Bergson und die deutsche Philosophie: 1907-1932 9783495817100, 9783495489628

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Bergson und die deutsche Philosophie: 1907-1932
 9783495817100, 9783495489628

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Vorwort
Hinweise
Einführung
I. Jena
1. Eucken und seine Schüler: Bergsons ›Neoidealismus‹
2. Von Hügel: Die Erneuerung des Christentums
3. Bergson im Verlagsprogramm von Diederichs
3.1. Die Übersetzungen
3.2. Der Antirationalismus
3.3. Die moderne Religiosität
4. Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern
II. Berlin
1. Die ersten Kontakte mit Simmel und mit dem George-Kreis
2. Simmel und Bergson als Kritiker Kants
3. Der tragische Konflikt zwischen Leben und Form
4. Die Vermittlung durch Jankélévitch
5. Die Endlichkeit von L’évolution créatrice bis Les deux sources
III. Heidelberg
1. Driesch: élan vital und Neovitalismus
2. Bergson in der Debatte über den Historismus
2.1. Natur und Geschichte bei Driesch
2.2. Das Vorwort von Windelband zu Materie und Gedächtnis
2.3. Bergsons Intuition und Geschichte bei Troeltsch
2.4. Das Gesetz der Dichotomie in Les deux sources
3. Rickert: Die Kritik am Biologismus der Lebensphilosophie
4. Cassirer: Der Naturalismus in Les deux sources
IV. Göttingen
1. Bergson im Kreis der Phänomenologen
2. Lebensphilosophie und Psychologismus
3. Leben und Bewusstsein im Menschen
4. Lebensphilosophie und Kapitalismuskritik
5. Kultur und Zivilisation vom Krieg bis Les deux sources
V. Der Krieg
1. Die philosophische Mobilmachung
2. Nationalphilosophien im Krieg
3. Bergson und Nietzsche
3.1. Vorwegnahmen von Bergsons Moralphilosophie
3.2. Vom Übermenschen zur göttlichen Menschheit
3.3. Herrenmoral und Imperialismus
Schlussfolgerungen
Bibliographie
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Namensregister

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Caterina Zanfi

Bergson und die deutsche Philosophie 1907–1932

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817100

.

B

Caterina Zanfi Bergson und die deutsche Philosophie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Dieses Buch erzählt eine weitgehend vergessene Geschichte: die der Beziehungen Bergsons zur deutschen Philosophie seiner Zeit. Von Schöpferische Entwicklung (1907) bis Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932) definiert Bergson seine eigene Philosophie immer wieder von Grund auf neu. Er bereichert sie um anthropologische Themen, in denen der Nachhall der deutschen Debatte über die Lebensphilosophie hörbar ist. Im Durchgang durch die Analyse der »deutschen« Polemiken, die in jenen Jahren Bergson betrafen oder an denen er beteiligt war, wird hier nicht nur die Rezeption von Bergsons Werk in Deutschland verfolgt, sondern auch der nachhaltige Einfluss dieses intensiven Dialogs: sowohl auf die Philosophie des französischen Denkers (Die beiden Quellen) als auch auf Philosophen von Rang wie Eucken, Simmel, Driesch, Windelband und Scheler. Die vier Stationen, in die das Buch diese philosophische Begegnung gliedert (entsprechend den Städten Jena, Berlin, Heidelberg und Göttingen), vermitteln uns ein neues Profil von Bergsons Denken, das sich vollkommen auf der Höhe der zeitgenössischen Debatte über die brennenden Fragen der Technik, der Geschichte und des Krieges zeigt.

Die Autorin: Caterina Zanfi (geb. 1982) ist die Autorin von Bergson, la tecnica, la guerra (2009). Sie ist Herausgeberin vom Dossier Bergson dans la philosophie allemande (Annales bergsoniennes, Bd. VII, 2014) und Mitherausgeberin von Die Philosophische Anthropologie in der deutsch-französischen Debatte der Gegenwart (mit Thomas Ebke und Guillaume Plas, »trivium«, 2017) und von Das Leben im Menschen oder der Mensch im Leben? Deutsch-Französische Genealogien zwischen Anthropologie und Anti-Humanismus (mit Thomas Ebke, 2017).

https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Caterina Zanfi

Bergson und die deutsche Philosophie 1907–1932 Mit einem Vorwort von Frédéric Worms Übersetzt von Peter Nickl

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Die italienische Originalausgabe ist 2013 unter dem Titel Bergson e la filosofia tedesca. 1907–1932 erschienen. © Quodlibet Das Vorwort von Frédéric Worms enstammt der französischen Ausgabe Bergson et la philosophie allemande. 1907–1932. © Armand Colin

Cet ouvrage a été publié avec le soutien du laboratoire d’excellence TransferS (programme Investissements d’avenir ANR-10-IDEX-000102 PSL* et ANR-10-LABX-0099).

Die Übersetzung dieses Buches wurde mit der Unterstützung des Segretariato Europeo per le Pubblicazioni Scientifiche erstellt.

Deutsche Erstausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © Hanna Zeckau Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48962-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81710-0

https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Vorwort von Frédéric Worms . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Einführung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

I.

Jena

1.

Eucken und seine Schüler: Bergsons ›Neoidealismus‹ . . .

31

2.

Von Hügel: Die Erneuerung des Christentums . . . . . . .

41

3.

Bergson im Verlagsprogramm von Diederichs 3.1. Die Übersetzungen . . . . . . . . . . 3.2. Der Antirationalismus . . . . . . . . 3.3. Die moderne Religiosität . . . . . . .

. . . .

52 52 57 68

4.

Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern . . .

74

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

II. Berlin 1.

Die ersten Kontakte mit Simmel und mit dem George-Kreis

95

2.

Simmel und Bergson als Kritiker Kants . . . . . . . . . .

109

3.

Der tragische Konflikt zwischen Leben und Form . . . . .

121

4.

Die Vermittlung durch Jankélévitch . . . . . . . . . . . .

130

5.

Die Endlichkeit von L’évolution créatrice bis Les deux sources .

137

5 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Inhalt

III. Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1.

Driesch: élan vital und Neovitalismus . . . . . . . . . . .

2.

Bergson in der Debatte über den Historismus . . . . . 2.1. Natur und Geschichte bei Driesch . . . . . . . . 2.2. Das Vorwort zu Materie und Gedächtnis von Windelband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Bergsons Intuition und Geschichte bei Troeltsch 2.4. Das Gesetz der Dichotomie in Les deux sources .

155

. . 162 . . 162 . . 165 . . 169 . . 173

3.

Rickert: Die Kritik am Biologismus der Lebensphilosophie .

4.

Cassirer: Der Naturalismus in Les deux sources

182

. . . . . . 189

IV. Göttingen 1.

Bergson im Kreis der Phänomenologen . . . . . . . . . .

197

2.

Lebensphilosophie und Psychologismus . . . . . . . . . .

208

3.

Leben und Bewusstsein im Menschen . . . . . . . . . . .

216

4.

Lebensphilosophie und Kapitalismuskritik . . . . . . . . .

222

5.

Kultur und Zivilisation vom Krieg bis Les deux sources . . .

229

V. Der Krieg 1.

Die philosophische Mobilmachung

2.

Nationalphilosophien im Krieg . . . . . . . . . . . . . .

254

3.

Bergson und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Vorwegnahmen von Bergsons Moralphilosophie 3.2. Vom Übermenschen zur göttlichen Menschheit . 3.3. Herrenmoral und Imperialismus . . . . . . . .

270 270 278 283

Schlussfolgerungen Bibliographie

. . . . . . . . . . . . 241 . . . .

. . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

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Danksagung

Dieses Buch ist die Übersetzung eines Essays, der 2013 auf Italienisch und auf Französisch veröffentlicht wurde, als Ergebnis einer 2011 an den Universitäten von Bologna und Lille 3 abgeschlossenen Doktorarbeit. Auch anlässlich der deutschen Ausgabe möchte ich mich bei den vielen Menschen bedanken, die mich auf diesem Weg begleitet haben: vor allem bei den Professoren Manlio Iofrida und Frédéric Worms, die gemeinsam die Doktorarbeit betreut haben, die dem Buch zugrunde liegt; bei Enrica Lisciani Petrini, Ghislain Waterlot, Denis Thouard, Gregor Fitzi, Wolfhart Henckmann; bei der Forschergruppe aus dem Vorstand der Société des Amis de Bergson, bei Matthias Vollet und dem Bergson-Nachwuchsforschernetzwerk, Vittorio D’Anna, Arnaud François, Michelina Borsari, Remo Bodei, Yala Kisukidi, Florence Caey-maex, Giuseppe Bianco, Emanuele Coccia sowie bei einigen Institutionen, die meine Forschung erleichtert und unterstützt haben: dem Graduiertenkolleg für philosophische Forschung der Universität Bologna, das damals von Walter Tega geleitet wurde, der Unité mixte de recherche »Savoirs, textes, langages« der Universität Lille 3, damals unter der Leitung von Christian Berner, dem Centre International d’Étude de la Philosophie Française Contemporaine der École normale supérieure (Paris), dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, dem Centre Marc Bloch in Berlin – ohne die Archivare der folgenden Bibliotheken zu vergessen: Jacques Doucet in Paris, der École normale supérieure, des Verlags Félix Alcan, der Münchner Staatsbibliothek, der vatikanischen Archive und der Bibliothek des Dipartimento di Filosofia der Universität Bologna. Als ich dieses Buch schrieb, richtete sich meine Aufmerksamkeit auch auf die deutschen Leser und es ist mir eine große Freude, sie mit dieser Übersetzung endlich zu erreichen. Im Vergleich zur italienischen und zur französischen Ausgabe von 2013 wurde die deutsche Fassung so wenig wie möglich verändert – eigentlich nur, um einige bibliographische Aktualisierungen einzuarbeiten, die nötig geworden 7 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Danksagung

waren. Daher bedanke ich mich besonders bei Peter Nickl für seine ausgezeichnete Übersetzung sowie für die Verbesserungen und Ergänzungen, die er mir mit seltener Kompetenz in Sachen Philosophie und Bergson vorgeschlagen hat. Bedanken möchte ich mich auch bei den Personen und Einrichtungen, die die Realisierung dieser Übersetzung ermöglicht und gefördert haben: Michel Espagne, Frédéric Worms und Tullio Gregory, das Laboratoire d’excellence TransferS und das Segretariato Europeo per le Pubblicazioni Scientifiche. Schließlich danke ich Gerald Hartung, der Alexander von Humboldt Stiftung und der Universität Wuppertal, dass sie mir einen Forschungsaufenthalt in Deutschland ermöglicht haben unter Arbeitsbedingungen, die ideal waren, um das Buch bei seiner Veröffentlichung auf Deutsch zu begleiten, sowie Lukas Trabert, dass er diesen Essay in das Programm des Verlags Karl Alber aufgenommen hat. Das Bild auf dem Umschlag zeigt Bergson, umgeben von Scheler, Simmel, Nietzsche, Eucken und Windelband. Es wurde von Hanna Zeckau gestaltet, der ich für ihre Freundschaft danke. Ihr und den deutschen Freunden aus der Pariser Zeit widme ich diese Übersetzung.

8 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Vorwort Frédéric Worms

Welchen beiden Umstellungen unterzieht Caterina Zanfi den Gegenstand ihres Buches, Bergson und die deutsche Philosophie (mit den wichtigen Daten im Untertitel: 1907–1932), durch die dieses Buch nicht nur die Erforschung seines Gegenstandes erneuert, sondern mit ihm sogar die Perspektiven der intellektuellen Geschichte Europas, für die dieser Gegenstand übrigens wichtiger ist, als man glaubt, auch heute, ja vor allem heute? Zunächst wird man diese beiden Veränderungen räumlich ausdrücken. Die erste besteht nämlich in einer Beugung oder einer Reise. Caterina Zanfi beugt die Idee einer »deutschen Philosophie« und führt uns, um sie – auf diese Weise neu durchdacht – nachzuvollziehen, in vier Städte: Jena, Berlin, Heidelberg, Göttingen, die in der Tat ebenso viele einzelne philosophische Kontexte, Richtungen, Werke und sogar Namen sind: Eucken und seine Schule (Jena), Simmel (in Berlin), Driesch und der Neovitalismus (in Heidelberg), Husserl, aber auch Scheler sowie die Phänomenologie (zunächst in Göttingen). Die »deutsche« Philosophie besteht, in der Zeit um den Ersten Weltkrieg, aus dieser Diversität, die (in dem, was eben nicht einfach die »Rezeption« von Bergsons Werk ist) zu den schon so auffallenden Verschiebungen durch die Probleme der »Kulturtransfers« (nach dem Ausdruck und der Methode von Michel Espagne), der Übersetzung oder der Unübersetzbarkeit (nach dem Ausdruck und der Arbeit von Barbara Cassin) hinzukommt. Außer diesen Transfers und diesen Übersetzungen, die mit Sorgfalt und Leidenschaft untersucht wurden, lässt C. Zanfi hier die jeweiligen Eigenheiten jeder dieser »deutschen« Figuren wiedererstehen, die alle zusammen schon einen ganz besonderen Aspekt des Werks von »Bergson« ausmachen. Diese einzelnen Begegnungen, mit ihren materiellen und konkreten Episoden, lassen diese Studie (von unbestechlicher Gelehrsamkeit und Klarheit) wie eine Untersuchung oder einen Roman aussehen, die man mit Leidenschaft liest, und zeichnen eine Beziehungsgeschichte der Philosophie. 9 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Vorwort

Aber auch die zweite Veränderung wird man als räumlich bezeichnen: Diesmal ist es ein Hin und Her, das auch die Wahl der Daten erklärt, die die Studie eingrenzen. Die erste Umstellung hatte die Bedeutung des Ausdrucks »deutsche Philosophie« verkompliziert, und bereits auch die dieses anderen, scheinbar so einfachen: »Bergson«. Die zweite tut es noch mehr! Caterina Zanfi zeigt nämlich, wie jede der Beziehungen mit der deutschen Philosophie eine Rückwirkung auf das Werk von Bergson hat – was die Entstehung und was das Verständnis seines Hauptwerks von 1932 betrifft, Les deux sources de la morale et de la religion, das mit einem Abstand von 25 Jahren, auf so unvorhersehbare Weise, der Lebensphilosophie von L’évolution créatrice (1907) folgt. »Bergson«, d. h. also nicht nur dieser »Lebensschwung«, der in ganz Europa so unterschiedlich gedeutet wurde, besonders »in Deutschland«, in seinen ethischen, politischen, religiösen, vermuteten Folgen. »Bergson«, d. h. auch »die beiden Quellen«: die »geschlossene« und die »offene« Moral, die »Mystik«, die nur in dieser offenen Moral ihr Kriterium findet, die Lebensphilosophie, die sich erneuert, die zur Demokratie führt, schließlich ein engagiertes Denken der Geschichte, bei dem die Gegensätze klar hervortreten – genau in dem Moment, wo diese sich mehr als je schließt. C. Zanfi zeigt hier, wie die »deutsche« Debatte über diese Fragen ein Echo oder eine Antwort in diesem Buch findet, das unvorhersehbar bleibt, das seinerseits diese Fragen, diese Debatte aufwirft, aber ganz anders. Die Begegnung wäre eine Einbahnstraße (es wäre gar keine) ohne diese Rückkehr; es wäre eine »Rezeption«, aber keine Relation. Die intellektuelle Geschichte geht daraus vollkommen verändert hervor. Aber aus der Untersuchung dieser Beziehungen zwischen Philosophen und Philosophien (und sogar innerhalb jeder Philosophie) gehen nicht nur die einzelnen Philosophien verändert hervor, sondern auch die Rahmen bzw. die allgemeinsten Probleme. Die beiden hauptsächlichsten sind hier die des Kriegs und des Lebens, bzw. der Lebensphilosophie unter der Prüfung des Krieges, der hier im recht verstandenen Zentrum dieses Buches steht (das an der Schwelle seines 100. Jahrestags veröffentlicht wurde) und dem dessen letzter Teil gewidmet ist. Da kann man sich nicht täuschen: Die Beziehung zwischen »Bergson und der deutschen Philosophie« beschreibt zunächst, von einer Einzelbeziehung zur nächsten, was das Schlimmste an dieser Prüfung ist – die Mobilisierung der Lebensphilosophie bzw. des »Vitalismus« in der kriegführenden Ideologie und häufig das Eingrei-

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Vorwort

fen der Philosophen selbst, und sogar von Bergson selbst, in diese nationalistische Mobilmachung. Das Jahrhundert sollte davon gezeichnet sein, zweimal – in der Lektüre dieser Werke, aber auch im Herangehen an diese Fragen, vor allem an die des Lebens, die mit dem Nationalsozialismus noch einmal einen weitaus schlimmeren Gebrauch erfahren sollte, und den einige von Bergsons Gesprächspartnern (wie auch Nietzsche-Kommentatoren) nicht vermieden haben. Denn auch hier kann man sich nicht täuschen: Wie Die beiden Quellen zeigen (und die vorausgehenden Debatten, die C. Zanfi endlich für uns wiedererstehen lässt), war die Lebensphilosophie nicht nur zu diesem ideologischen und häufig kriegerischen Gebrauch verurteilt. Sie konnte zur Unterscheidung des Geschlossenen und des Offenen führen, zur unruhigen Debatte zwischen Simmel und Bergson über die Reichweite der freien Handlung (Jankélévitch hat sie geführt), zum Gleichgewicht zwischen Leben und Geist bzw. Logos, der Phänomenologie, zur tiefsinnigen, von Cassirer (der bald ins Exil geschickt werden sollte) eröffneten Debatte, ohne von der »Philosophischen Anthropologie« zu reden, die heute wiederentdeckt wird (C. Zanfi schließt sich hier vor allem den Studien von O. Agard an), und die nicht dazu verurteilt war, den Menschen aufs Leben zu reduzieren, sondern das Leben zum Menschlichen hin erweitern konnte – auf diese Weise eine andere Alternative entwerfend, in der Welt. Eine Alternative nicht zwischen der Lebensphilosophie im Allgemeinen und dem, was vorgibt, sich ihr zu widersetzen (z. B. bei Heidegger), was ebenfalls die Risiken der Geschichte nicht vermeiden konnte, sondern wirklich eine Alternative zwischen zwei Lebensphilosophien, zwischen zwei Vitalismen. Eine entscheidende Alternative, die das Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg geprägt hat (so wie in Frankreich mitten im Zweiten mit Georges Canguilhem) und die heute, wo die Fragen des Lebendigen erneut zentral werden, wieder zu höchster Aktualität kommt. Es ist also kein Zufall, dass das Buch von C. Zanfi die Geschichte des intellektuellen Lebens im Rahmen der intellektuellen Debatte über das Leben erneuert. Da das intellektuelle Leben der Lage des menschlichen Lebens im Allgemeinen nicht entkommt, die darin besteht, relational zu sein – nicht nur in dem, was an ihr das am meisten Individualisierende und Schöpferische ist, sondern manchmal auch in dem, was in ihr das am meisten Verallgemeinernde und Destruktive ist. Aber auch weil die intellektuelle Debatte über das Leben heute auf diese Geschichte zurückkommen muss, zu der dieses

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Vorwort

Buch einen ganz neuen Beitrag leistet. Eine Geschichte, die so eng mit der »Gegenwart« verstrickt ist, dass sie die Debatte über das Leben gewiss nicht unmöglich oder unzulässig macht, sondern umso notwendiger und dringender.

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Hinweise

Alle Zitate werden auf Deutsch wiedergegeben; die Seitenzählung bezieht sich jeweils auf die Ausgabe in der Originalsprache und auf die entsprechende deutsche Ausgabe. Einige Werke Bergsons erschienen vor Kurzem in neuen Übersetzungen von Margarethe Drewsen – häufig näher am Sinn des Textes, wobei einige interpretatorische Verbiegungen, die durch die Übersetzungen zu Jahrhundertbeginn in Umlauf kamen, korrigiert wurden. Da sich jedoch unsere Studie genau auf diese ersten Interpretationen konzentriert und die Übersetzungen der Werke Bergsons aus der Nähe betrachtet, haben wir uns dazu entschieden – um Missverständnisse zu vermeiden –, immer die ersten deutschen Ausgaben zu verwenden. In Ermangelung entsprechender deutscher Fassungen sind die Übersetzungen fremdsprachiger Texte von Peter Nickl. Zur Verdeutlichung wurden gelegentlich französische Begriffe in Klammern wiedergegeben. Die Einfügungen in eckigen Klammern in den Zitaten stammen von der Autorin. Für die Werke Bergsons wurden die üblichen Abkürzungen verwendet: DI MM R EC PC ES DS PM M C EP

= = = = = = = = = = =

Essai sur les données immédiates de la conscience Matière et mémoire Le rire L’évolution créatrice La perception du changement L’énergie spirituelle Les deux sources de la morale et de la religion La pensée et le mouvant Mélanges Correspondances Écrits philosophiques

Eine vollständige Bibliographie findet sich am Schluss des Bandes.

13 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Einführung

Diese Untersuchung rekonstruiert die Wandlungen von Bergsons Philosophie im Zeitraum zwischen L’évolution créatrice (1907) und Les deux sources de la morale et de la religion (1932), indem sie einige philosophische Debatten in Deutschland aufarbeitet, deren Gegenstand Bergson war und an denen er in diesen Jahren teilnahm. Die Aktualisierungen, die Bergsons Vorträge der 1910er und 1920er Jahre und das Werk von 1932 erbrachten, betreffen vor allem die Einführung neuer Themen in seine Philosophie des Lebens. Die Behandlung von Fragen wie soziales Leben, Moral, Religion, Mystik, Mechanik und Geschichte veranlasst Bergson in einigen Fällen, grundlegende Aspekte seiner Philosophie neu zu bestimmen. Die Art und Weise, in der diese Themen auftauchen und in der diese philosophischen Neubestimmungen Form annehmen, erklärt sich vielfach aus dem Dialog Bergsons mit seinem historischen und sozusagen geographischen Kontext – auch wenn sie teilweise in seiner Philosophie schon enthalten und aus der inneren Bewegung seines Denkens verständlich waren. In Les deux sources ist in der Tat das Echo diverser Austauschbeziehungen vernehmbar, die Bergson mit den deutschen Philosophen seiner Zeit unterhalten hatte. Dieses Echo zu erkennen, eröffnet nicht nur die Möglichkeit, dem Werk Bergsons das historische Format und die europäische Bedeutung zurückzugeben, die ihm zustehen, sondern auch die Bedeutung seiner Lebensphilosophie und ihrer anthropologischen, moralischen und politischen Implikationen tiefer zu begreifen. Freilich erheben wir hier nicht den Anspruch, die Tragweite von Les deux sources zu erschöpfen, indem das Werk durch das Heranziehen philologischer Quellen (die das verwirklichen, was Bergson »eine hübsche Mosaikarbeit« 1 genannt hätte) seiner Zeit und seinem Raum zugeordnet wird. Die Analyse des Kontexts ist nur eine der 1

PM, S. 122; dt. S. 130.

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Einführung

Dimensionen dieser Untersuchung, die die Spannung mit der philosophischen Intuition, die ihren Gegenstand darstellt, lebendig hält. Die Geschichte der Philosophie ist, wie Bergson selbst in dem 1911 an der Universität Bologna gehaltenen Vortrag L’intuition philosophique behauptet, in der Tat eine Vorarbeit für das Begreifen der Intuition: [O]hne diese Vorarbeit, eine Philosophie zu rekonstruieren aus dem, was nicht ihr eigentliches Wesen ist, und sie in Beziehung zu setzen zu ihrem zeitgenössischen Milieu, – ohne diese Vorarbeit würden wir vielleicht niemals zu dem gelangen, was sie in Wirklichkeit ist; denn der menschliche Geist ist so beschaffen, daß er das Neue erst zu begreifen beginnt, nachdem er alles versucht hat, um es auf das schon Bekannte zurückzuführen. 2

Das historische und philologische Studium einer Lehre kann allerdings die Suche nach der zentralen Intuition eines jeden Philosophen nicht ersetzen. Diese ist den Mitteln, über die er verfügt, um sie auszudrücken, inkommensurabel, die nun einmal von den »zeitlichen und örtlichen Bedingungen« 3 abhängen, in denen er lebt. Für Bergson liegt das zentrale methodologische Problem der Philosophiegeschichte also in der Spannung zwischen Intuition und Lehre, die derjenigen von unmittelbarer Erfahrung und ihrem begrifflichen Ausdruck entspricht. In dieser Untersuchung hat sich die Wahrnehmung dieser Spannung erweitert durch das Studium der Übersetzungen der philosophischen Werke Bergsons und der ihm bekannten deutschen Autoren. Die Schwierigkeiten, auf die die Übersetzer stießen, um Schlüsselbegriffe der Bergson’schen Philosophie – wie z. B. intelligence, intuition oder élan vital – zu verdeutschen, macht die Mühe besonders deutlich, die damit verbunden war, die Intuition sprachlich auszudrücken, d. h., sie dem Wortschatz anzupassen, der in dem Moment und an dem Ort zur Verfügung steht, an dem jeder Philosoph lebt. Die Schwierigkeit z. B., die der literarischen Schöpfung eignet, wenn sie »den Sinn des Wortes [hat] vergewaltigen müssen, damit er sich dem Gedanken anpasse« 4, ist doppelt spürbar, wenn man sich mit zwei verschiedenen linguistischen Systemen auseinandersetzt. Das Geschäft des Übersetzens zeigt in der Tat den unüberwindlichen Provinzialismus jeder Sprache, ihre Unvergleichbarkeit und ihr Unge2 3 4

Ebd., S. 118 f.; dt. S. 127. Ebd., S. 121; dt. S. 129. DS, S. 43; dt. S. 42.

16 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Einführung

nügen im Vergleich zu den anderen Sprachen. Indem der Übersetzer die Worte und die Begriffe des Fremden übernimmt, verlagert und verformt er sie, wobei er einige Bedeutungsnuancen verliert und andere, die dem ursprünglichen Kontext fremd sind, erwirbt. 5 Unter diesem Gesichtspunkt kann das Studium der Übersetzungen sehr fruchtbar sein, um das Denken Bergsons zu verstehen. Denn es zwingt dazu, darauf zu achten, was die aufnehmende philosophische Kultur – in unserem Fall die deutsche – dem Profil der Philosophie Bergsons wegnimmt oder hinzufügt. Das Verhältnis zwischen der Bergson’schen Philosophie und der Fassung, die ihr die deutschen Übersetzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts geben, zwingt dazu, die Aufmerksamkeit auf den Gedanken unter dem erzwungenen Wortsinn zu richten. So schärft sich also das Verständnis sowohl der Philosophie Bergsons als auch der philosophischen Landschaft in Deutschland, deren Polarisierung zwischen Kant und Nietzsche die Lesarten des französischen Autors zu Beginn des Jahrhunderts besonders deutlich unterscheidet. Die Untersuchung der deutschen Übersetzungen Bergsons hat vor allem häufige Rückgriffe auf die kantische oder romantische Terminologie herausgearbeitet, während viele Begriffe seiner Philosophie geklärt werden durch Analogien mit dem Denken von Schopenhauer, von Nietzsche oder auch von Eucken, Simmel, Klages und anderen zeitgenössischen deutschen Autoren. So ergibt sich eine Art Hybrid-Bergson, durch die philosophische Tradition der aufnehmenden Kultur gefiltert und oft kreativ missverstanden. Wenn einerseits die deutschen Übersetzer Bergson der eigenen Sprache und der eigenen philosophischen Kultur anpassen, leidet andererseits auch Bergson – während er die Überschneidungen bemerkt, die sie zwischen seiner Philosophie und der einiger deutscher Autoren vorschlagen – unter dem französischen Bezugssystem und dem Bild von der deutschen Philosophie, das man in diesen Jahren westlich des Rheins hat. 6

Vgl. Antoine Berman, L’épreuve de l’étranger. Culture et traduction dans l’Allemagne romantique, Gallimard, Paris 1984, besonders die Überlegungen zur ethischen und metaphysischen Bedeutung der Übersetzung im Eröffnungsbeitrag La traduction en manifeste, S. 11–24. Einen nützlichen Überblick über die zeitgenössischen Studien zur Übersetzung bietet Maria Teresa Costa, Filosofie della traduzione, Mimesis, Mailand 2012. 6 Hilfreich, um das Labyrinth der deutsch-französischen Beziehungen zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert zu rekonstruieren, sind die Studien von Claude Digeon, La 5

17 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Einführung

Beim Betrachten der Dialoge zwischen Bergson und Deutschland wurde daher versucht, die Zeugnisse der direkten Austauschbeziehungen in den größeren Kontext der damaligen deutsch-französischen Beziehungen zu stellen. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den damals verfügbaren Übersetzungen, den Gelegenheiten internationalen Austauschs wie z. B. den internationalen Kongressen für Philosophie sowie einigen Vermittlerfiguren, die das Werk Bergsons in Deutschland bekannt machen – oder umgekehrt dazu beitragen, die Aufmerksamkeit Bergsons auf die deutsche Philosophie zu lenken, wie Isaak Benrubi und Vladimir Jankélévitch. Aus dem Studium der transferts culturels 7 zwischen Bergson und den deutschen Philosophen seiner Zeit ergibt sich der Hinweis auf eine doppelte Ordnung von Fragen. Zuerst beobachtet man nämlich die Unterschiede, die sich auf die Zugehörigkeit einer jeden Philosophie zu ihrer eigenen Sprache und nationalen Kultur zurückführen lassen, auf die eigene Geschichte und das eigene Gebiet. Zweitens treten – jenseits der deformierenden Filter, mit der jede Kultur die anderen interpretiert – die gemeinsamen Probleme hervor, die die französischen und deutschen Philosophen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Dieser letztgenannte Aspekt zeigt sich auf dem gemeinsamen Hintergrund der Dialoge und der Beziehungen zwischen der französischen und der deutschen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Bedeutung die Idee des Nationalcharakters der Philosophien entschärft. 8

crise allemande de la pensée française (1870–1914), PUF, Paris 1992; Jean Quillien (Hg.), La réception de la philosophie allemande en France aux XIXe et XXe siècles, Les Éditions du Cerf, Paris 2004 sowie Marc Crépon (Hg.), Philosophies nationales?: Controverses franco-allemandes, monographische Ausgabe der »Revue métaphysique et de morale«, CIX (2001), 3, September. 7 Um sich im Labyrinth der Spiegel zu orientieren, das aus den vielfältigen Richtungen des Transfers von Bergsons Philosophie hervorgegangen ist, wurden die Beobachtungen von Pierre Bourdieu berücksichtigt, Les conditions sociales de la circulation internationale des idées, »Romanische Zeitschrift für Literaturgeschichte«, XIV (1990), 1–2, S. 1–10. Wertvoll war auch der Hinweis auf die Methode, die für die transferts culturels verwendet wurde von Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, PUF, Paris 1999; vgl. auch M. Espagne – Michael Werner, Présentation, »Revue de synthèse«, LV (1988), 2, April, S. 187–194. Ein äußerst nützliches Arbeitsinstrument war auch das Wörterbuch der unübersetzbaren Begriffe von Barbara Cassin (Hg.), Vocabulaire Européen des Philosophies, Robert, Paris 2004. 8 Vgl. Frédéric Worms, L’idée de philosophie française, in La philosophie en France au XXe siècle, Gallimard, Paris 2009, S. 173–193, hier S. 192.

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Einführung

Das Interesse, die Beziehungen Bergsons zu Deutschland zu erforschen, ist durch die Tatsache motiviert, dass viele neue Argumente, die im Bergson’schen Werk während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aufgetaucht sind, sowie viele der zentralen Themen von Les deux sources von der damaligen deutschen Philosophie geteilt werden, die vor allem an der Entwicklung der Lebensphilosophie beteiligt ist, mit der Bergson häufig verglichen wird. So ist die Idee seiner Gleichgültigkeit gegenüber der deutschen Philosophie nach dem Ersten Weltkrieg – die lange Zeit in den Studien über Bergson als selbstverständlich galt – noch einmal ganz neu diskutiert worden. Das Ereignis des Krieges ist in der Tat vor allem auf der Ebene der Geschichtsschreibung von fundamentaler Bedeutung, denn es bewirkt, dass ein wichtiges Kapitel der europäischen Philosophiegeschichte – wie das der Beziehungen zwischen Bergson und Deutschland – in Vergessenheit gerät. Einer der Hauptgründe für die Verspätung, mit dem man sich dieses Themas angenommen hat, ist die beinahe völlige Abschottung der deutschen Kultur gegen Bergson im Anschluss an den Ersten Weltkrieg. 9 Die Teilnahme des französischen Philosophen an der nationalistischen Propaganda während des Konflikts stößt in Deutschland auf ein lebhaftes Echo und provoziert wenigstens scheinbar den Abbruch des Interesses der deutschen Philosophen gegenüber seiner Philosophie. Ebenso verschwinden seit 1914 die Zitate deutscher Autoren fast völlig aus den Werken Bergsons, und es verbreitet sich die Ansicht, er lehne die deutsche Kultur völlig ab. Die relativ spärliche Aufmerksamkeit, die Bergson in der deutschen Kultur nach dem Das wurde zu Recht hervorgehoben von Gregor Fitzi: »Dass die Bergson-Forschung kein großes Interesse für seine Beziehung zur deutschen Kultur und damit zu Simmel zeigt, liegt größtenteils an der Tradition, die sich infolge von Bergsons politischer Tätigkeit etablierte und die Kontakte nach Deutschland aus seiner intellektuellen Biographie ausblendete. Hinzu kommt, dass der transnationale Austausch zwischen europäischen Intellektuellen vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht ausreichend erforscht ist und damit die Rolle, die unterschiedliche Beziehungsnetze und Vermittlerfiguren dabei spielten«, vgl. G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie. Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson, UVK, Konstanz 2002, S. 198. Es ist bezeichnend für diese Situation, dass ein Klassiker wie L’évolution créatrice in Deutschland nur elf Nachdrucke erlebte, davon zehn in der Übersetzung von 1912, während es z. B. auf Italienisch 33 Nachdrucke in sechs verschiedenen Übersetzungen gab. Die deutschen Auflagen der ersten Übersetzung sind sieben bis 1930, danach folgen drei Auflagen 1967, 1974 und 1980; eine neue Übersetzung von Margarethe Drewsen erschien bei Felix Meiner 2013.

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Zweiten Weltkrieg genießt, hängt hingegen damit zusammen, dass sich Deutungen wie diejenige durchsetzen, die Horkheimer in den Dreißigerjahren vorlegte: Vom Standpunkt einer historisch-materialistischen Analyse der Gesellschaft trägt sie dazu bei, den Namen Bergson mit dem Vitalismus, dem Voluntarismus und dem Biologismus 10 zu verbinden. Sie wird von Lukács radikalisiert in Die Zerstörung der Vernunft 11, wo die Bergson’sche Philosophie des Lebens in irrationalistischen, antiaufklärerischen und antidemokratischen Farben gemalt wird. Auch dieser Aspekt trägt dazu bei, das Studium der Bergson’schen Philosophie in Deutschland zu bremsen und eine Art retrospektiven Schatten auf die Präsenz Bergsons in der Geschichte der deutschen Philosophie zu Beginn des Jahrhunderts zu werfen. Das Interesse für die Verbindungen zwischen Bergson und den deutschen Philosophen seiner Zeit ist hingegen in jüngster Zeit wieder erwacht, vor allem dank der Werke von Gregor Fitzi 12, Arnaud

Vgl. M. Horkheimer, Zu Bergsons Metaphysik der Zeit, »Zeitschrift für Sozialforschung«, III (1934), 3, S. 321–342; erneut veröffentlicht in Gesammelte Schriften, 19 Bde., Fischer, Frankfurt am Main 1985–1996, Bd. III: Schriften 1931–1936, 1988, S. 225–247. Der Artikel von Horkheimer ist eine lange kritische Anmerkung, die auf das Erscheinen von PM folgt – in dem Augenblick, in dem, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland, das Institut für Sozialforschung sich in der École normale supérieure in der Rue d’Ulm in Paris einrichtet. Gemeinsam mit Célestin Bouglé ist Bergson einer der Paten des Instituts in Paris, während es auf seinen endgültigen Umzug nach New York wartet. Vgl. Philipp Soulez, Présentation d’un article inédit en français de Max Horkheimer sur Henri Bergson, »Homme et société«, XVIII (1983), S. 69 f., Juli–Dezember, S. 3–8. In den Artikeln von Horkheimer über Bergson, die in den 1930er Jahren in der »Zeitschrift für Sozialforschung« veröffentlicht wurden, richtet sich die Kritik hauptsächlich gegen den betont abstrakten und ahistorischen Charakter der Intuition und der durée, die der deutsche Philosoph als metaphysische Stütze der positivistischen Wissenschaft darstellt. Außerdem wird der schöpferische und geistige Charakter der realen Zeit für inkongruent mit der historischen Wirklichkeit gehalten, die von den materiellen und politischen Bedingungen der Gesellschaft bestimmt wird. 11 Vgl. György Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Aufbau-Verlag, Berlin 1955. 12 Vor allem seit der Zeit um 2000 ist ein Wiedererwachen der Aufmerksamkeit für die Verbindungen Bergsons zur deutschen Philosophie seiner Zeit zu verzeichnen, wie vor allem die nahezu bahnbrechende Monographie von G. Fitzi bezeugt, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie. Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson, a. a. O. Sie hat eine solide historische Grundlage geliefert im Hinblick vor allem auf die Rezeption Bergsons in Deutschland und durch Simmel. 10

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François 13 und der Habilitationsschrift von Olivier Agard 14 sowie dank der Gelegenheiten zu Studium und Diskussion, die von Matthias Vollet in Mainz 15 organisiert wurden. Die Forschungen zu diesem Thema galten allerdings bis jetzt vor allem der Rezeption BergArnaud François hat mit seiner Forschung dazu beigetragen, Bergson einen bedeutenden Rang im Raum der deutsch-französischen Philosophie zuzuweisen, und zwar mit seiner Abhandlung über die Willensphilosophie von Schopenhauer und Nietzsche, vgl. A. François, Bergson, Schopenhauer, Nietzsche. Volonté et réalité, PUF, Paris 2008 sowie mit neueren Studien über das Verhältnis von Bergson zu Max Scheler und Ernst Haeckel, vgl. ders., La critique schélérienne des philosophies nietzschéenne et bergsonienne de la vie, »Bulletin d’analyse phénoménologique«, VI (2010), 2, S. 73–85; ders., Ce que Bergson entend par »monisme«. Bergson et Haeckel, in Frédéric Worms – Camille Riquier (Hg.), Lire Bergson, PUF, Paris 2011, S. 121–138 und die allgemeinere Studie von A. François, La réception de Bergson en Allemagne: la vie et la conscience, in Shin Abiko – Hisashi Fujita – Naoki Sugiyama (Hg.), Disséminations de L’évolution créatrice de Bergson, Olms, Hildesheim 2012, S. 151–169. 14 Die Habilitation von Oliver Agard über die französischen Quellen der deutschen philosophischen Anthropologie wurde im Dezember 2012 an der Universität Paris IV verteidigt und soll demnächst publiziert werden. Vgl. O. Agard, Max Scheler ou l’esprit vivant: les sources françaises de l’anthropologie philosophique allemande. Außerdem sind zu erwähnen die Beiträge von Gérard Raulet, Ein fruchtbares Missverständnis. Zur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland, in Guillaume Plas – G. Raulet (Hg.), Konkurrenz der Paradigmata. Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie, 2 Bde., Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2011, Bd. I, S. 231–278 sowie von Heike Delitz, Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie. Henri Bergson und Helmuth Plessner, in G. Plas – G. Raulet (Hg.), Konkurrenz der Paradigmata, a. a. O., Bd. II, S. 279–307. Auch die Übersetzungen von Hisashi Fujita und von Jean-Louis Vieillard-Baron sind dem neuen Interesse für die Beziehungen zwischen Bergson und der deutschen Kultur zuzuschreiben; vgl. Ernst Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie; frz. Übers. von H. Fujita, L’éthique et la philosophie de la religion de Bergson, in Frédéric Worms (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2007, Bd. III: Bergson et la science, S. 71–97 sowie Wilhelm Windelband, Zur Einführung; frz. Übers. von J.-L. Vieillard-Baron, En guise d’introduction à Matière et mémoire de Bergson, »Revue philosophique de la France et de l’étranger«, CXXXIII (2008), 2, S. 147–156. Schließlich sei erwähnt das Dossier Bergson dans la philosophie allemande, in Arnaud François – Nadia Yala Kisukidi – Camille Requier – Caterina Zanfi (Hg.), Annales bergsoniennes, Bd. VII: Bergson, l’Allemagne, la guerre de 1914, PUF, Paris 2014, S. 21–98, wo ich Texte über Bergson von Driesch, Scheler, Simmel und Horkheimer vorgestellt und zum ersten Mal ins Französische übersetzt habe. 15 Ein Ereignis, das diesem Studiengebiet großen Aufschwung gegeben hat, war der erste Bergson-Kongress in Deutschland, Bergson und Deutschland – Das Problem der Lebensphilosophie, organisiert von Matthias Vollet in Mainz vom 5. bis 7. Juli 2007. Seitdem ist die Aktivität des Bergson-Nachwuchsforschernetzwerks in Gang gekommen, einer internationalen Gruppe junger Bergson-Forscher, die vor allem die Beziehungen Bergsons zu Deutschland untersucht. Die Seminartreffen finden seit 2007 im 13

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sons in Deutschland, oder sie bestanden in rein theoretischen Vergleichen seiner Philosophie mit der der deutschen Autoren. Bis heute fehlte eine philologische Rekonstruktion der transferts in Richtung Bergson, die es erlaubt hätte, deren Bedeutung für die Entwicklung von Bergsons Spätwerk zu würdigen. Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit wurde beschränkt auf die Autoren und Debatten zur Zeit Bergsons, daher wurde seine Verbindung zu den Klassikern wie Kant, Fichte, Hegel, Schelling oder Schopenhauer nur am Rande und wo nötig behandelt. 16 Das Feld wurde weiterhin auf die zweite Phase von Bergsons Schaffen eingegrenzt, d. h. auf die Zeit, die mit L’évolution créatrice beginnt. Seine Interessen für die Studien von Wundt, Fechner und anderen deutschen Autoren, aus denen sich die Ausarbeitung der ersten, psychologischen Werke Bergsons speiste, werden also beiseitegelassen. Die hier bejährlichen Rhythmus statt, und ich hatte die Freude und die Ehre, daran teilzunehmen. Die Arbeit des Netzwerks begann mit dem Treffen vom 15./16. Dezember 2007, gefolgt von den Studientagen Bergson et les sciences: questions de contenu et de méthode (31. Oktober – 2. November 2008); Nachleben des Gedächtnisses und Entfaltung der Bilder – Perspektiven auf »Matière et mémoire« von Henri Bergson (14. – 15. November 2009), Bergson, Geschichte, Krieg und Frieden – Bergson, l’histoire, la guerre et la paix (14. – 17. April 2011). Das Interesse für Bergson in Deutschland bezeugen seitdem wichtige Bücher von Teilnehmern dieses Netzwerks: Matthias Vollet, Die Wurzel unserer Wirklichkeit. Problem und Begriff des Möglichen bei Henri Bergson, Karl Alber, Freiburg – München 2007; Johannes F. M. Schick, Erlebte Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Intuition zu Emotion bei Henri Bergson, Lit Verlag, Berlin 2012; Heike Delitz, Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2015; Christoph Kersten, Partizipation und Distanz. Henri Bergsons hermeneutische Philosophie, Karl Alber, Freiburg – München 2015. 16 Dem Verhältnis Bergsons zu einigen dieser Autoren wurden übrigens bereits wichtige Studien gewidmet. Ich erwähne nur die ausgezeichnete Abhandlung von Madeleine Barthélemy-Madaule, Bergson adversaire de Kant, mit einem Vorwort von Vladimir Jankélévitch, PUF, Paris 1966 und den jüngsten Beitrag von Camille Requier, La relève intuitive de la métaphysique: le kantisme de Bergson, in F. Worms – C. Riquier (Hg.), Lire Bergson, a. a. O., S. 35–59. Zu Schopenhauer erinnere ich an die Abhandlung von A. François, Bergson, Nietzsche, Schopenhauer, a. a. O., und zu Fichte an die Präsentation der Vorlesungen, die Bergson 1898 an der École normale supérieure über Die Bestimmung des Menschen gehalten hat; vgl. P. Soulez, Présentation, in O. Hamelin – H. Bergson, Fichte. Deux Cours inédits publiés par Fernand Turlot et Philippe Soulez, Centre de documentation en Histoire de la Philosophie, Straßburg 1988, S. 147–152; Jean-Christophe Goddard, I due Fichte di Bergson, in H. Bergson, La destinazione dell’uomo in Fichte, hg. von Felice Ciro Papparo, Guerini e Associati, Mailand 2003, S. 9–16. Außerdem erschien eine Sondernummer von »Les études philosophiques«, LXXVI (2001), 4, Oktober–Dezember zu Bergson et l’idéalisme allemand.

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handelten Jahre, und speziell die Periode 1907–1914, fallen zusammen mit der ersten Phase der Verbreitung von Bergsons Philosophie in Deutschland. Obwohl die direkten Beziehungen spärlicher wurden, sind die Jahre während des Krieges und danach jedoch nicht weniger wichtig, um das Verhältnis Bergsons zur deutschen Philosophie seiner Zeit zu bestimmen. Die gegenseitige Gleichgültigkeit, die zwischen den beiden Lagern während des Konflikts und in der Nachkriegszeit entsteht, ist nämlich mehr zur Schau gestellt als wirklich. Viele Werke Bergsons werden nach dem Krieg übersetzt 17 – und er selbst nimmt nicht nur die Beziehungen zu seinem deutschen Verleger wieder auf 18, sondern schenkt auch in den 1920er Jahren der Philosophie jenseits des Rheins weiterhin seine Aufmerksamkeit, auch wenn häufig durch die Vermittlung französischer Interpreten wie Jankélévitch. Hinzufügen ist, dass sich das Forschungsinteresse mehr auf Bergson als auf seine deutsche Rezeption tout court richtet. Dabei soll Diederichs und Bergson nehmen ihre Kontakte erst nach dem Krieg wieder auf. Materie und Gedächtnis wird 1919 in einer neuen Übersetzung wieder aufgelegt; 1920 erscheint die zweite Auflage (3.–5. Tsd.) von Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen; 1921 werden außerdem Einführung in die Metaphysik (6.–8. Tsd.) und Die schöpferische Entwicklung (4.–6. Tsd.) nachgedruckt. Zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen hingegen Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge 1928 sowie Die beiden Quellen der Moral und der Religion 1933. 18 Am 4. Juni bekennt Bergson gegenüber Chevalier, bezüglich seiner Beziehungen zum Verleger Diederichs: »Ich stand in Verbindung mit einem Buchhändler aus Jena, Diederichs, der nach dem Krieg sehr bekümmert war, dass ich ihn mehrere Jahre ohne Antwort gelassen hatte. Aber die Zeit mildert die Dinge, und oft renkt sie sie ein«, vgl. Jacques Chevalier, Entretiens avec Bergson, Plon, Paris 1959, S. 229. Bergson bezieht sich wahrscheinlich auf den Brief, den Diederichs ihm am 22. Oktober 1919 geschickt hatte: »Der Krieg hat alle geschäftlichen Beziehungen zu Ihrem Lande zerbrochen und auch viele menschliche. Wieweit diese wieder anzuknüpfen sind, kann, wenn es sich um zwei handelt, nicht der eine allein entscheiden. Er kann nur die Hand bieten, und zwar wird er das mit um so größerem Stolz tun, nicht im Bewußtsein seiner eigenen Würde, sondern der Würde seines Volkes. Ich habe um so eher das Recht, von dieser Würde zu sprechen, als ich weder während des Krieges der Kriegspsychose, noch während der Revolution der Revolutionspsychose erlegen bin. […] Wichtiger als alle Streitereien scheint mir, daß es genug Einzelmenschen gibt, die das Gefühl der Selbstverantwortung nicht nur für sich persönlich, sondern auch für die Gesamtheit tragen, und darum jene Unbekümmertheit um die Welt haben, die sie vom Urteil anderer völlig unabhängig macht. Dann erst hat man die Kraft, das Tragische des Lebens zu bejahen«, vgl. Lulu von Strauß und Torney-Diederichs (Hg.), Eugen Diederichs. Leben und Werk, Diederichs, Jena 1936, S. 355 f. 17

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vor allem verifiziert werden, inwieweit er über die Debatten und Reaktionen auf dem Laufenden ist, die von seiner Philosophie in Deutschland ausgelöst wurden. Die europäische Dimension von Bergsons Philosophie betrifft ja nicht nur seinen Ruhm – der, um der Wahrheit die Ehre zu geben, schon zu seinen Lebzeiten weit über die Grenzen des alten Kontinents hinaus reicht 19 –, sondern auch den Umkreis seiner Lektüren und seiner intellektuellen Beziehungen. Die vorliegende Untersuchung begann mit dem Aufspüren der deutschen Quellen, die Bergson zur Verfügung standen. Die Ermittlung von Bergsons Bibliotheksausleihen mit Hilfe der Register der École normale supérieure 20 und die Konsultation seiner Briefwechsel sowie seiner Privatbibliothek (soweit noch vorhanden), die in der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet in Paris aufbewahrt werden, haben es möglich gemacht, ein Verzeichnis dessen zu rekonstruieren, was Bergson auf Deutsch gelesen hat. Lediglich auf der Basis seiner Wie weithin bemerkt wurde, findet die Philosophie Bergsons schon zu seiner Zeit große Resonanz nicht nur in ganz Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten und in Russland. 1913 wird Bergson eingeladen, an den Universitäten Columbia, Princeton und Harvard eine Vortragsreihe zu halten. Auch in Russland wurde die Theorie der Intuition von Nicolas Losski und von der modernistischen Strömung positiv aufgenommen, vgl. Francès Nethercott, Une rencontre philosophique. Bergson en Russie (1907–1917), L’Harmattan, Paris 1995; Hilary Fink, Bergson and Russian Modernism 1900–1913, Evanston, Illinois 1999 sowie Ioulia Podoroga, La pensée de Bergson et le modernisme russe: l’élan et l’imagination poétique chez Ossip Mandelstam, in F. Worms (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2008, Bd. IV: L’Évolution créatrice 1907–2007: Épistémologie et métaphysique, S. 255–267. 20 Um dieses Verzeichnis zu rekonstruieren, das im nächsten Band der Annales bergsoniennes vorgestellt und im Internet Open Access veröffentlicht wird, wurden die Register der Bibliotheksentleihungen der Schüler sowie der ehemaligen Schüler der École normale supérieure konsultiert. Hier habe ich eruiert, was Bergson auf Deutsch gelesen hat: sowohl Klassiker wie Leibniz und Schopenhauer, als auch die neuesten Psychologen – u. a. Wundt und Freud – sowie einige regelmäßig entliehene philosophische Zeitschriften, wie »Archiv für Geschichte der Philosophie«, »Philosophische Monatshefte« und »Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie«. Die Entleihungen auf den Namen Bergson sind nur für die Jahre 1889–1907 verzeichnet, also nicht für die Periode, auf die sich die vorliegende Studie konzentriert; es war daher nötig, sich vor allem auf den Katalog von Bergsons Privatbibliothek zu beziehen, die im Fonds Doucet in Paris aufbewahrt wird. Dass Bergson bei der Bibliothek der ENS eine so große Menge deutscher Publikationen zur Verfügung stand, ist wahrscheinlich in hohem Maße Lucien Herr zu verdanken. Er war seit 1888 Bibliothekar und richtete die Ankäufe der Bibliothek am deutschen Sprachraum aus. Er hatte maßgeblichen Einfluss auf die germanistischen Studien in Frankreich, gemeinsam mit seinem Freund Charles Andler, der wie er aus dem Elsass stammte und eine Biographie über ihn verfasste, vgl. C. Andler, La vie de Lucien Herr, Rieder, Paris 1932. 19

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äußerst spärlichen Zitate wäre das nicht möglich gewesen. Bergsons deutsche Lektüren umfassen sowohl die Klassiker der Philosophie als auch zeitgenössische Abhandlungen, von denen viele seinem eigenen Werk gewidmet sind. Wie Lesespuren oder Antwortbriefe an die Autoren, die ihm häufig ihre Werke schicken, bezeugen, verfolgte Bergson die Art und Weise, in der sein Denken jenseits des Rheins aufgenommen wurde, mit großer Aufmerksamkeit. 21 Beim Lesen der deutschen Kommentare zu seinen Werken stößt Bergson auf einige Konstanten. Vor allem neigen seine ersten deutschen Interpreten häufig dazu, sein Denken auf Themen auszuweiten, die in seinen ersten Werken bisher nur implizit enthalten sind. Dass man seiner Philosophie diejenige Nietzsches und, allgemeiner, die zeitgenössische Lebensphilosophie unterlegt, liefert nicht selten den Schlüssel, um seine philosophischen Intentionen zu Fragen der Religion, der Geschichte, der Moral und der Industriegesellschaft zu antizipieren, die das Herzstück seines Alterswerks ausmachen. Die Art und Weise, in der Bergson seine Lehre Gestalt annehmen lässt, verrät ein Bewusstsein der möglichen Auswirkungen der Philosophie des Lebens und einen Willen, die eigene Position von den deutschen Stimmen dieser Richtung abzuheben. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie scheint also für Bergson eine nicht unwichtige Anregung auf dem Weg der Ausarbeitung von Les deux sources. Der Gang dieser Recherche beschränkt sich somit nicht darauf, Bergson einschließlich seiner Verbreitung in Deutschland zu folgen, sondern beobachtet auch die Rückwirkung auf sein Denken, die die Begegnung mit der deutschen Kultur hervorbrachte: Die Philosophie Bergsons wurde also auf ihrem Weg nach Deutschland und zurück untersucht. Die Debatten, in die sie involviert war, wurden ausgewählt im Blick auf die Themen von Les deux sources. Dabei wurde versucht herauszufinden, wieweit die Begegnung seiner Philosophie mit einem teilweise heterogenen Bezugssystem Bergson selbst beeinflusst hat. Wie sich Jankélévitch in einem Interview erinnert: »Am Ende seines Lebens war [Bergson] sehr nervös geworden. Ich erinnere mich, dass der große Tisch in seiner Wohnung wortwörtlich mit Zeitungsausschnitten überschwemmt war. Offensichtlich sprach man in der ganzen Welt von ihm, in China ebenso wie in Schweden, und er war sehr aufmerksam, er antwortete auf alles. Alle Kritiken verletzten ihn tief. Er war nervös und unruhig …«, vgl. V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous. Une table ronde, »Le Figaro littéraire«, 19. Mai 1966, S. 10 f.

