit zu verwechseln sind Straftaten, die zwar gesondert gesetzlich inkriminiert sind, 5 4 5 jedoch im Regelverfahren verfolgt werden; für sie steht das beschleunigte Verfahren ohne Einschränkung offen. Der Anwendungsausschluß von Pressevergehen und politischen Delikten dürfte zum einen historische Gründe haben, da die beiden Deliktsgruppen im französischen Straf- und Strafverfahrensrecht seit jeher eine Sonderstellung einnehmen. 546 Zum anderen wurden sie sehr wahrscheinlich auch deshalb von einer beschleunigten Verfahrensführung ausgenommen, da man beschleunigte Verfahren nicht gegen politische Täter und politisch Andersdenkende instrumentalisiert sehen wollte. b) Nur für die comparution immédiate geltende Anwendungsbeschränkung Für das Verfahren der comparution immédiate gilt zusätzlich eine Einschränkung nach der Strafhöhe: Die comparution immédiate ist allgemein auf Delikte anwendbar, die das Gesetz im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von zwei bis sieben Jahren bedroht, art. 395 al. 1 CPP. Bei Betreffen auf frischer T a t 5 4 7 läßt art. 395 al. 2 CPP schon eine gesetzliche Höchststrafe von einem bis sieben Jahren Freiheitsstrafe genü-

543

Cass. crim., 4.03.1970, Bull. crim. n° 89; 22.05.1970, Bull. crim. n° 164; 26.06.1991, Bull. crim. n° 281; 26.04.1994, Bull. crim. n° 149. 544 Zu den Delikten, die spezialgesetzlich verfolgt werden, zählen z.B. Jagdvergehen (délits de chasse), art. L. 220-1 ff. Crur, strafbewehrte Verstöße gegen das Fischereirecht (délits de pêche), art. L. 231-1 ff. Crur, während einer Gerichtsverhandlung begangene Straftaten (délits d'audience), art. 675 ff. CPP, Vergehen auf dem Gebiet der indirekten Steuern (délits de contribution indirecte), art. 1810 ff. CGI, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 23; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 8. 545 Um lediglich spezialgesetzlich inkriminierte Delikte handelt es sich z.B. bei Militärstraftaten, art. 697 ff. CPP, Betrugsstraftaten in Zusammenhang mit bezogenen Leistungen aus staatlicher Arbeitslosenunterstützung, art. L. 365-1 Ctrav, vgl. Cass. crim., 26.04.1994, Bull. crim. n° 149; 26.06.1991, Bull. crim. n° 281. 546 Vgl. hierzu im einzelnen Pradel, Droit pénal, Rdnr. 268 ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Droit pénal général; Conte/Chamhon, Droit pénal général, Rdnr. 192 ff.; Berthiau, JurClP, Annexes, V. „Presse", Fase. 60, Rdnr. 8 ff. 547 Zum Begriff der frischen Tat vgl. die Legaldefinition in art. 53 CPP, vgl. außerdem Schir, in: Problèmes actuels de science criminelle, S. 89 ff.; M ay mat, Procédure pénale, Rdnr. 165, 182; Matsopolou , Les enquêtes de police, Rdnr. 106 ff.

III. Gesetzliche Regelung

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Die unterschiedliche Strafrahmenwahl des art. 395 CPP ist ein Überbleibsel des auf die frische Tat beschränkten Flagrantverfahrens bzw. der nur sehr zögerlich stattfindenden Lösung des Verfahrens von der Fixierung auf die frische T a t . 5 4 9 Mit art. 395 CPP wird die traditionelle Sonderstellung der frischen Tat, wenn auch nur noch ansatzweise, aufrechterhalten. Maßgebend ist immer die im Gesetz für die entsprechende Tat abstrakt umschriebene Höchststrafe („le maximum de l'emprisonnement prévu par la loi"). Daß die Straferwartung im Einzelfall nicht über sieben Jahren Freiheitsstrafe liegt, ist insoweit unerheblich. Gleichermaßen deckt sich die Anwendungsvoraussetzung des art. 395 CPP nur bedingt mit einer im Verfahren der comparution immédiate geltenden Rechtsfolgengrenze: Bei der Bemessung der tatbestandlichen Obergrenze bleiben persönliche Strafschärfungsgründe, wie z.B. der Umstand, daß der Täter ein Wiederholungstäter 550 ist, außer Ansatz. 5 5 1 Greifen persönliche Strafschärfungsgründe ein, so kann dies bei der Strafzumessung erschwerend berücksichtigt werden, auch die im Tatbestand vorgesehene Obergrenze kann in diesem Fall überschritten werden. Dementsprechend ist es im Verfahren der comparution immédiate möglich, eine über sieben Jahre hinausgehende Freiheitsstrafe auszusprechen.

548 Zusammenhängende Straftaten, von denen nur ein Teil die Anwendungsvoraussetzungen bzgl. der Strafhöhe erfüllt, sollen immer dann im Verfahren der comparution immédiate verbunden werden können, wenn das weitere Delikt aus dem Anwendungsbereich der comparution immédiate herausfällt, weil es die in art. 395 al. 2 CPP vorausgesetzte Strafrahmengrenze unterschreitet. Die Zulässigkeit einer Verbindung von Übertretung und Vergehen in den beschleunigten Verfahrensvarianten wird aus der Vorschrift des art. 467 CPP abgeleitet, nach der die Verbindung von Übertretung und Vergehen im korrektionalgerichtlichen Verfahren allgemein möglich ist. Die Zulässigkeit einer gemeinschaftlichen Verfolgung zweier Vergehen wird mit dem Hinweis auf den allgemeinen Konnexitätsgrundsatz für möglich gehalten, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 27; Cass. crim., 26.04.1994, Bull. crim. n° 149, S. 333; 18.07.1990, Bull. crim. n° 288 (den zitierten Entscheidungen läßt sich die Zulässigkeit einer gemeinschaftlichen Verfolgung allerdings nur implizit entnehmen). 549 Vgl. hierzu oben II. 550 Vgl Levasseur/Chavanne/Montreuil, Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 794. 551 Vitu, RSC 1990, 778 f.; Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 24; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 23; Puech, ALD 1983, 117; Zieschang, Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts, S. 161 f.; Circ. crim. v. 07.02.1981, D. 1981, Lég., S. 117. Daß die Gesetzesfassung in art. 395 CPP auf den abstrakten Strafrahmen eines Delikts abstellt, dürfte maßgeblich daran liegen, daß sich das Vorliegen persönlicher Strafschärfungsgründe (insbesondere das Vorliegen etwaiger Vorstrafen) in den engen Zeitgrenzen der comparution immédiate kaum zuverlässig nachprüfen läßt und man eine sonst drohende Rechtsmittelflut von vornherein zu vermeiden suchte, vgl. Puech, a.a.O., S. 117.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Auch wenn der Strafrahmen eines Delikts bei der Strafzumessung häufig nicht vollständig ausgeschöpft wird, die Strafrahmenvorgaben sich damit in der Praxis etwas relativieren, bleibt die im Verfahren der comparution immédiate mögliche Strafhöhe, verglichen mit der Strafgewalt des Strafrichters im beschleunigten Verfahren der StPO (dort höchstens ein Jahr Freiheitsstrafe, § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO) 5 5 2 , auffallend hoch. 5 5 3 Damit wird schon an dieser Stelle deutlich, daß comparution immédiate und beschleunigtes Verfahren der StPO von vornherein auf unterschiedliche Deliktsbereiche ausgerichtet sind. Während das beschleunigte Verfahren nur Tatvorwürfe der unteren Deliktsskala anvisiert, zielte das dem Verfahren der comparution immédiate vorausgehende Flagrantverfahren traditionell darauf ab, den auf frischer Tat Betroffenen, unabhängig von der Tatschwere, schnell vor Gericht zu stellen. Beweggründe einer schnellen Bestrafung im Falle einer Flagranztat sind neben der Beweisklarheit Entrüstung und gesteigerte Emotionen in der Öffentlichkeit. 554 Diese Zielrichtung besteht offenbar auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Ausrichtung des Verfahrens weiter. Insoweit wird zu fragen sein, inwieweit das Verfahren der comparution immédiate nicht nur eine beschleunigte Verfahrensführung darstellt, sondern vorzugsweise auf einen Deliktsbereich ausgerichtet ist, der nach der jeweils verfolgten Kriminalpolitik, eine sichtbare und schnelle Reaktion der Justiz sowie eine exemplarische Strafe notwendig erscheinen läßt. 5 5 5

552

Vgl. oben Erster Teil, I. 2. c). Das der comparution immédiate vergleichbare Flagrantverfahren war lange Zeit sogar, wie die convocation par procès-verbal noch jetzt, im ganzen Vergehensbereich anwendbar. Da sich ja schon mit der Beschränkung auf den Vergehensbereich eine Limitierung hinsichtlich der Strafhöhe ergibt (ursprünglich fünf, inzwischen zehn Jahre Freiheitsstrafe), hielt man eine zusätzliche Strafrahmenvorgabe für nicht erforderlich. Mit der zunehmenden Ausweitung des Vergehensbereichs einmal durch die gesetzliche Herabstufung verschiedener Verbrechen zu Vergehen (correctionnalisation législative, vgl. hierzu Jeandidier, JCP 1991, I. 3487 (S. 51 ff.); Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 375) und der gleichzeitigen Anhebung der Vergehensstrafe auf jetzt bis zu zehn Jahre, zählten immer schwerere Straftaten zum Vergehensbereich, so daß man eine Beschränkung der Strafhöhe im Verfahren der comparution immédiate für notwendig erachtete, vgl. hierzu Pradel, D. 1981, Chr., S. 104; Périer-Daville , GP 1981, 1, S. 2024. Bei Einführung der Strafrahmenbeschränkung im Jahre 1981 war der Anwendungsbereich der comparution immédiate auf Delikte mit einer gesetzlichen Strafandrohung von nicht mehr als fünf Jahren beschränkt. Im Jahre 1995 wurde die Strafrahmengrenze aus gesetzessystematischen Gründen auf sieben Jahre angehoben: Für eine Reihe von Straftaten (z.B. räuberischer Diebstahl (vol avec violence), art. 311-5 NCP, schwere sexuelle Nötigung (attentat à la pudeur avec violence) art. 222-28 NCP), die traditionell zum Anwendungsbereich der comparution immédiate gehörten, war die Strafobergrenze von fünf auf sieben Jahre erhöht worden. Da diese Straftaten nun nicht mehr beschleunigt verfolgbar waren, erschien eine Angleichung notwendig. 554 Vgl. hierzu Schir, in: Problèmes actuels de science criminelle, S. 106 f. 553

III. Gesetzliche Regelung

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Aber auch die jeweiligen Einschätzungen der Strafgrenzen im deutschen und französischen Schrifttum variieren. Während man im deutschen Schrifttum die Strafgewalt von einem Jahr Freiheitsstrafe für ein abgekürztes Verfahren als recht hoch ansieht 556 , werden die geltenden Anwendungsvorgaben im französischen Schrifttum nicht selten als „relativement peu grave" 5 5 7 eingeschätzt. Auffallend ist schließlich auch, daß die Strafrahmenvorgaben des art. 395 CPP fast exakt mit der (abstrakten) Straferwartung übereinstimmen, die das allgemeine Untersuchungshaftrecht für den Erlaß eines Haftbefehls im Vergehensbereich mindestens voraussetzt, vgl. art. 144 al. 1 CPP. 5 5 8 Diese Übereinstimmung erklärt sich daraus, daß die Regelung der comparution immédiate (genauso wie die gerichtliche Voruntersuchung) einen Rückgriff auf die Zwangsmaßnahme der Untersuchungshaft erlaubt und der Gesetzgeber deshalb bemüht war, die Stellung des Beschuldigten im Verfahren der comparution immédiate so weit wie möglich der Beschuldigtenstellung in der gerichtlichen Voruntersuchung anzugleichen. Hinzu kommt, daß das Verfahren der comparution immédiate nach seiner Gesamtkonzeption auf Fälle zugeschnitten ist, bei denen die vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren angezeigt ist. Diese dem Verfahren immanente Ausrichtung wird vor allem an der Zweiteilung des beschleunigten Verfahrens in convocation par procès-verbal und comparution immédiate deutlich: Ein Rückgriff auf die Maßnahme der Untersuchungshaft ist nur im Rahmen der comparution immédiate möglich, im Verfahren der convocation par procès-verbal erscheint der Beschuldigte frei zur Hauptverhandlung. Da die beiden Verfahrensmodi im polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren zunächst einheitlich geregelt sind, hängt die spätere Entscheidung für den einen oder den anderen Modus maßgeblich davon ab, inwieweit ein zwangsweises Festhalten des Beschuldigten bis zur Hauptverhandlung notwendig erscheint. 559

555 Vgl. hierzu unten IV. 10 sowie z.B. Périer-Daville , GP 1983, 1, S. 312; ders., GP 1987, 1, S. 5. 556 Vgl. AKStPO-Loos, § 212, Rdnr. 6; Dahn, Baumann-FS, S. 349, 354; Loos/ Radtke, NStZ 1996, 9 f.; Fezer, ZStW 106 (1994), 1, 5. 557 So z.B. Pradel , D. 1981, Chr., S. 104; Puech , ALD 1983, 117: „assez peu grave"; Hamelin/Damien , Encycl. Dalloz, „Défense", Rdnr. 12: „délits mineurs", „gravité relativement modeste"; Lahic , Comparution immédiate, Rdnr. 5: „degré relatif de gravité". 558 Ein Unterschied besteht nur in der Formulierung. Art. 395 CPP geht von der gesetzlichen Höchststrafe eines Delikts aus („le maximum de Γ emprisonnement prévu par la loi"). Art. 144 al. 1 CPP setzt voraus, daß eine Freiheitsstrafe von ein bzw. zwei Jahren abstrakt möglich ist („la peine encourue"). Art. 144 al. 1 CPP statuiert außerdem naturgemäß keine Höchststrafe, bei der ein Rückgriff auf die Untersuchungshaft nicht mehr in Frage kommt. 10 Kohler

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

2. Die staatsanwaltschaftliche Vorführung Initiativrecht der Staatsanwaltschaft Den Ausgangspunkt für das Verfahren der comparution immédiate wie für das Verfahren der convocation par procès-verbal bildet einheitlich die Vorführung (défèrement) vor den Staatsanwalt, art. 393 al. 1 CPP. a) Das der Vorführung

vorangehende polizeiliche Vorverfahren

560

Mit der in art. 393 CPP vorgesehenen Vorführung knüpft das Gesetz konkludent an die Regelung des vorläufigen Polizeigewahrsams an: Der vorläufige Polizeigewahrsam (garde à v u e ) 5 6 1 ist ein selbständiges Zwangsmittel der französischen Kriminalpolizei. Danach ist die Kriminalpolizei ermächtigt, Tatverdächtige und Personen, die zur Aufklärung einer Straftat beitragen können, bis zu 24 Stunden festzuhalten. Nach Ablauf von 24 Stunden sind unverdächtige Auskunftspersonen auf jeden Fall freizulassen. 562 Tatverdächtige müssen nach Ablauf des Polizeigewahrsams ebenfalls freigelassen oder 559

Vgl. hierzu Pradel, D. 1984, Chr., S. 80; ders., Procédure pénale, Rdnr. 391; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 507, 509; Rudioff\ JO débats Sénat, séance du 15.11.1980, S. 4755; Carous, JO débats Sénats, séance du 15.11.1981, S. 4757. 560 Der französische Strafprozeß unterscheidet traditionell zwei Varianten des polizeilichen Ermittlungsverfahrens: Zum einen die in der Gesetzesstruktur als allgemeine polizeiliche Voruntersuchung ausgebildete enquête préliminaire, art. 75-78 CPP. Abgesehen von dem Zwangsmittel der vorläufigen Ingewahrsamnahme hat die Kriminalpolizei in dieser Voruntersuchungsvariante keine selbständigen Zwangsbefugnisse. Hausdurchsuchungen, allgemeine Durchsuchungen und Beschlagnahmen kann sie daher nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Tatverdächtigen vornehmen. Auch die Maßnahme des Polizeigewahrsams ist im Rahmen dieser Vorverfahrensvariante insofern eingeschränkt, als die Kriminalpolizei mangels selbständigen Festnahmerechts nur Tatverdächtige in Gewahrsam nehmen kann, die ihr freiwillig zur Wache gefolgt oder auf Ladung hin erschienen sind. Im Rahmen der enquête flagrante, art. 53-74 CPP, die als Ausnahmeverfahren bei Betreffen des Täters auf frischer Tat (Voraussetzung außerdem: die Tat muß im Gesetz mit Freiheitsstrafe bedroht sein) angelegt ist, verfügt die Kriminalpolizei dagegen über selbständige Ermittlungs- und Zwangsbefugnisse. Ausgehend von der vergleichbar höheren Effektivität, spielt die enquête flagrante rechtstatsächlich die dominierende Rolle, die eigentlich als „normales" polizeiliches Ermittlungsverfahren konzipierte enquête préliminaire bildet nur die Ausnahme, vgl. Schir, in: Problèmes actuels de science criminelle, S. 89 f., S. 109; Lévy , Du suspect au coupable, S. 57. Näher zum polizeilichen Ermittlungsverfahren vgl. Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 343 ff., Stefani/ Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 305 ff. 561 Zum Institut des vorläufigen Polizeigewahrsams vgl. Matsopolou, Les enquêtes de police, Rdnr. 749 ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 313 ff., 325ff.; Levasseur/Chavanne/Montreuil, Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 44; Roth, Das französische Strafverfahrensrecht, S. 73; zu den rechtstatsächlichen Bedingungen vgl. außerdem Cohen, GP 1995, 1, S. 504.

III. Gesetzliche Regelung

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der Staatsanwaltschaft vorgeführt werden, art. 63 al. 4 und art. 77 al. 3 CPP 563 ß e r v o r i ä u f i g e Polizeigewahrsam gilt damit allgemein als Anknüpfungspunkt für die Einleitung einer beschleunigten Verfahrensvariante. 564 Theoretisch möglich ist aber auch, daß ein Tatverdächtiger sogleich nach erfolgter Festnahme der Staatsanwaltschaft vorgeführt wird. Das französische Strafverfahrensrecht trennt insoweit zwischen Festnahme und Ingewahrsamnahme. Auch ist die Festnahme keine Voraussetzung des Polizeigewahr„

„ 565

sams. Problematisch ist, nach welchen Grundsätzen sich der Zeitraum zwischen Polizeigewahrsamsende und Vorführung bestimmt. Fraglich ist dabei insbesondere, bis zu welchem Zeitpunkt die Vorführung stattgefunden haben muß. Der CPP enthält hierzu keine Angaben. Gesetzlich geregelt ist lediglich die zulässige Dauer (24 h) des vorläufigen Polizeigewahrsams, vgl. art. 63 al. 1, 77 al. 1 CPP. Für die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt der Beschuldigte der Staatsanwaltschaft i.S.d. art. 393 CPP vorgeführt sein muß, ist diese Bestimmung allerdings unergiebig: Nach dem Wortl a u t 5 6 6 der art. 63 al. 4, 77 al. 3 CPP kann als gesichert gelten, daß die staatsanwaltschaftliche Vorführung keinen Teil des Polizeigewahrsams mehr darstellt 567 und demnach die für den Polizeigewahrsam maßgeblichen Bestimmungen nicht auf den Zeitraum zwischen Ablauf des Gewahrsams und Beginn der Vorführung vor den Staatsanwalt anwendbar sind. Das bedeutet außerdem, daß die für die Vorführung erforderliche Zeitspanne an die Dauer der Ingewahrsamnahme angehängt wird und die Vorführung nicht vor Ablauf des Polizeigewahrsams abgeschlossen sein muß. 562 Unverdächtige Personen dürfen nur so lange festgehalten werden, wie dies für ihre Zeugenaussage unerläßlich ist, in jedem Fall ist die Ingewahrsahmnahme nach 24 Stunden zu beenden, art. 63 al. 1-3 CPP. 563 Neben der Einleitung eines beschleunigten Verfahrens kann die Vorführung außerdem zur einmal möglichen Verlängerung des Gewahrsams um bis zu 24 Stunden oder zur Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung erfolgen. 564 Allg. Meinung, z.B. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 507; Pradel, D. 1981, Chr., S. 104; ders., D. 1984, Chr., S. 80; Müller, GA 1995, 170; Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 301. 565 Ein selbständiges Festnahmerecht besteht für die Kriminalpolizei abgesehen von den Fällen eines vorliegenden Vorführungs- oder Haftbefehls nur im Rahmen der enquête flagrante (vgl. Fn. 560), also bei Betreffen des Täters auf frischer Tat. Vgl. hierzu Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 326; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 363. 566 Art. 63 al. 4, 77 al. 3 CPP lauten wie folgt: „Sur instructions du procureur de la République, les personnes à Γ encontre desquelles les éléments recueillis sont de nature à motiver l'exercice de poursuite sont, à l'issue de la garde à vue, soit remises en liberté, soit déférées devant ce magistrat. 567 Lesclous/Marsat, Dt. Pén. 1997, Chr. n° 27 (S. 6); Montreuil JurCIPrP, art. 53 à 73, Rdnr. 128 ff.; Decoque/Montreuil/Buisson , Le droit de la police, Rdnr. 670; Merle/Vitu , Procédure pénale, Rdnr. 258. 1*

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

Ungeklärt bleibt damit aber die weitere Frage, wie lange der Zeitraum zwischen Polizeigewahrsamsende und Vorführungsbeginn höchstens sein darf und welche Grundsätze für diesen Zeitraum maßgebend sind. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Freiheitsbeschränkung, die aufgrund der Verbringung des Beschuldigten zum Gerichtsgebäude und während der Durchführung der staatsanwaltschaftlichen Vorführung entsteht, trotz fehlender ausdrücklicher Gesetzesgrundlage rechtmäßig. 568 Aus der gesetzlichen Anordnung der Vorführung folge klar, daß sich damit auch die mit der Vorführung zwangsläufig einhergehende Freiheitsbeschränkung rechtfertige. Dogmatisch handelt es sich hierbei um eine Freiheitsbeschränkung sui generis, deren Rechtmäßigkeit allein auf der Anweisung der Staatsanwaltschaft fußt, sich den Beschuldigten vorführen zu lassen, in etwa vergleichbar mit einem Vorführungsbefehl i.S.v. art. 70 CPP. 5 6 9 Hinsichtlich des Zeitraums, währenddessen ein Beschuldigter über das Gewahrsamsende hinaus bis zu seiner Vorführung festgehalten wird, zeigt sich die Rechtsprechung sehr großzügig. Auch ein 20-stündiger Zeitraum zwischen Ablauf des Polizeigewahrsams und Beginn der Vorführung wird regelmäßig noch für rechtmäßig erachtet. 570 Diese über den Polizeigewahrsam erheblich hinausgehende Zeitspanne wird mit der (zweifelhaften) Begründung zugelassen, daß es an einer gesetzlichen Regelung dieser Problematik fehle. 5 7 1 Daß sich die Rechtsprechung in diesem Punkt mit dem Gesetzeszweck deckt, läßt sich kaum annehmen. So erscheint zwar die Auffassung richtig, die in Zusammenhang mit der Vorführung zwangsläufig auftretenden Freiheitsbehinderungen rechtfertigten sich allein aus der Tatsache, daß das Gesetz die Vorführung ausdrücklich vorsieht. Jedoch läßt sich schwerlich der Ansicht beipflichten, die aufgezeigte Gesetzeslücke gestatte faktisch eine ca.-Verdoppelung des Polizeigewahrsams. 572 So gesehen erweist sich die Rechtsprechung einfach als nachgiebig, angesichts der organi568 CA Paris, 8.09.1977 (Clovirola), zit. nach Lesclous/Marsat, Dt. Pén. 1997, Chr. n° 27 (S. 6). 569 So Lesclous/MarsaU Dt. Pén. 1997, Chr. n° 27 (S. 6). 570 Cass. crim., 23.03.1983, zit. nach Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 31; TGI Paris, 25.03.1989, zit. nach Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 31; vgl. außerdem die Angaben bei Lesclous/Marsat, Dt. Pén. 1997, Chr. n° 27 (S. 6); dies., Dt. Pén. 1993, Chr. n° 63 (S. 3) sowie bei Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 31. Die Rechtswidrigkeit eines Freiheitsentzuges wurde lediglich in einem Fall angenommen, in welchem der Beschuldigte zwei Monate nach Ablauf des Polizeigewahrsams, nach dem er allerdings wieder in Freiheit entlassen worden war, zur Vorführung aufgegriffen wurde. 571 Cass. crim., 23.03.1983, zit. nach Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 31; TGI Paris, 25.03.1989, zit. nach Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 31. 572 Kritisch auch Remblon, JCP 1978, 1.2916.

III. Gesetzliche Regelung

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satorischen Schwierigkeiten, die in Zusammenhang mit einer beschleunigten Verfahrensführung entstehen. b) Ablauf der Vorführung Die Vorführung beginnt mit der Vernehmung des Beschuldigten zur Person; der Staatsanwalt eröffnet der ihm vorgeführten Person, welche Tat er ihr zur Last legt und welche Strafvorschriften er in Betracht zieht; schließlich gibt er dem Beschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme, art. 393 al. 1 CPP. Wenn es in art. 393 al. 1 CPP heißt: „Der Staatsanwalt nimmt auf Wunsch des Beschuldigten dessen Ausführungen entgegen", so ist damit gemeint, daß an dieser Stelle an sich noch keine Vernehmung zur -Sache stattzufinden hat. Der Beschuldigte kann zur Sache nur aussagen, wenn er dies ausdrücklich wünscht. Einer Aussage des Beschuldigten muß deshalb auch eine dahingehende ausdrückliche Belehrung vorangehen. 573 Der Grund, daß art. 393 CPP an dieser Stelle noch keine Vernehmung zur Sache vorsieht, ist mit darin zu sehen, daß die Anwesenheit eines Verteidigers während der staatsanwaltschaftlichen Vorführung nicht gestattet ist und auch der Eintritt eines amtlich bestellten Verteidigers erst nach derselben erfolgt. 5 7 4 Die Regelung der Vorführung entspricht inhaltlich dem ersten Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter, vgl. art. 116 al. 1 CPP. Die Parallele erklärt sich aus dem Bemühen des französischen Gesetzgebers, die Rechte des Beschuldigten im beschleunigten Verfahren den Rechten des Beschuldigten innerhalb der gerichtlichen Voruntersuchung so weit wie möglich anzugleichen. c) Entscheidung der Staatsanwaltschaft Die Staatsanwaltschaft muß sich an dieser Stelle des Verfahrens entscheiden, wie sie weiter verfährt. aa) Entscheidung zwischen Strafverfolgung (poursuite) und Einstellung (classement sans suite) Grundsätzlich ist die Staatsanwaltschaft im französischen Strafverfahren nicht verpflichtet, wegen einer Straftat einzuschreiten. Anders als im deut57 3 Pradel D. 1984, Chr., S. 80, Fn. 40; D. 1981, Chr., S. 104, Fn. 30; Lesclous/ Marsat, Dt. Pén. 1997, Chr. n° 27 (S. 7). 574 Vgl. unten III. 2. d).

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

sehen Strafverfahren gilt nicht das Legalitätsprinzip, sondern das Opportunitätsprinzip, art. 40 al. 1 CPP. 5 7 5 Es ist damit in das Ermessen der Staatsanwaltschaft gestellt, 576 ob sie ein Strafverfahren einleitet oder das Verfahren einstellt. 577 Dieses Ermessen besteht grundsätzlich solange, wie die Staatsanwaltschaft noch keine Anklage erhoben und die zuständige Gerichtsbarkeit noch nicht mit der Sache befaßt hat. 5 7 8 Dementsprechend kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren auch noch während der staatsanwaltschaftlichen Vorführung ohne weiteres einstellen. bb) Wahl der Verfahrensart Entscheidet sich die Staatsanwaltschaft für eine Strafverfolgungseinleitung, muß sie in einem zweiten Schritt die Verfolgungsart präzisieren. 575 Das Opportunitätsprinzip ist nicht explizit im Gesetz aufgeführt. Man leitet es aus art. 40 al. 1 CPP ab: „Le procureur de la République reçoit les plaintes et les dénonciations et apprécie la suite à leur donner."- Der Staatsanwalt nimmt Strafanzeigen entgegen und entscheidet, wie weiter zu verfahren ist. Zum Opportunitätsprinzip allgemein vgl. Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 275 f.; Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 1064; Accomando, GP 13./14.08.1997, S. 2 f.; Schönknecht, Das Opportunitätsprinzip im französischen Strafverfahren. 576 Das Ermessen des einzelnen Staatsanwaltes gilt allerdings nicht unbeschränkt. Es wird begrenzt durch die Möglichkeit des Straftatopfers, (mit der action civile) selbständig Strafklage zu erheben, art. 1 al. 2, 85-91, 418-426 CPP, dem aus der hierarchischen Struktur der Staatsanwaltschaftsbehörde folgenden Anweisungsrecht des übergeordneten Beamten nach art. 36, 37 CPP, sowie dem Recht der angerufenen Anklagekammer (chambre d'accusation), unter bestimmten Voraussetzungen den Prozeßgegenstand zu erweitern oder die Ermittlungen auf (eine) weitere Person(en) auszudehnen, art. 202, 204 CPP. Vgl. hierzu Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 469; Ras sat, Procédure pénale, Rdnr. 277. In bestimmten Fällen ist die Strafverfolgungseinleitung außerdem nur möglich, wenn das Straftatopfer oder die betroffene Behörde einen Strafantrag gestellt hat, wenn der Staatsanwaltschaft eine Stellungnahme oder die Genehmigung einer bestimmten Behörde vorliegt oder wenn eine Mahnung unberücksichtigt geblieben ist. Gegebenenfalls muß die gerichtliche Klärung einer zivilrechtlichen Vorfrage abgewartet werden, vgl. hierzu im einzelnen Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 473486; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 278. 577 Bei leichteren Straftaten mit geringen Folgen kann die Staatsanwaltschaft vor der endgültigen Entscheidung über die Einstellung oder Einleitung des Verfahrens mit Zustimmung der Parteien auch einen Täter-Opfer-Ausgleich, die sog. „médiation pénale" i.S.v. art. 41 al. 7 CPP anstreben. Vgl. hierzu Larguier, Procédure pénale, S. 64; Blanc, JCP 1994,1.3760; Leblois-Happé, RSC 1994, 525. 578 Das Opportunitätsprinzip gilt nur für die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft. Hat die Staatsanwaltschaft Strafklage erhoben, kann das Verfahren nicht mehr aus Opportunitätserwägungen eingestellt werden, es gilt fortan das Legalitätsprinzip. Ebenso ist die Kriminalpolizei verpflichtet, den zuständigen Staatsanwalt von einer begangenen Straftat zu unterrichten, art. 19 CPP, vgl. Stefani/Levasseur/ Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 468; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 276.

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(a) Die einzelnen Modalitäten der Strafverfolgungseinleitung Der französische Strafprozeß kennt verschiedene Formen der öffentlichen Klageerhebung (mise en mouvement de l'action publique, art. 1 al. 1 CPP). Die Staatsanwaltschaft hat zum einen mit dem sog. réquisitoire introductif die Möglichkeit, einen Untersuchungsrichter mit der Strafsache zu befassen und damit eine gerichtliche Voruntersuchung (instruction préparatoire/information) 5 7 9 einzuleiten. Zwingend vorgeschrieben ist die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung nur bei Verbrechen. 580 Bei Übertretungen und im hier interessierenden Vergehensbereich ist die Durchführung einer gerichtlichen Voruntersuchung dagegen fakultativ, art. 79, 44 CPP. Die gerichtliche Voruntersuchung ist geheim, schriftlich und weitgehend 581 nicht kontradiktorisch. Sie dient der vertieften Aufklärung einer Strafsache, in der der Untersuchungsrichter das Beweismaterial zu sammeln und die Beweislage zu klären hat. Entscheidend ist, daß die Untersuchungsgerichtsbarkeit (im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft) über eine Reihe von Ermittlungs- und Zwangsbefugnissen verfügt, wie z.B. die Anordnung eines Sachverständigengutachtens oder einer Zeugenvernehmung, die Entscheidung über die Durchführung von Beschlagnahmen, Durchsuchungen, Telefonüberwachungen usw. und vor allem die Verhängung von Untersuchungshaft und gerichtlichen Aufsichtsmaßnahmen. 582 Ist der die Untersuchung führende Richter nach Abschluß der Ermittlungen der Ansicht, daß ausreichende Belastungsmomente vorliegen, überweist er die Strafsache an die Urteilsgerichtsbarkeit bzw. im Falle eines Verbrechens an die 2. Instanz der Untersuchungsgerichtsbarkeit, die Chambre d'accusation; andernfalls erläßt er eine Einstellungsverfügung (ordonnance de non-lieu), art. 177-179, 181 CPP. Bei Vergehens- und Übertretungssachen kann die Staatsanwaltschaft die Urteilsgerichtsbarkeit, d. h. in diesem Fall das Korrektional- oder das Polizeigericht 5 8 3 auch direkt anrufen, ohne vorherige Einschaltung eines Untersu579 Die gerichtliche Voruntersuchung ist in den art. 79-230 CPP geregelt. Zu dieser Form der Strafverfolgungseinleitung vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 130, 489^92, 500; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 282. 580 Zwingend vorgeschrieben ist die Strafverfolgungseinleitung i.F.d. instruction préparatoire außerdem bei einer von einem Jugendlichen verübten Straftat, art. 79 CPP, art. 5 der Ordonnance v. 2.02.1945, und bei einer Strafverfolgungseinleitung gegen unbekannt (l'information contre Χ). 581 Der Grundsatz, wonach die gerichtliche Voruntersuchung nicht kontradiktorisch ausgestaltet ist, gilt heute nur noch in abgeschwächter Form, vgl. Chambon, Le juge d'instruction, Rdnr. 50; Pradel, L'instruction préparatoire, Rdnr. 74 ff. 582 Vgl. art. 92-100, 137-150 CPP. 583 Die sachliche Zuständigkeit im französischen Strafverfahrensrecht bestimmt sich abstrakt nach dem Deliktscharakter (vgl. Fn. 535-537): Das tribunal de police ist für Übertretungen zuständig, das tribunal correctionnel für Vergehen, die cour d'assises für Verbrechen, vgl. art. 381, 521 CPP.

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chungsrichters. Als „Normalverfahren" fungiert in diesem Bereich die citation directe. Hierbei handelt es sich um eine förmliche Vorladung vor Gericht, die dem Beschuldigten durch einen Gerichtsvollzieher zugestellt wird. Die Zustellung bewirkt gleichzeitig, daß Anklage erhoben und die Strafsache bei Gericht anhängig wird, art. 388, 531 CPP. 5 8 4 Ein Rückgriff auf die oben genannten Ermittlungs- und Zwangsbefugnisse ist im Verfahren der citation directe nicht möglich. Diese stehen allein dem Untersuchungsrichter zu. Daneben hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, im Wege einer vereinfachten Verfahrensart vorzugehen. Dies sind zum einen die abgekürzten Verfahrensmodi der comparution immédiate und der convocation par procès-verbal. Zum anderen kann die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten auch formlos mündlich oder schriftlich auffordern, vor Gericht zu erscheinen (avertissement), art. 389 CPP. In seinen Rechts Wirkungen bleibt das avertissement allerdings hinter der citation directe zurück. Zwar stellt es ebenfalls eine Klageerhebung dar, das Gericht wird jedoch noch nicht mit der Sache befaßt. Dies geschieht erst, wenn der Beschuldigte der Aufforderung nachkommt und freiwillig vor Gericht erscheint (comparution volontaire, art. 388 CPP). 5 8 5 Der Beschuldigte kann sich in diesem Fall also leicht der Hauptverhandlung entziehen, die Staatsanwaltschaft ist bei einem Fernbleiben des Beschuldigten gezwungen, das Verfahren neu aufzurollen und den Beschuldigten förmlich zu laden. Das französische Strafverfahrensrecht kennt schließlich auch ein dem Strafbefehlsverfahren i.S.d. § 407 StPO vergleichbares Verfahren, „la procédure simplifiée", art. 524-528-2 CPP. 5 8 6 Die procédure simplifiée ist wie das Strafbefehlsverfahren ein schriftliches Verfahren ohne mündliche Hauptverhandlung, das mit dem Erlaß eines Strafbefehls (ordonnance pénale) endet. Doch ist das französische Strafbefehlsverfahren nur bei Übertretungen, jedoch nicht bei Vergehen anwendbar, so daß, anders als im deutschen Recht, 5 8 7 keine Anwendungskonkurrenz zwischen den beschleunigten Verfahrensvarianten und dem Strafbefehlsverfahren besteht.

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Zur citation directe vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 129, 501-505; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 284. Eine dem Beschuldigten persönlich zugestellte Ladung bewirkt außerdem, daß die gerichtliche Entscheidung, selbst wenn der Beschuldigte nicht zum Hauptverhandlungstermin erscheint, vollständig kontradiktorisch ergehen kann, vgl. art. 410, 487 CPP. Vgl. außerdem unten III. 3. b). 585 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 128, 658; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 285. 586 Vgl. hierzu, Lorentz/Voljf, JCP 1968, 1.2192; Pradel, D. 1972, Chr., S. 34 ff.; Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 659 ff. 587 Vgl. oben Erster Teil, I. 2. d) sowie Dritter Teil, I.

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Im Vergehensbereich stehen der Staatsanwaltschaft also die Verfahrensmodi der information, der citation directe und des avertissement, sowie die beschleunigten Verfahren der comparution immédiate und der convocation par procès-verbal zur Verfügung. (b) Entscheidungskriterien (aa) Allgemeines Grundsätzlich kann die Staatsanwaltschaft in dem oben dargestellten Rahmen den Strafverfolgungsmodus frei wählen. Das Opportunitätsprinzip beinhaltet nicht nur die freie Entscheidung darüber, ob Anklage zu erheben ist, sondern auch hinsichtlich des Wie, also hinsichtlich der Wahl der Verfolgungsart. Die einmal gewählte Verfolgungsart ist endgültig, sobald die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben und das erkennende Gericht bzw. den Untersuchungsrichter mit der Sache befaßt hat. 5 8 8 (bb) Entscheidungskriterien der art. 393 ff. CPP Zu der Frage, ob eine Strafverfolgung i.F.d. comparution immédiate oder i.F.d. convocation par procès-verbal angezeigt ist, nennt die Regelung der abgekürzten Verfahren in art. 393 ff. CPP bestimmte Entscheidungskriterien. Gem. art. 393 al. 1 CPP kann die Staatsanwaltschaft in den abgekürzten Verfahren der art. 393 ff. CPP vorgehen, wenn sie die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung nicht für notwendig hält. Speziell für das Verfahren der comparution immédiate finden sich weitere Anwendungskriterien in art. 395 CPP: Handelt es sich um eine nicht frische Tat, hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, das Verfahren der comparution immédiate zu wählen, wenn sie die Beweislage als klar (les charges réunies sont suffisantes) und die Sache als entscheidungsreif einschätzt (l'affaire est en état d'être jugée). Voraussetzung ist außerdem, daß sie das Verfahren der comparution immédiate für das geeignete Strafverfolgungsmittel hält (les éléments de l'espèce justifient une comparution immédiate), art. 395 al. 1 CPP. Wurde der Beschuldigte auf frischer Tat betroffen, genügt die dritte Voraussetzung; die Staatsanwaltschaft muß die comparution immédiate als das geeignete Strafverfolgungsmittel ansehen, art. 395 al. 2 CPP. Betrachtet man diese Kriterien näher, fällt auf, daß sich eine verpflichtende Wirkung aus ihnen nicht ergeben kann: Die Kriterien der klaren Beweislage, der Entscheidungsreife sowie der Eignung einer Sache für das be588 Cass. crim., 26.04.1994, Bull. crim. n° 149; Stefani/Levasseur/Bouloc, dure pénale, Rdnr. 471; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 281.