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In Anbetracht der Vielfalt deutscher Denkrichtungen, die häufig an die Tradition einer bestimmten Universität gebunden waren, und der entsprechend unterschiedlichen Reaktionen auf den Bergsonismus, wurde eine Landkarte der Bergson-Rezeption in Deutschland skizziert, deren wichtigste Stationen die Reihenfolge der ersten vier Kapitel dieses Buches vorgeben. Die wichtigsten Stationen von Bergsons Weg durch Deutschland werden hier vorgestellt: Dabei bemisst sich das Niveau historischer Vertiefung nach dem Interesse für die Erklärung der Themen von Les deux sources, und es wird so weit wie möglich die chronologische Ordnung der gegenseitigen Lektüre – Bergsons und der deutschen Philosophen – beibehalten. So durchmessen wir den universitären, verlegerischen und literarischen Mikrokosmos der Städte Jena, Berlin, Heidelberg und Göttingen und rekonstruieren dabei vier verschiedene Kontexte der Bergson-Rezeption. In einem jeden von ihnen wird die Philosophie Bergsons in bereits laufende Debatten eingeführt und reichert sich mit Implikationen und Bedeutungen an, die im französischen Kontext oft weniger Beachtung finden. Jena ist die erste Stadt, in der die Philosophie Bergsons Verbreitung findet. Während der Verleger Diederichs die Übersetzung seiner Werke in Gang bringt, präsentieren die Schüler Euckens sein Denken, indem sie es dem Neoidealismus ihres Meisters annähern. Die Betonung der antikantischen Bedeutung von Bergsons Philosophie spiegelt so den Idealismus Euckens wider und lässt die Mystik und den Aktivismus ahnen, die erst in Les deux sources zur Reife kommen sollten. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Kantianismus ist das Thema, um das sich auch die ersten Austauschbeziehungen Bergsons mit dem Berliner Umfeld drehen, wo Simmel und die Dichter des George-Kreises in seiner Philosophie ein Gegengift gegen den gefühllosen Intellektualismus sehen, der den Lebensrhythmus der zeitgenössischen Gesellschaft bestimmt. Simmels Überlegungen zum Konflikt zwischen dem Leben und den Formen des Intellekts werden von der Lebensphilosophie Bergsons bereichert. Allerdings schließt Simmel sich ihr nie vollständig an, da er an seiner Kritik an Bergsons Mangel an Sensibilität für das Tragische und für die Negativität festhält. Diese Aspekte, die Bergson auch durch die Berichte seines Schülers Jankélévitch kennenlernt, scheinen eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entstehung von Les deux sources gespielt zu haben. Dort zeigt Bergson – neben der Metaphysik der vollen Positivität – eine 26 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

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stärkere Verankerung in der Ebene der Immanenz und eine erneute Bejahung der Endlichkeit. Die Nähe Bergsons zum Umfeld der Lebensphilosophie beeinflusst auch den Empfang, der ihm in Heidelberg bereitet wird, wo die Debatte über das Verhältnis von Geschichts- und Naturwissenschaften sehr hitzig ist. In Analogie zur Lebensphilosophie und zum Vitalismus von Driesch neigt man dazu, eine von ihm geäußerte Ansicht zur Geschichte und zur Moral in einem naturalistischen Sinn zu extrapolieren, von der Bergson sich jedoch in Les deux sources distanzieren sollte. Hier legt er eine Geschichtsphilosophie und eine Moral vor, die – obwohl »biologischer Natur« 22 – sich nicht einem Naturalismus im engeren Sinn einbeschreiben lassen, sondern vielmehr einer Philosophie, die sich auf das Leben in seinem wissenschaftlichen und metaphysischen Doppelsinn bezieht. Bergsons Philosophie des Lebens wird noch einmal in einem strikt biologistischen Sinn verstanden im Göttinger Phänomenologenkreis, den auch Scheler zu Beginn der 1910er Jahre frequentiert. Dieser schreibt Bergson die für die deutsche Lebensphilosophie typische antikapitalistische Neigung zu, wobei er dessen Kritik am Mechanizismus der Naturwissenschaften auch auf die Felder der Arbeit, der juridischen Normen und der sozialen Organisation extrapoliert. Das letzte Kapitel von Les deux sources bestätigt zum Teil Schelers Antizipation, indem es eine Kritik der zeitgenössischen Industriegesellschaft vorbringt, die jedoch der Technik eine ambivalentere und flexiblere Rolle zuweist als diejenige, die Scheler ihr gibt. Auf die vier geographischen Stationen folgt ein letztes Kapitel. Es widmet sich dem historischen Moment des Ersten Weltkriegs, der auch auf philosophischer Ebene für die deutsch-französischen Beziehungen entscheidend ist. Der Krieg lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit beider Lager auf die nationale Bedeutung der jeweiligen Philosophien, sondern er drängt sich auch als Gegenstand philosophischer Überlegungen auf, ohne die sich die umfassende Bedeutung von Les deux sources kaum begreifen lässt. Der Abbruch der direkten Beziehungen zu Deutschland enthebt Bergson nicht der Pflicht, sich mit der deutschen Philosophie im Hinblick auf die Frage des Krieges auseinanderzusetzen. Dazu erläutert er insbesondere seine Distanz zur Lehre Nietzsches vom Willen zur Macht, mit der seine Philosophie

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DS, S. 103; dt. S. 98.

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oft verglichen wird, und auf die man im Frankreich jener Jahre die imperialistische preußische Politik gern zurückführt. Diese Untersuchung wollte die Genese einer Konstellation von Hauptproblemen des Werks von 1932 klären durch eine Relektüre von Les deux sources im Licht der Dialoge Bergsons mit der deutschen Philosophie seiner Zeit. Dabei wurde versucht, den Beitrag der Beziehungen zu Deutschland zu beurteilen – ein Beitrag, der Bergson in den meisten Fällen eher zu einer Distanzierung statt zum Einverständnis führt, aber dessen Anerkennung seiner Philosophie in jedem Fall ein neues Format und eine große Originalität im europäischen Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts verleiht.

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1. Eucken und seine Schüler: Bergsons ›Neoidealismus‹

Das erste deutsche Echo auf Bergson kommt von der wissenschaftlichen »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane«, in der 1907 der Aufsatz Mémoire et reconnaissance 1 besprochen wird, 1901 Le rire 2 und 1902 Le rêve. 3 Von Matière et mémoire 4 erscheint erst nach der Übersetzung ins Deutsche (1908) eine Rezension von Richard Müller-Freienfels. 5 Das erste Interesse für Bergson 1 Alfons Pilzecker, Mémoire et reconnaissance, »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane«, XIII (1897), S. 229–232. Der Autor rezensiert einen 1896 in der »Revue Philosophique« erschienenen Artikel (das zweite Kapitel von MM) und verweist vor allem auf die Wiederaufnahme der Theorie von Wilhelm Wundt (1832– 1920), dem zufolge das Wiedererkennen in einem ebenso zentripetalen wie zentrifugalen Prozess besteht, während Bergson es nur für zentrifugal hält. Vgl. MM, S. 96–117; dt. S. 80–99. 2 Gerard Heymans, Le rire, »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane«, XXV (1901), S. 155 f. 3 Carl Max Giessler, Le rêve, »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane«, XXIX (1902), S. 231, der sich auf den Text eines 1901 von Bergson vor der Society for Psychical Research in London gehaltenen Vortrags bezieht (im selben Jahr in der »Revue scientifique« erschienen und später in den Sammelband ES aufgenommen, S. 85–109; dt. S. 76–97). Giessler berichtet, dass der Mechanismus der Wahrnehmung, der sich auf Eindrücke und Erinnerungen aufbaut, im Wachzustand derselbe wie im Traum ist – wie Bergson zeigt, indem er sich auf die Beispiele der deutschen Psychologen Goldscheider, Müller und Münsterberg beruft. 4 Richard Müller-Freienfels, Materie und Gedächtnis, »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane«, LVI (1910), 1–2, Mai, S. 126–129. 5 Müller-Freienfels (1882–1949) entwickelt eine Psychologie, die von den Theorien von Wundt, James (1842–1910), Avenarius (1843–1896) und Vaihinger (1852–1933) beeinflusst ist. Er zitiert sie als Referenzautoren in seinem Essay R. Müller-Freienfels, Das Denken und die Phantasie. Psychologische Untersuchungen nebst Exkursen zur Psychopathologie, Aesthetik und Erkenntnistheorie, Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1916, S. III–VIII. Von Wundt beeinflusst ist hingegen R. Müller-Freienfels, Psychologie des deutschen Menschen und seiner Kultur, Beck, München 1930. Das Buch bietet eine Beschreibung der Struktur der deutschen Seele, deren Angelpunkt das Primat des Willens ist, und proklamiert die kulturelle und nationale Einheit der geistigen und antijüdischen deutschen Volksgemeinschaft. 1933 tritt Müller-Freienfels in

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regt sich im psychiatrischen Umfeld der Leserschaft der »Revue philosophique« von Ribot 6, die in Deutschland ziemlich verbreitet und laut Nietzsche die beste philosophische Zeitschrift der Welt ist. 7 Was die Aufmerksamkeit der deutschen Leser zunächst fesselt, ist vor allem die Auseinandersetzung, die er als erster mit der deutschen psychiatrischen Schule, vor allem mit Wundt und Fechner, den Begründern der Experimentalpsychologie, geführt hat. Der Anmerkungsapparat des Essai sur les données immédiates de la conscience und von Matière et mémoire dokumentiert eine ständige kritische Gegenüberstellung mit der Wundt’schen Methode und mit der deutschen Psychiatrie, die noch im Essay Le rire 8 lebendig ist. Auch im die NSDAP ein, aus der er dann wegen seiner jüdischen Abstammung wieder ausgeschlossen wird. 6 Théodule Ribot (1839–1916), Professor erst an der Sorbonne, dann am Collège de France, Erforscher Schopenhauers und der englischen Psychologie, ist der Gründer der »Revue philosophique de la France et de l’Étranger«. Auch Bergson nimmt an den Diskussionen der psychopathologischen Schule in Frankreich teil, die in der »Revue philosophique« von Ribot stattfinden, vgl. Mara Meletti Bertolini, Il pensiero e la memoria. Filosofia e psicologia nella »Revue philosophique« di Theódule Ribot, 1876–1916, Franco Angeli, Mailand 1991. Der Essay von Remo Bodei, Destini personali (2002), Feltrinelli, Mailand 52004, S. 65–82 und 117–135 verortet den Dialog zwischen Bergson, Ribot und Janet (1859–1946) in der europäischen Debatte über die Persönlichkeit, wobei er nicht nur philosophische und psychologische, sondern auch literarische und politische Quellen heranzieht. 7 Friedrich Nietzsche, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, 4 Bde., hg. von G. Colli und M. Montinari, W. de Gruyter, Berlin – NewYork 1975–2004, Bd. II/5, S. 268. Nietzsches Beziehungen zur französischen Kultur werden umfassender behandelt in der wichtigen Arbeit von Giuliano Campioni, der Nietzsches Interessen für Frankreich nachgeht und seine Hauptquellen ausfindig macht, von den Klassikern der Philosophie und der Literatur zu den Zeitschriften und Tageblättern, vgl. Giuliano Campioni, Der französische Nietzsche, dt. Übers. von R. Müller-Buck und L. Schröder, W. de Gruyter, Berlin – New York 2009. 8 Bergson bezieht sich vor allem auf Fechner (1801–1887) im ersten Kapitel von DI und auf Wilhelm Wundt, Psychologie physiologique, 2 Bde., frz. Übers. von E. Rouvier, Alcan, Paris 1886, in DI, S. 16, 32 und 69; dt. S. 18, 35 und 73 und in MM, S. 109; dt. S. 92. In dem Essay über das Lachen schließlich setzt er sich mit den Theorien über das Komische von Emil Kraepelin (1856–1926), Ewald Hecker (1843–1909), Gerard Heymans (1857–1930) und Theodor Lipps (1841–1914) auseinander, vgl. R, S. VI–VII und 31; dt. S. 2 und 25. Für eine gründliche Untersuchung der psychologischen Quellen Bergsons und seines Einflusses auf die medizinisch-psychologische Diskussion seiner Zeit in Europa, speziell auf die Überlegungen von Janet (1859–1946), Minkowski (1885–1972), von Monakov (1853–1930) und Mourgue (1886–1950) sei verwiesen auf die Arbeit von Valeria Paola Babini, La vita come invenzione. Motivi bergsoniani in psichiatria, Il Mulino, Bologna 1990, die im Übrigen einen Beitrag dazu leistet, den Irrationalismus Bergsons und seine Abweichung von der wissenschaft-

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Anschluss an die deutsche Übersetzung von Matière et mémoire (1908) 9 schenkt die Richtung der klinischen Psychiatrie Bergsons Philosophie weiterhin ihre Aufmerksamkeit, vor allem wegen seiner Überlegungen zur Aphasie, deren Übereinstimmung mit den Resultaten der klinischen Experimente des deutschen Psychiaters Robert Sommer hervorgehoben wird. 10 Der Aufsatz Die französische Metaphysik der Gegenwart (Henri Bergson) 11, 1903 von Aron David Gurewitsch in der Berliner Zeitschrift »Archiv für systematische Philosophie« publiziert, ist hingegen die erste umfassende Darstellung von Bergsons Werk unter philosophischem Gesichtspunkt. Die Annäherung an Bergsons Werk erfolgt im Ausgang vom Problem der Freiheit, wobei es in die antideterministische französische Strömung von Renouvier, Lachelier und Boutroux integriert wird. Für die ersten darauffolgenden kriti-

lichen Methode zur Diskussion zu stellen, die ihm von der italienischen Kritik nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den 1980er Jahren oft vorgehalten wurde. 9 H. Bergson, Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist, übers. von I. Benrubi, mit einem Vorwort von W. Windelband, Diederichs, Jena 1908. 10 Das bezeugt der Artikel von Ernest Seillère, L’Allemagne et la philosophie bergsonienne, »L’Opinion. Journal de la semaine«, XXVII (1909), 3 juillet, S. 13 f.: »Ein bayerischer Philosoph, Herr von Aster, hat die überraschende Originalität der Betrachtungen unterstrichen, die deren Autor über die aphasischen Störungen des Gedächtnisses und ihre Folgen für die Beziehungen zwischen Psyche und Moral im Menschen angestellt hat. In der Tat ist einer der großen Spezialisten auf dem Feld der Psychiatrie in Deutschland, Herr Sommer aus Giessen, kürzlich zu analogen Schlussfolgerungen gekommen, wobei er sich auf rein klinische Arbeiten stützt: eine Übereinstimmung, die, wie man ohne Mühe versteht, der französischen Lehre ein wirkmächtiges Empfehlungsschreiben ausstellt«. Die Konvergenz von Bergsons Kritik am psychophysischen Parallelismus mit derjenigen des Psychiaters Robert Sommer (1864–1937) wird auch von Julius Goldstein (1873–1929) hervorgehoben, mit besonderem Hinweis auf R. Sommer, Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller, Stahel, Würzburg 1892, der Sömmerings These von der Lokalisierung der Seele im Gehirn ein Kapitel widmet: »Es ist erwähnenswert, daß Sommer und Bergson, völlig unabhängig voneinander, zu ähnlichen Auffassungen des psychologischen Problems, insonderheit zu ähnlichen Auffassungen der Bedeutung des Gehirns für das seelische Leben, gekommen sind«, vgl. Julius Goldstein, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart, mit besonderer Berücksichtigung des Problems von Leben und Wissenschaft, Klinkhardt, Leipzig 1911, S. 124, Fn. 11 A. (Aron David) Gurewitsch, Die französische Metaphysik der Gegenwart (H. Bergson), »Archiv für systematische Philosophie«, IX (1903), 4, November, S. 463–490.

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schen Aufsätze 12 wird so eine Art Bezugskanon aufgestellt. Das gilt sogar für die Werbeflyer des Verlages von Bergsons Werken in deutscher Sprache, Diederichs in Jena, wo Bergson neben Boutroux unter der gemeinsamen Bezeichnung »französischer Neuidealismus« präsentiert wird. 13 Diese Wortwahl besteht nicht nur auf der Kontinuität zwischen Bergson und dem französischen Spiritualismus, sondern spielt auch auf die entsprechende deutsche Strömung an, deren wichtigster Vertreter Rudolf Eucken ist, der bedeutendste Professor der philosophischen Fakultät in Jena. Euckens Vermittlung ist unerlässlich, um die Geschichte der Verbreitung von Bergsons Ideen in Deutschland zu begreifen. Im akademischen Bereich ist gerade die Generation seiner Schüler ausschlaggebend für die Rezeption des Bergsonismus: Max Scheler, Isaak Benrubi, Albert Steenbergen und Julius Goldstein tragen in den ersten Jahren des Jahrhunderts dazu bei, das Denken Bergsons publik zu machen, teils indem sie die Übersetzung seiner Werke beim Verlag Eugen Diederichs betreuen, teils indem sie in deutscher Sprache Bücher und Artikel veröffentlichen, die seiner Philosophie gewidmet sind. Schon aus diesen fragmentarischen Angaben wird klar, dass der kulturelle Kontext Jenas historisch der wichtigste für die Einführung von Bergsons Philosophie jenseits des Rheins ist, früher noch als jener der Hauptstadt Berlin. 14 Obwohl Jena nur die Ausmaße einer Kleinstadt hat (1890 wurden 13.449 Einwohner registriert), ist es Sitz einer bedeutenden Universität, die 1558 gegründet wurde und Ende des 19. Jahrhunderts 600 Studenten und etwa 90 Professoren zählte. In den Jahren an der Schwelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert lehren hier, außer Eucken, Intellektuelle vom Rang eines Ernst Direkt darauf Bezug nehmen besonders die erste deutsche Monographie über Bergson, Albert Steenbergen, Henri Bergsons intuitive Philosophie, Diederichs, Jena 1909, sowie Karl Bornhausen, Die Philosophie Bergsons und ihre Bedeutung für den Religionsbegriff, »Zeitschrift für Theologie und Kirche«, XX (1910), 1, S. 39–77. 13 Eugen Diederichs, Bücher-Verzeichnis des Verlags Eugen Diederichs zur Entwicklung des Lebens durch Wissenschaft und Tat, Diederichs, Jena 1910, Oktober. Dieser Flyer gehört zu Bergsons Nachlass und wird aufbewahrt in der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet (im Folgenden: BLJD), cote BGN 1296/IV-BGN-V-12. 14 Die Bedeutung der beiden Zentren Jena und Berlin für die Bergson-Rezeption in Deutschland wurde bereits hervorgehoben von Rudolf W. Meyer, Bergson in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Zeitauffassung, in Phänomenologische Forschungen, Karl Alber, Freiburg – München 1982, Bd. XIII: Studien zum Zeitproblem des 20. Jahrhunderts, S. 10–64. 12

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Haeckel und Ernst Abbe. Die Geschichte der Thüringer Stadt ist zudem aufs engste mit der von Weimar verbunden. Hier hatte die Wiege der Romantik gestanden. In Weimar war gerade das NietzscheArchiv eingerichtet worden, in dem außer Rudolf Steiner auch die Brüder Horneffer 15 arbeiteten. 1909 gründeten sie die Zeitschrift »Die Tat«, die 1912 von Diederichs erworben wurde. Diese Zeitschrift sollte eine wichtige Rolle spielen, um die Philosophie Bergsons interpretatorisch zurechtzubiegen, d. h., sie derjenigen Nietzsches und der religiösen Bewegung des Monismus anzunähern, die sich, immer noch im Jena des beginnenden Jahrhunderts, im Umfeld Haeckels und der Mitarbeiter der Zeitschrift herausbildete. 16 Die repräsentativste Figur des philosophischen Lebens in Jena in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist ohne Zweifel Rudolf Eucken. Nach einer kurzen Lehrperiode in Basel (1871–1874), als dort auch Nietzsche und Burckhardt lehrten, wurde Eucken an die Universität Jena berufen, wo er bis 1920 im Amt bleiben sollte. In seinen Ernst Horneffer (1871–1954) heiratet nach seinen philosophischen Studien Hedwig Lotze, die Tochter des Philosophen Rudolf Hermann Lotze (1817–1881). Nachdem er seinen ursprünglichen Plan, protestantischer Pfarrer zu werden, aufgegeben hatte (Grund war seine Ablehnung des Dogmatismus und jedweder Kirche), widmet er sich in Berlin und Göttingen der Klassischen Philologie, wo er bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848–1931) promoviert und wo er Paul de Lagarde (1827– 1891) kennenlernt, einen Orientalisten, der für seine Studien über die Religion der Germanen bekannt ist sowie für seinen Antisemitismus, von dem er tief beeinflusst ist. Nach seiner Arbeit am Nietzsche-Archiv hält er in vielen deutschen Städten Vorträge über die Philosophie Nietzsches, was ihm den Spitznamen »Nietzsche-Apostel« einträgt. Dann engagiert er sich auf religiösem Gebiet, wobei er das jüdische Element der deutschen Kultur leugnet und stattdessen deren klassische Komponente betont, um die »künftige Religion« zu entwerfen. August Horneffer (1875–1955) studiert Philosophie, Philologie und Musik an der Universität Berlin. Als Freimaurer aktiv, ist er als Erzieher in der Schweiz sowie als freier Journalist in München tätig. Mit seinem Bruder Ernst arbeitet er an der posthumen Ausgabe der Werke Nietzsches von 1900 bis 1903 am Nietzsche-Archiv. Zur Rolle Nietzsches im Verlagsprogramm von Diederichs s. Meike G. Werner, Das Gewissen unserer Zeit. Nietzsche im Netzwerk des Diederichs Verlages, in Gangolf Hübinger – Andrzej Przyłebski, Europäische Umwertungen. Nietzsches Wirkung in Deutschland, Polen und Frankreich, Lang, Frankfurt am Main – New York 2007, S. 85–94. 16 Vgl. Marino Pulliero, Une modernité explosive: La revue »Die Tat« dans les renouveaux religieux, culturels et politiques de l’Allemagne d’avant 1914–1918, Labor et Fides, Genf 2008, S. 246–285. Bergsons Haltung zur monistischen Biologie und Metaphysik von Haeckel (1834–1919) untersucht Arnaud François, Ce que Bergson entend par »monisme«: Bergson et Haeckel, in Frédéric Worms – Camille Riquier (Hg.), Lire Bergson, PUF, Paris 2011, S. 121–138. 15

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Werken opponiert er gegen den Positivismus und den Materialismus, die das 19. Jahrhundert beherrschten, um stattdessen den Fortschritt des Geisteslebens zu behaupten. Als Reaktion auf die zeitgenössische Krise der Religion und des Lebenssystems des immanenten Idealismus hatte sich eine Form von technizistischem Naturalismus etabliert, die nach Eucken nur eine einseitige Weltanschauung lieferte, genauso unbefriedigend wie der Idealismus, dem sie sich hatte entgegensetzen wollen. Eucken versucht also wie Bergson, Idealismus und Materialismus gleichzeitig zu überwinden – ein Versuch, der aber im deutschen Rahmen der Zivilisationskritik verortet wird: die von Eucken erhoffte Rückkehr zur Fülle des Geisteslebens hat in der Tat auch Sinn, um auf die Dürre und auf die Leere der Zivilisation zu reagieren, die sowohl auf der individuellen Ebene wie als »Triebwerk des gesellschaftlichen Lebens« 17 nur den Kriterien des Nützlichen entspricht. Von diesen Prämissen her begreift man sowohl seine Abwertung des Staates als unpersönliche und lediglich äußerliche Organisation der Vereinigung der Individuen als auch der Kirche als Symbol einer lediglich äußerlichen und lähmenden Religiosität. Um dieses Problem, das die westliche Moderne kennzeichnet, zu überwinden, hält Eucken es für notwendig, den Wert des menschlichen Lebens wieder in seiner Ganzheitlichkeit zu betonen, die sich weder auf die Überschätzung der Natur, die dem realistischen System eignet, noch auf die übertriebene Bedeutung, die dem Menschen vom Idealismus zugestanden wird, reduzieren lässt. Der Mensch muss über die oberflächliche Bruchstückhaftigkeit der Zivilisation hinausgehen und am Leben des Universums teilnehmen, dessen schöpferische Kraft und dessen rastlose Bewegung es von innen her in die Höhe treiben. So schlägt Eucken mit Berufung auf Fichte eine Auffassung der Handlung vor, die einem einheitlichen inneren Leben entspringt und jedem einzelnen Geist Antrieb geben kann. Die Teilnahme am Leben des Geistes impliziert also die Einheit mit der Natur, mit der der Mensch eine doppelte Beziehung unterhält – eine Beziehung von Einheit und Autonomie zugleich: »Im rechten Sinne bei uns selbst befindlich, stehen wir zugleich unmittelbar im Leben des großen Alls.« 18 Nur die Wiedergewinnung der jeweils eigenen VerRudolf Eucken (1846–1926), Der Sinn und Wert des Lebens, Quelle & Meyer, Leipzig 1907; 2., völlig umgearbeitete Aufl., 1908, 3., umgearbeitete und erweiterte Aufl., 1911, S. 152. 18 R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens (1911), a. a. O., S. 158. 17

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bindung mit dem Geistesleben und die Offenheit für seine schöpferische Spontaneität erlauben es dem Menschen, mit der bloß menschlichen Zivilisation zu brechen und sich für die Vereinigung und Durchdringung von Subjekt und Objekt, von Mensch und Natur zu öffnen, mit dem Ergebnis, das Leben selbst zu erweitern. In diesem Sinn interpretiert Eucken Nietzsches Rede »von Übermenschlichem« 19 als eine Überwindung der reduktionistischen, aufs Niveau der Zivilisation verflachten Sicht des Lebens, der bereits Nietzsche vorgeworfen hatte, eine Art von Verarmung zu sein, an der das Abendland seit Sokrates krankt. Doch statt in das »Dionysische« Nietzsches setzt Eucken seine Erneuerungserwartungen in die christliche Religion, die als der einzige Bereich anerkannt wird, der in der Lage ist, der geistigen Welt wieder ihren vollen Wert zu geben. Wie viele katholische und protestantische Christen seiner Zeit versteht auch Eucken die Religion nicht als einen Bestand hergebrachter Formeln, sondern er versucht, ihren Sinn für innere und spirituelle Fülle zurückzugewinnen. Nur so könnte die Ethik wieder Anschluss an ihre innere Quelle gewinnen und die unterschiedlichen menschlichen Zielsetzungen vereinen. Dabei bekäme auch die Arbeit – inzwischen zu seelenloser Technik verkommen – einen neuen Sinn und fände ihre Inspiration in einer schöpferischen geistigen Tätigkeit. Die Religion hat also den Zweck, das Leben des Menschen von der zivilisationsbedingten Lähmung zu befreien und es auf das Niveau geistiger Energie zu heben – und damit seiner Persönlichkeit zu »der Geburt eines neuen, geistigen Menschen« 20 zu verhelfen. Während Eucken heute eher wegen seiner Rolle als Unterstützer des deutschen Nationalismus während des Ersten Weltkriegs als wegen seiner philosophischen Werke 21 studiert wird, betrachten seine Zeitgenossen ihn als einen der wichtigsten europäischen Intellektuellen. 1908 erhält er sogar den Nobelpreis für Literatur – eine Anerkennung, die Bergson 20 Jahre später erhalten sollte. Vor allem dank seines Schülers Isaak Benrubi wird Eucken auf das Werk Bergsons aufmerksam. 1876 in Thessaloniki in einer Familie sephardischer Juden aus derselben portugiesischen Gemeinde, der Ebd., S. 44. Ebd., S. 159. 21 Unter diesem Gesichtspunkt haben sich in letzter Zeit mit Eucken befasst: Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Schwabe, Basel – Stuttgart 1963, S. 178–188 sowie Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Fest, Berlin 2000, S. 15–35. 19 20

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Spinoza angehörte, geboren, studiert Benrubi Philosophie in Jena und Berlin und verbringt im Jahr 1900 einige Monate in Paris, wo er Vorlesungen an der Sorbonne besucht. 22 Er promoviert 1905 bei Eucken in Jena mit einer Arbeit über Rousseau, in dem er eine bedeutende Quelle für die deutsche Philosophie von Kant bis Nietzsche sowie für die Dichtung von Goethe, Schiller und Hölderlin erkennt. 23 Beim internationalen Philosophiekongress 1904 macht er die Bekanntschaft Bergsons und besucht von 1907 bis 1914 dessen Kurse am Collège de France. Dann lebt er abwechselnd in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, wobei er seine intellektuellen Bemühungen der Gründung eines Austauschs zwischen französischen und deutschen Philosophen widmet. Als Übersetzer sehr aktiv, beschäftigt er sich besonders mit der ersten deutschen Ausgabe von Matière et mémoire sowie von verschiedenen Werken von Émile Boutroux. 24 Seine wichtigste Arbeit, ein Kompendium der zeitgenössischen französischen Philosophie, anfänglich für ein deutsches Publikum verfasst, wird aber, wegen des seit dem Krieg andauernden Misstrauens, zuerst auf Englisch veröffentlicht – 1926. 25 Schließlich wird er von der preußischen Re22 Vgl. I. (Isaak) Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, Delachaux et Niestlé, Neuchâtel 1942; s. auch Michel Espagne, En deçà du Rhin: L’Allemagne des philosophes français au XIXe siècle, Cerf, Paris 2004, S. 105 f. 23 Vgl. E. Benrubi, J. J. Rousseaus ethisches Ideal, Inaug. Diss., Druck von Beyer & Söhne, Langensalza 1905. 24 H. Bergson, Materie und Gedächtnis, übers. von I. Benrubi, a. a. O.; Émile Boutroux (1845–1921), De l’idée de loi naturelle dans la science et la philosophie contemporaines: Cours de M. Émile Boutroux professé à la Sorbonne en 1892–1893, Alcan, Paris 1895; dt. Übers. von I. Benrubi, Über den Begriff des Naturgesetzes in der Wissenschaft und in der Philosophie der Gegenwart. Vorlesungen gehalten an der Sorbonne 1892–93, Diederichs, Jena 1907; ders., De la contingence des lois de la nature; Alcan, Paris 1895; dt. Übers. von I. Benrubi, Die Kontingenz der Naturgesetze, Diederichs, Jena 1911; ders., Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus, Veit & Comp., Leipzig 1911; autorisierte Übers. von J. Benrubi; ders., Avant-propos, in Rudolf Eucken, Les grands courants de la pensée contemporaine, frz. Übers. von H. Buriot und G.-H. Luquet, Alcan, Paris 1911, S. I–XVIII, übers. von J. Benrubi. 25 Vgl. I. Benrubi. Contemporary thought of France, Williams and Norgate, London 1926; dt. Übers.: Philosophische Strömungen der Gegenwart in Frankreich, Felix Meiner, Hamburg 1928; frz. Übers.: Les sources et les courants de la philosophie contemporaine en France, Alcan, Paris 1933. In diesem Werk unterscheidet Benrubi drei Hauptströmungen in der französischen Philosophie: den erfahrungswissenschaftlichen Positivismus, den kritisch-erkenntnistheoretischen Idealismus und den metaphysisch-spiritualistischen Positivismus, dessen Modell bis zu Maine de Biran zurückverfolgt wird. Benrubi vergleicht ihn mit Fichte, da beide Autoren ihre Philosophien auf die innere Erfahrung und auf das Bewusstsein gründeten. Zur letztgenannten

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gierung berufen, von 1927 bis 1933 französische Philosophie in Bonn zu lehren. Gezwungen, Deutschland zu verlassen, verbringt er die letzten Jahre seines Lebens in Genf, wo er 1943 stirbt. Im Jahr 1907, als er bereits mit der Übersetzung von Matière et mémoire beschäftigt ist, schickt Benrubi einen Brief an Eucken, unmittelbar, nachdem er L’évolution créatrice gelesen hatte, um ihn zu bitten, dem Verleger Diederichs die Wichtigkeit des Werks zu signalisieren. Dabei besteht Benrubi auf der Verwandtschaft der Philosophien Bergsons und Euckens: Die Lektüre dieses Buches hat mir in diesen Wochen eine doppelte Freude bereitet. Einerseits wegen des tapferen Eintretens eines so streng wissenschaftlichen Denkers für die Überzeugungen und Forderungen, die mir am Herzen liegen. Andererseits aber wegen der auffallenden Verwandtschaft, die ich zwischen der Bergson’schen Metaphysik und der Ihrigen zu entdecken glaubte. […] Wie Sie, so glaube ich, kämpft Bergson in diesem Werke energisch für den souveränen Charakter des Geisteslebens (wenn auch bei ihm die ethische Seite nicht so stark hervortritt wie bei Ihnen), sodann für die Selbständigkeit der Philosophie (Philosophie = Metaphysik), gegen den Intellektualismus, gegen den Optimismus des Panlogismus. 26

Die Angleichung der beiden Philosophien durch Benrubi sollte durchaus nicht unerheblich sein, um die Aufnahme zu begünstigen, die Euckens Werk zu einem späteren Zeitpunkt durch Bergson zuteil werden sollte. Im Übrigen weiß Eucken dessen Denken sehr zu schätzen: Das Bestehen auf der schöpferischen Kraft des Geisteslebens ist nicht ohne Anklänge an die Lehre von L’évolution créatrice, auf die Eucken selber sich in seinem Werk Geistige Strömungen der Gegenwart 27 ausdrücklich beruft, wenn er Bergson als einen der Gegner des Mechanizismus anführt, da er »das Wirken des Lebens als einer psychischen Kraft« 28 charakterisiert. Eucken scheint sich vor allem auf die Stellen in L’évolution créatrice zu beziehen, in denen das Leben Strömung werden auch Félix Ravaisson (1813–1900), Jean-Marie Guyau (1854– 1888), Gabriel Séailles (1852–1922), Paul Souriau (1852–1926), Bergson und Georges Sorel (1847–1922) gezählt. 26 Brief von Isaak Benrubi an Rudolf Eucken vom 30. Juni 1907, Nachlass Rudolf Eucken, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, zit. in G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 203, Fn. 27 R. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart (1904), 4., umgearbeitete Aufl., Veit & Comp., Leipzig 1909; frz. Übers. von H. Bouriot und G.-H. Luquet, mit einem Vorwort von É. Boutroux, Les grands courants de la pensée contemporaine (41908), Alcan, Paris 1911. 28 R. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart, a. a. O., S. 138.

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definiert wird als »das durch die Materie geschleuderte Bewußtsein« 29 und als Wirklichkeit einer »psychologischen Ordnung« 30 – d. h. die Stellen, in denen der Dualismus von Leben und Materie am meisten hervortritt, und die am meisten auf eine psychologistische Auffassung des Lebens anspielen, im Gegensatz zur mechanistischen. So lässt man Bergson in eine weite, gegen den Naturalismus gerichtete Strömung der zeitgenössischen Philosophie einrücken, zu der sich auch Eucken bekennt. Für Eucken umfasst sie mehr als nur die Kritik an der Erkenntnistheorie der Lebenswissenschaften, er erweitert sie zur Behauptung der Immanenz des geistigen Lebens und zur Aufwertung des Christentums. 31 Eucken betrachtet diese Religion lediglich in ihrem absoluten und ewigen Kern, ohne sich jedoch den dogmatischen Inhalten der vielen Kirchen anzuschließen, die von den historischen Religionen verwirklicht worden waren. In der Tat ist Eucken sehr auf die Notwendigkeit bedacht, das Christentum hinsichtlich seiner »Zeitlichkeit« 32 zu erneuern, d. h., jenen Teil, der allzu sehr vom aristotelischen Intellektualismus geprägt und unfähig ist, auf die spirituellen Bedürfnisse einzugehen, die seit dem Anbruch der Moderne entstanden sind. Dass Eucken und sein kulturelles Umfeld, in dem die Philosophie Bergsons Anklang findet, für die Erneuerung des Christentums empfänglich sind, ist nicht unwichtig: Dies bedingt in der Tat eine »mystifizierende« Lektüre Bergsons, die dazu neigt, seine Intuition mit jener der Mystiker zu identifizieren und aus ihm einen Autor zu machen, der der modernistischen Bewegung nahesteht. Es scheint nämlich ausgerechnet ein modernistischer Theologe gewesen zu sein, der als Erster das Werk Bergsons in den philosophischen Kreis Euckens und seiner Schüler einführte: Friedrich von Hügel.

EC, S. 183; dt. S. 186. Ebd., S. 258; dt. S. 261. 31 Euckens Religionsphilosophie wird analysiert und in den Kontext der deutschen Debatte seiner Zeit gestellt von Otto Sieber, Die Religionsphilosophie in Deutschland in ihren gegenwärtigen Hauptvertretern. Rudolf Eucken als Festgabe zu seinem 60. Geburtstag überreicht, Beyer, Langensalza 1906. 32 R. Eucken, Der Wahrheitsgehalt der Religion, Veit & Comp., Leipzig 1901, S. 419. 29 30

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2. Von Hügel: Die Erneuerung des Christentums

Wie das Manuskript Max Schelers zu einer im Wintersemester 1919/ 1920 an der Universität Köln gehaltenen Bergson-Vorlesung bezeugt, geht sein erster Kontakt mit dem Werk Bergsons auf seine Privatdozentenzeit an der Universität Jena zurück, als ihm im Jahr 1902 der englische Baron Friedrich von Hügel ein Exemplar des Essai gibt: Es ist ungefähr 18 Jahre her, daß ich zum ersten Mal den Namen von Henri Bergson gehört habe, Professor am Collège de France usw. Der Baron von Hügel brachte mir von einer Reise nach London über Paris das erste Buch von Bergson nach Deutschland mit (nur die lateinische Dissertation Quid Aristoteles de loco senserit war ihm 1888 vorausgegangen): Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889. 1

Das Manuskript wird im Max-Scheler-Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt, Ana 315, B, I, 99, hier Bl. 1. Eine von Maria Scheler erstellte maschinenschriftliche Fassung desselben Textes ist erhalten in BSB, Ana 313, CC, VII, 11 a. Im gleichen Archiv, in BSB 375, B, III, 13, ist außerdem ein Manuskript der Mitschrift von Schelers Vorlesung von der Hand des Philosophen und Kunsthändlers Herbert Leyendecker erhalten, der im Wintersemester 1919/20 in Köln bei Scheler studiert. Schelers Zeugnis deckt sich mit dem von von Hügel selbst, der in seinen Diaries von seinem Besuch in Jena im Mai 1902 spricht, anlässlich dessen er lange Gespräche mit Eucken führt, an denen manchmal auch Scheler teilnimmt, wie in der Biographie des Barons berichtet wird: »Am 5. Mai brachen er und Lady Mary nach Jena auf. Dort begegnete die Gemahlin des Barons zum ersten Mal Rudolf Eucken und seiner Familie, und die beiden Philosophen verbrachten den Großteil der folgenden Tage mit langen philosophischen Gesprächen, an denen manchmal auch Dobschütz und Scheler teilnahmen. […] Der Baron kehrte am 15. nach London zurück«, vgl. Lawrence F. Barmann, Baron Friedrich von Hügel and the Modernist Crisis in England, Cambridge University Press, Cambridge 1972, S. 92, Fn. Die handschriftlichen Tagebücher von Hügels, 43 Bde., die die Zeit von 1877 bis 1879, 1884 bis 1900 und 1902 bis 1924 umfassen, sind »im Besitz des Autors«, vgl. ebd., S. 3, Fn. Durch Eucken hatte von Hügel bereits von Scheler gehört, dieser hatte ihn ihm in seinem Brief vom 4. April 1899 als einen »sehr tüchtigen Schüler« vorgestellt, vgl. Othmar Feyl, Briefe aus dem Nachlaß des Jenaer Philosophen Rudolf Eucken (1900–1926), Friedrich-Schiller-Universität, Jena 1960, zit. in Karl-Ernst Apfelbacher – Peter Neuber, Einleitung, in Ernst 1

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Der Baron von Hügel ist eine der zentralen Gestalten der modernistischen Bewegung in Europa. 1852 in Florenz geboren, Sohn des österreichischen Botschafters beim Großherzog der Toskana, verbrachte er die Jahre seiner Kindheit und Bildung in Florenz, Brüssel, Wien und schließlich in Birmingham, wo er sich 1871 niederließ und zwei Jahre später Mary Herbert heiratete. Sehr oft bereist er Kontinentaleuropa, wo er Gelegenheit hat, mit den bedeutendsten Denkern seiner Generation Beziehungen zu knüpfen, was ihm um so leichter fällt, als er die wichtigsten europäischen Sprachen beherrscht. Auf dem Schauplatz der modernistischen Krise 2, die die katholische Welt in Frankreich, England, Italien und – wenn auch in geringerem Maß – Deutschland 3 in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts heimsucht, stellt von Hügel eine der kosmopolitischsten Figuren dar und trägt in beträchtlichem Maß zur Verbreitung der neuen theologischen Ideen von einem Land zum anderen bei. In England steht er in Verbindung mit Maude Dominica Petre, Leiterin der Daughters of the Heart of Mary (einem in Frankreich während der Revolution gegründeten Frauenorden) und Autorin einer Studie über den katholischen Modernismus 4, sowie mit dem Jesuiten George Tyrrell, Professor für Moralphilosophie am Jesuite Scholasticate von Stonyhurts, der nach der Veröffentlichung seines Buches Lex orandi von 1906 zum Austritt aus dem Orden gezwungen worden war und 1908 eine Besprechung von L’évolution créatrice 5 verfasst hatte. Die wichtigsTroeltsch, Briefe an Friedrich von Hügel 1901–1923, Verlag Bonifacius-Druckerei, Paderborn 1974, S. 38, Fn. 2 Die Literatur zum Modernismus ist sehr umfangreich. Unter den allgemeinen Studien beschränke ich mir hier auf den unabdingbaren Émile Poulat, Histoire, dogme et critique dans la crise moderniste (1962), 3., erweiterte Aufl., Albin Michel, Paris 1996, und den umfassenden Überblick von Alfonso Botti – Rocco Cerrato (Hg.), Il modernismo tra cristianità e secolarizazzione. Atti del Convegno Internazionale di Urbino, 1–4 ottobre 1997, Quattro Venti, Urbino 2000. 3 Für eine Rekonstruktion des katholischen Modernismus in Deutschland s. Otto Weiß, Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1995. 4 Maude Dominica Petre (1863–1942), M. D. Petre, Modernism. Its Failures and its Fruits, T. C. & E. C. Jack, London 1918. 5 George Tyrrell (1861–1909), L’Évolution créatrice (1908), »Hibbert Journal«, Januar, S. 435–442. Es handelt sich um die erste englische Rezension von EC, auf die Bergson selbst den englischen Verleger Macmillan aufmerksam macht, der daran interessiert ist, die Übersetzung des Werks zu veröffentlichen. Vgl. den Brief von Bergson an Macmillan vom 21. April 1908 in C, S. 191 f. Tyrrell korrigiert außerdem Friedrich von Hügel, The Mystical Element of Religion as studied in Saint Catherine of Genoa

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ten Gesprächspartner von Hügels in Deutschland sind hingegen Eucken und Ernst Troeltsch 6, während er bereits seit den 1890er Jahren in Frankreich mit Alfred Loisy, Henri Bremond, Lucien Laberthonnière, Maurice Blondel 7 und anschließend auch mit Edouard Le Roy in Verbindung trat – einem Schüler Bergsons und sein künftiger Nachfolger auf dem Philosophie-Lehrstuhl des Collège de France, außerdem Verfasser von Essays deutlich Bergson’scher Inspiration, die in der Debatte um den Modernismus großen Nachhall erfahren sollten. 8 Le Roy stellt Bergson 1907 9 von Hügel vor, aber dessen Interesse für Bergsons Werk ist schon längere Zeit lebendig, wie der mit Maude Dominica Petre 1899–1922 unterhaltene Briefwechsel dokumentiert, aus dem man den Einfluss ermessen kann, den auch die Philosophien von Eucken, Blondel, Laberthonnière 10 für den Baron haben. In Briefen, die reich an philosophischen Elementen sind, erwähnt von Hügel Bergson vor allem wegen der Lehre des Essai, des Werks, das der Baron 1902 Max Scheler schenkt. Von Hügel schätzt besonders die Definition einer radikal empirischen Erfahrung und die Relativierung des Erkenntniswerts der Bilder und der Symbole zugunsten der Intuition und der direkten und unmittelbaren Erfahrung. 11 Die Bergson’sche Philosophie wird also herangezogen, um der positivistischen

and her Friends, 2 Bde., J. M. Dent – E. P. Dutton & Co., London – New York 1908 und schreibt eine Rezension dazu: vgl. G. Tyrrell, The mystical Element of Religion, »The Quarterly Review«, CCXI (1909), 420, Juli, S. 101–126. 6 Die Freundschaft zwischen von Hügel (1852–1925) und Troeltsch (1865–1923) lässt sich im Detail nachverfolgen in: E. Troeltsch, Briefe an Friedrich von Hügel 1901– 1923, a. a. O. 7 Vgl. L. F. Barmann, Baron Friedrich von Hügel and the Modernist Crisis in England, a. a. O., S. 65–73. 8 S. besonders Édouard Le Roy, Qu’est-ce qu’un dogme, »La Quinzaine«, LXIII (1905), 16. April, S. 495–526, zwei Jahre später wieder veröffentlicht mit Le Roys (1870–1954) Antworten auf die bei ihm eingegangenen Kritiken, vgl. É. Le Roy, Dogme et critique, Bloud & Cie., Paris 1907. Der Essay wurde noch im selben Jahr vom Hl. Offizium auf den Index gesetzt. 9 Vgl. L. F. Barmann, Baron Friedrich von Hügel and the Modernist Crisis in England, a. a. O., S. 137 und Fn.: »er und Lady Mary verließen London, um eine Woche in Paris zu verbringen, und der Baron traf zum ersten Mal Edouard Le Roy […]. Er wurde von Le Roy zu einem Besuch bei Bergson mitgenommen, und die beiden hatten ein ›langes Gespräch‹ (Diaries, 14. April 1907)«. 10 Vgl. F. von Hügel – M. D. Petre, The letters of Baron Friedrich von Hügel and Maude D. Petre, hg. von J. J. Kelly, Peeters Publishers, Leuven 2003. 11 Vgl. F. von Hügel, Essays and Addresses on the Philosophy of Religion, J. M. Dent, London –Toronto – New York 1921, S. 69 f.