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schleunigte Verfahren, die sich ähnlich in § 417 StPO finden, 5 8 9 sind schon naturgemäß aufgrund ihres normativen Charakters von einer Einschätzungsprärogative gekennzeichnet. Zu diesen Schwierigkeiten einer aussagekräftigen Definition tritt im französischen Recht die in doppelter Hinsicht subjektive Gesetzesfassung 590. Die Eignungsvoraussetzungen müssen nicht objektiv vorliegen, es genügt, daß die Staatsanwaltschaft die Eignungsvoraussetzungen für gegeben hält. Liegen die Kriterien nach Ansicht der Staatsanwaltschaft vor, kann sie die Tat im Wege der comparution immédiate verfolgen. Die Staatsanwaltschaft behält damit freie Hand bei der Anwendung der comparution immédiate. Ihr Ermessensgebrauch in der Bewertung der Eignungskriterien und hinsichtlich der Konsequenzen für die Wahl der Verfolgungsart ist im weiteren Verfahren nicht überprüfbar. 591 Die aufgeführten Anwendungskriterien sind deshalb nichts weiter als bloße Anhaltspunkte. Dies ist vielleicht mit ein Grund dafür, daß im französischen Schrifttum, soweit ersichtlich, an keiner Stelle der Versuch unternommen wird, den Inhalt dieser Kriterien näher zu bestimmen. Man gibt sich ausnahmslos mit einer Wiederholung des Gesetzestextes zufrieden, der Gehalt wird nicht hinterfragt. 592 Genausowenig handelt es sich bei der Frage nach der Erforderlichkeit einer gerichtlichen Voruntersuchung, art. 393 al. 1 CPP, um eine echte Anwendungsvoraussetzung für die beschleunigten Verfahrensvarianten. Denn auch in diesem Fall wird kein objektives Fehlen der Erforderlichkeit verlangt. Die Notwendigkeit einer gerichtlichen Voruntersuchung, deren Beurteilung ohnehin einen gewissen Beurteilungsspielraum offeriert, muß nur nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht gegeben sein. 5 9 3 Zu bedenken ist außerdem, daß die zu verneinende Erforderlichkeit einer gerichtlichen Voruntersuchung auch deshalb kein spezifisches Anwendungskriterium für die beschleunigten Verfahren darstellt, weil sich die Staatsanwaltschaft vor 589

Vgl. oben Erster Teil, I. 2. b). Die maßgebliche Gesetzespassage in art. 395 CPP lautet: „[...] le procureur de la République, lorsqu'il lui apparaît que les charges réunies sont suffisantes et que l'affaire est en état d'être jugée, peut , s'il estime que les éléments de l'espèce justifient une comparution immédiate, traduire le prévenu sur-le-champ devant le tribunal." 591 Cass. crim., 26.04.1994, Bull. crim. n° 149; Coujard , Encycl. Dalloz, „Instruction à l'audience", Rdnr. 71; Labic , Comparution immédiate, Rdnr. 6, 21. 592 Vgl. Labic , Comparution immédiate, Rdnr. 24, 39; Pradel , Procédure pénale, Rdnr. 388; Stefani/Levasseur/Bouloc , Procédure pénale, Rdnr. 506, 655; Coujard , Encycl. Dalloz, „Instruction à l'audience", Rdnr. 77; Lesclous , JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 39. 593 Art. 393 al. 1 CPP lautet: „[...] le procureur de la République peut , s'il estime qu'une information n'est pas nécessaire, procéder comme il est dit aux articles 394 à 396." 590

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jeder Strafverfolgungseinleitung ohnehin die Frage stellen muß, inwieweit eine gerichtliche Voruntersuchung sachgerecht und notwendig erscheint. Die in art. 393 CPP genannte Anwendungsvoraussetzung ist demnach nichts anderes als die Wiedergabe einer bei Strafverfolgungseinleitung grundsätzlich erfolgenden (nicht überprüfbaren) gedanklichen Vorprüfung der Staatsanwaltschaft. Im Ergebnis bleibt es damit bei der aus dem Opportunitätsprinzip fließenden freien Wahl der Verfolgungsentscheidung durch die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft kann - vorausgesetzt die Anwendungsvoraussetzungen der art. 393 CPP (Vergehensbereich, Vorgaben des art. 397-6 CPP, Strafgrenzen des art. 395 CPP) liegen vor - frei entscheiden, ob sie im beschleunigten Verfahren verfolgt oder nicht. Diese Entscheidung ist im Rechtsmittelverfahren grundsätzlich nicht überprüfbar. 594 Das Gericht ist grundsätzlich an die staatsanwaltschaftliche Verfolgungsentscheidung gebunden. Erst neuerdings hat das Gericht im Verfahren der comparution immédiate unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit, das Verfahren abzulehnen. 595 (cc) Allgemeine Abwägungskriterien Die Staatsanwaltschaft wird demnach die spezifischen Vor- und Nachteile, die im Einzelfall für oder gegen eine Verfahrensart sprechen, gegeneinander abwägen. Ist die Sachlage komplex, scheidet ein Vorgehen i.F.d. beschleunigten Verfahrensvarianten aus, die Staatsanwaltschaft wird in diesem Fall eine gerichtliche Voruntersuchung einleiten. Dagegen wird die Staatsanwaltschaft die Einleitung einer comparution immédiate anstreben, wenn sie eine schnelle Reaktion auf die Straftat favorisiert. Entscheidendes Gewicht bei der Wahl des Verfolgungsmodus hat außerdem die Frage, ob die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten in Untersuchungshaft genommen wissen will. Hält die Staatsanwaltschaft eine vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten für erforderlich, so bleibt nur die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung oder eine Strafverfolgung im Wege der comparution immédiate. Umgekehrt bietet sich, vorausgesetzt die Sachlage ist nicht zu komplex, eine Verfahrenseinleitung i.F.d. citation directe, der convocation par procès-verbal oder mittels eines avertissement an, wenn die vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten nicht notwendig erscheint. Bei der Entschei594

Cass. crim., 20.11.1962, D. 1964, Lég., S. 216; Cass. crim., 26.04.1994, Bull, crim. n° 149; Coujard, Encycl. Dalloz, „Instruction à l'audience", Rdnr. 71; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 6, 21. 595 Vgl. hierzu im einzelnen unten III. 5. c) (bb).

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

dung für einen dieser Verfolgungsmodi wird u.a. der mutmaßliche Zustellungserfolg einer Ladung sowie die Prognose darüber, ob sich der Beschuldigte dem Hauptverhandlungstermin stellen wird, eine Rolle spielen. Auch wird berücksichtigt werden, ob sich der Beschuldigte in Polizeigewahrsam befindet. (dd) Summarisches Sozialprofil (enquête sociale rapide) Vor der endgültigen Verfolgungsentscheidung hat die Staatsanwaltschaft weiter die Möglichkeit, ein sog. summarisches Sozialprofil (enquête sociale rapide) erstellen zu lassen, art. 41 al. 6 CPP. Es handelt sich hierbei um ein äußerst kurzfristig erstelltes Gutachten zur sozialen und persönlichen Hintergrundsituation des Beschuldigten. 596 Das Institut der enquête sociale rapide ist verhältnismäßig jung - es wurde erst 1981 in die französische Strafprozeßordnung aufgenommen. Seine gesetzliche Verankerung geht zurück auf zwei in den Jahren 1977 5 9 7 und 1979 5 9 8 am Korrektionalgericht in Paris durchgefühlte Modellversuche, die ihrerseits auf dem „Manhattan Bail Project" des Vera Institute of Justice in New Y o r k 5 9 9 basieren. 600 Die enquête sociale rapide hat zum einen die Funktion, einen Beitrag zur Vermeidung und Verkürzung der Untersuchungshaft zu leisten, zum anderen soll sie als Haftentscheidungshilfe bei der Strafzumessung dienen. 60 1 Den gedanklichen Anknüpfungspunkt für die enquête sociale rapide bildet die These, daß sowohl Untersuchungshaft als auch eine daraus hervorgehende endgültige Inhaftierung vielfach darauf beruhen, daß ein Beschuldigter über keine soziale Integration verfügt oder aber eine tatsächlich existierende von den an der Strafverfolgung Beteiligten vorschnell verneint w i r d . 6 0 2 Die en596

Zum ganzen vgl. Rassat , Procédure pénale, Rdnr. 371 (S. 596); C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide; Chambon, JCP 1989, 1.3417 (chapitre II, section II); Faget , Les enquêtes sociales rapides; ders ., RSC 1997, 789 ff.; Vérin , RSC 1976, 484 ff.; ders., RSC 1977, 909 ff.; vgl. außerdem unten IV. 8. 597 Vgl. hierzu Vérin , RSC 1976, 911. 598 Vgl. hierzu Bernat de Celis, RSC 1980, 95 ff.; dies., Arch. pol. crim. V (1982), S. 124 ff. 599 Vgl. Vérin, RSC 1976, 483 ff. 600 Zur Entwicklung der enquête sociale rapide vgl. Faget, RSC 1997, 789 ff.; ders., RSC 1990, 844 ff.; C.L.C.J, Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 3 ff. 601 Cire. 89-2-E. 5./7.04.1989 abgedruckt in: C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 18; Faget, RSC 1997, 790; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 371 (S. 596); Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 320. 602 Vérin, RSC 1976, 484; ders., RSC 1977, 909; C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 4; Faget, Les enquêtes sociales rapides, S. 4.

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quête sociale rapide soll diese Defizite ausgleichen helfen, indem sie zunächst die persönlichen Verhältnisse und das soziale Umfeld eines Beschuldigten beleuchtet, wie z.B. die Wohn-, Arbeits- und Vermögenssituation, die familiären und gesundheitlichen Verhältnisse sowie den Ausbildungsund Entwicklungsgang. Darüber hinaus können und sollen schon im Rahmen der enquête sociale rapide gegebenenfalls sozialintegrierende Maßnahmen eingeleitet werden, um einerseits die Verfügbarkeit eines Beschuldigten für ein Strafverfahren sicherstellen und damit seine vorläufige Inhaftierung im Ermittlungsverfahren abwenden zu können. Zum anderen sollen durch konkret aufgezeigte soziale Integrationsmöglichkeiten Bewährungsaussetzungen und sog. Ersatzfreiheitsstrafen (peines de substitution) 603 vorbereitet werden. 6 0 4 Hierbei hat sich das Verfahren der comparution immédiate als prädestiniert für eine Anwendung der enquête sociale rapide erwiesen. 6 0 5 Die extreme Beschleunigung dieser Verfahrensart hat im allgemeinen zur Folge, daß die sozialen und persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten allenfalls sehr flüchtig in die polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen einbezogen werden und eine Erkenntnisbasis für die Strafzumessung deshalb kaum geschaffen wird. Die enquête sociale rapide fungiert dementsprechend im Verfahren der comparution immédiate i.d.R. als Entscheidungshilfe bei der Strafzumessung. Zwingend ist die Einholung eines summarischen Sozialprofils nur vor dem Antrag auf Erlaß eines Haftbefehls gegen einen Heranwachsenden vorgeschrieben, dessen abstrakte Straferwartung fünf Jahre Freiheitsstrafe nicht übersteigt, (art. 41 al. 6 CPP). 6 0 6 Im Erwachsenenstrafrecht ist der Rückgriff auf die enquête sociale rapide dagegen fakultativ, wobei den Staatsanwaltschaften von justizministerieller Seite nahegelegt wird, über den gesetzlichen Mindestrahmen hinauszugehen und ein Sozialprofil zumindest immer

603 Näher zu den Haftsurrogaten vgl. Zieschang, Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts, S. 66 ff.; Bernards, in: Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, S. 306 ff. 604 Zu Modellversuchen an deutschen Gerichten, die durch das „Manhattan Bail Project" des Vera Institutes of Justice in New York angeregt wurden vgl. Beese, BewHi 1981, 7 ff.; Hardraht, BewHi 1980, 182 ff.; Lau, BewHi 1981, 25 ff.; vgl. außerdem Cornel , MSchrKrim 1994, 72 ff.; Geiter/Schuldzinski/Walter, BewHi 1994, 425 ff. Am Amtsgericht Hamburg soll das Ende der 70er Jahre dort gestartete Modellprojekt „Haftentscheidungshilfe" ebenfalls im beschleunigten Verfahren eingesetzt worden sein, um Hilfestellungen bei der Strafzumessung zu geben, vgl. Beese, BewHi 1981, 12. 605 Vgl. hierzu Bernat de Celis, RSC 1980, 958 ff.; dies., Arch. pol. crim. V (1982), S. 124; Faget, RSC 1997, 791. 606 Die betreffende Regelung findet sich gleichlautend in art. 81 al. 7 CPP, so daß auch der Untersuchungsrichter vor seiner Entscheidung über eine beantragte Untersuchungshaft auf diese Maßnahme zurückgreifen kann.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

dann anzufordern, wenn sie eine Untersuchungshaftmaßnahme oder die endgültige Verhängung einer Freiheitsstrafe zu beantragen beabsichtigen. 607 Die Untersuchung wird von gerichtsexternen Sozialmitarbeitern durchgeführt. Nach allgemeiner Ansicht setzt sie das Einverständnis des Beschuldigten voraus. 608 Im Hinblick auf seine Zielrichtung hat das summarische Sozialprofil allein zum Inhalt, Aufschlüsse über die soziale Situation zu geben und eventuell bestehende Integrationsmöglichkeiten aufzuzeigen. Es ist dagegen kein Gutachten zur Täterpersönlichkeit. 609 Dem angesprochenen Gutachten ist wesensimmanent, daß es in sehr kurzer Zeit (in ca. zwei Stunden) erstellt werden muß. Das Ergebnis der Untersuchung wird schriftlich in einem zwei- bis dreiseitigen Bericht festgehalten und zu den Akten genommen. Eine Anhörung oder Vernehmung des betreffenden Mitarbeiters erfolgt im weiteren Verfahren nicht, das Gutachten wird als einfaches Schriftstück verwendet. Die Tatsache, daß die sozialen und persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten untersucht werden, um unnötige Untersuchungshaftanordnungen und Inhaftierungen zu vermeiden, läßt sich nur begrüßen. Die eilige Erstellung des Gutachtens läßt jedoch befürchten, daß die enquête sociale rapide vielfach nur an der Oberfläche bleibt. Teilweise wird die enquête sociale rapide auch im Hinblick auf die Unschuldsvermutung für problematisch erachtet, da gegebenenfalls schon im Vorverfahren sozialintegrierende Maßnahmen eingeleitet werden. 6 1 0 Hiergegen läßt sich jedoch einwenden, daß die Erstellung des Gutachtens das Einverständnis des Beschuldigten voraussetzt. Die Unschuldsvermutung erscheint deshalb nicht tangiert.

607

Faget, RSC 1997, 790; C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 5. 608 C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 9; Vérin , RSC 1977, 912. Insoweit ist es terminologisch nicht ganz korrekt davon zu sprechen, daß die Staatsanwaltschaft sich ein summarisches Sozialprofil „erstellen" läßt. Besser ist es in diesem Zusammenhang, den Begriff des „Anforderns" zu verwenden. 609 Die enquête sociale rapide hat damit auch nichts mit der in art. 81 al. 6 CPP aufgeführten „l'enquête de personnalité" (Untersuchung zur Täterpersönlichkeit) zu tun. Die beiden Untersuchungen können deshalb parallel geführt werden, vgl. Chambon, JCP 1989, 1.3417 (chapitre II, section II); C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 9; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 371 (S. 596 f.). Zur Untersuchung zur Täterpersönlichkeit vgl. C.L.C.J., L'enquête de personnalité; Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 346. 610 Vgl. Chambon, JCP 1989,1. 3417 (chapitre II., section II.).

III. Gesetzliche Regelung

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d) Verteidigerbestellung Gleichgültig, mit welcher Variante des beschleunigten Verfahrens er die Straftat verfolgt, hat der Staatsanwalt den Beschuldigten im unmittelbaren Anschluß an die Eingangsförmlichkeiten über seinen Anspruch auf einen Verteidiger zu belehren, art. 393 al. 2 CPP. Der Beschuldigte kann dieses Recht wahrnehmen, er ist aber nicht verpflichtet, sich einen Rechtsbeistand zu nehmen. 611 Hat der Beschuldigte keinen Wahlverteidiger, so muß ihm auf seinen Wunsch hin unverzüglich ein amtlich bestellter Verteidiger beigeordnet werden. Es handelt sich hierbei um eine absolutes Recht des Beschuldigten, das unabhängig von seiner finanziellen Lage i s t . 6 1 2 Die Bestellung eines Verteidigers erfolgt nicht wie in Deutschland durch den Richter, sondern durch den Vorsitzenden der örtlichen Anwaltskammer (bâtonnier de 1 Ordre des Avocats). Die Anwaltskammern organisieren die Bereitstellung von Anwälten. Speziell für das Verfahren der comparution immédiate wurden Bereitschaftsdienste geschaffen. 613 Während der staatsanwaltschaftlichen Vorführung ist die Anwesenheit eines Verteidigers nicht vorgesehen, überhaupt ist der Eintritt eines Verteidigers in das Verfahren vor diesem Zeitpunkt nur beschränkt möglich. Dies ist allerdings keine Besonderheit der beschleunigten Verfahren. Im französischen Strafverfahren gibt es im polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vorverfahren traditionell grundsätzlich kein Recht auf Akteneinsicht oder auf die Anwesenheit eines Verteidigers bei Vernehmungen. 614 Selbst der Eintritt eines Verteidigers in diesem Verfahrensstadium ist insofern eingeschränkt, als ein in Polizeigewahrsam Befindlicher erst nach Ablauf von 20 Stunden das Recht hat, 6 1 5 einen Verteidiger für die Dauer von 30 Minuten zu sprechen. 616 Auch in der gerichtlichen Voruntersuchung ist die Betei611 Eine notwendige Verteidigung schreibt das französische Strafprozeßrecht nur an zwei Stellen vor: Im Verfahren vor dem Schwurgericht, art. 274 CPP (d.h., wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird) und im korrektionalgerichtlichen Verfahren, wenn der Beschuldigte unfähig ist, sich selbst zu verteidigen, art. 417 al. 4 CPP. Das französische Vorverfahren kennt keinen Fall notwendiger Verteidigung. Zum ganzen vgl. Brei, Verteidigerhandeln, S. 98; Matsopolou, Les enquêtes de police, Rdnr. 813 ff.; Krattinger, Strafverteidigung im Vorverfahren, S. 101; Hamelin/Damien, Les règles de la profession d'avocat, S. 269 ff., 276 f. 612 Vgl. Brei, Verteidigerhandeln, S. 97; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, S. 608; Krattinger, Strafverteidigung im Vorverfahren, S. 101. 613 Vgl. unten IV. 7. 614 Brei, Verteidigerhandeln, S. 96; Hamelin/Damien, Encycl. Dalloz, „Défense", Rdnr 5 ff.; dies., Les règles de la profession d'avocat, S. 269 ff.; Barth, in: Perron, Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, S. 103. 615 Vgl. art. 63-4 CPP. Dieses Recht besteht erst seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahre 1993 (Gesetz Nr. 93-2 v. 4.01.1993, D. 1993, Lég., S. 134). Davor war

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

ligung eines Verteidigers erst bei der Vernehmung zur Sache vorgesehen. Beim ersten Erscheinen vor dem Untersuchungsrichter ist die Anwesenheit eines Verteidigers nicht zulässig, vgl. art. 114 al. 1, 116 CPP. 6 1 7 Der generelle Ausschluß anwaltlicher Mitwirkung während der staatsanwaltschaftlichen Vorführung wird damit begründet, daß es in diesem Verfahrensstadium nur um den Verfolgungsmodus gehe und dieser grundsätzlich allein von der Staatsanwaltschaft festzusetzen i s t . 6 1 8 Der im Verfahren der comparution immédiate oder convocation par procès-verbal beigezogene Verteidiger hat wie in der gerichtlichen Voruntersuchung 619 das Recht auf Akteneinsicht 620 und auf uneingeschränkte Kommunikation mit seinem Mandanten, art. 393 al. 3 CPP. Für die beschleunigten Verfahren sind daneben zwei spezielle Verteidigungsrechte erwähnenswert: Zum einen hat der Verteidiger ein Anwesenheitsrecht bei den kontradiktorischen Anhörungen, die den freiheitsbeschränkenden bzw. -entziehenden Maßnahmen der gerichtlichen Aufsicht und der Untersuchungshaft vorausgehen. Zum anderen kann die Zustimmung des Beschuldigten, die zur Durchführung einer unmittelbaren Hauptverhandlung notwendig ist, nur in Gegenwart eines Verteidigers erfolgen. 621

demjenigen, der in Polizeigewahrsam genommen wurde jedes Recht abgeschnitten, einen Verteidiger einzuschalten. 616 Da comparution immédiate und convocation par procès-verbal nur im Anschluß an eine Ingewahrsamnahme durch die Polizei bzw. im Anschluß an eine Festnahme erfolgen können, vgl. oben III. 2. a), ist dies der einzige Fall, in dem ein Verteidiger schon vor der staatsanwaltschaftlichen Vorführung in das Verfahren eintreten kann. 617 Vgl. Hamelin/Damien, Encycl. Dalloz, „Défense", Rdnr. 1, 7 ff.; Brei, Verteidigerhandeln, S. 97. Vor diesem Hintergrund stellte die Regelung des Flagrantverfahrens, art. 71 CPP a.F., die ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers schon während der staatsanwaltschaftlichen Vorführung vorsah, eine Ausnahme im französischen Strafprozeßrecht dar. Allerdings beinhaltete die staatsanwaltschaftliche Vorführung nach der damals gültigen Gesetzesfassung schon eine Vernehmung zur Sache, vgl. Kr attinger, Strafverteidigung im Vorverfahren, S. 99; Damien, GP 1976, 1, S. 38. 618 Cons, const., Décision 80-127 DC v. 19./20.01.1981, in: Les grandes décisions du conseil constitutionnel, S. 422, § 34. 619 Vgl. art. 116 al. 3 CPP. Zu den Verteidigungsrechten allgemein vgl. Hamelin/ Damien, Encycl. Dalloz, „Défense"; Brei, Verteidigerhandeln, S. 96 ff. 620 Das Akteneinsichtsrecht besteht auch im Vorverfahren der gerichtlichen Voruntersuchung grundsätzlich unbeschränkt. Eine dem § 147 Abs. 2 StPO vergleichbare Vorschrift existiert nicht. 621 Vgl. unten III. 3. c), III. 5. b) und III. 5. c) (cc).

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e) Vorführungsprotokoll Der Staatsanwalt hat über den gesamten Vorgang ein Protokoll (procèsverbal) anzufertigen, art. 393 al. 4 CPP. Dieses enthält die Vernehmung zur Person, den Tatvorwurf in sachlicher und rechtlicher Hinsicht und gegebenenfalls die Äußerungen des Beschuldigten zur Sache. Außerdem müssen der von der Staatsanwaltschaft festgesetzte Verfolgungsmodus und die erfolgte Belehrung des Beschuldigten über sein Recht auf den Beistand eines Verteidigers Aufnahme in die Niederschrift finden. Die Erstellung der Niederschrift wird vom Gesetz als sehr wichtig eingestuft. Der Verstoß gegen die Protokollierungspflicht stellt einen Nichtigkeitsgrund 622 des Verfahrens 6 2 3 dar. Das weitere Verfahren variiert, je nachdem, ob die Tat im Wege der comparution immédiate oder der convocation par procès-verbal verfolgt wird. 3. Das Verfahren der convocation par procès-verbal a) Terminierung

der Hauptverhandlung

Wird die Tat im Wege der convocation par procès-verbal verfolgt, so bestimmt der Staatsanwalt 624 im unmittelbaren Anschluß an die oben geschilderten Eingangsformalitäten, noch während der Beschuldigte zugegen ist, den Termin der Hautverhandlung und teilt diesen dem Beschuldigten

622

Art. 393 al. 4 CPP ist einer der wenigen noch textlich im CPP benannten Nichtigkeitsgründe. Die Einzelheiten bestimmen sich nach art. 802 CPP. Voraussetzung der auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen auszusprechenden Nichtigkeit ist demnach immer, daß die angegriffene Gesetzesverletzung die Interessen der tangierten Partei beeinträchtigt. 623 Eine ausgesprochene Nichtigkeit bezieht sich dabei nur auf das Verfahren ab dem Zeitpunkt der Eingangsvorführung vor den Staatsanwalt, die polizeiliche Voruntersuchung bleibt von der Nichtigkeit unberührt, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 43. 624 Im französischen Strafprozeß ist es grundsätzlich Aufgabe der Staatsanwaltschaft, den Hauptverhandlungstermin zu bestimmen, vgl. Pradel, RIDP 1992, 1223. Zieht man zum Vergleich die entsprechende Vorschrift der StPO, § 213, heran, so wird auch hieran die verfahrensbestimmende Rolle der französischen Staatsanwaltschaft deutlich. 625 Das Gesetz schreibt in art. 394 al. 1 CPP neben der Mitteilung des Hauptverhandlungstermins an dieser Stelle nochmals (vgl. art. 393 al. 1 CPP) die Mitteilung des Tatvorwurfs vor. Diese Wiederholung ergibt an sich keinen Sinn. Es kann sich hierbei nur um eine redaktionelle Unebenheit handeln. So auch Pradel, D. 1984, Chr., S. 80. 11 Kohler

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

Die Hauptverhandlung muß gem. art. 394 al. 1 CPP für einen Termin anberaumt werden, der zwischen zehn Tagen und zwei Monaten nach der Vorführung liegt. Eine Unterschreitung der Mindestfrist ist möglich, wenn der Beschuldigte in Gegenwart eines Verteidigers 626 auf ihre Einhaltung verzichtet. Die 10-Tages-Frist stimmt exakt überein mit der gesetzlichen Frist des art. 552 al. 1 CPP, die im korrektionalgerichtlichen Verfahren zwischen Ladungszustellung und dem Tag der Hauptverhandlung mindestens liegen muß. 6 2 7 Das Verfahren der convocation par procès-verbal basiert demnach nicht auf einer beschleunigt anberaumten Hauptverhandlung; die dem Beschuldigten im Regelverfahren zustehende Verteidigungsfrist bleibt gewahrt. Eine beschleunigende Wirkung ergibt sich hier allein aus der einzuhaltenden Höchstfrist von zwei Monaten, die im gewöhnlichen Verfahren der citation directe nicht gilt. Dieser Beschleunigungseffekt relativiert sich allerdings insofern, als eine Fristüberschreitung keinerlei Rechtsfolgen nach sich zieht. 6 2 8 Der Staatsanwalt nimmt den Termin der Hauptverhandlung, den er zuvor dem Beschuldigten mitgeteilt hat, in das angefertigte Protokoll auf, art. 393 al. 4 CPP, art. 394 al. 1 CPP. Das Protokoll läßt er vom Beschuldigten unterzeichnen 629 und händigt ihm eine Kopie aus. b) Bedeutung des Vorführungsprotokolls Wie schon der Name des Verfahrens „convocation par procès-verbal" andeutet, liegt die zentrale Besonderheit bzw. der entscheidende Beschleunigungseffekt dieser Verfahrensart in der Verwendung der staatsanwaltschaft626 Ausgehend davon, daß eine Anwaltsbeteiligung während der Vorführung nicht vorgesehen ist [vgl. oben III. 2. d)], soll die Anwaltsbeteiligung in diesem Fall streng auf die Verzichtserklärung beschränkt sein, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 85. 627 Art. 552 CPP bezieht sich zunächst auf das Verfahren der citation directe. Über die Verweisungsvorschrift des art. 180 al. 2 CPP gilt die Fristbestimmung auch für die Ladung des Beschuldigten, wenn das Korrektionalgericht durch eine Verweisungsverfügung des Untersuchungsrichters mit dem Verfahren befaßt wird. 628 Vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 86. Die Rechtsfolge einer Fristunterschreitung bestimmt sich wie im Normalverfahren der citation directe nach art. 553 CPP, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 86: Bei Nichterscheinen des Beschuldigten ist das Vorführungsprotokoll und damit die Überweisung an das erkennende Gericht nicht wirksam. Erscheint der Beschuldigte dagegen trotz des Fristverstoßes zu der angesetzten Hauptverhandlung, so hat das Gericht zwar die Hauptverhandlung auf Antrag des Beschuldigten zu vertagen, das Gericht bleibt in diesem Fall allerdings wirksam mit der angeklagten Strafsache befaßt. 629 Art. 394 CPP schreibt im Gegensatz zu art. 550 ff. CPP die Unterzeichnung des Protokolls durch den Beschuldigten nicht ausdrücklich vor. Ein Fehlen der Unterschrift soll deshalb ohne Rechtsfolgen bleiben, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 87.

III. Gesetzliche Regelung

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liehen Niederschrift. Im Normalverfahren der citation directe findet eine förmliche Vorladung mittels Zustellungsurkunde durch den Gerichtsvollzieher statt, art. 390, 550 ff. CPP. 6 3 0 Mit der Ladung wird gleichzeitig Anklage erhoben und das erkennende Gericht mit der Sache befaßt. 631 Genau diese Funktion erfüllt i.w.S. die angesprochene Niederschrift: Art. 394 al. 1 CPP bestimmt, daß die im Vorführungsprotokoll festgehaltene und dem Beschuldigten anschließend in Kopie ausgehändigte Mitteilung des Tatvorwurfs sowie des Hauptverhandlungstermins genau dieselbe Wirkung hat wie eine persönlich zugestellte förmliche Ladung. Die staatsanwaltschaftliche Niederschrift ist damit nicht nur Protokoll der ersten Vorführung vor den Staatsanwalt, sondern sie fungiert darüber hinaus als Ladung des Beschuldigten, Anklageerhebung und Überweisung an das erkennende Gericht. Diese Formkumulation und die im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Vorführung erfolgende Ersetzung der förmlichen Vorladung wirken deutlich verfahrensvereinfachend und -beschleunigend. 632 Entscheidendes Gewicht dieser Vereinfachung hat insbesondere die Tatsache, daß die protokollierte Mitteilung des Tatvorwurfs und des Hauptverhandlungstermins einer persönlich zugestellten Ladungsurkunde gleichgestellt ist und sie damit auch eine Überweisung des Verfahrens an das erkennende Gericht bedeutet. 633 Aus diesem Grund ist das Verfahren der convocation par procès-verbal weitaus effektiver als ein Vorgehen im Rahmen des avertissement, bei welchem ebenfalls auf eine förmliche Ladung verzichtet wird, vgl. art. 389 CPP. 6 3 4 Zwar stellt die im Rahmen des avertissement erfolgende formlose Aufforderung des Beschuldigten, vor Gericht zu erscheinen, ebenfalls eine Klageerhebung dar. 6 3 5 Der Verzicht auf die Ladungsförmlichkeit bedeutet in diesem Fall aber auch den Verzicht auf die mit der Ladung verbundene Überweisungswirkung an das erkennende Gericht. Eine Überweisung der Strafsache an das erkennende Gericht tritt im Rahmen des avertissements erst dann ein, wenn der Beschuldigte der Aufforderung nachkommt und vor Gericht erscheint. Für den französischen Strafprozeß ist weiter bedeutsam, daß die im Rahmen der Vorführung nach art. 394 al. 1 CPP vereinfachte Ladung die 630

Vgl. oben III. 2. c) bb) (a). Inhaltlich entspricht die Zustellungsurkunde einer Anklageschrift i.S.v. § 200 StPO lediglich hinsichtlich den in § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO genannten Anforderungen. 631 Vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 503 ff. 632 Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 390. 633 Vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 508; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 390; ders., D. 1984, Chr., S. 80; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 15; Puech, ALD 1983, 80. 634 Vgl. hierzu auch oben III. 2. c) bb) (a). 635 Vgl. oben III. 2. c) bb) (a). ll·

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

Wirkung einer persönlich zugestellten Ladung hat. 6 3 6 Die Frage, ob eine Ladung persönlich zugestellt werden konnte, ist vor allem für den Verfahrensgang im Falle ausgebliebener Beschuldigter von Interesse. 637 Erscheint der Beschuldigte (unentschuldigt) nicht zum Hauptverhandlungstermin, so kann 6 3 8 die Hauptverhandlung im korrektionalgerichtlichen Verfahren stattfinden und mit einem kontradiktorischen Urteil abgeschlossen werden, wenn die Ladungszustellung persönlich erfolgt war, art. 410 al. 2 CPP. Dagegen ergeht ein Versäumnisurteil (jugement par défaut), welches der Beschuldigte mit einem Einspruch aufheben kann, wenn die Ladung nicht persönlich zugestellt werden konnte, art. 412, 487 ff. CPP. Insoweit hat das Verfahren der convocation par procès-verbal gegenüber dem Normalverfahren der citation directe sogar den Vorteil, daß Zustellungsschwierigkeiten entfallen und Versäumnisurteile vermieden werden. Schließlich erscheint die staatsanwaltschaftliche Vorführung auch deshalb sinnvoll, weil der persönliche Kontakt zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem sich auf das Erscheinen des Beschuldigten zur Hauptverhandlung positiv auswirken kann. 6 3 9 Darüber hinaus erhält der Beschuldigte mit der Vorführung vor den Staatsanwalt die Gelegenheit, sich schon im staatsanwaltschaftlichen Vorverfahren zu dem Tatvorwurf zu äußern. Im schriftlichen Ladungsverfahren der citation directe ist eine dem § 201 StPO vergleichbare Erklärungsmöglichkeit nicht vorgesehen. c) Gerichtliche Aufsicht ( contrôle judiciaire ) Der zweite entscheidende Vorteil der convocation par procès-verbal besteht darin, daß die Staatsanwaltschaft eine gerichtliche Aufsicht beantragen kann, art. 394 al. 3 CPP. Die sogenannte gerichtliche Aufsicht 6 4 0 (contrôle judiciaire) ist als freiheitseinschränkende Maßnahme unterhalb der Untersuchungshaft mit den Auflagen des § 116 StPO vergleichbar. Der zur Verfügung stehende Katalog ist allerdings mit 16 AnordnungsVarianten 641 , vgl. 636

Vgl. Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 286; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 559 ff.; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 391; Puech, ALD 1983, 118; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 15. 637 Vgl. zum ganzen Larguier, Procédure pénale, S. 160 ff., 178; Vérin, RSC 1976, 584 ff. 638 Das Gericht hat in diesem Fall gleichermaßen die Möglichkeit, die Verhandlung auszusetzen und einen Vorführungsbefehl zu erlassen, art. 410-1 al. 1 CPP. 639 So auch Robin, in: Les procédures d'urgence, S. 233 f., 236. 640 Zum Institut der gerichtlichen Aufsicht vgl. Cardet, RSC 1994, 505 ff.; Dourneau-Josette, Encycl. Dalloz, „Contrôle judiciaire"; Chambon, Le juge d'instruction, Rdnr. 417 ff.; Pradel, L'instruction préparatoire, Rdnr. 566 ff., 570 ff. 641 Art. 138 CPP nennt als mögliche Beschränkungen u.a.: Meldepflichten, Aufenthaltspflichten, -verböte, Kontaktverbote, Therapie-, Behandlungspflichten, vorläu-

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art. 138 CPP, weitaus größer. Das Institut der gerichtlichen Aufsicht ersetzt die vorläufige Inhaftierung eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren und war ursprünglich als Alternative zur Untersuchungshaft eingeführt worden. 6 4 2 Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der Beschuldigte im Verfahren der convocation par procès-verbal mit einer gerichtlichen Aufsicht belegt werden kann deshalb, weil der Rückgriff auf diese Maßnahme (wie der Rückgriff auf die Untersuchungshaft) sonst an die Durchführung einer gerichtlichen Voruntersuchung geknüpft ist, art. 137, 138 al. 1 CPP. Im Normalverfahren darf gegen den Beschuldigten keine gerichtliche Aufsicht angeordnet werden. Hält der Staatsanwalt den Rückgriff auf eine gerichtliche Aufsichtsmaßnahme für angezeigt, so läßt er den Beschuldigten unverzüglich nach Beendigung der Eingangsvernehmung dem Präsidenten des erkennenden Gerichts oder einem von diesem beauftragten Richter 6 4 3 vorführen. 644 Der beigezogene Richter entscheidet 645 nach kontradiktorischer Anhörung der fige Berufsausübungsverbote, Sicherheits-, Unterhaltsleistungspflichten, Schadensersatzhinterlegungspflichten. 642 Vgl. Pradel, L'instruction préparatoire, Rdnr. 566 (S. 588); Bouloc, RSC 1991, 232. In der Praxis hat das im Jahre 1970 in den CPP eingeführte Institut der contrôle judiciaire dieses Ziel nicht erreichen können. Anstelle Personen, die nach alter Rechtslage in Untersuchungshaft genommen worden wären, mit der weniger einschneidenden Maßnahme der gerichtlichen Aufsicht zu belasten, wurde das neu eingeführte Institut dazu benutzt, die Zahl der Freiheitsbeschränkungen während des Ermittlungsverfahrens noch zu erhöhen. Die gerichtliche Kontrolle wurde gegen Beschuldigte angewandt, gegen die auch nach alter Rechtslage keine Untersuchungshaft angeordnet worden wäre, vgl. Dourneau- Josette, Encycl. Dalloz, „Contrôle judiciaire", Rdnr. 11; Souleau, RSC 1980, 41; Pradel, L'instruction préparatoire, Rdnr. 567 (S. 594). 643 Innerhalb der gerichtlichen Voruntersuchung ist ein Untersuchungsrichter für die Anordnung der gerichtlichen Aufsicht zuständig, art. 138 al. 1 CPP. Mit der Abweichung wollte der Gesetzgeber klarstellen, daß mit der Anrufung des Richters keine gerichtliche Voruntersuchung eingeleitet wird, es vielmehr isoliert um die Maßnahme der gerichtlichen Aufsicht geht. Die h. M. läßt es allerdings zu, daß auch ein Untersuchungsrichter mit der Entscheidung über die gerichtliche Aufsicht betraut wird. Begründet wird diese Auffassung damit, daß der Richter in diesem Fall nicht in der eigentlichen Funktion des Untersuchungsrichters handele, vgl. z.B. Circ. crim. v. 07.02.1981, D. 1981, Lég., S. 118; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 392; ders., D. 1984, Chr., S. 105. 644 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die Anordnung der gerichtlichen Aufsicht im Rahmen der beschleunigten Verfahrensvarianten immer schon nur durch einen Richter erfolgte, während die Maßnahme der Untersuchungshaft im Flagrantverfahren ursprünglich (und auch noch im Jahre 1975, in dem das Institut der gerichtlichen Aufsicht in die Regelung der beschleunigten Verfahren aufgenommen worden ist) durch die Staatsanwaltschaft selbst angeordnet wurde, vgl. Couvrat, D. 1976, Chr., S. 47; Robert, Diskussionsbeitrag, in: Les procédures d'urgence, S. 222.