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Erkenntnistheorie zu widersprechen und um die Wirklichkeit der Erfahrung der inneren Dauer gegenüber der »Clock-Time« geltend zu machen, deren Künstlichkeit die wirkliche Dauer nur oberflächlich verkleidet. 12 Bergsons Lehre von der Intuition wird durch von Hügel in den theologischen Diskurs eingeblendet und in einem antidogmatischen Sinn interpretiert, wie es bei den modernistischen Philosophen und Theologen häufig der Fall ist. Obwohl Bergson sich gegenüber theologischen Fragen zu Beginn des Jahrhunderts sehr reserviert verhält, wird seine Lehre ein Bezugspunkt für die Protagonisten der modernistischen Krise. Die starken Spannungen und Missverständnisse, zu denen es damals zwischen Theologen und der kirchlichen Hierarchie kommt, finden Ausdruck in einer langen Liste von indizierten Büchern und von exkommunizierten Denkern, die von der neuscholastischen Philosophie abweichen. Sie möchten die Haltung des Katholizismus gegenüber der Moderne sowohl auf der Ebene der wissenschaftlichen Methodologie als auch auf derjenigen seiner sozialen und politischen Organisationsformen neu bestimmen. 1914 werden sogar die drei bis dahin erschienenen Hauptwerke Bergsons – der Essai, Matière et mémoire und L’évolution créatrice – auf den Index gesetzt, weil sie angeblich Dogmen des Glaubens wie die substantielle Einheit der Seele und des Körpers, die Persönlichkeit Gottes und die menschliche Freiheit angegriffen hätten, die Bergson einfach als eine Form von Spontaneität verstanden wissen wolle. 13 In Wirklichkeit erklärt Bergson nie offen seine Sympathien für die sogenannten neuen Theologen, obwohl er mit vielen von ihnen in Verbindung steht und manchmal sogar ihr Schüler war, wie im Fall von Léon

Vgl. F. von Hügel, The Mystical Element of Religion as studied in Saint Catherine of Genoa and her Friends, a. a. O., S. 370. Weitere Bezüge zu Bergson finden sich ebd., S. XV und 282. 13 Für die Geschichte der Indizierung der Werke Bergsons sei verwiesen auf Bruno Neveu, Bergson et l’Index, »Revue de métaphysique et de morale«, CX (2003), 4, S. 543–551 und Jean-Robert Armogathe, La mise à l’Index de L’Évolution créatrice (1914), in Giovanni Invitto (Hg.), Bergson, L’Évolution créatrice e il problema religioso, Mimesis, Mailand 2007, S. 41–50. Um deren Motive zu verstehen, ist außerdem heranzuziehen Jacques Maritain, La philosophie bergsonienne: Études critiques, Rivière, Paris 1913. Der Geschichte der Beziehungen Bergsons zu Alfred Loisy (1857– 1940), Lucien Laberthonnière (1860–1932) und zu den wichtigsten französischen Modernisten bin ich nachgegangen in Caterina Zanfi, Bergson, la tecnica, la guerra. Una rilettura delle »Due fonti«, mit einem Vorwort von M. Iofrida, Bononia University Press, Bologna 2009, S. 125–136 und 144–148. 12

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Ollé-Laprune. 14 Nichtsdestoweniger erweisen sich die Modernisten als tief von seiner Philosophie beeinflusst. Sie wenden tatsächlich Bergsons Erkenntnistheorie, die von einer radikalen Zustimmung zur Erfahrung inspiriert ist, welche tiefer liegt als der bequeme wissenschaftliche Symbolismus, auf die Lehre des Dogmas an. Besonders von Hügel neigt dazu, in diesem Sinn die Philosophien Bergsons und Euckens zur Deckung zu bringen, wie aus seinem Brief an Maude Dominica Petre vom 26. September 1900 hervorgeht: [W]ir müssen bedenken, dass alle unsere Begriffe nur durch Bilder, die vom Raum abgeleitet und in ihn projiziert sind, zu völliger Klarheit gelangen können; und alle diese Bilder sind statisch und quantitativ. Wenn wir hingegen zum Wesen rein geistigen und moralischen Seins und Lebens kommen, sind wir mitten im Dynamischen und Qualitativen – das heißt von etwas, was wir nur entweder wahrheitsgemäß und dann mit einer bewussten Unschärfe begreifen können, oder klar und dann mit einer unbewussten Unkenntlichmachung und Verfälschung all seiner wahren Eigenschaften. Es wird weit besser sein, die erstgenannte Alternative zu wählen. […] meine Bemerkungen […] sind eine Erweiterung von Eucken durch Bergson […], was die räumliche Vorstellung betrifft. 15

Léon Ollé-Laprune (1839–1898), Malebranche-Forscher, war der Lehrer von Bergson, Jaurès (1859–1914), Durkheim (1858–1917) und Blondel (1861–1949) an der École Normale Supérieure, bevor er 1880 von der Lehre suspendiert wurde, weil er den Protest gegen die Vertreibung der Karmeliten aus dem Städtchen Bagnères-deBigorre angeführt hatte, vgl. Yves Verneuil, Un protestant à la tête de l’enseignement secondaire: Élie Rabier, »Histoire de l’éducation«, II (2006), S. 117. Benrubi gibt eine Aussage Bergsons wieder, die zeigt, wie sehr sein Interesse an den dem Modernismus verbundenen Autoren wie Ollé-Laprune, Blondel und Le Roy mehr von philosophischen als von religiösen Gründen motiviert ist: »Was Ollé-Laprune betrifft, der einer seiner Lehrer an der École Normale war, gab Bergson zu verstehen, dass dieser Professor, obwohl er ein praktizierender Katholik war, sich auf seine Weise eine viel größere Unabhängigkeit von seinem Glauben bewahrt hatte als zum Beispiel Maurice Blondel, dessen Philosophie tief katholisch geprägt ist. Auch Jules Lachelier war gläubiger Katholik, aber sein Katholizismus war seiner Philosophie kaum anzumerken. Das gleiche gilt für Edouard Le Roy, fügte Bergson hinzu«, vgl. I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 120 (19. Dezember 1934). Bergson bezieht sich außerdem auf L. Ollé-Laprune, De la certitude morale (1880), Éd. Universitaires, Paris 1989, in H. Bergson, Cours, 4 Bde., PUF, Paris 1990–2000, Bd. IV: Cours sur la philosophie grecque, 2000, S. 326. 15 F. von Hügel – M. D. Petre, The letters of Baron Friedrich von Hügel and Maude D. Petre, a. a. O., S. 9 und 14 im Hinblick auf den Begriff der Wesensbildung, wie er erläutert wird bei R. Eucken, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (1896), W. de Gruyter, Berlin – Leipzig 1925. 14

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Als von Hügel Bergson in die Philosophische Gesellschaft einführt, deren Mittelpunkt Eucken war und an deren Treffen er bereits 1898 16 teilgenommen hatte, weiß er außerdem, dass er auf ein gemeinsames Interesse an der Reform des Katholizismus stößt. Auch der junge Scheler, der ein eher unbeständiges, doch immerhin intensives Verhältnis zur katholischen Religion hat, steht dem modernistischen Umfeld nahe – so sehr, dass er den französischen Theologen Lucien Laberthonnière unter seinen wichtigsten Gewährsmännern angibt: Meine Lehrmeister sind in diesen Dingen vor allem Augustinus, Pascal, von den neueren Eucken; auch den Franzosen Laberthonnière schätze ich. Ich bin Theist und Realist, suche aber den großen Wahrheiten der christlichen Mystik nach Möglichkeit gerecht zu werden, und es scheint mir, daß die Immanenz Gottes in der Welt (ein Begriff, den schon Augustinus hat und der keineswegs modern ist) durch beides nicht aufgelöst wird. 17 Von Hügel nimmt an den Versammlungen von Euckens Philosophischer Gesellschaft vom 10. bis 17. Mai 1898 teil, vgl. L. F. Barmann, Baron Friedrich von Hügel and the Modernist Crisis in England, a. a. O., S. 73. In einem Artikel über die deutschen Universitäten aus dem Jahr 1908 beschreibt Benrubi die Aktivitäten der Gesellschaft so: »In der Philosophischen Gesellschaft von Jena, deren Gründer Fichte ist, treffen sich die Studenten regelmäßig ein Mal pro Woche in kleineren Versammlungen, die man ›Leseabende‹ nennt, und ein Mal im Monat gibt es Vorträge mit Diskussion. Die Professoren wohnen diesen Vorträgen häufig bei, nehmen an der ganzen Veranstaltung teil und sogar deren ›gemütlichem Teil‹, der auf die Diskussion folgt«, vgl. J. (Isaak) Benrubi, Le mouvement philosophique contemporain en Allemagne, »Revue de métaphysique et de morale«, XVI (1908), 5, S. 552. Andernorts teilt er Einzelheiten zur Teilnahme Euckens mit: »Sehr oft wohnt Eucken den Vorträgen der Studenten in der Philosophischen Gesellschaft bei, nimmt an der Diskussion teil und hält auch selber Vorträge«, vgl. J. (Isaak) Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, »Revue philosophique de la France et de l’étranger«, XXXIV (1909), 1, S. 373. Eucken bleibt für von Hügel immer ein wichtiger Gesprächspartner. Dieser widmet seiner Religionsphilosophie zwei Aufsätze, vgl. F. von Hügel, Professor Eucken on the Struggle for Spiritual Life, »The Spectator«, LXVIII (1896), 3568, 14, November, S. 678–681 sowie ders., The Religious Philosophy of Rudolf Eucken, »The Hibbert Journal«, X (1912), April 3, S. 660–677. Darin bezieht er sich vor allem auf R. Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart, Veit & Comp., Leipzig 1890; ders., Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (1896), W. de Gruyter, Berlin – Leipzig 1925 sowie ders., Der Wahrheitsgehalt der Religion, Veit & Comp., Leipzig 1901. 17 Der Brief wird zitiert in Wilhelm Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 33 f., hier S. 34; vgl. auch Wolfhart Henckmann, La réception schélérienne de la philosophie de Bergson, frz. Übers. von A. François, in Frédéric Worms (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2004, Bd. II: Bergson, Deleuze, la phénoménologie, S. 369. 16

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In diesem Zitat, das aus einem Brief vom 17. April 1906 stammt, möchte Scheler vermutlich den Erwartungen des Adressaten entsprechen: Georg von Hertling, an den er sich wendet, um seine Umhabilitation an die Universität München zu beschleunigen, wo er dann von 1906 bis 1910 als Privatdozent tätig sein kann. Der bayerische Philosoph und Politiker von Hertling hatte 1876 die Görres-Gesellschaft gegründet, eine in der katholischen Welt Deutschlands recht einflussreiche Vereinigung, deren Vorsitz er ab 1906 übernimmt – eben in den Jahren, in denen die Gesellschaft vom Hl. Offizium des Modernismus bezichtigt wird. 18 Auch wenn die deutschen Modernisten es oft vorziehen – anstatt sich auf die französische Tradition von Blondel oder von Bergson zu berufen –, sich an Kant oder an Hegel anzuschließen (auch durch die Vermittlung von Windelband), so fehlt es doch nicht an Stimmen, die auf die Bedeutung von Bergsons Philosophie aufmerksam machen. 19 So z. B. der katholische Kantianer Karl Gebert 20, aus dessen Feder nach der deutschen Veröffentlichung von Materie und Gedächtnis ein Artikel in der modernistischen Zeitschrift »Das zwanzigste Jahrhundert« erscheint, in dem er behauptet, dass die deutschen Theologen den Modernismus oft nur durch die Enzyklika Pascendi kennen und dass sie, um ihn besser zu verstehen

Die Rolle der Görres-Gesellschaft in der modernistischen Krise behandelt Norbert Trippen, Zwischen Zuversicht und Mutlosigkeit. Die Görres-Gesellschaft in der Modernismuskrise 1907–1914, »Saeculum«, XXX (1979), S. 280–291. 19 Außer auf die Exegese von Loisy und der ihm nahestehenden Forscher beziehen sich die deutschen Modernisten auf Quellen, die genauer untersucht werden in O. Weiß, Der Modernismus in Deutschland, a. a. O. 20 Karl Gebert (1860–1910) studiert in München und nimmt 1908 am internationalen Philosophie-Kongress in Heidelberg teil – dem ersten vor dem Großen Krieg –, bei dem Bergson fehlt. Die Modernisten waren vor allem beeinflusst von seinem Werk Katholischer Glaube und Entwicklung des Geisteslebens, Krausgesellschaft, München 1905. Inspiriert von der Philosophie Kants und Hegels meint er, dass der Christ, um moralisch zu handeln, nicht einer äußeren kirchlichen Autorität gehorchen, sondern seinem eigenen persönlichen Verantwortungsgefühl folgen müsse. In dem Aufsatz K. Gebert, Die Mystik und ihre Stellung im Geistesleben der Gegenwart, »Das zwanzigste Jahrhundert«, VI (1906), S. 279–281 vertritt er die Meinung, der wahre Feind, den die Enzyklika Pascendi getroffen habe, sei Kant, oder besser der ohne Weiteres als Subjektivismus missverstandene Kantianismus, womit indirekt Luther und der Protestantismus angesprochen seien. Zur Rolle der Philosophie Geberts in der Entwicklung des deutschen Modernismus s. O. Weiß, Der Modernismus in Deutschland, a. a. O., S. 272–291. 18

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(und vor allem, um die Philosophie der Tat von Blondel zu verstehen), just Bergson lesen müssten. 21 Es ist nicht unwichtig, dass Bergsons Eintritt in Jena durch eine Bresche erfolgt, die von einer Gruppe von Denkern wie Eucken und Scheler geschlagen wurde, die wie von Hügel an der Erneuerung des Katholizismus und an der Mystik interessiert waren. Dass man in der Philosophie Bergsons eine Stimme gegen den Dogmatismus wahrnimmt, sollte tatsächlich eine Konstante der deutschen Lesarten darstellen, ebenso wie (und noch häufiger) das Insistieren auf den mystischen Konsequenzen seiner Lehre von der Intuition. Wie in Frankreich und in Italien bringt ihm auch in Deutschland der Vergleich mit dem Modernismus Vorwürfe seitens der neuscholastischen Strömung ein, wie z. B. jene von Clemens Baeumker, dem Verfasser eines sehr kritischen Artikels für die Zeitschrift der GörresGesellschaft. 22 Baeumker, Schüler von Brentano und Freund von von Hertling, lehrt an verschiedenen deutschen Universitäten mittelalterliche Philosophie und ist von 1903 bis 1912 in Straßburg – gleichzeitig mit dem Privatdozenten Dr. Baensch, der 1909 einige Vorlesungen über Bergson hält, den er möglicherweise während eines ParisAufenthalts mit Ernst Robert Curtius persönlich kennengelernt hat. 23 Der Aufsatz von Baeumker nimmt viele Gedankengänge von Maritain wieder auf und stellt sich somit in erster Linie als Reaktion auf den Modernismus dar, lässt sich aber auch deuten als eine neuscholastische Antwort auf die deutsche Strömung der Lebensphilosophie, die besonders von den Philosophen und Literaten Berliner Provenienz vertreten wird, mit denen Dr. Baensch wie sein Briefpartner Simmel in Verbindung stand. Wie so häufig könnte der Kommentar zu Bergson also ein Vorwand sein, um indirekt in die Debatte um das Erbe Nietzsches einzugreifen, die die deutsche Philosophie zu Beginn des Jahrhunderts in Beschlag nimmt. Karl Gebert, Philosophie der Innenwelt, »Das zwanzigste Jahrhundert«, VIII (1908), S. 565–568. 22 Clemens Baeumker (1853–1924), Über die Philosophie von Henri Bergson, »Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft«, XXIV (1912), S. 1–23. 23 Vgl. den Brief von Ernst Robert Curtius (1886–1956) an Friedrich Gundolf (1880– 1931) vom 24. August 1909: »Ein Straßburger Privatdozent Dr. Baensch, dem ich viel verdanke, war gleichzeitig mit mir in Paris, hat Bergson kennengelernt und im letzten Semester über ihn gelesen«. Vgl. F. Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, hg. von L. Helbing und C. von Bock, Castrum Peregrini, Amsterdam 1963, S. 135. Auf die Vorlesung verweist auch W. Henckmann, La réception schélérienne de la philosophie de Bergson, a. a. O., S. 371 f. 21

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Bergson selbst, dem Baeumker einen Sonderdruck des Aufsatzes schickt 24, schenkt einigen Passagen Beachtung, in denen der Verfasser den Versuch, sich von dem Begriff der seelischen Intensität 25 zu lösen, für gescheitert hält, und in denen er erklärt, dass Bergsons Begriff des Lebens einer realen Grundlage entbehre und rein abstrakt sei. 26 Baeumker geht schließlich die Wiederaufnahmen von Bergsons Denken bei den Modernisten Le Roy, Ollé-Laprune und Blondel durch, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass bei Bergson die Frage nach der Natur Gottes ausgeklammert wird und dass die Idee eines persönlichen Gottes – wie es der Gott des Christentums ist – fehlt. Schließlich räumt Baeumker ein, dass Bergson ein guter Lehrer ist, wenn es darum geht, dem Materialismus zu entkommen – wobei er allerdings zu bedenken gibt, dass seine Philosophie für diejenigen, die darin eine Antwort auf theologische Fragen suchen, nicht anschlussfähig ist. Diese These, die

Der vom Autor an Bergson übersandte Artikel weist einige unterstrichene Stellen auf, vgl. BLJD, cote BGN 1736/VII-BGN-IV-61. Am 27. Januar 1912 macht Bergson Benrubi auf den Artikel aufmerksam, vgl. I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 66: »Er erzählte mir, dass Bäumker eine Studie über ihn im Philosophisches Jahrbuch der Gutberletgesellschaft [sic] veröffentlicht hatte«. 25 »Mißlungen ist Bergsons Versuch, den Begriff der psychischen Intensität hinwegzuräumen. Nicht zwar insofern die Empfindung als die Tätigkeit gedacht wird, die auf einen Inhalt gerichtet ist, hat sie, entsprechend der Reizstärke, Grade von Intensität; für den Empfindungsinhalt selbst dagegen, der in dieser Bewußtseinstätigkeit erfaßt wird, lassen sich jene Intensitätsgrade nicht in der von Bergson entwickelten Weise hinwegerklären. Das zeigt die Berufung auf die Selbstbeobachtung eines jeden (nota: Wie selbst vom Standpunkt einer idealistischen Erkenntnistheorie aus jener Unterschied zu machen ist, kann man aus den Ausführungen von Kurd Lasswitz, Gustav Theodor Fechner [Stuttgart 1896], S. 87 sehen.). – Nicht gelungen ist auch die Zurückführung der Zeitvorstellung auf die des Raumes; vielmehr ist es dieselbe Verstandestätigkeit, die sich bei der Entwicklung des Raumbegriffes und des Zeitbegriffes in analoger Weise wirksam erweist«, vgl. C. Baeumker, Über die Philosophie von Henri Bergson, a. a. O., S. 10; die Stelle ist von Bergson unterstrichen. 26 Ebd., S. 20: »Alle immanenten Schwierigkeiten der Bergsonschen Lehre verbinden sich in diesen tiefsten Grundlagen zu einem unlösbaren Knäuel. Ein abstrakter, von den allein wirklichen einzelnen Erscheinungen abstrahierter Begriff, der des Lebens, ist zu einer alles umfassenden realen Macht geworden«. Die Stelle ist von Bergson unterstrichen. Baeumker fährt fort, indem er seine Kritik auf die Begriffe der Handlung und des Werdens ausdehnt und auf die Gleichstellung von Leben und Bewusstsein hinweist: »Nicht anders ist es mit jenen weiteren Abstraktionen, deren Bergson so gern sich bedient: Tätigkeit (action) und Werden. Das Leben wird weiterhin mit dem Bewußtsein gleichgesetzt, indem das Letztere zugleich als die organisierende Kraft gefaßt wird, deren Bewußtseinscharakter in der Materie nur schlummert«, ebd., S. 20 f. 24

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von Maritain bereits seit 1911 27 vorgebracht wird, gibt nicht nur den Schlussfolgerungen des Gutachtens von 1914 die Richtung vor, das zur Indizierung von Bergsons Werken 28 führt, sondern auch dem Feld der akademischen Studien. In der »Vorsichtsklausel«, die die katholischen Intellektuellen noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg 29 gegen Bergson vorbringen sollten, lässt sich in der Tat die Interpretation Maritains wiedererkennen, der zufolge sich nur der sogenannte »Bergsonismus der Intention« retten lässt, d. h. jener, der dazu geführt hatte, den Szientismus zu besiegen. Hingegen müsse man von den Auswüchsen des »faktischen Bergsonismus« 30, d. h. von seinem Jacques Maritain (1882–1973) veröffentlicht eine Reihe von Artikeln über Bergson, beginnend mit L’évolutionnisme bergsonien, »Revue de Philosophie«, September– Oktober 1911, gefolgt von Bergsonisme de fait et bergsonisme d’intention, »Revue thomiste«, Juli 1912 und von einer Vortragsreihe, die im April und im Mai 1913 am Institut Catholique gehalten wird. Diese Beiträge sind gesammelt in J. Maritain, La philosophie bergsonienne: Études critiques, Rivière, Paris 1913, veröffentlicht im Alter von 31 Jahren. 28 Das Buch La philosophie bergsonienne, a. a. O., Rivière, Paris 1913 von Maritain hat in kirchlichen Kreisen großen Einfluss und ist wahrscheinlich die Alarmglocke, auf die hin die Werke des Philosophen von dem Dominikaner P. Édouard Hugon der Indexkongregation gemeldet werden. Die Berichte der Gutachter, die die Werke Bergsons prüfen, folgen getreu der Beweisführung Maritains und verurteilen Bergson entschieden. Seine Lehre wird dabei als »e diametro oppositam perenni philosophiae christianae« definiert (Archivio della Congregazione per la dottrina della fede, Index 1914–1917, fasc. 88). 29 Einer der aufsehenerregendsten Fälle der Wiederaufnahme der neuscholastischen Argumentation sollte das harte Einschreiten des Jesuitenpaters Joseph de Tonquédec nach dem Erscheinen von Deux Sources in »Études« sein, der Zeitschrift der Jesuiten. Vgl. J. de Tonquédec, La clef des Deux Sources, »Études«, LXXVII (1932), 5. Dezember, S. 516–543; 20. Dezember, S. 667–683; ders., Le contenu des Deux Sources, »Études«, LXXVIII (1933), 20. März, S. 641–668; 5. April, S. 26–54. – Was die italienischen Kommentare angeht, so sollten die Kritiken von Maritain und Tonquédec wiederaufgenommen werden von Francesco Olgiati, La Filosofia di Enrico Bergson, Borla, Turin 1914; ders, La morte di Henri Bergson, »Rivista di filosofia neoscolastica«, XXXIII (1941), 1, S. 86–94 und von Vittorio Mathieu, Bergson. Il profondo e la sua espressione, Edizioni di »Filosofia«, Turin 1954; ders., Intorno a Bergson: filosofo della religione, »Studia Patavina«, VIII (1961), 1, Januar–April, S. 79–93; ders., Bergson, in Virgilio Melchiorre (Hg.), Enciclopedia filosofica, Bompiani, Mailand 2006, S. 1198–1204. Mathieu ist immer noch vorsichtig, wenn es um Bergsons Verhältnis zur katholischen Lehre geht. Auf die Argumente der französischen Neuscholastiker greift er vor allem zurück in Bezug auf die mangelnde Beachtung des Dogmas und der Offenbarung in Deux Sources. 30 J. Maritain, Le néo-vitalisme en Allemagne et le Darwinisme, »Revue philosophique«, X (1910), 17, Juli–Dezember, S. 417–444; ders., La philosophie bergsonienne, a. a. O., S. 383. 27

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Von Hügel: Die Erneuerung des Christentums

Antiintellektualismus, vom zu vermutenden atheistischen Pantheismus und von den Risiken modernistischer Auswirkungen Abstand nehmen. Dieser Faktor beeinflusst die Aufnahme Bergsons vonseiten der ganzen katholischen Welt empfindlich. Nicht nur in Frankreich und in Italien, sondern auch in Deutschland ist Bergson ein Philosoph, der besonders von Autoren geschätzt wird, die für das Thema der Religion und für die Erneuerung des Christentums empfänglich sind und die in vielen Fällen schon seit Beginn des Jahrhunderts in seinem Werk nach den möglichen Grundlagen für eine Ethik oder für eine Philosophie der Mystik Ausschau halten.

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3. Bergson im Verlagsprogramm von Diederichs

3.1. Die Übersetzungen Die religiöse Erneuerung ist ein Thema, das auch den Verleger von Bergson in Deutschland, Diederichs, nicht gleichgültig lässt. Eucken und einige seiner Schüler arbeiten mit ihm zusammen und geben der Verbreitung von Bergsons Philosophie in ihrem Land enormen Auftrieb, indem sie die Übertragung seiner Werke ins Deutsche fördern und Studien über seine Philosophie veröffentlichen. Diese editorischen Aktivitäten wurden möglich durch die Synergie, die zwischen Eucken (und seinem Schülerkreis) und Eugen Diederichs 1 entsteht, der sich bei ihnen Rat holt, um die philosophische Ausrichtung des Verlagshauses festzulegen, das – nach einer 1896 begonnenen Anfangsphase mit einem doppelten Sitz in Florenz und Leipzig, damals die deutsche Verlagshauptstadt – im Frühjahr 1904 nach Jena übergesiedelt war. 2 Von der umfangreichen Bibliographie zur Geschichte des Verlegers Eugen Diederichs (1867–1930) erwähne ich nur die Autobiographie E. Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, Zusammenstellungen und Erläuterungen von U. Diederichs, Diederichs, Düsseldorf – Köln 1967 sowie den Sammelband von G. Hübinger, Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, Diederichs, München 1996 mit den Essays von Andreas Meyer, 1896–1930. Der Verlagsgründer und seine Rolle als »Kulturverleger«, S. 26– 89, von Florian Achthaler, 1930–1996: Die Verlagsentwicklung nach dem Tod von Eugen Diederichs, S. 90–126 sowie von Friedrich Wilhelm Graf, Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ›Verlagsreligion‹ des Eugen Diederichs Verlages, a. a. O., S. 243–295. 2 Die Leipziger Buchmessen ziehen Verleger aus ganz Europa an; bereits 1834 gab es in der Stadt 83 Buchhandlungen, eine Tatsache, die für eine Stadt mit 40.000 Einwohnern erstaunlich ist, erst recht, wenn man sie mit den 45 Buchhandlungen in Berlin, Wien oder Frankfurt vergleicht; vgl. Xavier Marmier, Leipzig et la librairie allemande, »Revue des deux mondes«, VI (1834), 1. Januar, S. 93–105. Die Verbundenheit von Diederichs mit dem kulturellen Leben in Jena wird behandelt von Meike G. Werner, Mehr Kunst ins Leben. Eugen Diederichs’ Jena als Kraftzentrum der 1

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Die Übersetzungsarbeit von Bergsons 3 Werken ins Deutsche beginnt 1906 auf Anregung von Scheler, wie ein Brief an Benrubi vom 16. November 1906 belegt. Es geht um Matière et mémoire: »Die Übersetzung geschah auf Veranlassung von Herrn Dr. Scheler, den Sie ja wohl von Jena her kennen«. 4 Es sieht in der Tat so aus, als sei Scheler der erste von Euckens Schülern, der sich für Bergson interessiert, nachdem ihm von Hügel 1902 ein Exemplar des Essai geschenkt hatte. Bereits in dem Brief an von Hertling vom 27. April 1906 zitiert Scheler einige Thesen aus Matière et mémoire als seinen eigenen Bezugspunkt, um den Materialismus und den psychophysischen Parallelismus zu überwinden: Die Materie ist uns – wie ich zu zeigen suche – in ihrer Existenz durch einen Akt reiner Anschauung gegeben, der in unserer sinnlichen Empfindung eigentümlich eingewickelt ist, aber von den Sinnesorganen und dem Gehirn logisch (wenn auch nicht in seiner konkreten Funktion) völlig unabhängig ist. Der noch in Kant steckende Sensualismus soll durch diese hier nur anzudeutende Theorie völlig überwunden werden. In diesen Fragen bin ich von der französischen Philosophie der Gegenwart, besonders von Bergson, vielfach belehrt worden. 5

Schon gegen Ende 1906 unterbreitet Diederichs Bergson die erste Fassung der Übersetzung von Matière et mémoire, mit der Bergson allerdings nicht zufrieden ist, weil die Übersetzerin, die zwar sehr gut Moderne in Jürgen John – Justus H. Ulbricht (Hg.), Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, Böhlau, Köln – Weimar – Wien 2007, S. 183–194. 3 An dieser Stelle beschränke ich mich darauf, die Geschichte der Übersetzungen der Werke Bergsons ins Deutsche kurz zu rekapitulieren. Sie ist bereits detailliert und mit besonderem Augenmerk auf der Rolle Simmels und seines Kreises behandelt worden von G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 198–228. Zu den Beziehungen von Bergson und Diederichs s. außerdem Günther Pflug, Eugen Diederichs und Henri Bergson, in Monika Estermann – Michael Knocke (Hg.), Von Göschen bis Rowohlt. Beiträge zur Geschichte des deutschen Verlagswesens. Festschrift für Heinz Sarkowski zum 65. Geburtstag, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1990, S. 158–176 sowie Irmgard Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1998. Der Briefwechsel von Diederichs mit Bergson, Benrubi, Simmel und Scheler, aufschlussreich, um die Ereignisse im Umfeld der deutschen Übersetzungen der Werke zu rekonstruieren, ist gesammelt in E. Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, a. a. O. sowie Lulu von Strauß und Torney-Diederichs (Hg.), Eugen Diederichs. Leben und Werk, Diederichs, Jena 1936, mit den Briefen von Diederichs an Bergson vom 28. August 1908 (ebd., S. 162 f.) und vom 22. Oktober 1919 (ebd., S. 355 f.). 4 E. Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, a. a. O., S. 162. 5 W. Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a. a. O., S. 33.

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Französisch kann, philosophisch nur wenig bewandert ist. Scheler empfiehlt daraufhin dem Herausgeber, sich wegen der Durchsicht an seinen Schüler Albert Steenbergen zu wenden. Diederichs fordert Benrubi auf, sich mit Steenbergen in Verbindung zu setzen und betraut die beiden mit der Übersetzung. So beginnt zwischen Diederichs und Benrubi eine lange Zusammenarbeit zur Verbreitung der französischen Philosophie in Deutschland, in deren Verlauf Benrubi auch einige Werke von Boutroux übersetzt. 6 Im Brief an Benrubi vom 16. November 1906 beschreibt Diederichs sein eigenes Verlagsprojekt so: Für 1907 bin ich noch sehr durch die deutsche Mystik und die italienische Renaissance in Anspruch genommen, aber für 1908 und die folgenden Jahre würde ich mich gern einsetzen, französischem Einfluß in Deutschland die Wege zu bahnen. Ich bin daher prinzipiell schon jetzt bereit, wegen einer Übersetzung von Boutroux mit Ihnen zu verhandeln und wir können ja immerhin ein späteres Programm festlegen. 7

Die Einführung der französischen Philosophie von Bergson und Boutroux in den eigenen Katalog fügt sich nach Diederichs’ Absichten in ein Programm kultureller Erneuerung ein, das mit dem Thema Mystik beginnt, welches schon in den Veröffentlichungen der ersten Jahre seiner Verlegertätigkeit präsent ist. 8 Seit seinem Umzug nach Jena 1904 verkündet Diederichs seine Berufung, eine »neue deutsche Kultur« 9 zu schaffen, zu deren Verwirklichung er nicht nur auf die Modelle der italienischen Renaissance oder der deutschen Mystik zurückgreifen möchte, sondern auch auf die klassische Antike nietzscheanischer Inspiration und auf die Romantik, die eines ihrer wichtigsten Zentren gerade in Jena gehabt hatte. É. Boutroux, De l’idée de loi naturelle dans la science et la philosophie contemporaines: Cours de M. Émile Boutroux professé à la Sorbonne en 1892–1893, a. a. O.; ders., De la contingence des lois de la nature; Alcan, Paris 1895; dt. Übers. von I. Benrubi, Die Kontingenz der Naturgesetze, Diederichs, Jena 1911; ders., Rudolf Euckens Kampf um einen neuen Idealismus, Veit & Comp., Leipzig 1911, autorisierte Übersetzung von J. Benrubi; ders., Avant-propos, in Rudolf Eucken, Les grands courants de la pensée contemporaine, frz. Übers. von H. Buriot und G.-H. Luquet, Alcan, Paris 1911, S. I–XVIII, übers. von J. Benrubi. 7 E. Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, a. a. O., S. 163. 8 Unter den Titeln von Diederichs sind zu erwähnen Arthur Bonus, Die Religion als Schöpfung, Diederichs, Leipzig 1902 sowie Albert Kalthoff, Die Entstehung des Christentums, Diederichs, Leipzig 1904. 9 E. Diederichs, Der Verlag Eugen Diederichs in Jena in Thüringen, Verlagskatalog, Jena 1904, Umschlag. 6

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Wie die Erneuerung auf der religiösen Ebene durch die Verbindung der beiden Welten erfolgen sollte, in der Hoffnung auf die »Vereinigung des Protestantismus und Katholizismus zu einer Zukunftsreligion« 10, so zeigt sich auf der kulturellen Ebene mehr und mehr das Bedürfnis, die Erneuerung des religiösen Bewusstseins seiner eigenen Zeit philosophisch zu begründen. Insofern bleibt Diederichs an der Diskussion über den Modernismus, die die Philosophie Bergsons direkt betrifft, nicht unbeteiligt. Es ist vielsagend, dass Benrubi in seinem Brief an Diederichs vom 22. Dezember 1907 die Verbindung Bergsons zum katholischen Modernismus zur Geltung bringen möchte, um den Interessen des Verlegers entgegenzukommen: Ist es Ihnen bekannt, dass ein Hauptvertreter des durch den Papst (in der Enzyklika »Pascendi«) verdammten »Modernismus« – Ed. Le Roy – ein Schüler Bergsons ist? Von großer Bedeutung ist namentlich Le Roy’s Werk »Dogme et critique«. – Der Einfluß der Enzyklika macht sich hier insofern fühlbar, als viele Geistliche in diesem Jahre den hochinteressanten Vorlesungen Bergson’s im Collège de France fern blieben. Trotzdem ist der Andrang zu den Vorlesungen außerordentlich groß. 11

In seinem Brief an Arthur Drews vom 11. März 1908, also wenig später, verleiht Diederichs seiner Absicht Ausdruck, die Werke der Modernisten zu veröffentlichen, wobei ihm die Schwierigkeiten bewusst sind, die Übertragungsrechte zu bekommen, die die Autoren nicht gewähren aus Furcht, exkommuniziert zu werden: »Meine neueste Phase ist, daß ich den Reformkatholizismus vertreten will«. 12 Das Interesse von Diederichs für die französische Philosophie ist außerdem vermittelt durch die neoidealistische Philosophie Euckens, der es nicht an religiöser Inspiration fehlt. In einem Katalog von 1913 veröffentlicht er einen kurzen Essay mit dem Titel Wo stehen wir?, in dem er feststellt: »Die neuidealistische Bewegung ist philosophisch in Frankreich weiter als in Deutschland. Ihr Hauptvertreter ist Berg-

F. W. Graf, Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ›Verlagsreligion‹ des Eugen Diederichs Verlages, a. a. O., S. 284. 11 Der Brief wird aufbewahrt im Nachlaß A: Diederichs, Teil I. 3, Literaturarchiv Marburg, zit. in G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 203, Fn. 12 Vgl. L. von Strauß und Torney-Diederichs (Hg.), Eugen Diederichs, a. a. O., S. 156. Das Interesse von Diederichs für Bergson und seine Rolle im französischen Modernismus behandelt eingehend Niels Diederichs, 60 Jahre Eugen Diederichs Verlag. Ein Almanach, Diederichs, Düsseldorf– Köln 1956, S. 24–31. 10

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son«. 13 Die Kategorie des »französische[n] Neuidealismus« 14, unter der Diederichs die Werke von Boutroux und Bergson zusammenfasst, ist offenbar ein Nachhall auf den Neoidealismus des Jenaer Professors. Die Aufnahme, die Diederichs Bergson bereitet, ist außerdem auf die Tatsache zurückzuführen, dass sein Verlagshaus »ein Sammelpunkt […] für alle diejenigen, die der alleinigen Herrschaft des Rationalismus entgegentreten und das unmittelbare Lebensgefühl vertreten« 15 werden soll, wie er selbst in dem Brief vom 28. August 1908 an Bergson schreibt, den er der Sendung eines druckfrischen Exemplars von Materie und Gedächtnis beilegt. Die Veröffentlichung von Bergsons Werken in deutscher Sprache setzt also 1908 ein mit Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist, letztendlich übersetzt von Isaac Benrubi und mit einem Vorwort versehen von Wilhelm Windelband. Schon bald folgen Einführung in die Metaphysik (1909), Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen (1911), Die schöpferische Entwicklung (1912), Das Lachen. Essay über die Bedeutung des Komischen (1914), Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge (1928) und schließlich Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1933). In der Zwischenzeit wird auch Bergsons Vortrag Leib und Seele 16 in der wichtigen literarischen Zeitschrift »Die neue Rundschau« veröffentlicht. Das einzige nicht von Diederichs herausgegebene Werk ist La pensée et le mouvant, auf Französisch 1934 erschienen, das erst 1948 auf Deutsch veröffentlicht werden sollte. 17 E. Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, a. a. O., S. 44; vgl. auch G. Pflug, Eugen Diederichs und Henri Bergson, a. a. O., S. 165. 14 Die Angabe stammt aus dem Verlagsprospekt E. Diederichs, Bücher-Verzeichnis des Verlags Eugen Diederichs zur Entwicklung des Lebens durch Wissenschaft und Tat, a. a. O., S. 6 f.; vgl. BLJD, cote BGN 1296/IV-BGN-V-12. 15 L. von Strauß und Torney-Diederichs (Hg.), Eugen Diederichs, a. a. O., S. 162 f. 16 H. Bergson, Leib und Seele, »Die neue Rundschau«, XXIV (1913), 7, S. 889–908. Der Name des Übersetzers ist nicht angegeben. Der Vortrag L’âme et le corps, gehalten auf der Tagung Foi et vie am 28. April 1912, erscheint zuerst in Paul Doumergue (Hg.), Le matérialisme actuel, par MM. Bergson, H. Poincaré, Ch. Gide, Ch. Wagner, Firmin Roz, De Witt-Guizot, Friedel, Gaston Riou, Flammarion, Paris 1913. 17 H. Bergson, Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Westkulturverlag Anton Hain, Meisenheim am Glan 1948. Die Verzögerung der deutschen Übersetzung dieses Werks ist lächerlich im Vergleich zur italienischen: Pensiero e movimento erscheint erst 2000 bei Bompiani – ein Umstand, der viel sagt über den 13

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3.2. Der Antirationalismus Diederichs flankiert die Übersetzungen von Bergsons Werken mit zwei kurzen Monographien, die dem Werk Bergsons gewidmet sind. Die erste ist indirekt Max Scheler zu verdanken, da es sich um die Doktorarbeit von Albert Steenbergen handelt, eines Schülers von ihm, holländischer Abstammung. 18 Bereits 1906 ist Steenbergen, zusammen mit Benrubi, mit der Korrektur der ersten deutschen Übersetzung von Matière et mémoire beschäftigt. 19 So unternimmt er eine Untersuchung über Bergson, die in den 1909 unter dem Titel Henri Bergsons intuitive Philosophie erschienenen Essay mündet, der in mehr als einer Hinsicht die Wahrnehmung von Bergsons Philosophie im Inneren des Jenaer Kreises zeigt – vor allen Dingen den Versuch, den französischen Philosophen mit der idealistischen Tradition zu vergleichen und ihn mit einer europäischen Gesamtheit von »neuidealistischen Strömungen« 20 zu verbinden. Dazu gehören der deutArgwohn gegenüber Bergson und seiner Lebensphilosophie nach dem Zweiten Weltkrieg, auch in Italien. Vgl. C. Zanfi, Reazioni italiane al bergsonismo nel secondo dopoguerra, in Impegno per la ragione. Filosofia e Società nell’Italia contemporanea. Il caso del Neoilluminismo. Atti del convegno del 25–26 giugno 2009, Università di Bologna, hg. von Walter Tega, in »Bollettino della Società Italiana di Storia della Filosofia«, III (2/2010–1/2011), S. 127–152. 18 Scheler stellt Steenbergen in der Kölner Vorlesung von 1919/1920 als seinen Schüler vor: »Unter meiner Leitung entstand die erste deutsche Darstellung seiner Philosophie Henri Bergsons intuitive Philosophie, A. Steenbergen, Jena 1909«, vgl. BSB, Ana 315, B, I, 99, Bl. 1. Wolfhart Henckmann hat jedoch festgestellt, dass formal Eucken der Doktorvater ist, vgl. W. Henckmann, La réception schélérienne de la philosophie de Bergson, a. a. O., S. 372: »Da Scheler die Universität Jena bereits 1906 verließ und sich in München umhabilitierte, konnte die Übernahme der Doktorarbeit von Steenbergen nur zu Beginn dieses Jahres stattgefunden haben. Steenbergen kam im Wintersemester 1905 nach Jena, sein offizieller Doktorvater war Eucken. Von einer Betreuung seiner Arbeit durch Scheler berichtet Steenbergen nichts«. Auch Diederichs schenkt in einem Brief an Benrubi vom 16. November 1906 der Annahme Glauben, Scheler sei der Lehrer von Steenbergen, der als »einer seiner Schüler« bezeichnet wird, vgl. E. Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, a. a. O., S. 162. 19 Außer in dem in der vorhergehenden Fußnote zitierten Brief von Diederichs an Benrubi vom 16. November 1906 wird die Mitarbeit von Steenbergen an der Übersetzung von Matière et mémoire auch von Benrubi erwähnt: »Ich war nämlich vom Verleger Eugen Diederichs aus Jena beauftragt worden, zusammen mit meinem holländischen Freund Albert Steenbergen die Druckfahnen der deutschen Übersetzung von Matière et mémoire zu korrigieren«. I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 9 (ohne Datum). 20 A. Steenbergen, Henri Bergsons intuitive Philosophie, a. a. O., S. 111.

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sche Aktivismus, der amerikanische Pragmatismus und die spiritualistische französische Tradition von Ravaisson (über Secrétan und Renouvier) bis Bergson: Steenbergen nimmt in der Tat die Zusammenstellung von Bergson, Eucken und James vorweg, die 1911 von einem anderen Eucken-Schüler, Julius Goldstein, wiederaufgenommen wird. Nach der Promotion in Jena (1899) habilitiert sich Goldstein 1902 in Darmstadt und lehrt dort zunächst als Privatdozent. Erst 1925 sollte er zum Professor ernannt werden, auch wegen antisemitischer Widerstände, denen er bereits seit Beginn seiner Karriere ausgesetzt war. Auch Eucken hatte in einem Brief an Baron von Hügel 1904 auf seine schwierige Situation aufmerksam gemacht. Der entscheidet daraufhin, Goldstein für etliche Jahre mit einem Monatsgehalt von 50 Pfund Sterling zu unterstützen, das ihm durch Eucken als Gabe eines »anonymen Wohltäters« 21 zugestellt wird. Goldstein bleibt dem Jenaer Lehrer auch philosophisch immer sehr verbunden: In dem Essay Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart von 1911 widmet er ihm breiten Raum und präsentiert (wie Steenbergen) Bergson und James neben Eucken als die wichtigsten Vertreter derjenigen Strömung der zeitgenössischen Philosophie, die auf die Überwindung des Rationalismus und des Szientismus gerichtet ist, auf dem Weg, den die Wissenschaftsphilosophie von Mach, Poincaré und Duhem eröffnet hat. In dem Projekt der Erneuerung des traditionellen Denkens, als dessen Wortführer Bergson betrachtet wird, schreibt bereits Steenbergen den Erkenntnistheorien von Mach und Avenarius eine maßgebliche Rolle zu, die er vor allem in die Nähe des Pragmatismus rückt, weil sie das Denken nur als eine vitale Funktion unter anderen betrachten, das ebenso wie diese nach dem Prinzip des geringsten Kraftaufwandes beurteilt wird. Die deutsche Interpretation des Pragmatismus neigt in jenen Jahren dazu, der biologischen Basis des Denkens und der Unterordnung der Erkenntnis unter die Aktivität des Lebens große Bedeutung beizumessen. Die dabei gebotene Darstellung kommt auch den deutschen Strömungen der Lebensphilosophie sehr nahe.

E. Troeltsch, Briefe an Friedrich von Hügel 1901–1923, hg. von K.-E. Apfelbacher – P. Neuber, Verlag Bonifacius-Druckerei, Paderborn 1974, S. 38, Fn. mit Bezug auf einen Brief Euckens an von Hügel vom 12. September 1904. 1925 sollte Goldstein die jüdische Zeitschrift »Der Morgen« gründen, die ihm 1929 anlässlich seines Todes eine Nummer widmet (V, n. 4), in der zwei Briefe von Bergson veröffentlicht sind (aufbewahrt in C, S. 277 f. und 414 f.).

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Steenbergens Essay trägt auf diese Weise dazu bei, auch die anderen kanonischen Züge der Bergson-Interpretation in Deutschland festzulegen. Die Nähe zu Eucken und zum Pragmatismus von James empfiehlt Bergson nicht nur als Gegner des Materialismus und Positivismus, sondern auch als Alternative zum Rationalismus Hegel’scher Prägung und zum Kantianismus. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, dass Steenbergen sich dafür entscheidet, den französischen Begriff intelligence mit dem deutschen Verstand wiederzugeben, in dem ganz verschiedene Bedeutungen enthalten sind. 22 In L’évolution créatrice spricht Bergson lieber von intelligence als von entendement, eben weil er jede metaphysische Anspielung vermeiden und die Verbindung mit dem Leben betonen will: In der Tat wird die Fähigkeit zu begreifen als »eine immer schärfere, immer mehrgliedrigere, immer geschmeidigere Anpassung des Lebewesens an die gegebenen Existenzbedingungen« 23 verstanden. Selbst die Intelligenz wird von Bergson im Ausgang von der Geschichte der Entwicklung des Lebens untersucht und damit dem Instinkt – unter den Formen bewusster Aktivität des Lebens selbst – an die Seite gestellt: »Instinkt und Intellekt […] heben sich ab von einem gemeinsamen Grunde, den man, in Ermangelung eines besseren Wortes, Bewußtstein überhaupt nennen könnte, und der gleichweit sein muß wie das gesamte kosmische Leben«. 24 Indem er den Begriff intelligence mit Verstand übersetzt, stellt Steenbergen bewusst einen Vergleich mit der kantischen und neukantianischen Philosophie seiner Zeit an. Das erste Kapitel von Steenbergens Essay ist nämlich »Verstand und Intuition« gewidmet und handelt von intelligence/Verstand vor allem im Ausgang von ihrer »bioenergetische[n] Erklärung« 25 als praktischer Funktion, die zur Beherrschung der Materie bestimmt ist und sich im tierischen Reich neben der Linie des Instinkts entwickelt. Insofern er eine Fähigkeit ist, die Instrumente herstellt und dazu dient, Beziehungen zu erkennen, wird der Bergson’sche Verstand definiert als »Erkenntniswerkzeug« 26, da er eine praktische Fähigkeit ist und sich auf das richtet, was für das Überleben des Menschen als Lebewesen In der neuen Ausgabe der Évolution créatrice hat Margarethe Drewsen intelligence wortgetreuer mit Intelligenz übersetzt, vgl. H. Bergson, Schöpferische Evolution, Felix Meiner, Hamburg 2013. 23 EC, S. III; dt. S. 1. 24 Ebd., S. 187; dt. S. 191. 25 Vgl. A. Steenbergen, Henri Bergsons intuitive Philosophie, a. a. O., S. 13. 26 Ebd., S. 14. 22

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nützlich war: »In erster Linie ist der Mensch ein lebendes, wollendes, handelndes Wesen«. 27 Die Entscheidung, intelligence mit Verstand zu übersetzen, begegnet im Übrigen auch in Materie und Gedächtnis sowohl in der Übertragung von Benrubi von 1908 als auch in der von Julius Frankenberger von 1919. Nach einem literaturwissenschaftlichen Studium schließt sich Frankenberger 1910 dem Sera-Kreis an, einer von Eugen Diederichs organisierten studentischen Gruppierung, den Wandervögeln vergleichbar, die sich vom Berliner Stadtviertel Steglitz aus in diesen Jahren in vielen deutschen Städten formieren. 28 Bereits 1913 arbeitet er mit Walter Fränzel an der Übersetzung von Le rire und wird sodann mit der Neuübertragung von Matière et mémoire beauftragt, nachdem sich Simmel bei Diederichs über die mangelhafte Qualität von Benrubis Arbeit beklagt hatte. 29 Die zweite deutsche Auflage des Werks erscheint daher 1919 in einer neuen Fassung, ohne die Einführung von Windelband und versehen mit dem Vorwort Bergsons zur siebten Auflage. Frankenberger nimmt vor allem stilistische Eingriffe vor und behält, was die Schlüsselbegriffe angeht, viele lexikalische Entscheidungen Benrubis bei: Auch seine Übertragung greift in der Tat meistens auf den Begriff Verstand zurück, um intelligence zu übersetzen. 30 Ebd. Für Informationen über die Aktivitäten des Sera-Kreises s. M. Pulliero, Une modernité explosive, a. a. O., S. 447–453. Für Hinweise auf Frankenberger (1888–1943) vgl. seine Doktorarbeit über Jane Austen, J. Frankenberger, Jane Austen und die Entwicklung des englischen bürgerlichen Romans im achtzehnten Jahrhundert, Wagner, Weimar 1910, sowie G. Pflug, Eugen Diederichs und Henri Bergson, a. a. O., S. 170. 29 Zur Geschichte der deutschen Übersetzung von Matière et mémoire verweise ich auf G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 198–202 sowie auf den Brief von Bergson an Benrubi vom 3. März 1909, dem offenbar ein Briefwechsel zwischen Bergson, Diederichs und Simmel bezüglich der Qualität von Benrubis Übersetzung vorausgegangen war, vgl. C, S. 249: »Vor etwa zehn Tagen habe ich einen Brief von Herrn Diederichs erhalten, der mir sagte, er sei gerade dabei, an Simmel zu schreiben. Übrigens muss er bereits über die ganze Angelegenheit im Bilde gewesen sein, noch bevor ich ihm geschrieben hatte, denn obwohl ich in meinem Brief die Meinung von Herrn Simmel zur Übersetzung von Matière et Mémoire nicht erwähnt hatte, bezieht sich seine Antwort fast ausschließlich auf diesen Punkt: er schreibt mir diesbezüglich, dass ›es sich nur um Einzelheiten handelt‹. – Sobald er mir wieder schreibt, werde ich Ihnen Bescheid geben. Quälen Sie sich nicht wegen dieser Angelegenheit«. (Die Worte in einfachen Anführungszeichen im Orig. dt., Anm. d. Übers.) 30 Benrubi übersetzt intelligence fast ausschließlich mit »Verstand« (vgl. H. Bergson, 27 28

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Margarete Susman, die 1909 Introduction à la métaphysique übersetzt, und Gertrud Kantorowicz, die 1912 die Übersetzung von L’évolution créatrice besorgt, bevorzugen dagegen einheitlich »Intellekt«, womit sie eher Bergsons Verbundenheit mit der empiristischen Tradition unterstreichen. Der Umstand, dass der Übersetzerin ein Kant-Experte wie Georg Simmel zur Seite gestellt wird, ist wahrscheinlich ausschlaggebend für den Verzicht auf den allzu kantischen Verstand, auf den hingegen Benrubi und Frankenberger häufiger setzen, deren philosophische Bildung weniger entwickelt ist. Das Bestehen auf seinem antikantischen erkenntnistheoretischen Modell trägt dazu bei, Bergson ins kulturelle Projekt von Diederichs einzubinden, das vor allem darauf zielt, den modernen Rationalismus – und besonders den Kantianismus – zu kritisieren. 31 Im Verlagskatalog wird Bergson in der Tat so vorgestellt: »Er ist der Antipode Kants und dürfte mit seiner Begründung eines Idealismus auf naturwissenschaftlicher Grundlage berufen sein, die deutsche Philosophie vorwärts zu führen« 32, oder anlässlich des Erscheinens von Schöpferische Entwicklung: »Seine Philosophie ist antikantisch, er legt den Grund zu einer Metaphysik auf naturwissenschaftlicher Basis«. 33 Der Verleger fügt dem Essay von Steenbergen außerdem ein Materie und Gedächtnis, übers. von I. Benrubi, a. a. O., S. 80, 97, 114, 126, 157, 161 f., 165, 191, 243 und 255 f.) und nur zweimal mit »Einsicht« (ebd., S. 97 und 109). Auch in der Version von Frankenberger ist »Verstand« die häufigste Übersetzung (vgl. H. Bergson, Materie und Gedächtnis, neu übers. von J. Frankenberger, a. a. O., S. 119, 149, 152, 156, 230 und 241 f.); nur dreimal wird dagegen der Begriff »Intellekt« bevorzugt (ebd., S. 76, 91 und 152), zweimal »Intelligenz« (ebd., S. VI und 103) und einmal »deutliches Bewußtsein« (ebd., S. 92). 31 Die Integration Bergsons in das antikantische Programm bemerkt auch M. Pulliero, Une modernité explosive, a. a. O., S. 261: »Das Zentrum der alternativen philosophischen Bewegung ist Bergson, der ›Anti-Kant‹ und Kritiker des rationalistischen Optimismus«; vgl. auch S. 261, FN, wo sich der Autor bezieht auf F. W. Graf, Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ›Verlagsreligion‹ des Eugen Diederichs Verlages, a. a. O., S. 281: »Bergson avanciert zum Philosophen der modernen Mystik, des Irrationalismus, der ›Unmittelbarkeit des Lebens, der Intuition der kosmischen Einheit, die sich dem Intellekt‹ in seiner Borniertheit ›entgegenstellt‹, dem analytischen Geist, ebenso wie zum Philosophen der ›schöpferischen‹ (oder, nach Diederichs, religiösen) ›Kraft‹«. 32 I. Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930), a. a. O., S. 342, wo der siebte Prospekt des Jahres 1909 zitiert wird. 33 Quart-Buchhandelsprospekt von Eugen Diederichs vom Frühjahr 1912, zit. in I. Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930), a. a. O., S. 339. Auch der Werbeflyer von Schöpferische Entwicklung, Beilage zu Eberhard Zschimmer, Philosophie der Technik, Diederichs, Jena 1914 insistiert auf dem Antirationalis-

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Blatt bei, das das bevorstehende Erscheinen von Einführung in die Metaphysik und Schöpferische Entwicklung ankündigt, und wo ein Artikel von Hermann von Keyserling, der wenige Monate vorher in der bayerischen »Allgemeinen Zeitung« erschienen war, wieder abgedruckt wird. Keyserling behauptet darin, dass Bergson genauso originell sei wie Kant es zu seiner Zeit gewesen sei, aber dass seine Philosophie eine gegensätzliche Ausrichtung habe, weil sie abstrakte Prämissen ablehne und stattdessen vom unmittelbaren Bewusstsein und seiner Dauer ausgehe. 34 Die Übersetzung der Bergson’schen intelligence mit dem deutschen Verstand, im Folgenden auch von anderen Autoren 35 übernommen, geht einher mit der Angleichung der intuition an die Anschauung, auf die sich der nachkantische Idealismus berief, um sich gegen die Lehre der Kritik der reinen Vernunft zur Wehr zu setzen. 36 Bergsons Entgegensetzung von Intelligenz und Intuition wird also verdeutscht durch einen Rückgriff auf das Vokabular des nachkantischen Idealismus, der Diederichs so teuer ist und den er besonders in der

mus Bergsons: »Der Mut zur Metaphysik ist das Auszeichnende an Bergsons Philosophie, und darin besteht ihr Hauptwert, ihre Zukunftskraft, daß sie die Metaphysik heraushebt aus dem Kerker des Rationalismus und sie gründet auf Biologie und Psychologie, daß Naturleben und geistig-seelisches Leben des Menschen zu einer großen Einheit hier zusammengeschaffen werden«. 34 Hermann von Keyserling, Bergson, »Allgemeine Zeitung«, München, 28. November 1908, S. 750: »Seine Philosophie bedeutet vielleicht die originellste Leistung seit den Tagen Immanuel Kants. Ich sagte, alle späteren Systeme wären in Kant gleichsam vorgebildet. Von Bergson gilt das nicht. Deshalb ist die Lektüre des Buches [Matière et mémoire] so schwer: überall gilt es, die gewohnten Bahnen zu verlassen. Bergson geht nicht von den abstrakten Prämissen aus, er beginnt am unmittelbaren Bewußtsein, am konkreten Leben«. Man beachte, dass hier der Ausdruck anklingt (das unmittelbare Bewußtseyn), mit dem Fichte die »Intellektuelle Anschauung« definierte, vgl. Johann Gottlieb Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, für Leser, die schon ein philosophisches System haben (1797), in Fichtes Werke, hg. von I. H. Fichte, W. de Gruyter, Berlin, Bd. I, S. 463. 35 Das ist der Fall bei Ernst Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, »Jahrbuch für die geistige Bewegung«, III (1912), S. 72 sowie bei Ernst Bernhard, Bergsons Lebensbegriff, »Die Tat«, IV (1912), 5, S. 242: »Der Verstand, der zerlegt und zusammensetzt, der nur in festen, rohen Formen zu denken vermag, ist nicht imstande, das flutend-strömende Meer der Lebensgestalten unmittelbar zu fassen«. Dieser Gebrauch von Verstand taucht im Übrigen wieder auf bei Wilhelm Jerusalem, Einleitung in die Philosophie (1899), 5. und 6. Aufl., Wilhelm Braumüller, Wien – Leipzig 1913, S. 103–105. 36 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), Felix Meiner, Hamburg 1998.

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von Eucken zum Ausdruck gebrachten neufichteanischen Form schätzt. Anstatt wie Kant die Möglichkeit jeder Metaphysik auszuschließen, beruft sich Bergson tatsächlich auf die Intuition, der auch ein Zugang zu dem verstattet ist, was von der Intelligenz nicht erkennbar ist. So meint Keyserling in seinem Artikel in der »Allgemeinen Zeitung«: »[Bergson] will das intuitiv ergreifen, was über den Verstand hinausgeht«. 37 In einem Katalog aus dem Jahr 1910 nimmt Diederichs wieder auf den Artikel von Keyserling Bezug: »Wenn begeisterte Anhänger in Frankreich ihn als den bedeutendsten Metaphysiker seit Descartes feiern, so hat ihn auch schon ein deutscher Kritiker als den originellsten Denker seit Kant bezeichnet«. 38 Diederichs fasst die Gründe von Bergsons Originalität wie folgt zusammen: An und für sich ist der Gedanke, daß weder die Wahrnehmung noch der Verstand, sondern nur ein intuitives Erschauen zur höchsten Erkenntnis der Wirklichkeit führt, gewiß nicht neu. Höchst originell ist die Art und Weise, wie Bergson seinen Irrationalismus begründet. Diese Originalität ist stark genug, um es zu rechtfertigen, daß man der Philosophie dieses Denkers die größte Aufmerksamkeit widmet. Eine Fülle der interessantesten Einblicke in die psychologischen Vorgänge, die reichliche Aufdeckung neuer Zusammenhänge, Unterschiede und Gegensätze, eine eigenartige Beleuchtung der alten Probleme über Leib und Seele, dazu eine geschickte Verwertung biologischer und psychologischer Tatsachen und Beobachtungen machen das Werk Bergsons zu einer der hervorragendesten Leistungen auf philosophischem Gebiete in den letzten Jahren. Und ebenso originell wie die Gedankenwelt dieses Philosophen ist auch seine Sprache. 39

Albert Steenbergen legt seinerseits Wert darauf, die Intuition Bergsons von derjenigen der kantischen Tradition zu unterscheiden: »Eigentlich ist die Intuition der Anschauung, der Wahrnehmung mehr verwandt als dem Denken«. 40 Indem er Anschauung in ihrer sinnlichen Bedeutung verwendet, d. h. als sinnliche (nicht intellektuelle) H. von Keyserling, Bergson, a. a. O., S. 750. E. Diederichs, Bücher-Verzeichnis des Verlages Eugen Diederichs zur Entwicklung des Lebens durch Wissenschaft und Tat, a. a. O., vgl. BLJD, cote BGN 1296/IV-BGNV-12. 39 Ebd. 40 A. Steenbergen, Henri Bergsons intuitive Philosophie, a. a. O., S. 26. In seiner Übersetzung greift Benrubi immer auf »Anschauung« zurück (H. Bergson, Materie und Gedächtnis, übers. von I. Benrubi, a. a. O., 1908, S. 56 f., 61, 67, 73, 182, 189, 208, 231, 240, 246 und 259), wie auch Frankenberger fast immer »Anschauung« bevorzugt (H. Bergson, Materie und Gedächtnis, neu übers. von J. Frankenberger, a. a. O., 1919, 37 38

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Anschauung, stellt Steenbergen klar, dass, während diese für Kant als dem Verstand unterlegen gilt, für Bergson indes das Gegenteil wahr ist, wie er selbst im ersten Oxforder Vortrag von 1911 betont: »Denken ist ein Notbehelf, wenn die Wahrnehmungsfähigkeit versagt. Und alles Raisonnement ist dazu da, die Lücken in der Wahrnehmung auszufüllen und ihre Reichweite zu vergrößern«. 41 Nicht zu vergleichen mit der Vernunft, wird die Bergson’sche Intuition in der Tat als mit der Wahrnehmung verwandt angesehen, dem unmittelbaren Bewusstsein und der Methode der integrale[n] Erfahrung 42, die viele mit der intellektuellen Anschauung Fichtes oder Schellings vergleichen möchten. Ernst Gundolf, ein Stefan George nahestehender Literat, veröffentlicht 1912 einen Aufsatz, in dem er abwechselnd auf »intuition« und auf »anschauung« zurückgreift. 43 Benrubi wird das Gleiche tun, wenn er in seinem Essay über die zeitgenössische französische Philosophie von 1928 den moralischen und religiösen Charakter der Bergson’schen Philosophie ab L’évolution créatrice und dem berühmten Brief an den Jesuiten Joseph de Tonquédec vom 20. Februar 1912 unterstreicht, in dem Bergson den Monismus und den Pantheismus ablehnt und die Idee »eines Gottes, der Schöpfer und frei ist« 44, behauptet. So kann Benrubi sagen: »Die obigen Andeutungen mögen genügen, um festzustellen, dass auch die Bergsonsche Philosophie Ravaissons Anschauung bezüglich des Zusammentreffens von Philosophie und Religion in hohem Grade bestätigt«. 45 Der Bezug auf die Anschauung von Ravaisson soll ein indirekter HinS. 54, 58, 64, 69, 153, 179, 195 f., 218, 227, 232 und 245). Nur zweimal macht er von »Schauung« Gebrauch (ebd., S. 54 und 61) und einmal von »Intuition« (ebd., S. 57). 41 PM, S. 145; dt. S. 151. 42 A. Steenbergen, Henri Bergsons intuitive Philosophie, a. a. O., S. 110. Steenbergen übersetzt getreu die Bergson’sche Definition der Metaphysik als integrale Erfahrung, wie sie in Introduction à la métaphysique (1903) beschrieben wird, vgl. PM, S. 227; dt. S. 225. 43 E. Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, »Jahrbuch für die geistige Bewegung«, a. a. O., S. 62, 73. Der Gebrauch der Kleinschreibung im Deutschen ist eine Eigenheit des George-Kreises, ebenso wie der Verzicht auf die für die deutsche Tradition typische Frakturschrift zugunsten gerundeter Lettern geringer Höhe im Stil der Renaissance, die der Meister als symmetrischer und harmonischer betrachtete. Vgl. Giampiero Moretti, La questione della forma. Nota sulla contrapposizione tra Klages e George, in Stefan George, L’anima e la forma, it. Übers. von G. Moretti, Fazi Editore, Rom 1995, S. 125, Fn. 44 M, S. 963 f. 45 I. Benrubi, Philosophische Strömungen der Gegenwart in Frankreich, Felix Meiner, Hamburg 1928, S. 436.