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Beteiligten, d.h. des Staatsanwalts, des Beschuldigten und seines Verteidigers unter Mitwirkung eines Urkundsbeamten 646 über den Antrag der Staatsanwaltschaft. Der Gesetzeswortlaut läßt es in diesem Fall genügen, daß der Verteidiger des Beschuldigten benachrichtigt worden ist, d.h. es besteht keine Notwendigkeit, daß der mitwirkende Verteidiger bei der Anhörung zugegen ist. Erscheint der Verteidiger trotz Benachrichtigung nicht oder kann er den Termin so kurzfristig nicht wahrnehmen - was angesichts der Tatsache, daß die Entscheidung über die gerichtliche Aufsicht unmittelbar im Anschluß an die staatsanwaltschaftliche Vorführung stattfindet, nicht unwahrscheinlich ist - erfolgt die Anhörung gleichwohl rechtmäßig. Mit der vorgeschriebenen Anhörung geht die Regelung der gerichtlichen Aufsicht im Rahmen der convocation par procès-verbal über die entsprechende Regelung innerhalb der gerichtlichen Voruntersuchung hinaus. Dort ist eine kontradiktorische Anhörung nur vor der Entscheidung über eine beantragte Untersuchungshaft vorgesehen. Die gerichtliche Aufsicht wird dagegen ohne Anhörung des Beschuldigten angeordnet. Ihr geht nur ein anhörungsähnliches Element i.w.S. insoweit voraus, als der Beschuldigte bei Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung stets dem Untersuchungsrichter vorgeführt wird, art. 116, 80-1 CPP. Was die Anordnungsvoraussetzungen und das weitere Verfahren angeht, verweist art. 394 al. 3 CPP auf die art. 138 f. CPP der Regelung der gerichtlichen Aufsicht im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung. Eine gerichtliche Aufsicht kommt somit nur in Frage, wenn eine Freiheitsstrafe zu erwarten ist, art. 138 al. 1 CPP. Angeordnete Beschränkungen können auf Antrag des Überwachten oder von Amts wegen (teilweise) wieder aufgehoben oder gegen andere Auflagen aus dem Maßnahmekatalog der gerichtlichen Aufsicht ersetzt werden, zusätzliche Beschränkungen können angeordnet werden, art. 139 al. 2 CPP. Mit dem Verweis auf art. 138 f. CPP bezieht sich die Regelung der convocation par procès-verbal jedoch nur auf einen Teil der Bestimmungen der gerichtlichen Aufsicht nach art. 137 ff. CPP. Die h.M. wendet deshalb die nicht explizit in art. 394 CPP aufgeführten Bestimmungen zur gerichtlichen Aufsicht im Rahmen der convocation par procès-verbal nicht a n . 6 4 7 Dem645

Die Anordnung der gerichtlichen Aufsicht erfolgt i.F.e. Beschlusses, art. 394 al. 1. CPP. Dem Beschuldigten wird die Entscheidung, die in das Protokoll aufzunehmen ist, mündlich mitgeteilt, von dem Anhörungsprotokoll erhält er eine Kopie, art. 394 al. 2 CPP. 646 Wird gegen die Anwesenheitspflicht des Urkundsbeamten verstoßen, so stellt dies einen Nichtigkeitsgrund des weiteren Verfahrens dar, CA Angers, 26.11.1981, D. 1982, Jur., S. 484. 647 Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 89; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 19.

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nach entfällt im Verfahren der convocation par procès-verbal die Möglichkeit, vgl. art. 140 CPP, die einmal angeordnete gerichtliche Aufsicht wieder vollständig aufzuheben. Ausgeschlossen ist damit auch eine Anwendung des art. 141-2 CPP. Dieser läßt innerhalb der gerichtlichen Aufsicht einen Rückgriff auf das Zwangsmittel der Untersuchungshaft (unabhängig davon, inwieweit die Untersuchungshaftvoraussetzungen vorliegen) dann zu, wenn der Beschuldigte gegen die angeordnete(n) Beschränkung(en) verstoßen hat. 6 4 8 Vor dem Hintergrund, daß das Verfahren der convocation par procès-verbal gerade für Fälle konzipiert ist, die eine Untersuchungshaft des Beschuldigten nicht verlangen, erscheint es konsequent, einen Rückgriff auf die Untersuchungshaft selbst dann zu versagen, wenn der Beschuldigte gegen die Auflagen verstoßen hat. Die Maßnahme der Untersuchungshaft bleibt damit im Verfahren der convocation par procès-verbal definitiv ausgeschlossen. d) Der weitere Ablauf des Verfahrens

bis zur Hauptverhandlung

Der Beschuldigte wird nach Abschluß der staatsanwaltschaftlichen Vorführung bzw. nach erfolgter Anhörung aus dem Gerichtsgewahrsam entlassen. Bevor der Staatsanwalt die Akten an das Korrektionalgericht weiterreicht, verständigt er den Wahlverteidiger oder gegebenenfalls den Vorsitzenden der Anwaltskammer wegen der Verteidigerbestellung. Hat der Staatsanwalt eine gerichtliche Aufsicht beantragt, dürfte die Bestellung des Verteidigers jedoch meistenfalls schon für die vorangehende Anhörung erfolgt sein. Der Staatsanwalt benachrichtigt außerdem das Straftatopfer, falls dieses die Straftat angezeigt hat, 6 4 9 und lädt etwaige Zeugen. Die beschleunigten Verfahrensvarianten sehen dabei eine vereinfachte Zeugenladung vor, art. 397-5 CPP: An die Stelle der förmlichen Zeugenladung i.S.v. art. 434, 550 CPP, tritt eine form- und fristlose Zeugeneinberufung. e) Gerichtliches

Verfahren

Das gerichtliche Verfahren der convocation par procès-verbal folgt vollständig den für das korrektionalgerichtliche Verfahren allgemein geltenden Bestimmungen. Die in den art. 397, 397-3 al. 3, 397-4 al. 3 C P P 6 5 0 enthaltenen Sonderregeln gelten nur für das Verfahren der comparution immé648

A.A. nur Müller, GA 1995, 172, ohne allerdings auf die skizzierte Problematik einzugehen. 649 Die Pflicht, das Deliktsopfer von dem Hauptverhandlungstermin zu unterrichten, besteht für die Staatsanwaltschaft nur dann, wenn der von der Straftat Betroffene Anzeige erstattet hat, art. 391 CPP, vgl. hierzu unten III. 6. 650 Vgl. unten ΠΙ. 5. c) cc), III. 5. c) dd) und III. 5. d).

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

diäte und sind nicht auf das Verfahren der convocation par procès-verbal anwendbar. Die Zusammensetzung des Gerichts 651 richtet sich im korrektionalgerichtlichen Verfahren nach den Grundsätzen der art. 398, 398-1 CPP: Das Gericht entscheidet grundsätzlich als Kollegialspruchkammer mit einem Vorsitzenden und zwei beisitzenden Richtern, art. 398 CPP. 6 5 2 Unter bestimmten Voraussetzungen ist auch die Entscheidung durch einen Einzelrichter möglich, vgl. art. 398 al. 3, art. 398-1 CPP. Die Hauptverhandlung des französischen Strafprozesses wird von den Grundsätzen der Öffentlichkeit 653 und der Mündlichkeit 6 5 4 beherrscht. Hervorgehoben wird daneben immer wieder ihr kontradiktorischer Charakter, 6 5 5 d.h. die Parteien können unter Kontrolle des Vorsitzenden auf gleicher Stufe miteinander diskutieren. Der Ablauf der Hauptverhandlung entspricht im wesentlichen der Hauptverhandlung des deutschen Strafverfahrens. 656

651 Nach h.M. kann auch der über die gerichtliche Aufsicht entscheidende Richter später Mitglied der erkennenden Spruchkammer bzw. erkennender Richter sein. Zum Meinungsstreit hierzu vgl. unten III. 5. c) aa) (b). 652 Die kollegiale Urteilsfindung ist ein Grundprinzip des französischen Strafprozesses, so daß die Entscheidung des Einzelrichters die Ausnahme bleibt. Das Prinzip soll zum einen zur Vermeidung von Irrtümern bei der Urteilsfindung beitragen, zum anderen soll die kollegiale Urteilsfindung mit der größeren Anonymität des Urteilspruches die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Richters stärken. Vgl. hierzu näher Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 38 ff.; Larguier, Procédure pénale, S. 7; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 22. 653 Vgl. zu diesem Grundsatz: Larguier, Procédure pénale, S. 157; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 672; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 434, 435; Chavanne/Montreuil/Buisson , Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 627. 654 Zu diesem Grundsatz vgl. Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 433; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 673. Im korrektionalgerichtlichen Verfahren ist der Grundsatz der Mündlichkeit allerdings nur noch in abgeschwächter Form anzutreffen, vgl. Soyer, Droit pénal et procédure pénale, Rdnr. 619. Dies dürfte vor allem auch damit zusammenhängen, daß ein materielles Unmittelbarkeitsprinzip im französischen Strafprozeßrecht nicht existiert, vgl. hierzu unten III. 5. c) cc). 655 Ygi Soyer, Droit pénal et procédure pénale, Rdnr. 619; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 440 ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 42, 674. 656 Ygi hierzu im einzelnen: Soyer, Droit pénal et procédure pénale, Rdnr. 620; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 451; Larguier, Procédure pénale, S. 165 f.; Levasseur/Chavanne/Montreuil, Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 632 ff.

III. Gesetzliche Regelung

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f) Rechtsmittelverfahren Das Verfahren der convocation par procès-verbal ist auf die erste Instanz beschränkt, das Rechtsmittelverfahren richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften der art. 496 ff., 567 ff. CPP 6 5 7 g) Zusammenfassung Im Ergebnis handelt es sich bei der convocation par procès-verbal um eine citation directe ohne förmliche Ladung, die gleichzeitig einen Vorteil der gerichtlichen Voruntersuchung, nämlich die Rückgriffsmöglichkeit auf die freiheitseinschränkende Maßnahme der gerichtlichen Aufsicht vorsieht. Der Beschleunigungs- und Vereinfachungseffekt dieses Verfahrens resultiert allein aus der ladungstechnischen Abweichung zum Normalverfahren. Abgesehen von diesem Formverzicht und dem möglichen Rückgriff auf die gerichtliche Aufsicht, entspricht das Verfahren vollständig dem Normalverfahren der citation directe. 6 5 8 Trotz der weitgehenden Übereinstimmung mit dem Normalverfahren läßt aber schon der Verzicht auf das zeitraubende förmliche Ladungsverfahren die convocation par procès-verbal deutlich verfahrensverkürzend wirken. Das Verfahren der convocation par procès-verbal ist aber vor allem auch deshalb zu begrüßen, weil sich die vorgenommene Vereinfachung nicht zu Lasten des Beschuldigten auswirkt. So bleibt die dem Beschuldigten im Normalverfahren zustehende Verteidigungsfrist zwischen Ladungszustellung und Hauptverhandlung auch in der vereinfachten Form der convocation par procès-verbal gewährleistet. Die Ersetzung der förmlichen Ladung durch die Vorführung hat keinerlei negative Auswirkungen auf die Rechte des Beschuldigten. Der mit der Vorführung vor den Staatsanwalt verbundene persönliche Kontakt zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem scheint gegenüber einer schriftlich erfolgenden Ladung sogar insofern von Vorteil zu sein, als die Staatsanwaltschaft das Erscheinen des Beschuldigten in der Hauptverhandlung positiv beeinflussen kann. Zudem erhält der Beschuldigte im Verfahren der convocation par procès-verbal mit der Vorführung vor den Staatsanwalt die Möglichkeit, sich schon im staatsanwaltschaftlichen Vorverfahren zum Tatvorwurf zu äußern. Insofern genügt das Verfahren der convocation par procès-verbal sowohl prozeßökonomischen als auch Beschuldigten-Interessen gleichermaßen. 657 Zum Rechtsmittelverfahren vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 757 ff. 658 So wird die Verfahrensvariante der convocation par procès-verbal von Merle/ Vitu , Procédure pénale, Rdnr. 302, 656 als: „Substitut de la citation directe" und „équivalent simplifié d'une citation directe" bezeichnet, ähnlich Stefani/Levasseur/ Bouloc , Procédure pénale, Rdnr. 508.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

Richtet man aber den Blick auf den Zeitraum, der in diesem Verfahren zwischen Ladung und Hauptverhandlungsbeginn liegt (zehn Tage bis zwei Monate), so wird deutlich, daß es sich bei dem Verfahren der convocation par procès-verbal nicht um ein beschleunigtes Verfahren i.e.S. handelt. 4. Vereinfachte Handhabung der convocation par procès-verbal: convocation par procès-verbal par l'officier de police judiciaire Anders als in der Rechtsliteratur, die das Verfahren der convocation par procès-verbal als effektive Strafverfolgungseinleitung durchweg sehr positiv bewertet, 659 wird das Verfahren in der Praxis allgemein recht wenig geschätzt. Die Tatsache, daß die Staatsanwaltschaft bei jeder Vorführung persönlich involviert ist, überdeckt seinen Beschleunigungseffekt und macht das Verfahren aus praktischer Sicht unbequem. Vor diesem Hintergrund hatte sich im rechtsfreien Raum, von justizministerieller Seite unterstützt, die Handhabung des sog. „déféré libre" herausgebildet. 660 Dabei wurde die staatsanwaltschaftliche Vorführung übergangen und statt dessen die Kriminalpolizei von Fall zu Fall oder auf generelle Direktive hin autorisiert, den Beschuldigten zu „laden". Das heißt, die oben beschriebene Eingangsvorführung 6 6 1 erfolgte vor einem Beamten der Kriminalpolizei, der dem Beschuldigten auch den Hauptverhandlungstermin mitteilte. Rechtsfolgen konnten aus der Praxis des „déféré libre" mangels gesetzlicher Grundlage erst entstehen, wenn der Beschuldigte der Aufforderung nachkam und zur Hauptverhandlung erschien. Im Ergebnis handelte es sich bei dem „déféré libre" um eine auf Polizei-Ebene verlagerte formlose Mitteilung i.S.v. art. 389 CPP. Dementsprechend nahm man hin, daß, mangels Anrufung des Gerichts, keine Hauptverhandlung durchgeführt werden konnte, wenn der Beschuldigte zum Hauptverhandlungstermin nicht erschien und das Verfahren deshalb mit einer förmlichen Ladung neu eingeleitet werden mußte, verbunden mit der Gefahr, daß die Zustellung der Ladung ins Leere lief. Seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahre 1986 ist die Praxis des „déféré libre" als „convocation par procès-verbal par l'officier de police judiciaire" oder auch „convocation en justice" gesetzlich verankert. Gem. art. 390-1 CPP ist die Kriminalpolizei ermächtigt, Beschuldigte unmittelbar zu laden. Die Kriminalpolizei wird dabei auf Weisung der Staatsanwaltschaft tätig. Für gewöhnlich wird die Staatsanwaltschaft von dem ermittelnden Polizeibeamten über den jeweiligen Fall unterrichtet. Der zuständige 659

Z.B. Robin , in: Les procédures d'urgence, S. 233. Vgl. hierzu: Cire. crim. 84-13 Fl ν. 01.08.1984, BOMJ n°15, S. 60; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 390; krit.: Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 280. 661 Vgl. oben III. 2. b) und III. 3. a). 660

III. Gesetzliche Regelung

171

Staatsanwalt entscheidet dann, ob er sich den Beschuldigten selbst vorführen läßt, ob er im Normalverfahren der citation directe mit förmlichem Ladungsverfahren vorgehen möchte oder ob er eine Strafverfolgung im Wege der convocation en justice für sachgerecht erachtet. In diesem Fall veranlaßt er den Polizeibeamten, den Beschuldigtem zu einem bestimmten Hauptverhandlungstermin zu laden. Nicht selten erfolgt die Weisung allerdings auch in Form einer generellen Direktive für gleichgelagerte Fälle. Polizei und Staatsanwalt kommunizieren dann nicht von Fall zu Fall, der ermittelnde Polizeibeamte entscheidet vielmehr in den Grenzen der Direktive selbständig, ob er eine convocation en justice einleitet. Hierbei geht der zuständige Polizeibeamte genauso wie die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Eingangsvorführung nach art. 393 CPP vor: Der Polizeibeamte unterrichtet den Beschuldigten über den Tatvorwurf in sachlicher und rechtlicher Hinsicht. Er gibt dem Beschuldigten Gelegenheit, sich zum Tatvorwurf zu äußern und teilt dem Beschuldigten gegebenenfalls den Hauptverhandlungstermin mit. Der Polizeibeamte hat den Beschuldigten außerdem genauso wie die Staatsanwaltschaft im Rahmen der Vorführung nach art. 393 CPP über sein Recht auf Mitwirkung eines Wahl- oder Amtsverteidigers zu belehren und gegebenenfalls eine Verteidigerbestellung zu veranlassen. Schließlich wurde auch das protokollarische Vorgehen aus dem Verfahren der convocation par procès-verbal übernommen: Die der Eingangsvorführung entsprechende Ermittlungshandlung des Polizeibeamten wird im einzelnen protokollarisch festgehalten, wovon der Beschuldigte wiederum eine Durchschrift erhält. 6 6 2 Die convocation en justice entspricht jedoch nicht nur in ihrem Ablauf der convocation par procès-verbal, sie ist darüber hinaus auch in ihren Rechtswirkungen dieser Verfahrensart gleichgestellt. Gem. art. 390-1 CPP steht die durch einen Polizeibeamten ausgesprochene Ladung einer persönlich zugestellten Ladung mittels Zustellungsurkunde nach art. 390, 550 ff. CPP gleich. Die convocation en justice stellt damit eine vollwertige Strafverfolgungseinleitung dar, sie umfaßt wiederum Anklageerhebung, Ladung und Überweisung an das erkennende Gericht. Eine Abweichung zur Ursprungsvariante der convocation par procès-verbal besteht allein darin, daß die convocation en justice keinen Rückgriff auf eine gerichtliche Aufsichtsmaßnahme vorsieht. 663 Durch die Verlagerung der Strafverfolgungseinleitung zumindest in formeller Hinsicht auf Polizeiebene und die ladungstechnische Vereinfachung ist die convocation par procès-verbal sehr einfach und schnell zu handhaben. Da sie zudem in ihren Rechtsfolgen nicht hinter den übrigen 662

Vgl. Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 51. 663 Ygi Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 46.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

korrektionalgerichtlichen Verfahrensaiten zurückbleibt, ist die convocation par procès-verbal in prozeßökonomischer Hinsicht den bisherigen Verfahrensarten weit überlegen. 664 In der französischen Strafprozeßrechtswirklichkeit hat das vereinfachte Verfahren dementsprechend in kurzer Zeit große Akzeptanz gefunden. 665 Der Anwendungsbereich des Verfahrens soll sich nach dem Gesetzeszweck auf die leichte Kriminalität wie Ladendiebstahlsdelikte, kleinere Verkehrsdelikte, Scheckbetrügereien u.ä. beschränken. 666 Daneben ist die convocation en justice über die Verweisungsvorschrift des art. 533 CPP auch bei Übertretungen der 5. Klasse zugelassen, die vor dem Tribunal de police verhandelt werden. Die Beschränkung auf die Einfachstkriminalität im Vergehensbereich ist allerdings gesetzlich an keiner Stelle fixiert, so daß die convocation en justice möglicherweise allmählich in den gesamten Vergehensbereich ausgedehnt wird. Auch wenn die Verfahrenseinleitung im Rahmen der convocation en justice bislang noch auf Weisung der Staatsanwaltschaft erfolgt und damit die Verfahrensherrschaft nach dem Gesetz bei der Staatsanwaltschaft verbleibt, ist die formelle Vorverlagerung der Strafverfolgungseinleitung auf Polizeiebene nicht zu unterschätzen. Schon aus prozeßökonomischen Zwängen besteht die Gefahr, daß in der Praxis die Polizei vielfach selbst über eine Verfahrenseinleitung i.F.d. convocation en justice entscheiden wird. Bedenkt man nämlich, daß die Weisung heute schon vielfach auf generelle Direktive der Staatsanwaltschaft hin erfolgt, so erscheint die Kompetenzverlagerung der convocation en justice auf Polizeiebene auch schon in der derzeitigen Gesetzesfassung materielle Züge aufzuweisen. 5. Das Verfahren der comparution immédiate Das Verfahren der comparution immédiate stellt das beschleunigte Verfahren i.e.S. dar; es zeichnet sich durch eine extrem kurze Frist zwischen staatsanwaltschaftlicher Vorführung und Hauptverhandlung aus. Nach dem Gesetz beginnt die Hauptverhandlung im Idealfall in unmittelbarem Anschluß an die staatsanwaltschaftliche Eingangs Vernehmung; möglich ist aber auch, daß die Hauptverhandlung am nächsten oder am übernächsten Werktag stattfindet. Das Verfahren der comparution immédiate teilt sich im weiteren Verfahrensgang nochmals in zwei Varianten: Die comparution immédiate mit unmittelbarer Vorführung i.S.d. art. 395 CPP sowie die comparution immédiate mit verzögerter Vorführung nach vorangegangener kurzer Untersuchungshaft gem. art. 396 CPP 6 6 7

664 665 666

So auch Casorla, RIDP 1995, 529. Vgl. hierzu unten IV. 2. Circ. crim. 86-18 Fl v. 10.09.86; Périer-Daville , GP 1987, 1, S. 6.

III. Gesetzliche Regelung

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a) Ablauf der comparution immédiate bis zur Hauptverhandlung bei unmittelbarer Vorführung des Beschuldigten i. S. v. art. 395 CPP Gem. art. 395 al. 1 , 2 CPP ist der Beschuldigte dem erkennenden Gericht grundsätzlich unverzüglich (sur-le-champ) nach Beendigung der Eingangsförmlichkeiten zur Hauptverhandlung vorzuführen. Die zeitlichen Grenzen einer comparution immédiate mit unmittelbarer Vorführung sind nach art. 395 al. 3 CPP aber auch dann gewahrt, wenn der Beschuldigte noch am selben Tag, an dem die Eingangsvorführung stattgefunden hat, dem Gericht zur Verhandlung vorgeführt wird. Die in art. 395 al. 3 CPP enthaltene Formulierung „le jour même" soll bewußt gewählt worden sein. Es soll sich in diesem Fall gerade nicht um eine 24h-Frist handeln, sondern nach dem Wortlaut der Vorschrift ist wirklich der Zeitraum bis zum Ablauf des Tages der Eingangsvorführung um 24.00 Uhr gemeint. 6 6 8 Diese Fristwahl erscheint zwar insofern wenig sinnvoll, als auch französische Gerichte schwerlich in den späten Abendstunden verhandeln dürften. Sie kann sich nur daraus erklären, daß man ein Festhalten des Beschuldigten über Nacht (worüber allein die Staatsanwaltschaft entschiede) vermeiden wollte. Erscheint eine Einbehaltung des Beschuldigten über Nacht erforderlich, handelt es sich nicht mehr um eine comparution immédiate mit unmittelbarer Vorführung, sondern um eine comparution immédiate nach kurzer Untersuchungshaft i.S.v. art. 396 CPP. Diese soll nur durchgeführt werden, wenn ein unabhängiger Richter die vorläufige Inhaftierung für zulässig erklärt hat. 6 6 9 Diese Vorgabe des französischen Gesetzgebers wird in der Praxis jedoch dadurch umgangen, daß man Beschuldigte nicht selten nach Ablauf des Polizeigewahrsams bis zum Beginn der Vorführung über Nacht einbehält. 670 Die Staatsanwaltschaft ist gem. art. 395 al. 3 CPP berechtigt, den Beschuldigten nach Ablauf der Eingangsförmlichkeiten bis zum Beginn der Hauptverhandlung festzuhalten. Es handelt sich hierbei um ein Freiheitsentziehungsrecht sui generis, 671 das streng akzessorisch an eine im Rahmen der comparution immédiate für denselben Tag angesetzte Hauptverhandlung gekoppelt ist und dementsprechend ebenfalls höchstens bis Mitternacht Wirksamkeit besitzen kann.

667 Vgl. hierzu auch die Darstellung bei Coujard, Encycl. Dalloz, „Instruction à l'audience", Rdnr. 79. 668 Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6 CPP, Rdnr. 44; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 30. 669 Vgl. hierzu unten III. 5. b). 670 Vgl. oben III. 2. a). 67 1 Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 44.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Umstritten ist die Frage, auf welche Weise das erkennende Gericht im Verfahren der comparution immédiate mit der angeklagten Strafsache befaßt wird. Eine Meinung in der Literatur geht in diesem Fall von einem tatsächlichen Überweisungsakt aus, indem sie annimmt, die Anrufung des Gerichts werde durch die die Hauptverhandlung einleitende Vorführung des Beschuldigten vor das erkennende Gericht bewirkt. 6 7 2 Für diese Ansicht könnte die Formulierung in art. 388 CPP sprechen: „Le tribunal correctionnel est saisi [...] par la comparution 573 immédiate [...]." Nach der Gegenmeinung, die auch die Rechtsprechung vertritt, soll es genauso sein wie im Verfahren der convocation par procès-verbal, d. h. das Gericht wird durch die während der staatsanwaltschaftlichen Vorführung erstellte Niederschrift mit der Strafsache befaßt. 674 Diese h. M. begründet ihre Auffassung mit der herausragenden Bedeutung, die das Vörführungsprotokoll in der Regelung der beschleunigten Verfahrensarten einnimmt. Auch der Wortlaut von art. 388 CPP steht einer solchen Ansicht nicht entgegen: Der verwendete Begriff „comparution immédiate" kann sich gleichermaßen auf das Verfahren der comparution immédiate im ganzen beziehen, so daß insoweit - ohne daß auf den genauen Anhängigkeitszeitpunkt eingegangen werden soll - nur klargestellt wird, daß das Verfahren der comparution immédiate eine mögliche Verfahrensart vor dem Korrektionalgericht darstellt. Daß art. 388 CPP keine Aussage über den genauen Anhängigkeitszeitpunkt trifft, läßt sich insbesondere auch mit Blick auf das Verfahren der convocation par procès-verbal vertreten. Auch dort ergibt sich nur aus der Regelung des Verfahrens selbst, art. 394 al. 1 CPP, daß das Verfahren mit der Erstellung der Vorführungsniederschrift bei Gericht anhängig w i r d . 6 7 5 Art. 388 CPP spricht in diesem Fall ebenfalls nur allgemein von „Le tribunal correctionnel est saisie [...] par la convocation par procès-verbal [...]." Zwischen Vorführung und Hauptverhandlung lädt der Staatsanwalt - wiederum formlos, art. 397-5 C P P 6 7 6 - etwaige Zeugen und reicht die Akten an die erkennende Strafkammer weiter. Er informiert gegebenenfalls das Straftatopfer über den Hauptverhandlungstermin und benachrichtigt den Verteidiger bzw. den Vorsitzenden der Anwaltskammer zur Verteidigerbestellung. Der Beschuldigte hat nun (zumeist erstmals) Gelegenheit, sich mit seinem Verteidiger zu besprechen und seine Verteidigung vorzubereiten. 672 So z.B. Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 304. Nach Garraud, Procédure pénale, Rdnr. 960, soll das Verfahren mit Verlesung des Anklagesatzes bei Gericht anhängig werden. 673 „Comparution": Erscheinen vor Gericht. 674 Cass. crim., 30.05.1985, Bull. crim. n° 209, S. 532; Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 34. 675 Vgl. hierzu außerdem oben III. 3. b). 676 Vgl. oben III. 3. d).

III. Gesetzliche Regelung

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Problematisch dabei ist, daß zwischen Vorführung und Hauptverhandlungsbeginn zumeist nur wenige Stunden liegen. Daher erscheint es schon technisch schwierig, die angesprochenen Ladungen und Benachrichtigungen so kurzfristig zu realisieren. Zwar läßt sich die Ausübung des Verteidigungsrechtes in gewissem Umfang über Bereitschaftsdienste lösen. Zeugen können schon vor der staatsanwaltschaftlichen Vorführung von der potentiell stattfindenden Hauptverhandlung benachrichtigt werden. Entscheidend ist hierbei auch, daß ein materielles Unmittelbarkeitsprinzip im französischen Strafprozeßrecht nur sehr eingeschränkt anerkannt ist. So kann im korrektionalgerichtlichen Verfahren auf eine Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung in den meisten Fällen verzichtet werden. Es genügt, daß die Zeugenaussage durch die Verlesung des polizeilichen oder staatsanwaltschaftlichen Vernehmungsprotokolls in das Verfahren eingeführt w i r d . 6 7 7 Dies alles ändert jedoch nichts daran, daß die zur Verfügung stehende Zeit extrem knapp ist - für die Strafverfolgungsorgane und insbesondere für den Beschuldigten. Ihm bleibt im günstigsten Fall ein halber Tag, um seine Verteidigung vorzubereiten. Dies ist auch die Zeitspanne, in der von ihm benannte (Entlastungs-) Zeugen geladen, d.h. in diesem Fall erreicht sein müssen. Macht der Beschuldigte von seinem Recht auf Wahlverteidigung Gebrauch, dürfte es außerdem kaum wahrscheinlich sein, daß der gewählte Verteidiger so kurzfristig die Verteidigung für denselben Tag übernehmen kann. Mit dem Recht des Beschuldigten auf ausreichende Zeit und Gelegenheit für seine Verteidigungsvorbereitung, das Art. 6 Abs. 3b EMRK gewährt, läßt sich diese kurze Zeitspanne selbst in unproblematischen Fällen kaum vereinbaren. Ebenfalls gefährdet erscheint das Recht des Beschuldigten auf Mitwirkung eines Verteidigers seiner Wahl, Art. 6 Abs. 3c EMRK. Immerhin bedarf die Anwendung des Verfahrens der Zustimmung des Beschuldigten. 6 7 8 Es bleiben jedoch Zweifel, ob diese die genannten Defizite aufzuwiegen vermag. 6 7 9 b) Ablauf der comparution immédiate bis zur Hauptverhandlung bei verzögerter Vorführung des Beschuldigten i. 5. v. art. 396 CPP Läßt sich die vom Gesetz angestrebte Urteilsfindung noch am Tag der Vorführung nicht verwirklichen, kann nach art. 396 CPP unter bestimmten Voraussetzungen auf eine kurzzeitige Untersuchungshaft zurückgegriffen 677 Vgl. hierzu Barth, in: Perron: Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, S. 107 f.; Eser, ZStW 108 (1996), 89; Müller, DRiZ 1993, 385; sowie oben III. 5. c) cc). 678 Vgl. hierzu unten III. 5. c) cc). 679 Vgl. hierzu unten III. 5. e) und Dritter Teil, III.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

werden. Das Verfahren der comparution immédiate findet dann mit etwas verzögerter Hauptverhandlung statt. Neben der beschleunigenden Wirkung hat gerade diese Kombination mit der Untersuchungshaft im Verfahren der comparution immédiate herausragende Bedeutung: Im französischen Strafprozeßrecht ist die Untersuchungshaft seit jeher an die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung gebunden. In allen anderen Verfahrensarten des französischen Strafprozesses ist eine vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nicht möglich. Die Anordnung der Untersuchungshaft hängt von einem Antrag der Staatsanwaltschaft ab. Voraussetzung für den Antrag ist, daß eine Hauptverhandlung noch am selben Tag nicht stattfinden kann und die Staatsanwaltschaft die Anordnung der Untersuchungshaft für notwendig hält, art. 396 al. 1 CPP. In der Literatur wird gefordert, daß die Durchführung einer Hauptverhandlung objektiv unmöglich i s t 6 8 0 - unabhängig davon, inwieweit sich dies sachlich überprüfen läßt. Für die Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls ist entsprechend der Anordnung der gerichtlichen Aufsicht im Verfahren der convocation par procès-verbal 681 nicht, wie im Normal verfahren der gerichtlichen Voruntersuchung, die Untersuchungsgerichtsbarkeit, sondern der Präsident des erkennenden Gerichts bzw. ein von diesem beauftragter Richter 6 8 2 zuständig. Der mit der Frage der Untersuchungshaft betraute Richter entscheidet, wie im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung, 683 nach nichtöffentlicher, kontradiktorischer Anhörung, 6 8 4 bei der neben dem Beschuldigten und dessen Verteidiger, ein Vertreter der Staatsanwaltschaft sowie ein Urkundsbeamter zugegen sind, art. 396 al. 1 CPP. Während die Anwesenheit des Beschuldigten, der Staatsanwaltschaft sowie die eines Urkundsbeamten 685 für die Anhörung zwingend vorgeschrieben sind, hat der Verteidiger des Beschuldigten hierbei nur das Recht, anwesend zu sein. 6 8 6 Bedenkt man, 680

Häufigster Fall: Wochenende, Feiertag, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 45. 681 Vgl. oben III. 3. c). 682 Nach h.M. kann auch in diesem Fall der beauftragte Richter ein Untersuchungsrichter sein, vgl. Fn. 643. 683 Vgl. art. 145 al. 4 CPP. 684 Hervorgehoben wird zum Teil, daß der Gesetzeswortlaut dem Beschuldigten in der angesprochenen Anhörung nun explizit das erste und das letzte Wort gewährt. Damit ist die in der Hauptverhandlung geltende Prozeßmaxime, nach der dem Beschuldigten das erste und das letzte Wort gebührt (vgl. art. 346, 460, 512 CPP), auch hier vollständig erfüllt, vgl. Merle/Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 356 (Fn. 2); Pradel D. 1984, Chr., S. 81. 685 Der Verstoß gegen die Anwesenheitspflicht eines Urkundsbeamten stellt wiederum einen Nichtigkeitsgrund des Verfahrens dar, vgl. hierzu Fn. 646. 686 Zum Verfahren der convocation par procès-verbal vgl. oben III. 3. c).

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daß die Anhörung grundsätzlich direkt im Anschluß an die Eingangsvorführung stattfindet und der Verteidiger normalerweise erst nach der staatsanwaltschaftlichen Vorführung bestellt bzw. benachrichtigt wird, so erscheint es wiederum sehr fraglich, ob ein Verteidiger so kurzfristig am Verfahren teilnehmen kann. Zumindest wenn der Beschuldigte einen bestimmten Verteidiger wünscht, ist es wenig wahrscheinlich, daß dieser den Anhörungstermin unmittelbar wahrnehmen kann. Insoweit ist zu befürchten, daß das Anwesenheitsrecht des Verteidigers in vielen Fällen nicht genutzt werden kann. Für die Untersuchungshaft im Rahmen der comparution immédiate gelten die allgemeinen Untersuchungshaftvoraussetzungen: Die Untersuchungshaft steht im französischen Strafprozeßrecht unter der grundsätzlichen Prämisse, daß die vorläufige Inhaftierung eines Beschuldigten im Ermittlungsverfahren nur ausnahmsweise zulässig ist, wenn die Ermittlungen oder Sicherheitsbelange es erfordern, art. 137 CPP. 6 8 7 Voraussetzung der Untersuchungshaft ist weiter, daß der Beschuldigte der Tat hinreichend verdächtig i s t , 6 8 8 daß ein besonderer Haftgrund besteht 689 und das verfolgte Delikt eine gewisse Tatschwere aufweist. Im hier interessierenden Vergehensbereich 690 ist die vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten zulässig, wenn eine Strafe von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe bzw. bei Betreffen des Beschuldigten auf frischer Tat von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe abstrakt möglich ist. Diese Tatschwere wird im Verfahren der comparution immédiate zwangsläufig immer gegeben sein: Wie oben gezeigt, 691 wurden die AnwendungsVoraussetzungen der comparution immédiate bzgl. der Tatschwere den allgemeinen Untersuchungshaftvoraussetzungen nachgebildet, so daß sie mit diesen übereinstimmen. 687

Dies impliziert, daß eine Untersuchungshaft nur in Betracht kommt, wenn eine Beschränkung im Rahmen der contrôle judiciaire unzureichend ist, vgl. art. 144 al. 1 CPP. 688 Der CPP erwähnt die Voraussetzung des hinreichenden Tatverdachts nicht explizit. Nach allgemeiner Meinung in Lit. und Rspr. ist das Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts dennoch unablässige Voraussetzung für den Erlaß eines Haftbefehls, Cass. crim., 01.10.1985, Bull. crim. n° 288; Chambon, Le juge d'instruction, Rdnr. 472. Zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft allgemein vgl. Levasseur/Chavanne/Montreuil, Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 530; Chambon, Le juge d'instruction, Rdnr. 467 ff. 689 Unter den in art. 144 al. l-l°-3° CPP abschließend aufgezählten Haftgründen finden sich den in §§ 112, 112a StPO enthaltenen Haftgründen in etwa vergleichbar Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr sowie (in sehr viel weiterem Umfang als im Rahmen des § 112a StPO) Wiederholungsgefahr. Darüber hinaus kennt das französische Untersuchungshaftrecht auch den Haftgrund der öffentlichen Erregung sowie die vorläufige Inhaftierung zum Schutz des Beschuldigten. 690 Bezieht sich die Strafverfolgung auf ein Verbrechen, ist der Rückgriff auf eine Untersuchungshaftmaßnahme grundsätzlich immer möglich, vgl. art. 144 al. 1 CPP. 691

12 Kohler

Vgl. oben III. 1. b).