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weis auf Schelling sein, dessen Vorlesungen Ravaisson 1835 in München besucht hatte. 46 In der Tat wird Ravaisson häufig als das Bindeglied zwischen den Philosophien von Schelling und von Bergson bezeichnet, obwohl der Letztere das Vorliegen solcher Einflüsse, wie sie besonders von René Berthelot 47 behauptet worden waren, stets bestreitet. Auch Ernst Troeltsch sollte in seinem 1922 erschienenen Werk Der Historismus und seine Probleme die intellektuelle Anschauung Schellings derjenigen Bergsons und der Lebensanschauung Simmels an die Seite stellen. Mit Blick auf die letztere meint er: »Der metaphysische Grundgedanke selbst wird erkenntnistheoretisch wie bei Bergson und einst bei Schelling auf Intuition oder intellektuale Anschauung zurückgeführt, die auf dunkle aber zwingende Weise aus der Analyse der Erfahrung entspringe und durch ihre Fruchtbarkeit sich bewähre«. 48 Das logische Dunkel der Intuition oder, wie Bergson sagen würde, die »verschwimmende Nebelschicht« 49, mit der die Intuition den »leuchtende[n] Kern« 50 der Intelligenz umgibt, entspricht dem sympathetischen Charakter, der es ihr erlaubt, ihre Gegenstände von innen zu erkennen, anstatt sie von außen zu beobachten und sie auf nützliche und klare, aber unvermeidlich symbolische und bruchstückhafte Art und Weise zu erkennen. Dieser Aspekt verbindet die Intuition eher mit dem Instinkt als mit der Intelligenz, wie Bergson in der Introduction à la métaphysique von 1903 bestätigt: »Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie, durch die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich hat, zu koinzidieren«. 51 Die gleiche Idee wird wiederaufgenommen, um in L’évolution créatrice Zur Beziehung von Ravaisson zur Philosophie Schellings sei verwiesen auf Daniel Panis, Ravaisson et Schelling, »Les études philosophiques«, LXI (1998), 3, S. 395–413; Dominique Janicaud, Victor Cousin et Ravaisson, lecteurs de Hegel et Schelling, »Les études philosophiques«, LIX (1984), 4, Oktober, S. 451–466; Jean-François Courtine, Les relations de Ravaisson et de Schelling, in Jean Quillien (Hg.), La réception de la philosophie allemande en France aux XIXe et XXe siècles, Presses Universitaires de Lille, Villeneuve-d’Ascq 1994, S. 111–134. 47 Vgl. René Berthelot, Un romantisme utilitaire: Étude sur le mouvement pragmatiste, 3 Bde., Alcan, Paris 1911–1922, Bd. II: Le pragmatisme chez Bergson, 1913. 48 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922), in Kritische Gesamtausgabe, 20 Bde., hg. von F. W. Graf, W. de Gruyter, Berlin 1998, Bd. XVI/2, 2006, S. 884. 49 EC, S. 178; dt. S. 178. 50 Ebd. 51 PM, S. 181; dt. S. 183. 46

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den Instinkt zu definieren: der Instinkt besteht in »eine[r] Sympathie (im etymologischen Wortsinne)« 52, in »einer – eher gelebten als vorgestellten – Intuition; einer Intuition, die dem zweifellos ähnelt, was bei uns divinatorische Sympathie genannt wird«. 53 Der Transfer dieser philosophischen Ideen in die deutsche philosophische Kultur lief nahezu unvermeidlich darauf hinaus, einen Bezug zur Theorie der Einfühlung 54 (die aus der Romantik stammt und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf ein breites Echo im Feld der Ästhetik stößt) herzustellen, der zufolge der Mensch in den Dingen die Spiegelung des Gefühls findet, das er auf sie projiziert hat. Vor allem im Umfeld des Verlegers Diederichs wird die Bergson’sche Intuition daher häufig verstanden als »eine Art von Mitleben, durch Einfühlung, durch Sympathie« 55, seine Philosophie als »ein Sieg des sich ›einfühlenden‹ Künstlers über den Praktiker«. 56 Auch Euckens Schüler Julius Goldstein beschreibt die Intuition in einem Artikel über Bergson aus dem Jahr 1910 mit diesen Worten: EC, S. 175; dt. S. 178. Ebd., S. 176 f.; dt. S. 180. 54 Die Theorie der Einfühlung artikuliert sich besonders im Ausgang von der Psychologie von Theodor Lipps (1851–1914), auf dem Feld der Kunstgeschichte wird sie vor allem von Wilhelm Worringer (1881–1965) entwickelt, vgl. Th. Lipps, Aesthetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, Teubner, Leipzig – Berlin 1903–1906, Bd. I: Grundlegung der Aesthetik, 1903, Bd. II: Die aesthetische Betrachtung und die bildende Kunst, 1906; W. Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (1908), Piper, München 1976. Meines Wissens war Bergson an dieser Debatte nicht beteiligt. Stärkere Beachtung verdiente hingegen die Rolle Bergsons in den Essays von Max Scheler über die Sympathie, die beide in den Jahren abgefasst wurden, in denen die Aufmerksamkeit des Autors auf Bergson gerichtet war. Vgl. M. Scheler, Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß (1913), wesentlich erweitert 1922 unter dem Titel Wesen und Formen der Sympathie in Gesammelte Werke, 16 Bde., hg. von M. S. Frings und M. Scheler, Francke, Bern 1954–1998, Bd. VII, Bouvier, Bonn 1973 (Neuaufl. 1973), S. 7–258. 55 Adolf Keller (1872–1963), Eine Philosophie des Lebens (Henri Bergson), Jena, Diederichs, 1914, S. 17. 56 Dem Werk Bergsons gewidmeter Werbeprospekt von Eugen Diederichs, 1933, S. 1. Die Präsentation von Schöpferische Entwicklung lautet: »Das wahre Wesen der Seele ist ununterbrochenes, unteilbares Strömen und Fließen, das immer neu und immer schöpferisch ist, unberechenbar und frei, das nicht mit den Mitteln des Verstandes erfaßt werden kann, sondern nur durch das Sich versenken in das eigene Ich, durch die ›Intuition‹, die die Einfühlung ist in das Wesen der Dinge und allein die zweckfreie Erkenntnis ermöglicht. […] Das Wesen der Außenwelt ist ebenso ewiges Werden und Leben, und nur durch Einfühlung zu erfassen«, ebd., S. 2. Der Flyer ist dem Exemplar von H. Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion, übers. von E. Lerch, Diederichs, Jena 1933 beigelegt, vgl. BLJD, cote BGN 1285/IV-BGN-V-1. 52 53

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Es ist überall derselbe Versuch, sich in das ursprüngliche Leben des Objektes mittels einer Art intellektueller Einfühlung hineinzuversetzen. […] Bergson hat die Zusammenarbeit von Verstand und Intuition als zweier verschiedener und sich ergänzender Erkenntnismittel eingehend geschildert und in tiefsinniger Weise die Stellung der Intuition im Ganzen des Lebens gedeutet. 57

Mit dem Ausdruck »intellektuelle Einfühlung« will Goldstein vermutlich die »sympathie spirituelle« 58 übersetzen, von der Bergson in Introduction à la métaphysique spricht. Goldsteins Definition wird von Diederichs in seiner Präsentation der Einführung in die Metaphysik in einem Katalog von 1910 wiederaufgenommen: »Intuition heißt jene Art von intellektueller Einfühlung«. 59 Einige Interpreten bewerkstelligen sogar einen Übergang von der Intuition-Einfühlung zur mystischen Intuition. Das ist z. B. bei Wilhelm Jerusalem der Fall, der in seinem Werk Einleitung in die Philosophie von 1913 Bergson unter die intuitionistischen Autoren neben Platon, Plotin und Spinoza einreiht – in dem Paragraphen, der der Mystik und der Intuition gewidmet ist. Dort werden auch die Okkultisten, die Theosophen und die Spiritisten der Society for Psychical Research in London behandelt, einer internationalen Gesellschaft, die sich dem Studium von Erfahrungen verschreibt, die wir heute als parapsychologisch definieren würden, und in der Philosophen und Wissenschaftler vom Rang eines William James, Ferdinand Cunning Scott Schiller, Hans Driesch, Carl Gustav Jung und Bergson selbst verkehren, der gerade 1913 zu ihrem Präsidenten gewählt wird. 60 57 Julius Goldstein, Henri Bergson und die Sozialwissenschaften, »Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik«, XXXI (1910), 1, S. 3 f. 58 PM, S. 226; die dt. Übers. von 1948, S. 225 spricht von der »geistigen Sympathie«. 59 E. Diederichs, Bücher-Verzeichnis des Verlags Eugen Diederichs zur Entwicklung des Lebens durch Wissenschaft und Tat, a. a. O. 60 Bergsons Interesse für die Entdeckungen der psychologischen und parapsychologischen Wissenschaften ist einer der am wenigsten bekannten Aspekte seines Denkens, allerdings dokumentiert durch den Vortrag »Phantômes de vivants« et »recherche psychique«, der am 28. Mai vor der Society for Psychical Research gehalten wurde (vgl. ES, S. 61–84; dt. S. 55–75) sowie durch die Protokolle der Sitzungen im Institut général de psychologie, die in M, S. 673 f. wiedergegeben werden. Der Essay von Giacomo Scarpelli, Il cranio di cristallo. Evoluzione della specie e spiritualismo, Bollati Boringhieri, Turin 1993 ist eine der wenigen Studien, die dieses Thema berühren, ebenso Christine Blondel, Eusapia Palladino: la méthode expérimentale et la »diva des savants«, in Bernadette-Vincent – Christine Blondel (Hg.), Des savants face à l’occulte: 1870–1940, La Découverte, Paris 2002, S. 143–171. Schließlich darf erinnert

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Auf diese Weise steht die Erkenntnistheorie Bergsons für Reflexionen über die Religion zur Verfügung, die von den deutschen Lesern bereits seit den Zehnerjahren antizipiert werden – mehr oder weniger zutreffend.

3.3. Die moderne Religiosität Zur gleichen Zeit, als die Werke Bergsons veröffentlicht werden, erwirbt das Verlagshaus Eugen Diederichs die Monatsschrift »Die Tat«, bekannt vor allem als führendes Sprachrohr völkischer Ideologie. 61 Schon 1917 bezeichnet Max Weber den Katalog des Diederichs-Verlags als ein »Warenhaus für Weltanschauungen« 62, doch vor allem in den Jahren der Weimarer Republik und des Dritten Reichs sollte dessen Parade-Zeitschrift ein Organ für die Verbreitung der konservativsten und gleichzeitig revolutionärsten Ideologien werden. Als Reaktion darauf betraute 1932 der S. Fischer Verlag Peter Suhrkamp mit der Leitung der Zeitschrift »Neue Rundschau«, um anderen Richtungen der deutschen Kultur eine Stimme zu geben. Diederichs wird Herausgeber von »Die Tat« mit dem vierten Jahr ihres Erscheinens, im ersten Halbjahr 1912. Er greift spürbar in ihre verlegerische Ausrichtung ein, obwohl er die Leitung weiterhin Ernst und August Horneffer anvertraut, den beiden Brüdern, die die Zeitschrift 1909 in Leipzig mit dem Ziel gegründet hatten, eine Erneuerung der nationalen deutschen Kultur in Gang zu bringen. Inspiriert von Nietzsche, dessen Individualismus sie auf der Suche nach einem nationalen Sozialismus (als Alternative zur marxistischen Sowerden an die Novelle von Alfred Döblin, Reiseverkehr mit dem Jenseits, in Heitere Magie, Keppler, Baden-Baden 1948, die sich mit beißendem Hohn über die Aktivität der Society und die von ihr inspirierten Zirkel in der Provinz lustig macht. 61 Der Zeitschrift »Die Tat« (1909–1939) und ihrer Rolle in der Kultur der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg widmet sich die Studie von M. Pulliero, Une modernité explosive, a. a. O. Im Anschluss an George L. Mosse erkennt sie die Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie bereits im völkischen naturalistischen Mystizismus, in dem der Diederichs-Verlag und seine Parade-Zeitschrift eine wichtige Episode darstellen. Mosse selbst widmet dem Thema das Kapitel über die Neuromantik in George L. Mosse, The Crisis of German Ideology (1964), Grosset & Dunlap, New York 1964; dt. Übers. von Renate Becker, Ein Volk, ein Reich, ein Führer, Athenäum, Königstein/Ts., S. 62–77. 62 Der Ausdruck ist bezeugt im Bericht zur Lauensteiner Tagung von 1917 in Theodor Heuss, Erinnerungen 1905–1933, 2 Bde., Wunderlich, Tübingen 1963, S. 214.

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zialdemokratie) zu überwinden streben, veröffentlichen die Brüder Horneffer in ihrer Zeitschrift Reflexionen zur Nation, zur Rolle der intellektuellen Elite, zur Krise der positiven Wissenschaft. Außerdem bringt »Die Tat« kritische Stimmen zum Modernismus und zu den traditionellen Formen der christlichen Religiosität, die sowohl die protestantische Form betreffen (einschließlich ihrer liberalen Strömung) als auch den Katholizismus, und öffnet sich stattdessen der Wiedergewinnung altgermanischer Religionen oder neomystischen Bewegungen in der Absicht, eine neue Religion für die Zukunft zu definieren. In diesen eigentümlichen Rahmen gehört ein kurzer Artikel über Bergson aus der Feder des blutjungen Ernst Bernhard 63, der in der Mai-Nummer 1912 erscheint, also im ersten Jahr, in dem die Zeitschrift bei Diederichs gedruckt wird. Der spätere Jung’sche Psychoanalytiker ist gerade erst 16 Jahre alt, als er für »Die Tat« den Artikel über Bergson schreibt. Die Präsenz sehr junger Autoren ist ein Charaktermerkmal der Zeitschrift: Diederichs hat nämlich enge Kontakte zur Jugendbewegung, die in Deutschland zu Beginn des Jahrhunderts entstanden war. 64 Die Mitglieder der Jugendbewegung verkehren sogar regelmäßig in seinem Haus, um an seinem SeraKreis teilzunehmen, einer Art studentischen Gruppierung, der »Die Tat« 65 als öffentliche Plattform dient. Adolf Keller definiert die PhiErnst Bernhard, Bergsons Lebensbegriff, »Die Tat«, IV (1912), 5, S. 239–245. Ernst Bernhard (1896–1965) wurde in Berlin in eine jüdische Arztfamilie ungarischer Herkunft hineingeboren. Über den Bildungsgang seiner Jugend gibt es kaum Nachrichten, außer dem Umstand, dass er Medizin studiert und am Ersten Weltkrieg freiwillig als Sanitäter teilnimmt. Seit den 1930er Jahren nähert er sich der Psychologie Jungs an, mit dem er in Zürich zusammenarbeitet und dessen Lehre er unter theosophischem und esoterischem Gesichtspunkt deutet. 1936 übersiedelt er nach Rom, wo er 30 Jahre lang die Jung’sche Psychoanalyse praktiziert. Zu seinen Patienten gehören Natalia Ginzburg und Federico Fellini. 1940/41 wird er in einem Konzentrationslager in Kalabrien interniert. Außer Jung sind für seine Entwicklung das Judentum und die deutsche Romantik ausschlaggebend. 64 Die Jugendbewegung ist besonders aktiv in München, wo die Zeitschrift Jugend ihren Sitz hat, die den Jugendstil zu seinem Namen inspiriert – sie ist berühmt für ihre cover girls in natürlichem Look und erreicht anlässlich des Münchner Faschings eine Auflage von bis zu 700.000 Exemplaren, womit sie sich als ausgesprochenes Massenphänomen erweist. Geschickt wird hier die eigene optimistische Botschaft mit dem Boom der Gründerzeit und mit dem Monismus verquickt. Der Herausgeber der Zeitschrift, Georg Hirth, ist im Übrigen Mitglied des 1906 von Haeckel gegründeten Monistenbundes, vgl. M. Pulliero, Une modernité explosive, a. a. O., S. 260, Fn. 65 George Mosse berichtet, dass der Verleger, in Hosen aus Zebrafell und mit einem türkischen Turban, den Vorsitz bei den Versammlungen seines Kreises führt, deren 63

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losophie Bergsons in seinem Essay von 1914 als »Philosophie der Jugend, deren Vorrecht die Begeisterung und die Hoffnung ist« 66, und sogar Troeltsch sollte den Enthusiasmus der Jugend für Bergson hervorheben, wobei er auf das Missverständnis aufmerksam macht, das ihr dabei leicht unterlaufen konnte: »Die in wissenschaftlichen Dingen heute sehr revolutionär gestimmte Jugend fühlt sich zu ihm und verwandten Lehren mit leidenschaftlichem Jubel hingezogen, kreuzt freilich damit aufs bunteste sein Gegenteil, den radikal antihistorischen Rationalismus, der in den Ideen der Freiheit und Aktivität mit ihm sich zu begegnen scheint«. 67 In dem Artikel von Bernhard aus dem Jahr 1912 wird Bergson als ein Autor präsentiert, der den Szientismus kritisiert – allerdings von einem Standpunkt aus, der sich von dem der Geisteswissenschaften und des Historismus unterscheidet, welcher in der deutschen Kultur jener Jahre von Dilthey angeführt wurde: Bergsons Kritik am Materialismus rüht in der Tat vom Studium der Natur und der Biologie her. In Bernhards Darstellung wird der élan vital »der schöpferische Trieb«, er wird zu »den letzten treibenden Kräften des seelischen und organischen Lebens«, den »aufwärtssteigenden Lebenskräften« 68, mit dem Ergebnis einer Germanisierung des Bergson’schen Begriffs durch die Wiederaufnahme eines Vokabulars und von Begriffen, die der deutschen Tradition vertraut sind. Außerdem werden mit der Philosophie Bergsons verglichen: der Aktivismus von Fichte (er begegnete uns schon bei Eucken), die Willensmetaphysik Schopenhauers sowie die Auffassung des Lebens bei Nietzsche, Dilthey und Simmel. 69 Dennoch erkennt Bernhard die Eigenart Bergsons gegenüber der deutschen Philosophie an, wie auch gegenüber der Strömung des bedeutendste die jährlichen Sonnwendfeiern im Sommer sind. Dabei gibt es auch Volksmusik und -tänze, oft bilden griechische Feste in dionysischem Geist den Abschluss. Vgl. G. L. Mosse, The Crisis of German Ideology (1964), a. a. O., S. 80 und 89 f.; dt. a. a. O., S. 63 und 69 f., der allerdings die Quellen für diese Informationen nicht angibt; s. auch das Kapitel über die Jugendbewegung, ebd., S. 253–281; dt. a. a. O., S. 185–204 sowie M. Pulliero, Une modernité explosive, a. a. O., S. 447–453 und 683–695. 66 A. Keller, Eine Philosophie des Lebens (Henri Bergson), a. a. O., S. 46. 67 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, a. a. O., S. 952. 68 E. Bernhard, Bergsons Lebensbegriff, »Die Tat«, IV (1912), a. a. O., S. 240. 69 »Alles ist Handeln, Spannung, Aktivität; für Bergson steht das Handeln am Anfang und geht, wie bei Fichte dem Sein voraus. Auch auf Schopenhauers Willensmetaphysik könnte hier hingewiesen werden.« Ebd., S. 241. Zur Analogie mit Nietzsche, Simmel und Dilthey vgl. ebd., S. 243 f.

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amerikanischen Pragmatismus: »Diese intuitive Philosophie besitzt die Selbstgenügsamkeit einer ganz persönlichen Schöpfung, die sich eigentlich der Kritik entzieht; sie steht prinzipiell auf einem andern Boden als jene deutsche Richtung, die wissenschaftliche Philosophie treiben will«. 70 Der originellste Zug von Bergsons Philosophie zeigt sich also darin, dass er sich der »vom Instinkt geleiteten Intuition« 71 zuwendet. Bergsons Erkenntnistheorie, für die die Intuition eine ursprüngliche Verbundenheit mit dem Leben hat, wird gelegentlich in einem Sinn verstanden, der sich zu sehr auf die biologische Bedeutung des Lebens bezieht – von einem antirationalistischen Standpunkt aus, von dem man häufig in den Irrationalismus abgleitet. Das von dem engeren Kreis um den Verleger Diederichs bekundete Interesse an Bergson fügt sich in der Tat seinem Projekt ein, nach einer neuen Form von Religiosität zu suchen, die über die Dogmen der traditionellen christlichen Kirchen hinausgehen und an das mystische und unmittelbare Band der religiösen Erfahrung wieder anknüpfen sollte. Er deutet den romantischen Geist-Begriff als »Streben der Seele nach Verschmelzung« 72 und lässt z. B. eine zweibändige Ausgabe von Meister Eckhart 73 drucken, den er Luther vorzieht wegen seiner mystischen Gottesbeziehung, die nicht durch die Bibel vermittelt ist. Um den deutschen Geist zu beleben, müsste man, so meint er, erst einmal in eine mystische, emotionale und irrationale Welt eintreten. In der Absicht, die Neuromantik zu fördern, gibt der Verleger auch der Suche nach Formen von Religiosität Raum, die Christentum und altgermanische Religionen vereinen. 74 Bernhard selbst schließt seiEbd., S. 242. Ebd. 72 E. Diederichs, Politik des Geistes, Jena 1920, S. 28. 73 Meister Eckhart, Schriften und Predigten, Diederichs, Jena 1903–1909 und 1909– 1912. 74 Vgl. G. L. Mosse, The Crisis of German Ideology, a. a. O., S. 76; dt. a. a. O., S. 60. Mosse zeigt, dass die Bezugspunkte dieser Theorien die Schriften von Julius Langbehn und Paul de Lagarde sind, Propheten der völkischen Bewegung, Verbreiter und Förderer der nationalen geistigen Wiedergeburt. Vor allem Lagarde, dem eine monographische Ausgabe der »Tat« (April 1913) gewidmet ist, lehnt das traditionelle Christentum wegen seines Erstarrens in der Orthodoxie ab und propagiert die Wiederentdeckung des ursprünglichen Christentums durch die deutsche Geschichte sowie die direkte Verbindung zwischen Individuum, Gott und deutschem Volk, das über eine hochgradige emotionale, spirituelle und mystische Begabung verfügt. Das geht Hand in Hand mit der Ablehnung des Kapitalismus, des Industrialismus und der materialistischen Werte, die nicht selten mit der jüdischen Kultur assoziiert werden. Mosse unterstreicht, dass Diederichs immer einen respektvollen Ton beibehält und nie in 70 71

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nen Aufsatz, indem er die Gemeinsamkeit der Anliegen Bergsons und der deutschen Strömungen herausstellt, die beabsichtigen, eine moderne Religiosität zu definieren: Überhaupt geht die moderne Religiosität vielfach von einem dem Dasein selbst innewohnenden Sinn und Wert aus, der nicht mehr außerhalb seiner liegt. Das Leben ist hier nicht nach einem transzendenten Pol ausgerichtet, sondern schwingt um sein eigenes Zentrum und folgt seinem eigenen Gesetz. Es ist wohl kein Zufall, daß Ernst Horneffer bei seinem Versuch, von der Religiosität her ein Weltbild zu skizzieren, zu Anschauungen kam, die denen Bergsons im Grunde verwandt sind. 75

Es ist also nicht nur der bereits erwähnte katholische Modernismus, der sich auf die Philosophie von Bergson beruft, sondern es sind auch Formen von Religiosität ganz anderer Herkunft, wie die des Direktors der Zeitschrift, Ernst Horneffers, der sich von der Verbindung von Nietzsche und Christentum inspirieren lässt – womit besonders dessen mystische Formen gemeint sind, wie sie im deutschen Mittelalter Ausdruck gefunden hatten und in jenen Jahren von dem Theologen Arthur Bonus wieder propagiert werden. Bergsons Kritik am Rationalismus findet also auf die verschiedensten Ideologien Anwendung, die ein Essay über Bergson vom Januar 1914 registriert, den der Schweizer Pastor Adolf Keller verfasst, während er in Zürich lebt und mit Jung zusammenarbeitet. Der Essay erscheint zunächst in der Zeitschrift »Wissen und Leben« und unmittelbar darauf bei Diederichs als Monographie unter dem Titel Eine Philosophie des Lebens (Henri Bergson). Auch Keller nimmt die Entgegensetzung von Bergson’scher Intuition und Verstand 76 wieder auf. einen plumpen und extremen Nationalismus verfällt: Vor allem erkennt er an, dass die Einheit zwischen Volk und Kosmos kein deutsches Vorrecht, sondern auch bei Slawen, Kelten und Juden anzutreffen ist. Allerdings widmet sich der Herausgeber der Veröffentlichung alter deutscher Mythen und Sagen, in der Meinung, sie würden noch die Reinheit der teutonischen Kultur bewahren; vgl. Lulu von Strauß und Torney-Diederichs (Hg.), Eugen Diederichs. Leben und Werk, Diederichs, a. a. O., S. 196. Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit der religiösen Ausrichtung des Verlegers Diederichs, wie sie besonders in der Zeitschrift »Die Tat« zum Ausdruck kommt, sei verwiesen auf das Kapitel über das freie Christentum und über den Modernismus in I. Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930), a. a. O., S. 283–290 sowie auf M. Pulliero, Une modernité explosive, a. a. O., S. 526– 644. 75 E. Bernhard, Bergsons Lebensbegriff, »Die Tat«, IV (1912), a. a. O., S. 244. 76 »Am deutlichsten wird das Ungenügende dieses Versuches, wo der Verstand das seelische Leben erfassen und mit seinen Begriffen ausdrücken will. Diese Anstren-

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Bergson im Verlagsprogramm von Diederichs

Er versteht sie als eine Form von Irrationalismus, für die Bergson – so merkt Keller an – die Zustimmung der Feinde des Rationalismus und des Intellektualismus (zu denen Keller auch Arthur Bonus rechnet), der Verteidiger der Mystik, des metaphysischen Individualismus (Leibniz, Schleiermacher), der Gefühlsphilosophie (Hamann, Jacobi) erhält. Die Philosophie Bergsons wird also begrüßt als »moderne Romantik mit christlichem oder heidnischem Anstrich«. 77 In der Tat sehen, so Keller, einige Interpreten in der Philosophie von Bergson »Gedanken von Herder, Jacobi, Schelling und Fichte wieder lebendig werden«. 78 Bei der ersten Aufnahme, die Bergson in Deutschland zuteilwird und die im kulturellen Kontext von Jena stattfindet, spielen mithin drei große Fragestellungen eine zentrale Rolle: der Status des Lebens (vor allem gegenüber dem Geist), die Erkenntnislehre (in ihrer Originalität gegenüber dem Positivismus und dem Kantianismus) und schließlich die Auswirkung dieser theoretischen Voraussetzungen auf die Fragen der Moral und der Religion. Durch diese erste Rezeption in Jena durch den Herausgeber und das Milieu der Übersetzer und Wissenschaftler, das ihn umgibt, ist die deutsche Debatte über Bergson vorgeprägt, indem sie die Lektüren von Bergson, die außerhalb des kulturellen Kontexts von Jena stattfinden, auf dieselben Themen ausrichtet.

gung ist so vergeblich und irreführend, dass man schon die Behauptung wagen durfte: die Psychologie tötet die Seele«, vgl. A. Keller, Eine Philosophie des Lebens (Henri Bergson), a. a. O., S. 9. 77 Ebd., S. 37. 78 Ebd.

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4. Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern

Das Interesse der deutschen Philosophen für Bergson bleibt nicht ohne Auswirkungen auf seine Philosophie. Vor allem in den Jahren von 1906 bis 1914 unterhält er einen sehr regen Austausch mit deutschen Wissenschaftlern und Professoren. Obwohl dieser in der Folgezeit nachlässt oder vorzugsweise durch die Vermittlung anderer französischer Philosophen erfolgt, schwächt das nicht seine Rückwirkung auf die Spätphilosophie Bergsons. Es lässt sich daher ein gegenläufiger Weg zum bisher verfolgten nachzeichnen, der die Werke Bergsons bis nach Jena begleitet hat. Es geht somit darum, die Rückkehr seiner eigenen Philosophie zu Bergson nach der Verwandlung nachzuvollziehen, die sie mit ihrer ersten Verpflanzung in deutsches Gebiet erfahren hat, und die Reaktionen des Philosophen zu beobachten. Durch die Untersuchung der deutschen Lektüren Bergsons lässt sich das Bild rekonstruieren, das er von der Philosophie seiner deutschen Zeitgenossen erhält, und vor allem das Bild der Art und Weise, in der sie sein Werk aufnehmen und verstehen. Im Licht dieser verschränkten Wahrnehmungen ist es schließlich möglich, Spuren dieser Lektüren und dieses Austauschs auch in den Werken Bergsons nach 1907 zu erkennen, um die Bedeutung ihrer verdeckten Anwesenheit oder ihrer beabsichtigten Abwesenheit zu begreifen. Es sind vor allem die Schüler Euckens, die die ersten Austauschbeziehungen Bergsons mit Deutschland am Leben halten. Sie erkennen in Bergson eine Art Alter Ego ihres Jenaer Meisters Rudolf Eucken und interpretieren sein Denken innerhalb eines philosophischen Bezugssystems neu, das dem seiner Herkunft teilweise heterogen ist. Eucken seinerseits knüpft recht schnell einen Dialog mit Bergson, den man durch die entsprechenden Werke oder durch die Vermittlung einiger seiner Schüler nachverfolgen kann. 1900 ist Eucken unter den Mitgliedern des Gründungsausschus-

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Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern

ses des internationalen Kongresses für Philosophie 1 und korrespondiert mit Xavier Léon, einem der Gründer der »Revue de métaphysique et de morale« und Initiator der Reihe von internationalen Kongressen für Philosophie, die für den philosophischen Austausch in Europa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine ziemlich wichtige Rolle spielen. 2 Eucken nimmt sowohl am ersten als auch am vierten dieser Kongresse teil, die 1900 in Paris bzw. 1911 in Bologna stattfinden. Auch Bergson beteiligt sich, aber nach den Zeugnissen beider scheint ihr erstes persönliches Treffen erst im Februar 1913 in New York stattzufinden, wohin sie unterwegs sind, um Vorträge zu Zum Comité de patronage gehören Georg Cantor, Rudolf Eucken, Kuno Fischer, Gottlob Frege, Ernst Mach, Alexius Meinong, Paul Natorp, Friedrich Paulsen, Alois Riehl, Ferdinand Tönnies, Hans Vaihinger, Wilhelm Wundt, Eduard Zeller; vgl. Ier Congrès international de philosophie, 4 Bde., Armand Colin, Paris 1900–1903, Bd. I: Philosophie générale et métaphysique, 1900, Neuaufl. Klaus Reprint, Nendeln-Liechtenstein 1968, S. VII. 2 Die internationalen Kongresse für Philosophie werden gefördert von der Société française de philosophie und von der Redaktion der »Revue de métaphysique et de morale«, die sich ihres dichten Netzwerks ausländischer Kontakte bedienen kann. Auf den Kongress in Paris 1900 folgen jene in Genf 1904, in Heidelberg 1908 und in Bologna 1911, vgl. Ier Congrès International de philosophie, a. a. O.; Edouard Claparède (Hg.), Congrès International de philosophie: 2me Session tenue à Genève du 4 au 8 septembre 1904, H. Kündig, Genf 1905; Neuaufl. Klaus Reprint, Nendeln-Liechtenstein 1968; Theodor Elsenhans (Hg.), Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie zu Heidelberg 1. bis 5. September 1908, Winter, Heidelberg 1909; Neuaufl. Kraus Reprint, Nendeln 1974; Atti del IV congresso internazionale di filosofia. Bologna 5–11 aprile 1911, Formiggini, Genua 1911; Neuaufl. Klaus Reprint, Nendeln-Liechtenstein 1968. – Für Informationen zur Rolle dieser Gelegenheiten des philosophischen Austauschs verweise ich auf das siebte Kapitel von Christophe Prochasson, Les années électriques 1880–1910, La Découverte, Paris 1991 sowie G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 29 f., 49 und 53 f., der vor allem auf die Teilnahme von G. Simmel eingeht. Den wissenschaftlichen internationalen Kongressen widmen sich Wolf Feuerhahn – Pascale Rabault-Feuerhahn (Hg.), La fabrique internationale de la science: Les congrès scientifiques de 1865 à 1945, monographische Ausgabe der »Revue germanique internationale«, XII (2010). Zum Kongress von Bologna 1911 als emblematischem Moment philosophischer und wissenschaftlicher internationaler Austauschbeziehungen vor dem Ersten Weltkrieg s. die monographische Ausgabe L’Europe philosophique des congrès à la guerre, »Revue de métaphysique et de morale«, CXXII (2014), 4, hg. von C. Zanfi und F. Worms. – Zum Netzwerk von Intellektuellen im Umkreis der »Revue de métaphysique et de morale« s. Stephan Soulié, Les philosophes en République: L’aventure intellectuelle de la »Revue de métaphysique et de morale« et de la Société française de philosophie (1891–1914), mit einem Vorwort von C. Prochasson, Presses Universitaires de Rennes, Rennes 2009 sowie M. Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, PUF, Paris 1999, S. 259 f. 1

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halten. Während Eucken die Deem Lectures an der New York University gibt 3, absolviert Bergson drei Vorlesungen an den Universitäten Columbia, Princeton und Harvard. 4 Die beiden Philosophen stehen jedoch bereits seit einiger Zeit miteinander in Verbindung und nehmen – auf Drängen der Schüler Euckens, die häufig die Ähnlichkeit der Philosophien der beiden Autoren betonen – gegenseitig ihre Werke zur Kenntnis. Vor allem Isaak Benrubi übernimmt die Rolle des Vermittlers. Unter den Schülern Euckens ist er derjenige, der während seiner zahlreichen Aufenthalte in Paris Gelegenheit hat, mit Bergson in engeren Kontakt zu kommen – ist er doch in den 3 Die Texte der Vorlesungen (20. Februar–1. März) sind gesammelt in R. Eucken, Ethic and Modern Thought. A Theory of Their Relation. The Deem Lectures delivered in 1913 at New York University, G. P. Putnam’s Sons, New York 1913. 4 Die Berichte von Bergsons Vorlesungen (3.–24. Februar) Esquisse d’une théorie de la connaissance und Spirituality and liberty sind abgedruckt in M, S. 975–989. Die Autobiographie Euckens gibt keinen Hinweis auf irgendein Treffen vor dem Abendessen, das ihm und Bergson zu Ehren aus Anlass dieser Reise gegeben wurde; vgl. R. Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens (1921), 2., bearbeitete Aufl., K. F. Koehler, Leipzig 1922, S. 88: »Präsident Butler gab mir und Bergson, der damals gleichzeitig mit mir einige Vorlesungen hielt, ein solennes Diner, das höchst anregend verlief und uns beide in lebhafte Gespräche führte (wir sprachen dort englisch). Auch ein großer Rout wurde uns zu Ehren gegeben; jeder von uns beiden war dabei von einer großen Schar von Herren und mehr noch von Damen umgeben und mit Fragen bestürmt. Frau und Tochter sorgten genügend dafür, daß ich ich dabei keinen Hunger und Durst hatte; schlimmer ging es Bergson, der ohne Begleitung war und sich vor den Damen nicht retten konnte; ich habe ihn schließlich mit Gewalt aus jenem Kreise herausgeholt und für sein leibliches Wohl gesorgt«. Als er Benrubi von der New Yorker Begegnung mit Eucken erzählt, hebt Bergson die Merkwürdigkeit des Umstands hervor, dass beide, um sich zu treffen, erst den Ozean hätten überqueren müssen. Benrubi berichtet in seinen Souvenirs unter dem Datum vom 22. März 1913 (I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 75): »Bergson hat in Amerika R. Eucken persönlich kennengelernt, der diesen Winter Vorträge an den Universitäten von Harvard und Columbia gehalten hat«; unter dem Datum vom 14. Juli 1913 (ebd., S. 84): »Was seinen letzten Amerika-Aufenthalt angeht, so wiederholte Bergson, wie froh er war, dort Eucken getroffen zu haben, und dass es seltsam sei, dass sie beide dafür hätten den Ozean überqueren müssen«. Dass Benrubi, der immer ein waches Auge auf das Werk Euckens und sein Ansehen bei Bergson hat, keine Nachrichten über frühere Treffen anführt, lässt es als ausgeschlossen erscheinen, es könnte vor 1913 andere gegeben haben. Auch im Hinblick auf den Kongress von Bologna, zu dem sich sowohl Bergson als auch Eucken und Benrubi im April 1911 begeben, deutet Benrubi kein Treffen der beiden an. Außerdem erwähnt Jacques Chevalier in seinem Buch der Erinnerungen an Bergson ein Zeugnis des Philosophen über diese Begegnung: »Ich habe Eucken in Amerika kennengelernt, und wir haben uns sehr gut miteinander verstanden«, vgl. J. Chevalier, Entretiens avec Bergson, Plon, Paris 1959, S. 229.

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Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern

Jahren 1906–1909 mit Übersetzungen seiner Texte beschäftigt und knüpft mit ihm eine persönliche Verbindung, die nur während des Ersten Weltkriegs unterbrochen werden sollte. Die Erinnerungen Benrubis an die Begegnungen mit Bergson, die in seinem Buch Souvenirs sur Henri Bergson überliefert sind, bieten viele Elemente, um die Haltung des französischen Philosophen zur deutschen Philosophie zu rekonstruieren, besonders zu den Autoren, denen Benrubi am nächsten steht, wie es eben bei seinem Doktorvater Eucken der Fall ist. Bereits in einem 1908 in der »Revue philosophique« erschienenen Artikel (anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Eucken) deutet Benrubi einige Analogien zu Bergson an: Vor allem mit Blick auf die Abkehr vom Positivismus, mit der der Wille der beiden Autoren korrespondiert, die Unabhängigkeit der Philosophie von den Wissenschaften zur Geltung zu bringen. Für Benrubi sind allerdings diejenigen, die den Positivismus – von einem philosophischen Standpunkt aus – nicht als einen Fortschritt betrachten, nur eine Minderheit: Die hervorragendsten Vertreter dieser Minderheit sind: Bergson und Boutroux in Frankreich und Eucken in Deutschland. Diese drei Denker kämpfen kraftvoll gegen die Tendenz, die Philosophie zum Rang einer Magd der Einzelwissenschaften zu erniedrigen; sie wollen nicht, dass die Philosophie sich weiterhin nur vom Saft der positiven Wissenschaften nährt. Sie fordern ihre Zeitgenossen auf, zu wählen: entweder muss die Philosophie etwas wesentlich Neues bringen, oder sie begeht Selbstmord. Sie sind ausgesprochene Metaphysiker. Aber sie treiben ihre Spekulationen nicht gleich weit. Während Boutroux seine Metaphysik vor allem auf das Problem der Freiheit anwenden möchte, geht Bergson weiter und legt den Grund zu einer der solidesten Welt- und Lebensanschauungen. Eucken schließlich riskiert es, alle Konsequenzen aus seiner Metaphysik zu ziehen, die – wie diejenige Bergsons – sich vor allem von der neuplatonischen Metaphysik inspirieren lässt. 5

Bergson und Eucken werden also als Vertreter derselben antipositivistischen Richtung angesehen, verbunden auch durch die neuplatonische Inspiration ihrer Philosophien, die im Fall Bergsons vermutlich – außer auf die Lehre von L’évolution créatrice – auch auf die 1897/98 am Collège de France gehaltenen Vorlesungen über Plotin

5 J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, »Revue philosophique de la France et de l’étranger«, a. a. O., S. 353 f.

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zurückgeführt wird. 6 In einem Gespräch mit Benrubi im Februar 1909 bestätigt Bergson ihm die Richtigkeit der festgestellten Ähnlichkeiten, wie Benrubi selbst in seinen Souvenirs berichtet: »Bergson beglückwünschte mich zu dem Artikel, den ich im Aprilheft der »Revue Philosophique« über R. Eucken veröffentlicht hatte, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur. Er fand meine Anspielungen auf gewisse Analogien zwischen ihm und Eucken zutreffend, und er freute sich darüber«. 7 1911 erhält Bergson außerdem das Buch von Julius Goldstein, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart 8, in dem er zusammen mit James und Eucken als einer der wichtigsten Vertreter derjenigen Strömung der zeitgenössischen Philosophie vorgestellt wird, die sich für die Überwindung des Rationalismus und des Szientismus einsetzt. Als Bergson in einem Brief an Goldstein (der wie Benrubi in Jena Euckens Schüler gewesen war) seine Wertschätzung des Werkes zum Ausdruck bringt, nennt er als einen Aspekt, der ihn mit den beiden anderen behandelten Autoren verbindet, den Umstand, dass »diese Philosophie nicht, wie die herkömmlichen Lehren, ein fertiges System liefert: die Richtung ist es, die hier zur Hauptsache wird«. 9 Die Richtung, die Goldstein sowohl im radikalen Empirismus von James als auch in der Psychologie und Metaphysik von Bergson und in der aktivistischen Philosophie von Eucken am Werk sieht, besteht in der Suche nach einem neuen Verhältnis von Wissenschaft und Leben, »gegen die rationalistische Auffassung der Wissenschaft«. 10 Daher erkennt Goldstein in den drei Autoren eine Tendenz, die WisBereits im ersten Semester des Jahres 1897/98 hat Bergson am Collège de France eine Vorlesung über griechische Philosophie gehalten, in Vertretung von Charles Lévêque; vgl. Henri Gouhier, Bergson dans l’histoire de la pensée occidentale, Vrin, Paris 1989, S. 109. Auch an der École Normale Supérieure hat Bergson eine Vorlesung über Plotin gehalten, vermutlich im Jahr 1898/99, wenn man den Angaben in Cours, a. a. O., Bd. IV: Cours sur la philosophie grecque, 2000 folgt. Zum Neuplatonismus Bergsons sei verwiesen auf Rose-Marie Mossé-Bastide, Bergson éducateur, PUF, Paris 1955 und auf die vor Kurzem veröffentlichten Kurse Bergsons am Collège de France: H. Bergson, Histoire de l’idée de temps. Cours au Collège de France 1902–1903, hg. von Camille Riquier, PUF, Paris 2016 und ders., L’évolution du problème de la liberté. Cours au Collège de France 1904–1905, hg. von Arnaud François, PUF, Paris 2017. 7 I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 22 (8. Februar 1909). 8 J. Goldstein, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart, a. a. O. 9 Brief von Henri Bergson an Julius Goldstein vom 18. Juni 1911, in C, S. 414 f., hier S. 415. 10 J. Goldstein, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart, a. a. O., S. 14. 6

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Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern

senschaft von einem pragmatistischen Standpunkt aus zu betrachten, als ein Symbolsystem, das der Mensch zu Zwecken der Arbeit und des eigenen Überlebens geschaffen hat. Auch wenn er in der Haltung der drei Philosophen gegenüber dem Pragmatismus Unterschiede feststellt, bringt Goldstein eine damals sehr verbreitete Lesart zum Ausdruck, für die der Pragmatismus mit der Evolutionstheorie und mit der Lebensphilosophie Hand in Hand geht. In der Einführung zur deutschen Übersetzung von James’ Pragmatism wird Eucken von Wilhelm Jerusalem zur pragmatistischen Richtung gezählt. 11 Auch Benrubi betont 1908 in einem Artikel für die »Revue de métaphysique et de morale« Euckens Empfänglichkeit für den Pragmatismus. Um die Position Euckens zu erläutern, greift er auf Formulierungen und Argumente von Bergson zurück. So findet er eine unausgesprochene Parallelität in der Strategie, mit der die beiden Philosophen schließlich die pragmatistische Strömung in Richtung Metaphysik und Religion überwinden: Eucken bezieht eine Position, die sich dem Intellektualismus und dem Voluntarismus widersetzt und meint, dass dieses Leben sich nicht durch die reine Intelligenz oder den Willen verwirklichen lässt, sondern durch eine befreiende und erhebende Tat unseres ganzen Seins. Daher erkennt Eucken die Bedeutung der pragmatistischen Bewegung unserer Zeit an. Allerdings findet er, dass der Pragmatismus, wenn er den Intellektualismus überwinden will, den rein menschlichen Standpunkt überwinden und auf eine Metaphysik hinauslaufen muss. Er muss anerkennen, dass wir auf der Suche nach der Wahrheit für unser wahres Ich kämpfen, um zu unserem geistigen Ursprung zurückzugehen. Die Philosophie Euckens führt also direkt zur Religion. 12

Benrubis Ausdrucksweise »den rein menschlichen Standpunkt überwinden« scheint in der Tat die der Introduction à la métaphysique nachzuzeichnen – »die Philosophie sollte eine Anstrengung sein, über die menschlichen Bedingungen hinauszukommen« 13 – sowie mittels der Anspielung auf das »wahre Ich« an das »tiefere Ich« 14 und das

11 Wilhelm Jerusalem, Einführung, in William James, Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking (1907), dt. Übers. von W. Jerusalem, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden, Klinkhardt, Leipzig 1908, S. I–XIV. 12 J. Benrubi, Le mouvement philosophique contemporain en Allemagne, a. a. O., S. 580. 13 PM 218; dt. S. 218. 14 DI, S. 93; dt. S. 98.

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»fundamentale Ich« 15 des Essai sur les données immédiates de la conscience zu erinnern. Auch um die Eucken’sche Metaphysik des Werdens zu beschreiben, verwendet Benrubi Bergson’sche Termini: In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Metaphysik Euckens sowohl vom darwinistischen Evolutionismus als auch vom »Weltprozess« Hegels; sie scheint uns eine große Analogie mit der Philosophie der Kontingenz von Boutroux und vor allem mit der Metaphysik des Werdens von Bergson aufzuweisen. In der Tat, die Idee der Schöpfung, der schöpferischen Freiheit, des schöpferischen Werdens durchzieht die gesamte Philosophie von Eucken. Von den »Prolegomena zu Forschungen über die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und Tat der Menschheit« (1885) bis zur »Einführung in eine Philosophie des Geisteslebens« (1908) kann Eucken nicht genug betonen, dass sein »Geistesleben«, sein »Übermenschliches«, eine fortwährende Tat, »eine bei sich selbst befindliche, wesenhafte, wirklichkeitbildende Geistigkeit«, ein »selbständiges Schaffen« ist. 16

In der Rekonstruktion von Benrubi führt Eucken den tastenden Fortschritt des Lebens auf einen Gegenstoß irrationaler Kräfte zurück, der in manchen Fällen einen Rückfall und eine dem Fortschritt entgegengesetzte Bewegung auslöst: Die spontane Entwicklung des Lebens wird oft behindert, gehemmt, verzögert durch unvorhersehbare Umstände; sie ist nicht immer ein Fortschritt, ein sicherer Gang nach vorn, sie wird oft angehalten und sogar zurückgestoßen durch entgegengesetzte Kräfte, die Eucken das Irrationale und, was das menschliche Leben angeht, das Blossmenschlich[e] nennt. 17

Es muss betont werden, dass für Bergson gerade das Oszillieren des Lebens eher dessen Mangel an Zielgerichtetheit offenbart und dessen unvermeidliche Interaktion mit der Materie – aber es ist immer noch eine Bewegung von Wachstum und Forschritt: In der Metaphysik der Bergson’schen Dauer gehört ja die Vergangenheit zur Gegenwart, es gibt also weder die Wiederholung desselben noch die Rückwärtsbewegung. Für Eucken – berichtet Benrubi – läuft der Rückfall auf der Ebene des menschlichen Lebens auf eine Kraft hinaus, die es auf dem irrationalen Niveau des ›Bloßmenschlichen‹ festhält. Auf der

Ebd., S. 96; dt. S. 101. J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, »Revue philosophique de la France et de l’étranger«, a. a. O., S. 356 f. 17 Ebd., S. 357. 15 16

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Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern

entgegengesetzten Seite hingegen steht die Erhebung des Menschen, die am Geistesleben teilhat und ein Leben offenbart, das mehr umfasst, als die reine Intelligenz enthüllen kann. Um das zu beschreiben, greift Benrubi wieder auf das Vokabular von Bergson zurück: Die Intelligenz stellt nicht das Ganze des geistigen Lebens des Menschen dar, sie ist nur dann lebendig, wenn sie Teil und Ausdruck eines umfassenderen Lebens ist, das sich im Menschen offenbart. Am Leben des Geistes teilzuhaben bedeutet folglich an einem mehr als menschlich[en] Leben teilzuhaben. Dieses höhere Leben, dieses Überbewusstsein steht über der Entgegensetzung des Objekts und des Subjekts. 18

Die Übersetzung von Geistesleben mit dem Bergson’schen Ausdruck »Überbewußtsein [supraconscience]« 19 zeigt die Tendenz von Benrubis Interpretation: was in L’évolution créatrice den Ursprung des Lebens anzeigt und als Bedürfnis nach materieller Schöpfung konnotiert ist, wird im Sinne des Geisteslebens verstanden, das für Eucken sowohl dem biologischen Leben als auch dem subjektiven psychischen Leben überlegen ist. Bei Gelegenheit eines Treffens mit Benrubi kommentiert Bergson seine Lektüre von Euckens Werken Der Sinn und Wert des Lebens sowie Können wir noch Christen sein? und erkennt dabei selbst die Affinität des Jenaer Professors zu seiner eigenen Philosophie an – was den Begriff des Geisteslebens und den Dualismus von esprit und matière angeht –, die schon zum wiederholten Male von den Kommentatoren suggeriert wurde, wie man in den Souvenirs von Benrubi lesen kann: Bergson hat kürzlich Der Sinn und Wert des Lebens von Eucken gelesen und schreibt ein Vorwort zu diesem Werk. Er gab mir Recht, als ich ihn darauf hinwies, dass eine bestimmte sehr nahe Wesensverwandtschaft zwischen der Lehre vom Geistesleben bei Eucken und derjenigen der »Schöpferischen Entwicklung« und des »Überbewusstseins« bestehe. Aber er fügte hinzu, dass Eucken auf den wissenschaftlichen Aspekt der Frage nicht näher eingegangen sei. Das schien mir ganz richtig. Mit Bezug auf Können wir noch Christen sein sagte ich, Eucken sei Christ in dem Sinn, dass er die Wirklichkeit des Bösen anerkenne. Auch Bergson begreift das Böse als etwas Positives. »Die Materie«, stellte er klar, »ist gerade das negative Prinzip. Ohne Zweifel ist am Anfang der Geist, aber die Materie hat sich von ihm gelöst, ebenso wie die galaktischen Nebel, die sich noch heute bilden.

18 19

Ebd., S. 361 (Kursivierung im Orig. dt.). Vgl. EC, S. 246 und 251; dt. S. 250 und 261.

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Die Materie existiert also neben dem Geist. Das Leben entsteht nach Art des künstlerischen Schaffens«. 20

Indem er supraconscience und Geistesleben angleicht, lässt Bergson den Geist mit dem positiven Prinzip zusammenfallen und widersetzt sich dem negativen der Materie, die sich vom ersteren trennt. Die Negativität der Materie, die in dem von Benrubi berichteten Bonmot geradezu mit dem moralischen Übel zusammenzufallen scheint, ist von der Positivität des Prinzips des Geisteslebens/supraconscience absorbiert. Einige Passagen der L’évolution créatrice bestätigen diese Lesart, in der ein neuplatonischer Widerhall hörbar wird: »Auf dem Grunde der ›Spiritualität‹ einerseits, der ›Materialität‹ nebst Intellektualität andererseits also, finden sich zwei Prozesse entgegengesetzter Richtung, von deren einem zum andern durch Umkehrung, ja vielleicht bloße Unterbrechung übergegangen werden kann«. 21 Bergson hat sich jedoch gleichzeitig vom Spiritualismus distanziert: »Der große Irrtum der spiritualistischen Lehren war der Glaube, sie könnten das geistige Leben durch seine Isolierung, dadurch, daß sie es frei im Raum, so hoch als möglich über der Erde, schweben ließen, vor jedem Angriff sicher stellen«. 22 Anstatt es mit dem esprit zusammenfallen zu lassen, wird das Leben in L’évolution créatrice definiert als »das durch die Materie geschleuderte Bewußtsein«. 23 Und das Bewusstsein selber hat für Bergson, wie das Leben, zwei Richtungen: eine freie und schöpferische – die Intuition; die andere der Materie angepasst, die sie durchdringt – die Intelligenz. Wie er 1911 im Vortrag La conscience et la vie betont, »im Prinzip hat das Bewußtsein die gleiche Ausdehnung wie das Leben«. 24 In (zum Teil) analoger Weise lässt sich das Geistesleben Euckens nicht auf den Geist als rationales Prinzip reduzieren, sondern es interagiert mit dem Leben. Der Ausdruck Geistesleben bezieht sich nämlich nicht nur auf den Geist, als rationales Prinzip verstanden, sondern auch auf seine dem Leben angemessene Version und auf seine schöpferische Bewegung. 25 I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 61 f. (10. Dezember 1911). Kursivierungen im Orig. dt. 21 EC, S. 202; dt. S. 206. 22 Ebd., S. 268; dt. S. 272. 23 Ebd., S. 183; dt. S. 186. 24 ES, S. 8; dt. S. 8. Eine analoge Idee wird bereits formuliert in EC, S. VIII und 187; dt. S. 4 und 190. 25 Das sollte besonders von Troeltsch bemerkt werden: »schon die Zusammenfassung von ›Geist‹ und ›Leben‹ im Ausdruck für die Sache deutet auf eine gewisse sehr mo20

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Bergsons Beziehungen zu Eucken und seinen Schülern

Dieser Aspekt wird auch von Boutroux in seinem Vorwort zur französischen Übersetzung von Euckens Werk Geistige Strömungen der Gegenwart, 1911 bei Alcan veröffentlicht, unterstrichen. 26 Boutroux hebt vor allem den Aktivismus des Eucken’schen Geistes hervor, nicht ohne den ein oder anderen stillschweigenden Bezug zur Tradition der »Willensanstrengung« (effort voulu) von Maine de Biran einzuflechten, auf die sich der französische Spiritualismus beruft: »Der Geist der Bejahung und der Schöpfung ist auch selbst Bewegung und Anstrengung«. 27 Indem er gleichzeitig den Intellektualismus und den Naturalismus des 19. Jahrhunderts überwand, gelang es Eucken – so Boutroux –, einen neuen Begriff von Geist zu entwickeln, der mit Hilfe der Natur und der Intelligenz agiert. Anders als im Idealismus verwirklicht sich der Geist bei Eucken nicht zum Schaden der Materialität, sondern dank seiner Verbundenheit mit ihr, um freilich letztendlich einen Geist zu realisieren: Er ist der Natur nicht übergeordnet nach Art der noumenalen Freiheit Kants: er ist ihr immanent, er leitet ihr Handeln, dessen Protagonist er im Grunde ist, er lockert ihren Determinismus. Der neue Idealismus – weit davon entfernt, sich außerhalb der Wissenschaft, der Kunst, der Religionen, der gegebenen Wirklichkeiten (wie es die dualistische Auffassung möchte) einzurichten –, findet also im Gegebenen selbst die Materie, mit deren Hilfe er sich bemüht, den Geist zu realisieren. 28

Für Boutroux wird demnach die Immanenz des Geisteslebens in der Natur schließlich durch die Verwirklichung des Geistes allein überwunden. Auch bei Bergson finden sich, bis zu seinen letzten Werken, an einigen Stellen Überlegungen dieser Art, wo einer »hybriden« Auffassung des Bewusstseins und der Materie eine andere Art von derne Erweiterung hin. […] Faßt man nämlich das Geistesleben als ›Geist‹, dann ist es die Fortsetzung des alten zeitlosen, vernunftnotwendigen und wesentlich in Ideen bestehenden Humanitätsideals oder Menschheitsbegriffes, das überall und immer dasselbe ist und nur eben in der europäischen Welt seine vorzugsweise Darstellung gefunden hat. […] Aber dieser rationalen Fassung steht dann eine mehr irrationale und lebensmäßige Fassung gegenüber, nach der das Denken und der Intellekt nur als eines der Momente einer viel reicheren Bewegung erscheinen und das Geistesleben vor allem als immer neues, schöpferisches und seine Schöpfung jedes Mal neu und originell verbindendes Leben sich darstellt«, vgl. E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, a. a. O., S. 745 f. 26 R. Eucken, Les grands courants de la pensée contemporaine, a. a. O.; É. Boutroux, Avant-propos, a. a. O. 27 Ebd., S. XIII. 28 Ebd., S. XII.

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Spannung zur Seite gestellt wird, die darauf angelegt ist, die Freiheit des Bewusstseins vollkommen zum Ausdruck zu bringen und sich somit von allem Gewicht der Materie zu befreien. Man denke vor allem an die letzten Seiten von Les deux sources, wo das Universum definiert wird als »Maschine, um Götter hervorzubringen« 29 und wo Bergson an die Mechanik nicht nur als Manifestation des élan vital und der Intelligenz denkt, sondern auch als ein Gewicht, das die Verbreitung der mystischen Intuition in der Menschheit behindert. Bergson selbst scheint seine Nähe zu Eucken anzuerkennen, er deutet sie an im Vorwort, das der französischen Ausgabe von dessen Werk Der Sinn und Wert des Lebens beigegeben ist (1912 auf Französisch erschienen). 30 Die von Eucken vorgebrachte Kritik des Intellektualismus geht – wie Bergson dort hervorhebt – Hand in Hand mit der Betonung des Gefühls der Anstrengung und des Fortschritts, mit dem das Leben versucht (und versuchen muss), sich selbst zu übertreffen, indem es immer höhere Formen von Aktivität schafft […] Diese Aktivität ist der Geist selbst. Niemand hat die Beschränkungen, die die Materie uns auferlegt, besser begriffen als Eucken. Aber es hat auch niemand besser gesehen, wie der Geist sich der Materie bemächtigen und sie in seine Bahn ziehen kann. Die Idee, dass der Geist, in die Natur eingelassen, wahrhaft Schöpfer von Energie ist und in sich selbst die Kraft findet, sich auch sozusagen selbst zu immer steigenden Graden von Geistigkeit aufzuschwingen, ist das Leitmotiv des vorliegenden Werks. 31

Beim esprit von Eucken handelt es sich also um eine Aktivität, die in der Lage ist, sich beständig selbst zu übertreffen und Energie zu schaffen, genau wie der Bergson’sche élan vital. Jean-Louis VieillardBaron erkennt in diesen Worten Bergsons eine Annäherung an den deutschen Idealismus: Man sieht, dass die Beziehung Geist/Natur, wie sie die Naturphilosophien von Schelling und Hegel inspiriert hatte, von Bergson wiederaufgenommen wird; sie scheint einen umfassenderen Sinn zu haben als die Beziehung Geist/Materie, die in der Einführung zu L’évolution créatrice dazu gedient hatte, das Leben zu charakterisieren. Mit Eucken, und dank ihm, begreift Bergson, dass sein Evolutionismus, anders als René Berthelot 1913 fordern DS, S. 338; dt. S. 317 (Wortlaut leicht geändert). R. Eucken, Der Sinn und Wert des Lebens, a. a. O., frz. Übers. von A. Hullet und A. Leicht, Le Sens et la valeur de la vie, Alcan, Paris 1912. Der Text von Bergsons Vorwort (S. I–VI der Ausgabe von Alcan) ist nachzulesen in M, S. 971–973. 31 M, S. 972, f. 29 30

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sollte, sich mit dem Idealismus verbinden kann. Es handelt sich um einen im Sinn eines geistigen Dynamismus erneuerten Idealismus, der sich »Energiezuwachs«, oder auch »Intensivierung des Lebens« nennt. Angesichts der Zerstreuung, der Seichtigkeit der Zeit, auch angesichts des Naturalismus (besonders von Haeckel), plädiert Eucken für eine Selbstbesinnung der Philosophie durch den Rekurs auf den deutschen Idealismus und auf seinen Geistbegriff. So bekennt er sich zu einem neuen Spiritualismus, der in aller Freiheit in der christlichen Religion gründet. 32

Außer wegen der Überwindung des Naturalismus und des Intellektualismus wird Eucken also von Bergson geschätzt für seinen Aktivismus: Der Geist ist nämlich konnotiert als Leben und Tat. Laut Bergson gelingt es Eucken, in seinen Schriften »einen Zuwachs an innerer Energie und Vitalität« 33 zu vermitteln. Die Fortsetzung der Vitalität der évolution créatrice durch das philosophische Werk ist ein Zug von Euckens Philosophie, den Benrubi bereits in dem ihm gewidmeten Artikel in der »Revue philosophique« von 1908 hervorgehoben hatte und den Bergson anscheinend wiederaufnimmt: Er möchte zeigen, wie und bis zu welchem Punkt die Werke der großen Philosophen als spontane Verwirklichung des »Geisteslebens« betrachtet werden können, als eine Metaphysik in actu, kurz, als das vollkommenste Symbol der schöpferischen Entwicklung. 34

Um die Begriffe Euckens zu übersetzen, greift Benrubi wieder auf das Vokabular von Bergson zurück, der bereits im Werk von 1907 behauptet hatte, die Lehre der schöpferischen Entwicklung sei nicht nur spekulativ von Vorteil: »Sie verleiht auch gesteigerte Kraft zum Tun und zum Leben«: 35 Euckens »Metaphysik in actu« insistiert nämlich auf der Tat als Tätigkeit des Geistes in einer vitalen Synthese, die den Gegensatz von Subjekt und Objekt übersteigt und der Philosophie einen hauptsächlich moralischen und religiösen Charakter zuweist. Während Bergson in L’évolution créatrice diesen Aspekt kaum bedacht hatte, beginnt er tatsächlich zu Beginn der 1910er Jahre, ihn zu entwickeln, um ihn schließlich in Les deux sources vollkommen zum Ausdruck zu bringen. Die moralische Relevanz der J.-L. Vieillard-Baron, Das Geistesleben bei Bergson, Eucken und Kroner, book of abstracts der Tagung Bergson und Deutschland – Das Problem der Lebensphilosophie, Mainz, 5.–7. Juli 2007, S. 5. 33 M, S. 973. 34 J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, a. a. O., S. 371. 35 EC, S. 271; dt. S. 274. 32

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Philosophie Euckens dagegen ist schon in den ersten Jahren des Jahrhunderts deutlich, als Benrubi seinen Artikel schreibt: Das menschliche Leben ist ein Mitschaffen. […] Der Mensch verwirklicht das Leben des Geistes nur durch viele Versuche, Risiken und Verluste; er erwirbt das Leben des Geistes nicht ein für allemal, er muss es durch beständige Anstrengung immer neu erwerben. […] Eucken hat seiner Lehre den Namen Aktivismus gegeben. Als Lebewesen und als Individuum besitzt der Mensch kein Geistesleben, er erwirbt es nicht auf einfache und sichere Art; vielmehr wird er erst dadurch, dass er sich von seiner bloß menschlichen Natur, seiner Tierheit befreit, einer schöpferischen Tat fähig. Seine Tätigkeit hat also einen moralischen Charakter: durch große Opfer, durch Überwindung seiner Eigenliebe kann er an der Evolution teilnehmen, an der Errichtung einer Ordnung der Vernunft und Liebe. 36

Schon in dem Vortrag La conscience et la vie, gehalten in Birmingham am 29. Mai 1911 37, also kurz, bevor er das Vorwort zu Euckens Buch schreibt (1912), postuliert Bergson zum ersten Mal die Überlegenheit des moralischen Standpunkts über den künstlerischen und philosophischen als Gipfel der menschlichen Fähigkeit, die Bewegung des Lebens fortzusetzen: Höher noch ist der Gesichtspunkt des Ethikers. Nur beim Menschen, zumal bei den besten unter uns, verfolgt der Lebensschwung seine Bahn ohne Hindernis, indem er durch das Kunstwerk des menschlichen Körpers, das er so nebenher geschaffen hat, den unendlich schöpferischen Strom des sittlichen Lebens treibt. […] Die großen sittlichen Helden, und zumal diejenigen unter ihnen, deren Heroismus, ebenso genial wie einfach, dem SittlichGuten neue Wege gebahnt hat – sie offenbaren uns metaphysische Wahrheit. 38

Anlässlich der Reise nach Birmingham – wie er Benrubi selbst am 13. November 1911 erzählt – hat Bergson in England Tudor und Gibson getroffen, die Übersetzer von R. Eucken, die seine Aufmerksamkeit auf die Verwandtschaft seiner Lehre mit der des Jenaer Philosophen gelenkt haben. Jones hat auf Bergson den Eindruck eines Apostels gemacht. Übrigens hat Bergson kürzlich Der Sinn und Wert des Lebens von Eucken gelesen, und er hat für die französische Übersetzung dieses Werks ein Vorwort geschrieben. 39 J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, a. a. O., S. 357 f. Der Vortrag Life and consciousness erscheint zuerst im »Hibbert Journal«, Oktober 1911, und dann in französischer Übersetzung im Sammelband ES, S. 1–28; dt. S. 2–26. 38 ES, S. 25; dt. S. 23 f. 39 I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 57 f. (Kursivierung im Orig. dt.) 36 37

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Die Anspielungen, die Tudor und Gibson 40, die beiden englischen Eucken-Experten, Bergson gegenüber machen, beziehen sich auf jene, die Gibsons Schülerin Emily Hermann im Frühjahr 1912 in ihrem Essay Eucken and Bergson. Their significance for Christian thought 41 veröffentlichen sollte; es ist also wahrscheinlich, dass sie vor allem die Lebensphilosophie und das christliche Denken betreffen. Indem sie sich auf die Nähe Euckens und Bergsons zum Pragmatismus stützt, hebt Emily Hermann deren beider Unvereinbarkeit mit dem Dogma hervor, die sie im Fall Euckens mit seinem Aktivismus begründet, im Fall Bergsons mit seiner Lehre von der Dauer 42, die in Frankreich beträchtlichen Einfluss auf die »Neo-Katholiken« ausübt. 43 Also auch in England erkennen die Eucken-Forscher, die vermutlich dem Theologen Friedrich von Hügel nahestehen, der ja in Birmingham lebt und der mit Eucken und seinem Schülerkreis in Verbindung steht, dass es Resonanzen zwischen dem Denken des deutschen Philosophen und dem von Bergson gibt. Die beiden Philosophen werden auch in dem wichtigen Essay Mysticism der englischen Philosophin Evelyn Underhill 44 zusammengebracht, der für Bergson eine der Quellen für Les deux sources werden sollte. 45 In dem Abschnitt »Mystik und William Tudor Jones (1865–1946) widmet Eucken einige Studien, die wichtigste ist W. T. Jones, An interpretation of Rudolf Eucken’s philosophy, Williams & Norgate, London 1912; William Ralph Boyce Gibson (1869–1935), australischer Herkunft, studiert an verschiedenen europäischen Universitäten, u. a. in Jena, wo er 1893 Euckens Vorlesungen besucht. Vor seiner Rückkehr nach Australien ist er von 1900 bis 1910 Dozent an der Universität London. Er übersetzt Werke von Eucken ins Englische und veröffentlicht den Essay Rudolf Euckens Philosophy of Life, A. and C. Black, London 1907. 41 Emily Hermann, Eucken and Bergson. Their significance for Christian thought, Clarke and Co., London 1912. Ein von der Autorin Bergson zugesandtes Exemplar findet sich in der BLJD, cote BGN 1047/IV-BGN-IV-61. 42 Emily Hermann zitiert die Worte von Friedrich von Hügel, um diesen Punkt zu klären: »Da alle typisch menschlichen Werte und Ideale, ja sogar der Begriff von Wert selbst, nicht in der Zeit, sondern in der Dauer entwickelt, erobert und aufrechterhalten werden, hat die Geschichte es mit Realitäten zu tun, die im Grunde sogar hier und jetzt überhaupt nicht in der Zeit sind«, vgl. E. Hermann, Eucken and Bergson, a. a. O., S. 207. 43 Ebd., S. 132. 44 Evelyn Underhill (1875–1941), anglikanische Theologin, konzentriert sich in ihren Studien auf das Thema der Mystik und auf den Katholizismus. Sie ist die erste Frau, die an der Universität Oxford lehren durfte. 45 In DS, S. 241, Fn. (dt. S. 225, Fn.) stellt Bergson die Forschungen von Evelyn Underhill neben die von Henri Delacroix: »Ähnliche Gedanken finden sich in den bedeutenden Arbeiten von Evelyn Underhill (Mysticism, London, 1911; und The mystic 40

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Vitalismus« erkennt Evelyn Underhill in Eucken, Bergson und Nietzsche eine gemeinsame Sicht des kosmischen Lebens, das das Leben der Einzelnen transzendiert 46, und besonders in Eucken eine Form von »spiritual vitalism or activistic philosophy«. 47 Sowohl von Evelyn Underhill als auch von Emily Hermann wird Euckens Aktivismus wegen seinem Einfluss auf die Religionsphilosophie geschätzt, die bereits Benrubi in seinem Artikel in der »Revue philosophique« hervorgehoben hatte: Die Innerlichkeit oder das mystische Leben bei Eucken ist also nicht einfach ein glühendes Verlangen, in der Unendlichkeit aufzugehen: sie ist vielmehr aktiver und energischer Natur, sie beruht auf einer beständigen und spontanen Aktivität. Sie treibt den Menschen dazu an, das Irrationale in allen seinen Formen zu bekämpfen, und macht aus ihm nicht einfach einen Zuschauer, sondern einen Mitarbeiter am Bau einer neuen Welt. 48

Der Hang der Mystiker – wie sie in Les deux sources de la morale et de la religion beschrieben sind – zum aktiven Leben ist nicht der einzige Zug, der Eucken beizupflichten scheint: Es ist auch die von Bergson der christlichen Mystik zugeschriebene Überlegenheit, eben aufgrund ihres moralischen Niederschlags in der Handlung. Auch Eucken erkennt im Christentum die Religion der Freude und der Aktivität im Gegensatz zu seiner Verzerrung bei Nietzsche und zu den Darstellungen, die für eine passive und negative Haltung zum Leben plädieren. Benrubi gibt diesen Aspekt von Euckens Religionsphilosophie so wieder (1908): Was Eucken dazu nötigt, vor allem im Christentum die höchste Religion der Menschheit zu sehen, ist die Tatsache, dass hier die Metaphysik einen moralischen und die Moral einen metaphysischen Charakter hat – mit anderen Worten: dass das Wesentliche des Christentums nicht die intellektuelle Kul-

way, London, 1913). Diese knüpft mit ihren Darlegungen teilweise an das an, was wir in der Évolution créatrice auseinandergesetzt haben und was wir in diesem Kapitel wiederaufnehmen und fortsetzen. Siehe darüber besonders The Mystic Way«. 46 »Bergson, Nietzsche, Eucken haben zwar unterschiedliche Ansichten über die Bedeutung des Lebens, aber sie teilen diese Vision: in dem Nachdruck, den sie auf die höchste Bedeutung des Lebens und seinen Wert legen – ein großes kosmisches Leben, das unser eigenes übersteigt und einschließt«, Evelyn Underhill, Mysticism. A Study in Nature and Development of Spiritual Consciousness, Methuen & Co., London 1912, S. 27. 47 Ebd., S. 33. 48 J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, a. a. O., S. 366 f.

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tur ist, sondern eine moralische und radikale Erneuerung, die Erhebung zu einer Welt der Liebe, der Gnade, und des Respekts. 49

Wenn die Kritik am Naturalismus und am Intellektualismus Bergson und Eucken seit ihren ersten Werken verbindet, ist der Aktivismus dagegen ein Thema, das Bergson vor allem in der zweiten Phase seines Denkens entwickelt, die auf L’évolution créatrice folgt und in der der Vortrag von Birmingham La conscience et la vie (1911) eine bedeutende Etappe darstellt. Seine Ausarbeitung fällt gerade in die Zeit, als Bergson sich über das 1912 bei Alcan veröffentlichte Buch von Eucken Le sens et la valeur de la vie Gedanken macht, zu dem er das Vorwort schreibt. Der Weg zu Les deux sources erscheint in der Tat wie eine immer tiefere Anerkennung des Bandes zwischen dem Leben und der Moral und zwischen dem Leben und der Mystik, wobei die naturalistische Auffassung des Lebens, der bereits Eucken ablehnend gegenübergestanden hatte, überschritten wird. Es ist angebracht, noch einmal Benrubi mit seinem Artikel über die Philosophie Euckens zu Wort kommen zu lassen: »Der Naturalismus sieht nicht, dass die große Triebfeder des menschlichen Lebens nicht der Nutzen ist, nicht das Vergnügen, sondern vielmehr das Streben nach Glück, d. h. ein innerer Drang nach einem übermenschlichen Leben. Der Naturalismus zerstört sich selbst, wenn er den Menschen für fähig hält, zu handeln und zu lieben«. 50 Indem er das Mehr-als-Menschliche mit übermenschlich wiedergibt, fügt Benrubi dem Denken Euckens eine nicht nur nietzscheanische, sondern auch – und vielleicht vor allem – eine Bergson’sche Konnotation hinzu: In L’évolution créatrice hat Bergson selber von »Übermensch [sur-homme]« 51 gesprochen, um anzugeben, was das Leben mittels der Materie zu verwirklichen versucht hat. Aber was an diesem Zitat von Benrubi am meisten auffällt, ist das Aufbrechen des strikten Naturalismus durch die Liebe und die sittliche Tat, was der Ausgangspunkt für Bergsons Überlegungen in Les deux sources sein wird: Dort geht die Kritik am Naturalismus im engen Sinn weiter, aber es wird eine Philosophie vorgestellt, die, auch wenn sie auf das Leben im biologischen Sinn Bezug nimmt, dessen Bedeutung auch auf das metaphysische Leben ausdehnt. So bewegt sie sich auch in Richtung Liebe, ins Offene. 49 50 51

Ebd., S. 369 f. Ebd., S. 360. EC, S. 267; dt. S. 270.

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Die Worte, die Benrubi gebraucht, um Euckens Mystizismus zu beschreiben, erinnern im Übrigen an den doppelten Sinn der Liebe, die in Les deux sources zwischen den Menschen und Gott besteht. Benrubi dehnt nämlich die Wahrnehmungstheorie von Goethes Farbenlehre auf die religiöse Dimension aus: »Er sagt mit Goethe: ›Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken; Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?‹« 52 Sogar die Mystiker, von denen Bergson spricht, »adjutores Dei […], die im Verhältnis zu Gott erleiden, im Verhältnis zu den Menschen aber handeln« 53, scheinen Euckens begrenzte Auffassung von Freiheit zu bestätigen. Um es wieder mit den Worten Benrubis zu sagen, die, wir wir wissen, Bergson gelesen hatte: »Obwohl sie frei handeln, haben sie [die Mystiker] sich von höheren Mächten getragen gefühlt. Ihre Freiheit war vom Bewusstsein einer Abhängigkeit begleitet«. 54 Eucken kann somit mit gutem Recht den verschiedenen Quellen beigefügt werden, deren Bergson sich bedienen sollte, um in Les deux sources eine Philosophie der Mystik aktivistischen Typs zu definieren, zusammen mit – unter anderen – der Psychologie des Mystizismus der Pragmatisten William James und Henri Delacroix und dem Werk von Jean Baruzi über den hl. Johannes vom Kreuz. Der Umstand, dass er von so vielen Kommentatoren in die Nähe Euckens gerückt wird und dass er die Präsentation Benrubis gerade in den Begriffen seiner eigenen Philosophie aus L’évolution créatrice zu lesen bekommt, ist vielleicht für Bergson eine Anregung für eine Auseinandersetzung, die allerdings nicht nur Übereinstimmung der Ideen, sondern auch wichtige Elemente der Abgrenzung hervorbringen sollte. Das gilt vor allem für die Kritik am Naturalismus, die Bergson auf originelle Weise entwickelt, und für die Philosophie der Dauer, den springenden Punkt von Bergsons Denken, der allerdings bei Eucken nicht ebenso viel Beachtung findet. Wie Benrubi schreibt: »Die Einzelwissenschaften betrachten die Wirklichkeit unter verschiedenen Perspektiven, das ist ihr gutes Recht; aber es reicht nicht. Es muss eine Wissenschaft geben, die die Dinge sieht, indem sie sich

J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, a. a. O., S. 364. DS, S. 246; dt. S. 230. 54 J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, a. a. O., S. 364. Benrubi bezieht sich auf den Essay von Rudolf Eucken, Der Wahrheitsgehalt der Religion, a. a. O. 52 53

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ins Ganze versetzt (ein Sehen vom Ganzen) und sub specie aeterni«. 55 Gerade der Art von Philosophie, die durch diese spinozistische Formel bezeichnet wird, setzt Bergson im Vortrag La perception du changement von 1911 seine eigene Sicht der Dinge »sub specie durationis« 56 entgegen; sie klingt auch im zweiten Teil der Einführung zu La pensée et le mouvant von 1922 an, wo er den Theorien der Intuition von Schelling und Schopenhauer vorwirft, »der Versuch des unmittelbaren Erfassens des Ewigen« 57 zu sein.

J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, a. a. O., S. 352–373, hier S. 371. Eucken bedient sich dieser Ausdrucksweise in Der Wahrheitsgehalt der Religion, a. a. O., S. 406 (die Worte in der Klammer im Orig. dt.). 56 PM, S. 176; dt. S. 179. 57 Ebd., S. 25; dt. S. 42. 55

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1. Die ersten Kontakte mit Simmel und mit dem George-Kreis

Kaum später als der Jenaer Kreis zeigt auch Georg Simmel sein Interesse für Bergson. Bereits seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts interessiert er sich für die französische Soziologie und Philosophie. Zur selben Zeit beginnt sein Werk in Frankreich bekannt zu werden, als der junge Célestin Bouglé während eines Berlin-Aufenthalts 1893/94 seine Vorlesungen besucht. Bei seiner Rückkehr in Frankreich stellt Bouglé nämlich das Denken Simmels mit Hilfe der »Revue de Métaphysique et de Morale« vor, die 1893 von Xavier Léon, Elie Halévy, Léon Brunschvicg und Louis Couturat gegründet worden war. 1 Seitdem steht Simmel mit Léon und Halévy im Briefwechsel. Sie holen ihn ins internationale wissenschaftliche Komitee, das die internationalen Philosophiekongresse leitet, die ihrerseits von der Société Française de Philosophie und von der »Revue de Métaphysique et de Morale« gefördert werden. Dennoch nimmt Simmel nie persönlich an den Kongressen teil, sodass er die Gelegenheit, Bergson zu treffen, versäumt, der indessen bei den Kongressen in Paris 1900, in Genf 1904 und in Bologna 1911 anwesend ist. Das Interesse für Simmel in Frankreich bezeugen überdies die von René Worms für die »Revue Internationale de Sociologie« gewünschten Artikel; dieser macht ihn auch zu einem der 54 ordentlichen Mitglieder des Institut International de Sociologie schon bei seiner Gründung im Juli 1893. Bouglé versucht außerdem, Simmel am Prozess der Institutionalisierung der Soziologie in Frankreich zu beteiligen und bringt ihn in Kontakt mit Durkheim – in der Hoffnung, man werde ihn in die Redaktion von »L’Année Sociologique« aufnehmen. Doch bereits 1895, während der Vorbereitung der ersten Nummer der Zeitschrift, scheitert Bouglés Bemühung angesichts der unüberbrückbaren Differenz zwischen Simmel und Durkheim, d. h. in Anbetracht des Gegensatzes 1 Vgl. Célestin Bouglé (1870–1940), Les sciences sociales en Allemagne: G. Simmel, »Revue de métaphysique et de morale«, II (1894), 3, Mai, S. 329–355.

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einer materiellen und an sozialen Tatsachen ausgerichteten Soziologie und einer eher formalen Soziologie, wie diejenige Simmels es war. 2 Im französischen Kontext ist es, mehr noch als die Soziologie, die Philosophie Bergsons, die die bedeutsamste Rolle in der Entwicklung von Simmels Denken spielt. 3 Das Gespräch zwischen den beiden Philosophien scheint anfangs von der gemeinsamen Absicht motiviert, den Kantischen Erkenntnisansatz zu überwinden, der auf die transzendentalen Kategorien gegründet war. Im Ausgang von diesen ersten Überlegungen sollte ein vertieftes Studium der Bergson’schen Philosophie den Übergang Simmels zur Spätphase der Lebensphilosophie flankieren. Die ersten direkten Kontakte Simmels mit Bergson gehen auf die Zeit unmittelbar nach dem Erscheinen von Materie und Gedächtnis zurück. Der damalige Berliner Privatdozent schreibt an Bergson und an Diederichs aus Anlass von Benrubis Übersetzung, die er für so wenig gelungen hält, dass er sich selbst um die Übersetzung des nächsten vom Verleger geplanten Werks kümmert, nämlich von L’évolution créatrice. Infolge von Simmels Einwänden wird Benrubis Übersetzung von Materie und Gedächtnis nicht mehr für die zweite Auflage 1919 herangezogen und durch eine neue Übertragung von Frankenberger ersetzt. 4 Nachdem er die Druckfahnen der bereits von Für eine detaillierte Rekonstruktion der Austauschbeziehungen zwischen Simmel und den französischen Soziologen in dieser Phase sei verwiesen auf die sehr gehaltvolle Studie von G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 19– 47. Die Artikel Simmels, die seit 1894 in der »Revue internationale de sociologie«, in der »Revue de métaphysique et de morale«, in den »Annales de l’Institut international de Sociologie« und in »L’année sociologique« erschienen sind, sind gesammelt in ders., Gesamtausgabe, 24 Bde., hg. von O. Rammstedt, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989 ff., Bd. XIX: Französisch- und italienischsprachige Veröffentlichungen. Mélanges de philosophie relativiste, 2002, S. 9–106 und 117–136. 3 Das haben die Forschungen von Fitzi gezeigt, vor allem die bereits öfter zitierte Abhandlung Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O.; die wesentlichen Aspekte sind wiederaufgenommen in ders., Société et morale sous l’angle de la philosophie de la vie: Une comparaison franco-allemande, in F. Worms (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2002, Bd. I: Bergson dans le siècle, S. 243–264 und in Fitzi, Frammento, flusso e limite nell’indagine dell’esperienza, »La società degli individui«, VII (2004), 2, S. 45–60. S. außerdem die Vorstudie von Fitzi, Lignes pour la reconstruction des rapports personnels et de l’échange intellectuel entre Henri Bergson et Georg Simmel, »Simmel Newsletter«, VIII (1998), 2, S. 87–93. 4 Obwohl kein Kenner von Bergsons Philosophie, fällt die Wahl auf Frankenberger wegen seiner technischen Kompetenz im Übersetzen, vgl. Günther Pflug, Eugen Diederichs und Henri Bergson, in Monika Estermann – Michael Knocke (Hg.), Von Gö2

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Die ersten Kontakte mit Simmel und mit dem George-Kreis

Benrubi in die Wege geleiteten Übersetzung von L’évolution créatrice gelesen hatte, überzeugt Simmel Bergson und Diederichs, stattdessen seine Schülerin Gertrud Kantorowicz 5 damit zu beauftragen, die philosophisch und kunstgeschichtlich 6 gebildet ist. Gertrud, die Cousine des berühmteren Historikers Ernst Kantorowicz, besucht den Kreis von Stefan George gemeinsam mit Simmel, mit dem sie intellektuell und persönlich tief verbunden ist – so sehr, dass er ihr die Manuskripte seines Nachlasses anvertraut. 7 Des Weiteren betraut Simmel Margarete Susman 8 mit der Übersetzung der Introduction à la métaphyschen bis Rowohlt. Beiträge zur Geschichte des deutschen Verlagswesens. Festschrift für Heinz Sarkowski zum 65. Geburtstag, Harrassowitz, Wiesbaden 1990, S. 170. 5 So berichtet Michael Landmann in seinem Essay über Gertrud Kantorowicz: »Eine ihr sehr gemäße Tätigkeit, bei der auch ihre große Sprachbegabung zur Geltung kam, war es, als sie durch Vermittlung Simmels, in dem die Entdeckung Bergsons einen wahren Rausch ausgelöst hatte, den Auftrag erhielt, dessen ›Evolution créatrice‹ ins Deutsche zu übersetzen. Sie erzählte, wie sie stundenlang gemeinsam mit Stefan George nach einer gemäßen Übertragung für den ›élan vital‹ gesucht habe […]«, vgl. M. Landmann, Gertrud Kantorowicz, in ders. (Hg.), Figuren um Stefan George, Castrum Peregrini, Amsterdam 1982, S. 43. Simmels Sohn, damals Medizinstudent, arbeitet außerdem an der Übersetzung mit, wie er in seinen Lebenserinnerungen festhält, Simmelarchiv, Bielefeld, S. 59, zit. in G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 218: »Die sehr schwierige ›Evolution créatrice‹ wurde unter Mitarbeit meines Vaters – und für einige rein naturwissenschaftliche Stellen von mir! – von Gertrud Kantorowicz übersetzt«. Max Scheler beurteilt in seiner Kölner BergsonVorlesung im Wintersemester 1919/20 die Übersetzung von EC positiv: »das metaphysische Hauptwerk Bergsons ›L’évolution créatrice‹ 1907 unter dem Titel ›Die Schöpferische Entwicklung‹ Jena 1910 – übersetzt – recht gut – von Frl. Kantorowicz unter der Mithilfe und Aufsicht Georg Simmels«, BSB Ana 315, B, I, 99, Bl. 1. 6 Gertrud Kantorowicz (1876–1945) hatte in Zürich mit einer Arbeit über die venezianische Malerei promoviert und war Expertin für griechische Kunst. Vgl. G. Kantorowicz, Ueber den Meister des Emmausbildes in San Salvatore zu Venedig, Druck von E. Buchbinder, Neu-Ruppin 1903; dies., Vom Wesen der Griechischen Kunst, Wallstein Verlag, Heidelberg – Darmstadt 1961. 7 Seiner Witwe Gertrud Simmel hingegen übertrug er die Aufgabe, die bereits fertiggestellten Manuskripte zu veröffentlichen. Die dramatische Geschichte der letzten Monate im Leben von Gertrud Kantorowicz und ihrer Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt ist dokumentiert von Angela Rammstedt, »Wir sind des Gottes der begraben stirbt …« Gertrud Kantorowicz und der nationalsozialistische Terror, »Simmel Newsletter«, VI (1996), 2, S. 135–177. 8 Margarete Susman bezeugt: »Auf den Wunsch Simmels haben wir, Gertrud Kantorowicz und ich, jede ein Buch von Bergson, der unter Denkern seiner Zeit den tiefsten Eindruck machte, ins Deutsche übersetzt: ich zuerst die ›Einführung in die Metaphysik‹, eine Übersetzung, die Simmel dann vorzüglich durchkorrigierte. Doch konnte ich eine einzige Stelle in dieser Korrektur nicht annehmen, sodaß ich die Übersetzung nicht unter meinem Namen erscheinen ließ«; vgl. Kurt Gassen (Hg.), Buch des Dan-

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sique, eine Schülerin von ihm, die sich der Lyrik widmet. Der Verleger Diederichs reagiert auf Simmels Vorschlag positiv, weil dieser seinem Willen, Übersetzungen »künstlerischer« 9 zu gestalten, entspricht. Auch Simmel ist der Meinung, dass eine gute Übertragung die Voraussetzung für eine richtige Bergson-Rezeption sei, der seiner Ansicht nach entscheidende Bedeutung für die Erneuerung der deutschen Kultur zukommt. Er sichert Diederichs höchstpersönlich zu, die Übersetzung von L’évolution créatrice zu beaufsichtigen und übernimmt es, die Übersetzungen der Introduction à la métaphysique, des Essai und von Le rire noch einmal zu lesen, das von Julius Frankenberger und Walter Fränzel 1914 übertragen wurde. 10 Alles deutet darauf hin, dass er nunmehr als Berater für die Ausgabe der Werke Bergsons an Schelers statt fungiert, der 1906 nach München umgezogen ist und die Beziehungen mit Diederichs und dem Jenaer Milieu jäh abgebrochen hat. 11 Der Essai hingegen wird 1911 Paul Fohr anvertraut, der später noch politische Werke übersetzen wird. 12 Nach dem Tod Simmels erscheinen auch noch L’énergie spirituelle und Les deux sources auf Deutsch, 1928 bzw. 1933 von Eugen Lerch übertragen, Professor für Romanistik in Berlin und Redakteur der Zeitschrift »Deutsche Philologie«, die sich mit dem Neoidealismus identifiziert, der dem Diederichs Verlag so sehr am Herzen liegt. Durch Margarete Susman und Gertrud Kantorowicz führt Simmel das Denken Bergsons in den Kreis des Dichters Stefan George kes an Georg Simmel, Duncker & Humblot, Berlin 1958, S. 283, zit. in R. W. Meyer, Bergson in Deutschland, a. a. O., S. 17. Der von Margarete Susman übersetzte Text erscheint in Jena im Herbst 1909 in einer ersten Auflage von 1.700 Exemplaren, vgl. G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 217. Margarete Susman erläutert das Denken Bergsons im Ausgang von ihrer Erfahrung als Übersetzerin in M. Susman, »Henri Bergson«, in Gestalten und Kreise, Diana Verl., Stuttgart 1953, S. 192–199. Gertrud Kantorowicz wird als einzige Übersetzerin von Schöpferische Entwicklung zitiert, auch wenn ihrer Arbeit tatsächlich das Manuskript Benrubis zugrunde liegt, das bereits von Adolf Lasson (1832–1917) durchgesehen worden war. Diederichs hatte das Manuskript zunächst ihm unterbreitet, vgl. G. Pflug, Eugen Diederichs und Henri Bergson, a. a. O., S. 171. 9 Vgl. I. Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896–1930), a. a. O., S. 342. 10 Was Simmels Beteiligung an der Übersetzung von Bergsons Werk betrifft, so wurde sie von Fitzi auf der Basis vor allem der Briefwechsel zwischen Bergson, Simmel und Diederichs und der Memoiren von Hans Simmel und Margarete Susman rekonstruiert. Vgl. G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 203–228. 11 S. unten sowie W. Mader, Max Scheler, a. a. O., S. 30. 12 Vgl. G. Pflug, Eugen Diederichs und Henri Bergson, a. a. O., S. 174 f.

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ein, den er ebenso frequentiert wie die jungen Übersetzerinnen. 13 Ein Brief von Friedrich Gundolf an George von Anfang Februar 1909 belegt, dass diese sich schon damals für die Werke Bergsons interessieren. 14 Tatsächlich schenkt der Berliner Kreis dem französischen Philosophen vor allem in den Jahren seine Aufmerksamkeit, in denen Gertrud Kantorowicz an ihrer Übersetzung arbeitet. Es scheint, dass vor allem einige Lösungsvorschläge für die Übersetzung von L’évolution créatrice mit George persönlich besprochen werden: Zum Beispiel wird gemeinsam mit ihm der deutsche Begriff Lebensschwungkraft geprägt, um den unübersetzbaren französischen Ausdruck élan vital wiederzugeben. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, dass man sich nicht auf bereits geläufige Begriffen wie die Driesch’sche Lebenskraft verlässt, eben um Bergson von der deutschen vitalistischen Tradition zu unterscheiden. Übrigens hatte sich

Die Nähe Simmels zum Kreis des Dichters George, der allerdings dazu neigt, Philosophen von seinem Umfeld fernzuhalten, wird bezeugt vor allem durch seinen Briefwechsel mit George und Friedrich Gundolf, vgl. M. Landmann (Hg.), Briefe Georg Simmels an Stefan George und Friedrich Gundolf, in H.-J. Dahme – O. Rammstedt (Hg.), Georg Simmel und die Moderne. Neue Interpretationen und Materialien, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1984, S. 430–448. Ihre Beziehung wird skizziert und in Perioden eingeteilt von H.-J. Dahme – O. Rammstedt – M. Landmann, Georg Simmel und Stefan George, in Georg Simmel und die Moderne, a. a. O., S. 147–173. Simmel selbst widmet George ein paar kurze Essays: G. Simmel, Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung (1898), in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. V, Aufsätze und Abhandlungen 1894–1900, 1992, S. 287–299; ders., Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie (1901), Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. VII, Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. I, 1995, S. 21–35; ders., Der siebente Ring (1909), in Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze von Georg Simmel, hg. von G. Simmel, Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1922; erneut veröffentlicht in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XII, Aufsätze und Abhandlungen 1909– 1918, Bd. I, 2001, S. 51–54. Die Anwesenheit von Simmel und Gertrud Kantorowicz im George-Kreis wird auch von Ernst Robert Curtius bezeugt, der sie unter den Besuchern des Salons des Malerehepaars Reinhold und Sabine Lepsius erwähnt, die ebenfalls George nahestanden. Vgl. E. R. Curtius, Stefan George im Gespräch, in Kritische Essays zur europäischen Literatur, Francke Verlag, Bern 1950, S. 100. 14 Vgl. Stefan George (1868–1933) – Friedrich Gundolf (1880–1930), Briefwechsel, hg. von R. Boehringer und G. P. Landmann, Küpper, Düsseldorf – München 1962, S. 193: »Anbei den Bergson, ich bekomme ihn eben und schicke Dir ihn gleich ohne darin gelesen zu haben. Das andre Werk ist VERGRIFFEN: ich glaube das andre ist für uns bedeutungsvoller: Ich höre übrigens von [Arthur] Salz, daß in München schon philosophische Seminarübungen über Bergsons Ideen abgehalten werden. Also ist er nicht so unentdeckt auch in Deutschland«. 13

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Driesch in seiner Rezension von L’évolution créatrice 1908 15 selber auf den élan vital bezogen und ihn auf Französisch beibehalten, ohne überhaupt eine Übersetzung ins Deutsche zu versuchen. Außerdem unterscheidet die Übertragung von Gertrud Kantorowicz den Bergson’schen Begriff von den Termini Trieb und Impuls, die zu sehr biologisch konnotiert sind, die hingegen von Benrubi und von anderen Interpreten schon vorgeschlagen worden waren. 16 Einer der größten Bewunderer von Bergson unter den Mitgliedern des George-Kreises ist Ernst Gundolf, der jüngere Bruder des berühmteren Friedrich. Als Besucher des George-Kreises, seit er 18 Jahre alt ist, arbeitet Ernst Gundolf schon 1900 mit George und Wolfskehl zusammen am Goethe-Teil von deren dreibändigem Werk über die deutsche Poesie 17 und widmet sein Leben dem Bereisen Europas und der Dichtung. Seine Bewunderung für die Philosophie Bergsons ist besonders offensichtlich in einem Artikel, der in der

Hans Driesch, H. Bergson, der biologische Philosoph, »Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre«, II (1908), 1–2, S. 48–55. 16 Vgl. I. Benrubi, Henri Bergson, »Die Zukunft«, XVIII (1910), 36, 4. Juni, S. 321: »Im Deutschen ließe sich dieser Begriff durch die Worte ›innerer Forttrieb des Lebens‹ wohl am Besten ausdrücken«. Karl Bornhausen übersetzt élan vital mit »Lebensimpuls« in seinem Artikel Die Philosophie Henri Bergsons und ihre Bedeutung für den Religionsbegriff, »Zeitschrift für Theologie und Kirche«, XX (1910), 1, S. 69. Ernst Bernhard dagegen gibt élan vital mit »der schöpferische Trieb« wieder, vgl. E. Bernhard, Bergsons Lebensbegriff und die Moderne, a. a. O., S. 240. Auch nach der deutschen Übersetzung von EC werden die Deutungen des élan vital sich eines deutschen Vokabulars bedienen, das der französischen Tradition, aus der Bergson kommt, fremd bleibt. Beispielsweise behauptet der Religionsphilosoph Emil Ott 1914: »Unter diesem Impuls, den Bergson sonst auch Schwungkraft des Lebens nennt, ist natürlich unter religiösem Gesichtspunkt Gott zu verstehen«, vgl. E. Ott, Henri Bergson der Philosoph moderner Religion, Teubner, Leipzig 1914, S. 274 f. Noch 1933 beschreibt ein Werbeflyer des Verlegers Diederichs den élan vital sogar im Rückgriff auf den Drang: »Auch in der Außenwelt herrscht jenes unablässige Strömen und Fließen wie in der Seele, nicht gesetzmäßige Wiederholung und mechanische Abhängigkeit, sondern schöpferischer Entwicklungsdrang, der Lebensschwung oder der élan vital, wie ihn Bergson nennt. Er ist das Absolute, das Göttliche, von dem auszugehen ist, wenn man die Materie, das Tote, das erstarrte Leben, verstehen will«; vgl. Verlagsprospekt von Diederichs, der dem Exemplar von Die beiden Quellen der Moral und der Religion beiliegt, Diederichs, Jena 1933, BLJD, cote BGN 1285/IV-BGN-V-1. 17 Vgl. Stefan George, Karl Wolfskehl (Hg.), Deutsche Dichtung, 3 Bde., G. Bondi, Berlin 1900. Die Schriften von Ernst Gundolf (1881–1945) sind gesammelt in E. Gundolf, Werke. Aufsätze, Briefe, Gedichte, Zeichnungen und Bilder, hg. von M. Thimann, Castrum Peregrini, Amsterdam 2006. 15

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Zeitschrift des George-Kreises »Jahrbuch für die geistige Bewegung« 1912 18 erscheint, im selben Jahr wie die Schöpferische Entwicklung. Der Artikel von Gundolf spiegelt seine Herkunft aus dem Berliner Umfeld in verschiedener Hinsicht wider. Zuerst weil Gundolf dazu neigt, das Vokabular der deutschen Lebensphilosophie von Dilthey oder Simmel derjenigen Bergsons überzustülpen, indem er die expérience immédiate 19 mit dem Erleben gleichsetzt. Für Gundolf ist Bergson nämlich der Auffassung, »Aufgabe des philosophen ist […] die welt zu erleben«. 20 Auf diese Art von Erfahrung gründet sich die Metaphysik: »Die quelle philosophischer erkenntnis ist ihm das erlebnis, die unmittelbare menschliche erfahrung«. 21 Für Bergson hat das allerdings mehr den Charakter der liebenden Übereinstimmung mit dem Gegenstand als den psychischen und innerlichen Charakter des Dilthey’schen Erlebnisses, dem hingegen eine Funktion bei der Begründung der Geschichtswissenschaften zukommt. 22 Das Berg18 E. Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, »Jahrbuch für die geistige Bewegung«, III (1912), S. 32–92. Ernst Gundolf hatte mit der Abfassung des Artikels bereits Anfang Januar 1911 begonnen, wie aus einem Brief von Friedrich Gundolf an George hervorgeht: »Ernst arbeitet am Bergson«, vgl. St. George – F. Gundolf, Briefwechsel, a. a. O., S. 218. Der Text ist vermutlich schon im Mai fertig, wie dem Brief von George an Gundolf vom 8. Mai 1911 zu entnehmen ist; vgl. ebd., S. 226: »ich habe mir jezt die arbeit des Ernst über Bergson vorlegen lassen. Es ist mehr ein traktat als eine übersicht und von ganz schlagender sicherheit und richtigkeit und hat fast nur den nachteil dass jezt jeder um zu wissen was in Bergson ›drinsteht‹ ihn nicht mehr selber zu lesen braucht«. 19 Der Ausdruck taucht auf in MM, S. 46 und 280; dt. S. 33 und 250 (wo er allerdings mit »unmittelbare Erfahrung« übersetzt wird), aber er ist ständig in der Spanne des ganzen Werks von Bergson präsent. 20 E. Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, a. a. O., S. 33. 21 Ebd. 22 Die Faszination, die für den George-Kreis von diesem Aspekt von Bergsons Denken ausging, wenn man ihn mit den Philosophien von Dilthey, Simmel und Nietzsche in Übereinstimmung brachte, unterstreicht Troeltsch 1921 in seinem Aufsatz Die Revolution in der Wissenschaft. Eine Besprechung von Erich von Kahlers Schrift gegen Max Weber: »Der Beruf der Wissenschaft« und der Gegenschrift von Arthur Salz: »Für die Wissenschaft gegen die Gebildeten unter ihren Verächtern«, Duncker & Humblot, München 1921; erneut veröffentlicht in Gesammelte Schriften, 4 Bde., J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Leipzig 1922–1925, Bd. IV, 1925, S. 661: »Er sucht mit Bergson das strömende, dem Kausalismus und der Raumordnung überlegene Leben, die schöpferische Entwicklung mit ihren Knotenpunkten schöpferischer Urerlebnisse, die aus der Tiefe des Werdens oder des unbekannten Gottes stammen«. Eine Analyse der »gelebten Erfahrung« Diltheys im Vergleich zu den analogen Begriffen bei Brentano, James, Bergson und Husserl findet sich in Alfredo Civita, La filosofia del vissuto. Brentano, James, Dilthey, Bergson, Husserl, UNICOPLI, Mailand 1982, S. 127–233.

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son’sche Erlebnis, wie Gundolf es versteht, ist eher im Simmel’schen Sinn einer erlebten Erfahrung aufzufassen – die jeder begrifflichen Abstraktion und Zerlegung vorausliegt – und auf jeden Fall im antipositivistischen Sinn, der sowohl für die Überlegungen Simmels wie diejenigen Diltheys kennzeichnend gewesen war – beide beseelt von der Suche nach einer philosophischen Methode als Alternative zu jener der Wissenschaften der physischen Phänomene. Zweitens kann Ernst Gundolf verstanden werden als Sprachrohr des George-Kreises, denn sein Interesse für Bergson richtet sich vor allem auf den intuitionistischen Aspekt von dessen Philosophie 23, von der vor allem die ästhetischen Aspekte Beachtung finden. Tatsächlich wird die schöpferische Dauer auf die Vision des Menschen als Künstler zurückgeführt. Während die Naturwissenschaft nicht an die Schöpfung von Neuem, sondern nur an die Ordnung glaubt, lässt, so bemerkt Gundolf, die Metaphysik Bergsons der freien Kreativität der Natur und des Menschen Raum, womit sie sich der wissenschaftlichen Weltsicht widersetzt: »Darum sieht die wissenschaft auch im lebendigen stets ein geteiltes, auch hier in der entwicklung eine reihe von zuständen. Sie glaubt nicht an neuschöpfung sondern nur an neuordnung, denn der mensch ist handwerker eher als künstler«. 24 Die Wesensverwandtschaft der metaphysischen Intuition mit der ästhetischen und künstlerischen Intuition sowie die Ähnlichkeit zwischen der Kreativität des élan vital und der Kreativität des Künstlers, auf die 1910 25 auch Benrubi in einem Artikel zu sprechen kommt, werden im Übrigen von Bergson in verschiedenen Werken klar bestätigt, von Le rire über L’évolution créatrice bis hin zu den Vorträgen der 1910er Jahre. 26 Das bemerkt auch E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, a. a. O., S. 952–956: »Bei uns hat Bergson einen starken Widerhall in den literarhistorischen Forschungen der George-Schule gefunden, auf die auch von anderen Ausgangspunkten her schon mehrfach hinzudeuten war. Hier sind die Anregungen von Dilthey, Nietzsche, Husserl, Simmel und ihm gemischt zu einer neuen intuitiven Methode und ist zugleich der Normgedanke im Anschluß an Georges Prophetentum fest und polemisch gegenüber allem bloßen Fluß und aller demokratischen und sozialistischen Moderne aufgerichtet«. 24 E. Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, a. a. O., S. 70. 25 I. Benrubi, Henri Bergson, »Die Zukunft«, a. a. O., S. 321: »Die Schöpfung des Lebens denkt sich Bergson nach der Analogie des künstlerischen Schaffens«. 26 Die Verwandtschaft der Intuition mit der ästhetischen Erfahrung wird vor allem behauptet in EC, S. 178; dt. S. 181: »Ins Innere des Lebens selber dagegen würde die Intuition, ich meine der uninteressierte, seiner selbst bewußt gewordene Instinkt füh23

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Selbst der Romanist Curtius, der in seinen Jugendjahren den Brüdern Gundolf eng verbunden war, betont 1919 in einem Essay mit Bezug auf die Philosophie Bergsons: »Mystische Weltschau und künstlerische Weltgestaltung, die bei der Philosophie so oft zu kurz kommen, werden in ihre Rechte eingesetzt« 27. Überdies setzt Curtius die Philosophie Bergsons an den Anfang der künstlerischen und literarischen Erneuerung in Frankreich, die auf die Dekadenzdichtung folgte. 28 Interpretationen dieser Art sollten, zusammen mit der Resonanz von Bergsons Philosophie in der literarischen und künstlerischen Welt zu Beginn des Jahrhunderts, die Vorstellung bestärken, man habe es mehr mit Literatur als mit Philosophie zu tun. Diese Argumentation erhält neue Nahrung durch die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Bergson im Jahr 1927. Paradoxerweise führt man sie häufig ins Feld, um seine Philosophie zu diskreditieren, da sie auf strikt begrifflicher Ebene zu wenig präzise sei. 29 ren; er, der fähig wäre, über seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn ins Unendliche zu erweitern. Daß eine Anstrengung solcher Art nicht unmöglich ist, beweist das Dasein des ästhetischen Vermögens neben der normalen Wahrnehmung des Menschen«. Dieselbe Idee wird bekräftigt in R, S. 115–121; dt. S. 101–106 sowie in PM, S. 149–154 und 175; dt. S. 154–159 und 178. Die Metapher des künstlerischen Schaffens bringt Bergson bereits 1904 in dem Aufsatz La vie et l’œuvre de Ravaisson, vgl. PM, S. 274 f.; dt. S. 265. Die Parallele kehrt häufig wieder in EC, besonders S. 90 f.; dt. S. 96. Annamaria Contini hat der Analogie von künstlerischem Schaffen und vitaler Schöpfung einige Studien gewidmet, vgl. Dire la vie: art et création vitale chez Bergson, in Claudia Stancati (Hg.), Henri Bergson: Esprit et langage, Mardage, Sprimont 2001, S. 205–217; erweitert in A. Contini, Arte e metafisica in Bergson, in Estetica della biologia. Dalla scuola di Montpellier a Henri Bergson, Mimesis, Mailand 2012, S. 159–180. 27 E. R. Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, Kiepenheuer, Potsdam, 1919, S. 39. Ein Dokument, das die Nähe von Curtius zu Friedrich Gundolf belegt, ist F. Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, hg. von L. Helbing und C. von Bock, Castrum Peregrini, Amsterdam 1963. 28 Das meint Curtius im Vorwort seines Essays Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, a. a. O., besonders S. 31–41. Nach Curtius hat Bergsons Philosophie des Lebens und der Intuition der Literatur von Gide, Rolland, Claudel, Suarès und Péguy den Weg bereitet. Curtius widmet Bergson außerdem den Aufsatz Der Bergsonismus, in ders., Französischer Geist im neuen Europa, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1925, S. 319–326. 29 Das bemerkt z. B. Henri Jourdan, der in den 1930er Jahren für die Maison Française in Berlin verantwortlich und Übersetzer von Curtius ins Französische war, wenn er vor den Missverständnissen warnt, die sich aus der literarischen Rezeption Bergsons ergeben: »Der Erfolg Bergsons hat – am Anfang wenigstens – auf einem Mißverständnis beruht. Seine Hörer und Leser haben von ihm nur behalten, was sie von ihm hören wollten, und klammerten sich an den musikalischen und gewissermaßen

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Bergson seinerseits interessiert sich nicht nur in seinen frühen Werken, sondern auch um 1910 für die Ästhetik, in einem Moment der Unschlüssigkeit, in dem er nicht weiß, ob er sich der Ästhetik oder der Ethik widmen soll. Am 24. Oktober 1909 fragt ihn Benrubi in einer Unterredung, was seine Pläne für das kommende Jahr seien: »Er antwortete, er habe vor, sich völlig dem neuen Werk zu widmen, das in Vorbereitung sei, aber von dem er noch nicht wisse, ob es sich um eine Ästhetik oder um eine Moral oder vielleicht beides zugleich handele«. 30 Im Interview mit Joseph Lotte vom 21. April 1911 scheint Bergson immer noch hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Ausrichtungen: »Die Moral? Ja, das interessiert mich. Offenbar möchte ich dorthin kommen. Ich würde gern etwas machen, was der Praxis dient. […] Die Ästhetik fesselt mich ebenfalls. Ich arbeite viel. Ästhetik, Moral, es muss hier eine Verwandtschaft, es muss hier gemeinsame Punkte geben…« 31 Ein deutliches Zeichen von Bergsons Interesse sowohl für ethische wie für ästhetische Themen in diesen Jahren sind vor allem die Vorträge, die er im Mai 1911 in England hält. In den beiden Oxforder Vorträgen La perception du changement, gehalten am 26. und 27. Mai und nachzulesen in La pensée et le mouvant, handelt Bergson vom Standpunkt des Künstlers und von dessen Nähe zur philosophischen Intuition. Diese unterscheidet sich von der ästhetischen durch die Tatsache, dass sie nicht von der Natur abhängt, sondern vom Willen bestimmt wird, und daher für alle zugänglich ist – und nicht nur für wenige privilegierte Einzelne. Nur zwei Tage später, am 29. Mai, hält Bergson in Birmingham den Vortrag La conscience et la vie, der später in L’énergie spirituelle veröffentlicht wird, wo das Thema Ethik zum ersten Mal explizit auftaucht. Bei diesem Anlass postuliert Bergson die Überlegenheit des ethischen Standpunkts gegenüber dem der philosophischen Intuition, denn in der Verwirklichung des moralischen Lebens (im Ausgang von der Intuition der Dauer) wird die Kreativität des Lebens nicht nur betrachtet, sondern auch fortgeführt – ein Charakterzug, der auch den Mystikern von Les deux sources eignet. Von diesem Augenblick an erkennt Bergson also in der Moral trägen Aspekt der ›durée pure‹. So entstand der Bergsonismus, in vorwiegend literarischen und mondänen Kreisen«; vgl. Henri Jourdan, Französischer Brief, in Erich Rothacker, Probleme der Weltanschauungslehre, Reichl, Darmstadt 1927, Bd. IV, S. 459–493, hier S. 473. 30 I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 32. 31 M, S. 881.