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Vor der Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls kann der angerufene Richter außerdem genauso wie die Staatsanwaltschaft bei Einleitung des Verfahrens gegebenenfalls ein summarisches Sozialprofil 6 9 2 des Beschuldigten anfordern, art. 396 al. 2, 41 al. 6 CPP. aa) Ablehnung der Untersuchungshaftanordnung Verhängt der beigezogene Richter keine Untersuchungshaft 693 , so ist damit zugleich das Verfahren der comparution immédiate beendet. Die Straftat muß dann zwingend in Form der convocation par procès-verbal weiterverfolgt werden, art. 396 al. 4 CPP. Im System der beschleunigten Verfahren ist diese Folge konsequent. Dem Verfahren der comparution immédiate ist seit jeher immanent, daß der Beschuldigte nicht freiwillig zur Hauptverhandlung erscheinen kann, sondern zwangsweise vorgeführt w i r d . 6 9 4 Liegen die Untersuchungshaftvoraussetzungen nicht vor, so daß der Beschuldigte nach der Anhörung wieder freigelassen werden muß, ist genau dieselbe Konstellation erreicht, wie sie bei einer Strafverfolgung im Wege der convocation par procès-verbal besteht: Der Beschuldigte wird nach der Vorführung vor den Staatsanwalt wieder auf freien Fuß gesetzt. 695 Nach der gesetzgeberischen Entscheidung soll in diesem Fall, wie die Regelung der convocation par procès-verbal zeigt, eine Verkürzung der Ladungsfrist grundsätzlich nicht möglich sein. Der über die Untersuchungshaft entscheidende Richter kann jedoch nicht von sich aus zu dem Verfahren der convocation par procès-verbal übergehen und eine dann mögliche und wohl zumeist auch angezeigte 696 gerichtliche Aufsichtsmaßnahme anordnen. Auch wenn die Staatsanwaltschaft gesetzlich dazu gezwungen ist, ist es nach Aktenrückgabe allein ihre Sache, das Verfahren der convocation par procès-verbal einzuschlagen und den Richter zum zweiten Mal - dieses Mal mit dem Ziel der Anordnung einer gerichtlichen Überwachungsmaßnahme - anzurufen. 697 Dieses Vorgehen erklärt sich aus dem im französischen Strafprozeßrecht geltenden Grund-

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Vgl. hierzu oben III. 2. c) bb) (b) (dd). Die Ablehnung der Untersuchungshaft ergeht in der Form des Beschlusses, art. 396 al. 3 CPP. 694 Vgl. hierzu oben III. 1. b), sowie Pradel, D. 1984, Chr., S. 80; ders., Procédure pénale, Rdnr. 391; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 507, 509; Rudioff, JO débats Sénat, séance du 15.11.1980, S. 4755; Carous, JO débats Sénats, séance du 15.11.1981, S. 4757. 695 Vgl. oben III. 3. d). 696 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 509. 697 TGI Paris, 22.09.1986, D. 1987, Jur., S. 58; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 287; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 391. 693

III. Gesetzliche Regelung

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satz 6 9 8 der Funktionstrennung von Verfolgung und Untersuchung: 699 So ist die Strafverfolgungseinleitung allein dem Kompetenzbereich der Staatsanwaltschaft zugewiesen. Der angerufene Richter hat ausschließlich über die Frage der Untersuchungshaft zu entscheiden. Vor dem Hintergrund der gesetzlich zwingenden Weiterverfolgung in Form der convocation par procèsverbal erscheint dieses Hin und Her allerdings doch allzu formalistisch und gerade in einem beschleunigten Verfahren unnötig verfahrensverzögernd. 700 In Paris hatte sich aus diesem Grund eine beliebte Absprachepraxis herausgebildet: Der für die Anordnung der Untersuchungshaft zuständige Richter verzichtete auf den Erlaß eines Haftbefehls. Bedingung für den Verzicht war, daß sich der Beschuldigte verpflichtete, die im Falle einer angeordneten Untersuchungshaft vorgeschriebene Vorführungsfrist einzuhalten und zu einer innerhalb der nächsten 24-48 Stunden anberaumten Hauptverhandlung vor Gericht zu erscheinen. 701 Das Korrektionalgericht in Paris ist dieser Praxis aus dem oben genannten Grund entschieden entgegengetreten: 702 Eine solche Praxis greife unzulässig in den Kompetenzbereich der Staatsanwaltschaft ein. Die Strafverfahrenseinleitung und die Terminierung der Hauptverhandlung oblägen allein der Staatsanwaltschaft. Außerdem dürfe der Verzicht auf die Einhaltung der gesetzlichen 10-Tages-Frist zwischen Vorführung und Hauptverhandlung nicht zur Bedingung des Untersuchungshaftverzichts gemacht werden. bb) Anordnung der Untersuchungshaft Hält der mit der Entscheidung über die Untersuchungshaft betraute Richter die sachlichen Voraussetzungen der Untersuchungshaft für gegeben, so kann er wie bei Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung einen Haftbefehl 7 0 3 erlassen. Dieser wirkt in zweifacher Hinsicht: Zum einen legiti698 Zu diesem Grundsatz vgl. Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 24-32; Levasseur/ Chavanne/Montreuil, Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 273 f.; Pradel, Anm. zu Cass. crim., 7.01. und 6.11.1986, D. 1987, Jur., S. 238 ff. 699 Dieser Grundsatz kann hier zwar nicht direkt Anwendung finden, da die Entscheidung über die Untersuchungshaft gerade keine Untersuchungshandlung darstellt. Der Grundsatz der Trennung ist jedoch insoweit einschlägig, als sich ihm allgemein entnehmen läßt, daß die Kompetenzverteilung der am Strafverfahren Beteiligten weitestgehend aufrechtzuerhalten ist. 700 So auch Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 287. 701 Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 60. 702 X G I P a r i S ) 22.09.1986, D. 1987, Jur., S. 58, zust. Pradel in seiner Anmerkung zu diesem Urteil, a.a.O., S. 59. 703 Die im Rahmen der comparution immédiate mögliche Untersuchungshaft stimmt auch bzgl. der formellen Voraussetzungen mit den allgemeinen Untersuchungshaftbedingungen überein. So muß der Haftbefehl z.B. im Hinblick auf die 12*

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

miert der Beschluß naturgemäß die vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten. Zum anderen, dies führt art. 396 al. 3 CPP explizit an, wird das Verfahren mit dem Erlaß des Haftbefehls bei Gericht anhängig. Diese Rechtsfolge erscheint systematisch auf den ersten Blick befremdlich: Im Verfahren der comparution immédiate mit unmittelbarem Beginn der Hauptverhandlung wird die Urteilsgerichtsbarkeit nach h. M. mit Anfertigung des Vorführungsprotokolls mit dem Verfahren befaßt. 704 Auch innerhalb der gerichtlichen Voruntersuchung kommt dem die Untersuchungshaft anordnenden Beschluß keine Überweisungswirkung zu. Eine Anrufung des Gerichts erfolgt in diesem Fall getrennt von der Untersuchungshaftanordung durch eine sog. Verweisungsverfügung des Untersuchungsrichters (ordonnance de renvoi). Die Ausnahmeregelung im Verfahren der comparution immédiate erklärt sich aus der dogmatischen Konstellation, die entsteht, wenn das Gericht eine vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten bis zur Hauptverhandlung ablehnt. 705 Wie oben skizziert, ist die Staatsanwaltschaft in diesem Fall gesetzlich gezwungen, im Verfahren der convocation par procès-verbal vorzugehen. Nach allgemeinen Prozeßrechtsgrundsätzen ist die Staatsanwaltschaft an die einmal getroffene Verfolgungsentscheidung wie die Verfolgungsart gebunden, sobald sie das zuständige Gericht mit der Sache befaßt hat. 7 0 6 Insoweit wäre es dogmatisch verfehlt, den Zeitpunkt der Anhängigkeit des Verfahrens entsprechend dem Verfahren der comparution immédiate mit unmittelbarer Vorführung schon mit der Anfertigung des Vernehmungsprotokolls eintreten zu lassen. Auch eine Imitation der gerichtlichen Voruntersuchung erscheint in diesem Fall wenig sachgerecht: In der gerichtlichen Voruntersuchung hat der Untersuchungsrichter grundsätzlich neben der Frage der Untersuchungshaft umfassende Ermittlungen durchzuführen. Im Verfahren der comparution immédiate hingegen erschöpft sich seine Tätigkeit in der Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls. Nach der Anordnung oder Ablehnung der Untersuchungshaft scheidet der Richter wieder aus dem Verfahren aus, er hat keine darüber hinausgehenden Untersuchungshandlungen vorzunehmen. Insoweit wäre es überflüssig und reine Förmelei, zusätzlich zu dem Haftbefehl einen weiteren Beschluß des Richters vorzusehen, mit dem das Verfahren bei Gericht anhängig wird.

Anwendungsvoraussetzungen der Untersuchungshaft i.S.d. art. 144 al. l-l°-3° CPP in rechtlicher wie in tatsächlicher Hinsicht begründet sein, vgl. art. 396 al. 3, 145 al. 1 CPP. Dem Beschuldigten wird die Entscheidung, die in das Protokoll aufzunehmen ist, mitgeteilt. Von dem Protokoll der Anhörung erhält er eine Kopie, art. 396 al. 3 CPP. 704 Vgl. oben III. 5. a). 705 Vgl. oben III. 5. b) aa). 706 Vgl. oben III. 2. c) bb) (b) (aa).

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Die Untersuchungshaftdauer im Rahmen der comparution immédiate ist begrenzt. Der Beschuldigte muß spätestens am übernächsten Werktag 7 0 7 dem Gericht zur Verhandlung vorgeführt werden, art. 396 al. 3 CPP. Kann auch nach zwei Tagen eine Hauptverhandlung nicht stattfinden oder hat es die Staatsanwaltschaft versäumt, einen Termin zur Verhandlung anzusetzen, verliert das Zwangsmittel von diesem Zeitpunkt an automatisch seine Wirksamkeit, der Beschuldigte muß freigelassen werden. Die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung, um auf diesem Weg die wiederholte vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten zu erreichen, ist dann allerdings nicht mehr möglich. 7 0 8 Dies würde zum einen dem Gesetzeszweck zuwiderlaufen. Zum anderen hat der Wegfall der Untersuchungshaftlegitimierung keinen Einfluß auf die Rechtshängigkeit des Verfahrens, 709 mit der Konsequenz, daß der Verfolgungsmodus von der Staatsanwaltschaft wiederum nicht mehr geändert werden kann. 7 1 0 Um den Beschleunigungseffekt des Verfahrens zu sichern, hat der Beschuldigte gegen die Anordnung der Untersuchungshaft, anders als bei der gesetzlichen Regelung der Untersuchungshaft, 711 keine Möglichkeit, eine Haftprüfung zu verlangen; art. 396 al. 2 CPP schließt dies ausdrücklich aus. Im Anschluß an die Anhörung bereitet die Staatsanwaltschaft, wie im Verfahren der comparution immédiate mit unmittelbarer Vorführung, die Hauptverhandlung v o r . 7 1 2 Die Verteidigerbestellung oder die Benachrichtigung des Wahlverteidigers dürften in den meisten Fällen schon für die vorausgehende Anhörung erfolgt sein.

707 Werktage sind die Wochentage von Montag bis Freitag, Cass. crim., 27.04.1994, Bull. crim. n° 155. 708 So auch Pradel, D. 1981, Chr., S. 105; Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 56. 709 Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 56. Das Vorführungsprotokoll hat in diesem Fall allein die Wirkung, dem Gerichtspräsidenten oder dem von diesem beauftragten Richter die Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls zu übertragen. 710 In diesem Fall läge dann die Ausnahmesituation vor, daß der Beschuldigte im Rahmen der comparution immédiate nicht vorgefühlt wird, sondern freiwillig zum Hauptverhandlungstermin erscheint. 711 Vgl. art. 148, 148-1, 186 al. 1 CPP. 712 Vgl. hierzu oben III. 5. a).

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

c) Das Verfahren

der comparution immédiate vor Gericht

aa) Zusammensetzung des Gerichts (a) Zwingende Kollegialbesetzung Für das Verfahren der comparution immédiate ist seit einer Gesetzesänderung aus dem Jahre 1995 7 1 3 gem. art. 398-1 al. 2 CPP die Kollegialbesetzung zwingend vorgeschrieben. (b) Zulässige Mitwirkung des über die Untersuchungshaft entscheidenden Richters an der Urteilsfindung? Nach h . M . 7 1 4 kann auch der mit der Frage der Untersuchungshaft betraute Richter später Mitglied der erkennenden Spruchkammer sein. Problematisch erscheint diese Auffassung zunächst im Hinblick auf den Prozeßrechtsgrundsatz 7 1 5 der Funktionstrennung von Verfolgung, Untersuchung und Verurteilung. Zwar ist art. 49 al. 2 CPP, der als gesetzliche Ausprägung dieses Grundsatzes die Unvereinbarkeit von Untersuchungsrichterfunktion und der Funktion des erkennenden Richters statuiert, hier nicht direkt anwendbar: Im Verfahren der comparution immédiate entscheidet nicht ein Untersuchungsrichter, sondern der Gerichtspräsident oder ein von diesem beauftragter Richter über die Frage der Untersuchungshaft. Jedoch ist das in Rede stehende Prinzip über seine gesetzliche Verankerung 716 in art. 49 al. 2 sowie in art. 253 CPP hinaus als allgemeiner Prozeßgrundsatz anerkannt, 717 so daß zumindest in dieser Hinsicht Bedenken gegen die Funktionskumulierung er713

Gesetz Nr. 95-125 v. 8.02.1995, art. 25. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 47; Cire. crim. ν. 07.02.1981, D. 1981, Lég., S. 118 (linke Spalte). 715 Zu diesem Grundsatz vgl. die Angaben in Fn. 698. 716 Der CPP enthält zwei spezialgesetzliche Ausprägungen dieses Grundsatzes: art. 49 al. 2 sowie art. 253 CPP. Art. 49 al. 2 CPP lautet wie folgt: „Le juge d'instruction ne peut, à peine de nullité, participer au jugement des affaires pénales dont il a connu en sa qualité de juge d'instruction" - art. 253 CPP: „Ne peuvent faire partie de la cour d'assises en qualité de président ou d'assesseur les magistrats qui, dans l'affaire soumise à la cour d'assises, ont, soit fait un acte de poursuite ou d'instruction, soit participé a l'arrêt de mise en accusation ou à une décision sur le fond relative a la culpabilité de l'accusé". Art. 49 al. 2 CPP bezieht sich damit ausschließlich auf die Funktion des Untersuchungsrichters, art. 253 CPP allein auf Urteile vor dem Schwurgericht. 717 Vgl. Cass. crim., 15.03.1960, Bull. crim. n° 148, S. 309; Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 30; Levas seur/Chavanne/Montreuil, Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 273; Pradel, Anm. zu Cass. crim., 7.01. und 6.11.1986, D. 1987, Jur., S. 239. Allerdings wird die Rechtsprechung der Cour de cassation zum Trennungsgrundsatz als wenig kohärent kritisiert, vgl. Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 32. 714

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wachsen. Zudem könnte das inhaltsähnliche Gebot des unparteiischen Richters aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 E M R K 7 1 8 verletzt sein. Die französische Rechtsprechung verweist in Fällen vergleichbarer Konstellation 719 regelmäßig darauf, daß art. 49 al. 2 CPP nicht eingreife und sieht darüber hinaus keinen Anlaß, die Kumulierung nach innerstaatlichem Recht zu untersagen. 720 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in ähnlich gelagerten Fällen die Funktionskumulierung im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zugelassen. 721 Die „Unparteilichkeit" i.S.v. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK wird in ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht allein subjektiv beurteilt, sondern ebenso objektiv: Schon bestimmte Äußerlichkeiten wie die abstrakte Zusammensetzung eines erkennenden Gerichts - gemeint ist hierbei die Tatsache, daß der fragliche Richter schon im Vorverfahren agiert hat oder nach der internen Organisation agiert haben könnte - können die Unparteilichkeit von vornherein ausschließen. 722 Das entscheidende Kriterium für einen Verstoß gegen Art. 6 718

Zum Begriff des unparteiischen Richters aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, vgl.: Weigend, RSC 1990, 742, bezogen auf das deutsche Recht; sowie Pradel, RSC 1990, 692, bezogen auf das französische Recht; allg. IntKomm EMRK-Miehsler/Vogler, Art. 6, Rdnr. 301 ff.; Frohwein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 6, Rdnr. 94 ff. 719 In den von der Cour de cassation entschiedenen Fällen, vgl. Fn. 720, ging es jeweils darum, inwieweit ein Mitglied der chambre d'accusation, die in einem Haftprüfungsverfahren jeweils die Rechtmäßigkeit einer Untersuchungshaftanordnung bestätigt hatte, später Mitglied der korrektionalgerichtlichen Berufungskammer sein kann. Die hier interessierende Frage, ob der im beschleunigten Verfahren über die Anordnung der Untersuchungshaft entscheidende Richter später Mitglied der erkennenden Spruchkammer sein kann, wurde dagegen, soweit ersichtlich, noch nicht behandelt. 720 Cass. crim., 12.12.1974, Bull. crim. n° 368, S. 937; 20.12.1984, D. 1985, Jur., S. 541; 11.06.1985, Bull. crim. n° 226, S. 578; 17.12.1985, D. 1986, IR, S. 301; 7.01. und 6.11.1986 (Sainte-Marie), D. 1987, Jur., S. 237 f. Kritisch Pradel, Anm. zu Cass. crim., 20.12.1984, D. 1985, Jur., S. 541 ff.; ders., Anm. zu Cass. crim., 7.01 und 6.11.1986, D. 1987, Jur., S. 238 ff.; ders., RSC 1990, 701. Kritisiert wird an der Rechtsprechung vor allem, daß sie genau entgegengesetzt entscheidet, d.h. die Kumulierung untersagt für den Fall, daß der Richter des Haftprüfungsverfahrens später in der Funktion des Schwurgerichtrichters handelt, vgl. Cass. crim., 12.10.1983, Bull. crim. n° 243, S. 622. 721 GH, Sainte-Marie/Frankreich, Urteil v. 16.12.1992, A/253; vgl. außerdem: GH, Hauschildt, Urteil v. 24.05.1989, A/154; Bulut, Urteil v. 22.02.1996, Recueil des arrêts et décisions 1999-11; Padovani, Urteil v. 26.02.1993, A/257; Saraiva de Carvalho, Urteil v. 22.04.1994, A/286; Piersack, Urteil v. 01.10.1982, A/53; Cubber, Urteil v. 26.10.1984, A/86; Nortier, Urteil v. 24.08.1993, A/267; Fey, Urteil v. 24.02.1993, A/255; Ben Yaacoub, Urteil v. 27.11.1987, A/127. 722 GH, Bulut, Recueil des arrêts et décisions 1999-11, §§ 31 f., Padovani, A/257, § 25; Saraiva de Carvalho, A/286, § 33; Piersack, A/53, § 30; Cubber, A/86, § 24; Hauschildt, A/154, §§ 46, 48. KOM, Cubber, A/86, §§ 62, 64; Ben Yaacoub, A/ 127, §§ 94, 96; Hauschildt, A/154, §§ 94, 96; Nortier, A/267, §§ 56 ff.; Padovani, A/257, § 24; Fey, A/255, §§ 49, 51.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Abs. 1 Satz 1 EMRK wird von Gerichtshof und Kommission bei derartigen Funktionshäufungen darin gesehen, daß sich der fragliche Richter schon im Vorverfahren eingehend mit der Strafsache und der Schuldfrage auseinandergesetzt und sich somit seine Auffassung über die Schuld des Beschuldigten schon im Vorverfahren gebildet habe. 7 2 3 In der hier interessierenden Frage hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, daß die Entscheidung über den Erlaß eines Haftbefehls im Vorverfahren keine Beschäftigung mit der Schuldfrage darstelle. 724 Dies selbst dann nicht, wenn die Untersuchungshaftanordnung eine Prüfung der Verdachtsmomente verlange, die eine Beschäftigung mit der Schuldfrage in gewissem Umfang doch unumgänglich macht. Die Prüfung der Verdachtsmomente, die einer Untersuchungshaftanordnung vorausgehe, läßt sich nach dem Gerichtshof grundsätzlich nicht mit der im Hauptverfahren stattfindenden Prüfung der Schuldfrage gleichsetzen. 725 bb) Reaktionsmöglichkeiten des Gerichts auf die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die Tat im Wege der comparution immédiate zu verfolgen (a) Grundsatz Im französischen Strafverfahren liegt die Wahl des Verfolgungsmodus und die Entscheidung über die Erhebung der öffentlichen Klage grundsätzlich allein in der Hand der Staatsanwaltschaft. 726 Das Gericht hat weder die Möglichkeit, eine gewählte Verfahrensart zurückzuweisen, noch kann es, 723

GH, Cubber, A/86, § 16; Hauschildt, A/154, §§ 50, 52; Bulut, Recueil des arrêts et décisions 1999-11, § 33; Nortier, A/267, § 33; Saraiva de Carvalho, A/286, § 35. KOM, Cubber, A/86, §§ 23, 65, 71; Ben Yaacoub, A/127, §§ 94, 96, 101 f., 105; Hauschildt, A/154, §§ 100, 102, 107; Padovani, A/257, § 25. 724 GH, Hauschildt, A/154, § 44; Sainte-Marie, A/253, § 31 f.; Nortier, A/267, §§ 33, 35; Saraiva de Carvalho, A/286, § 39, a.A. Richter am GH Walsh, SainteMarie, A/253, S. 18, vgl. insbes. Rdnr. 4. KOM, Hauschildt, A/154, § 112; Nortier, A/267, § 64. Auch nach dem BGH begründet allein eine der Mitwirkung als erkennender Richter vorausgehende richterliche Tätigkeit, für welche die Entscheidung eine Haftentscheidung beispielhaft nennt, keine Befangenheit. Die Entscheidung des BGH diskutiert dabei - ohne Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK anzusprechen - eine analoge Anwendung von § 23 Abs. 2 StPO, vgl. BGHSt 9, 233 f. 725 GH, Hauschildt, A/154, § 50; KOM, Hauschildt, A/154, §§ 101, 109; a.A. Kommissionsmitglied Vandenberghe, Hauschildt, A/154, S. 39 ff.; Richter am GH Walsh, Sainte-Marie, A/253, S. 18. Im Fall Hauschildt, in dem der Gerichtshof in einer ähnlichen Konstellation in Abweichung zu der Auffassung der Kommission einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK angenommen hatte, setzte die Untersuchungshaftanordung voraus, daß der betreffende Richter von der Schuld des Beschuldigten überzeugt ist. 726

Vgl. oben III. 2. c).

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dem Eröffnungsbeschluß i.S.v. § 199 StPO vergleichbar, Einfluß auf die Eröffnung des Hauptverfahrens nehmen. Dementsprechend hatte das Gericht auch im Verfahren der comparution immédiate lange Zeit die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, eine Tat im Wege der comparution immédiate zu verfolgen, hinzunehmen und in dieser Verfahrensart zu verhandeln. Anders als im beschleunigten Verfahren nach §§ 417 ff. StPO bedarf es hierfür keiner besonderen Zulassungsentscheidung seitens des Gerichts. Das Gericht konnte lediglich wie im Normal verfahren, art. 461 CPP, das Verfahren unter bestimmten Bedingungen aussetzen. Neuerdings 727 hat das Gericht im Verfahren der comparution immédiate jedoch die Möglichkeit, das Verfahren abzulehnen. 728 Mit Blick auf die verfahrensbestimmende Rolle der Staatsanwaltschaft erscheint diese Einflußmöglichkeit des erkennenden Gerichts auf die Strafverfolgungsentscheidung der Staatsanwaltschaft um so bedeutender. (b) Aussetzung des Verfahrens Das Gericht hat die Verhandlung im Verfahren der comparution immédiate auszusetzen, 729 wenn die Sache nicht entscheidungsreif zu sein scheint, art. 397-1 CPP. 7 3 0 Die Voraussetzung der Entscheidungsreife bezieht sich dabei auch auf eine mögliche Schadensersatzklage des Straftatopfers. 731 Um trotz der Aussetzung eine gewisse Verfahrensbeschleunigung aufrecht erhalten zu können, gelten im Verfahren der comparution immédiate, anders als bei einer Aussetzung im Normalverfahren, bestimmte Fristanforderungen: Die neu angesetzte Hauptverhandlung muß innerhalb der nächsten zwei bis sechs Wochen stattfinden, wobei eine Unterschreitung der 2Wochen-Frist möglich ist, wenn der Beschuldigte ausdrücklich auf ihre Ein727

Die Ablehnungsmöglichkeit wurde mit dem Änderungsgesetz n° 86-1019 v. 09.09.1986 eingeführt, vgl. hierzu oben II. 728 Insoweit ist die Behauptung Müllers, G A 1995, 175, das Gericht habe keine Möglichkeit, das Verfahren der comparution immédiate abzulehnen, nicht zutreffend. 729 Eine Vertagung nach art. 397-1 CPP hat außerdem zu erfolgen, wenn der Beschuldigte einer unmittelbaren Verhandlung nicht zustimmt, vgl. hierzu näher unten III. 5. c) cc). 730 Der Aussetzung des Verfahrens hat die Anhörung der Parteien, des Angeklagten, der Staatsanwaltschaft und der Zivilpartei sowie der beteiligten Anwälte vorauszugehen, art. 397-1 CPP. Um die verfahrensbestimmende Rolle der Staatsanwaltschaft zu sichern, fordert die Rechtsprechung (Cass. crim., 17.12.1979, Bull. crim. n° 359) eine Begründung für die Verfahrensaussetzung. 731 Coujard, Encycl. Dalloz, „Instruction à l'audience", Rdnr. 87; vgl. außerdem unten III. 6.

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haltung verzichtet. Der Beschleunigungseffekt dieser Vorschrift relativiert sich aber insofern, als eine Überschreitung der 6-Wochen-Frist keinerlei Rechtsfolgen nach sich zieht. 7 3 2 Mit der Aussetzung des Verfahrens stellt sich dem Gericht regelmäßig die Frage nach einer freiheitseinschränkenden Maßnahme. Die Anordnung bzw. die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft des Beschuldigten, die gem. art. 397-3 al. 2 CPP möglich ist, bildet die Regel. Theoretisch möglich ist aber auch der Rückgriff auf eine gerichtliche Aufsichtsmaßnahme, art. 397-3 al. 1 CPP. 7 3 3 Der Beschuldigte oder die Staatsanwaltschaft können nun aber wie im Normalverfahren eine Haftprüfung verlangen. 734 Bei Aussetzung des Verfahrens hat das Gericht ergänzend - entsprechend dem Regelverfahren - die Möglichkeit, von Amts wegen oder auf Antrag der Parteien eine ergänzende Ermittlung nach art. 463 CPP anzuordnen, art. 397-2 al. 1 CPP. 7 3 5 Da jedoch Ausgangspunkt für die Wahl der comparution immédiate das Vorliegen einer klaren Beweislage und die Entscheidungsreife des Verfahrens sind, 7 3 6 erscheint diese Bestimmung den Grundvoraussetzungen der comparution immédiate gerade zu widersprechen; sie dürfte daher allenfalls in Ausnahmefällen Anwendung finden. 7 3 7 Nach dem Wörtlaut der Bestimmung ist das Gericht bei fehlender Entscheidungsreife verpflichtet, das Verfahren auszusetzen. Da aber die Frage nach der Entscheidungsreife normativer Natur ist und ihre gerichtliche Be732 Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 65; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 33. 733 Die Zurücknahme einer gerichtlichen Aufsicht ist dagegen ausgeschlossen, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 72. 734 Da art. 397-2 CPP die Möglichkeit einer Haftprüfung im Gegensatz zu art. 397-3 CPP nicht explizit aufführt, war das Recht auf Haftprüfung in diesem Fall zunächst umstritten (ablehnend: CA Alger, JCP 1948, 11.4336; CA Saignon, JCP 1949, 11.5058; bejahend: CA Douai, JCP 1951, 11.6644). Mit der Begründung, die Möglichkeit einer Haftprüfung sei ein allgemeiner Grundsatz des korrektionalgerichtlichen Verfahrens, hat die Cour de cassation die Haftprüfung auch im Rahmen des art. 392-2 CPP zugelassen, vgl. Cass. crim., D. 1954, Jur., S. 694. 735 Die Anordnung zusätzlicher Ermittlungen ergeht in der Form eines Zwischenurteils. Das Gericht kann entweder eines seiner Mitglieder oder einen Untersuchungsrichter mit der Beweiserhebung betrauen, vgl. Pradel, D. 1984, Chr., S. 81. Der betreffende Richter handelt in diesem Fall nur als „Beauftragter" des Gerichts, so daß er nur die ihm durch das Urteil zugewiesenen Beweiserhebungen durchzuführen hat. Er hat keine Befugnis, von sich aus darüber hinausgehende oder andere Beweiserhebungen durchzuführen, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 70. Zur Durchführung und zum Inhalt der Beweiserhebung i.S.v. art. 463 CPP allgemein vgl. Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 683. 736 Zu den Anwendungsvoraussetzungen der comparution immédiate vgl. oben III. 1. b). 737 So auch Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 70.

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urteilung außerdem im weiteren Verfahren nicht überprüft werden kann, 7 3 8 entbehrt diese Verpflichtung einer materiellen Grundlage. Die Aussetzung des Verfahrens ist damit faktisch nichts anderes als eine Ermessensentscheidung des Gerichts. (c) Ablehnung des Verfahrens Eine Ablehnungsbefugnis besteht im Verfahren der comparution immédiate für das Gericht dann, wenn es die angeklagte Sache für dieses Verfahren für zu komplex und die Durchführung eingehender Ermittlungen für notwendig hält, art. 397-2 al. 2 CPP. Die Ablehnungsentscheidung beendet das Verfahren der comparution immédiate, die Rechtshängigkeit des Verfahrens wird beseitigt. Auf dem Papier erhält die Staatsanwaltschaft damit ihre uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit zurück. 7 3 9 So verbietet der Grundsatz der Trennung von Verfolgung, Untersuchung und Verurteilung 740 jegliche Anweisungen des Gerichts an die Staatsanwaltschaft, in welcher Form sie die Tat weiterzuverfolgen hat. Im Hinblick auf die Ausgangslage ist die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung jedoch in diesem Fall praktisch vorgegeben: 7 4 1 Die Staatsanwaltschaft hält mit der Einleitung einer comparution immédiate die vorläufige Inhaftierung des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren für erforderlich; nach Ansicht des Gerichts macht der komplexe Sachverhalt weitere Ermittlungen erforderlich, die über eine (im Rahmen der Vertagung mögliche) Beweiserhebung i.S.v. art. 463 CPP hinausgehen. Die Tatsache, daß die Ablehnung des Verfahrens die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung auslöst, wird außerdem schon durch den Gesetzeswortlaut indiziert: 7 4 2 Nach art. 397-2 al. 3 CPP hat dem Ablehnungsbeschluß eine Entscheidung über die Fortdauer 743 einer etwa angeordneten 738

Cass. crim., 26.04.1994, Bull. crim. n° 149. Vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 71; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 36; Cons, const., JO v. 5.09.1986, S. 10789 f.; Périer-Daville , GP 1987, 1, S. 6. 740 Vgl. hierzu oben III. 5. c) aa) (b) sowie die Angaben in Fn 697. 741 Allgemeine Meinung, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 71; Merle /Vitu, Procédure pénale, Rdnr. 656; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 391; Casorla, RIDP 1995, 527; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 36. 742 Vgl Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 656. 743 Die Neuanordnung von Untersuchungshaft soll in diesem Fall nicht möglich sein. Dies wird damit begründet, daß art. 397-2 al. 3 CPP eine Untersuchungshaftanordnung im Gegensatz zu den art. 397-3 al. 2, 397-4 CPP nicht explizit nennt. Zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist ein weiterer Beschluß deshalb notwendig, weil die im Rahmen der comparution immédiate angeordneten freiheitseinschränkenden Maßnahmen der Untersuchungshaft und der gerichtlichen Aufsicht mit 739

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

Untersuchungshaft voranzugehen. Der Gesetzeswortlaut limitiert die Wirkung der aufrechterhaltenen Untersuchungshaft aber genau bis zu einer Vorführung des Beschuldigten vor den Untersuchungsrichter. Diese hat noch am selben Tag stattzufinden, andernfalls ist der Beschuldigte freizulassen. Die Entscheidung über die Ablehnung des Verfahrens unterliegt ähnlich wie die Frage nach dem Vorliegen der Anwendungsvoraussetzungen der comparution immédiate 7 4 4 in doppelter Hinsicht einem subjektiven Urteil: Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung für eine Ablehnung i.S.v. art. 397-2 al. 2 CPP ist wiederum nicht objektiv erforderlich. Das Eingreifen der Tatbestandsvoraussetzungen hängt davon ab, inwieweit das Gericht die Sache wegen des komplexen Sachverhaltes nicht für ein Verfahren im Wege der comparution immédiate für geeignet hält. Schon aus diesem Grund handelt es sich bei der (verweigerten) Ablehnungsentscheidung i.S.v. art. 397-2 al. 2 CPP um eine nicht überprüfbare Entscheidung. 745 Hinzukommt, daß die Bestimmung wiederum nur als Kann-Bestimmung gefaßt ist: Das Gericht hat - wenn es die Tatbestandsvoraussetzung der Vorschrift bejaht - die Möglichkeit, das Verfahren abzulehnen. Eine Ablehnungspflicht besteht selbst in diesem Fall nicht. 7 4 6 Daneben fällt auf, daß die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Ablehnung oder Aussetzung des Verfahrens sehr ähnlich sind: Fehlende Entscheidungsreife und (eventuell) bestehende Notwendigkeit einer zusätzlichen Beweiserhebung im Falle der Aussetzung; mangelnde Eignung der Sache für ein comparution-immédiateVerfahren aufgrund des komplexen Sachverhaltes - Notwendigkeit eingehender Ermittlungen im Falle der Ablehnung. Diese Tatbestandsvoraussetzungen unterscheiden sich nur in dem Grad der fehlenden Spruchreife. Eine sichere Abgrenzung zwischen der Aussetzung und der Ablehnung des Verfahrens wird deshalb kaum möglich sein. cc) Ablauf der Hauptverhandlung Die Hauptverhandlung der comparution immédiate beginnt mit der Vorführung des Angeklagten 747 , der zunächst zur Person vernommen wird. dem Wegfall der Rechtshängigkeit, den die Ablehnung nach art. 397-2 al. 2 CPP bedingt, automatisch ihre Rechtsgültigkeit verlieren, vgl. Circ. crim. 86-18-F1 v. 10.09.1986; Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 71. 744 Vgl. oben III. 2. c) bb) (b) (bb). 745 Cass. Crim, 26.04.1994, Bull. crim. n° 149; krit. auch Dreyfus-Schmidt, JO débats Sénat, séance du 25.07.1986, S. 3343. 746 Art. 397-2 al. 2 CPP lautet: „le tribunal peut, [...] s'il estime que la complexité nécessite des investigations supplémentaires approfondies, renvoyer le dossier au procureur de la République".

III. Gesetzliche Regelung

189

Die weitere Durchführung der unmittelbar oder mit kurzer Frist anberaumten Hauptverhandlung steht und fällt mit der Zustimmung des Beschuldigten, art. 397 CPP. Nachdem man dem Beschuldigten ursprünglich einen Anspruch auf einen Zeitraum nicht unter fünf Tagen gewährte, „um seine Verteidigung vorzubereiten" (délai pour préparer sa défense), vgl. art. 396 al. 1 CPP a.F., hat der Gesetzgeber n u n 7 4 8 die zur Verteidigungsvorbereitung bestimmte Frist dem Wortlaut nach in ein Zustimmungserfordernis (accord) abgeändert, art. 397 al. 1 CPP. Verweigert der Angeklagte seine Zustimmung, darf nicht zur Sache verhandelt werden, das Gericht ist gesetzlich gezwungen, die Verhandlung mit einer 2- bis 6-Wochen-Frist auszusetzen, art. 397-1 CPP. Zustimmungsverweigerung und die nach Einschätzung des Gerichts fehlende Spruchreife sind im Mechanismus der comparution immédiate exakt rechtsfolgengleich ausgestaltet. In beiden Fällen wird das Verfahren nach art. 397-1 CPP ausgesetzt: die Aussetzung im Falle nicht erteilter Zustimmung folgt damit den für die Vertagung wegen fehlender Spruchreife geltenden Grundsätzen und umgekehrt. Vor seiner etwaigen Zustimmung muß der Beschuldigte nach art. 397 al. 1 CPP belehrt werden, daß eine unmittelbare Hauptverhandlung nur stattfinden kann, wenn er ihr ausdrücklich zustimmt. Die Zustimmung, die in das Verhandlungsprotokoll aufzunehmen ist, art. 397 al. 2 CPP, wird außerdem nur wirksam, wenn sie in Gegenwart des gegebenenfalls mitwirkenden Verteidigers erfolgt, art. 397 al. 1 CPP. Dementsprechend ist ein Urteil, das ergeht, obwohl der Beschuldigte nicht oder nur rechtsfehlerhaft 749 zugestimmt hatte, in der Rechtsmittelinstanz aufzuheben. 750 Betrachtet man das Zustimmungserfordernis abgelöst vom Verfahren der comparution immédiate, im Kontext der übrigen korrektionalgerichtlichen Verfahrensarten, so ergibt sich in der Gesamtschau, daß in keinem Verfah747

Ein freiwilliges Erscheinen scheidet aus: Entweder befindet sich der Angeklagte in Untersuchungshaft oder er wurde bis zur Hauptverhandlung einbehalten, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 63. 748 Vgl. oben II., Fn. 524. So spricht die Lit. vereinzelt auch heute noch nicht von einem Zustimmungsrecht, sondern weiter vom „Recht des Beschuldigten, eine Verteidigungsfrist zu fordern", vgl. z.B. Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 391 (S. 455). 749 Sowohl eine unterlassene Belehrung als auch die Tatsache, daß das Recht des Beschuldigten auf Beteiligung eines Verteidigers mißachtet worden ist, stellen nach Ansicht der Rechtsprechung einen Aufhebungsgrund für das Urteil dar, vgl. Cass. crim., 7.01.1965, D. 1965, Jur., S. 114.; 11.07.1990, Bull. crim. n° 282; vgl. auch Coujard, Encycl. Dalloz, „Instruction à l'audience", Rdnr. 84. Wird eine erfolgte Belehrung lediglich versehentlich nicht in das Sitzungsprotokoll aufgenommen, so soll dieser Verstoß keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Entscheidung haben, vgl. Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 64. 750 Cass. crim, D. 1965, Jur., S. 114; Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 64.

1 9 0 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

ren des französischen Strafprozesses eine Unterschreitung der gesetzlich statuierten Mindestfrist zwischen Ladung und Hauptverhandlung 751 gegen den Willen des Beschuldigten erfolgen kann. 7 5 2 Allerdings hat eine Zustimmungsverweigerung des Beschuldigten insofern Auswirkungen, als das Gericht dann wiederum eine freiheitseinschränkende Maßnahme, Untersuchungshaft oder eine gerichtliche Aufsichtsmaßnahme, gegen den Beschuldigten anordnen bzw. aufrechterhalten kann, art. 397-3 al. 1,2 CPP. Bei erteilter Zustimmung folgt die Hauptverhandlung der comparution immédiate den für das korrektionalgerichtliche Verfahren allgemein geltenden Grundsätzen. Die Einführung einer vereinfachten Beweisaufnahme, die im beschleunigten Verfahren der StPO hinzugekommen ist, wird für das Verfahren der comparution immédiate nicht diskutiert. So ist das Prinzip der materiellen Unmittelbarkeit 753 im französischen Strafprozeß nur in eingeschränkter Form anerkannt. Insbesondere im korrektionalgerichtlichen Verfahren und im Verfahren vor dem Tribunal de police liegt der Schwerpunkt der Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren. In der Hauptverhandlung wird nicht selten nur der Angeklagte gehört, im übrigen jedoch nach Aktenlage entschieden. Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens werden in der Weise in die Hauptverhandlung eingeführt, daß sie sozusagen „zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht" werden. Das bedeutet, daß Zeugen im korrektional- und polizeigerichtlichen Verfahren zumeist nur im Ermittlungsverfahren, nicht aber in der Hauptverhandlung gehört werden. Ihre Aussage wird durch Verlesen des Vernehmungsprotokolls mittelbar in das Verfahren eingeführt, bestimmten Vernehmungsprotokollen kommt auch direkte Beweiskraft z u . 7 5 4 Beweisanträge haben im französischen Strafprozeß traditionell keinen zwingen Charakter. Ihre Ablehnung steht im weitgehend nicht überprüfbaren Ermessen der Tatgerichte. 755

751

Die mindestens einzuhaltende Frist zwischen Ladungszustellung und Hauptverhandlung beträgt grundsätzlich zehn Tage, vgl. art. 552 CPP, vgl. außerdem oben III. 3. a), insbesondere Fn. 627. 752 Vgl. hierzu Ernst, Die Haltung Deutschlands und Frankreichs zur EMRK, S. 205-208. 753 Zum Begriff der formellen und materiellen Unmittelbarkeit vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 44, Rdnr. 2. 754 Vgl. Barth, in: Perron, Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, S. 107 f.; Müller, DRiZ 1993, 383; Eser, ZStW 108 (1996), 89. 755 ygi Barth, in: Perron, Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, S. 120 ff.; Eser, ZStW 108 (1996), 89, 116 f.; Müller, DRiZ 1993, 384.

III. Gesetzliche Regelung

191

dd) Entscheidung Um den Beschleunigungseffekt des Verfahrens zu komplettieren, enthält die Regelung der comparution immédiate zwei Besonderheiten für die korrektionalgerichtliche Entscheidung: Das die erste Instanz abschließende Sachurteil muß im Verfahren der comparution immédiate dann spätestens zwei Monate nach dem erstmaligen Erscheinen des Beschuldigten vor Gericht ergehen, wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet, art. 397-3 al. 3 CPP. Wird die 2-Monats-Frist überschritten, verliert die freiheitsentziehende Maßnahme von diesem Zeitpunkt an eo ipso ihre Wirksamkeit, art. 397-3 al. 3 CPP. Das Verfahren bleibt dabei rechtshängig. 756 Weiter erleichtert die Regelung der comparution immédiate eine neben die Sachentscheidung tretende Untersuchungshaftanordnung. Während der Erlaß eines Haftbefehls bei der Urteilsfällung im Normalverfahren erst ab einem Jahr nicht (zur Bewährung) ausgesetzter 757 Freiheitsstrafe zulässig i s t , 7 5 8 setzt art. 397-4 al. 1 CPP für das Verfahren der comparution immédiate nur voraus, daß das Gericht überhaupt eine zu vollziehende Freiheitsstrafe ausspricht. Kein Unterschied zum Normalverfahren besteht, wenn ein Haftbefehl mit der Urteilsfällung aufrechterhalten werden soll. Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist im Verfahren der comparution immédiate wie im Normalverfahren grundsätzlich 759 möglich, wenn das Gericht auf eine zu vollziehende Freiheitsstrafe erkennt, art. 397-4 al. 1, 464-1, 471 CPP. Schließlich ist die Rechtsfolgenkompetenz im Verfahren der comparution immédiate über die Anwendungsbeschränkung des Verfahrens auf Delikte mit einer abstrakten Höchststrafe von ein bis sieben Jahren indirekt limitiert. 7 6 0 In diesem Rahmen steht dem Gericht allerdings die gesamte Palette der im korrektionalgerichtlichen Verfahren möglichen Rechtsfolgen zur Verfügung. 761

756 Cass. crim, 13.01.1992, Bull. crim. n° 8; 26.04.1994, Bull. crim. n° 149; 4.05.1961, Bull. crim. n° 237; Labic, Comparution immédiate, Rdnr. 37. 757 Das französische Strafrecht unterscheidet die einfache Strafaussetzung (sursis simple) und die Strafaussetzung zur Bewährung (sursis avec mise à l'épreuve), vgl. hierzu näher Zieschang, Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts, S. 163 ff.; Bernards , in: Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, S. 301 ff. 758 Vgl. art. 465 al. 1 CPP. 759 Voraussetzung der Fortdauer wie der Anordnung der Untersuchungshaft ist darüber hinaus, daß die allgemeinen Untersuchungshaftvoraussetzungen vorliegen, vgl. art. 464-1, 465 al. 1 CPP. 760 Vgl. hierzu oben III. 1. b).

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

d) Rechtsmittelverfahren Das Verfahren der comparution immédiate ist mit einer Ausnahme auf die erste Instanz beschränkt. So wurde das in art. 397-3 al. 3 CPP enthaltene Fristerfordernis in die Berufungsinstanz übernommen: Legt ein in erster Instanz im Verfahren der comparution immédiate Verurteilter, gegen den eine Untersuchungshaftmaßnahme aufrechterhalten oder neu angeordnet wurde, Berufung gegen das Urteil ein, so muß die Berufungsentscheid u n g 7 6 2 spätestens vier Monate später ergehen, art. 397-4 al. 2 CPP. Eine Überschreitung dieser Frist zieht wiederum automatisch - ohne Einfluß auf die Rechtshängigkeit zu nehmen - ex nunc die Unwirksamkeit der Untersuchungshaftmaßnahme nach sich. Abgesehen von diesem Fristerfordernis gelten für das Rechtsmittelverfahren der comparution immédiate die allgemeinen Vorschriften der art. 496 ff., 567 ff. CPP. e) Zusammenfassung Das Verfahren der comparution immédiate läßt sich zusammengefaßt als Beispiel eines abgekürzten Verfahrens nennen, das in sehr engen Zeitgrenzen abläuft und dabei hohe Strafen zuläßt. Neben der Verfahrensschnelligkeit, ist das Besondere an der comparution immédiate, daß sie als einzige Verfahrensart des französischen Strafprozesses neben der gerichtlichen Voruntersuchung einen Rückgriff auf die Untersuchungshaft ermöglicht. Versucht man die Stellung des Beschuldigten in diesem Verfahren zu bewerten, so springt aus deutscher Sicht vor allem die Tatsache ins Auge, daß das Verfahren von der Zustimmung des Beschuldigten abhängt. Damit ist das Verfahren der comparution immédiate weitaus konsensualer ausgestaltet als das beschleunigte Verfahren nach den §§ 417 ff. StPO. 761

Zu den im korrektionalgerichtlichen Verfahren möglichen Rechtsfolgen vgl. Zieschang, Das Sanktionensystem in der Reform des französischen Strafrechts, S. 61 ff., 102 ff., 122 ff., 162 ff. 762 Dies wird zum Teil mit dem Hinweis auf den etwas anderen Wortlaut bestritten: Art. 397-3 al. 3 CPP spricht von „décision au fond", art. 397-4 al. 2 CPP von „le tribunal statue". Zum Teil (CA Versailles, 7.09.1994, Bull. inf. C. cass., 1.02.1995, Nr. 130) wird daher davon ausgegangen, daß es im Rahmen des art. 397-4 al. 2 CPP schon genüge, wenn irgendeine der Sachentscheidung vorangehende gerichtliche Entscheidung innerhalb der 4-Monatsfrist ergeht. Den parlamentarischen Arbeiten läßt sich hingegen entnehmen, daß das Verfahren der comparution immédiate in der Berufungsinstanz in diesem Punkt dem erstinstanzlichen Verfahren so weit wie möglich angeglichen werden sollte. Der sich unterscheidende Wortlaut kann demnach nur eine Formulierungsschwäche darstellen, so daß sich die in art. 397-4 al. 2 CPP für das Berufungsverfahren aufgestellte Höchstfrist nach richtiger Ansicht ebenfalls auf die die Instanz abschließende Sachentscheidung bezieht. So auch Lesclous, JurCIPrP, art. 393 à 397-6, Rdnr. 74.

III. Gesetzliche Regelung

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Einer Verkürzung der Beschuldigtenstellung scheint der französische Gesetzgeber im Verfahren der comparution immédiate auch dadurch entgegengewirkt zu haben, daß er das Verfahren formal in weiten Teilen dem Normalverfahren und der gerichtlichen Voruntersuchung angeglichen hat. Insbesondere das Recht des Beschuldigten auf Mitwirkung eines Verteidigers wurde umfassend ausgestaltet. Zu begrüßen ist außerdem, daß man mit der enquête sociale rapide versucht, die sozialen und persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten in das Verfahren stärker einzubeziehen. Vordergründig ist es dem französischen Gesetzgeber damit gelungen, sowohl dem Verfahrensziel der Beschleunigung als auch den Rechten des Beschuldigten zu genügen. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, daß die Rechte des Beschuldigten nur formal, nicht aber materiell abgesichert wurden und der Preis für die erreichte Verfahrensschnelligkeit eine deutliche Abwertung der Beschuldigtenposition ist: So wird zwar jedem Beschuldigten auf seinen Wunsch hin ein Verteidiger beigeordnet; das Verteidigungsrecht des Beschuldigten wird aber weitgehend dadurch illusorisch, daß eine substantielle Verteidigung in derart kurzer Zeit schlichtweg unmöglich erscheint. Auch die Einbeziehung der persönlichen und sozialen Verhältnisse des Beschuldigten wird in diesem Zeitrahmen nur in oberflächlicher Form gelingen können. Darüber hinaus bedingt die radikale Abkürzung der Ladungsfristen erhebliche Gefahren für die Wahrheitsfindung. Kritikwürdig erscheint schließlich, daß sowohl die Anwendung wie die Ablehnung und die Aussetzung des Verfahrens weitgehend in das staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Ermessen gestellt sind. Ob mit der Cour de cassation 763 davon auszugehen ist, daß das bestehende Zustimmungsrecht diese Defizite auszugleichen vermag, erscheint zweifelhaft. 764 Zwar erhöht sich mit der Einführung des Zustimmungsrechtes der konsensuale Charakter dieser Verfahrensart, wodurch die Position des Beschuldigten in gewissem Umfang gestärkt wird. Es wäre aber falsch deshalb anzunehmen, das Verfahren habe jeglichen Unterwerfungscharakter verloren. Mit einer Ablehnung des Verfahrens kann der Beschuldigte zum einen nicht den Übergang in das Normalverfahren erzwingen, das Verfahren bleibt in dem Modus der comparution immédiate anhängig. Dabei dürfte sich außerdem auswirken, daß die Einleitung wie die (zurückgewiesene) Ablehnung dieser Verfahrensart in ein pauschales Anwendungsermessen der Rechtsanwender gestellt ist. Zum anderen ist zu bedenken, daß das Macht763

So verstößt das Verfahren nach Ansicht der Cour de cassation trotz der engen Zeitgrenzen nicht gegen das aus Art. 6 Abs. 3 d EMRK fließende Recht des Beschuldigten, ihn entlastende Zeugen zu benennen, da es dem Beschuldigten offenstehe, eine unmittelbare Verhandlung abzulehnen, Cass. crim. 18.04.1988, Bull, crim. Nr. 161. 764 Vgl. hierzu unten Dritter Teil, III. 13 Kohler

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

gefalle vom Staat zum Beschuldigten auch mit dem Bestehen eines Zustimmungserfordernisses erhalten bleibt. „Entscheidet" sich der Beschuldigte gegen eine Aburteilung im Verfahren der comparution immédiate, muß er mit mehrwöchiger Untersuchungshaft rechnen. Schon aus diesem Grund wird ein Großteil der Beschuldigten eine unmittelbar folgende Verhandlung einer ausgesetzten vorziehen. 6. Beteiligungsrechte des Deliktopfers a) Allgemeines Im französischen Strafprozeß hat der Verletzte einer Straftat, zusammengefaßt in dem Institut der action c i v i l e 7 6 5 , art. 2 CPP, verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten: Zum einen kann das Deliktsopfer einem bereits eingeleiteten Strafverfahren beitreten. Zum anderen hat das Straftatopfer, falls die Staatsanwaltschaft (noch) kein Strafverfahren eingeleitet oder das Verfahren eingestellt hat, durch Ausübung der action civile die Möglichkeit, selbständig die öffentliche Strafklage (action publique) auszulösen, art. 1 al. 2 CPP. Mit Ausübung der action civile erhält der Verletzte jeweils die Stellung einer Prozeßpartei. 766 Zweck der action civile ist außerdem, daß der Verletzte im Strafverfahren den ihm aus der Straftat resultierenden zivilen Schadensersatzanspruch geltend machen kann. 7 6 7

b) Beteiligungsrechte

an den beschleunigten Verfahrensvarianten

Beabsichtigt das Straftatopfer, von sich aus ein Strafverfahren zu erzwingen, kann es Klage vor dem Untersuchungsrichter erheben (plainte avec Constitution de partie civile, art. 85 CPP). In Vergehens- und Übertretungssachen kann der Verletzte auch direkt vor dem erkennenden Korrektionalbzw. Polizeigericht klagen, vgl. art. 418, 536 CPP. In diesem Fall muß der Geschädigte im Wege der citation directe vorgehen, er hat keine Möglichkeit, ein beschleunigtes Verfahren i.F.d. comparution immédiate oder i.F.d. convocation par procès-verbal bzw. der convocation en justice in Gang zu bringen. 7 6 8 Es bleibt dem Verletzten allerdings auch bei einem von der 765 Zur action civile allgemein vgl. Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 161 ff. 766 Zu den aus der Stellung als Prozeßpartei resultierenden Rechten vgl. Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 59 ff., S. 75 ff.; Stefani/ Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 237. 76 7 Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 163. 768 Genausowenig hat der Verletzte die Möglichkeit, im Wege des avertissement vorzugehen, vgl. Rassat, Procédure pénale, Rdnr. 255, 285.

III. Gesetzliche Regelung

195

Staatsanwaltschaft eingeleiteten beschleunigten Verfahren unbenommen, dem Verfahren nach den allgemeinen Regeln 7 6 9 beizutreten (intervention) und gegebenenfalls seinen Schadensersatzanspruch geltend zu machen. Der Beitritt zum Strafverfahren kann grundsätzlich vor oder auch noch in der Hauptverhandlung, jedoch jeweils nur in der ersten Instanz erfolgen. Dabei muß das Straftatopfer im französischen Strafprozeß über den Hauptverhandlungstermin informiert werden, wenn es wegen der Straftat Anzeige erstattet hat, art. 391 CPP. 7 7 0 Außerdem ist die Staatsanwaltschaft im Falle einer Verfahrenseinstellung generell verpflichtet, das Straftatopfer (soweit dieses ermittelt werden kann) sowie jeden, der die Straftat angezeigt hat, von der Einstellung des Verfahrens zu unterrichten, art. 40 al. 1 CPP. c) Stellung des Verletzten

in den beschleunigten Verfahrensvarianten

Zwar basieren die Verfahrensmodalitäten der convocation par procèsverbal und der convocation en justice auf einer ladungstechnischen Abweichung zum Normal verfahren. 771 Doch wirkt sich diese auf die Rechte des durch die Straftat Geschädigten nicht nachteilig aus. Seine Verfahrensstellung bleibt dabei ungeschmälert. Anders stellt sich die Situation im Verfahren der comparution immédiate dar. Obschon der Geschädigte in diesem Verfahren formal exakt die gleichen Beteiligungsrechte wie im Normalverfahren hat, führt die extreme Verfahrensverkürzung, materiell gesehen, unverkennbar zu Einbußen. So muß das Straftatopfer vom Hauptverhandlungstermin nur benachrichtigt werden, wenn es die Straftat angezeigt hat, art. 391 CPP. Allgemein wird dieser Umstand zwar nicht als benachteiligend für das Straftatopfer angesehen, da die mit der action civile verbundenen Rechte in der Bevölkerung allgemein bekannt seien. 772 Aber die Ausgangslage im Verfahren der comparution immédiate ist aufgrund der Verfahrenskürze doch eine etwas andere. Reagiert das Opfer nicht sofort, um die Straftat anzuzeigen, läuft es schlichtweg Gefahr, die Hauptverhandlung zu verpassen, mit der Folge, daß ihm der Strafrechtsweg abgeschnitten wird. Hat sich der Verletze dem Verfahren angeschlossen, so könnte es sich auf die Höhe des Schadensersatzanspruches möglicherweise positiv auswirken, 769 Zu den allgemeinen Zulässigkeits- und Formvoraussetzungen eines Beitritts vgl. Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 7, 71 ff.; Stefani/Levasseur/Bouloc, Procédure pénale, Rdnr. 16 ff., 227. 770 Es handelt sich hierbei allerdings um eine bloße Ordnungsvorschrift, deren Verletzung keinerlei Folgen nach sich zieht, vgl. Cass. crim. 5.03.1964, D. 1964, Jur., S. 45. 771 Vgl. hierzu oben III. 3. b) und III. 4. 77 2 Gewaltig, Die action civile im französischen Strafverfahren, S. 135. 13*

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

wenn sich das Opfer mit seiner Verletzung im Gerichtssaal präsentiert. In den meisten Fällen dürfte der Verletzte jedoch ein Zusammentreffen mit dem mutmaßlichen Täter so kurz nach der Tat als belastend empfinden. 773 Insoweit besteht die Gefahr, daß der Verletzte von der Möglichkeit, sich am Strafverfahren zu beteiligen und dort seinen zivilrechtlichen Entschädigungsanspruch geltend zu machen, keinen Gebrauch macht. Weiter ist zu bedenken, daß die Zeitspanne, die Zivilklage vorzubereiten und zusätzliche Zeugen zu benennen, auch für den durch die Straftat Betroffenen sehr stark verkürzt ist. Erschwerend kommt hinzu, daß das Verfahren der comparution immédiate nur von der Zustimmung des Beschuldigten abhängt, nicht von der Zustimmung der Zivilpartei. Natürlich bleibt es der Zivilpartei unbenommen, Beweisanträge zu stellen und die Aussetzung oder die Ablehnung des Verfahrens gem. art. 397-1, 397-2 al. 2 CPP zu beantragen. Da Beweisanträge jedoch im französischen Strafverfahrensrecht grundsätzlich keinen zwingenden Charakter haben, 7 7 4 die Aussetzung wie die Ablehnung des Verfahrens in das Ermessen des Gerichts gestellt sind, 7 7 5 sind diese Einflußmöglichkeiten nicht mit der zwingenden Wirkung einer Zustimmungsverweigerung des Beschuldigten i.S.v. art. 397 CPP vergleichbar. Insoweit ist sogar zu fragen, ob die Zivilpartei im Verfahren der comparution immédiate wirklich den Status einer gleichwertigen Prozeßpartei hat. Fest steht aber zumindest, daß die Verfahrensbeschleunigung im Verfahren der comparution immédiate auch zu Lasten des Straftatverletzen geht. 7 7 6

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen Die nachfolgende Darstellung beschränkt sich im wesentlichen auf das Verfahren der comparution immédiate, da dieses das beschleunigte Verfahren i.e.S. darstellt. 777 Die Variante der convocation par procès-verbal folgt weitgehend den für das Normalverfahren der citation directe geltenden Vorschriften, so daß sich rechtstatsächlich hierzu kaum Abweichungen ergeben. 773 a.A. Müller, GA 1995, 176, der die Tatsache, daß sich das Straftatopfer nur wenige Tage später erneut dem Täter gegenüber sieht, im Hinblick auf eine rasche Genugtuung als vorteilhaft einschätzt. 774 Vgl. oben III. 5. c) cc). 775 Vgl. oben III. 5. c) bb) (b) und (c). 776 In der Literatur wird die Stellung der Zivilpartei im Verfahren der comparution immédiate, soweit ersichtlich, nicht diskutiert. Lediglich in den parlamentarischen Protokollen finden sich kritische Stimmen zu diesem Thema, vgl. Dreyfus Schmidt, JO débats Sénat, séance du 15.11.1980, S. 4752; Carous, JO débats Sénat, séance du 15.11.1980, S. 4758. 777

Vgl. hierzu oben III. 5.

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

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Der Untersuchung liegt neben der zitierten Literatur ein sechswöchiges Praktikum am Korrektionalgericht in Poitiers zugrunde. 1. Überblick Bekanntestes Beispiel einer französischen Schnellgerichtspraxis ist das Korrektionalgericht in Paris: Zweimal am Tag macht ein Gefangenentransport die Runde der verschiedenen Polizeidienststellen der Stadt und bringt die zur Vorführung bereitgehaltenen Tatverdächtigen zum Gerichtsgebäude. Dort werden die Beschuldigten zunächst im sog. „Depot" abgesetzt. Hierbei handelt es sich um einen Zellentrakt mitten im Gerichtsgebäude, der ausschließlich dazu dient, die Beschuldigten nach Ablauf des Polizeigewahrsams bis zur staatsanwaltschaftlichen Vorführung einzubehalten. Die Ausstattung der Zellen und der äußere Zustand des Traktes müssen ernüchternd wirken wie ein Gefängnis aus dem letzten Jahrhundert. Je nach Ankunftszeit beträgt die Wartezeit bis zur Vorführung dort nur einige Momente oder bis zu 18 Stunden. 778 Die Vorführungen vor einen der diensthabenden Staatsanwälte, 30-50 an der Zahl, finden jeden Morgen von 9.00 bis 13.30 Uhr statt. Die Sitzung der beschleunigt anberaumten Hauptverhandlungen beginnt dann unmittelbar danach um 13.30 Uhr. Für die Durchführung der beschleunigten Verfahren sind intern spezielle Referate, die 8. Abteilung der Staatsanwaltschaft sowie die 23. Kammer des Korrektionalgerichts 779 zuständig. Zwischen Vorführung und Hauptverhandlung hat der Beschuldigte erstmals die Möglichkeit, mit seinem Verteidiger zu sprechen, in dem gleichen Zeitraum wird auch das gegebenenfalls angeforderte „summarische Sozialprofil" erstellt. 7 8 0 Ähnlich soll das beschleunigte Verfahren in Großstädten wie Lyon, Aix, Bordeaux, Toulouse, Nanterre, Marseille oder Rouen ablaufen. Nicht damit zu vergleichen ist die Anwendungssituation der comparution immédiate an kleinen und mittleren Gerichten. Aufgrund des viel geringeren Verfahrensvolumens wird die comparution immédiate dort zumeist in den normalen Ablauf (ohne Zuweisung an spezielle Referate) integriert. So werden ein, manchmal auch zwei Beschuldigte zu einer feststehenden Tageszeit dem jeweils den Bereitschaftsdienst ausübenden Staatsanwalt vorge778 Xnfft der Beschuldigte z.B. erst nach 16.00 Uhr im Gerichtsgebäude ein, wird er erst am nächsten Morgen dem Staatsanwalt vorgeführt. 779 Die angesprochenen Referate wurden landläufig als „tribunal des flagrants délits" bezeichnet, vgl. Bernat de Celis, RSC 1980, 958. 780 Vgl. hierzu die Berichte von Lévy , Le flagrant délit, S. 334, 393 ff.; Bernat de Celis, RSC 1980, 395; Hennion, Chronique des flagrants délits, S. 19 ff.; Sautereau, Philippe de Caunes, Woog, Diskussionsbeiträge in: Les procédures d'urgence, S. 209 f., 217.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

führt; die Hauptverhandlung der betreffenden comparution immédiate findet dann ein bis zwei Stunden später im Anschluß an eine am Nachmittag stattfindende Sitzung des Korrektionalgerichts statt. Unabhängig davon, wie man einem beschleunigten Verfahren bzw. dessen Rechtswirklichkeit gegenüberstehen mag, ist die französische Gerichtspraxis auf jeden Fall beispielhaft dafür, wie ein beschleunigtes Verfahren organisatorisch sehr erfolgreich in den allgemeinen Gerichtsalltag integriert werden konnte. Das Verfahren der comparution immédiate wird allerorts routiniert durchgeführt und ist fester Bestandteil jeder korrektionalgerichtlichen Verfahrenspraxis geworden. 2. Zahlenmäßige Bedeutung a) Gesamtfranzösische

Anwendungssituation

Die große Bedeutung des beschleunigten Verfahrens läßt sich an Hand der gefühlten Statistiken belegen, die aktuell erzielten Anwendungszahlen sind beachtlich: Über die Hälfte aller korrektionalgerichtlichen Verfahren 781 (56,4%) wurden im Jahre 1996 beschleunigt verhandelt. 782 Aussagekräftiger als die beeindruckende Gesamtzahl ist jedoch die konkrete Anwendungshäufigkeit der einzelnen Varianten: Im eigentlichen Schnellverfahren, der comparution immédiate, wurden im genannten Zeitraum 9,6 % der Verfahren vor den Korrektionalgerichten durchführt. 46,8 % entfielen auf die Verfahrensvariante der convocation par procès-verbal, wobei hier die ohne direkte Beteiligung der Staatsanwaltschaft eingeleitete convocation par procès-verbal par l'officier de police judiciaire mit 44,8 % ganz klar dominiert. 7 8 3 781 Das Verhältnis der am Korrektionalgericht erledigten Verfahren zu den am Schwurgericht in erster Instanz erledigten Verfahren ist mit ca. 250 zu 1 noch einseitiger als das Verhältnis der erledigten Verfahren Amtsgericht - Landgericht in erster Instanz. Im Jahre 1991 standen beispielsweise 455.670 Verfahren am Tribunal correctionnel 1.813 erstinstanzlich geführten Verfahren am Schwurgericht gegenüber, vgl. Annuaire statistique de la Justice 1991-1992, S. 79; Annuaire statistique de la France 1993, S. 841 (P-Ol-5); vgl. hierzu außerdem die Zahlen in: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Strafgerichte 1996, S. 12, 42. Für den Stellenwert der beschleunigten Verfahrensvarianten bedeutet dies, daß der am korrektionalgerichtlichen Verfahrensvolumen ermittelte Anteil der beschleunigten Verfahren kaum merklich über dem Anteil liegt, den diese Verfahren an allen in erster Instanz durchgeführten Strafverfahren einnehmen. 782 Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87. 783 Für die übrigen Klagemöglichkeiten vor dem Korrektionalgericht ergeben sich folgende Prozentsätze: citation directe: 37%, gerichtliche Voruntersuchung: 6,6%; vgl. hierzu: Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87. (Die im Wege des avertissement erhobenen Anklagen sind in den Rechtspflegestatistiken nicht gesondert aufgeführt. Die Angaben in: Les chiffres-clés de la Justice, Okt. 1995, S. 14,

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

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Betrachtet man die statistische Entwicklung der letzten Jahre, so liegt den momentan sehr hohen Anwendungszahlen ein kontinuierlicher Anstieg zugrunde. Dieser setzte zu Beginn der 80er Jahre langsam e i n 7 8 4 und setzte sich mit der Gesetzesänderung aus dem Jahre 1986 verstärkt fort: Der prozentuale Anteil der comparution immédiate hat sich von 5,9% (1987) auf 10,2% (1994) 7 8 5 nahezu verdoppelt, in den Jahren 1995 und 1996 ist erstmals ein leichter Rückgang (um 0,6 % ) 7 8 6 zu verzeichnen. Noch stärker ist die bei der convocation par procès-verbal zu beobachtende Anwendungssteigerung. Der Durchbruch des Verfahrens, das zuvor einen vergleichsweise geringen Stellenwert einnahm, 787 erfolgte mit Einführung der polizeilichen Variante im Jahre 1986. Von diesem Zeitpunkt an deuten darauf hin, daß die Zahlen der citation directe auch die formlos mittels avertissement eingeleiteten Verfahren umfassen. Der zahlenmäßige Anteil der durch avertissement eingeleiteten Verfahren dürfte allerdings sehr gering sein.) 784 Bis ins Jahr 1986 führen die Rechtspflegestatistiken die Verfahrensvarianten der comparution immédiate und der convocation par procès-verbal nicht getrennt auf. Der Anteil des gesamten beschleunigten Verfahrens (comparution immédiate und convocation par procès-verbal bzw. bis 1981: „flagrant délit" und bis 1983: „saisine directe") am korrektionalgerichtlichen Verfahrensvolumen stieg von 3,7% (1980) auf 5,2% (1983), vgl. La justice pénale en 1983, S. 16; Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 107; vgl. außerdem Lévy , Du flagrant délit à la comparution immédiate, S. 5, 8, 10. 785 Vgl. Annuaire statistique de la France 1993, S. 841 (P.01^/P.01-5); Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 107; Les chiffres-clés de la Justice, Okt. 1995, S. 14; Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87. Die von Müller, G A 1995, 176, angeführten Werte stimmen insoweit nicht mit den hier genannten Werten überein, als Müller in die Berechnung der korrektionalgerichtlichen Verfahren die nach einer gerichtlicher Voruntersuchung durchgeführten Verfahren nicht miteinbezieht. 786 Vgl. Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87. Den offiziellen Rechtspflegestatistiken ist in den Jahren 1995, 1996 nicht mehr wie in den Jahren zuvor, die Anzahl der nach einer gerichtlichen Voruntersuchung durchgeführten korrektionalgerichtlichen Verfahren zu entnehmen, vgl. Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 107; Annuaire statistique de la France 1993, S. 841 (P.01-5). Sondern es werden nunmehr nur noch die Anzahl der Beschuldigten mitgeteilt, gegen die nach einer gerichtlichen Voruntersuchung ein Verfahren vor den Korrektionalgerichten durchgeführt worden ist, vgl. Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 87. Deshalb wurde die Anzahl der korrektionalgerichtlichen Verfahren nach gerichtlicher Voruntersuchung für die Jahre 1995, 1996 wie folgt bestimmt: Ausgehend davon, daß in Rechtspflegestatistiken für die Jahre 1989-1991 sowohl die Anzahl korrektionalgerichtlicher Verfahren nach gerichtlicher Voruntersuchung, vgl. Annuaire statistique de la France 1993, S. 841 (P.01-5), als auch die Anzahl dieser Beschuldigten mitgeteilt wird, vgl. Annuaire statistique de la Justice 1991-1992, S. 87, wurde für diese Jahre jeweils das Verhältnis der Vergleichswerte (Anzahl Beschuldigter - Anzahl Verfahren) errechnet. Der Mittelwert hieraus betrug 1,72 mit einer Abweichung von weniger als 0,0046. Mittels dieser Verhältniszahl wurden für die Jahre 1995, 1996 aus der mitgeteilten Beschuldigtenanzahl die Anzahl der korrektionalgerichtlichen Verfahren nach gerichtlicher Voruntersuchung errechnet.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

stieg die zahlenmäßige Bedeutung des Verfahrens steil an (1987: 6,3%, 1990: 16%, 1994: 36,9%, 1996: 46,8 % ) . 7 8 8 Der Aufwärtstrend ist jedoch allein auf Seiten der neu eingeführten polizeilichen Variante zu verbuchen. Für die ursprüngliche, staatsanwaltschaftliche convocation par procèsverbal, deren Anwendungszahlen seither ohne größere Veränderungen zwischen 2-2,5 % pendeln 7 8 9 , besteht seit der Einführung der viel einfacher zu handhabenden convocation en justice keine Aussicht mehr, sich in der Praxis stärker durchzusetzen. b) Die Anwendungssituation der beschleunigten Verfahrensvarianten im Kontext der allgemeinen korrektionalgerichtlichen Strafklagestatistik Die wachsende Bedeutung der beschleunigten Verfahrensvarianten wirkt sich naturgemäß auf den Stellenwert der übrigen korrektionalgerichtlichen Verfahrensarten aus. 7 9 0 Hierbei ist zu beobachten, daß comparution immédiate und convocation par procès-verbal i.F.d. convocation en justice jeweils zu einer ganz bestimmten Verfahrensart in Anwendungskonkurrenz treten: Während die Zuwachsraten der convocation en justice mit den Anwendungsverlusten der ursprünglich das korrektionalgerichtliche Verfahren dominierenden citation directe korrespondieren, steht die steigende Anwendungshäufigkeit der comparution immédiate in direktem Zusammenhang mit der Anwendungssituation der gerichtlichen Voruntersuchung. 791 Diese wird inzwischen nur noch in ca. 6 - 7 % aller korrektionalgerichtlichen Verfahren praktiziert. 792 Interessant ist in dem letztgenannten Zusammenhang allerdings, daß keine Verkürzung der allgemeinen Untersuchungshaftdauer zu beobachten ist, obwohl die kurzzeitige Untersuchungshaft innerhalb der comparution immédiate einen immer größeren Anteil an den Untersuchungshaftzahlen einnimmt: Der Anteil der innerhalb der comparution immédiate 787

Vgl. Lévy, Le flagrant délit, S. 380; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 391; Billières , in: Les procédures d'urgence, S. 203; Bernat de Celis , RSC 1980, 959 (Fn. 3). 788 Vgl. Annuaire statistique de la France 1993, S. 841 (P.01-4/P.01-5); Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 107; Les chiffres-clés de la Justice, Okt. 1995, S. 14; Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87. 789 Zu den genauen Prozentsätzen vgl. die Zahlen in Annuaire statistique de la France 1993, S. 841 (P.Ol^/P.Ol-5); Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 107; Les chiffres-clés de la Justice, Okt. 1995, S. 14; Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87. 790 Vgl. hierzu die Zahlen in: La justice pénale en 1983, S. 16; Annuaire statistique de la France 1993, S. 841 (P.01-4/P.01-5); Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 107; Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87. 791 So auch Casorla, RIDP 1995, 528, 534. 792 Vgl. Pradel, RIDP 1995, 330; Casorla, RIDP 1995, 534, sowie die Zahlen in Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 83, 87.