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den Ausdruck des menschlichen Lebens in seiner höchsten Form; nun favorisiert er das Thema Ethik, das er in seinem Werk von 1932 zur vollständigen Durchführung bringt. 32 Ernst Gundolf versäumt es übrigens nicht, in Bergsons Philosophie eine moralische Bedeutung zu erkennen, verfälscht sie aber zum Teil. Er identifiziert das materielle, körperliche und mechanische Prinzip mit einem bösen, gefallenen und feindlichen Zustand des geistigen Prinzips. Wiederholt bezieht sich Gundolf auf das geistige Prinzip und gebraucht dabei den Begriff Seele 33, den er so definiert: »Wir können [das eigentlich schöpferische] seele nennen – er nennt es bewusstsein und dieser name führt auf den ersten ursprung und sinn seiner anschauung«. 34 Die Entscheidung, das französische conscience mit Seele zu übersetzen, geht wahrscheinlich auf den Einfluss des Lebensphilosophen Ludwig Klages zurück, mit dem Ernst Gundolf Anfang des Jahrhunderts in Verbindung steht. 1901 frequentiert er auch die Runde der Kosmiker, einen Kreis von Intellektuellen in München-Schwabing, zu dessen tragenden Säulen Klages neben Karl Wolfskehl und Alfred Schuler zählt. 35 Die Kosmiker teilen mit dem George-Kreis vor allem die Begeisterung für die antiken germanischen und römischen 36 Kulte sowie die Verurteilung des materialistischen Individualismus, eines Die Wegstrecke, die Bergson in den Jahren nach dem Erscheinen von EC bei der Wahl zwischen Ethik und Ästhetik begrifflich zurücklegen sollte, wird rekonstruiert von Brigitte Sitbon-Peillon, »Les Deux Sources de la morale et de la religion« suite de »L’Évolution créatrice«? Genèse d’un choix philosophique: entre morale et esthétique, in F. Worms (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2008, Bd. IV: »L’Évolution créatrice« 1907–2007: Épistémologie et métaphysique, S. 325–338. 33 Der Begriff taucht wiederholt auf in E. Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, a. a. O., S. 34 (seelenleben), 35 (seele, seelisch), 36, 37 und passim. 34 E. Gundolf, a. a. O., S. 80. 35 Für Informationen über die Kosmiker s. G. Mosse, The Crisis of German Ideology, dt. a. a. O., S. 86 f.; von deren Aktivitäten inspiriert ist außerdem der Roman von Franziska von Reventlow, Herrn Dames Aufzeichnungen, oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913), Idel, Oldenburg 2004. 36 Als großer Kenner der Mythen und der antiken Symbolik hatte Schuler sogar versucht, Nietzsches Wahnsinn mit einem antiken römischen Geisterritual zu heilen (G. Mosse, The Crisis of German Ideology, dt. a. a. O., S. 87). In München hielt er Vorträge, an denen Hitler teilgenommen haben soll, über die esoterische Bedeutung des Hakenkreuzes – ein Symbol, das übrigens auf vielen Schriften des George-Kreises erscheint; vgl. Giampiero Moretti, La questione della forma. Note sulla contrapposizione tra Klages e George, in S. George, L’anima e la forma, hg. von G. Moretti, Fazi Editore, Rom 1995, S. 146–147, Fn. 32

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der Symptome der zunehmenden Verstädterung. Dem technizistischen und bürgerlichen Intellektualismus – dem Ausdruck des Geistes –, setzt Klages das spontane und schöpferische Prinzip der Seele 37 entgegen. Auch Gundolf stellt in seinem Artikel über Bergson das Leben der Seele der Mechanik 38 gegenüber und versteht es als eine wirksame und schöpferische Funktion des Geistes. Anscheinend bezieht Gundolf sich auf die Kategorie der Seele im Sinne von Klages auch, um den Rückgriff auf Geist zu vermeiden, dem die Seele ja entgegengesetzt ist. So rechtfertigt Gundolf die Entscheidung für Seele statt für Geist, indem er auf deren wirkendem Charakter insistiert: »Die seele als handelndes wesen wird dabei durch den beseelten körper vertreten, die seele als aufnehmendes wesen durch den geist. Darum heisst das buch mit recht eine untersuchung über die beziehungen von ›körper und geist‹, nicht von ›körper und seele‹«. 39 Um keine Verwechslung des Bergson’schen esprit mit dem Geist zu riskieren, gegen den sich die Lebensphilosophie von Klages richtet, entscheidet Gundolf also, auf den dynamischeren Begriff der Seele zurückzugreifen. So folgt er auch der Opposition von Bergsons Lebensphilosophie nicht nur zum Mechanizismus, sondern auch zur Technisierung und zur kapitalistischen Großstadtkultur – sie war Klages unterscheidet diese beiden Kategorien vor allem in seinem monumentalen Werk Der Geist als Widersacher der Seele (1929), in Sämtliche Werke, Bde. I–II, Bouvier, Bonn 21981. Für eine Beschreibung von Klages’ Lebensphilosophie im Kontext der deutschen Debatte über Leben und Geist in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sei verwiesen auf Edoardo Simonotti, La svolta antropologica: Scheler interprete di Nietzsche, ETS, Pisa 2006, S. 29. 38 »Er begründet so wieder die menschliche freiheit gegenüber der vorstellung dass unser handeln der stofflichen oder einer ähnlichen seelischen mechanik unterworfen ist«, vgl. E. Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, a. a. O., S. 45. Die Mechanisierung der Bewusstseinszustände war das hauptsächliche Ziel von Bergsons Polemik in DI. 39 Ebd., S. 49 f. Auch Cassirer vergleicht Bergson mit Klages in seiner Besprechung von DS im Jahr 1933 – in diesem Fall explizit: »So scheint Bergsons Lehre hier jenem romantischen Typus des Philosophierens anzugehören, wie er in der gegenwärtigen Philosophie vor allem durch Klages repräsentiert wird. Auch er scheint im Geist, im Intellekt vor allem den Widersacher des Lebens und der Seele zu sehen – eine dämonisch-zerstörende Macht, der das Leben in dem Augenblick verfiel, als es sich zur Stufe des Menschen erhob«. E. Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, a. a. O., S. 26. Im Fall Cassirers ist die Annäherung Bergsons an die deutsche Lebensphilosophie Nietzsche’scher Prägung der neukantianischen Lesart zuzuschreiben, wie sie von Heinrich Rickert schematisiert worden war in Lebenswerte und Kulturwerte, »Logos«, II (1911), S. 131–166 sowie ders., Die Philosophie des Lebens, Mohr, Tübingen 1920. 37

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Die ersten Kontakte mit Simmel und mit dem George-Kreis

das Ziel sowohl von Klages’ Polemik als auch der der Mitglieder des George-Kreises, für die Bergson aber in den 1910er Jahren noch nicht empfänglich ist. Bergson erhält von Gundolf den Aufsatz und liest ihn aufmerksam 40; die Aspekte jedoch, die ihn am meisten beeindrucken, sind nicht so sehr mit der Ästhetik verbunden als mit dem Spiritualismus und dem Irrationalismus, die aus Gundolfs Interpretation hervorgehen. Obwohl er erkennt, dass in der Entwicklung von Bergsons Denken von den ersten Werken bis zu L’évolution créatrice den Naturwissenschaften eine immer größere Berechtigung zugestanden und dass der Dualismus zwischen geistigem und materiellem 41 Prinzip immer mehr gemildert wird, so ist bei seiner Lesart eine antimaterialistische Tendenz vorherrschend. Das entgeht Bergson nicht, der einige bedeutsame Passagen des Aufsatzes unterstreicht. Hinter einer Reihe von Fragezeichen am Seitenrand verbirgt sich, wie es scheint, seine ganze Ratlosigkeit angesichts von axiologischen Deutungen des Raums, »wenn darin das räumlich-körperliche fast die rolle eines bösen prinzips, eines gefallenen zustands spielt« 42 oder auch wenn GunEin Exemplar wird in der BLJD aufbewahrt, cote VII-BGN-IV-65, mit einer Widmung an den Autor: »An Henri Bergson in höchster Verehrung, E. Gundolf«. Der Essay von Norton über den George-Kreis weist auch auf den Dankbrief von Bergson hin, der allerdings in C nicht erwähnt wird und dessen Quelle nicht genau angegeben ist: »Even the French philosopher Henri Bergson, by then the most widely read thinker in Europe and a professor at the prestigious Collège de France, took the trouble to communicate his felicitations to Gundolf, saying he was particularly captivated by the idea of dedicating a periodical to the ›spiritual movement‹.« Vgl. Robert Edward Norton, Secret Germany: Stefan George and his circle, Cornell University Press, Ithaca, NY 2002, S. 444. 41 Gundolf behauptet – mit Blick auf EC –, »Bergson strebt zu einer einigung der erst geschiedenen gegensätze wenn er die qualitäten des geistes in denen des stoffes wiederfindet, also auch diesem in schwächerem grade dauer und freiheit zugesteht oder ihn in seiner gesamtheit als ein bewusstsein betrachtet dessen teile sich gegenseitig aufheben, während er wieder in der reihe der lebenden wesen eine stufenleiter seelischer spannung erblickt. Totes und beseeltes bleiben ihm zwar wesentlich verschiedene arten des eins aber wir dürften schliesslich nur verschiedene offenbarung einer wesenheit in ihnen erblicken.« Vgl. E. Gundolf, Die Philosophie Henri Bergsons, a. a. O., S. 60 f. Die Legitimation der Wissenschaft wird unterstrichen auf S. 65: »Für die unbelebte natur erkennt Bergson die wissenschaftliche anschauung grundsätzlich als richtig an« und auf S. 75: »Die wissenschaft erfüllt also ihre aufgabe wenn sie den stoff mathematisch behandelt«. 42 Ebd., S. 35. Bergson unterstreicht außerdem diese Stelle: »der körper ist nur die lezte verwirklichungsstufe der seele, das stoffliche eine schwächere offenbarung des lebendigen«, ebd., S. 46 f. Andernorts wird dieselbe Auffassung mit noch stärkeren 40

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dolf in seinem Denken eine skeptische Tendenz erkennen will: »Seine lehre birgt äusserlich die gefahr eines neuen skeptizismus in sich, weil sie eine unmögliche raumlose anschauung fordert und die wahre erkenntnis zu einer undenkbaren, unsichtbaren, nicht nur unberechenbaren und unnennbaren macht«. 43 In der Tat beruht die von Bergson gegenüber der spiritualistischen Tradition bewerkstelligte Erneuerung genau auf dieser Perspektive.

Ausdrücken wiederholt: »Man versteht aber auch dass dem philosophen das räumliche und anschauliche, das fassliche und mitteilbare zum eigentlich negativen, zum feindlichen prinzip der philosophie wurde«, ebd., S. 81 f. 43 Ebd., S. 91; vgl. auch S. 33, von Bergson unterstrichen: »Bergson […] erkennt keine bleibende wahrheit«.

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2. Simmel und Bergson als Kritiker Kants

Das mangelhafte Einvernehmen zwischen Bergson und Gundolf wird in Berlin von einem viel fruchtbareren, mit Simmel zwischen 1908 und 1914 geführten Dialog wettgemacht, der durch einen Austausch von Büchern und Briefen dokumentiert ist. 1 Leider sollte der Briefwechsel nach dem Tod Simmels fast vollständig verloren gehen. Bereits in den 1920er Jahren wird Gertrud Kantorowicz ein Teil der unedierten Manuskripte während einer Zugfahrt (auf dem Weg zum Verleger) gestohlen; und während des Zweiten Weltkriegs verschwinden auch noch das Tagebuch, die empfangenen Briefe, die Erstausgaben und die Manuskripte seiner Werke – sie waren in Kisten verpackt, die möglicherweise in die Vereinigten Staaten geschickt wurden und während des Transports verloren gingen, oder vielleicht auch in einem Hamburger Lagerhaus 1941 den Bomben zum Opfer fielen. Hans, der Sohn von Georg Simmel, verliert ihre Spur, nachdem er 1939 ins Konzentrationslager Dachau deportiert wird. 2 Trotz dieses riesigen Verlusts ist es doch möglich, einige der Themen nachHans Simmel schreibt in seinen Lebenserinnerungen: »Der andere große Franzose, den mein Vater freilich nie in Paris gesehen hat, mit dem er aber lebhaft korrespondierte, war Henri Bergson. Mein Vater hielt ihn für den größten lebenden Philosophen und war sehr bemüht, ihn in Deutschland bekannt zu machen. Das früheste Werk Bergsons, ›Matière et mémoire‹, war zunächst in einer so unglaublich schlechten Übersetzung erschienen, daß es überhaupt nicht verstanden werden konnte […]. Die sehr schwierige ›Évolution créatrice‹ wurde unter Mitarbeit meines Vaters […] von Gertrud Kantorowicz übersetzt […]. ›Daß Bergson mehr kann wie ich, darüber freue ich mich, aber daß ich weniger kann als er, das ist doch schmerzlich‹, hat er einmal ausgesprochen. Begegnet sind die beiden sich nur einmal, etwa zwei Jahre vor dem Kriege, in Florenz. Aber sie sind nicht recht in Kontakt gekommen«, vgl. H. Simmel, Lebenserinnerungen, in Hannes Böhringer – Karlfried Gründer (Hg.), Georg Simmel, Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende, Frankfurt am Main, 1976, S. 263; zit. nach R. W. Meyer, Bergson in Deutschland, a. a. O., S. 13, Fn.–14, Fn. 2 Die Geschichte von Simmels Nachlass wird rekonstruiert von Rüdiger Kramme, Wo ist der Nachlaß von Georg Simmel?, »Simmel Newsletter«, II (1992), 1, S. 71–76. 1

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zuzeichnen, auf die sich der geistige Austausch zwischen den beiden Philosophen konzentriert – und zwar durch die Analyse der spärlichen Archivquellen, die übriggeblieben sind, einiger editorischer Angelegenheiten sowie außerdem durch die Vermittlung französischer Dolmetscher, die in den Zwischenkriegsjahren dazu beitragen, das Denken Simmels in Frankreich zu verbreiten, wie der junge Vladimir Jankélévitch. Simmels Aufmerksamkeit für das Werk Bergsons entsteht aus dem gemeinsamen Interesse für die Frage der Erkenntnis und aus dem Versuch, einige kantische Positionen zu überwinden. Die Philosophien beider plädieren nämlich für eine Überwindung des Intellektualismus, die in einer Neubewertung des Verhältnisses zwischen dem Leben und den Kategorien des Intellekts gründet. Simmel selbst bestätigt die Gründe für sein Interesse in einem Brief an Keyserling vom 31. Oktober 1908: Auf Bergson bin ich von vielen seiten her aufmerksam gemacht worden. seine tournure d’esprit soll, wie man mir sagt, mit der meinigen verwandt sein. dies ist nun nicht gerade eine attraktion für mich, da ich mit dem täglich 24stündigen ichselbstsein gerade genug von mir habe. allein abgesehen davon scheint Bergson wirklich etwas eminentes zu sein, und ich werde versuchen, ihn mir zuzuführen, umsomehr als ich jetzt wieder in erkenntnistheoretisch-metaphysischen fragen stecke – freilich wieder mit dem gefühl, daß wir uns in der ganzen auf den kantischen voraussetzungen stehenden erkenntnistheorie herumdrehen, wie das eichhörnchen im rade. was hat dieser mann der welt angetan, daß er sie für eine vorstellung erklärte! wann wird einmal der genius kommen, der uns vom bann des subjekts so befreit wie uns kant von dem des objekts befreit hat? und was wird das dritte sein? 3

Dem Brief an Keyserling folgt sehr bald eine persönliche Kontaktaufnahme mit Bergson, der sich nur gut einen Monat später, am 8. Dezember 1908, mit einem Brief für die Übersendung der Abhandlung über die Geschichtsphilosophie bedankt: Gerade erst habe ich mit der Lektüre der »Probleme der Geschichtsphilosophie« begonnen: sie interessieren mich lebhaft, sowohl wegen der Genialität ihrer Aperçus, als auch wegen der Originalität der Leitidee, die von höchster Bedeutsamkeit ist. Obwohl unsere Forschungen verschiedene Gegenstände betreffen, glaube ich zwischen ihnen, worauf Sie zu Recht hin3 G. Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von M. Landmann, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 239; Hinweis bei G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 212, Fn.

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weisen, eine gewisse Verwandtschaft zu bemerken. Einer der Gründe für diese Verwandtschaft muss sein, dass wir uns darüber einig sind, in der Tatsache das zu unterscheiden, was direkt von der Erfahrung dargeboten wird, und das, was der Geist hinzufügt im Hinblick auf die Erfordernisse der Praxis. Für mein Teil habe ich großes Vertrauen in die unbearbeitete, unmittelbare Erfahrung – befreit von dem Rahmen, dem wir sie, von der Handlung genötigt, anpassen müssen. 4

Bergson bezieht sich auf Die Probleme der Geschichtsphilosophie 5, ein Werk aus dem Jahr 1892, das Simmel in den Fassungen von 1905 und 1907 aktualisiert, wobei er die Frage der Erkenntnistheorie der Geschichte in Begriffen a priori ausarbeitet und den psychologischen Akzent ablegt, der noch von der positivistischen Tradition herrührte, die für die erste Auflage kennzeichnend gewesen war. 6 Die wichtigsten Aktualisierungen betreffen die Ausgabe von 1905, deren endgültige Konzeption in dieselbe Zeit fällt, in der Simmel an der UniverC, S. 233 f. G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie; eine erkenntnistheoretische Studie, Duncker & Humblot, Leipzig 31907. Die Art und Weise, in der Bergson einige Ideen von Simmels Geschichtsphilosophie in DS aufnimmt, ist vor allem wegen der Ablehnung des »Sinns« der Geschichte und der Notwendigkeit der historischen Gesetze interessant, die in Simmels Abhandlung als Frucht des Größenwahns des Intellekts betrachtet werden. Genau dieser Aspekt von Simmels Philosophie wird 1908 in einem Artikel von Benrubi herausgestellt, vgl. J. Benrubi, Le mouvement philosophique contemporain en Allemagne, »Revue de métaphysique et de morale«, XVI (1908), 5, S. 547–582, über Simmel besonders S. 573: »Der individuelle Fall in Raum und Zeit, der den Inhalt der Geschichte darstellt, ist für die Wissenschaft von den Gesetzen völlig gleichgültig. Die Vorstellung eines historischen Gesetzes widerspricht sich daher selbst. Das Bestreben, in der Geschichte Gesetze zu finden, ist in der Tat eine Illusion, denn die Gesetze, die die Geschichte bestimmen, sind keine besonderen Gesetze, wie ein bestimmtes Segment des Weltkreises. Aber sie haben ihre Berechtigung als vorläufige Orientierung über die Kontingenz der geschichtlichen Phänomene und als eine Phase, die der Erkenntnis der wahrhaft wirksamen Gesetze vorausgeht«. Ein Artikel von Simmel über die Geschichtsphilosophie wurde ferner in die SimmelAnthologie von 1912 aufgenommen Mélanges de philosophie relativiste, vgl. G. Simmel, Quelques considérations sur la philosophie de l’histoire (1909), in Gesamtausgabe, Bd. XIX, a. a. O., S. 129–136. 6 Über die Entwicklung Simmels seit den frühen Jahren, die vom Interesse für den Psychologismus geprägt sind, bis zu den Jahren der Reife, sei verwiesen auf die Rekonstruktion von V. D’Anna, Georg Simmel. Dalla filosofia del denaro alla filosofia della vita, De Donato, Bari 1982, zur Erkenntnistheorie der Geschichte besonders S. 42–53, 102–114 und 127–136. S. außerdem die Einführung von D’Anna zur italienischen Ausgabe der Probleme der Geschichtsphilosophie, vgl. G. Simmel, I problemi della filosofia della storia, it. Übers. von V. D’Anna, Marietti, Casale Monferrato 1982, S. IX–XXXVI. 4 5

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sität die 16 Vorlesungen über Kant hält, die 1904 veröffentlicht werden und die der Autor wahrscheinlich kurz nach dem Herbst 1908 an Bergson schickt. Der Text Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität 7 ist die einzige Schrift Simmels in Bergsons eigener Bibliothek und seine Lesespuren (außer den beiden oben zitierten Briefen) geben zu verstehen, dass der erste intellektuelle Austausch zwischen den beiden tatsächlich vom gemeinsamen Bemühen motiviert ist, den Kantianismus sowohl auf erkenntnistheoretischer wie auf metaphysischer Ebene zu überwinden. Simmel tritt in der Abhandlung über die Geschichtsphilosophie und ebenso in den Berliner Vorlesungen dafür ein. Was die Probleme der Philosophie der Geschichte angeht, so wehrt sich Simmel gegen die klare Unterscheidung zwischen den Sphären des Apriori und der Erfahrung, indem er versucht, die Epistemologie der Geschichte nach ästhetischem Vorbild neu zu formulieren – was der Weltsicht Goethes nicht fremd ist, die Simmel 1906 derjenigen Kants in seinem Essay Kant und Goethe 8 gegenüberstellt – also fast gleichzeitig mit den Neubearbeitungen des Werks über die Geschichte von 1905 und mit den Vorlesungen über Kant. In den Letzteren, die im Wintersemester 1902/3 an der Universität Berlin gehalten und 1904 veröffentlicht werden, analysiert Simmel die kritische Begründung des Denkens, die für den Kantianismus typisch ist, im Licht einer Theorie des ästhetisch-metaphysischen Gefühls. Dabei bringt er auf der historisch-philosophischen Ebene noch einmal die Gegenüberstellung von Intellekt und Wert-Erlebnis ins Spiel, die die Achse der Philosophie des Geldes 9 bildet. Die kantische Philosophie wird nämlich im Licht der Überlegungen zur Moderne und ihrer spezifischen Form der Intellektualität untersucht. Kant hat auf dem Feld der Philosophie geleistet, was das Geld auf dem Feld der Wirtschaft geleistet hat. Die Geldwirtschaft ist für Simmel in der Tat das greifbarste Zeichen für den Werkzeug7 G. Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität (1904), Duncker & Humblot, Leipzig 21905. Das von Simmel an Bergson übersandte Exemplar mit handschriftlicher Widmung wird aufbewahrt in der BJLD, cote BGN 356/II-BGN-III-15. 8 G. Simmel, Kant und Goethe (1906/31916), in Gesamtausgabe, Bd. X, hg. von Michael Behr, Volkhard Krech und Gert Schmidt, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995, S. 119–166. 9 G. Simmel, Philosophie des Geldes (1901/21907), in Gesamtausgabe, Bd. VI, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989.

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charakter des Intellekts, seine am meisten verdinglichte Form. Intellekt und Geld tragen dazu bei, ein »drittes Reich« zwischen der psychologischen Subjektivität und der naturalistischen Objektivität zu schaffen, in dem der zivilisierte Mensch seine eigene Tätigkeit indirekt ausübt. Das Geld tritt im Konflikt zwischen objektiver Kultur – die in der Moderne hochentwickelt ist – und subjektiver Kultur – die inzwischen unfähig ist, sich die verdinglichten kulturellen Inhalte wieder anzueignen – als Vermittler auf. Wenn das Geld auf sozialer Ebene es dem Individuum ermöglicht, die Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Sphären reibungslos zu pflegen, so erscheint der Konflikt indes noch nicht vermittelt auf der Ebene der inneren und persönlichen Erfahrung, wo es unmöglich ist, den Abstand »zwischen Natur und Geist, Mechanismus und innerem Sinne, wissenschaftlicher Objektivität und der gefühlten Wertbedeutung des Lebens und der Dinge« 10 auszugleichen. Der Dualismus zwischen dem subjektiven und dem objektiven Pol wurde von Kant im subjektivistischen Sinn überwunden, mit der Bestätigung der Autorität des Ich und der Beziehung der Naturgesetze auf den Intellekt. So geriet Kant schließlich in die Position eines »logischen Fanatismus« 11 – Vorspiel der Geldwirtschaft, wo das einzigartige Element der Persönlichkeit nicht vorgesehen ist. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die Philosophie Kants die typischste Form der Herrschaft der logischen und unpersönlichen Intellektualität über die Vitalsphäre des Subjekts dar sowie über dessen qualitativen und nicht rationalen Restbestand, das Erlebnis. Im Ausgang von diesen Voraussetzungen erkennt Simmel, dass Bergson sein philosophisches Bemühen teilt: Es geht um die Ausarbeitung von theoretischen Mitteln, um Kants einseitige Lehre der Erfahrung zu überwinden. Wie die Übersendung seines Werks über die Geschichtsphilosophie und der Kant-Vorlesungen an Bergson zeigt, betrifft die Korrespondenz der beiden Philosophen zunächst die Transzendental- und die kritische Philosophie. Im Ausgang von einigen Spuren, die von den Philosophiehistorikern noch nicht beachtet wurden, lässt sich der Inhalt ihres verloren gegangenen brieflichen Dialogs rekonstruieren. Er handelt anschei-

G. Simmel, Kant und Goethe, in Gesamtausgabe, Bd. X, a. a. O., S. 123. V. D’Anna, Il denaro e il Terzo Regno. Dualismo e unità della vita nella filosofia di Georg Simmel, Clueb, Bologna 1996, S. 88.

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nend wirklich von der Überwindung des Intellektualismus und der Verfassung des Lebens. Das Exemplar von Simmels Kant-Vorlesungen, das sich in Bergsons Besitz befand, ist nämlich an verschiedenen Teilen 12 unterstrichen; in genauer Entsprechung zu zwei von Bergson unterstrichenen Stellen fügt Simmel in die dritte Auflage von 1913 und in die vierte Auflage von 1918 13 einige neue Absätze ein, in denen Positionen Bergsons anklingen. Man darf also annehmen, dass sich die verlorenen Briefe genau um diese kritischen Stellen drehen und dass die Ergänzungen Simmels von Bergsons Beobachtungen angeregt wurden. Wie Simmel im Vorwort zur dritten Auflage selbst erklärt, betreffen die Überarbeitungen vor allem die Überwindung des Psychologismus und die Aufwertung des Lebens als zentrales metaphysisches Bild: Die hauptsächlichen Erweiterungen dieser Neuauflage gehen, in dem erkenntnistheoretischen Teil, auf die schärfere Abgrenzung der Position Kants gegen allen Psychologismus; in dem moralphilosophischen darauf, seine ethische Wertlehre, wie auch die Bedenken gegen sie, tiefer in den Schichten des metaphysischen Lebensbildes zu verankern. 14

Es sind also zwei Ergänzungen, die Simmel in Entsprechung zu Bergsons Unterstreichungen eingefügt hat. Die erste betrifft tatsächlich die Theorie der Erkenntnis und hebt deren Eigenheit hervor, durch unser Bewusstsein gebrochen zu sein – entgegen der angeblichen Absolutheit des Apriori. So wird Kants Anspruch auf die objektive Gültigkeit der Naturgesetze relativiert, die indes von den Kategorien des Intellekts deformiert sind. Bergson unterstreicht die folgende Stelle: Ich sehe keine ganz befriedigende Lösung dieser Schwierigkeit, der Kant selbst freilich entgeht, weil er ein Kriterium für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Formen der Erkenntnis zu besitzen glaubt: die systematische Abrundung. Er findet auf Wegen, die an vielen Stellen wunderlich und abs-

Die unterstrichenen Stellen führt, sorgfältig kommentiert, G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 234–237 an. 13 Die erste Auflage von Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität datiert von 1904. Bergson besitzt die unveränderte zweite Auflage der Berliner Vorlesungen von 1905, die 1913 eine erweiterte Auflage erfahren. Die vierte Auflage von 1918 wird noch einmal erweitert. Posthume, unveränderte Nachdrucke erfolgen 1921 und 1924. 14 G. Simmel, Kant, a. a. O., 31913, S. IV; in der Gesamtausgabe nicht enthalten. 12

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trus, an wenigen überzeugend sind, daß jene Normen, die die Erfahrung bilden, den Urteilsformen der Logik entsprechen, und konstruiert diesen analog 12 apriorische Begriffe, denen dann wieder die Grundsätze des Verstandes entsprechen. 15

In der dritten Auflage von 1913 geht dem Passus eine Erweiterung von etwa drei Seiten voraus; die Auflage von 1918 wird noch einmal erweitert. 16 In der Ergänzung von 1913 klärt Simmel die Widersprüchlichkeit des kantischen Apriori, indem er es von den angeborenen Ideen unterscheidet: Im Gegensatz zu diesen, die gültig sind als logische Grundprinzipien, die der Natur der Seele eignen, wird das Apriori bestimmt im Ausgang von der induktiven Beobachtung von Erkenntnisakten, ist also anfällig für Irrtümer und Unvollständigkeiten, die die Allgemeingültigkeit und die Notwendigkeit, die ihm zukommen müssten, kompromittieren. Kant wird also vorgeworfen, er vernachlässige den aktiven Erkenntnisprozess, dessen psychische und dynamische Genese: »Der zeitliche Vorgang indes, so oder anders verlaufend, in dem die Erkenntnis psychologisch entsteht, ist gar nicht Kants Problem; dieses ist vielmehr die innere Struktur der sachlichen, definitiven Erkenntnis«. 17 Was dem kantischen Apriori also fehlt, ist das Werden, die zeitliche Dimension der Dauer, auf der hingegen die Erkenntnistheorie Bergsons beruht. In der Ausgabe von 1918 fügt Simmel einige weitere Erläuterungen hinzu, in denen er den Perspektivenwechsel der zeitgenössischen Philosophie gegenüber Kant hervorhebt – in einem Ton, der dem von Bergson noch näher und typisch für Simmels reife Phase der Lebensphilosophie ist. Simmel legt nämlich den Akzent auf die Verbindung der Erkenntnis mit dem Leben: Die Philosophen seiner Zeit haben bescheidenere Ansprüche als Kant, denn sie haben inzwischen auf das Ideal der universalen und ein für allemal gültigen Erkenntnis verzichtet. Stattdessen betrachten sie die Entwicklung der Erkenntnisse lieber dynamisch, nicht einfach nach der allzu menschlichen Teleologie des Fortschritts, sondern »nach der noch geheimnisvollen Rhythmik des Organischen […]: die Entwicklung, deren Begriff wir für das Leben gelten lassen müssen, ist eine aus innerem Trieb heraus wachsende, nicht, wie bei praktischen oder singulären, sachbestimmten Entwicklungsreihen, von einem G. Simmel, Kant, a. a. O., 21905, S. 21. G. Simmel, Kant, a. a. O., 31913, S. 23–25 für die Ergänzung von 1913; für die von 1918 vgl. Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 36–42. 17 G. Simmel, Kant, a. a. O., 31913, S. 23; in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 36. 15 16

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vorgeschauten Endwerte gelenkte«. 18 Diese Worte, die diejenigen der Einleitung zu L’évolution créatrice anklingen lassen, nehmen ausdrücklich Bezug auf jenen Philosophen, der mehr als jeder andere für Simmel die Antithese zur kantischen Position darstellt, nämlich Goethe: »Im Fundament des Apriori […] lauert ein geheimer Skeptizismus gegen das Leben. Darum konnte Goethe, mit seinem unbedingten Zutrauen zum Leben, nichts mit dem Apriori anfangen«. 19 Das Apriori stellt somit für Simmel zwei sich widersprechende Sichtweisen auf das Leben dar: es ist von jeder vitalen Bewegung losgelöst, was seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit anlangt, aber gleichzeitig braucht es, um zu existieren, die Dynamik des Lebens. 20 Man bemerkt eine große Übereinstimmung zwischen diesen von Simmel in seinen Vorlesungen angefügten Ergänzungen und den Eingangsseiten von L’évolution créatrice. Es soll genügen, an eine der berühmtesten Stellen der Einführung zu erinnern, wo Bergson, sich implizit auf die kantische Lehre beziehend, behauptet: Damit ist gesagt, daß Erkenntnistheorie und Lebenstheorie etwas Unabtrennbares sind. Eine von keiner Erkenntnistheorie begleitete Lebenstheorie ist genötigt, die ihr vom Verstand zur Verfügung gestellten Begriffe fertig hinzunehmen: wohl oder übel muß sie die Tatsachen in schon vorhandene Rahmen sperren, die sie für endgültige hält; wodurch sie zu einem bequemen, einem der positiven Wissenschaft vielleicht sogar notwendigen Symbolismus gelangt, nicht aber zur unmittelbaren Anschauung ihres Gegenstandes. 21

Wenn die Intelligenz nicht im Zusammenhang ihrer Entstehung aus dem Leben betrachtet würde, wäre man geneigt, die Kategorien des Intellekts wie Kant für endgültig zu halten und sie mit allgemeinen und notwendigen Bedingungen a priori der Erkenntnis zu verwechseln. Die »Ursünde« Kants besteht für Bergson darin, dass er den G. Simmel, Kant (41918), in Gesamtausgabe, Bd. IX, hg. von Guy Oackes und Kurt Röttgers, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 39. 19 Ebd. 20 Vgl. ebd., S. 39 f. 21 EC, S. IX; dt. S. 5. Bergson setzt sich mit der Lehre Kants vom Standpunkt der Lebensphilosophie auch in EC, S. 200, 205–207 und 355–358; dt. S. 203 f., 205–211 und 358–366 auseinander. Für ein Gesamtbild von Bergsons Interpretation der kantischen Erkenntnistheorie s. Madeleine Barthélemy-Madaule, Bergson, adversaire de Kant, PUF, Paris 1966, S. 61–111. Eine Lesart, die hingegen die Aspekte des Kantianismus betont, die Bergson beibehält und vollendet, sodass er also nie »Gegner« Kants gewesen wäre, bringt Camille Riquier, »La relève intuitive de la métaphysique«, in ders. – Frédéric Worms (Hg.), Lire Bergson, PUF, Paris 2011, S. 35–59. 18

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Kontakt mit der Erfahrung verloren und sie auf ihre räumliche und quantitative Bedeutung reduziert hat – kurz, dass er unsere Erkenntnis entsprechend den von den Naturwissenschaften aufgestellten Kriterien verflacht hat. Sowohl für Simmel wie für Bergson lässt sich der Reichtum der Erfahrung jedoch nicht auf die Kategorien reduzieren, die für die Naturwissenschaften gültig sind: Sie versuchen vielmehr, die Ganzheitlichkeit und die Heterogenität zu retten, die der unmittelbaren Erfahrung eignen. Bergson unterstreicht andere Stellen, die sich auf die Abstraktheit von Kants Apriori beziehen und auf seinen Konflikt mit der Veränderlichkeit und dem psychologischen Reichtum der konkreten Erfahrung. 22 Insbesondere ist er mit Simmel einer Meinung, was die Kritik von Kants Raum angeht, der als Form der Sinnlichkeit a priori bestimmt wird, unabhängig von den Inhalten der konkreten Empfindungen: Was diese Lehre so sehr verdunkelt und ihr richtiges Verständnis hintanhält, ist die Doppeldeutigkeit des Wortes Raum bei Kant. Er bezeichnet damit einmal das bisher hier gemeinte: die Räumlichkeit der Dinge, die Form konkreter Empfindungen, die sie zu Gegenständen der Erfahrung macht. Andrerseits aber auch, dem Sprachgebrauch folgend, jenes ungeheure leere Gefäß, das unabhängig von allen einzelnen Dingen zu existieren und in dem diese zu stehen scheinen. Allein dieser unendliche leere Raum ist eine bloße Abstraktion! 23

Dieselbe logizistische Reduktion erfasst nach Simmel auch die Sphäre der Ethik. Der kantische kategorische Imperativ erlaubt es ja, den Willen auf rein formale Weise, unabhängig von allen Tatsachen, zu bestimmen – denn er gilt a priori für jede Situation. Die kantische »Dies ist durchaus richtig, aber es führt, wie mir scheint, zu einem verderblichen Zirkel. Jene Normen beherrschen nur die gültige Erfahrung. Aber woher wissen wir denn, was gültige Erfahrung ist, außer dadurch, daß wir diese Normen in ihr geltend finden?« G. Simmel, Kant, a. a. O., 21905, S. 26; leicht modifiziert in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 46. 23 G. Simmel, Kant, a. a. O., 21905, S. 54; in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 80. Kurz danach unterstreicht Bergson eine andere Stelle, die Kants Theorie des Raumes betrifft: »Deshalb ist die gewöhnliche Formulierung dieser Lehre: der Raum ist ›in‹ uns, leicht mißzudeuten, indem sie verführt, das ›in‹ räumlich zu verstehen[, als wäre jenes Ich nun selbst ein Raum, in dem etwas sein könnte (Ergänzung von 1918, Anm. d. Red.)]. Das ›in‹ ist vielmehr nur so gemeint, wie man von dem Sinn ›in‹ einem Satze spricht, wobei der Satz seinen Sinn doch nicht räumlich umfaßt, sondern dessen funktioneller Träger ist«. G. Simmel, Kant, a. a. O., 21905, S. 56; in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 82. 22

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Moral beruht also auf einem Intellektualismus, der demjenigen ähnelt, der seine Erkenntnistheorie charakterisiert: Kurz, genau wie im rein theoretischen Falle hat die innere Widerspruchslosigkeit des Gesetzes, zu dem ich mein individuelles Handeln erhebe, nur dann eine Bedeutung, wenn ich bereits einen Begriff, einen Zustand oder Geschehen, als sittlich gültig, als sein sollend vorausgesetzt habe. Ist dies nicht der Fall, so mag ich tun, was ich will, es entsteht kein Widerspruch, weil nichts da ist, dem widersprochen werden könnte. Statt als eine selbständige Forderung des Sittlichen enthüllt sich also die Kantische Formel als bloßes Mittel für die Klärung und Auseinanderlegung von anderweitig – durch sittlichen Instinkt oder sonst – schon anerkannt sittlichen Werten. 24

Die von Kant herbeigeführte »Logisierung des Ethischen« läuft auf eine Form von intellektualistischem Radikalismus hinaus, der die Verwurzelung der Ethik in der Totalität des individuellen Lebens preisgibt. Kant reduziert nämlich den Wert nur auf den Bereich der Moral und schließt z. B. die Schönheit, das Glück und den Intellekt davon aus. Bergson unterstreicht eine längere Passage, in der Simmel diesen reduktionistischen Aspekt von Kants praktischer Philosophie hervorhebt. Es genügt, hier nur die besonders prägnante Schlusspartie zu zitieren: Es wird für alle Zeiten merkwürdig bleiben, daß ein eigentlich philiströses Lebensgefühl – wie es sich in der moralistischen Verengerung der ganzen idealen Sphäre ausspricht – durch den Mut konsequenter Vertiefung zu dem Gegenteil alles Philisteriums geworden ist: zu der Preisgabe aller Reserven und der freiwilligen Gefahr der absoluten Selbstverantwortlichkeit. Unleugbar aber bekommt das Leben durch diese Konzentrierung aller seiner Bedeutsamkeiten auf den äußersten Freiheitspunkt der Willensgesinnung etwas Formloses, es fehlt ihm der Reichtum differenzierter Entfaltung, zu der es eines Eigenwertes und -rechtes aller seiner Inhalte bedarf. 25

In Entsprechung zu dieser Passage nimmt Simmel die zweite Ergänzung vor, die aufgrund des Dialogs mit Bergson konzipiert worden sein könnte. In der Auflage von 1913 sind nämlich einige Bemerkungen eingefügt, die die Kritik an der Vernunftmoral stärken sollen, die inzwischen um die Überlegungen des Essays Das individuelle GeG. Simmel, Kant, a. a. O., 21905, S. 102; in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 135. G. Simmel, Kant, a. a. O., 21905, S. 102; in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 151. Die Paginierung der Gesamtausgabe ist anders wegen der Ergänzung in der betreffenden Ausgabe von 1913. 24 25

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Simmel und Bergson als Kritiker Kants

setz 26 aus demselben Jahr bereichert ist. Hier findet Simmel Gelegenheit, die abstrakte und normative Formulierung Kants mit der Theorie des individuellen Gesetzes zu überwinden, die in der Lage ist, die vielfältigen Dimensionen des individuellen Lebens zu integrieren, ohne doch in Subjektivismus oder Relativismus zu verfallen. Im Gegensatz zum allgemeinen berücksichtigt das individuelle Gesetz die Verbindung der Moral mit ihrer vitalen Genese und begreift alle Aspekte des individuellen Lebens ein, sogar die, die sich der Allgemeinheit des Begriffs entziehen. So möchte es eine größere Objektivität erreichen als diejenige der kantischen Vernunftmoral. Dem Ende der zehnten Kant-Vorlesung fügt Simmel 1913 nun den folgenden Passus hinzu: So scheint schon alle höchste geistige Produktivität den Moralismus zu widerlegen. Sie geschieht nie aus Pflicht oder aus Menschenliebe, sondern einerseits aus der naturhaften Schaffensnotwendigkeit des Subjekts, andrerseits aus dem rein objektiven Interesse heraus – Motivierungen, die mit der »Achtung vor dem moralischen Gesetz« als »Triebfeder« genau so wenig zu tun haben, wie sie in das eudämonistische Interesse hineinzuschieben sind. Soll darum der Wert des Schöpfertums – und zwar als solchen, keineswegs nur als einer Rückstrahlung von seinen Ergebnissen – geleugnet werden? Dies Beispiel soll nur darauf hindeuten, daß der Moralismus zwar das Leben, so weit es auf die ethische Ebene projizierbar ist, zu einem Maximum von Vertiefung und Größe bringt, daß aber Wertgebiete neben ihm und in ihn nicht einbeziehbar bestehen, die er schlechthin verkümmern läßt. 27

Der Hinweis auf die »naturhafte Schaffensnotwendigkeit des Subjekts« und auf den objektiven Charakter der Moral legt den Gedanken nahe, dass mit Bergson auch ein Austausch über die Moral stattgefunden hat, die er bereits 1911 mit seinem Vortrag La conscience et la vie thematisiert, wobei er die Kreativität des Lebens in den Mittelpunkt stellt: »Nur beim Menschen, zumal bei den besten unter uns, verfolgt der Lebensschwung seine Bahn ohne Hindernis, indem 26 Der Essay Das individuelle Gesetz erscheint zuerst in der Zeitschrift »Logos«, IV (1913) und bildet dann das vierte Kapitel von Lebensanschauung, in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XVI, S. 346–425. 27 G. Simmel, Kant, a. a. O., 31913, S. 201; in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 151 f., Kursivierung von der Verf. – Wie bereits Fitzi bemerkte, unterstreicht Bergson auch den Anfang der elften und der vierzehnten Vorlesung, vgl. G. Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen, a. a. O., 21905, S. 114 und 145; in Gesamtausgabe, Bd. IX, a. a. O., S. 153 und 188. Hier findet sich das Thema des Abstands zwischen empirischer Erkennbarkeit und kantischem kategorischem Imperativ.

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er durch das Kunstwerk des menschlichen Körpers, das er so nebenher geschaffen hat, den unendlich schöpferischen Strom des sittlichen Lebens treibt.« 28 Die Anerkennung der Verbindung der Moral mit dem Leben in Les deux sources sollte dann die Grundlage bilden für die Kritik sowohl der intellektualistischen Moral Kants als auch des Durkheim’schen Versuchs, den kategorischen Imperativ soziologisch zu erklären: Der Anspruch, die Moral auf den Respekt vor der Logik zu gründen, konnte bei Philosophen und Gelehrten entstehen, die gewöhnt sind, sich auf dem Gebiete der Spekulation vor der Logik zu verbeugen und dadurch geneigt sind zu glauben, für jedes Gebiet und für die ganze Menschheit zwinge die Logik sich mit souveräner Autorität auf. Aber aus dem Faktum, daß die Wissenschaft die Logik der Dinge und die Logik im allgemeinen respektieren muß, wenn ihre Forschungen gelingen sollen, oder daraus, daß dies das Interesse des Gelehrten als Gelehrter ist, kann man nicht schließen, daß wir verpflichtet seien, in unserm Verhalten immer die Logik zu wahren, als ob das im Interesse der Menschen im allgemeinen, oder sogar des Gelehrten als Menschen läge. Unsre Bewunderung für die spekulative Funktion des Geistes mag groß sein; aber wenn Philosophen vorbringen, sie würde genügen, um Egoismus und Leidenschaft zum Schweigen zu bringen, so zeigen sie uns – und wir müssen sie dazu beglückwünschen – daß weder des einen noch der andern Stimme jemals sehr stark in ihrer Brust erklungen ist. Soviel über die Ethik, die sich auf die Vernunft, als reine Form ohne Stoff betrachtet, berufen möchte. 29

Bergson bringt also nicht-rationale Aspekte der Persönlichkeit – wie den Egoismus und die Leidenschaft – ins Spiel, um das Ungenügen einer rein intellektuellen Moral deutlich werden zu lassen. Wie Simmel, so wird auch der Bergson von Les deux sources für die Notwendigkeit eintreten, die Moral im ganzen Spektrum des individuellen Lebens zu verankern und nicht lediglich in dessen logischer und spekulativer Natur.

28 29

La conscience et la vie (1911), in ES, S. 25; dt. S. 23. DS, S. 88; dt. S. 83 f.

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3. Der tragische Konflikt zwischen Leben und Form

Das gegenseitige Interesse, das Simmel und Bergson füreinander hegen, bleibt Anfang der 1910er Jahre lebhaft, als Simmel einen Teil seiner Vorlesung im Wintersemester 1910/11 1 Bergson widmet. Ein im Januar 1912 in Wien gehaltener Vortrag über Bergson (in einer Reihe über Schopenhauer und Nietzsche) fällt zusammen mit der Aufnahme Bergsons ins Programm der Vorlesung über Philosophiegeschichte, die Simmel wieder im Wintersemester 1911/12 2 und 1912/13 an der Berliner Universität hält. Diese wird von Benrubi besucht, der Bergson in einem Gespräch am 22. März 1913 darüber berichtet: Ich habe die Aufmerksamkeit Bergsons auf zwei Einwände gelenkt, die der deutsche Philosoph Georg Simmel in einer Vorlesung machte, die er über ihn an der Universität Berlin hielt, und bei der ich während meines Aufenthalts in dieser Stadt anwesend war, nämlich: 1. dass die Trennung von Intuition und Intelligenz unhaltbar ist; 2. dass es in seiner Philosophie überhaupt keinen Platz für das Zeitlose gibt. »Diese Trennung ist für mich nur eine Unterscheidung. Die Tatsache, dass Wasserstoff und Sauerstoff zusamVgl. den Brief an Diederichs vom 25. März 1911: »Ich habe im Wintersemester zum ersten Male ein paar Stunden über B[ergson] gesprochen: offenbar hat es die Studenten sehr lebhaft interessiert«, vgl. E. Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, a. a. O., S. 197. Wenige Wochen vorher, am 19. Februar, bekundet Simmel Husserl sein Interesse für die Erkenntnistheorie von MM: »Ich habe mich in der letzten Zeit ziemlich viel mit Bergson beschäftigt und muß doch sagen, daß mir seine erkenntnistheoretischen Konzeptionen besonders in Matière et Mémoire – außerordentlich imponieren«, vgl. Kurt Gassen (Hg.), Buch des Dankes an Georg Simmel, Duncker & Humblot, Berlin 1958, S. 87. 2 Die Nachricht von den Vorträgen, die im Urania-Theater in Wien vom 3. bis 5. Januar 1912 gehalten werden, findet sich in G. Simmel, Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XXII, S. 1022 und Bd. XXIV, S. 630. Bergson ist der dritte Autor, der, nach Nietzsche und Schopenhauer, in der Reihe Die Philosophie des Lebens behandelt wird. Die Vorlesung Die Haupterscheinungen der Philosophie des letzten Jahrhunderts (von Fichte bis Nietzsche und Bergson), die im WS 1911/12 gehalten wird, ist dokumentiert in G. Simmel, Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XXIV, S. 620. 1

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men Wasser ergeben, hindert uns nicht daran, diese beiden Elemente voneinander zu unterscheiden. So ist die Intuition in jeder wahrhaft produktiven wissenschaftlichen Untersuchung am Werk. Was das Zeitlose angeht, so darf man nicht vergessen, dass in meiner Philosophie die Ewigkeit an der Dauer teilhat.« Bei dieser Gelegenheit wies ich darauf hin, dass das Wort »durée« im Deutschen Anlass zu vielerlei Missverständnissen geben kann, in dem Sinn, dass »Dauer« das bedeutet, was beständig ist und sogar das, was sich nicht verändert. Bergson erwiderte, dass die gleiche Schwierigkeit auch im Französischen auftritt. 3

In der Zwischenzeit setzt sich Bergson dafür ein, dass das Denken Simmels in Frankreich bekannt wird. Er unterstützt das Projekt einer Aufsatzsammlung von Simmel in französischer Sprache, die 1912 bei Alcan auch dank seiner Vermittlung erscheint: 4 die Mélanges de philosophie relativiste. 5 Bergson betraut seine Schülerin Alix Guillain 6, die Lebensgefährtin von Bernard Groethuysen – der übrigens regelmäßiger Besucher von Simmels Salon war –, mit der Aufgabe der Übersetzung. 7 Vermutlich im Sommer 1912 kommt es zu einer perI. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 76 f. Die Veröffentlichung der Mélanges de philosophie relativiste beim Verlag Alcan erfolgt aufgrund der »Verhandlungen Bergsons«, vgl. den editorischen Bericht, hg. von Christian Papilloud, Angela Rammstedt und Patrick Watier in G. Simmel, Gesamtausgabe, Bd. XIX, a. a. O., S. 408. 5 G. Simmel, Mélanges de philosophie relativiste, frz. Übers. von A. Guillain, Alcan, Paris 1912. Es ist der einzige von Simmel auf Französisch verfügbare Buchtitel vor 1981. 6 Alix Guillain ist wie Groethuysen Schülerin Simmels in Berlin und zieht 1909 nach Paris um, um dort in Philosophie zu promovieren. Sie lernt Bergson kennen, als sie seine Vorlesungen am Collège de France besucht, und er betraut sie damit, das Werk Simmels zu übersetzen, wie sie selbst am 14. Februar 1910 an den Historiker Gustav Mayer schreibt: »ich übersetze Fragments d’une philosophie relativiste von Simmel (es sind Bruchstücke aus verschiedenen seiner Werke). Bergson hat mich beauftragt, es zu tun, da ihm sehr daran gelegen ist, dass Simmel in Frankreich bekannt wird«, Nachlass G. Mayer, Ergänzung 43, Internationaal Instituut voor sociale Geschiedenis, Amsterdam, zit. im editorischen Bericht von G. Simmel, Gesamtausgabe, Bd. XIX, a. a. O., S. 409. Der Brief folgt nur zwei Tage auf den Vertrag Simmels mit Alcan, der am 12. Februar 1910 unterschrieben wurde und in den Archiven der Presses Universitaires de France aufbewahrt wird. 7 Vgl. E. R. Curtius, Stefan George im Gespräch, in Kritische Essays zur europäischen Literatur, Francke Verlag, Bern 1950, S. 100: »Der Simmelsche Salon […] Dort wurde philosophisch causiert. Groethuysen war facile princeps«. Groethuysen war gut darin, Beziehungen zwischen den philosophischen und literarischen Welten von Paris und Berlin zu knüpfen. Eine detaillierte Beschreibung seines Lebens findet sich bei Klaus Grosse Kracht, Zwischen Berlin und Paris, Bernhard Groethuysen (1880– 1946): eine intellektuelle Biographie, Max Niemeyer, Tübingen 2002 und bei Michael 3 4

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Der tragische Konflikt zwischen Leben und Form

sönlichen Begegnung von Bergson und Simmel in Florenz. 8 Wenn man den Aussagen einiger Zeugen Glauben schenken will, so löst ihr Treffen keine Begeisterung aus: Jankélévitch erinnert sich, dass »Bergson ihn [Simmel] in Florenz in den Museen getroffen hatte – nun, er war ihm völlig gleichgültig« 9; auch der Sohn Simmels berichtet von der Enttäuschung des Vaters: »Sie sind nicht recht in Kontakt gekommen. Bergson war offenbar einer jener großen Männer, deren Persönlichkeit sozusagen hinter ihrem Werk verschwindet«. 10 Das Interesse Simmels für die Philosophie Bergsons nimmt dennoch nicht ab: Im Wintersemester 1913/14 widmet er wieder Bergson einen Teil seiner Vorlesung an der Universität Berlin. Dort wird Bergson als derjenige präsentiert, der nunmehr »die Führung des europäischen Denkens« 11 übernommen hat. Schließlich veröffentlicht Simmel im Juni 1914 einen kurzen Essay über Bergson 12, in dem er eine kritische Interpretation entwickelt, die nicht nur unter den Lesern des französischen Philosophen, sondern auch bei Bergson selbst auf große Resonanz stößt. Ermarth, Intellectual History as Philosophical Anthropology: Bernard Groethuysen’s Transformation of Traditional Geistesgeschichte, »The Journal of Modern History«, LXV (1993), 4, Dezember, S. 673–705. 8 Vgl. G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 214 und 251, Fn.; Fitzi nimmt sogar an, dass die beiden Philosophen sich schon 1909 getroffen haben, wie der Brief Bergsons an Benrubi vom 19. Oktober 1909 vermuten ließe, in dem dieser ein Gespräch mit Simmel anlässlich der deutschen Übersetzungen seiner eigenen Werke erwähnt, vgl. C, S. 305: »Glauben Sie nicht, dass Simmel mir etwas Entmutigendes über Ihre Übersetzung gesagt hätte. Er ist auf die Frage kaum eingegangen«. 9 V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous, a. a. O. 10 H. Simmel, Lebenserinnerungen, a. a. O., S. 59, Manuskript im Simmel-Archiv in Bielefeld, zit. in G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 251, Fn. 11 Die Vorlesung Allgemeine Geschichte der Philosophie, die im WS 1913/14 (16. 10.–15. 03.) gehalten wurde, findet sich dagegen in einem Heft abgeschrieben, das nicht von Simmels Hand ist und aufgrund unbekannter Wechselfälle in der Bibliothèque interuniversitaire aufbewahrt wird, wie im editorischen Bericht in G. Simmel, Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XXI, S. 1015–1018 erklärt wird. Die Vorlesung zeichnet einen historisch-philosophischen Weg von der Stoa bis zur Lebensphilosophie Bergsons nach, vgl. ebd., S. 11–139, zu Bergson vor allem S. 136–139. 12 G. Simmel, Henri Bergson, »Die Güldenkammer. Norddeutsche Monatshefte«, IV (1914), 9, Juni, S. 511–529; erneut veröffentlicht in Zur Philosophie der Kunst. Philosophische und kunstphilosophische Aufsätze von Georg Simmel, hg. von Gertrud Simmel, Kiepenheuer Verlag, Potsdam 1922, S. 126–145; erneut veröffentlicht in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XIII, hg. von Klaus Latzel, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, S. 53–69.