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verhängten Untersuchungshaft an den gesamten Untersuchungshaftzahlen stieg von 14,7% (1987) auf 31,8% (1991), 7 9 3 während die Untersuchungshaftdauer in demselben Zeitraum bei 3,7 bis 3,8 Monaten stagnierte. (In den Jahren davor war die Untersuchungshaftdauer kontinuierlich von 2,1 Monaten (1970) über 3 Monate (1980) auf 3,8 Monate (1987) gestiegen.) Mit der stärkeren Nutzung der comparution immédiate wird demnach offenbar nur die steigende Untersuchungshaftdauer aufgefangen. c) Regionale Verteilung

der beschleunigten Verfahrensvarianten

Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die Gesamtstatistik regionale Unterschiede in der Anwendungshäufigkeit der comparution immédiate einebnet. In Großstädten ist der Stellenwert des beschleunigten Verfahrens traditionell sehr hoch. Insbesondere die Metropole Paris nimmt hier seit jeher eine Vorreiterrolle ein. 7 9 4 Allein der Anteil der comparution immédiate am gesamten korrektionalgerichtlichen Verfahrensvolumen beträgt am Korrektionalgericht in Paris inzwischen ca. 3 0 % . 7 9 5 Ähnliche Werte werden u. a. für Bordeaux, Nanterre, Aix, Toulouse oder L y o n 7 9 6 genannt. Die Verfahrensverteilung innerhalb der einzelnen Gerichte ist oft nur gerichtsinternen Statistiken zu entnehmen, so daß die exakte regionale Verteilung, insbesondere außerhalb der großen Bevölkerungsagglommerationen, nur schwer zu ermitteln ist. Setzt man die hohe Anwendungshäufigkeit an einzelnen Korrektionalgerichten zu den Weiten der allgemeinen französischen Gerichtsstatistik in Bezug, so steht zumindest fest, daß die zahlenmäßige Bedeutung der comparution immédiate im klein- und mittelstädtischen Bereich weitaus geringer sein muß. A m Korrektionalgericht in Poitiers wurden z.B. im Jahre 1997 104 comparution-immédiate-Verfahren durchgeführt. Der Grund für diese regional unterschiedliche Anwendungssituation der comparution immédiate dürfte zum einen darin zu sehen sein, daß sich beschleunigte Verfahren an Großstadtgerichten grundsätzlich sehr viel leichter 793

Tournier , Démographie des prisons françaises - toujours plus?, S. 94 f. Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 36; Lévy , Le flagrant délit, S. 408 ff. 795 Vgl. Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 33, 35. Dies entspricht in absoluten Zahlen ungefähr 9.500 Verfahren pro Jahr. 796 Der Anteil der comparution immédiate betrug dort nach Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 18, im Jahr 1990 (vor Beginn der Modellphase des traitement direct, vgl. hierzu unten IV. 3.) 26%. Erstaunlicherweise soll die polizeiliche Variante der convocation par procès-verbal nur in 2% praktiziert worden sein, die staatsanwaltschaftliche convocation par procès-verbal dagegen in 6%, was deutlich über dem Landesdurchschnitt läge. 794

2 0 2 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

als an klein- und mittelstädtischen Gerichten organisieren lassen. Dies schon deshalb, weil sich aufgrund des größeren Verfahrensvolumens zwangsläufig mehr Fälle dem beschleunigten Verfahren zuführen lassen, mit der Folge, daß die Durchführung beschleunigter Verfahren speziellen Abteilungen zugewiesen werden kann, was wiederum die Durchführung beschleunigter Verfahren in großer Zahl erleichtert. An klein- und mittelstädtischen Gerichten müssen die beschleunigten Verfahren dagegen zumeist in den normalen Verfahrensablauf integriert werden. Zum anderen weisen Großstädte im Unterschied zu Klein- und Mittelstädten i.d.R. einen höheren Ausländeranteil sowie mehr Durchreisende auf. Da ausländische Personen und Personen mit ungeklärten Aufenthaltsverhältnissen die typischerweise im Verfahren der comparution immédiate verfolgte Tätergruppe darstellen, 797 erklärt sich auch hieraus die Tatsache, daß comparutionimmédiate-Verfahren in Großstädten überproportional häufig zur Anwendung kommen. Bei der Anwendung der convocation par procès-verbal gibt es dagegen keine Abweichungen zu der allgemeinen Gerichtsstatistik: Die polizeiliche Variante wird auch im mittel- und im kleinstädtischen Bereich immer häufiger, die staatsanwaltschaftliche ziemlich selten praktiziert. 3. Die beschleunigten Verfahrensvarianten im Modell des traitement direct a) Das Modell des traitement direct Sehr hohe Anwendungszahlen des beschleunigten Verfahrens sind insbesondere in Zusammenhang mit dem Stichwort „traitement direct" 7 9 8 festzustellen. Unter diesem Schlagwort laufen seit 1991/92 an den Korrektionalgerichten Pontoise, L y o n 7 9 9 und Bobigny 8 0 0 Modellprojekte, deren Übernahme eventuell für den gesamten großstädtischen Korrektionalgerichtsbereich anvisiert w i r d . 8 0 1 Das Modell des traitement direct läßt sich grob als Umstrukturierung der bestehenden Strafverfolgungspraxis an der Schnittstelle Polizeibehörde Staatsanwaltschaft beschreiben. Den Ansatzpunkt der Kritik bildet die verfestigte und zeitaufwendige Praxis, nach der die polizeilichen Ermittlungs797

Vgl. hierzu unten IV. 9. Das angesprochene Modell wird gleichbedeutend auch „traitement en temps réel" bezeichnet, vgl. Pansier , GP 1995, 1, S. 277; Pradel , Procédure pénale, Rdnr. 381. 799 Zu den Erfahrungen des traitement direct in Lyon, vgl. Joly-Sibuet , Etude des flux pénaux du tribunal de grande instance de Lyon. 800 Pansier , GP 1995, 1, S. 277; ders., RSC 1993, 163 ff. 801 Das Justizministerium erstellte im Jahre 1996 die Broschüre „Le traitement en temps réel", die allen Staatsanwaltschaften zuging, vgl. Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 381. 798

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behörden den weit überwiegenden Teil der Ermittlungen selbständig durchführen. Die Staatsanwaltschaft erhält von der Straftat erst nach Abschluß der Ermittlungen Kenntnis, indem ihr von der Polizei die Ermittlungsakten übersandt werden (traitement dit par courrier). 802 Eine tatsächliche Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft zu Beginn und während des Ermittlungsverfahrens erfolgt nur in den als komplex eingeschätzten Sachverhalten, teilweise auch dann, wenn eine Vorführung erfolgen soll. Die Idee des traitement direct 8 0 3 sieht dagegen vor, daß die Staatsanwaltschaft über alle Straftaten, bei denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, von dem betreffenden Ermittlungsbeamten telefonisch unterrichtet wird. Dies geschieht unmittelbar nach der polizeilichen Vernehmung, noch während der Tatverdächtige zugegen ist. Wenn möglich, trifft die Staatsanwaltschaft direkt eine Strafverfolgungsentscheidung, indem sie entweder Anklage i.F.d. citation directe oder der convocation en justice erhebt, sich den Beschuldigten zur Durchführung eines beschleunigten Verfahrens oder zur Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung vorführen läßt, die Strafsache einem Täter-Opfer-Ausgleich zuführt oder das Verfahren einstellt. Erscheint ihr eine endgültige Entscheidung über die weitere Strafverfolgung zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sinnvoll, ordnet die Staatsanwaltschaft weitere Ermittlungen a n . 8 0 4 Das Konzept des traitement direct stellt zum einen den Versuch dar, die rechtstatsächlich ausgehebelte Leitungsfunktion der Staatsanwaltschaft über die polizeiliche Ermittlungstätigkeit i.S.v. art. 12 CPP wieder in die Praxis zurückzuholen. 805 Zum anderen zielt die Umstrukturierung auf eine Beschleunigung und Effektivierung des Strafverfahrens. 806 Von der schnelleren und konsequenteren Verfahrenserledigung wiederum verspricht man sich einen motivationssteigernden Effekt auf die polizeiliche Ermittlungstä802 V g l Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 381; Lévy , Le flagrant délit, S. 311 ff., 322 ff. So auch für die deutsche Strafverfahrenspraxis: Blankenburg/Sessar/Steffen, Die Staatsanwaltschaft im Prozeß strafrechtlicher Sozialkontrolle, S. 91; Gössel, G A 1980, 347. 803 Zum Modell des traitement direct vgl. Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 53 ff.; Pansier , GP 1995, 1, S. 276 f.; ders., RSC 1993, 163 f.; Accomando/Guery, GP 1997, 1, S. 2; Pradel, Procédure pénale, Rdnr. 381. 804 In Lyon soll die Entscheidung in 75% der ankommenden Fälle sofort gefällt werden können, vgl. Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 22, 24. Pansier , GP 1995, 1, S. 277, spricht in Zusammenhang mit Bobigny von 80% der Strafsachen, die Gegenstand einer unmittelbaren Erledigung werden. 805 Pradel Procédure pénale, Rdnr. 381; Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 19 f., 23, 54; Pansier , GP 1995, 1, S. 276; Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 207. 806 Im Rahmen des traitement dit par courrier vergehen zumeist mehrere Wochen bis Monate ehe eine Akte an das Gericht übersandt und bearbeitet wird, vgl. JolySibuet, Etude des flux, S. 21; Pansier , GP 1995, 1, S. 275.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

tigkeit sowie eine adäquate Täter- wie Opferbehandlung, weil dann sowohl Straftäter wie -opfer eine unmittelbare Reaktion auf die Straftat erleben können. 8 0 7 b) Rechtstatsächliche Auswirkungen In tatsächlicher Hinsicht verzeichnet man in Zusammenhang mit der Praktizierung des traitement direct übereinstimmend einen überdimensionalen Anstieg der beschleunigten Verfahrensvarianten. 808 Die zitierten Untersuchungen setzen den Anteil der beschleunigten Verfahrensvarianten am gesamten Verfahrensvolumen des traitement direct mit ca. 80% a n . 8 0 9 Dabei entfielen in der von Joly-Sibuet in Lyon geführten Untersuchung im November 1992 25,5% auf das Verfahren der comparution immédiate und 55,5% auf das Verfahren der polizeilich eingeleiteten convocation par procèsverbal. Die Dominanz der beschleunigten Verfahrensvarianten resultiert vor allem daraus, daß der Beschuldigte, wenn die Polizei jeweils zu Beginn der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft herantritt, noch nicht aus dem Polizeigewahrsam entlassen ist, eine Vorführung vor den Staatsanwalt zu diesem Zeitpunkt mithin noch ohne weiteres angeordnet werden kann. Da die Modellvorgaben des traitement direct auf eine Strafverfahrensbeschleunigung und damit auch auf eine Ausdehnung der beschleunigten Veifahrensvarianten zielen, wird im Rahmen des traitement direct außerdem versucht, möglichst viele Verfahren diesen Verfahrensmodalitäten zuzuführen. Schließlich scheint das Verfahren der citation directe im Modell des traitement direct überflüssig zu werden. Da die Staatsanwaltschaft nun nicht mehr nur die Ermittlungsakte nach Abschluß der Ermittlungen zugeleitet erhält, sondern direkt mit dem ermittelnden Polizeibeamten kommuniziert, das Verfahren der convocation en justice außerdem weitaus einfacher als die citation directe zu handhaben i s t , 8 1 0 dürfte die Staatsanwaltschaft in fast allen Fällen, in denen sie traditionell ein schriftliches Ladungsverfahren durchgeführt hätte, den betreffenden Polizeibeamten anweisen, den Beschuldigten unmittelbar zu laden. 8 1 1 807

Pansier , GP 1995, 1, S. 276. So generell Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 32, Fn. 6; Accomando/Guery , GP 1997, 1, S. 3. 809 Vgl. Pansier , GP 1995, 1, S. 277; Joly-Sibuet , Etude des flux, S. 18. Zu beachten ist allerdings, daß nur ein Teil der Strafreferate das Modellprojekt des traitement direct durchführt, so daß die genannten Zahlenwerte nicht mit dem Anteil der beschleunigten Verfahrensvarianten am gesamten korrektionalgerichtlichen Verfahrensvolumen identisch sind. 810 Vgl. oben III. 4. 811 Das Verfahren der citation directe wurde in der von Joly-Sibuet durchgeführten Untersuchung im November 1992 nur noch in 2% durchgeführt. Das Verfahren 808

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

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Kritiker sehen in dem neuen Modell des traitement direct neben einer überhasteten Strafverfahrenseinleitung vor allem die Gefahr, daß die Konzentration der Strafverfolgungstätigkeit zu sehr auf den Delikten ruht, die direkt erledigt werden können. Dies sind vor allem einfache und beweisklare Fälle der kleinen bis mittleren Kriminalität, bei denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Erste Erfahrungen mit dem Modell des traitement direct haben gezeigt, daß die Polizei in diesem Bereich effektiver und intensiver ermittelt und auch die Staatsanwaltschaft weniger Verfahren einstellt. 8 1 2 Insoweit wird befürchtet, daß der kleinen und mittleren Kriminalität überdimensional viel Beachtung geschenkt wird, während die Strafverfolgung komplexer und schwerer Kriminalität demgegenüber zurückfällt. 813 So hat Joly-Sibuet festgestellt, 814 daß die durchschnittliche Dauer der Ermittlungsverfahren nach Einführung des traitement direct sogar deutlich zugenommen hat. Es erscheint somit fraglich, ob das Modell des traitement direct absolut gesehen beschleunigend wirkt oder ob es nicht vielmehr nur eine sektorale Beschleunigungsverlagerung bzw. eine Scherenbildung nach sich zieht. 4. Dauer der comparution immédiate Was den zeitlichen Umfang der comparution immédiate angeht, so ist hier anders als in der Anwendungspraxis des beschleunigten Verfahrens nach den §§ 417 ff. StPO, 8 1 5 eine sehr einheitliche Handhabung der verschiedenen Gerichte zu beobachten. Diese Übereinstimmung ist schon dadurch bedingt, daß die gesetzliche Regelung der comparution immédiate in diesem Punkt nur wenig Spielraum läßt: Der Beschuldigte wird dem Gericht grundsätzlich noch am Tag der staatsanwaltschaftlichen Vorführung, spätestens am übernächsten Werktag vorgeführt. 816 Die eigentliche Dauer des Verfahrens ist allerdings nicht ganz identisch mit der Zeitspanne zwischen Vorführung und Hauptverhandlung. Genausowenig läßt sich die comparution immédiate als „Verfahren mit dem Urteil noch am Tattage" apostrophieren. 817 Dies selbst dann nicht, wenn die der staatsanwaltschaftlichen convocation par procès-verbal spielt in der Praxis des traitement direct ebenfalls praktisch keine Rolle (0,5%). Dagegen scheint die gerichtliche Voruntersuchung mit 21 % wieder eine stärkere Bedeutung zu haben, vgl. Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 16 ff. 812 Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 12 f., 20; Pansier , GP 1995, 1, S. 277 f. 813 Accomando/Guery, GP 1997, 1, S. 3; Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 24 f. 814 Joly-Sibuet, Etude des flux, S. 21. 815 Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. a) aa). 816 Vgl. oben III. 5. a) u. b). 817 In diese Richtung allerdings Müller, GA 1995, 173; SY&tVO-Paeffgen, Vor § 417, Rdnr. 3.

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2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

Hauptverhandlung am Tag der Vorführung stattfindet: Zu bedenken ist, daß der staatsanwaltschaftlichen Vorführung in der Praxis i m m e r 8 1 8 bis zu 24, eventuell sogar bis zu 48 Stunden Polizeigewahrsam vorausgehen. Die Vorführung vor den Staatsanwalt findet deshalb meistenfalls nicht mehr am Tat- bzw. am Festnahmetag, sondern frühestens am Folgetag statt. 8 1 9 Eine weitere zeitliche Dehnung des Verfahrens entsteht in der Praxis schließlich dadurch, daß der Zeitraum zwischen Ende des Gewahrsams und Beginn der Vorführung - der wie oben beschrieben 820 - weder gesetzlich geregelt noch von Seiten der Rechtsprechung näher eingegrenzt worden ist, in der Praxis zum Teil erheblich ausgedehnt wird. Insbesondere an großen Korrektionalgerichten besteht die Praxis, den Beschuldigten nach Ablauf des Gewahrsams über Nacht im Gerichtsgebäude einzubehalten, wenn es für die Vorführung vor den Staatsanwalt und das erkennende Gericht noch am selben Tag zu spät ist. In diesem Fall ergibt sich zusätzlich zu der Dauer des polizeilichen Gewahrsams eine weitere Zeitspanne von 12-18 Stunden. 821 An kleineren Gerichten, an denen man oft nicht die Möglichkeit hat, den Beschuldigten über Nacht einzubehalten, ist eine derart großzügige, den Polizeigewahrsam ausdehnende Handhabung nicht zu beobachten. Hier werden allenfalls ein bis zwei Stunden überbrückt: Da der Verhaftete nach Ablauf des Gewahrsams dort nicht mehr festgehalten werden darf, bringt man ihn danach z.B. schon zwei Stunden vor der angesetzten Vorführung ins Gerichtsgebäude, um ihn dann zusammen mit den beiden Aufsicht führenden Polizeibeamten ein bis zwei Stunden vor dem Dienstzimmer des Staatsanwaltes, dem er später vorgeführt wird, warten zu lassen. Faßt man das oben Festgestellte zusammen, so nimmt das Verfahren der comparution immédiate, geht man von der Variante der comparution immédiate mit unmittelbarer Vorführung des Beschuldigten vor Gericht aus, im allgemeinen einen Zeitraum von zwei bis drei Tagen in Anspruch. 8 2 2 Das bedeutet, daß das Verfahren spätestens in einer Woche abgeschlossen ist, wenn der Hauptverhandlung eine ein- bis dreitägige Untersuchungshaft vorausgeht. 823

818 Vgl. Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 112; Philippe de Caunes, Diskussionsbeitrag in: Les procédures d'urgence, S. 210; Joly-Sibuet , Etude de flux, S. 71; Lévy y Le flagrant délit, S. 322. 819 So auch Lévy , Le flagrant délit, S. 347, 389; Lévy , Les „flags", S. 99 f. 820 Vgl. hierzu oben III. 2. a). 821 Vgl. hierzu Lévy , Le flagrant délit, S. 343. 822 Lévy , Le flagrant délit, S. 347, 389; ders ., Les „flags", S. 99 f., nennt folgende Prozentsätze: ein Tag: 0,8%, zwei Tage: 62%, drei Tage: 29,4%, vier Tage: 5,4%, sechs Tage: 0,8%; Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 118: eindrei Tage: 77,9%.

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

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5. Bedeutung der staatsanwaltschaftlichen Vorführung Die Vorführung vor den Staatsanwalt ist im Gesetz die zentrale Eingangsvoraussetzung der comparution immédiate. Nach dem Gesetzestext entscheidet sich hier, ob gegen den Beschuldigten ein beschleunigtes Verfahren eingeleitet wird. In der Realität hat die Vorführung jedoch kaum mehr als formalen Charakter. Zum einen wird die Vorführung zeitlich im allgemeinen sehr kurz gehalten, sie dauert im ganzen nicht länger als fünf Minuten. 8 2 4 Lévy führt diese Tatsache auf den Zeitdruck zurück, welcher auf einem Staatsanwalt laste, der an einem Morgen zwischen 30 und 50 Fälle zu entscheiden hat. 8 2 5 Aber auch an kleinen Gerichten, die kaum mehr als ein beschleunigtes Verfahren pro Tag durchführen, ist die Wirklichkeit keine andere. Die Befragung 8 2 6 des Beschuldigten erfolgt im allgemeinen nur kursorisch, zum Teil konstatierend, ohne daß auf Details in Zusammenhang mit der Tat oder der Person des Täters eingegangen würde. Dem Beschuldigten wird im wesentlichen mitgeteilt, daß ihn ein beschleunigtes Verfahren erwartet, außerdem wird der Beschuldigte über sein Recht auf Mitwirkung eines Verteidigers belehrt. Insoweit kann man davon ausgehen, daß eine Belehrung des Beschuldigten über sein Recht auf Mitwirkung eines Verteidigers durchweg erfolgt. Qualitativ wird die Belehrung allerdings sehr großzügig gehandhabt. Sie erschöpft sich regelmäßig in der Frage, „ob der Beschuldigte sich verteidigen läßt". Daß ein Beschuldigter aus dieser Frage sein Recht auf die für ihn kostenlose Bestellung eines Verteidigers durch das Gericht entnehmen kann, erscheint doch zweifelhaft. Trotz dieser Praxis ist die Verteidigerquote im beschleunigten Verfahren ausgesprochen hoch. 8 2 7 Dies kann eigentlich nur darauf beruhen, daß die Verteidigungsrechte unter den Beschuldigten allgemein bekannt sind. Der Staatsanwalt geht bei der Vernehmung i.w.S anhand eines schon teilweise ausgefüllten Standardformulars vor, das er abhakt und stichwortartig vervollständigt. Das ausgefüllte Formular stellt dann das die comparution immédiate endgültig einleitende Vorführungsprotokoll dar. 823

Nach einer Statistik für das Jahr 1994 wurden im Verfahren der comparution immédiate ungefähr ein Viertel der Beschuldigten dem Gericht aus der Untersuchungshaft vorgeführt, vgl. Les chiffres-clés de la Justice, Okt. 1995, S. 14. 824 So auch Lévy , Le flagrant délit, S. 361 f.; Lévy , Les „flags", S. 110 f. 825 Lévy, Le flagrant délit, S. 361 ff. 826 Die Vorschrift des art. 393 CPP, nach der der Beschuldigte ausdrücklich belehrt werden muß [vgl. III. 2. b)], daß er nur auf seinen Wunsch hin aussagen kann, wird in der Praxis anscheinend ignoriert. Der Beschuldigte wird statt dessen ohne Belehrung, wenn auch zeitlich sehr kurz, vernommen. So auch Lévy , Le flagrant délit, S. 364. 827 Vgl. unten IV. 7.

2 0 8 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Als sehr störend mutet außerdem an, daß die für beschleunigte Verfahren zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft nach der internen Zuständigkeitsverteilung gleichzeitig auch den staatsanwaltschaftlichen Bereitschaftsdienst wahrzunehmen hat: So wird die Vorführung immer wieder durch Telefonanrufe von außen unterbrochen, weil der betreffende Beamte nicht einmal für die Dauer der Vorführung von dem Bereitschaftsdienst befreit i s t . 8 2 8 Von der kurzen Dauer abgesehen, entpuppt sich die Vorführung auch inhaltlich als relativ unbedeutend. Die eigentliche Entscheidung fällt schon vor der eigentlichen Vorführung, nämlich bei Einsicht in die betreffende Akte durch die Staatsanwaltschaft oder am Telefon, falls Staatsanwaltschaft und Polizei in der Strafsache direkt kommunizieren. Die Praxis der Gerichte ist in diesem Punkt unterschiedlich: An Großstadtgerichten werden die Ermittlungen (sieht man von den neuen Modellversuchen des „traitement direct" a b ) 8 2 9 in vielen Fällen von dem die Ermittlung leitenden Polizeibeamten selbständig abgeschlossen. 830 Speziell für die beschleunigten Verfahren heißt dies, daß der jeweilige Polizeibeamte zunächst für sich eine Vorauswahl trifft, welche Fälle er als für ein beschleunigtes Verfahren geeignet und damit eine Vorführung erfordernd ansieht. Die betreffenden Akten leitet er an die für beschleunigte Verfahren zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft weiter. Diese entscheidet dann anhand der Akten, inwieweit sie sich den Beschuldigten wirklich vorführen lassen w i l l . 8 3 1 An Provinz- oder Kleinstadtgerichten verfügt die Polizei nicht über eine solche Selbständigkeit; die Leitungsfunktion der Staatsanwaltschaft ist hier seit jeher stärker ausgeprägt, so daß der Frage der Vorführung zumeist ein direkter Kontakt zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft vorausgeht. 832 Die Staatsanwaltschaft läßt sich jeden Morgen routinemäßig von der diensthabenden Polizeidienststelle über die Vorkommnisse der vergangenen 24 Stunden informieren und entscheidet dann zu diesem Zeitpunkt, inwieweit ein festgehaltener Tatverdächtiger zur Einleitung eines beschleunigten Verfahrens vorgeführt werden soll. Gleich ob die Entscheidung am Telefon oder nach Aktenstudium erfolgt, der zu diesem Zeitpunkt eingeschlagene Weg kann als der endgültige bezeichnet werden. Die eigentliche Vorführung führt nur noch in Ausnahmefällen zu einer Umorientierung. 833 Die Vorführung erhält damit mehr den Charakter einer offiziellen Bekanntgabe der Verfolgungsart an den Be828 829 830 831

So auch Lévy , Le flagrant délit, S. 361. Vgl. hierzu oben IV. 3. a). Vgl. oben IV. 3. a). Vgl. hierzu Lévy , Les „flags", S. 106-108; ders. , Le flagrant délit, S. 312 ff.,

327 ff. 832

Lévy , Le flagrant délit, S. 329.

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

209

schuldigten, mit einer wirklichen Entscheidungsfindung hat sie i.d.R. weniger zu t u n . 8 3 4 Neben der eigentlichen Frage nach dem Zeitpunkt der Entscheidung wird aber auch deutlich, welch entscheidende Rolle der polizeilichen Tätigkeit vor allem im großstädtischen Bereich zukommt. 8 3 5 Natürlich entscheidet letztendlich ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, welchen Beschuldigten er sich vorführen läßt. Die Staatsanwaltschaft reagiert dabei jedoch bloß innerhalb eines von der Polizei eingegrenzten Terrains. D. h. ihre Entscheidungsgewalt ist in dem Sinne eingeschränkt, als sie nur in den ihr vorgelegten Fällen Entscheidungen treffen kann, sie hier die Aburteilung im beschleunigten Verfahren ablehnen oder zulassen kann. Umgekehrt hat die Staatsanwaltschaft keinerlei Möglichkeit, andere als die ihr vorgelegten Fälle zum Kreis der beschleunigten Verfahren hinzuzunehmen. Von den Fällen, in denen der zuständige Polizeibeamte ein beschleunigtes Strafverfahren ablehnt, erhält der betreffende Staatsanwalt keine Kenntnis. Diese werden von der Polizei nach Abschluß der Ermittlungen an die für Normalverfahren oder für gerichtliche Voruntersuchungen zuständigen Abteilungen weitergereicht. Die für Normalverfahren zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft 8 3 6 kann zu diesem Zeitpunkt schon deshalb kein comparution-immédiate· Verfahren (mehr) einleiten, weil die Polizei den Tatverdächtigen inzwischen schon wieder aus ihrem Gewahrsam entlassen hat. An kleineren Gerichten wird die staatsanwaltschaftliche Entscheidung über die Einleitung einer comparution immédiate nicht in dem Maße von der polizeilichen Einschätzung, inwieweit sich eine Sache für ein beschleunigtes Verfahren eignet, beeinflußt, da Polizei und Staatsanwaltschaft jeweils telefonisch absprechen, welche in Polizeigewahrsam befindlichen Tatverdächtigen vorgeführt werden sollen. Allerdings kommt es auch hier zu einem die Verfahren der comparution immédiate und der convocation par procès-verbal - positiv oder negativ - determinierenden Faktor insofern, als 833 Allgemeine Ansicht, vgl. Lévy , Les „flags", S. 108; ders., Le flagrant délit, S. 364; Woog , Diskussionsbeitrag in: Les procédures d'urgence, S. 217; Robin , in: Les procédures d'urgence, S. 230; Labic , Comparution immédiate, Rdnr. 10. 834 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch die Tatsache, daß das die comparution immédiate einleitende Protokoll schon teilweise vor der eigentlichen Vorführung ausgefüllt wird. 835 Lévy , Le flagrant délit, S. 322 ff.; Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 117. 836 Lediglich die für gerichtliche Voruntersuchungen zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft hätte die Möglichkeit, anstelle einer gerichtlichen Voruntersuchung ein beschleunigtes Verfahren einzuleiten. Der Beschuldigte wird dem Untersuchungsrichter, wenn er zuvor in Polizeigewahrsam genommen worden ist, meistenfalls (insbesondere in Untersuchungshaftfällen) ebenfalls aus dem Polizeigewahrsam vorgeführt. 14 Kohler

2 1 0 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

der Staatsanwaltschaft sich die Frage der Einleitung eines beschleunigten Verfahrens nur in den Fällen stellt, in denen die Polizei den Tatverdächtigen in Gewahrsam genommen hat. Insoweit trifft die Polizei auch in diesem Fall mit der Anordnung eines Polizeigewahrsams eine Vorauswahl in Richtung einer der beschleunigten Verfahrensvarianten. In der Praxis hat sich außerdem gezeigt, daß die Staatsanwaltschaft weitgehend die polizeiliche Einschätzung übernimmt - sowohl hinsichtlich der Frage der Eignungsvoraussetzungen für die comparution immédiate als auch bzgl. der genauen rechtlichen Qualifikation. 837 In stillschweigenden Einvernehmen zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft soll dabei auch von dem rechtstatsächlichen Phänomen der „correctionnalisation judiciaire" 8 3 8 Gebrauch gemacht werden: 8 3 9 Hierbei wird eine Straftat, die eigentlich ein Verbrechen darstellt, nur als Vergehen verfolgt, indem bestimmte erschwerende Tatumstände außer acht gelassen werden oder entsprechende Umstände rechtlich anders geweitet werden. Speziell im Verfahren der comparution immédiate wird insbesondere von der in die gleiche Richtung gehenden Handhabung der sog. „requalification" Gebrauch gemacht. Gegenstand der von den Strafverfolgungsbehörden vorgenommenen Korrektur bilden in diesem Fall Straftaten, die zwar ein Vergehen darstellen, die aber deshalb aus dem Anwendungsbereich der comparution immédiate herausfallen, weil sie unter einen Straftatbestand mit einer Maximalstrafe von über sieben Jahren Freiheitsstrafe zu subsumieren sind. Um hier trotzdem ein beschleunigtes Verfahren durchführen zu können, läßt man bei der rechtlichen Einordnung, wie im Rahmen der correctionnalisation judiciaire, bestimmte qualifizierende Elemente unberücksichtigt, so daß sich auf diesem Weg ein Straftatbestand ergibt, dessen Maximalstrafe unter sieben Jahren Freiheitsstrafe liegt. Im übrigen geht man davon aus, daß der betreffende Staatsanwalt oft nicht mehr als den die Akte einleitenden zusammenfassenden Polizeibericht liest, so daß auch insoweit der polizeilichen Einschätzung ein unverhältnismäßig hohes Gewicht zukommen dürfte.

837

Lévy , Le flagrant délit, S. 364. Vgl. hierzu, Merle/Vitu y Procédure pénale, Rdnr. 602 ff.; Barth, in: Perron, Die Beweisaufnahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, S. 98 ff. 839 Lévy , Le flagrant délit, S. 353. Robin , in: Les procédures d'urgence, S. 230, spricht in diesem Zusammenhang von „flagrandélise". Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 121, hat im Verfahren der comparution immédiate einen gegenüber dem Normalverfahren erhöhten Prozentsatz herabgestufter Verbrechen beobachtet. 838

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

211

6. Die Hauptverhandlung im Verfahren der comparution immédiate a) Einzelheiten Die Hauptverhandlung ist der unauffälligste Verfahrensabschnitt der comparution immédiate. 840 Der äußere Ablauf entspricht, sieht man von dem Zustimmungserfordernis des Beschuldigten ab, dem Normalverfahren, 841 die entscheidenden Weichen sind an dieser Stelle längst gestellt. Kennzeichnend für die Rechtswirklichkeit der comparution immédiate an Großstadtgerichten ist allerdings die schnelle Abfolge der einzelnen Verhandlungen. An einem Nachmittag müssen oft mehr als 30 Personen abgeurteilt werden, die Verhandlungen erfolgen dementsprechend Schlag auf Schlag im 10-15-Minutentakt. Eine eingehende Beweisaufnahme oder eine nähere Beschäftigung mit der Person des Angeklagten können in diesem Zeitrahmen nicht stattfinden. An kleineren Gerichten mit zumeist kaum mehr als einem oder zwei beschleunigten Verfahren an einem Tag werden dagegen im allgemeinen keine zeitlichen Abstriche an der Hauptverhandlung vorgenommen. 842 Vielfach verläuft die Hauptverhandlung im Vergleich zum Normalverfahren sogar etwas ruhiger. Das liegt daran, daß das beschleunigte Verfahren am Nachmittag nach Abschluß der jeweiligen Sitzung vom Vormittag verhandelt wird. Erfolgt die Terminierung jeder Strafsache im deutschen Strafprozeß gesondert, werden im französischen Strafverfahren grundsätzlich zwischen fünf bis sieben Strafsachen zusammen auf dieselbe Uhrzeit terminiert. Das bedeutet, daß alle am Verfahren Beteiligten (Beschuldigte, 840

So auch Lévy , Le flagrant délit, S. 393. Das ist vielleicht auch der Grund, warum die angeführten empirischen Untersuchungen zum Verfahren der comparution immédiate bis auf die Strafenverteilung nicht auf die Hauptverhandlung der comparution immédiate eingehen. 841 Vgl. oben III. 5. c) cc). 842 An kleineren Gerichten wird dagegen allenfalls die Spruchkörperbesetzung gerügt. Die comparution-immédiate-Verfahren werden hier weitgehend in den normalen Verfahrensablauf integriert, so daß die jeweilige Hauptverhandlung zumeist im Anschluß an eine am Nachmittag stattfindende Sitzung durchgeführt wird. Angesichts der geringeren personellen Kapazitäten sowie der Tatsache, daß nicht jeden Nachmittag eine strafrechtliche Sitzung des Korrektionalgerichts stattfindet, kommt vor diesem Hintergrund das Prinzip des „juge unique", wonach dieselben Richter sowohl Straf- als auch Zivilgerichtsbarkeit auszuführen haben (vgl. Levasseur/Chavanne/MontreuiU Droit pénal général et procédure pénale, Rdnr. 272), stärker zum tragen. Es kommt deshalb nicht selten vor, daß im Verfahren der comparution immédiate auch zur Zeit vorwiegend in Zivilrechtsstreitigkeiten urteilende Richter als Mitglied der erkennenden Spruchkammer eingeteilt werden. Das Ergebnis sind „eigenartige" Kammerbesetzungen und für die Staatsanwaltschaft wenig kalkulierbare Urteilsergebnisse. 14*

2 1 2 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

Zeugen, Zivilparteien, Anwälte) von Beginn der Sitzung an im Gerichtssaal anwesend sind, den Saal aber auch, solange ihre Sache noch nicht verhandelt wird, jederzeit verlassen und wieder aufsuchen können. Die Geräuschkulisse und die Unruhe, die das Geschehen beherrschen, sind dementsprechend groß, zumal die Anwälte, die an der gerade laufenden Verhandlung nicht beteiligt sind, oftmals wenig still agieren. Eine Hauptverhandlung, bei der nur die Beteiligten des Verfahrens selbst zugegen sind, nimmt im Vergleich dazu einen geradezu ruhigen Verlauf. Die Höhe der Zeugenbeteiligung im Verfahren der comparution immédiate ist bislang, soweit ersichtlich, nicht untersucht worden. Dies dürfte vor allem daran liegen, daß sich die korrektionalgerichtliche Praxis - mangels Geltung eines materiellen Unmittelbarkeitsprinzips im französischen Strafprozeßrecht 843 - auch im Normalverfahren zumeist mit der Verlesung einer im Vorverfahren protokollierten Zeugenaussage begnügt, ohne die Zeugen in der Hauptverhandlung noch einmal zu hören. Die Verlesung von Zeugenaussagen ist deshalb für das korrektionalgerichtliche Verfahren schlechthin typisch und kein speziell bei beschleunigter Verfahrensführung zu beobachtendes Phänomen. Auch die in Zusammenhang mit der Ablehnung des Verfahrens gemachten Erfahrungen sind statistisch nicht erfaßt. Unter den befragten Praktikern wird allgemein davon ausgegangen, daß eine Ablehnung der comparution immédiate seitens des Gerichts extrem selten erfolgt. So wird berichtet, daß das Gericht seine Ablehnung der staatsanwaltschaftlichen Verfolgungsentscheidung in der Praxis viel eher mittels einer deutlichen Unterschreitung des von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaßes ausdrückt, als daß es das Verfahren der comparution immédiate ablehnte. 844 b) Das Zustimmungsrecht des Beschuldigten in der Praxis Fragt man nach dem Zustimmungsrecht des Beschuldigten, dessen Übernahme auch in das beschleunigte Verfahren der StPO diskutiert w i r d , 8 4 5 belegt zumindest die französische Prozeßwirklichkeit, daß der Angeklagte in kaum einem der Fälle von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch macht. Im Hintergrund steht hier zum einen sicherlich die Angst vor der dann unweigerlich drohenden Untersuchungshaft. Zum anderen fällt auf, daß eine wirkliche Aufklärung über den Bedeutungsgehalt des Zustimmungserfordernisses seitens des Gerichts nicht stattfindet. Die Hauptverhandlung wird mit der mechanisch gestellten Frage: „Est-ce que vous voulez être jugé au843 844 845

Vgl. hierzu oben III. 5. a) sowie III. 5. c) cc). Vgl. oben III. 5. c) bb) (c). Vgl. hierzu unten Dritter Teil, III.

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

213

jourd'hui?" oder „Est-ce que vous êtes d'accord d'être jugé aujourd'hui?" eingeleitet. Irgendwelche darüber hinausgehenden Ausführungen erfolgen nicht. Auch von seiten der Anwaltschaft wird hier im Vorfeld anscheinend zu wenig Aufklärungsarbeit geleistet. Diesen Mangel verdeutlicht ein Erlebnis, bei dem der Angeklagte (offenbar zur Überraschung des Gerichts) eine unmittelbare Hauptverhandlung spontan abgelehnt hat. Erst danach begann der Verteidiger seinen Mandanten über den Bedeutungsgehalt des Zustimmungserfordernisses aufzuklären, mit der Folge, daß der Angeklagte einlenkte und in die unmittelbare Verhandlung einwilligte. Dies läßt darauf schließen, daß der Beschuldigte keine Ahnung hatte, ob und mit welchen Folgen er einer unmittelbaren Verhandlung widersprechen kann. Auch sonst gewinnt man nicht den Eindruck, daß die Angeklagten die Bedeutung der Frage nach der sofortigen Durchführung der Hauptverhandlung wirklich erfaßt haben. Spruchkörper und Verteidiger gehen vielmehr einheitlich von der standardmäßig erfolgenden Zustimmung aus. Der Spruchkörper hat an einem Abbruch des Verfahrens zu diesem Zeitpunkt naturgemäß kein Interesse; und von seiten der Anwaltschaft wird die Zustimmungsverweigerung ebenfalls anscheinend nicht ernsthaft ins Auge gefaßt. Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund der praktischen Handhabung hat das Zustimmungserfordernis im Verfahren der comparution immédiate nicht mehr als nur formelle Bedeutung. In diese Beobachtung fügt sich ein, daß weder im Schrifttum noch in den empirischen Untersuchungen diskutiert wird, ob bzw. welche nachteiligen Folgen sich für den Angeklagten aus einer verweigerten Zustimmung ergeben. 7. Comparution immédiate und Verteidigung Die Verbindung von beschleunigtem Verfahren und Anwaltsbeteiligung hat sich in der französischen Gerichtspraxis organisatorisch durchweg als unproblematisch erwiesen. Überall bestehen 846 gut funktionierende anwaltschaftliche Bereitschaftsdienste, so daß für jeden Verhandlungstag je nach

846 So wird lediglich aus den 70er Jahren berichtet, daß die zu dieser Zeit anlaufenden Bereitschaftsdienste nur lückenhaft funktioniert hätten, und das Recht des Beschuldigten auf Anwaltsbeiziehung vielfach ignoriert worden sei. Diese organisatorischen Schwächen bezogen sich jedoch allesamt auf das nach der damaligen Gesetzesfassung bestehende Recht des Beschuldigten, die Anwesenheit eines Verteidigers schon für den Zeitraum der staatsanwaltschaftlichen Vorführung zu fordern, vgl. Lévy, Le flagrant délit, S. 366-370; ders., „Les flags", S. 113-115. Seit der Gesetzesänderung aus dem Jahre 1981, die das Anwesenheitsrecht des mitwirkenden Verteidigers wieder zurückgenommen hat, spielen die erwähnten organisatorischen Mängel nach allgemeinen Aussagen keine Rolle mehr.

2 1 4 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

Geschäftsanfall des Gerichts ein oder mehrere Verteidiger bereitstehen, um bei Bedarf die Verteidigung(en) zu übernehmen. 847 Der Unterschied zur deutschen Gerichtspraxis ist u.a. der, daß man dem beschleunigten Verfahren in Frankreich allgemein mit weniger Ablehnung begegnet. 848 Von justizministerieller Seite und von seiten der Rechtsanwender wird eine Anwendung der comparution immédiate grundsätzlich gefördert. Selbst das Schrifttum steht dem Verfahren der comparution immédiate vielfach positiv 8 4 9 oder zumindest indifferent 8 5 0 gegenüber. 851 Insoweit dürften die organisatorischen Voraussetzungen für eine kurzfristige Verteidigung in der französischen Strafprozeßrechtswirklichkeit insgesamt selbstverständlicher und bereitwilliger geschaffen worden sein. Diese Mitwirkungsbereitschaft besteht im allgemeinen auch unter der Anwaltschaft. Zwar lehnt die Mehrheit der französischen Anwälte das Verfahren der comparution immédiate a b . 8 5 2 Die finanziell vergleichsweise schlechte Situat i o n 8 5 3 französischer Anwälte überdeckt allerdings ihre Kritik, so daß die meisten Anwälte im Ergebnis doch bereitwillig Mandate im Verfahren der comparution immédiate übernehmen. Fast allen Beschuldigten steht im Verfahren der comparution immédiate ein Verteidiger zur Seite, i.d.R. nehmen die Beschuldigten das Recht auf Bestellung eines Amtsverteidigers wahr. Die hohe Verteidigerquote ist allerdings nicht nur für das Verfahren der comparution immédiate, sondern auch für das Normalverfahren bzw. für den französischen Strafprozeß schlechthin typisch: So ist das Recht des Beschuldigten, sich einen Verteidiger beiordnen zu lassen, dessen Kosten bei Bedarf von staatlicher Seite übernommen werden, im französischen Recht umfassend ausgestaltet. 854

847 Vgl. hierzu Müller, GA 1995, 174; Sauterau, Dikussionsbeitrag in: Les procédures d'urgence, S. 208 f.; krit.: Damien, GP 1976, 1, S. 338. 848 Vgl. z.B. Billières , in: Les procédures d'urgence, S. 205. 849 So z.B. Pradel, D. 1984, Chr., S. 82; Merle/Vitu , Procédure pénale, Rdnr. 305; Bitti, Arch. pol. crim. n° 16 (1993), S. 32; Périer-Daville , GP 1982, 2, S. 312; ders ., GP 1987, 1, S. 312. 850 Vgl. Labic , Comparution immédiate, Rdnr. 5 ff.; Lesclous , JurCIPrP, art. 393 à 397-6; Stefani/Levasseur/Bouloc , Procédure pénale, Rdnr. 506 f., 655 ff.; Soyer , Droit pénal et procédure pénale, Rdnr. 618; Couvrat , D.1976, Chr., S. 47; Robert , JCP 1975, 1.2729 (III § 2, Rdnr. 76). 851 Kritik an dem Verfahren findet sich vor allem in den empirischen Untersuchungen von Lévy , Les „flags"; ders., Le flagrant délit; Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 93 ff.; außerdem bei Merle , GP 1980, 1, S. 267; Bouzat/Pinatel, Rdnr. 1352; Conte/Chambon, Procédure pénale, Rdnr. 264; Puech, ALD 1983, 116. 852 Vgl. z.B. Robert, Diskussionsbeitrag in: Les procédures d'urgence, S. 208. 853 Brei, Verteidigerhandeln, S. 96; Müller, GA 1995, 174. 854 Vgl. hierzu oben III. 2. d).