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Simmel regt dort an, die philosophischen Epochen anhand ihrer »unbegründeten Grundbegriffe« 13 einzuteilen, bei denen sich die Linie des Seins mit der des Sollens trifft: Während in der griechischen Klassizität das substantiale, zeitlose und ewige Sein ein solcher Grundbegriff war, der im mittelalterlichen Christentum von der göttlichen Ordnung und in der Renaissance von den Gesetzen der Mechanik ersetzt wurde, erkennt Simmel im 20. Jahrhundert die Zentralität und die Priorität des Lebens gegenüber jedem anderen Begriff und jeder anderen Wirklichkeit. Die Bezugspunkte dieser Weltauffassung sind für ihn Schopenhauer und Nietzsche. In der Vorlesungsreihe der Jahre 1902–1906, die den beiden deutschen Philosophen gewidmet ist und in den Mélanges de philosophie relativiste 14 teilweise ins Französische übertragen wird, betont Simmel deren Konsens über die zentrale Bedeutung, die dem Leben zugeschrieben wird – obwohl ihre Perspektiven in verschiedener Hinsicht entgegengesetzt sind: Das Schopenhauer’sche Leben als Wille ohne Sinn und Zweck steht im Gegensatz zum Nietzsche’schen Leben, das sich als ständige Steigerung versteht, ebenso wie die Schopenhauer’sche Verneinung des Willens zum Leben sich der optimistischen Bejahung des Lebens aufseiten Nietzsches widersetzt. Letzterer zieht nach Simmel die Sympathien des zeitgenössischen Menschen besonders auf sich, weil dieser sich von der Garantie des Fortschritts des Lebens zu immer vollkommeneren Formen und zu einer immer größeren Selbstbehauptung getröstet fühlt. Im Essay von 1914 stellt Simmel Bergson neben Nietzsche – als den wichtigsten Vertreter der organizistischen Auffassung, die für das 20. Jahrhundert typisch ist. Für beide ist das Leben »eine ganz ursprüngliche schöpferische Bewegung, die nicht berechnet werden kann wie ein Mechanismus, sondern nur erlebt«. 15 Ihre Philosophien bringen eine radikale Abkehr von der mechanistischen Auffassung mit sich: Das Leben wird nunmehr als die ursprüngliche Wirklichkeit betrachtet, von der aus die Erklärung des Mechanismus möglich ist, und nicht mehr umgekehrt als ein Sonderfall mechanischer Bewegung. Das Lebendige protestiert nämlich gegen die Rekonstruktionen, die versuchen, seine künftigen Entwicklungen aufgrund einer Ebd., S. 53. G. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus, in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. X, hg. von Michael Behr, Volkhard Krech, Gert Schmidt, 1995, S. 167–408. 15 G. Simmel, Henri Bergson, a. a. O., S. 58. 13 14

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Kette von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu berechnen. Das Leben wird nunmehr verstanden als eine ununterbrochene und kontinuierliche Schöpfung von Neuem, das in der Stufenleiter der Evolution noch nicht realisiert wurde und daher vom darunter liegenden Substrat aus auch nicht deduzierbar ist. Für einen »Moralphilosophen« 16 wie Nietzsche bedeutet das – auf der Ebene der Werte –, dass die Eliten ihre Kraft nicht aus den Unterschichten beziehen, während es für einen »Naturphilosophen« 17 wie Bergson, dessen Ausgangspunkt die Biologie ist, vor allem bedeutet, dass sich das Organische nicht aufs Mechanische reduzieren lässt. 18 Der ursprüngliche Lebensschwung gabelt sich für Bergson und bewegt sich sowohl nach oben bis zum menschlichen Bewusstsein als auch nach unten bis zur Einförmigkeit der Materie. Das Leben verhält sich also wie ein Künstler, der frei mit der Materie waltet, die ihm zur Verfügung steht: Das universale Leben gleicht dem Dichter, der die gleichgültige Masse der Worte, wie der Lexikograph sie vorstellt, mit originalem, schaffendem, zusammenhaltendem Leben durchströmt; sobald aber seine Schöpferkraft erlahmt, fallen ihm die Worte zu einer toten, mechanischen Masse auseinander. 19

Dieselbe Spannung, die Simmel in der Philosophie Bergsons auf der Ebene des biologischen Lebens und der poetischen Schöpfung erkennt, betrifft auch den Einzelnen: Fortwährend kämpft in uns das lebendige, freie, schöpferische Ich mit der Materie und ihrem Mechanismus, der zwar vom Leben geschaffen, aber nun vom Leben verlassen ist, und deshalb der Physik und Chemie unterliegt – oder der psychologischen Analyse. 20

Die Spannung zwischen freier, lebendiger Schöpfung und mechanischer, tödlicher Erstarrung wird von Simmel als ein Kampf aufgefasst, als ein Konflikt, der dem ähnlich ist, der in seiner eigenen Ebd. Ebd. 18 Diese Umkehrung des ontologischen und epistemologischen Verhältnisses von Maschine und Organismus bei Bergson sieht auch Georges Canguilhem, La connaissance de la vie (1965), Paris, Vrin, 32003, S. 161, Fn.; dt. Übers. von Till Bardoux, Maria Muhle und Francesca Raimondi, Die Erkenntnis des Lebens, August, Berlin 2009, S. 228, Fn.: »Bergson ist auch einer der wenigen französischen Philosophen, wenn nicht der einzige, der die mechanische Erfindung als eine biologische Funktion, einen Aspekt der Organisation der Materie durch das Leben betrachtet hat.« 19 G. Simmel, Henri Bergson, a. a. O., S. 60. 20 Ebd. 16 17

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Philosophie auch die moderne Zivilisation betrifft. Wie er 1918 im Vortrag Der Konflikt der modernen Kultur 21 zusammenfasst, setzt sogar die Veränderung der Formen der Zivilisation einen tiefen inneren Widerspruch zwischen Leben und Form voraus. Das Unbehagen an der Zivilisation kommt daher, dass dem Leben eine Form aufgezwungen wird. Es kann nun nichts anderes tun, als endlos zu kämpfen, um jedes formale Prinzip zu brechen. Das extreme Zivilisationsniveau, das das moderne Leben erreicht hat, hat so zu einer Hypertrophie der objektiven kulturellen Formen geführt sowie zu einer immer größeren Schwierigkeit, subjektive kulturelle Formen hervorzubringen. Der technik- und kapitalismuskritische Unterton von Simmels Position ist bei einem Großteil der Lebensphilosophie in Deutschland üblich, während er bei Bergson überhaupt nicht erkennbar ist – auch wegen der unterschiedlichen Konnotation, die die Antithese von Zivilisation und Kultur in Frankreich hat. Dass sich die Bergson’sche Lesart der modernen Zivilisation nicht auf den deutschen Ansatz zurückführen lässt, zeigt sich besonders deutlich bei Scheler – auch er Vertreter einer Lesart von Bergson, die auf eine Kritik des Kapitalismus und der modernen Technik hinauswill. Diese Art von Interpretation wird für Bergsons Philosophie der Technik von entscheidender Wirkung sein, die gerade in den 1910er und 1920er Jahren bedeutende Weiterentwicklungen erfährt. Deren Motivation lässt sich nicht nur aufgrund einer internen Logik von Bergsons Denken erklären, sondern muss die vom Philosophen erlebte Auseinandersetzung erstens mit der dramatischen historischen Realität des Ersten Weltkriegs und zweitens mit den hauptsächlichen philosophischen Stimmen seiner Zeit berücksichtigen – darunter gewiss diejenigen von Vertretern der deutschen Lebensphilosophie wie Simmel und Scheler. Der dem Leben innewohnende Konflikt, den Simmel bei Bergson zwischen den »übermechanischen« 22 vitalen Akten und der Materie erkennt, die mechanisch agiert, betrifft nicht nur die ontologische Ebene: Auch auf der Ebene der Erkenntnistheorie werden der »Intellekt« und die Wissenschaft als instrumentelle, entstellte, verarmte und also verfälschte Formen des Lebens und seines metaphysischen Sinns verstanden. Wissenschaft und Intellekt gehen zwar vom Leben aus, aber entfernen sich unweigerlich von ihm. G. Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur, Duncker & Humblot, München, 1918; erneut veröffentlicht in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XVI, 1999, S. 181–207. 22 G. Simmel, Henri Bergson, a. a. O., S. 61. 21

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Simmel hebt bei dieser Gelegenheit eine Diskrepanz zwischen dem Scheincharakter und folglich der Unwirklichkeit der Rahmen hervor, die der Intellekt zur Verfügung stellt, und der wirklichen Nützlichkeit der von ihm gelieferten Bilder. Bergson öffnet also einen Spalt 23 zwischen der subjektiven und der objektiven Dimension und zwischen vitaler und mechanischer Welt, ohne die beiden Dimensionen in einem Brückenschlag zu verbinden – als ob er diesen Abstand für unbedeutend hielte und die Tragik nicht bemerkt hätte, die in dem Umstand liegt, dass das Leben, um sich zu verwirklichen, sich zwar überwinden und auflösen muss, aber ohne dabei in einen metaphysischen Dualismus zu verfallen, wie es bei Bergson geschieht. In der von Bergson beschriebenen Spannung zwischen dem Fließen und der Starrheit, zwischen dem Realen und dem Idealen, gewahrt Simmel die Präsenz eines tragischen Widerspruchs, den Bergson allerdings übersieht. Der Rückgriff auf die Kategorie des Tragischen spielt auf die Philosophie Nietzsches 24 an, eine wesentliche Voraussetzung der deutschen Lebensphilosophie. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht die Debatte über das Verhältnis von Leben und Geist in Deutschland in der Philosophie Nietzsches einen unabdingbaren Bezugspunkt. Sie ist Ausdruck des dionysischen Drängens auf die Wertschätzung des Lebens und des Gegensatzes zum Geist, dessen apollinische und intellektualistische Entwicklung die Lebenswerte abtötet. Simmel übernimmt Nietzsches Idee des Lebens, das fähig ist, sich bis zum Unendlichen zu erheben und zu steigern und dabei ständig über sich selbst hinauswächst, ohne dabei je bei irgendeiner festen und starren Form stehen zu bleiben. Der Konflikt zwischen gelebter Erfahrung und Intellekt wird, ebenso wie der Konflikt der modernen Kultur zwischen dem Leben und seiner Erstarrung in den räumlichen und anonymen Formen der Geldwirtschaft, von Simmel zurückgeführt auf eine Tendenz des Lebens, sich eine Form zu geben, wie er im ersten Kapitel der Lebensanschauung behauptet: »Mit diesem Widerspruch ist das Leben behaftet, daß es nur in Formen unterkommen kann und doch in Formen nicht unterkommen kann, eine jede also, die es gebildet hat, überlangt und zerbricht«. 25 Das Leben ist also Ebd., S. 63. S. vor allem den ersten Essay Nietzsches, Die Geburt der Tragödie (1872), in Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, W. de Gruyter, Berlin – New York, 1967 ff., Bd. III/1, 1973. 25 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918), in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XVI, S. 231. 23 24

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gezwungen, sich eine Grenze zu setzen und sie ständig zu überwinden: Es webt doppelt – an der Schöpfung und an ihrem Ende. Dieses Thema ist auch im Aufsatz Zur Metaphysik des Todes präsent, der in die 1912 26 bei Alcan veröffentlichten Mélanges de philosophie relativiste aufgenommen wurde. Hier bezieht Simmel Stellung gegen das Bild des Todes als Parze, die den Lebensfaden abschneidet, d. h. als negatives Element, das plötzlich auftaucht, um ein ausschließlich positives Leben abzubrechen. Für Simmel »ist der Tod von vornherein und von innen her dem Leben verbunden« 27, er ist ein »formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt«. 28 Es ist also nicht möglich, das Leben als reine Fülle aufzufassen, denn »der Tod [ist] jedem Tage und jeder Minute des Tages so als Grenze und Form, als Element und Bestimmung gegenwärtig, wie er den Rhythmus und die Gestaltung des Gesamtverlaufes bestimmt und gliedert«. 29 Für Bergson hingegen – bemerkt Simmel im Essay von 1914 – ist das Leben absolute Fülle. Das Negative wird vom Positiven absorbiert, die räumliche Vorstellung in der Sphäre des Erlebten und der Dauer aufgelöst. Alles, was nicht den Charakter des élan vital hat, ist eine sekundäre Konstruktion, sei es auf kosmischer Ebene, im Nachlassen und im Verfallen des Lebens, sei es auf menschlicher Ebene, in der Schematisierung des Denkens. Das Leben, das von Bergson absolut gesetzt wird, stellt für Simmel jedoch nur einen Teilvorgang dar, der zu einem allgemeineren Phänomen gehört, und zwar zur Dialektik von Fließen und Form, die sich im Leben des Bewusstseins als einheitlicher Akt abspielt. Obwohl Bergson sich das Oszillieren des Lebens zwischen dem, was fest ist, und dem, was wird, zu eigen macht, führt er am Ende doch eine Tendenz auf die andere zurück, ohne den im Leben selbst angelegten Widerspruch anzuerkennen, der in der Philosophiegeschichte durch den alten Gegensatz zwischen Parmenides und Heraklit verkörpert wird. Kurz, Bergson – so meint Simmel – gelingt es nicht, sich jenseits der Alternative zu positionieren: Entweder die Bewegung zu erG. Simmel, Zur Metaphysik des Todes, »Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur«, I (1910), April, S. 57–70; erneut veröffentlicht in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XII, 2001, S. 81–96; frz. Übers. von Alix Guillain, Métaphysique de la mort, in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XIX, 2002, S. 284–300. 27 G. Simmel, Zur Metaphysik des Todes, a. a. O., S. 82. 28 Ebd., S. 83. 29 Ebd., S. 96. 26

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fassen im Ausgang von dem, was fest ist, oder das, was fest ist, zu erklären als Auskristallisierung von dem, was beweglich ist. Er begreift nur die durée als wahre und letzte Wirklichkeit: So erklärt er das Feste im Ausgang vom Beweglichen, das Statische im Ausgang vom Dynamischen, von der durée. Diese Ausrichtung an der Position Heraklits befriedigt Simmel nicht. Er wünscht sich, dass es der Philosophie gelingt, einen metaphysischen Begriff des Lebens auszuarbeiten, der in der Lage ist, sowohl die Starrheit wie das Fließen des Realen und des Idealen zu erklären, die beide zu verstehen sind als »Offenbarungsweisen einer für jetzt noch unsagbaren Einheit des metaphysischen Lebens«. 30 Anstatt die Erfahrung nur in ein einziges Bezugssystem einzuschließen, akzeptiert die Lebensphilosophie Simmels den Sinn der Widersprüchlichkeit und der Unbestimmtheit, die dem Erlebnis eignen, um es nicht zu verkürzen und abzuschwächen. Der Konflikt zwischen Leben und Geist, den die deutsche Philosophie der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts verhandelt, wird also von Simmel nicht in einen Monismus oder einen Dualismus aufgelöst, sondern vielmehr als unüberwindlicher und dem Leben selbst innewohnender Gegensatz behauptet. 31

G. Simmel, Henri Bergson, a. a. O., S. 69. Die Debatte über den Gegensatz zwischen Leben und Geist in der Lebensphilosophie, mit besonderem Bezug auf die verschiedenen Einstellungen zum Denken Nietzsches, ist Gegenstand der herausragenden Untersuchung von Edoardo Simonotti, La svolta antropologica. Scheler interprete di Nietzsche, ETS, Pisa 2006, S. 29–54.

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4. Die Vermittlung durch Jankélévitch

Dass Bergson der Sinn für das Tragische, den Tod und die Negativität fehlt, fällt in den Zwischenkriegsjahren auch Vladimir Jankélévitch auf. Er lernt Bergson während seines Studiums an der École normale supérieure kennen, etwa Mitte der 1920er Jahre. 1 Der junge Philosoph russischer Abstammung ist schon damals ein großer Leser der deutschen Philosophie und besonders von Simmel, dem er 1925 einen wichtigen Artikel in der »Revue de Métaphysique et de Morale« widmet – er ist damals kaum 22 Jahre alt. 2 Diese Studie betrifft gleichzeitig auch die Philosophie Bergsons, über den Jankélévitch 1931 eine Monographie schreibt, die noch heute zu den bedeutendsten Werken über seine Philosophie zählt. 3 Bergson liest die Fahnen dieser AbAnlässlich einer Podiumsdiskussion über Bergson im Mai 1966, an der Jean Wahl, Pierre Trotignon und Pierre Mazars teilnehmen, erinnert sich Jankélévitch (1903– 1985), Bergson 1925 kennengelernt zu haben: Er hatte ihn damals gebeten, ihm etwas über seine Plotin-Vorlesung zu erzählen, vgl. V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous, a. a. O. Tatsächlich hatte Jankélévitch ihm schon 1924 seinen ersten Artikel übersandt, Deux philosophies de la vie: Bergson, Guyau, »Revue Philosophique de la France et de l’étranger«, XLIX (1924), 5–6, Juni, S. 402–449; dt. Übers.: »Zwei Lebensphilosophen: Bergson, Guyau«, in Bergson lesen, Turia + Kant, Wien – Berlin 2004, S. 7–88. Bergson antwortet mit einem Dankbrief am 12. Mai 1924, vgl. C, S. 1090 und EP, S. 777; dt. Bergson lesen, a. a. O., S. 83. 2 V. Jankélévitch, Simmel philosophe de la vie, »Revue de Métaphysique et de Morale«, XXXII, 1925, S. 213–257 und 373–386. Auch der Vater von Jankélévitch verfolgt das Werk Simmels sehr aufmerksam und schreibt eine ausführliche Besprechung der Soziologie; vgl. S. (Samuel) Jankélévitch, Georg Simmel. Soziologie, »Revue Philosophique de la France et de l’étranger«, XXXVI (1911), Juli–Dezember, S. 426–434. Das Interesse von Samuel Jankélévitch für die deutsche Philosophie bezeugt auch seine französische Übersetzung von einem Großteil der Werke von Fichte, Schelling, Freud und Sombart. Cécile Rol hat der Rolle von Vater und Sohn Jankélévitch in der russischen und französischen Simmel-Rezeption einen kurzen Aufsatz gewidmet; vgl. Cécile Rol, Eine mißverstandene Rezeption Simmels: Die Jankélévitchs, »Simmel Studies«, XIII (2003), 2, S. 409–423. 3 V. Jankélévitch, Bergson, Alcan, Paris 1931, erweiterte Aufl.: Henri Bergson (1959), PUF, Paris 2008. 1

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handlung bereits 1930, wobei ihm der Hinweis Jankélévitchs auf die »retrospektive Illusion« 4 besonders gut gefällt, die als tragender Aspekt seiner Philosophie und als Basis seiner Kritik an den Ideen der Unordnung und des Nichts angesehen wird. Die philosophische Übereinstimmung des jungen Jankélévitch mit dem Denken des Meisters ist so groß, dass dieser Begriff von Bergson im Vortrag Le possible et le réel wiederaufgenommen und vertieft wird. Er erscheint ebenfalls 1930, auf Grundlage eines Oxforder Konferenzbeitrags von 1910. 5 In den 1920er Jahren stellt Bergson also einen der hauptsächlichen philosophischen Bezugspunkte für den jungen Jankélévitch dar, der ihn im zweiten Teil des Artikels von 1925 mit Simmel vergleicht. Auf diese Weise lenkt Jankélévitch die Aufmerksamkeit Bergsons auf die neuesten Entwicklungen von Simmels Philosophie, für die Bergson sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr interessiert hatte. Am 2. Juni 1925 antwortet Bergson auf den Aufsatz seines Schülers mit einem Brief: Ich kannte diesen letzten Teil von Simmels Werk nicht; ich war beim Vorkriegs-Simmel stehen geblieben – einem Philosophen von höchster Genialität, Subtilität und Scharfsinnigkeit, für den ich bereits eine wahre Bewunderung hegte. Ich sehe, dass er schließlich seinen Standpunkt erweitert hatte, und dass er zur Metaphysik gelangt war. Was Sie über die Einflüsse sagen, die ihn dahin gebracht haben können, interessiert mich natürlich ganz besonders. 6

Ebd. (1931), S. 22 f. Bergson hatte den Ausdruck von Jankélévitch vorweggenommen, als er sich in La Prévision de la Nouveauté auf den »retroaktiven« Charakter der intellektuellen Anschauung bezog. Der Vortrag war anlässlich eines Philosophentreffens in Oxford am 24. September 1920 gehalten worden und erscheint zum ersten Mal 1930 in der schwedischen »Nordisk Tidskrift«. Er wird schließlich unter dem Titel Le possible et le réel aufgenommen in PM, S. 99–116; dt. S. 110–125. Die Idee der »rückläufigen Bewegung des Wahren« steht außerdem im Zentrum der Einleitung in PM (Erster Teil), datiert vom Januar 1922, wo Bergson auf die bereits im Januar und Februar 1913 an der Columbia University gehaltenen Vorlesungen »über die rückläufige Bewegung der Wahrheit« Bezug nimmt, vgl. Introduction (première partie), in PM, S. 1–23, hier S. 14, Fn.; dt. S. 21–41, hier S. 33, Fn. Der Dialog zwischen Meister und Schüler über diese Frage geht aus von Jankélévitchs Brief vom 3. Januar 1928 in EP, S. 779 und in der Einführung zur zweiten Auflage von Jankélévitchs Bergson von 1959, a. a. O., PUF, 2008, S. 2 f. 6 Der Brief wurde erst vor Kurzem veröffentlicht in EP, S. 778. Bergson ist damals krank und diktiert den Brief seiner Frau. 4 5

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Auf der Basis von Jankélévitchs Artikel hat Bergson also die Gelegenheit, neue Aspekte von Simmels Philosophie kennenzulernen, vor allem die Lebensanschauung, und über die kritische Annäherung ihrer beiden Philosophien nachzudenken – eine Reflexion, mit der zugleich einige wichtige Adaptationen seiner eigenen Philosophie der Folgezeit einhergehen sollten. Jankélévitch setzt die von Simmel in dessen Bergson-Artikel von 1914 angegebene Richtung fort. Die Kritik beider gilt hauptsächlich dem Fehlen eines Sinns für das Tragische. Der junge Jankélévitch behauptet also, dass Bergson, anstatt die Spannung und den Konflikt zwischen Leben und Form auszuhalten, sich letzten Endes der herakliteischen Position des Fließens anbequemt: Er gibt ja die Möglichkeit zu, die räumlichen Formen zu überwinden, indem er der Dauer die ontologische Priorität zuschreibt. Für Simmel hingegen »ist die Form kein oberflächlicher Auswuchs, den wir von einem Tag zum anderen ohne Gewissensbisse zuschneiden dürften; […] sie senkt ihre Wurzeln in die tiefsten Tiefen unseres geistigen Lebens. Die große Reform Simmels, sagten wir, bestand darin, die Verneinung des Lebens zu verinnerlichen«. 7 Entsprechend postuliert Bergson auf erkenntnistheoretischer Ebene schon seit der Introduction à la métaphysique die erkenntnismäßige Überlegenheit der Intuition und räumt der Metaphysik die Möglichkeit ein, auf begriffliche Symbole zu verzichten. 8 Die Intuition des Lebens, auf die Simmel sich bezieht, ist hingegen nicht in der Lage, über die Form des Begriffs hinauszugehen, vielmehr bleibt sie zwischen der Form des Begriffs und der vitalen Bewegtheit: Gewiss kommt Simmel, wie Bergson, schließlich zu einer Metaphysik, die auf die Intuition gegründet ist; aber während Bergson sich mit einem Schlag jenseits aller Begrifflichkeit versetzt, das heißt jenseits jeder Lehre, die mehr oder weniger offen die Form wahrt, bleibt Simmel teilweise der relativistischen »Mittelstellung« treu, stellt sich zwischen den »Konzeptualismus« und den reinen »Mobilismus«: was zum Beispiel für Simmel das Genie ausmacht, ist nicht, dass es gleichzeitig alle Begriffe hinter sich lässt, dass es sich auf einmal von jeder Form frei macht – es ist, dass es in einem Akt der Intuition die beiden konträren Erfordernisse in einem harmo-

V. Jankélévitch, Simmel philosophe de la vie, a. a. O., S. 380. Vgl. Introduction à la métaphysique (1903), in PM, S. 182; dt. S. 184: »Die Metaphysik ist also die Wissenschaft, die sich aller Symbole zu entledigen sucht«.

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nischen Gleichgewicht von »Mehr-Leben« und von »Mehr-als-Leben« zusammenbringt. 9

Jankélévitch bezieht sich auf das erste Kapitel der Lebensanschauung, in dem Simmel den inneren Widerspruch des Lebens, das immer im Begriff ist, sich zu übersteigen, eben indem es sich sich selbst entgegensetzt und sich in der Welt entfremdet, so definiert: Wie das Transzendieren des Lebens über seine aktuell begrenzte Form hin innerhalb seiner eigenen Ebene das Mehr-Leben ist, das aber doch das unmittelbare, unausweichliche Wesen des Lebens selbst ist, so ist sein Transzendieren in die Ebene der Sachgehalte, des logisch autonomen, nicht mehr vitalen Sinnes, das Mehr-als-Leben, das von ihm völlig unabtrennbar ist, das Wesen des geistigen Lebens selbst. 10

Jankélévitch gibt also zu verstehen, dass Simmel die Rechte der Form sowohl auf der metaphysischen als auch auf der erkenntnistheoretischen Ebene wahrt, ohne in die »einschmeichelnde Musikalität« des Bergsonismus zu verfallen, wobei er in der Dynamik des Lebens »eine Art drittes Absolutes« 11 findet. Der Autor nimmt so auf das »dritte Reich« Bezug, mit dem Simmel das Zwischenreich zwischen dem Idealen und Realen definiert, zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, dem Zeitlichen und dem Ewigen, dem Vielfachen und dem Einen. Es ist für Simmel der Boden, auf dem sich seine Philosophie entwickeln sollte, als dritter Pol zwischen den beiden Enden des unaufhebbaren Dualismus, in den alle unsere Erfahrungen eingespannt sind. 12 Das Erlebnis teilt beide Aspekte jeder Dualität und zeigt, dass keiner der beiden Begriffe Sinn hat, wenn er nicht auf den anderen bezogen wird. So wird die Einheit nicht in dem einen oder in dem anderen Ende der Dualität wiedergefunden, sondern in einer Zwischenposition. Daher lehnt Simmel die herakliteische Position des Flusses ohne Form ab, die er indes im Aufsatz von 1914 Bergson zuschreibt. Jankélévitch erinnert daran, dass Bergson – so Simmel – die Einheit des Lebens auf sein Bewegungsprinzip, den élan vital zurückführt, d. h. auf eines der beiden Enden des Dualismus, während V. Jankélévitch, Simmel philosophe de la vie, a. a. O., S. 380 f. G. Simmel, Lebensanschauung, a. a. O., S. 232. 11 V. Jankélévitch, Simmel philosophe de la vie, a. a. O., S. 381. 12 Die Position Simmels gegenüber Dualismus und Idealismus von der Philosophie des Geldes bis zur Lebensphilosophie untersucht V. D’Anna, Il denaro e il Terzo Regno. Dualismo e unità della vita nella filosofia di Georg Simmel, Clueb, Bologna 1996. 9

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Simmel der Meinung ist, dass diese Einheit nur möglich ist in einer Zwischendimension, die zwischen Stillstand und Fluss, zwischen Immanenz und Transzendenz oszilliert. Jankélévitch fasst diese Beobachtung Simmels zusammen, wobei er darauf achtet, seine Kritik an der Philosophie Bergsons nicht zu vereinfachen: [Simmel] vermeidet den – im übrigen absurden und primitiven – Vorwurf, den man oft gegen den Bergsonismus erhoben hat, nämlich das Werden zu substantialisieren, die geistige Dauer zu hypostasieren, oder unter dem Namen Leben wieder irgendein intuitives Jenseits einzuführen, das ein Begriff neuer Art wäre. Das Absolute, das Simmel in die Dynamik verlegt hat, die der »Selbsttranszendenz« zugrunde liegt, entströmt in gewisser Weise organisch dem Prinzip der Relativität. 13

Das Privileg, das der Dimension der Dauer und der Bewegtheit zugestanden wird, erfährt nicht deswegen Kritik, weil es ein räumlicher und statischer Begriff wäre wie die anderen, sondern weil diese Polarität schließlich jede räumliche Starrheit absorbiert und weil so die Negation abgeschafft wird, die doch für Simmel dem Leben innewohnt – was auch im Fortgang von Jankélévitchs Philosophie der Fall sein wird. 14 Indem er Bergsons élan vital Simmels tragédie de la culture gegenüberstellt, kommt Jankélévitch dazu, über die Bedeutung des Status nachzudenken, der jeweils der Negation und also der Endlichkeit zugewiesen wird. Im letzten Kapitel von L’évolution créatrice und im Vortrag Le possible et le réel 15 führt Bergson vor, dass die Idee des Nichts und der Unordnung Illusionen sind, indem er sie als die hauptsächlichen Konsequenzen der kinematographischen und fabrizierenden Haltung des Intellekts auf dem Gebiet der Theorie des Seins und der Theorie der Erkenntnis zeigt. So wie das Nichts in Wirklichkeit die Substitution der Gegenwart von etwas, was wir nicht erwarteten, mit der Abwesenheit dessen, was wir hingegen erwarteten, ist, so ist die Unordnung nicht die Abwesenheit von Ordnung, sondern die Gegenwart einer anderen Ordnung: »Wir nehmen nur wahr, ja wir begreifen V. Jankélévitch, Simmel philosophe de la vie, a. a. O., S. 381. Es sei daran erinnert, dass auch im Werk Jankélévitchs das Negative eine wichtige Rolle spielen und in Begriffen beschrieben werden wird, die denen Simmels sehr ähnlich sind, vor allem in La mort (1977), Flammarion, Paris 2008; dt. Der Tod, hg. von Christoph Lange, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005. 15 Bergson entwickelt die Kritik am Prinzip des zureichenden Grundes in EC, S. 272– 298; dt. S. 276–302 sowie in Le possible et le réel (1930), in PM, S. 105–110; dt. S. 116–119. 13 14

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nur ein Etwas. Ein Etwas verschwindet nur, weil ein anderes es ersetzt hat«. 16 Simmel nimmt hingegen an, die Negation sei ein dem Leben innewohnendes Element, die Dimension seiner Endlichkeit sei mithin unüberwindlich. Jankélévitch lässt Simmel und Bergson das Gespräch über dieses Thema in seiner Monographie von 1931 fortführen, wo er das letzte Kapitel Le néant des concepts et le plein de l’esprit mit einem Hinweis auf die Tragödie der Kultur schließt: Doch eine einzigartige Fügung des Schicksals will, dass der Geist ohne Unterlass an seiner eigenen Zerstörung gerade in dem Akt arbeitet, mit dem er seine Größe behauptet. Die Evolution resümiert dieses Drama [in der Auflage von 1959: diese Tragödie]: das Leben muss aus dem Möglichen herausgehen, um sich zu vollenden, denn nichts ist so wertvoll wie das Wirkliche; und doch hat es alles zu verlieren, wenn es sich auf diese Abenteuer einlässt: es teilt sich in Arten, verleugnet sich auf Schritt und Tritt, unterliegt den Versuchungen der Materie. Und ebenso ist das Gedächtnis, das unser Bewusstsein erleichtert, immer im Begriff, es zu verleugnen. Das Gedächtnis ist natürlicherweise und konstitutiv rückblickend. Und am tragischsten ist, dass es ohne diese Retrospektivität keine Vorstellung, keine Erkenntnis und keine Wissenschaft gibt. 17

Er sieht also auch bei Bergson den unvermeidlich konfliktgeladenen Charakter des Lebens, das, um sich in der Evolution oder in unserer Erfahrung zu konkretisieren, gezwungen ist, eine Form anzunehmen, und bietet so eine Bergson-Darstellung, die den Begriffen Simmels näher kommt. Trotzdem unterstreicht Jankélévitch in der zweiten Auflage von Henri Bergson 1959 noch einmal das Urteil über die Intuition, das er bereits im Essay von 1925 formuliert hat: »Gibt Bergson nicht mit der Intuition selber die Möglichkeit eines großen Durchbruchs zu, mit dem der Mensch die Grenze seiner Endlichkeit überschreitet? Und reißt das heroische Opfer den Übermenschen nicht aus den Angeln seines Seins?« 18 Das trägt der Idee Bergsons Rechnung, wonach es das Ziel der Philosophie ist, »die Erfahrung an ihrer Quelle aufzusuchen, oder vielmehr oberhalb jener entscheidenden Wendung, wo sie nach der Richtung unserer Nützlichkeit von ihrem ursprünglichen Wege abweicht und im eigentlichen Sinne die PM, dt. S. 116. Im Original lautet die Stelle (PM, S. 106) wie folgt: »Nous ne percevons et même ne concevons que du plein. Une chose ne disparaît que parce qu’une autre l’a remplacée«. 17 V. Jankélévitch, Henri Bergson, a. a. O., 1931, S. 291; 1959, S. 227. 18 V. Jankélévitch, Henri Bergson, a. a. O., 1959, S. 225. 16

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menschliche Erfahrung wird«. 19 Das Absolute hingegen, auf das Simmel sich bezogen hatte, ist nicht so ambitioniert, wie Jankélévitch im Artikel von 1925 bemerkt: »Das Absolute, das die Metaphysik des Lebens entdeckt hat – ist es in seiner intuitiven Allgemeinheit, geschmeidig und substantiell zugleich, nicht die menschliche Wirklichkeit par excellence?« 20 Eine Intuition, die zur transzendenten Kontemplation des Absoluten gelangte, wäre nicht mehr eigentlich menschlich: »die Ruhe des Geistes wäre bloß ein unmenschliches Absolutes«. 21 Das Insistieren Jankélévitchs auf der menschlichen Dimension und ihrer unüberwindlichen Endlichkeit, das sich an Themen des Existenzialismus zu orientieren scheint, kommt nicht von ungefähr – diese philosophische Richtung sollte für die Wiederaufnahme Bergsons nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutsam werden. Seine Philosophie des Lebens und der Intuition erlaubt es – auch dank ihrer Weiterentwicklung in Les deux sources – künftigen Interpreten in der Tat, auch in Bergson ein Denken der Endlichkeit zu sehen.

19 20 21

MM, S. 205; dt. S. 191. V. Jankélévitch, Simmel philosophe de la vie, a. a. O., S. 381. Ebd., S. 386.

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5. Die Endlichkeit von L’évolution créatrice bis Les deux sources

In seinem Artikel über Simmel aus dem Jahr 1925 hatte Jankélévitch bereits beim Problem der Individualität die Unterschiede zwischen Bergson und Simmel bemerkt. Dass das Leben in den Grenzen einer festgelegten und vergänglichen Individualität eingeschlossen bleibt, ist nämlich für Simmel eine Konsequenz des tragischen Konflikts, der dem Leben innewohnt, das in seiner Entwicklung in »transvitalen Existenzen« 1 erstarrt – Jankélévitch empfindet diesen Prozess als anti-bergsonianisch. Jankélévitchs Interpretationsbogen erfasst zwar manche Aspekte, aber andererseits lassen sich bei Bergson auch einige Züge erkennen, die ihn Simmels Positionen annähern. Das Spiel von Lebensschwung und Verdichtung in den individuellen Formen wird in der Tat in L’évolution créatrice in einer Weise beschrieben, die völlig zu Recht an die Simmel’sche Spannung zwischen Mehr-Leben und Mehr-alsLeben erinnern kann. Denn das Leben wird bestimmt als »stetig wachsende Kraft« 2, jedoch gebremst von einer Tendenz, stehen zu bleiben und sich in besonderen Formen zu verfestigen: Die Entwicklung als Ganzes würde, so weit irgend möglich, geradlinig verlaufen; jede Einzelentwicklung aber ist ein in sich kreisender Prozeß. Wie vom Wind aufgejagte Staubwirbel drehen sich die Lebewesen um sich selbst, in der Schwebe gehalten vom großen Odem des Lebens. So also sind sie verhältnismäßig starr, ja ahmen das Unbewegliche so vortrefflich nach, daß wir sie eher als Dinge denn als Fortschritte behandeln; ganz vergessend, daß diese ihre beharrende Form selbst nichts anderes, als die Nachzeichnung einer Bewegung ist. Zuweilen indes und in flüchtiger Erscheinung verleiblicht sich vor unserem Auge der unsichtbare Odem, der die Wesen trägt. Solche plötzliche Erleuchtungen werden uns angesichts mancher Formen der Mutterliebe, die so auffallend, so bei fast allen Tieren rührend ist, und die noch bis hinein in die Fürsorge der Pflanze für ihr Samenkorn 1 2

V. Jankélévitch, Simmel philosophe de la vie, a. a. O., S. 375. EC, S. 129; dt. S. 134.

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wahrnehmbar bleibt. Diese Liebe, in der viele das große Mysterium des Lebens haben sehen wollen, erschließt uns vielleicht sein Geheimnis. Sie zeigt uns jede Generation jeder nachfolgenden hingegeben, sie läßt uns ahnen, daß jedes Lebewesen vor allem andern Durchgangspunkt ist, ahnen, daß das Wesen des Lebens in der Bewegung liegt, die es weiterpflanzt. 3

Das Lebewesen als Ort des Übergangs und der Weitergabe des Wachstums des Lebens scheint nicht sehr weit entfernt von den Individuen, die bei Simmel als »transvitale Sonderexistenzen« 4 verstanden werden. Dieses Modell der Individuation, entwickelt im kosmologischen Rahmen von L’évolution créatrice, zeitigt in Les deux sources bedeutsame Auswirkungen für die Gesellschaft. Simmels »transvitale Existenzen« haben, unter dem Druck des Konflikts der Zivilisation, mit der kartesischen Tradition des Subjekts gebrochen und sich auf das Leben zubewegt: Nur vom Strom des Lebens aus kann sich das Ich bilden. Das gilt allerdings für Bergson nicht mit Bezug auf die individuelle Persönlichkeit, die zumindest in den ersten Werken nicht so sehr als das Ergebnis der Entwicklung des Lebens zu Mehr-als-Leben, d. h. zu Nicht-Leben, betrachtet worden war, sondern als der privilegierte Ort dargestellt wurde, an dem die Dauer als wirkliche Dimension des Lebens in Erscheinung tritt. In der Folge dehnt Bergson diese Annahme der psychologischen Werke auf die metaphysische Ebene aus. Dabei nimmt er den kreativen Fluss der Dauer zum Modell der Evolution des Lebens in L’évolution créatrice: »Solcherart also ist mein inneres Leben, solcherart auch das Leben als Ganzes«. 5 Der Idee des »tiefere[n] Ich« 6 als dem Ort, an dem sich die Freiheit manifestiert, entsprach im Essai die Idee eines »OberflächenIch« 7, das als »eine Art äußere Projektion des andern, sein räumlicher und sozusagen sozialer Repräsentant« 8 beschrieben wurde – eine Art Schatten des wahren Ich, der in den homogenen Raum geworfen wurde, der wiederum als die dem sozialen Leben eigentümliche Dimension galt. In ähnlicher Weise war in Le rire die Gesellschaft als eine Oberflächenschicht dargestellt worden, in der sich die individuellen Gefühle kondensierten: »Der langsame Fortschritt der Menschheit zu einem immer friedlicheren Gemeinschaftsleben hat diese Schicht all3 4 5 6 7 8

EC, S. 129; dt. S. 133. G. Simmel, Lebensanschauung, a. a. O., S. 234. EC, S. 259; dt. S. 262. DI, S. 93; dt. S. 98. Ebd. Ebd., S. 173; dt. S. 181.

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Die Endlichkeit von L’évolution créatrice bis Les deux sources

mählich befestigt, ähnlich wie das Leben unseres Planeten darin bestanden hat, in langer Arbeit die feurige Masse siedender Metalle mit einer festen kalten Haut zu überziehen«. 9 In der Bequemlichkeit eines angepassten Lebens, das ebenso beruhigend wie steif, routinemäßig und förmlich ist, fungiert das Lachen als Kunstgriff, um die Spannung und die Elastizität des Lebens vor einem Übermaß an Erstarrung zu schützen, zu der die soziale Organisation neigt. Für den jungen Bergson gab es also zwischen Individuum und Gesellschaft einen Gegensatz, der mit demjenigen von Dauer und Raum, Leben und Materie gleichbedeutend war. Was Jankélévitch im Artikel von 1925 bemerkt, nämlich dass bei Bergson die Individualität nicht das Ergebnis eines Konflikts zwischen Leben und Nicht-Leben ist, scheint seiner ersten Position eines radikalen Individualismus zu entsprechen 10, die das Subjekt als positiven Pol der unmittelbaren Erfahrung und als Quelle des freien Handelns betrachtete, der von der Intuition für den Kontakt mit der dynamischen Wirklichkeit der Dauer geöffnet worden war. Von diesem Standpunkt aus lässt sich Jankélévitch gut einreihen in die Bergson-Interpretation, die in den 1910er und 1920er Jahren tonangebend war: Sie sieht bei ihm einen entschiedenen Subjektivismus und Individualismus, eine Aufforderung zum Rückzug ins eigene Selbst und ein entsprechendes Misstrauen gegenüber der Gesellschaft, die wertlos und gering erscheint im Vergleich zur Fülle der Dauer, die hingegen das Ich im Grunde seiner eigenen Innerlichkeit lebt. 11 Wenn diese Interpretation sich in den ersten Werken bestätigt findet, so scheint sie jedoch in Les deux sources überwunden. Die Bedeutung, die hier der kollektiven Dimension der Menschheit zukommt, entzieht nämlich der oft vorgebrachten Kritik des Subjektivismus und des Individualismus den Boden. Häufig wurde ja der Philosophie Bergsons vorgeworfen, sie halte die Gesellschaft lediglich für R, S. 122; dt. S. 107. So wird sie auch definiert bei J.-L. Vieillard-Baron, Le mysticisme comme cas particulier de l’analogie chez Bergson, in G. Waterlot (Hg.), Bergson et la religion: nouvelles perspectives sur »Les Deux Sources de la morale et de la religion«, PUF, Paris 2008, S. 238. 11 Für einen Überblick über die wichtigsten Stimmen, die sich für den Individualismus Bergsons besonders stark machen sowie für deren Kritik anhand der Lektüre von DS, verweise ich auf meinen Aufsatz Le sujet dans la société ouverte, in F. Caeymaex – A. François – F. Worms (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2012, Bd. V: Bergson et la politique: De Jaurès à aujourd’hui, S. 223–243. 9

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einen Notbehelf, eine statische Projektion eines authentischeren inneren Lebens, einen Ort der Gewohnheit und der utilitaristischen Konvention und sogar für eine Quelle metaphysischen Irrtums. Der Status, der dem individuellen Leben und seinen Grenzen gegenüber dem Leben und der Gesellschaft zukommt, wird in der Tat in Les deux sources anders erläutert. Die Dualität des Geschlossenen und des Offenen führt nicht nur zu einer neuen Art von Gesellschaft, sondern auch zu einer neuen Begründung der Intersubjektivität, die aus der metaphysischen Quelle des Lebens schöpft – der Wurzel der Zusammengehörigkeit und der Solidarität unter den Geschöpfen. Die individuellen Existenzen der Mystiker, deren Ruf für die Verwirklichung der offenen Gesellschaft maßgeblich ist, übersteigen die Grenzen der Persönlichkeit und werden zu Trägern des élan vital, um den Menschen aus der verräumlichten und erstarrten Unpersönlichkeit der geschlossenen Gesellschaft heraustreten zu lassen, ohne sich jedoch in eine rein persönliche Dimension zurückzunehmen: Der von ihrer privilegierten Individualität übertragene Schwung geht nämlich weder in die Richtung der Abschottung in einer exklusiven Gesellschaft noch in die der Sonderrolle des mystischen Individuums, sondern vielmehr in Richtung einer sozialen Öffnung, die universal sein will und die sich durch die Verbreitung der mystischen Intuition in der ganzen Menschheit erreichen ließe. Man kann also behaupten, dass die Bedeutung, die in Les deux sources den Mystikern als Individuen zukommt, in letzter Instanz auf die Aufwertung des gesellschaftlichen Lebens verweist, das nun gegenüber den ersten Werken eine neue Bedeutung gewinnt. Die Mystik zielt also nicht darauf, den Schwerpunkt des sozialen Lebens in Richtung eines Spiritualismus der Innerlichkeit zu verschieben, sondern sie überträgt vielmehr die schöpferische Emotion auf das Gebiet der Gesellschaft, die sich ansonsten vom Raum und von der Produktionswut der Intelligenz beherrschen ließe und sich in eine hierarchische Ordnung und in die Bereitschaft zum Krieg einschlösse. Die Energie, die die Mystiker entfalten, kommt »aus einer Quelle, die die Quelle des Lebens selbst ist« 12, sie übersteigt also die rein subjektive Individualität. In der mystischen Erfahrung ereignet sich jedoch nicht ein völliges Einschmelzen und also auch nicht ein Verlust der Grenzen des Ich, sondern »ein teilweises Einswerden« 13, das 12 13

DS, S. 246; dt. S. 230. Ebd., S. 233; dt. S. 218.

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die Spannung zwischen dem vitalen Ganzen und dem Individuum niemals aufhebt. So charakterisiert sich auch das Leben der Mystiker – um es mit Frédéric Worms zu sagen – als »eine Erfahrung der Grenze, die innerhalb der Grenzen unserer Erfahrung verbleibt«. 14 Das menschliche Subjekt, wie ›transvital‹ auch immer, löst mithin seine Grenzen nie völlig auf. Sowohl in Richtung der Abschottung wie in jener der Öffnung ist die individuelle Persönlichkeit konfrontiert mit unpersönlichen Dimensionen. An der Oberfläche richtet sie sich auf die unpersönliche Gesamtheit der moralischen Gebote der geschlossenen Gesellschaft, die die Individuen aus Gründen der Überlebensnotwendigkeit der Art verbinden. In der umgekehrten Richtung dagegen bindet sich die individuelle Persönlichkeit – dank der gemeinsamen Verwurzelung der Individuen – ans Leben, die metaphysische Quelle der Geselligkeit. Unter diesem Gesichtspunkt ähnelt das Individuum von Les deux sources eher demjenigen, das Jankélévitch in seinem Artikel aus dem Jahr 1925 bei Simmel sah. Obwohl es der tragischen und konfliktgeladenen Dimension entbehrt, die der Simmel’schen Individualität eignet, nähert sich die Persönlichkeit, die Bergson 1932 beschreibt, mehr der Idee eines individuellen Lebens zwischen Mehr-Leben und Mehr-als-Leben. Bergson gibt nämlich die duale Entgegensetzung von Tiefen-Ich und Gesellschaft auf, um das individuelle Leben auf einer mittleren Ebene anzusetzen: Im Zentrum der Spannung zwischen dem Streben, die Persönlichkeit zu transzendieren, und der Notwendigkeit, sich eine Form zu geben, zwischen der Teilnahme an der schöpferischen Energie des Lebens, um die Menschheit über sich selbst hinauszuheben, und der Tendenz, sich im Sinne des Zusammenhalts, der Wiederholung und der Äußerlichkeit einzurichten. Jankélévitch hat im Artikel von 1925 hervorgehoben, dass die Spannung zwischen Leben und Form, die im Zentrum von Simmels Denken steht, auch auf moralischem und religiösem Gebiet Auswirkungen hat. Um einen moralischen Fortschritt zu verwirklichen, ist es in der Tat notwendig, Gebote und Imperative festzulegen, die über die Beliebigkeit der individuellen Moral hinausgehen und ihr widersprechen. So bewirken sie eine »tödliche Erstarrung des ethischen F. Worms, La vie est-elle la double source de la morale?, in Les deux sources de la morale et de la religion. Henri Bergson, Ellipses, Paris 2004, S. 66.