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

215

Die Vorbereitungszeit für die einzelne Verteidigung ist, wie zu erwarten, sehr knapp. Der Verteidiger tritt gewöhnlich 8 5 5 erst nach der Vorführung des Beschuldigten vor den Staatsanwalt in das Verfahren ein. An Großstadtgerichten hat ein Verteidiger nicht selten bis zu acht Verteidigungen pro Verhandlungstag zu übernehmen. Insoweit bleibt ihm zumeist kaum mehr als eine halbe oder eine Stunde Zeit, die Akten einzusehen, sich mit dem Angeklagten zu besprechen und sich Gedanken über den Inhalt seiner Verteidigung zu machen. A m Korrektionalgericht in Poitiers werden zwar allenfalls ein oder zwei comparution-immédiate-Verfahren pro Tag durchgeführt. Da jedoch die Vorführungen vor den Staatsanwalt dort jeweils kurz vor dem Beginn der Hauptverhandlung am frühen Nachmittag stattfinden, ist der Zeitraum, der dem Verteidiger zur Verfügung steht, ebenfalls nicht viel länger. Im günstigsten Fall hat er dazu die Zeit von zweieinhalb Stunden. Neben dem immensen Zeitdruck werden von seiten der Anwaltschaft hauptsächlich die ungünstigen äußeren Bedingungen, in denen die Unterredung mit dem Mandanten stattfinden muß, kritisiert: Dem Beschuldigten werden oft nicht einmal während der Unterredung mit seinem Verteidiger die Handschellen abgenommen oder/und die den Beschuldigten vorführenden Polizeibeamten bleiben während des Gespräches anwesend. 856 Dazu kommt, daß teilweise nicht einmal ein gesonderter Raum zur Verfügung steht, so daß sich der Verteidiger mit seinem Mandanten auf dem Flur besprechen muß. 8 5 7 Ein Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Verteidiger wird unter diesen Umständen kaum entstehen können. Wie in der Verfahrenswirklichkeit des b b V 8 5 8 ist auch hier zu bemängeln, wie man von seiten des Gerichts mit dem (in der Praxis allerdings seltenen) Wunsch des Beschuldigten, sich von einem Wahlverteidiger verteidigen zu lassen, umgeht. 8 5 9 Kann der gewünschte Verteidiger aus terminlichen Gründen die Verteidigung nicht so kurzfristig übernehmen, wird das Verfahren ebenfalls nicht ausgesetzt. 860 Dem Beschuldigten wird nach Aussagen der befragten Praktiker statt dessen der eingetragene Pflichtverteidiger beigeordnet, das Verfahren der comparution immédiate wird durchge-

855 Da das Verfahren der comparution immédiate in der Praxis immer nach vorläufigem Polizeigewahrsam stattfindet, hat der Beschuldigte nur ausnahmsweise wenn die Dauer des Gewahrsams 20 Stunden übersteigt - das Recht, einen Anwalt zu sprechen, vgl. oben III. 2. d). Allein in diesem Fall kann sich ein Verteidiger schon vor der staatsanwaltschaftlichen Vorführung mit der Sache befassen. 856 So auch Hennion , Chronique des flagrants délits, S. 192. 857 So auch Sauterau, Diskussionsbeitrag in: Les procédures d'urgence, S. 207209. 858 Vgl. hierzu oben Erster Teil, IV. 4. g). 859 Vgl. hierzu die Erfahrungen im beschleunigten Verfahren, Erster Teil, IV. 4. g). 860 Die Vertagung fordern Doli, GP 1976, 1, S. 34; Damien, GP 1976, 1, S. 338.

2 1 6 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

führt. Der Beschuldigte kann die Durchführung des beschleunigten Verfahren allenfalls dadurch blockieren, daß er im weiteren Verlauf des Verfahrens die nach art. 396 CPP erforderliche Zustimmung verweigert. M i t Art. 6 Abs. 3c EMRK erscheint diese Praxis nicht ohne weiteres vereinbar. Parallelen zu den rechtstatsächlichen Erfahrungen mit dem beschleunigten Verfahren bestehen außerdem insoweit, 8 6 1 als die Verteidigung auch im Verfahren der comparution immédiate zumeist allein das Strafmaß zum Gegenstand hat, während der im staatsanwaltschaftlichen Vernehmungsprotokoll angenommene Sachverhalt und die darin enthaltene rechtliche Wertung nicht angegriffen werden. Die Verteidigung wendet sich dabei einerseits gegen die Wahl der comparution immédiate als Verfolgungsart. Dabei werden eben nicht die Anwendungsvoraussetzungen der angeklagten Strafsache für die comparution immédiate in Frage gestellt; die Verteidigung pflegt allein darauf abzuheben, daß die angeklagte Tat nicht nach einer schnellen und harten Reaktion i.F.d. comparution immédiate seitens der Justiz verlange. Auch diese Haltung deutet darauf hin, daß das Verfahren der comparution immédiate nicht nur ein schnelles Strafverfahren ist, sondern daß das Verfahren auch als repressives, eine strenge Bestrafung favorisierendes Mittel gegen bestimmte Straftäter und -taten eingesetzt w i r d . 8 6 2 Zum anderen konzentriert sich die Verteidigungsleistung auf die Täterpersönlichkeit. Angefangen mit der defizitären Kindheit und den ausweglosen Verhältnissen, denen der Angeklagte entstamme, bis hin zu seiner aktuellen, sozial prekären Situation in materieller, familiärer und gesundheitlicher Hinsicht, wird versucht, der nachfolgenden Sanktion etwas an Härte zu nehmen. Dabei macht die Verteidigung die Auswertung „des summarischen Sozialprofils" zum zentralen Inhalt ihres Plädoyers. 863 Wurde ein solches Sozialprofil nicht erstellt, werden vergleichbare Gesichtspunkte angeführt. Die Einbeziehung der Täterpersönlichkeit und die Berücksichtigung der sozialen und persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten sind an sich nur zu begrüßen. Allerdings wird man vor Ort den Eindruck nicht los, daß sie nicht wirklich stattfindet, sondern daß schablonenhaft bei allen Angeklagten auf das gleiche Täterprofil abgehoben wird. So wird bei jedem Angeklagten in sehr ähnlichem Wortlaut ausgemalt, warum gerade dieser Angeklagte aufgrund seiner sozialen Perspektivelosigkeit nach einer „letzten Chance" i.F.e. Haftsurrogats oder einer Strafaussetzung bedürfe. Dabei sind die Plädoyers französischer Verteidiger durchweg sehr viel theatralischer, emotionaler und weitaus ausschweifender gehalten als die Plädoyers ihrer deut861

Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. g). Vgl. hierzu unten IV. 10. 863 So auch Faget, RSC 1997, 804, der die Verteidigung im Verfahren der comparution immédiate aufgrund der raschen Verfahrensabwicklung im übrigen als „parodique" bezeichnet. 862

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

217

sehen Kollegen. 8 6 4 Für einen deutschen Beobachter wirkt dies - insbesondere weil die Plädoyers im Verfahren der comparution immédiate wenig fundiert erscheinen - etwas übertrieben. Dies verdeutlicht noch einmal, daß die rasche Verfahrensabwicklung der comparution immédiate der Verteidigung keinen Raum läßt, sich mit den persönlichen und sozialen Verhältnissen des Beschuldigten eingehend vertraut zu machen und eine individuelle Verteidigung aufgrund des immensen Zeitdrucks nicht gelingen kann. 8. Die enquête sociale rapide im Verfahren der comparution immédiate Die enquête sociale rapide wird in Frankreich seit Beginn der 80er Jahre praktiziert. 865 In der Anfangsphase war das Institut einerseits sehr überschwenglich begrüßt, 866 von anderer Seite, v.a. der Staatsanwaltschaft und teilweise auch der Sozialarbeiterschaft, massiv abgelehnt worden. Die Staatsanwaltschaft sah mit der enquête sociale in ihre Verfahrensherrschaft eingegriffen. Die Sozialarbeiterschaft lehnte teilweise grundsätzlich jeglichen Kontakt zu Polizei und Strafjustiz ab und wollte auf keinen Fall in irgendeiner Form in den Strafprozeß und den Justizapparat integriert werden. 8 6 7 Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. Die summarische Untersuchung zum sozialen Hintergrund des Beschuldigten hat mittlerweile in der französischen Strafprozeßwirklichkeit ihren festen Platz, die ursprüngliche Euphorie wie die extremen Abneigungen sind gewichen. Die enquête sociale rapide, die von ihrer theoretischen Konzeption in erster Linie zur Untersuchungshaftverkürzung und -Vermeidung beitragen soll, 8 6 8 wird im französischen Strafprozeß seit jeher schwerpunktmäßig auch im Verfahren der comparution immédiate eingesetzt. 869 Sie fungiert dort nicht so sehr als Entscheidungshilfe bei der Frage der Untersuchungshaft. Im Verfahren der comparution immédiate hat sie vielmehr die Funktion, Hilfestellungen bei der Strafzumessung zu geben und somit Haftstrafen zu vermeiden. Die nachfolgende Darstellung bezieht sich im wesentli864 Vgl. hierzu Brei, Verteidigerhandeln, S. 100, der die französische Anwaltschaft vor allem durch das gekonnte Plädieren gekennzeichnet sieht. 865 Zu den Hintergründen und zur Entwicklung der enquête sociale rapide vgl. Faget, RSC 1997, 789 ff.; ders., RSC 1990, 844 ff.; C.L.C.J, Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 3 ff.; vgl. außerdem oben III. 2. c) bb) (b) (dd). 866 Vgl. z.B. Bernat de Celis, RSC 1980, 966, welche die enquête sociale rapide etwas verklärt als eine „... enclave d'humanité dans un engrenage punitif begreift oder in diesem Zusammenhang von „de faire accepter l'exigence d'une justice fraternelle" spricht. 867 Vgl. Faget, Les enquêtes sociales rapides, S. 5. 868 Vgl. oben III. 2. c) bb) (b) (dd). 869 Vgl. Faget, Les enquêtes sociales rapides, S. 5; ders., RSC 1997, 791; Bernat de Celis, RSC 1980, 958 ff.; dies., Arch. pol. crim. V (1982), S. 124.

2 1 8 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

chen auf die Auswirkungen der enquête sociale rapide im Verfahren der comparution immédiate, auf die Anwendung des Instituts als Haftentscheidungshilfe soll hier nicht eingegangen werden. a) Praktische Durchführung Das summarische Sozialprofil wird von Sozialmitarbeitern erstellt. Die Tätigkeit erfolgt im Rahmen der sog. „POP" (permanences d'orientation pénale) 870 , einer Art Sozialdienst, der fest mit dem jeweiligen Korrektionalgericht zusammenarbeitet. Welche privaten oder staatlichen Organisationen diesen Dienst übernehmen und wie genau die Zusammenarbeit organisiert wird, ist Sache jedes einzelnen Gerichts. Dementsprechend variieren von Gericht zu Gericht die organisatorischen Rahmenbedingungen für die enquête sociale rapide (z.B. findet die Untersuchung zum Teil im Gerichtsgebäude, zum Teil auf der Polizeidienststelle oder in den Räumen der jeweiligen Organisation statt). 8 7 1 Das summarische Sozialprofil wird im Verfahren der comparution immédiate nach der Vorführung vor den Staatsanwalt erstellt. Die Untersuchung beginnt mit einem 20- bis 30-minütigen Gespräch zwischen Sozialmitarbeiter und Beschuldigtem. Ziel der Unterredung ist es (zumeist an Hand eines vorgefertigten Fragenkatalogs), möglichst viele Informationen über die aktuelle soziale und persönliche Situation des Beschuldigten zu sammeln, d.h. konkret: Informationen über seine familiären, beruflichen und materiellen Verhältnisse, über seine Wohnungssituation, seinen Schul- und Ausbildungsstand, über etwaig bestehende Gesundheits- oder Suchtprobleme sowie über einschneidende Erlebnisse seiner Vergangenheit. In der Praxis hat sich gezeigt, daß die Beschuldigten i.d.R. sehr bereitwillig an der Untersuchung teilnehmen und kaum einmal die Erstellung der Analyse, wie gesetzlich möglich, ablehnen oder nur auf bestimmte Fragen eingehen. 872 In einem zweiten Schritt versucht der Sozialmitarbeiter die Ausführungen des Beschuldigten zu verifizieren, indem er Personen aus dessen unmittelbarem Umfeld (Arbeitgeber, Familienmitglieder, betreuende Ärzte oder Sozialhelfer usw.) telefonisch kontaktiert. Gleichzeitig sollte der Sozialmitarbeiter möglichst schon zu diesem Zeitpunkt eine konkrete soziale Integrationsmöglichkeit für den Beschuldigten vorbereiten, indem er 870 Seit dem Jahre 1989 ist jedes Tribunal de grande instance verpflichtet, diesen Sozialdienst fest einzurichten, vgl. hierzu Faget, RSC 1990, 845 ff.; Circ. crim. 892-E. v. 5./7.04.1989 abgedruckt in: C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 18-21. 871 Vgl. Faget, RSC 1997, 793 f. (I. A. 2.), 795 f. (II. A.); ders., RSC 1990, 845; C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 10. 872 So auch Bernat de Celis, RSC 1980, 959.

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

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Kontakte zu sozialtherapeutischen Einrichtungen herstellt, Wohnraum, einen Therapie- oder Arbeitsplatz vermittelt sowie Hilfsangebote staatlicher Institutionen oder Einrichtungen freier Träger ausmacht. Das Ergebnis der Untersuchung wird in einem richt festgehalten und den Akten beigefügt. 873 ist, daß es sich um eine „schnelle" Untersuchung handelt, so daß der dafür angesetzte Zeitrahmen als zwei Stunden liegt. b) Auswirkungen auf das Verfahren

zwei- bis dreiseitigen BeDem Gutachten immanent zum sozialen Hintergrund insgesamt bei nicht mehr

der comparution immédiate

Von Praktikerseite wird der Nutzen des summarischen Sozialprofils unterschiedlich eingeschätzt. So wird berichtet, daß die Staatsanwaltschaft das Profil weniger aus Überzeugung anfordere als um die Erwartungshaltung ihrer Vorgesetzten und die der Richterschaft zu befriedigen. 874 Das erstellte Gutachten werde von der Staatsanwaltschaft vielfach zu den Akten genommen, ohne daß sie sich mit dem Inhalt befaßt habe, geschweige denn, daß sie es in ihre Verfolgungsentscheidung habe einfließen lassen. Auf die Zahl der eingeleiteten comparution-immédiate-Verfahren hat das Institut des summarischen Sozialgutachtens demnach keinen Einfluß. Dagegen steht die überwiegende Zahl der Richter dem neueren Institut insgesamt sehr positiv gegenüber; denn insbesondere im Verfahren der comparution immédiate ist die Erkenntnisbasis für die der Strafzumessung vorangehende Sozialprognose sehr schmal. Den Richtern liegen normalerweise - wenn ein Sozialprofil nicht erstellt wurde - nur der Polizeibericht und das Protokoll der staatsanwaltschaftlichen Eingangsvorführung vor, so daß die meisten Richter einfach dankbar sind, irgend etwas über die Person des Beschuldigten 875 an die Hand zu bekommen. 876 Allerdings wird von seiten der Richter vielfach moniert, die Untersuchungen würden zu schablonenhaft und zu oberflächlich geführt. Die Analysen seien zumeist nicht ausreichend substantiiert, faßten nur die mit dem Beschuldigten geführte Unterredung zusammen, statt ein ergebnisorientiertes Sozialgutachten zu liefern. Vielfach agierten die Sozialarbeiter auch insofern zu subjektiv, als sie im Hinblick auf die Zielrichtung des Gutachtens alle Beschuldigten mit einer möglichst günstigen Sozialprognose ausstatteten. Bemängelt wird außerdem, 873

Vgl. C.L.C.J., Guide pour la pratique de l'enquête sociale rapide, S. 10-12; Faget, RSC 1990, 846 f.; Bernat de Celis, RSC 1980, 959 f. 874 Faget, RSC 1997, 792. 875 Angesichts dieser praktischen Ausrichtung vermittelte die Situation am Korrektionalgericht in Poitiers den Eindruck, daß die Grenzen zur Täterpersönlichkeitsuntersuchung doch etwas verwischt werden. 876 Faget, RSC 1997, 793; Bernat de Celis, RSC 1980, 964.

2 2 0 2 . Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

daß die Analysen zu selten konkrete soziale Integrationsmöglichkeiten aufzeigten. 877 Viele Sozialarbeiter haben demgegenüber, v.a. in der Anfangsphase des Instituts, die schlechten äußeren Bedingungen beanstandet, unter denen die Untersuchungen laufen mußten. Ein Teil der Sozialarbeiter hat sich außerdem über eine diskriminierende Behandlung durch die Justizorgane beklagt. Inzwischen wird unter den Mitarbeitern, die die enquête sociale durchführen, nicht selten eine resignative Haltung beobachtet. 878 Die Frage, inwieweit die Praktizierung der enquête sociale rapide im Verfahren der comparution immédiate konkret zu einer Verringerung der Haftstrafen geführt hat, läßt sich nur schwer beantworten. 879 Im Schrifttum wird darauf hingewiesen, daß zuverlässige Aussagen hierzu nicht möglich seien, da der französische Richter nicht verpflichtet ist, seine Strafzumessungsentscheidung zu begründen. 880 Setzt man die von Aubusson de Cavarlay/Huré für das Jahr 1990 am Korrektionalgericht in Paris im Verfahren der comparution immédiate ermittelte Strafen Verteilung 881 zu der von Bernat de Celis 8 8 2 oder L é v y 8 8 3 dort für das Jahr 1980 ermittelten Strafenverteilung in diesem Verfahren ins Verhältnis, so läßt sich in diesem Zeitraum ein Rückgang der vollzogenen Freiheitsstrafen um etwas mehr als 10% feststellen. 884 Dieser Rückgang des Haftstrafenanteils könnte (mit) auf die Einführung der enquête sociale zurückzuführen sein. 8 8 5 Auch über die Häufigkeit, mit der die Gutachten zum sozialen Hintergrund angefordert und erstellt werden, existieren - soweit ersichtlich keine Zahlen. Allgemein kann man davon ausgehen, daß der gesetzliche Mindestrahmen, 886 (wobei dieser extrem niedrig liegt), inzwischen fast überall überschritten wird, so daß von dem Institut auch im Erwachsenenrecht Gebrauch gemacht w i r d . 8 8 7 Der fakultative Rückgriff scheint allerdings auch eine diskriminierende Wirkung nach sich zu ziehen. So hat sich gezeigt, daß ein summarisches Sozialprofil weitaus häufiger bei franzö877

Vgl. Faget, RSC 1997, 798. Faget, RSC 1997, 797; Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 140. 879 Bernat de Celis, RSC 1980, 960; dies., Arch. pol. crim. V (1982), S. 128. 880 Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 128. 881 Vgl. Aubusson de Cavarlay/Huré, Défèrements, jugements, S. 119. 882 Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 118 f. 883 Lévy, Le flagrant délit, S. 399, 401. 884 Vgl. hierzu unten IV. 10. 885 Zweifelnd, daß die Strafzumessungspraxis durch die erstellten Sozialprofile tatsächlich beeinflußt wird, Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 128; Lévy, Le flagrant délit, S. 402. 886 Vgl. oben III. 2. c) bb) (b) (dd). 887 Faget, RSC 1977, 792. 878

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

221

sischen als bei ausländischen Beschuldigten angefordert wird. Insgesamt werden Beschuldigte ausgewählt, die am ehesten sozial wiederintegrierbar erscheinen, also Personen, die zumindest ansatzweise über soziale Bindungen verfügen. Das bedeutet, daß Beschuldigte ohne jeglichen sozialen Hintergrund noch stärker zurückfallen. 888 Sucht man nach Gründen, warum das Institut des summarischen Sozialprofils nicht den von seinen Verfechtern gewünschten Erfolg erzielt, so ist - zumindest im Verfahren der comparution immédiate - an erster Stelle auch hier der Mangel an Zeit zu nennen. Es ist offensichtlich, daß sich die Aussagen eines Beschuldigten in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit häufig nicht bestätigen lassen. Die Kontaktaufnahme scheitert oftmals schon daran, daß die bezeichneten Personen nicht angetroffen werden oder daran, daß Adressen- oder Telefonangaben aus unterschiedlichen Gründen unverwertbar sind. 8 8 9 Noch viel schwieriger ist - was für jeden außenstehende Beobachter ohnehin realiter kaum machbar erscheint - in nicht mehr als zwei Stunden konkrete Integrationshilfen aufzutun. 890 Ein weiterer Grund dürfte mit darin zu sehen sein, daß eine wirkliche Integration zwischen Gericht und Sozialdienst nicht stattfindet. 891 Das Institut ist nicht Teil eines einheitlichen Konzepts, sondern tritt additiv zur Strafverfolgungspraxis, die quasi unverändert weiter praktiziert wird. Insoweit erscheinen zwar der theoretische Ausgangspunkt und die Zielrichtung der enquête sociale rapide als sehr positiv. Aber aufgrund der in manchen Teilen unbefriedigenden Umsetzung und vor allem angesichts des immensen Zeitdrucks, unter dem das Gutachten erstellt werden muß, kann der persönliche soziale Hintergrund des Beschuldigten mittels eines summarischen Sozialprofils nur oberflächlich in das Verfahren eingebracht werden. 9. Delikts- und Beschuldigtenstruktur Der Kreis der im Verfahren der comparution immédiate Verfolgten besteht nahezu ausschließlich aus männlichen Tatverdächtigen, 892 überwie888

So auch Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 125. Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 131 (Fn. 42), S. 140. 890 Faget, RSC 1997, 798 f. 891 Faget, RSC 1997, 801. 892 Der prozentuale Anteil der männlichen Bevölkerung im Verfahren der comparution immédiate wird in den von Lévy und Bernat de Celis zu Beginn der 80er Jahre am Tribunal correctionnel in Paris durchgeführten Untersuchungen übereinstimmend mit Werten von über 90 % angegeben. Der Anteil männlicher Beschuldigter am gesamten korrektionalgerichtlichen Verfahrensvolumen in Paris wird dabei auf 83% angesetzt, vgl. Lévy , Les „flags", S. 138; Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 115. In der landesweiten korrektionalgerichtlichen Verurteiltenstatistik lag der Anteil männlicher Verurteilter zu Beginn der 80er Jahre durchweg bei 89 %, 889

222

2. Teil: Beschleunigte Verfahren im französischen Strafprozeßrecht

gend im Alter von unter 35 Jahren 893 . Die Beschuldigten sind zu einem großen Teil arbeitslos oder zumindest ohne feste Arbeit, ihr Schul- und Ausbildungsstand ist oft sehr niedrig oder inexistent. Das typische Bild des im Verfahren der comparution immédiate Verfolgten ist weiter durch Wohnsitzlosigkeit und defizitäre familiäre Bindungen gezeichnet. Vielfach muß von massiven Gesundheits- und Suchtproblemen, sowie traumatischen Kindheitserlebnissen ausgegangen werden. 8 9 4 Schließlich ist im Verfahren der comparution immédiate ein gegenüber der allgemeinen Beschuldigtenstatistik überproportionaler Anteil an ausländischer Bevölkerung 895 festzustellen, wobei hier wiederum ganz klar Personen dominieren, die über keine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügen. 896 Damit weist die Beschuldigtenstruktur im Verfahren der comparution immédiate deutliche Parallelen zu der des beschleunigten Verfahrens auf; das Beschuldigtenprofil der beiden Verfahrensaiten ist das der sozialen Randgruppe. 897

vgl. die Zahlen in Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 121 (In den letzten Jahren (1992-1996) bewegte sich der männliche Verurteiltenanteil zwischen 90 und 91%, vgl. Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 117). 893 Der prozentuale Anteil der unter 35-jährigen im Verfahren der comparution immédiate wird von Lévy und Bernat de Celis auf über 80% angesetzt, der der unter 25-jährigen auf ca. 50%. Dem stehen 75% der unter 35-jährigen und 33% der unter 25-jährigen in der allgemeinen korrektionalgerichtlichen Beschuldigtenstatistik in Paris gegenüber, vgl. Lévy , Les „flags", S. 140; Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 115. 894 Da diese Angaben nur teilweise im polizeilichen Vernehmungsprotokoll erscheinen und zumeist allein auf den Angaben des Beschuldigten beruhen, lassen sich genaue prozentuale Angaben hierzu nicht ermitteln. Der prozentuale Anteil der Beschuldigten ohne festen Wohnsitz sowie der ohne feste Arbeit wird jeweils mit ungefähr zwei Dritteln bis drei Vierteln angesetzt, vgl. Lévy , Les „flags", S. 165, 181 f., 250; Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 115, 120. 895 Bei der genannten ausländischen Bevölkerungsgruppe handelt es sich in der Hauptsache um die sog. „maghrébins", d.h. um die aus Tunesien, Marokko sowie Algerien stammende Bevölkerung. An zweiter Stelle stehen Personen aus Schwarzafrika, vgl. Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 116. 896 Nach Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 116, beträgt der Anteil nichtfranzösischer Beschuldigter im Verfahren der comparution immédiate insgesamt 48,6%. Allein 30% entfallen dabei auf Beschuldigte aus den Maghrebstaaten und 9 % auf Beschuldigte aus den übrigen afrikanischen Staaten. Lévy , Les „flags", S. 142, gelangt sogar zu einem Anteil ausländischer Beschuldigter von 62%, wobei Beschuldigte aus den Maghrebstaaten 48,8 %, die übrigen afrikanischen Beschuldigten 8,5% ausmachen. In der landesweiten korrektionalgerichtlichen Verurteiltenstatistik nahmen ausländische Verurteilte zu Beginn der 80er Jahre jeweils nur einen Prozentsatz von 12,5-14,3% ein, vgl. die Zahlen in Annuaire statistique de la Justice 1987, S. 121. (Derzeit sind 17-18% der Verurteilten Ausländer, Annuaire statistique de la Justice 1992-1996, S. 117.) 897 Vgl. hierzu: Lévy , Le flagrant délit, S. 425 ff.; ders., Les „flags", S. 136 ff.; ders., RSC 1985, 411; Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 115 ff.; Au-

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

223

Blickt man auf die typischerweise im Verfahren der comparution immédiate verfolgten Delikte, so ergeben sich in der Tendenz auch hier Übereinstimmungen zu den Erfahrungen mit dem Verfahren nach §§ 417 ff. StPO. 8 9 8 Die Tatschwere der im Verfahren der comparution immédiate verfolgten Delikte ist jedoch deutlich höher. In der Hauptsache werden Vermögens- und Eigentumsdelikte 899 , dabei in erster Linie Diebstahlsdelikte verhandelt. Gerade am Beispiel des Diebstahls wird die relativ hohe Tatschwere deutlich. So werden dem Verfahren der comparution immédiate regelmäßig auch qualifizierte Diebstahlsdelikte wie z.B. Einbruchsdiebstahl, Diebstahl mit Waffen, Banden- oder räuberischer Diebstahl 9 0 0 zugeführt. Dies selbst dann, wenn in Zusammenhang mit dem Diebstahlsdelikt ein Körperverletzungsdelikt gegeben ist. Ein fast ausschließlich im Verfahren der comparution immédiate verfolgtes Diebstahlsdelikt ist außerdem der Taschendiebstahl. Dagegen bilden einfache Diebstähle nicht zuvorderst Gegenstand der comparution immédiate. Ladendiebstähle werden zum Beispiel überwiegend im Verfahren der convocation en justice verfolgt. Zum Deliktskatalog der comparution immédiate gehören weiter Verstöße gegen das Ausländerrecht, der Gebrauch falscher Ausweispapiere sowie Urkundenfälschung; außerdem unerlaubter Waffenbesitz, Scheck- und Kreditkartenbetrug, Drogendelikte. 901 10. Comparution immédiate und Freiheitsstrafe Im Gegensatz zum beschleunigten Verfahren der StPO, 9 0 2 werden im Verfahren der comparution immédiate nahezu ausschließlich Freiheitsstrafen ausgesprochen. 903 Dabei variieren die verhängten Strafen in der Praxis zwibusson der Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 128, 140; Robin , in: Les procédures d'urgence, S. 232. 898 Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. e). 899 Im französischen Recht zählen Eigentumsdelikte zu den Vermögensdelikten, vgl. Véron , Droit pénal spécial, S. 13 f. 900 D e r räuberische Diebstahl ist im französischen Strafrecht grundsätzlich kein Verbrechen, vgl. art. 311-4-311-6 CPP. 901 Vgl. Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 79, 81; Lévy , Les „flags", S. 187 ff.; Joly-Sibuet , Etude des flux, S. 72-74; Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 117, 121, 130 f.; Hennion , Chronique des flagrants délits, S. 175 f. 902 Vgl. oben Erster Teil, IV. 4 f. 903 Allg. Ansicht, vgl. Robert, in: Détention provisoire et contrôle judiciaire, S. 113 (Fn. 27), 123; Pradel , Procédure pénale, Rdnr. 391; Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 118 f., 121, spricht von einem Freiheitsstrafenanteil von 94,6% (Geldstrafe: 0,7%, Freispruch: 2,6%). Lévy , Le flagrant délit, S. 399, 401 ermittelt 96,3% Freiheitsstrafen (Geldstrafe: 0,8%, Freispruch: 3,1%). Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 119, nennen einen Freiheitsstrafenanteil von 90,3%

224

2. Teil: Beschleunigte Verfahren i m französischen Strafprozeßrecht

sehen wenige Tage dauernden „kurzen" Freiheitsstrafen und 4 Jahren Freiheitsstrafe. Der Schwerpunkt der Sanktionsverteilung liegt bei den Strafen bis zu zwei Jahren, wobei hier wiederum ein Übergewicht zugunsten der Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr besteht. 904 Freiheitsstrafen von über zwei Jahren werden nur sehr selten ausgesprochen. 905 Die gesetzlich ebenfalls möglichen Freiheitsstrafen von fünf bis sieben Jahren sind in der Praxis nicht anzutreffen. In diesem Zusammenhang dürfte sich bemerkbar machen, daß der Gesetzestext keine Höchststrafe statuiert, sondern die Anwendung der comparution immédiate von der abstrakten Höchststrafe eines Delikts abhängig macht. 9 0 6 Nach den von Lévy und Bernat de Celis zu Beginn der 80er Jahre am Korrektionalgericht in Paris geführten Untersuchungen wird nur etwa ein Viertel der ausgesprochenen Freiheitsstrafen (zur Bewährung) ausgesetzt. 907 Der neueren von Aubusson de Cavarlay/Huré zu Beginn der 90er Jahre ebenfalls am Korrektionalgericht in Paris geführten Untersuchung zufolge soll es inzwischen knapp ein Drittel sein. 9 0 8 Jedoch lautet auch in diesem Fall das Urteil für immerhin noch mehr als 60% aller im beschleunigten Verfahren Verurteilten auf eine zu vollziehende Freiheitsstrafe. 909 Selbst wenn die Sanktionsverteilung im Verfahren der comparution immédiate anderswo im Vergleich zur Ausnahmesituation am Korrektionalgericht in Paris etwas abgemildert sein dürfte, ist eine harte Bestrafung nach

(Geldstrafe: 4,7%, Freispruch: 0,1%). Der prozentuale Anteil der Freiheitsstrafe im Verfahren der comparution immédiate dürfte sich bei den von Lévy und Bernat de Celis geführten Untersuchungen noch etwas erhöhen, da sich ihre Untersuchungen jeweils auf die beschleunigten Verfahrensvarianten insgesamt beziehen. 904 Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 118 f., führt folgende Einzelverteilung an: Bis drei Monate Freiheitsstrafe: 30,2%, über drei Monate bis sechs Monate Freiheitsstrafe: 25,3%, über sechs Monate bis ein Jahr Freiheitsstrafe: 15,3%, über ein bis zwei Jahre Freiheitsstrafe: 23,6%, über zwei Jahre Freiheitsstrafe: 0,2%. 905 Nach Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 119, nehmen sie einen Anteil von 0,2 % ein. 906 Vgl. oben III. 1. b). 907 Lévy , Le flagrant délit, S. 399, geht von 23,3% ausgesetzten Freiheitsstrafen gegenüber 73% zu vollziehenden Freiheitsstrafen aus; Bernat de Celis, Arch. pol. crim. V (1982), S. 118 f., von 21% Strafaussetzungen gegenüber 73,6% zu vollziehenden Freiheitsstrafen. 908 Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 119: 29,2% Strafaussetzungen, 61,1% zu vollziehende Freiheitsstrafen. 909 Vgl. Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 119; Bernat de Celis , Arch. pol. crim. V (1982), S. 118 f., und Lévy , Le flagrant délit, S. 399, nennen hier jeweils einen prozentualen Anteil von ca. 73 %. Der Anteil der Ersatzfreiheitsstrafen ist ebenfalls sehr gering: Bernat de Celis, a.a.O., S. 118: 1,3%; Lévy , a.a.O., S. 399, 401: 0%; Aubusson de Cavarlay/Huré , a.a.O., S. 119: 4,7%.

IV. Rechtstatsächliche Erfahrungen

225

allgemeinen Aussagen für das Verfahren der comparution immédiate generell charakteristisch. Im Gefüge der übrigen korrektionalgerichtlichen Verfahrensarten wird nur die Verurteilung des nach gerichtlicher Voruntersuchung durchgefühlten Strafverfahrens in ähnlichem Maße von Freiheitsstrafen dominiert. 9 1 0 Insoweit spricht alles dafür, 9 1 1 daß sich das Verfahren der comparution immédiate nicht nur durch seine Verfahrensbeschleunigung auszeichnet, sondern ebensosehr die Funktion hat, repressiv zu wirken. Auch die angesprochenen Untersuchungen betonen allesamt, in welch starkem Maße die Art der späteren Verurteilung von der gewählten Verfolgungsart vorbestimmt i s t . 9 1 2 In der französischen Rechtsliteratur ist es ein geflügeltes Wort, daß jeder, der dem Gericht aus der Untersuchungshaft vorgeführt wird, eine härtere Strafe zu erwarten hat als derjenige, der frei zur Hauptverhandlung erscheint. 913 Lévy verfolgt die Kette der aufeinanderfolgenden Entscheidungen hinsichtlich der Strafverfolgung bzw. den determinierenden Gehalt der einzelnen Entscheidungen: Die staatsanwaltschaftliche Wahl der Verfolgungsart wird rechtstatsächlich sehr stark davon beeinflußt, inwieweit sie sich einen Tatverdächtigen vorführen läßt bzw. inwieweit die Polizei einen Tatverdächtigen vorführt. Für die Entscheidung für eine Vorführung ist wiederum entscheidend, ob der Tatverdächtige vorher in polizeilichen Gewahrsam genommen wurde. Die Weichen für die Art der späteren Verurteilung werden damit schon sehr früh gestellt. Neben der Tatsache, daß die Strafart mit der Verfolgungseinleitung weitgehend feststeht, hebt Lévy v. a. hervor, welch hohes Gewicht der polizeilichen Ermittlungstätigkeit dabei zukommt. Denn die entscheidenden Faktoren werden von der Polizei mit der Anordnung des Polizeigewahrsams und, je nach örtlicher Gerichtspraxis, mit der Entscheidung zur Vorführung zu Beginn der Strafverfolgung gesetzt. 914

910

Zur allgemeinen korrektionalgerichtlichen Strafenverteilung für das Jahr 1992 vgl. Annuaire statistique de la Justice 1991-1992, S. I l l ff., Geldstrafe: 16,2%, zu vollziehende Freiheitsstrafe: 25,4%, Strafaussetzung: 45,9%, Ersatzfreiheitsstrafe: 6,7%, Erziehungsmaßnahme: 4,3%, Absehen von Strafe: 1,5%. Die Sanktionsverteilung in Paris im Jahre 1992 stellt sich nach Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 119, wie folgt dar: Freispruch: 0,4%, Geldstrafe: 17,4%, zu vollziehende Freiheitsstrafe: 43,7%, Strafaussetzung: 30,2%, Ersatzfreiheitsstrafe: 6,8%, Absehen von Strafe: 1,5%. 911 Vgl. oben III. 1. b) und IV. 7. 912 Vgl. Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 118, 146, 150. 913 Aubusson de Cavarlay/Huré , Défèrements, jugements, S. 147 f.; Lévy , Le flagrant délit, S. 394, 400, 403; Bernat de Celis , RSC 1980, 959, Fn. 3. 914 Lévy, Le flagrant délit, S. 541 f. 15 Köhler

Dritter

Teil

Rechtsvergleichende Aspekte in der Diskussion um das beschleunigte Verfahren I. Perspektiven des beschleunigten Verfahrens Bislang hat das beschleunigte Verfahren eine wesentliche Bedeutung nicht erreichen können; auch die jüngsten legislatorischen Bestrebungen, dem Verfahren zu einer breiteren Akzeptanz zu verhelfen, sind nur sehr schleppend angelaufen. 915 Im Gegensatz dazu hat das französische Modell des beschleunigten Verfahrens, die comparution immédiate, einen beachtlichen Anwendungsschub verzeichnet, der sich auch in den Anwendungszahlen dieses Verfahrens widerspiegelt. 916 Fragt man nach der Ursache der unterschiedlichen Bedeutung, so dürfte diese in erster Linie in der verschiedenartigen strukturellen Einbettung der beiden Verfahrensarten gelegen sein. Das Verfahren der comparution immédiate trifft auf ein Verfahrensvakuum, das im deutschen Strafprozeß nicht besteht: Das liegt zum einen an der im französischen und deutschen Strafprozeß unterschiedlichen Untersuchungshaftregelung. Im französischen Strafprozeß ist die Anordnung von Untersuchungshaft an die Einleitung einer gerichtlichen Voruntersuchung gebunden, im Normalverfahren ist der Erlaß eines Haftbefehls dagegen nicht möglich. 9 1 7 Die gerichtliche Voruntersuchung ist aber konzeptionell auf komplexe Sachverhalte sowie auf Fälle schwerer Kriminalität ausgerichtet; für den Massendeliktsbereich ist sie ungeeignet, da sie zu schwerfällig und zu aufwendig ist. Damit besteht im französischen Strafprozeß von vornherein ein Bedürfnis, Untersuchungshaft auch im Massendeliktsbereich außerhalb der gerichtlichen Voruntersuchung anwenden zu können. Das gilt insbesondere in Fällen, in denen das Zwangsmittel der Untersuchungshaft allein deshalb notwendig erscheint, weil der Beschuldigte aufgrund fehlender sozialer Eingliederung keine ausreichende Gewähr dafür bietet, daß er für ein Strafverfahren zur Verfügung stehen wird. Das Verfahren der comparution immédiate, das neben der gerichtlichen Voruntersuchung als einzige französische Verfahrensart zumin915

Vgl. oben Erster Teil, IV. 1; Erster Teil, IV. 5. e) und Erster Teil, IV. 5. g). Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 2. 917 Vgl. oben Zweiter Teil, I.; Zweiter Teil, III. 5. b) und Zweiter Teil III. 2. c) bb) (a). 916

I. Perspektiven des beschleunigten Verfahrens

227

dest eine kurzzeitige Untersuchungshaft zuläßt, kann diese Lücke ausfüllen und hat allein aus diesem Grunde ein breites Anwendungsfeld. Im deutschen Strafprozeß besteht kein derartiger Bedarf: Die Voraussetzungen der Untersuchungshaft nach den §§ 112 ff. StPO sind unabhängig von der Verfahrensart. Auch mit der neu eingeführten Hauptverhandlungshaft erschließt sich, wie gezeigt, 918 kein entscheidend neuer Anwendungsbereich für die Untersuchungshaft. Die von dem neuen Haftgrund des befürchteten Ausbleibens 919 erfaßten Fälle werden schon heute weitgehend vom Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO abgedeckt, so daß das beschleunigte Verfahren aus dem Blickwinkel einer vorläufigen Inhaftierung des Beschuldigten kaum interessiert. Die Anwendungszahlen der beschleunigten Verfahrensvarianten im deutschen wie im französischen Strafprozeß werden außerdem entscheidend durch den Stellenwert der darüber hinaus bestehenden vereinfachten Verfahrensarten bestimmt. Auffallend ist hierbei insbesondere das unterschiedliche Verhältnis zum Strafbefehlsverfahren bzw. zu dem dem Strafbefehlsverfahren entsprechenden französischen Verfahren der ordonnance pénale. Während die Verfahren der comparution immédiate und der ordonnance pénale in komplett unterschiedlichen Anwendungsbereichen wirken, 9 2 0 steht das Verfahren nach § 417 ff. StPO in direkter Anwendungskonkurrenz zum Strafbefehlsverfahren. 921 Das Strafbefehlsverfahren ist jedoch unter Effektivitätsgesichtspunkten als rein schriftliches Verfahren dem beschleunigten Verfahren um ein vielfaches überlegen - es ist einfacher zu handhaben, ökonomischer und auch für den Beschuldigten weniger belastend, so daß es dem beschleunigten Verfahren zumeist vorgezogen wird. Schließlich beruhen die im Vergleich zum beschleunigten Verfahren hohen Anwendungszahlen des Verfahrens der comparution immédiate auch darauf, daß das Verfahren der comparution immédiate seit jeher in viel weiteren Strafgrenzen (bis zu sieben Jahren Freiheitsstrafe) 922 als das beschleunigte Verfahren anwendbar ist (höchstens ein Jahr Freiheitsstrafe) 923 . Eine Nachahmung des französischen Modells in diesem Punkt erscheint jedoch nicht empfehlenswert. Die Ermittlungen über die Täterpersönlichkeit, die Tatumstände und die Tathintergründe, welche einer Freiheitsstrafe notwendigerweise vorauszugehen haben, lassen sich bei verkürzter Verfahrensführung auch unter günstigen Bedingungen nur sehr unvollständig und daher 918 919 920 921 922 923

15*

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben Erster Teil, III. 2. hierzu näher Erster Teil, III. 2. b). oben Zweiter Teil, III. 2. c) bb) (a). oben Erster Teil, I. 2. d). oben Zweiter Teil, III. 1. b). oben Erster Teil, I. 2. c).

228

3. Teil: Rechts vergleichende Aspekte

unbefriedigend realisieren. Eine weitere Ausdehnung des Anwendungsbereiches sollte deshalb nicht erwogen werden. Damit ist die Ausgangsposition des beschleunigten Verfahrens nicht annähernd so gut wie diejenige der comparution immédiate. Insofern ist zu bezweifeln, ob das Entwicklungspotential des beschleunigten Verfahrens als ausreichend angesehen werden kann. Blickt man weiter auf die empirisch hohe Bedeutung vereinfachter und informeller Verfahrensarten in der deutschen Strafverfahrenspraxis, so deutet alles darauf hin, daß die Grenze des an vereinfachter Verfahrensdurchführung Machbaren inzwischen erreicht i s t : 9 2 4 Die Zahl der Einstellungen des Strafverfahrens und der Strafbefehlsanträge übersteigt die der Anklagen schon jetzt um das doppelte, 925 der Regelfall des Strafverfahrens ist mithin schon heute ein informelles bzw. vereinfachtes Strafverfahren, während Anklage und Hauptverhandlung zunehmend in den Hintergrund getreten sind. Die Spielräume für weitere Entlastungen dürften deshalb von vornherein sehr gering sein. Hinzukommt, daß reale Anwendungsmöglichkeiten neben dem Strafbefehlsverfahren und neben den verschiedenen Einstellungsmöglichkeiten des Verfahrens nur eingeschränkt bestehen. Dies liegt zunächst daran, daß sich der Anwendungsbereich dieser Erledigungsformen in weiten Teilen überschneidet. Da das Strafbefehlsverfahren und die Einstellungsmöglichkeiten dem beschleunigten Verfahren unter Effizienzkriterien weit überlegen sind - was sich auch in der empirisch klaren Dominanz dieser beiden Erledigungsformen widerspiegelt - sind die Entwicklungsmöglichkeiten des beschleunigten Verfahrens in diesem Konkurrenzbereich denkbar gering und es ist nicht damit zu rechnen, daß sich die Gewichtung innerhalb der vereinfachten Erledigungsformen zugunsten des beschleunigten Verfahrens verschieben wird. In dem (zudem geringen) eigenständigen Bereich des beschleunigten Verfahrens, in welchem das Verfahren über die Anwendung des Strafbefehlsverfahrens und die Einstellungsmöglichkeiten hinausgeht, erscheint eine Ausdehnung des Verfahrens demgegenüber aus rechtsstaatlichen Gründen nicht akzeptabel. Eine Anwendung dieser Verfahrensart kommt über die §§ 153 ff., 407 ff. StPO hinausgehend vor allem dann in Betracht, wenn eine Freiheitsstrafe zu erwarten steht. 9 2 6 Gerade für solche Straftaten läßt sich die Eignung der Sache für ein beschleunigtes Verfahren aber wegen 924

So auch Albrecht, NJ 1994, 398, 400. So auch Albrecht, in: Eser/Kaiser/Weigend, Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 564 f.; vgl. außerdem die Zahlen in: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Arbeitsunterlage Staatsanwaltschaften 1997, S. 14. 926 Vgl. oben Erster Teil, I. 2. d). 925

II. Keine besonders beschleunigten Verfahren

229

der Einschränkung der Verteidigungsrechte und der unzureichenden Aufklärung der Strafzumessungstatsachen nur sehr eingeschränkt bejahen. Damit ist das beschleunigte Verfahren in weiten Teilen rechtstatsächlich überflüssig, im übrigen fehlt es an einem rechtsstaatlich vertretbaren Anwendungsbereich. Im Ergebnis ist deshalb davon auszugehen, daß das Verfahren nach §§ 417 ff. StPO auch in Zukunft eine nur untergeordnete Rolle spielen wird.

II. Keine besonders beschleunigten Verfahren Der Vergleich mit dem französischen Modell der comparution immédiate verstärkt außerdem die Bedenken gegen ein besonders rasch durchgeführtes beschleunigtes Verfahren, wie es vergleichbar dem Verfahren der comparution immédiate, das bbV oder auch das mit der Hauptverhandlungshaft kombinierte beschleunigte Verfahren darstellen. Unabhängig von der im einzelnen unterschiedlichen Ausgestaltung der abgekürzten Verfahrensmodelle im französischen und im deutschen Strafprozeßrecht, sind die Vorbehalte, die gegen eine derart rasche Verfahrensführung sprechen, nahezu die gleichen: Sowohl das Verfahren der comparution immédiate als auch das bbV und das mit der Hauptverhandlungshaft kombinierte beschleunigte Verfahren enthalten eine extreme Übereilungsgefahr. 9 2 7 Die Verteidigungsmöglichkeiten des Beschuldigten und seine Beteiligungsrechte werden massiv eingeschränkt. 928 Mit Art. 6 Abs. 3b EMRK ist diese Verfahrensgestaltung nicht vereinbar. 929 Insbesondere das französische Verfahren der comparution immédiate, in dem die Beteiligungsrechte des Beschuldigten in vieler Hinsicht denen des Normalverfahrens angeglichen worden sind, läßt erkennen, daß - selbst bei formaler Absicherung - eine Wahrung der Beschuldigtenstellung in einem beschleunigten Verfahren, in dem sowohl das Ermittlungs- als auch das gerichtliche Verfahren denkbar verkürzt sind, nicht gelingen kann. 9 3 0 Die diesen Verfahrensmodellen inhärente Verfahrensschnelligkeit macht es - unabhängig davon, wie die Verfahren im einzelnen ausgestaltet sind - unmöglich, einem sowohl der Wahrheitsfindung als auch den notwendigen Beteiligungsrechten des Beschuldigten gleichermaßen verpflichteten Strafprozeß zu genügen; die Position des Beschuldigten und die Sachverhaltsaufklärung werden in diesem Fall immer empfindliche Defizite aufweisen.

927 928 929 930

Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. g); Zweiter Teil, III. 5. e) und Zweiter Teil, IV. 7. Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. g); Zweiter Teil, III. 5. e) und Zweiter Teil, IV. 7. Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. g); Zweiter Teil, III. 5. e) und Zweiter Teil, IV. 7. Vgl. oben Zweiter Teil, III. 5. e) und Zweiter Teil, IV. 7.

230

3. Teil: Rechtsvergleichende Aspekte

Zusätzlich stellt sich die Frage, ob es bei beschleunigten Verfahren wirklich nur um die zeitliche Verkürzung des Strafverfahrens geht. Mit Blick auf das Verfahren der comparution immédiate, welches durch eine harte Bestrafung auffiel, 9 3 1 bleibt zu vermuten, daß diese Verfahren gleichermaßen mit dem Ziel abzuschrecken eingesetzt werden. Problematisch erscheint außerdem, daß sowohl vom beschleunigten Verfahren als auch vom Verfahren der comparution immédiate fast nur Personen aus sozialen Randgruppen und Mittellose tangiert werden. 9 3 2 Insoweit läßt sich nicht von der Hand weisen, daß die angesprochenen Garantieverluste des beschleunigten Verfahrens in erster Linie gesellschaftlich Minderprivilegierte treffen, das beschleunigte Verfahren mithin ein Verfahren für Menschen 2. Klasse darstellt. Den Einwänden, denen besonders beschleunigte Verfahren ausgesetzt sind, steht als Positivum allenfalls die zugegebenermaßen radikale Untersuchungshaftverkürzung gegenüber. 933 Freilich ist dieses Argument wenig überzeugend, da man schon bezweifeln muß, ob die Anordnung von Untersuchungshaft bei Taten, die sich für eine Entscheidung im beschleunigten Verfahren eignen, unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten überhaupt zulässig ist. Geht man von der aktuellen Untersuchungshaftpraxis aus, die Verhältnismäßigkeitserwägungen zum Trotz gerade im Bagatell- und Kleinkriminalitätsbereich eine konstant hohe Untersuchungshaftquote aufweist, 934 so erscheint unter dem Blickwinkel, daß eine Änderung dieser Praxis in absehbarer Zeit wohl kaum erwartet werden kann, dennoch allenfalls ein einfach beschleunigtes Verfahren hinnehmbar. Die mit besonders beschleunigten Verfahrensmodellen einhergehenden Garantieverluste sind demgegenüber zu gravierend, als daß sie sich mit einer rechtsstaatlich zweifelhaften Untersuchungshaftpraxis rechtfertigen ließen. Von besonders beschleunigten Verfahren sollte deshalb Abstand genommen werden.

III. Einführung eines Zustimmungserfordernisses? Als rechtsstaatlich bedenklich wird das beschleunigte Verfahren insbesondere auch deshalb angesehen, weil der Beschuldigte keinerlei Einfluß auf die Einleitung des Verfahrens nehmen kann. 9 3 5 W i l l man besonders be931

Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 10. Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. e) und Zweiter Teil, IV. 9. 933 Yg| hierzu außerdem oben Erster Teil, IV. 5. g). 932

934 Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rdnr. 187 (S. 208); Dünkel, StV 1994, 613 f., 615; Hilger, NStZ 1989, 107; Cornel StV 1994, 206; Wagner, NJW 1978, 2002, 2005; Gebauer, StV 1994, 626; ders., Rechtswirklichkeit Untersuchungshaft, S. 175, 374 f.; Herzog, StV 1997, 216; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 30, Rdnr. 4; Frehsee, StV 1996, 226.

III. Einführung eines Zustimmungserfordernisses?

231

schleunigte Verfahren entgegen den hier geäußerten Bedenken aufrechterhalten, so ist zu erwägen, ob das beschleunigte Verfahren nicht entsprechend dem französischen Beispiel 9 3 6 - wie verschiedentlich auch in der Literatur vorgeschlagen 937 - von der Zustimmung des Beschuldigten abhängig gemacht werden sollte oder der Beschuldigte zumindest die Einhaltung einer angemessenen Ladungsfrist verlangen können soll. 9 3 8 Die Einführung eines Zustimmungserfordernisses wäre auf jeden Fall zu begrüßen. Das beschleunigte Verfahren würde ein konsensuales Element erhalten. Die Position des Beschuldigten wäre erheblich gestärkt, da ihm das Verfahren nicht mehr aufgezwungen werden könnte. Jedoch zeigt die französische Praxis, daß es mit der Einführung eines Zustimmungsrechts allein nicht getan ist: Nach den französischen Erfahrungen kann sich das Zustimmungserfordernis nur dann zufriedenstellend auswirken, wenn es mit ausführlichen Belehrungspflichten ausgestattet wird. A m Beispiel der comparution immédiate wurde deutlich, daß eine oberflächlich gehandhabte Belehrungspflicht leicht dazu führt, daß dem Zustimmungserfordernis nicht mehr als nur eine formale Bedeutung zukommt. 9 3 9 Zu bedenken ist außerdem auch in diesem Zusammenhang (wie im Rahmen des § 420 Abs. 3 StPO) 9 4 0 , daß der Personenkreis, der vom beschleunigten Verfahren und vom Verfahren der comparution immédiate betroffen ist, der vor Gericht hilfloseste i s t . 9 4 1 Es wäre deshalb notwendig, daß zumindest unverteidigte Beschuldigte eingehend unterrichtet werden, welche Verfahrensverkürzungen ein beschleunigtes Verfahren in sich birgt und was sie im Falle der Ablehnung einer unmittelbaren Entscheidung erwartet. Ist der Beschuldigte verteidigt, erscheint diese Gefahr gering. Es ist aber denkbar, daß die Zustimmungsbedürftigkeit in Einzelfällen gewisse Absprachemöglichkeiten eröffnet. 942 Darüber hinaus müßte sichergestellt sein, daß auf den Beschuldigten keinerlei Druck zur Erteilung der Zustimmung ausgeübt wird. Der Beschuldigte müßte frei entscheiden können, ob er einer beschleunigten Verfah935

Vgl. oben Erster Teil, II. Vgl. oben Zweiter Teil, III. 5. c) cc). 937 Scheffler, NJW 1994, 2192; Dahn, Baumann-FS, S. 356, 359; Ambos, Jura 1998, 293; Lehmann, DRiZ 1970, 288. 938 Fezer, ZStW 106 (1994), 39; Loos/Radtke, NStZ 1996, 14; SKStPO-Paejfgen, Vor § 417, Rdnr. 10. 939 Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 6. b). 940 Vgl. oben Erster Teil, II. 941 Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 9. und Erster Teil, IV. 4. e). 942 Zum dänischen Recht vgl. hierzu Garde, DRiZ 1997, 256 ff. (Im dänischen Strafverfahrensrecht ist das beschleunigte Verfahren ebenfalls von der Zustimmung des Beschuldigten abhängig). 936

232

3. Teil: Rechts vergleichende Aspekte

rensführung zustimmt. Ob sich diese Forderungen in der Praxis realisieren lassen, erscheint schon zweifelhaft angesichts des Zeitdrucks, unter dem das Verfahren aufgrund seiner immanenten Zielsetzung steht, die Strafe der Tat möglichst schnell nachfolgen zu lassen. Darüber hinaus wird die Forderung nach einer freien Entscheidung des Beschuldigten zu einem gewissen Teil ins Leere laufen - eine freie Entscheidung wird es im beschleunigten Verfahren immer nur eingeschränkt geben können. Denn natürlich hat der Beschuldigte, der eine unmittelbare Entscheidung ablehnt, mit Nachteilen zu rechnen: Rechtstatsächliche Erfahrungen, die in Zusammenhang mit dem beschleunigten Verfahren und dem Verfahren der comparution immédiate gemacht worden sind, haben übereinstimmend ergeben, daß abgekürzte Verfahren vornehmlich gegen Personen zum Einsatz kommen, die in einem Normalverfahren mit Untersuchungshaft belegt würden. 9 4 3 Stimmen die von einem beschleunigten Verfahren Betroffenen einer unmittelbaren Aburteilung nicht zu, erwartet sie mit ziemlicher Sicherheit (eine mehrmonatige) Untersuchungshaft. Damit erzeugte allein diese rechtstatsächlich zwangsläufige Folge der Zustimmungsverweigerung einen solch hohen Druck, daß Beschuldigte in vielen Fällen einem beschleunigten Verfahren allein deshalb zustimmen werden, damit sie möglichst schnell ihre Freiheit wiedererlangen. Insoweit wird deutlich, daß mit einer Zustimmungsvorschrift nicht alle Bedenken gegen ein beschleunigtes Verfahren ausgeräumt werden können und daß ein generelles Zustimmungserfordernis nicht alle dieser Verfahrensart immanenten Verfahrensverkürzungen zu kompensieren vermag. Auch wenn das beschleunigte Verfahren, das von der Zustimmung des Beschuldigten abhängt, eine konsensuale Komponente erhält, bleibt das Machtgefälle zwischen staatlichen Strafverfolgungsorganen und dem Beschuldigten zwangsläufig bestehen. Eine vollständig waffengleiche Position wird der Beschuldigte auch mit Einführung eines Zustimmungserfordernisses nicht erlangen können.

IV. Verteidigungslösung für das beschleunigte Verfahren Zu überlegen ist außerdem, ob die notwendige Verteidigung im beschleunigten Verfahren nicht weiter ausgedehnt werden sollte. Zwar wäre es auch h i e r 9 4 4 illusorisch anzunehmen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers alle Verteidigungsdefizite, die mit einem abgekürzten Verfahren verbunden sind, zu bannen vermag: Die französische Verfahrenspraxis ließ sehr gut erkennen, daß die Verteidigung im Verfahren der comparution immédiate schon 943 944

Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 9. und Erster Teil, IV. 4. b). Zum Zustimmungsrecht vgl. oben 3.

IV. Verteidigungslösung für das beschleunigte Verfahren

233

allein aus Zeitgründen zu Oberflächlichkeit gezwungen w i r d . 9 4 5 Ein entsprechendes Bild vermittelte die Anwendungspraxis des bbV. Auch hier wurde deutlich, daß eine effektive Verteidigung so kurzfristig schlichtweg unmöglich i s t . 9 4 6 Dennoch sollte an der Forderung nach einer umfassenden Verteidigung im beschleunigten Verfahren festgehalten werden, da sich durch die Mitwirkung eines Verteidigers zumindest ein Teil der mit diesem Verfahren einhergehenden Garantie Verluste abfangen ließe: Wird ein beschleunigtes Verfahren nach dem zeitlichen Muster der comparution immédiate durchgefühlt, wie es auch mit der Einführung der Hauptverhandlungshaft favorisiert wird, ist der Beschuldigte einer hohen Überrumpelungsgefahr ausgesetzt. Es ist sehr gut möglich, daß der Beschuldigte, der in den meisten Fällen noch unter dem Schock der Festnahme stehen dürfte, die Hauptverhandlung über sich ergehen läßt, elementare Rechte nicht wahrnimmt, den Anklagevorwurf ohne (gerechtfertigte) Einwände hinnimmt, vorschnell seine Zustimmung nach § 420 Abs. 3 StPO erteilt oder übereilt einen Rechtsmittelverzicht abgibt. Diese Gefahren wiegen in beschleunigten Verfahren um so stärker, als es den von dieser Verfahrensart tangierten Beschuldigten ohnehin schwerfallen dürfte, ihre Interessen vor Gericht wahrzunehmen 947 und sie den Strafverfolgungsmechanismen nicht selten mit Resignation begegnen. Der mitwirkende Verteidiger könnte somit zumindest einen elementaren Rechtsschutz sicherstellen und gravierenden Überdehnungsmöglichkeiten des Verfahrens entgegenwirken. Vor diesem Hintergrund ist § 418 Abs. 4 StPO tendenziell zu begrüßen. Sachlich unbefriedigend und unter Gleichheitsgesichtspunkten problematisch erscheint die Vorschrift jedoch im Hinblick darauf, daß sie zu einer Zweiteilung des im beschleunigten Verfahren verfolgten Personenkreises führt und eine notwendige Verteidigung nur für einen Teil der Beschuldigten vorsieht. So erscheint es zwar nicht erforderlich, die Verteidigerbestellung im beschleunigten Verfahren auf den Bereich bloßer Geldstrafenerwartung auszudehnen. Die in § 418 Abs. 4 StPO vorgenommene Beschränkung auf eine Freiheitsstrafenerwartung von mind, sechs Monaten erscheint demgegenüber zu zurückhaltend. Jede Freiheitsstrafe bedeutet - unabhängig von ihrer Länge - einen tiefen Einschnitt in das Freiheitsrecht des Einzelnen. Blickt man in die amtsgerichtliche Strafenstatistik, so ist die Verhängung einer Freiheitsstrafe selten 9 4 8 und stellt damit ein erhebliches Unwerturteil dar. Insoweit ist schon grundsätzlich zu fragen, ob nicht jede Freiheitsstrafenerwartung auch 945

Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 7. Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. g). 947 Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 9. und Erster Teil, IV. 4. e). 948 J997 w u r d e j n 5,7% der mit einer Strafe entschiedenen Fälle eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe ausgesprochen (Strafaussetzungen: 12,6%), vgl. hierzu die 946

234

3. Teil: Rechts vergleichende Aspekte

im Normalverfahren die Mitwirkung eines Verteidigers erfordert. 949 In einem beschleunigten Verfahren - insbesondere wenn es in der Form eines bbV stattfindet - erscheint die Mitwirkung eines Verteidigers besonders wichtig, da die rasche Abwicklung dieser Verfahren einer ausreichenden Aufklärung der für die Strafzumessung notwendigen Tatsachen von vornherein entgegensteht. In dem für das beschleunigte Verfahren interessierenden Freiheitsstrafenbereich von bis zu einem Jahr besteht somit (auch bzw. gerade in dem von § 418 Abs. 4 StPO ausgenommenen Freiheitsstrafenbereich von bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe) die Gefahr, daß die Frage der Bewährungsaussetzung, § 56 Abs. 1 StGB, nicht sorgfältig genug geprüft oder vorschnell auf den Ausnahmefall einer kurzen Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten, § 47 StGB, zurückgegriffen wird. Ein Verteidiger könnte die Entscheidung dieser Fragestellungen beeinflussen und die Nachteile, die dem Beschuldigten angesichts der verkürzten Verfahrensdauer in der Strafzumessung erwachsen, zu einem gewissen Teil ausgleichen. Die Beiordnung eines Verteidigers sollte zumindest im beschleunigten Verfahren bei jeder Freiheitsstrafenerwartung erfolgen, unabhängig von ihrer Höhe. Bei einer Freiheitsstrafenerwartung läßt sich für gewöhnlich nicht sicher prognostizieren, inwieweit eine Bewährungsaussetzung in Betracht gezogen wird. Außerdem hat jeder zu einer Bewährungsstrafe Verurteilte damit zu rechnen, daß die Strafaussetzung widerrufen w i r d , 9 5 0 so daß die Bestellung eines Verteidigers (wie bisher im Rahmen des § 418 Abs. 4 StPO) 9 5 1 unabhängig von einer zu erwartenden Strafaussetzung erfolgen sollte. Zu überdenken ist außerdem, inwieweit dem Selbstbestimmungsrecht des Beschuldigten im Rahmen der nach § 418 Abs. 4 StPO notwendigen Verteidigung nicht größere Bedeutung zuzumessen ist. In dem im beschleunigten Verfahren zulässigen Strafenbereich von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe 952 erscheint es nicht angemessen, jedem Beschuldigten, unabhängig von seinem Willen, einen Verteidiger zwangsweise beizuordnen. Das im Zahlen in: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Fachserie 10 (Rechtspflege), Reihe 3: Strafverfolgung 1997, S. 48 f. 949 So beispielsweise Arbeitskreis Strafprozeßreform, Verteidigung, S. 59, 64; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1241 f.; Oellerich, StV 1981, 437; Peters, Strafprozeß, S. 217; LR24-Lüderssen, § 140, Rdnr. 49. Weniger weitgehend Wolter, GA 1985, 81 f., 85; ders., GA 1989, 419: Erwartung einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten als Voraussetzung für die notwendige Verteidigung. 950 Albrecht, in: Eser/Kaiser/Weigend, Von totalitärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, S. 571, geht davon aus, daß 50% der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafen widerrufen werden. Nach Kaiser, Kriminologie, § 45, 3. (S. 432), wird jede dritte Strafaussetzung widerrufen. 951 Vgl. oben Erster Teil, I. 5. a). 952 Vgl. § 419 Abs. 1 Satz 2 StPO.

IV. Verteidigungslösung für das beschleunigte Verfahren

235

Verfahren der comparution immédiate anzutreffende Modell der Wahlpflichtverteidigung, bei der dem Beschuldigten auf seinen Antrag hin ein Verteidiger beigeordnet wird (wobei der Beschuldigte zuvor über sein Verteidigungsrecht belehrt w i r d ) 9 5 3 erscheint hier vorzugswürdiger. Zwar durchbräche die hier für das beschleunigte Verfahren vorgeschlagene Wahlpflichtverteidigung punktuell die bisherige Systematik der notwendigen Verteidigung im deutschen Strafverfahrensrecht. Mit den §§117 Satz 2, 140 Abs. 2 Satz 2 StPO enthält die StPO jedoch weitere Regelungen, in welchen die Verteidigerbestellung auf Antrag des Beschuldigten erfolgt. W i l l man die starre Automatik der notwendigen Verteidigung nicht grundsätzlich in Frage stellen, 954 so erscheint es zumindest für das beschleunigte Verfahren sachgerecht, aufgrund der in diesem Verfahren verhältnismäßig geringen Deliktsschwere, einen Verteidiger nur auf Wunsch des Beschuldigten am Verfahren mitwirken zu lassen. Nicht befriedigen kann schließlich sowohl im französischen wie im deutschen Strafprozeß die Tatsache, daß der Verteidiger für gewöhnlich erst für das gerichtliche Verfahren, d.h. im beschleunigten Verfahren erst für die Hauptverhandlung beigeordnet wird. Auch im Normalverfahren wird der generell späte Zeitpunkt der Bestellung kritisiert und gefordert, daß die Beiordnung eines Verteidigers schon im Vorverfahren erfolgen müßte. 9 5 5 So dürfte inzwischen feststehen, daß dem polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Vorverfahren das entscheidende Gewicht zukommt, während die Bedeutung der Hauptverhandlung in den Hintergrund gerückt i s t . 9 5 6 Da im Ermittlungsverfahren Weichenstellungen vorgenommen werden, die in der Hauptverhandlung nicht mehr zurückgenommen werden können, muß auch die Beistandsfunktion des Verteidigers in diesem Stadium zur Geltung kommen können. In einem beschleunigten Verfahren läßt es zudem die (stark) verkürzte Verfahrensdauer als sachgerecht und notwendig erschei-

953

Vgl. oben Zweiter Teil, III. 2. d). Vgl. hierzu Herrmann, StV 1996, 397 ff., 400; Arbeitskreis Strafprozeßreform, Verteidigung, S. 59 ff.; Welp, ZStW 90 (1978), 115 ff., 129 ff.; Haffke, StV 1981, 480 ff., 485 f. 955 Weigend, ZStW 100 (1988), 755; Herrmann, StV 1996, 401 ff.; Arbeitskreis Strafprozeßreform, Verteidigung, S. 59; Rieß, Schäfer-FS, S. 203; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1237, 1240 f.; Eisenberg, NJW 1991, 1263; Müller, AnwBl 1986, 51; Oellerich, StV 1981, 441. 956 Weigend, ZStW 104 (1992), 499, 504; Albrecht, NJ 1994, 400; Rieß, SchäferFS, S. 208; Herrmann, StV 1996, 401; Eisenberg, NJW 1991, 1263; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 37, Rdnr. 1, 29; Müller, AnwBl 1986, 51, 53; Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, S. 54, 56; Dahs, NJW 1985, 1118; Linden, Referat, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentages, Band I I / l , M 37; Geißer, GA 1983, 409; sowie die Diskussionsbeiträge von Hassemer, Hammerstein und Jung bei Barth, ZStW 108 (1996), S. 156 ff. 954

236

3. Teil: Rechts vergleichende Aspekte

nen, die ohnehin sehr beschränkte Zeit dem Beschuldigten so gut wie möglich für seine Verteidigungsvorbereitung zur Verfügung zu stellen. Insoweit ist von der Möglichkeit des § 141 Abs. 3 StPO in weitem Umfange Gebrauch zu machen. 957 Der Verteidiger sollte in Untersuchungshaftfällen, wie es einfach beschleunigte Verfahren überwiegend darstellen, 958 bestellt werden, sobald der Beschuldigte dem Richter vorgeführt wird, der über die Anordnung der Untersuchungshaft entscheidet. 959 Findet die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren schon wenige Stunden nach der Festnahme statt, so reduziert sich das Vorverfahren im wesentlichen auf die polizeiliche Vernehmung, eine hernach kurz stattfindende Prüfung der Antragsvoraussetzungen durch die Staatsanwaltschaft sowie eine ebenfalls kurze richterliche Antragsprüfung. Hält man an diesem Verfahrenstypus trotz seiner rechtsstaatlichen Bedenken 960 fest, sollte der (notwendige) Verteidiger in diesem Fall unmittelbar nach 9 6 1 der polizeilichen Vernehmung in das Verfahren eintreten. Die hier vorgeschlagene frühzeitige und umfassende Einbeziehung eines Verteidigers in das beschleunigte Verfahren würde einen erhöhten organisatorischen Aufwand bedeuten. Erforderlich wäre die Bereitschaft der Rechtsanwender, die notwendigen Voraussetzungen im organisatorischen Bereich zu schaffen und aufrechtzuerhalten, die Anwaltschaft müßte gewillt sein, Termine auch sehr kurzfristig wahrzunehmen. Daß die Verbindung von beschleunigtem Verfahren und Verteidigung organisatorisch ohne weiteres gelingen kann, zeigt die Verfahrenspraxis der comparution immédiate, in der die formellen Verteidigungsvoraussetzungen mit gut funktionierenden Bereitschaftsdiensten gesichert werden. 9 6 2 Selbst im deutschen Raum wurden im Rahmen verschiedener Modellversuche zum beschleunigten Verfahren erste (positive) Versuche mit anwaltschaftlichen Bereitschaftsdiensten unternommen. 9 6 3 Auch sie unterstreichen die Annahme, daß sich die technischen 957 Auf die weitergehende Frage, inwieweit § 141 Abs. 1 und 3 StPO zugunsten einer frühzeitigen Verteidigung zu ändern ist, soll hier nicht eingegangen werden. 958 Vgl. oben Erster Teil, IV. 4. b). 959 So auch Arbeitskreis Strafprozeßreform, Verteidigung, S. 59; Herrmann, StV 1996, 402; Wolter, Aspekte einer Strafprozeßreform bis 2007, S. 46 f.; Dahs, NJW 1985, 1118; Kühl, StV 1988, 358. Schöch, StV 1997, 323 ff.; Gebauer, StV 1994, 622 ff.; Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), 1241; Rieß, Schäfer-FS, S. 203, fordern allgemein, dem Beschuldigten in sämtlichen Fällen von Untersuchungshaft, frühzeitig einen Verteidiger beizuordnen. 960 Vgl. oben 2. 961 Weitergehend Arbeitskreis Strafprozeßreform, Verteidigung, S. 59, 63; Oellerich, StV 1981, 441; MüUer-Dietz, ZStW 93 (1981), 1241; Herrmann, StV 1996, 402 f., die eine notwendige Verteidigung grundsätzlich oder in bestimmten Fällen schon für die erste Vernehmung des Beschuldigten fordern. 962 Vgl. oben Zweiter Teil, IV. 7.

V. Rechtspolitische Empfehlungen

237

Schwierigkeiten, welche die kurzfristige Verteidigerbeiordnung zweifelsohne mit sich bringt, letztendlich bewältigen lassen. Eine Ausweitung der notwendigen Verteidigung im beschleunigten Verfahren dürfte denn im Ergebnis auch nicht so sehr an organisatorischen Hemmnissen scheitern als vielmehr an fiskalischen Zwängen.

V. Rechtspolitische Empfehlungen Die Darstellung hat ergeben, daß das bbV rechtsstaatlich nicht haltbar und das bV in seiner Entlastungswirkung gering ist. Insoweit ist fraglich, ob das beschleunigte Verfahren überhaupt beibehalten werden sollte. Bejaht man dies, so erscheinen zumindest folgende Änderungen notwendig: - Änderung des Anwendungsbereiches: - Beschränkung auf Verfahren vor dem Strafrichter. - Hinsichtlich der Voraussetzungen des einfachen oder beweisklaren Sachverhalts, Aufhebung der alternativen zugunsten einer kumulativen Fassung. - Einführung eines generellen Zustimmungserfordernisses mit umfassenden Belehrungspflichten. - Klarstellung, daß das Gericht auch im beschleunigten Verfahren den hinreichenden Tatverdacht zu prüfen hat. Demnach ist der Halbsatz „wenn der Angeschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig ist" in § 419 Abs. 3 StPO nach § 419 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verschieben. (Dieser lautet fortan: „Der Strafrichter hat dem Antrag zu entsprechen, wenn der Beschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint und sich die Sache zur Verhandlung in diesem Verfahren eignet.") - Anhebung der Ladungsfrist auf vier Tage mit einer Unterschreitungsmöglichkeit auf ausdrücklichen Wunsch des Beschuldigten und gleichzeitigem Einverständnis der Staatsanwaltschaft sowie des mitwirkenden Verteidigers. - Eine Ladung ist generell vorzusehen. Dabei sollte die mit der Ladung erfolgende Mitteilung des Tatvorwurfs durchweg schriftlich erfolgen. Insoweit sollte auch die Antragstellung nach § 417 StPO auf die Schriftform beschränkt werden. - Einführung einer Wahlpflichtverteidigung bei Freiheitsstrafenerwartung mit umfassenden Belehrungspflichten und ausdrücklichem Hinweis, daß 963

Vgl. oben Erster Teil, IV. 5. a).

238

3. Teil: Rechts vergleichende Aspekte

sich die Verteidigerbeiordnung im beschleunigten Verfahren nach den allgemeinen Vorschriften der §§ 141 ff. StPO richtet. Außerdem Klarstellung, daß die Verteidigerbestellung nach § 418 Abs. 4 StPO weiterbesteht, wenn das Gericht vom beschleunigten ins Regelverfahren überleitet. - Aufhebung des beschleunigten Verfahrens in der Form des bbV: - Die Möglichkeit einer sofortigen Hauptverhandlung in § 418 Abs. 1 StPO ist deshalb zu streichen und das Verfahren auf eine Hauptverhandlung in kurzer Frist zu begrenzen. - Dementsprechend ist auch in § 417 StPO der Wortlaut „zur sofortigen Verhandlung geeignet" abzuändern in „zu einer Verhandlung in kurzer Frist geeignet". - Die Regelung der vereinfachten Beweisaufnahme in § 420 StPO wie das erweiterte Haft- und Festnahmerecht in § 127b StPO sind rechtsstaatlich nicht hinnehmbar und deshalb ersatzlos zu streichen. Damit ergäbe sich de lege ferenda folgende gesetzliche Regelung des beschleunigten Verfahrens: §417 Im Verfahren vor dem Strafrichter stellt die Staatsanwaltschaft schriftlich den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren, wenn die Sache auf Grund des einfachen Sachverhalts und der klaren Beweislage zu einer Verhandlung in kurzer Frist geeignet ist. §418 (1) Stellt die Staatsanwaltschaft den Antrag und stimmt der Beschuldigte der Durchführung eines beschleunigten Verfahrens ausdrücklich zu, so wird die Hauptverhandlung in kurzer Frist durchgeführt, ohne daß es einer Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens bedarf. Der Strafrichter muß den Angeschuldigten auf sein Recht, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens ablehnen zu können, ausdrücklich hinweisen und über die Folgen sowohl seiner Zustimmung wie Ablehnung umfassend belehren. (2) Die Ladungsfrist beträgt im beschleunigten Verfahren vier Tage. Ihre Unterschreitung ist möglich, wenn der Beschuldigte dies ausdrücklich wünscht und die Staatsanwaltschaft sowie der mitwirkende Verteidiger damit einverstanden sind. Mit der Ladung wird dem Beschuldigten schriftlich mitgeteilt, was ihm zur Last gelegt wird. (3) Der Einreichung einer Anklageschrift bedarf es nicht. Wird eine solche nicht eingereicht, so wird die Anklage bei Beginn der Hauptverhandlung mündlich erhoben und ihr wesentlicher Inhalt in das Sitzungsprotokoll aufgenommen.

V. Rechtspolitische Empfehlungen

239

(4) Ist eine Freiheitsstrafe zu erwarten, so wird dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, auf seinen Antrag hin ein Verteidiger bestellt. Über sein Antragsrecht ist der Beschuldigte umfassend zu belehren. Die §§ 141 bis 143 und 145 gelten entsprechend. §419 (1) Der Strafrichter hat dem Antrag zu entsprechen, wenn der Beschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint und sich die Sache zur Verhandlung in diesem Verfahren eignet. Eine höhere Freiheitsstrafe als Freiheitsstrafe von einem Jahr oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf in diesem Verfahren nicht verhängt werden. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist zulässig. (2) Die Entscheidung im beschleunigten Verfahren kann auch in der Hauptverhandlung bis zur Verkündung des Urteils abgelehnt werden. Der Beschluß ist nicht anfechtbar. (3) Wird die Entscheidung im beschleunigten Verfahren abgelehnt, so beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, wenn der Angeschuldigte weiter einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint. Eine nach § 418 Abs. 4 erfolgte Verteidigerbestellung bleibt in diesem Fall bestehen. Wird nicht eröffnet und die Entscheidung im beschleunigten Verfahren abgelehnt, so kann von der Einreichung einer neuen Anklageschrift abgesehen werden.

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