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Lebens«. 15 Entsprechend beobachtet man in der Religion ein Äußerlichwerden der schöpferischen Leidenschaft in spürbaren Zeichen und stabilen Denkmälern, in Dogmen, Riten und Gebeten, die eine Zerstreuung in der »unausdrückbaren Beweglichkeit des Lebens« 16 verhindern. Gleichzeitig meint Simmel, dass das exzessive Äußerlichwerden der Religiosität dazu führt, dass man den Kontakt mit ihrer ursprünglichen Quelle verliert, deren Wiedergewinnung der entscheidende Beweggrund der Reformation war. Auch die Moral und die Religion erleben so ihre Zerreißprobe, die »Tragödie des geistlichen Lebens«. 17 In Les deux sources wird dieser Abstand zwischen mystischer Intuition und lehrhafter Form der Religion besonders offensichtlich, auch wenn er nicht in dem tragischen, für Simmel typischen Ton zur Sprache kommt: Aus einer Doktrin, die nur Doktrin ist, entspringt schwerlich der glühende Enthusiasmus, der Glaube, der Berge versetzt. Setzen wir dagegen diese Weißglut voraus, und die kochende Masse wird sich mühelos in die Gußform einer Doktrin ergießen, oder sie wird sogar beim Festwerden zu dieser Doktrin erstarren. Wir stellen uns also die Religion als die Kristallisierung vor, die zustande kommt durch ein gelehrtes Zum-Erkalten-bringen dessen, was die Mystik glühend in die Seele der Menschheit gelegt hatte. 18

Was in der mystischen Intuition geschieht, wiederholt also das, was seit den ersten Werken durch die metaphysische Intuition beschrieben war und durch den Versuch, sie in Symbolen auszudrücken, vom Sinn zum Zeichen überzugehen. 19 Die Wichtigkeit, die mystische Intuition in eine religiöse Form zu übersetzen, die eine soziale Funktion hat, sowie die Entfaltung der schöpferischen Emotion der Mystiker in einem aktiven Leben, das

V. Jankélévitch, Georg Simmel, philosophe de la vie, a. a. O., S. 375. Ebd., S. 376. 17 Ebd. 18 DS, S. 252; dt. S. 235 f. 19 Bergson stellt sogar einen Vergleich zwischen religiöser Lehre und Popularisierung der Wissenschaft an: »Es gibt eine edle Popularisierung, die die Umrisse der wissenschaftlichen Wahrheit respektiert und doch den einfacher gebildeten Geistern erlaubt, sie sich im Groben vorzustellen, bis zu dem Tage, wo eine höhere geistige Anstrengung ihnen die Einzelheiten entdecken wird und vor allem es ihnen ermöglichen wird, tief in ihre Bedeutung einzudringen. Von dieser Art scheint uns die Ausbreitung der Mystik durch die Religion. In diesem Sinne ist die Religion für die Mystik, was die Popularisierung für die Wissenschaft ist«, DS, S. 253; dt. S. 236. 15 16

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auch fähig ist, in den Menschen die Sehnsucht der Nachahmung zu wecken, sind Aspekte der Philosophie von Les deux sources, die auch für die spirituellsten Erfahrungen eine Orientierung an der Immanenz bezeugen. Damit verbietet es sich, das Werk auf spiritualistische Deutungen zu verkürzen: Die Mystik selbst gebietet es – abgesehen von ihrem aktivistischen Charakter, der von den Viten der »Männer und Frauen der Tat« 20 bezeugt wird –, sie in ihrem Dialog mit der Mechanik zu betrachten, wie Bergson es tut: nämlich als eine menschliche Erfahrung, d. h. eine, die immer bereit ist, ihren Transzendenzcharakter innerhalb der Grenzen der spezifischen und immanenten Existenz jeder großen Persönlichkeit zu vermitteln. 21 Sogar im Hinblick auf das moralische Thema der Freiheit scheint Bergson in Les deux sources seine Lehre einer mehr vermittelten Auffassung anzunähern als der im Essai vertretenen. Die Freiheit war damals bewiesen worden im Ausgang von der unmittelbaren Erfahrung des freien Akts, einem reinen Akt, dessen Folgen im zeitlichen Ablauf der Dauer reif werden und wachsen – im Gegensatz zur räumlichen und retrospektiven Anschauung des assoziationistischen Determinismus. 22 Die posthume Schrift Simmels Über die Freiheit 23, erschienen 1922 und so gut wie sicher von Bergson nicht rezipiert, kritisiert eine Freiheitsauffassung, die sich auf deren unmittelbare Erfahrung stützt – wie die des Essai. Im Rahmen der Unvollendetheit und der Relativität des menschlichen Wesens gewinnt die Freiheit für Simmel einen ebenso relativen wie begrenzten Charakter: »[E]s [gibt] gar nicht Freiheit überhaupt, sondern eine Freiheit zu etwas und von etwas Bestimmtem«. 24 So hält er dafür, dass die Erfahrung der Neuheit nicht ausreichend ist, um die Existenz einer absoluten Freiheit zu postulieren, die von der physischen Welt und von der Bindung an die Naturgesetze unberührt bliebe. Die Freiheit lässt sich also nicht auf einfache und eindeutige Weise verstehen und auch

DS, S. 259; dt. S. 242. Diese Überlegungen zur Natur der Mystik in DS sind ausführlicher entwickelt in meinem Buch Bergson, la tecnica, la guerra, a. a. O., S. 115–149. 22 S. vor allem die Beschreibung des freien Aktes in DI, S. 123–137; dt. S. 132–144. 23 G. Simmel, Über die Freiheit, in Gesamtausgabe, Bd. XX, hg. von T. Karlsruhen und O. Rammstedt, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, S. 80–115. Simmel legt den Text Baensch kurz vor seinem Tod 1918 vor, um ihn in der Zeitschrift »Logos« zu veröffentlichen; dort erscheint er 1922. 24 Ebd., S. 115. 20 21

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nicht auf ein selbstbezügliches Subjekt zurückführen, das mit seiner Freiheit in eins fiele. Die bereits festgestellte Weiterentwicklung von Bergsons Auffassung der Subjektivität – vor allem im Blick auf die Gesellschaft und auf die physische Welt – wirkt sich besonders auch auf die Auffassung der Freiheit in Les deux sources aus: Sie schränkt deren reine Aktivität und Koinzidenz mit dem Subjekt ein und nähert sich damit wieder der Metaphysik Simmels. Tatsächlich weist das moralische Handeln der Mystiker einige bemerkenswerte Unterschiede gegenüber dem reinen Akt des Essai auf. Erstens ist der mystische Aktivismus kein reiner Akt, sondern trägt einen Anteil von Passivität in sich: Bergson behauptet nämlich, dass die Mystiker »im Verhältnis zu Gott erleiden, im Verhältnis zu den Menschen aber handeln«. 25 Ihre Persönlichkeit ist nicht die Quelle ihrer Freiheit, denn sie entfalten eine »Seele, die zugleich wirkend und ›gewirkt‹ ist, deren Freiheit mit der göttlichen Aktivität zusammenfällt«. 26 Ihr Handeln entspringt aus dem Kontakt, in den sie mit der schöpferischen Kraft des Lebens getreten und dessen Vermittler sie sind – auf menschlicher und sozialer Ebene, wobei sie den Lebensschwung unendlich fortsetzen. Die Freiheit ist also nicht mehr so sehr die des Subjekts, als vielmehr die des Lebens, dessen Werkzeuge sie sind. Die wahre Mystik besteht ja in dem »Gefühl gewisser Seelen, sie seien die Werkzeuge eines Gottes, der alle Menschen mit gleicher Liebe liebt und von ihnen verlangt, daß sie sich untereinander lieben«. 27 Ihre Freiheit erscheint also eingeschränkt durch den Umstand, Instrumente einer Freiheit zu sein, die über ihren partikularen Leben steht, eine Freiheit, die sie in gewisser Weise »gewirkt« und passiv sein lässt. In dieser grundsätzlichen Neubestimmung der Frage der Freiheit kann man, so scheint es, wieder eine Annäherung Bergsons an die Metaphysik des Lebens des späten Simmel erkennen. Dieser sah, als er das moralische Thema des Willens in Angriff nahm, darin denselben Prozess der SelbstTranszendenz des Lebens, für den der individuelle Wille in Wirklichkeit Ausdruck eines Willens ist, der diesen übersteigt. Im ersten Kapitel der Lebensanschauung vertrat Simmel diese Idee, wobei er auf die Bitte des »Vater unser« zurückgriff – in einer Weise, die auch zum Mystiker von Les deux sources passen könnte: »In dem Leben als 25 26 27

DS, S. 246; dt. S. 230. Ebd. Ebd., S. 332; dt. S. 311.

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Willen hat dies einen extremen Ausdruck in dem Gebet gefunden: Herr, dein Wille geschehe und nicht der meinige«. 28 Das Spiel von Aktivität und Passivität in der individuellen Freiheit in Les deux sources hat seine Auswirkungen auch auf der Ebene der Geschichte, die eng damit verknüpft ist. In der Frage nach dem Sinn des geschichtlichen Werdens war Bergson von einem antideterministischen Bedürfnis ausgegangen. Darauf hatte er bereits in den Vorlesungen über Spirituality and liberty insistiert, die im Februar 1913 an der Columbia University gehalten wurden: There are impossibilities in history, of course, and the acute politician does not tilt against them, but there is a vast field of possibilities open to the choice of free will of the statesman. And he cannot merely choose from many possibilities, he can create new ones. Thus the point of view of free will in the development of nations is truer than that of determinism or necessity. 29

Wenige Monate später, am 28. Mai 1913, postulierte Bergson erneut die Irreduzibilität des geschichtlichen Werdens auf die Kausalgesetze, die für die Naturwissenschaften typisch sind, im Vortrag »Fantômes de vivants« et »recherche psychique«. 30 Im letzten Kapitel von Les deux sources ändert Bergson seine Position und findet hingegen in der geschichtlichen Entwicklung eine Regelmäßigkeit, die der eines biologischen Gesetzes gleicht. In der Tat wechseln in der Geschichte die geistige und die materielle Entwicklung der Menschheit einander ab wie Ebbe und Flut. Sie stoßen bis in ihr Extrem vor, ehe sie der anderen Tendenz den Vortritt lassen, die nun ihrerseits bis zum äußersten Punkt gebracht wird, und so weiter, gemäß einem »Gesetz der Dichotomie«. 31 Das biologische Gesetz der Dichotomie, das die Entwicklung der Natur regelt, wird also zum Modell genommen, um das geschichtliche Werden zu beschreiben. Bergson erläutert, dass der Begriff »Gesetz« kein Zugeständnis an den Determinismus oder an G. Simmel, Lebensanschauung, a. a. O., S. 233. M, S. 983. »Natürlich gibt es in der Geschichte Unmöglichkeiten, und der hellsichtige Politiker wird nicht dagegen ankämpfen – aber es gibt ein weites Feld von Möglichkeiten, das der Wahl oder dem freien Willen des Staatsmannes offensteht. Und er kann nicht nur aus vielen Möglichkeiten wählen, sondern er kann neue schaffen. Daher ist der Standpunkt des freien Willens in der Entwicklung der Nationen wahrer als der des Determinismus oder der Notwendigkeit.« 30 »Fantômes de vivants« et »recherche psychique« (1913), in ES, S. 65 ff.; dt. S. 55 ff.; vgl. unten, Kap. 3. 31 DS, S. 316; dt. S. 296. 28 29

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den Finalismus ist, und auch keinerlei historischen Fatalismus impliziert, sondern einfach eine »hinreichende Regelmäßigkeit« 32 in den Tatsachen feststellt. Indem er im geschichtlichen Werden eine dichotomische Regelmäßigkeit anerkennt, versieht Bergson schließlich den Bereich der Freiheit doch mit einem Rest an Bedingtheit. Bergsons Metaphysik der reinen Positivität des Lebensschwungs zeigt so mehr als eine Spur von Revision im Sinne der Beschränkung und der Mittelbarkeit. Das bedeutet keine absolute Neuerung, denn bereits in L’évolution créatrice hatte Bergson die Endlichkeit des élan vital behauptet: Derart also erscheint das gesamte tierische und vegetabilische Leben seinem Wesen nach als Anstrengung, Energie anzuhäufen, und diese dann in biegsame, umformbare Kanäle ausfließen zu lassen, an deren Endpunkt sie unendlich mannigfache Leistungen vollbringt. Dies ist es, was die Lebensschwungkraft beim Durchwalten der Materie auf einen Wurf durchsetzen möchte. Und sicher, es würde ihr gelingen, wenn ihre Kraft unbegrenzt wäre, oder wenn ihr irgend Hilfe von außen kommen könnte. Jedoch die Schwungkraft ist endlich, sie ist ein für allemal gegeben. Sie kann nicht alle Hindernisse besiegen. Die von ihr eingeflößte Bewegung wird bald abgekrümmt, bald zerteilt, immer aber behindert, und die Entwicklung der organischen Welt ist nichts als das Abrollen dieses Kampfes. 33

Die Wirklichkeit lässt sich also nicht auf die Fülle eines einzigen Prinzips zurückführen, sondern sie ist immer nur gegeben in der Aufspaltung in zwei Tendenzen, mit deren Kampf sich das Werden der Wirklichkeit abzeichnet. Die Art und Weise, in der das Leben sich durch Hindernisse hindurch befreit, hatte Bergson mit dem Beispiel des Sehens erläutert: Ebd. EC, S. 254 f.; dt. S. 258. Vgl. auch EC, S. 246; dt. S. 250: »In der Tat, alle unsere Analysen zeigen uns das Leben als eine Anstrengung, die geneigte Bahn rückzuerklimmen, die die Materie hinuntersteigt. So lassen sie vor uns die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit eines der Materie entgegengesetzten, eines die Materie durch seine bloße Unterbrechung erschaffenden Prozesses aufleuchten. Gewiß das Leben, das sich an der Oberfläche unseres Planeten entwickelt, ist an die Materie gebunden. Wäre es reines Bewußtsein oder richtiger Überbewußtsein, es wäre reine schöpferische Aktivität. Tatsächlich aber ist es einem Organismus angeschmiedet, der es den allgemeinen Gesetzen der leblosen Materie unterwirft. Doch geht alles so vor sich, als ob das Leben sein Möglichstes täte, sich von diesen Gesetzen zu befreien«. Dem Thema der Endlichkeit des élan widmet sich der Artikel von Antoine Janvier, Le problème de la mort et le statut de l’intelligence dans L’évolution créatrice, in Annales bergsoniennes, a. a. O., Bd. IV, S. 467–482.

32 33

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[S]einem Rechtsanspruch nach ist das Sehen ein Vermögen, das eine Unendlichkeit unserem Blick jetzt unzugänglicher Dinge erreichen würde. Ein solches Sehen aber würde sich nicht in Handlung fortsetzen; es paßte für ein Phantom, nicht für ein Lebewesen. Das Sehen des Lebewesens ist ein mit Wirkung geladenes, ein durch die Gegenstände, auf die das Wesen zu wirken vermag, begrenztes Sehen: ein in Kanäle gelenktes Sehen ist es […]. 34

In seinem Buch über Bergson von 1931 bemerkt Jankélévitch bezüglich der Spannung zwischen Leben und Materie in der Organisation des Auges zwei verschiedene theoretische Richtungen: Einerseits zeigt sich in der Tat die reine Positivität des Lebens: »Das Tier sieht trotz seiner Augen, anstatt mit ihnen«. 35 Die Materialität dient also dem Leben nicht – die Endlichkeit, die die Körperlichkeit ihm verleiht, ist ihm nicht angeboren: »Das Leben braucht keinen Körper – im Gegenteil, es würde gern allein sein und geradewegs auf sein Ziel zulaufen, ohne dabei Berge durchbohren zu müssen«. 36 Gleichzeitig erkennt Jankélévitch in der Idee des Sehens – als einer Funktion, die sich durch Hindernisse hindurch verwirklicht, auf die sie in der Materie stößt – eine Art negativer Positivität von beschränkter Unendlichkeit. So ist der Körper ein »notwendiges Übel, […] ein Notbehelf, den das Leben hinnehmen musste«. 37 Körper und Materialität stellen sich dem élan vital entgegen, aber »dieses radikale Außen ist gar nicht absolut anti-spirituell. Es hilft dem Lebensschwung, sich seiner selbst bewusst zu werden; es macht, dass das Leben ›für sich‹ ist, und nicht nur ›an sich‹«. 38 Indem er diese Intuition ausbaut, erkennt Jankélévitch in der zweiten Auflage von Henri Bergson 1959 im Auge »das dialektische Zusammentreffen und das Paradox des Organs-alsHindernis«. 39 Die Simmel’sche Bedeutung dieser Definition stellt er in der Abhandlung La mort von 1977 heraus: Im allgemeinen ist das Organon-Obstaculum vor allem ein betroffenes und kompliziertes Organ: so ist das Gehirn das organische Hindernis des DenEC, S. 94 f.; dt. S. 99. V. Jankélévitch, Bergson, a. a. O., 1931, S. 235; 1959, S. 167. 36 Ebd., S. 237; 1959, S. 168. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 239 f.; 1959, S. 169. 39 A. a. O., S. 168. Diese Interpretation von Jankélévitch sollte Merleau-Ponty wiederaufnehmen im Bergson-Teil seiner Vorlesung La Nature, Seuil, Paris 1995; S. 78–102; dt. Die Natur: Aufzeichnungen von Vorlesungen am Collège de France 1956–1960, hg. von Dominique Séglard, Wilhelm Fink, München 2000, S. 81–108. 34 35

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kens, das Auge das organische Hindernis des Sehens und die Sprache das organische Hindernis des Sinns; Georg Simmel beschrieb in der Tragödie der Kultur eine ähnlich dialektische Ambivalenz: wenn der Geist sich ausdrücken will, braucht er Zeichen, diese aber leugnen und behindern ihn, obwohl sie ihm dienen; kraft welcher eigenartigen Laune des Schicksals kann sich der Sinn nur unter Hemmungen ausdrücken? Das aber ist, was man die Kunst des »Stils« nennt… 40

Wie im Fall der Organe, so besteht auch bei der Sprache das Kunststück des Lebens darin, sich der materiellen Hindernisse zu bemächtigen, um eine Schöpfung zu verwirklichen. Auch im Falle des von der Intelligenz hergestellten Werkzeugs (»ein künstliches, den natürlichen Organismus verlängerndes Organ« 41) sah Bergson bereits in L’évolution créatrice die Verwirklichung des paradoxen Unterfangens, bei dem es darum geht, »eine Mechanik herzustellen, die über den Mechanismus triumphiere; darum also, den Determinismus der Natur zu benützen, um zwischen den Maschen des Netzes hindurchzuschlüpfen, das dieser Determinismus selbst gespannt hat«. 42 Ähnlich wird die Funktion der Mechanik in Les deux sources bestimmt. Das moderne industrielle Produktionssystem stellt in der Tat eine Art riesige Prothese des Körpers der Menschheit dar, die ihn so weit ausdehnt, dass diese erdrückt wird. Der durch die technischen Instrumente vergrößerte Körper offenbart nicht mehr nur die befreiende Macht, die sich aus der Organisation der Materie ergeben hat, wie noch in L’évolution créatrice 43 deutlich wurde, sondern auch das Risiko, dass die Maschinen den Menschen unterjochen, der sie hergestellt hat: »Die Menschheit seufzt, halb erdrückt, unter der Last der Fortschritte, die sie gemacht hat«. 44 Jetzt versteht man, warum »der vergrößerte Körper auch ein Mehr an Seele erwartet« 45, und, so wie die Mystik nach der Mechanik ruft, auch »die Mechanik eine Mystik

V. Jankélévitch, La mort, a. a. O., S. 98; dt. a. a. O., S. 124 f. EC, S. 264; dt. S. 268. 42 EC, S. 264; dt. S. 268. 43 Man denke vor allem an die Begeisterung für die Dampfmaschine in EC, S. 139 und 185 f.; dt. S. 143 und 189. Für eine genauere Untersuchung der befreienden Rolle der Technik in EC verweise ich auf mein Buch Bergson, la tecnica, la guerra, a. a. O., S. 29–54, sowie auf meinen Aufsatz La machine dans la philosophie de Bergson, in S. Abiko – A. François – C. Riquier (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2013, Bd. VI: Bergson, le Japon, la catastrophe, S. 275–296. 44 DS, S. 338; dt. S. 317. 45 Ebd., S. 331; dt. S. 310. 40 41

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erfordern würde«. 46 Der gegenseitige Aufruf der beiden Richtungen der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit bedeutet, dass Mechanik und Mystik nicht zwei entgegengesetzte Richtungen sind – dem Leben und der Materie entsprechend –, sondern zwei alternierende Momente eines einzigen Prozesses. Der Ursprung von Mechanik und Mystik ist nämlich ein gemeinsamer, ebenso wie ihre Richtung: Die Ursprünge dieser Mechanik sind vielleicht mystischer als man glaubt; sie wird ihre wahre Richtung nur dann wiederfinden und ihrer Macht entsprechende Dienste nur dann leisten, wenn die Menschheit, die sie noch mehr zur Erde niedergedrückt hat, durch sie dazu gelangt, sich wieder aufzurichten und den Himmel zu sehen. 47

Eine der von Bergson empfohlenen Methoden, um der Menschheit zu ermöglichen, sich von den materiellen Zwängen zu befreien und ihr Bewusstsein zu erheben, besteht in der Tat nicht in einem bloßen Rückgriff auf die mystische Intuition und im Verzicht auf die Maschinen, sondern vielmehr darin, »daß das einfache Werkzeug seinen Platz an ein ungeheures System von Maschinen abträte, das imstande wäre, die menschliche Aktivität zu befreien, wobei diese Befreiung durch eine politische und soziale Organisation gefestigt würde, die dem Maschinentum seine wahre Bestimmung garantierte«. 48 Die Konsequenzen dieser Deutung des zeitgenössischen Industrialismus betreffen auch die Zukunft der Wirtschaft, der Bergson im letzten Kapitel von Les deux sources einige Überlegungen widmet. Obwohl er im Rahmen einer fortschrittlichen Geschichtsphilosophie und einer Philosophie des Lebens bleibt, die in jeder seiner Äußerungen – auch der sozialen und ökonomischen – ein Moment des Wachstums sieht, postuliert Bergson ein entschiedenes Bedürfnis nach Genügsamkeit und einer »Rückkehr zur Einfachheit« 49 in einer Gesellschaft, die immer mehr vom Luxus und von der frenetischen Suche nach Komfort in Aufregung gehalten wird. Die Beschränkung des Ressourcenverbrauchs, die Bergson vor allem durch demographische Kontrolle für realisierbar hält, hat höchste politische Bedeutung für den Erhalt des Friedens: »Der letzte Krieg, samt denen, die man für die Zukunft voraussieht, wenn wir unglücklicherweise noch Kriege 46 47 48 49

Ebd. Ebd. Ebd., S. 249; dt. S. 233. Ebd., S. 319; dt. S. 300.

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haben sollten, ist mit dem industriellen Charakter unserer Zivilisation verknüpft«. 50 Vor allem wegen der industriellen Raserei und des extremen Konsumniveaus der heutigen westlichen Gesellschaft, zusammen mit dem ständigen Bevölkerungswachstum, reicht der Vorrat an materiellen Ressourcen nicht mehr aus. So werden die Staaten dazu gedrängt, sich zu bekriegen, um sich mit Gütern zu versorgen, die nicht nur der Befriedigung primärer Bedürfnisse, sondern auch von Gelüsten nach überflüssigem Luxus dienen. Die Hauptursachen des Krieges sind somit »Vermehrung der Bevölkerung, Verlust von Absatzmärkten, Mangel an Kohle und Rohstoffen«. 51 Einer vernünftigeren demographischen und Konsum-Entwicklung kommt so eine lebenswichtige Bedeutung für die Menschheit zu, deren Fortschritt nur innerhalb der Grenzen stattfinden kann, die die Natur »unserm widerspenstigen Planeten« 52 auferlegt hat. Um einen uns vertrauten Begriff anachronistisch zu verwenden, könnte man im Bergson’schen Ideal der Genügsamkeit ein Modell nachhaltiger Entwicklung erkennen – alternativ zum Ideal des grenzenlosen Wachstums, von dem sich die aktuelle Wirtschaft vornehmlich leiten lässt. Bereits Cassirer sollte diese Einbeziehung der Grenze in die Moralphilosophie Bergsons 1933 in seiner Besprechung von Les deux sources bemerken. Dort unterscheidet er die Ethik Bergsons von derjenigen Nietzsches, auch wegen ihres Ideals, dem vitalen und materiellen Wachstum eine Grenze zu setzen: In dieser Hinsicht ist es merkwürdig, daß Bergsons Ethik am Schluß fast asketische Töne anschlägt; daß sie keineswegs in einer bloßen Steigerung des bloßen Lebenswillens und der Lebensgüter, sondern in der Beherrschung dieses Willens und in der Begrenzung dieser Güter den eigentlichen Sinn des Lebens sieht. Auch die reine Liebesethik, die Bergson vertritt, auch das Ideal der »dynamischen Religion«, das er verkündet, hat somit die systematischen Grenzen, die seiner Philosophie gezogen sind, nicht durchbrochen. 53

Die ethischen und ökonomischen Forderungen stellen in der Philosophie Bergsons einen der Punkte dar, an denen aufgrund der Endlichkeit des élan vital die Unmöglichkeit besonders deutlich wird, alle Hindernisse der Materie zu überwinden. Trotzdem favorisiert das 50 51 52 53

Ebd., S. 307; dt. S. 288. Ebd., S. 308; dt. S. 289. Ebd., S. 338; dt. S. 317. E. Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, a. a. O., S. 151.

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Schlusswort Bergsons – in L’évolution créatrice wie in Les deux sources – die völlige Resorption jeder Dualität ins Prinzip des Lebens. In diesem Sinn ist das Bild des triumphalen Ritts, mit dem das dritte Kapitel des Werks von 1907 schloss, vielsagend: Alle Lebewesen tragen einander, alle überwältigt der gleiche furchtbare Drang. Das Tier nimmt seinen Stützpunkt auf der Pflanze, der Mensch schwingt sich auf die Tierheit, und die gesamte Menschheit in Raum und Zeit wird zum ungeheueren, neben jedem von uns hingaloppierenden Heere; vor uns und hinter uns in hinreißendem Vorstoß, fähig alle Hindernisse zu überreiten, und die größten Widerstände zu überwinden – vielleicht selbst den Tod. 54

Der Dualismus von Materie und Bewusstsein, Aktivität und Passivität, Freiheit und Bedingtheit, wird also von einem völlig positiven Leben eingehüllt, das sogar den Tod besiegen kann, dessen theoretische Notwendigkeit und dessen Unüberwindlichkeit hingegen sowohl von Simmel als auch von Jankélévitch behauptet wird. Im Übrigen betont Bergson die Überwindung des Todes noch einmal in Les deux sources, wo der Glaube an das Überleben der Seele nach dem Tod, dessen experimentelle Bestätigung er für »möglich« und sogar »wahrscheinlich« 55 hielt, der Menschheit die nötige Energie einflößen könnte, um die von der Natur 56 aufgestellten Hindernisse zu besiegen – kurz, um dem Rückfall in die Tierheit zu widerstehen und um nach dem Ideal der göttlichen Menschheit zu streben. Anhand von Überlegungen zur Gesellschaft, zur Freiheit und zur Mechanik kommt Bergson also in Les deux sources dazu, in seiner Philosophie die Immanenz und die Mittelbarkeit zu fokussieren und die Endlichkeit und die Grenze des Lebens einzuräumen. Dieser Aspekt wird allerdings nicht im Sinne des Simmel’schen Relativismus verstanden: Bergson hält nämlich weiterhin die Idee des Nichts für illusorisch und sieht im Leben eine positive Realität, die in der Lage ist, über die Negation und den Tod hinauszugehen. Der »Kampf« 57 zwischen den entgegengesetzten Tendenzen ist nicht als ein Konflikt zu verstehen, der sich nicht beilegen ließe, sondern nur als »der oberflächliche Aspekt von dem, was tatsächlich Fortschritt ist«: 58 der dra54 55 56 57 58

EC, S. 271; dt. S. 275. DS, S. 280; dt. S. 262. Ebd., S. 337 f.; dt. S. 317. Ebd., S. 317; dt. S. 297. Ebd.

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matische Akzent ist in einem positiven Wachstum resorbiert und unterstreicht so die Distanz zum tragischen Ton der Philosophie Simmels. Jankélévitch sollte das nicht entgehen: In der Ausgabe von 1959 von Henri Bergson sieht er in der Vergöttlichung des Menschen, mit der Les deux sources endet, »das Testament einer ›atragischen‹ Philosophie«. 59

V. Jankélévitch, Henri Bergson, a. a. O., S. 248. Jankélévitch bestätigt diese Lesart 1966 bei einer Podiumsdiskussion des »Figaro littéraire«. Gegenüber Jean Wahl und Pierre Trotignon, die ihn an die Seiten über den Tod in DS erinnern, die Instabilität des Lebensschwungs und die letzten Seiten von R, um die Gegenwart des Sinns für das Tragische bei Bergson zu befürworten, bekräftigt Jankélévitch: »Bergson hat keinen Sinn für das Tragische. Bergson hat keine tragische Philosophie. Weder das Nichts noch der Tod scheinen für ihn wahre Probleme zu sein. Es sind Scheinprobleme. Aber dann kann man das Tragische auf einer tieferen Ebene wiederfinden. Doch auf den ersten Blick kommen diejenigen, die das Tragische z. B. bei Unamuno schätzen, bei ihm nicht auf ihre Kosten […]. Ihm zufolge kann man alle Hindernisse besiegen, sogar den Tod«; vgl. V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous, a. a. O. – Auch Enzo Paci teilt in den 1950er Jahren den Standpunkt von Simmel und Jankélévitch, auch wenn er die Philosophie von DS nicht gründlich betrachtet: »Bei Bergson ist der optimistische Ton vorherrschend. Für ihn ist das Leben vor allem freie Schöpfung. Die konkrete Zeit hat die Tendenz, mit der Kreativität eins zu werden, und nicht mit der Unumkehrbarkeit, und folglich mit dem Verschleiß (mit dieser Grenze, die dem Leben innewohnt und die für Simmel der Tod ist). […] Bergson hat nicht bemerkt (Dewey hingegen wird es bemerken), dass jede Schöpfung auch Verschleiß ist, das heißt, dass man in der Konkretheit der Zeit keinen schöpferischen Akt finden kann, der nicht Arbeit erforderte und der keine Energie verbräuchte«; vgl. E. Paci, La filosofia contemporanea, Garzanti, Mailand 1957, S. 139 f. Paci hält vor allem Bergsons Kritik an der Idee des Nichts die Ansicht von Proust und von Merleau-Ponty entgegen: »[W]as ist ursprünglicher im menschlichen Leben, das Bedürfnis, die Forderung, oder das schöpferische Prinzip? Bergson hätte geantwortet: das schöpferische Prinzip. Aber schon Proust hatte bei seinem Versuch, die Bergson’schen Impulse auszuprobieren, das Gegenteil empfunden. […] Für Proust, wie MerleauPonty nur zu gut verstehen wird, ist das Gedächtnis immer an das Vergessen gebunden, und […] Proust hat, in einem gewissen Sinn, Bergson überholt […]«; ebd., S. 143. Der Hinweis auf Merleau-Ponty, den großen Gegner des »Positivismus« Bergsons, betrifft vor allem seine Vorlesung La nature, Paris, Seuil, 1995, S. 78–102; dt. a. a. O., S. 81–108, wo er von Bergson als Vertreter der Metaphysik der vollen Positivität spricht. Ihr setzt er seine eigene Idee des »hohl seins« und einer endlichen Natur entgegen, die das Element der Negation in sich trägt.

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III. Heidelberg

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1. Driesch: élan vital und Neovitalismus

In den ersten Jahren des Jahrhunderts findet die Philosophie Bergsons auch bei Biologen, Philosophen und Theologen an der Universität Heidelberg Beachtung, einem der wichigsten Zentren der neukantianischen Strömung. In diesem akademischen »Mikrokosmos« wird die Debatte über Bergson Teil einer umfassenderen Diskussion über den Naturalismus und über die Unterscheidung von Naturwissenschaft und Philosophie. Der Heidelberger Biologe Hans Driesch schreibt die erste Rezension 1 zu L’évolution créatrice in Deutschland bereits im Oktober 1907, als das Werk noch gar nicht ins Deutsche übersetzt ist. Man muss vorausschicken, dass Driesch selbst eine der wissenschaftlichen Quellen ist, auf denen Bergson in L’évolution créatrice aufbaut, wobei er sich als sehr interessiert an der deutschen wissenschaftlichen Literatur erweist: neben dem Gebiet der Psychologie, die vor allem für die ersten drei Werke wichtig gewesen war, auch an dem der Biologie. In dem Werk von 1907 nimmt Bergson in der Tat auf deutsche Biologen Bezug wie August Weismann 2, der Driesch zu seinen Schülern zählte, Theodor Eimer 3 und Johannes Reinke 4, der von Bergson als einer der charakteristischsten Vertreter des Neovitalismus neben Driesch erwähnt wird. 1 Vgl. Hans Driesch, Bergson. Der biologische Philosoph, »Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre«, II (1908), 1–2, S. 48–55. Die Rezension, datiert auf den 31. Oktober 1907, wird einige Monate später veröffentlicht. 2 August Weismann (1834–1914) streicht aus dem Darwinismus die These von der Vererbung der erworbenen Eigenschaften und erarbeitet die Theorie des Keimplasmas, auf die sich Bergson in EC bezieht, S. 79 ff.; dt. S. 84 ff. 3 Bergson setzt sich mit Theodor Eimer (1843–1898) insbesondere in Sachen Orthogenese auseinander, vgl. EC, S. 73–75; dt. S. 78–80; vgl. das von Arnaud François besorgte kritische Dossier in der PUF-Ausgabe, S. 429–431. 4 Johannes Reinke (1849–1931), Zoologe und Philosoph der Biologie, meint, die Welt sei aus der Tat einer göttlichen, gleichzeitig immanenten und transzendenten Intelligenz hervorgegangen. Vgl. EC, S. 42, Fn.; dt. S. 48.

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In L’évolution créatrice fasst Bergson den originellsten Beitrag von Drieschs Lehre ins Auge, und zwar den Begriff der Entelechie, der von dem Biologen als eine »dynamische Teleologie« beschrieben wird, die die Entwicklung der organischen Formen steuert und von der die »statische« oder »mechanische Teleologie« des Organismus nur ein einfacher Ausfluss ist. 5 Driesch hat sich in der Tat schon früh vom Materialismus seines Lehrers Haeckel distanziert, bei dem er sich 1891 in Jena habilitiert hatte, um sich einem antimechanistischen Vitalismus anzuschließen, der die physiologische Entwicklung der Organismen mit dem autonomen und immateriellen Prinzip der entelechia erklärt. Im Gegensatz zur statischen Zweckbestimmtheit der Maschinen, die die Funktionen ordnet, aber nicht als Ursache wirkt, wird die Entelechie als eine dynamische Ursache verstanden, analog dem aristotelischen Prinzip der Zweckursache. Der Neovitalismus von Driesch eignet sich für untereinander recht verschiedene Interpretationen: So erlaubt es z. B. die Analogie zwischen der entelechia und der aristotelischen Form Jacques Maritain, die Lehre von Driesch als eine Verheißung der Überwindung des Darwin’schen Materialismus zu begrüßen, die sich mit der neuscholastischen Philosophie und sogar mit der Idee der Schöpfung vereinbaren lässt – eine These, die er in einem Artikel aus dem Jahr 1910 vertritt, den er Bergson schickt. 6 In einigen Fällen hingegen sollten die Terminologie und die antimechanistischen Metaphern des Neovitalismus seitens der Nationalsozialisten instrumentalisiert werden, um die organische Einheit des Volks zu behaupten, während Driesch sich immer der Verwendung seiner eigenen wissenschaftlichen Thesen zur Rechtfertigung solcher ideologischer Inhalte widersetzt. Er hält z. B. die militärische Aggression der Nationen für einen den vitalistischen Prinzipien entgegengesetzten Akt. Während Hitlers Aufstieg engagiert sich Driesch politisch, um dem extremen deutschen Etatismus einen pazifistischen Vgl. H. Driesch, Die Physiologie der individuellen organischen Formbildung, »Rivista di scienza«, I (1907), 2, S. 278 f. »Rivista di scienza« ist eine internationale Zeitschrift, die in Bologna bei Zanichelli erscheint, in London bei Williams and Norgate, in Paris bei Alcan und in Leipzig bei Engelmann; 1910 wird sie in »Scientia« umbenannt. Bergson besitzt die deutsche Fassung des Artikels, vgl. BLJD, cote BGN 1607/ VII-BGN-III-11. 6 Vgl. Jacques Maritain, Le néo-vitalisme en Allemagne et le Darwinisme, »Revue de philosophie«, X (1910), 17, Juli–Dezember, S. 417–444, besonders S. 440 f. Der Sonderdruck wird vom Autor am 20. Oktober 1910 an Bergson geschickt, vgl. BLJD, cote BGN 1607/VII-BGN-III-11. 5

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Kosmopolitismus entgegenzustellen, den er auch unterstützt, indem er an den Aktivitäten der Europäischen Liga für die Menschenrechte teilnimmt, die ihren Sitz in Heidelberg hat. Außerdem unterstützt er den Wahlkampf von Paul von Hindenburg, Kandidat der Zentrumskoalition gegen Hitler und die Kommunisten, und spricht auf einer seiner Wahlversammlungen in Leipzig im April 1932. Auch deshalb sollte er als einer der ersten nichtjüdischen Professoren schon im Herbst 1933 der Lehre enthoben werden; 1935 wird ihm auch verboten, Vorträge zu halten. Einer seiner letzten öffentlichen Auftritte findet anlässlich des internationalen Philosophiekongresses in Prag 1934 statt, wo seine Verteidigung des vitalistischen Holismus heftige Reaktionen unter den Wiener logischen Positivisten wie Rudolf Carnap, Moritz Schlick und Hans Reichenbach auslöst, der Driesch des Mystizismus bezichtigt. 7 In L’évolution créatrice gibt Bergson zu, dass die pars destruens des Neovitalismus als Reaktion gegen den Mechanizismus interessant ist, aber er meint, die von Driesch definierte dynamische Finalität müsse genauso wie die traditionellen Formen des Finalismus beurteilt werden. Da der Finalismus den Zweck, nach dem das Leben strebt, schon von Beginn des Lebens an festlegt, wird er von Bergson kritisiert, insofern er die Freiheit ebenso ausschließt wie der dem Mechanizismus eigene Determinismus von Ursache und Wirkung. 8 Bergson kritisiert die von Drieschs Neovitalismus implizierte finalistische Lehre, die tatsächlich auf die entelechia Bezug nimmt, um die Autonomie des Lebens gegenüber der Mechanik und ihre Unableitbarkeit aus Physik und Chemie zu erklären, wie folgt: In der Tat muß im zeitgenössischen Neo-Vitalismus zweierlei unterschieden werden: einerseits die Behauptung, daß der reine Mechanismus nicht ausreiche, eine Behauptung, die dadurch um so größere Autorität gewinnt, daß sie von Gelehrten wie Driesch und Reinke ausgeht; andererseits die Hypothesen, mit denen dieser Vitalismus den Mechanismus überbaut. (»Entelechien« von Driesch, »Dominanten« von Reinke, etc.) Von diesen zwei Elementen ist das erste unleugbar das interessantere. 9 Vgl. Anne Harrington, Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler, Princeton University Press, Princeton 1999, besonders die Paragraphen Revitalizing Life. Umweltlehre and the Vitalist-Mechanist Controversy, S. 48– 54 und Holistic Opposition: The Case of Hans Driesch, S. 188–193. 8 Diese Kritik, die in EC mehrfach vorkommt, wird besonders im ersten Kapitel entwickelt, vgl. EC, S. 27–53; dt. S. 44 ff. 9 EC, S. 42, Fn.; dt. S. 48. Bergson bezieht sich besonders auf die folgenden Werke: 7

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Während er die Rezension der L’évolution créatrice schreibt, betreibt Driesch seine eigenen biologischen Forschungen zwischen der zoologischen Station von Neapel und der Universität Heidelberg, wo damals auch Jakob von Uexküll lehrt. 10 Durch dessen Vermittlung lernt Driesch 1905 auch den jungen baltischen Baron Hermann von Keyserling 11 kennen, mit dem er bis in die 1920er Jahre in Verbindung bleiben sollte. 1924 nimmt Driesch an den Aktivitäten der Schule der Weisheit teil, die Keyserling 1920 in Darmstadt gründet, nach dem Verlust seines Familienbesitzes in Litauen im Gefolge der Russischen Revolution. Als Keyserling 1905 Driesch kennenlernt, hat er soeben seinen Doktortitel erhalten und ist dabei, sich philosophischen Studien zuzuwenden. Das Werk Bergsons interessiert ihn besonders. Bereits 1906 veröffentlicht er das philosophische Werk Das Gefüge der Welt 12, wo er sich auf die Freiheitslehre des Essai beruft, um die Idee der Andersartigkeit des Menschen gegenüber der anorganischen Welt zu verfechten. Zwei Jahre später, in einem Artikel in der bayerischen »Allgemeinen Zeitung«, präsentiert er den Bergsonismus als eine vielversprechende Form der Überwindung der kantischen Philosophie. 13 Zur selben Zeit gibt auch Driesch seine naturwissenschaftlichen Forschungen und Experimente auf, um sich immer mehr phi-

»Siehe die vorzüglichen Studien von Driesch: Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge, Leipz. 1899; Die organischen Regulationen, Leipz. 1901; Naturbegriffe und Natururteile, Leipz. 1904; Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipz. 1905, und von Reinke: Die Welt als That, Berlin 1899; Einleitung in die theoretische Biologie, Berlin 1901; Philosophie der Botanik, Leipz. 1905«. S. auch das von A. François besorgte kritische Dossier der PUF-Ausgabe, S. 415 f. und den Aufsatz von A. François, La réception de Bergson en Allemagne: la vie et la conscience, in Shin Abiko – Hisashi Fujita – Naoki Sugiyama (Hg.), Disséminations de L’évolution créatrice de Bergson, Olms, Hildesheim 2012, S. 151–169. 10 Jakob von Uexküll (1864–1944) studierte von 1884 bis 1888 Zoologie an der Universität Dorpat (heute Tartu) in Estland; von 1889 bis 1925 ist er in Heidelberg ansässig, wo er promoviert wird und Physiologie lehrt, bevor er an die Universität Hamburg übersiedelt. 11 In seiner Autobiographie erinnert sich Driesch an die Begegnung mit Keyserling: »Wir kannten den Grafen seit 1905, als er noch ein sehr junger Mann war; er hatte in Mineralogie seinen Doktor gemacht. Bei Baron Uexküll, dem großen Physiologen, den ich zum erstenmal schon 1891 in Neapel getroffen hatte und der damals in Heidelberg, nicht weit von uns wohnte, lernten wir ihn kennen«, vgl. H. Driesch, Lebenserinnerungen, Reinhardt, München –Basel 1951, S. 205 f. 12 H. von Keyserling, Das Gefüge der Welt. Versuch einer kritischen Philosophie, F. Bruckmann, München 1906. 13 Vgl. ders., Bergson, »Allgemeine Zeitung«, 28. November 1908.

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Driesch: élan vital und Neovitalismus

losophisch auszurichten; 1911 habilitiert er sich bei Windelband in Philosophie. Auch in seinem Fall scheint Bergson eine wichtige Rolle zu spielen beim Übergang von der Naturwissenschaft zur Philosophie, wie die Gifford Lectures bezeugen, die 1907 an der Universität Aberdeen gehalten und im Anschluss unter dem Titel Philosophie des Organischen 14 veröffentlicht wurden. Hier beruft er sich auf die Philosophie des Essai und von Matière et mémoire, um für die Inkommensurabilität der menschlichen Freiheit mit den Gesetzen der Mechanik einzutreten. Am 31. Oktober 1907, dem Datum, an dem Driesch seine lange Besprechung von L’évolution créatrice fertigstellt, kann er noch behaupten, dass Bergson »außerhalb Frankreichs kaum bekannt« 15 sei. Bergsons Name kursiert nur unter einigen Psychologen und in den engeren Kreisen von Eucken und Simmel – und noch keines seiner Werke ist ins Deutsche übersetzt. Driesch selber stützt sich auf die französische Ausgabe von L’évolution créatrice und zitiert den Text im Original, wobei er sich mit Bedacht dafür entscheidet, den »unübersetzbaren« élan vital nicht zu übersetzen und daher nicht auf den Ausdruck Lebenskraft zurückgreift, der dem neovitalistischen Vokabular zugehörig ist. Auch die Übersetzung von Gertrud Kantorowicz von 1912 unterscheidet den élan vital von der Lebenskraft und greift zu dem Neologismus Lebensschwungkraft, um nicht zwei Begriffe übereinanderzulegen, die sich nur zum Teil übereinanderlegen lassen. Drieschs Artikel wird in der »Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre« unter dem vielsagenden Titel Henri Bergson: der biologische Philosoph veröffentlicht. Denn Bergsons Werk wird unter der Perspektive der Lebenswissenschaften gelesen und ein Großteil seiner Thesen, die Driesch teilt, wird ins Feld geführt, um die Kritik am Mechanizismus zu untermauern. Bergsons Erklärung des Lebens wird als Alternative zu der von Chemie und Physik gesehen, vor allem wegen seiner Beschreibung des élan im Ausgang von einer psychologischen Analogie, und wegen seiner Vorliebe für die innere Dimension der Erfahrung, die von der durée bestimmt wird. Driesch beschreibt sie als »Zeit als Erlebnis«. 16 Auf diese Weise hebt Driesch H. Driesch, Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908, 2 Bde., W. Engelmann, Leipzig 1909. Der Text wurde von M. Kollmann ins Französische übersetzt und von Jacques Maritain herausgegeben, La philosophie de l’organisme, Marcel Rivière, Paris 1921. 15 H. Driesch, Henri Bergson: der biologische Philosoph, a. a. O., S. 48. 16 Ebd., S. 49. 14

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bei Bergson Elemente hervor, die mit der Lehre des Begründers des Neovitalismus Gustav P. A. Bunge verwandt sind. Bunge behauptete die Unableitbarkeit des Verhaltens der Lebewesen aus physikalischchemischen Formeln und hoffte, die von der Beobachtung der eigenen Innerlichkeit abgeleiteten Erklärungen würden auch dort akzeptiert, wo es nicht nur um den Menschen ging, d. h. für alle biologischen Erscheinungen. Anstatt die innere Welt mit mechanischen Modellen zu beschreiben, wollte der von Bunge vertretene Neovitalismus den umgekehrten Weg einschlagen, analog zum Bergson der ersten Werke und von L’évolution créatrice. Hierbei wies Bunge der Zeit eine fundamentale Bedeutung zu, wie er in einem Essay von 1886, den Bergson auch besaß, hervorhob: »Alle übrigen Sinnesempfindungen, alle Gefühle, Affecte, Triebe und eine unabsehbare Reihe von Vorstellungen sind niemals räumlich, sondern immer zeitlich geordnet«. 17 In Drieschs Rezension wird Bergsons Kritik am radikalen Zweckdenken, die auf Driesch selbst gerichtet sein soll, abgeschwächt und als eine Kritik an dem gedeutet, was in Drieschs Begriffen als statische Finalität definiert wird, und also nicht an der dynamischen Finalität, für die die entelechia steht: »Wir schalten hier ein, daß Bergson in seinem Begriffe des ›finalisme radical‹ offenbar an etwas denkt, was in meiner Terminologie als ›statische Teleologie des Universums‹ zu bezeichnen wäre. Auch ich würde dieses ablehnen oder wenigstens nur eingeschränkt anerkennen«. 18 Tatsächlich ist der élan vital weder als eine Anpassung an zufällige Bedingungen zu verstehen noch als die Ausführung eines Plans. Dennoch sieht Driesch in der Philosophie Bergsons das ein oder andere Zugeständnis an den Finalismus: etwa im Fall der Anspielung auf den »sur-homme« 19 – ein Ausdruck, der diesmal treffsicher mit dem nietzscheanischen »Übermensch« 20 übersetzt wird. Die Behauptung in L’évolution créatrice »Alles geht vor sich, als ob ein unbestimmtes und wallendes Wesen, mag man es nun Mensch oder Übermensch nennen, nach Verwirklichung getrachtet […] hätte« 21 wird von Driesch vor allem als die Annahme eines Prinzips der Zweck17 Gustav P. A. Bunge (1844–1920), Vitalismus und Mechanismus, F. C. W. Vogel, Leipzig 1886, S. 4 f., vgl. BLJD, cote VII-BGN-III-62/BGN 1658. 18 H. Driesch, Bergson: der biologische Philosoph, a. a. O., S. 50. 19 EC, S. 267; dt. S. 270 (»Übermensch«). 20 Vgl. H. Driesch, Bergson: der biologische Philosoph, a. a. O., S. 54. 21 EC, S. 266 f.; dt. S. 270. – Für das »wallende Wesen« (être vague) schreibt die neue Übersetzung von EC besser »ein unbestimmtes und verschwommenes Wesen«, Henri

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Driesch: élan vital und Neovitalismus

gerichtetheit verstanden, die in der unbegrenzten Ausweitung der Freiheit bestehen soll. Driesch schickt Bergson ein Exemplar der Rezension sowie den Artikel Die Physiologie der individuellen organischen Formbildung 22 und erhält als Antwort einen Brief von Bergson, der ihm für den »allzu wohlwollenden« Bericht über das eigene Werk dankt: [I]n meinen Augen besitzt er einen ganz besonderen Wert, da er von einem Biologen-Philosophen stammt, für den ich seit jeher die tiefste Bewunderung hege. […] Ihre Arbeiten sind, früher oder später, dazu bestimmt, der Biologie eine neue Richtung aufzuprägen. Sie haben bereits viel getan, um den groben Mechanizismus abzuwehren, / um eine wohldurchdachte Philosophie an die Stelle einer unbewussten (und folglich inkonsistenten) Metaphysik zu setzen, die einen Großteil unseres Evolutionismus unterwandert. 23

Auch in diesem Fall zieht es Bergson also vor, auf dem Antimechanizismus zu bestehen, der ihn mit Driesch verbindet, statt auf ihrer Meinungsverschiedenheit in Sachen Finalismus. Die Nähe der beiden Autoren ist nämlich oft durch die Gemeinsamkeit desselben Gegners motiviert, sei es nun der Mechanizismus oder die pragmatistische Auffassung der Wahrheit. 24

Bergson, Schöpferische Evolution, übers. von Margarethe Drewsen, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013, S. 302. 22 H. Driesch, Die Physiologie der individuellen organischen Formbildung, a. a. O. 23 Entwurf des Briefes von Bergson an Driesch, ohne Datum, C, S. 159. Die Herausgeber von C haben aufgrund der Tatsache, dass er sich zwischen den Seiten des Artikels Die Physiologie der individuellen organischen Formbildung fand, vorgeschlagen, den Brief auf Februar 1907 zu datieren. Die Rezension von EC, auf die Bergson sich bezieht, wurde aber erst 1908 veröffentlicht. Man muss daher den Brief mindestens auf dieses Jahr datieren und sehr wahrscheinlich vor den 5. Mai 1909, das Datum des Briefes von Bergson an Giovanni Papini, in dem er den »allzu schmeichelhaften« Artikel von Driesch erwähnt, vgl. C, S. 262. 24 Ein Bericht vom internationalen Philosophiekongress in Heidelberg 1909 nennt Driesch und Bergson neben Mach und Ostwald als alternative Antwort auf die fragwürdige pragmatistische Wahrheitsauffassung, vgl. G. (Gerschon) Seliber, Der Pragmatismus und seine Gegner auf dem III. Internationalen Kongress für Philosophie, »Archiv für systematische Philosophie«, XVI (1909), S. 287–298. Während Bergson an dem Kongress in Heidelberg nicht teilnimmt, meldet sich H. Driesch zu Wort mit Über den Begriff der Natur, in Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie, Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung, Heidelberg 1909, S. 512–524.

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2. Bergson in der Debatte über den Historismus

2.1. Natur und Geschichte bei Driesch Eine zweite Phase des Dialogs zwischen Driesch und Bergson, viel weniger bekannt, aber viel bedeutsamer für den Reifungsprozess der Philosophie von Les deux sources, ereignet sich anlässlich ihrer Begegnung in Bologna 1911. Beide begeben sich dorthin, um am IV. Internationalen Philosophiekongress teilzunehmen. Dank der Vermittlung von Keyserling treffen sie sich am Nachmittag des 10. April außerhalb des Tagungsorts, im Hotel Pellegrino, wo sie untergebracht waren. 1 Wie Driesch sich in seiner Autobiographie erinnert: Auf diesem Kongress lernte ich Bergson kennen und hatte eine lange Unterredung mit ihm. In vielen Dingen waren wir ja gleicher Ansicht, wenn ich auch seinem »Indeterminismus« reserviert gegenüberstand. Besonders interessant war mir seine Stellung zur menschlichen Geschichte, über die er sich in seinen Werken nicht geäußert hat. Da sei alles Zufall; historisch bedeutsames Geschehen hänge von einer unbedeutenden Kleinigkeit ab; von einem »élan vital« und seinen Äußerungen, wie er ja nach Bergson der Phylogenie zu Grunde liegt, sei auf diesem Boden gar keine Rede. Ich hatte das nicht erwartet […]. 2

Das zweite Gesprächsthema der beiden, nach dem Finalismus in der Biologie, ist also die Geschichtsphilosophie, zu der Driesch Bergson befragt. Er wundert sich dabei über die Tatsache, dass dieser die Geschichte weder zur Phylogenese, noch zum élan vital parallel setzt, sondern sie einfach für eine indeterministische Abfolge von Zufällen hält. Bergson betont die Heterogenität zwischen den historischen Erscheinungen und den natürlichen Erscheinungen, die Gesetzmäßigkeiten unterliegen, in einem Beitrag anlässlich der Übernahme des 1 2

Vgl. den Brief von Bergson an Keyserling, 7. April 1911, C, S. 408. H. Driesch, Lebenserinnerungen, a. a. O., S. 146.

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Bergson in der Debatte über den Historismus

Vorsitzes der Society for Psychical Research in London (Driesch sollte 1926 zu ihrem Vorsitzenden ernannt werden 3). Es handelt sich um den Vortrag »Phantômes de vivants« et »recherche psychique«, der im darauffolgenden Jahr in der deutschen »Zeitschrift für Pathopsychologie« 4 auf Französisch erscheint. Nachdem er die Analogie von psychischen Erscheinungen und natürlichen Erscheinungen herausgestellt hat, insofern beide Gesetzmäßigkeiten unterstehen, scheidet Bergson diese Arten von Tatsachen von den historischen und äußert sich zum ersten Mal zum Thema der Geschichte: Die Geschichte wiederholt sich nicht; die Schlacht bei Austerlitz ist einmal geschlagen worden und wird nie wieder geschlagen werden. Da sich die gleichen historischen Bedingungen nicht wiederholen können, kann das gleiche historische Ereignis nicht noch einmal eintreten; und da ein Gesetz notwendigerweise zum Ausdruck bringt, daß gewissen Ursachen, sofern es die gleichen sind, auch immer die gleiche Wirkung entspricht, so geht die eigentliche Geschichtswissenschaft nicht auf Gesetze aus, sondern auf einzelne Tatsachen und auf die ebenso einzigartigen Umstände, unter denen sie sich vollzogen haben. Es handelt sich hier um die Frage, ob das Ereignis an dem und dem bestimmten Punkte des Raums wirklich stattgefunden hat und wie es vor sich gegangen ist. 5 In den Jahren nach dem Verlust seines Lehrstuhls widmet sich Driesch weiterhin der Parapsychologie, wobei er diese Disziplin als eine Form des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus und gegen den Militarismus versteht, vgl. A. Harrington, Reenchanted Science: Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler, a. a. O., S. 191–193. 4 H. Bergson, Science psychique et Science physique, »Zeitschrift für Pathopsychologie«, II (1914), 4, S. 569–587. Dem Artikel wird eine vorsichtige Anmerkung vorausgeschickt: »Da die Wissenschaft die ›Telepathie‹ als einen ihrer eigentümlichen Forschungsgegenstände betrachtet, setzen wir hier die Skrupel her, die Bergson selbst gegen die Veröffentlichung dieses Artikels in dieser Zeitschrift hatte. In einem Brief an den Herausgeber schreibt er: ›außer denjenigen, die diese ›Proceedings‹ und dieses ›Journal‹ seit dreißig Jahren im Lauf ihrer Veröffentlichung verfolgt haben, wird wohl niemand den Mut besessen haben, diese 30 oder 35 Bände aufmerksam zu lesen, die randvoll mit Fakten sind. Daher wäre meine Rede fehl am Platz; – vor allem wird sie keinen Anschluss an das Denken des Lesers finden und wird einfach den Eindruck einer Zusammenstellung willkürlicher Behauptungen machen‹«, vgl. ebd., S. 569. Gemeint sind die Protokolle der Society und das »Journal of the Society for Psychical Research«, das seit 1884 erscheint. 5 »Phantômes de vivants« et »recherche psychique« (1913), in ES, S. 64; dt. S. 57 f. Im kritischen Dossier des Essays, das Stéphane Madelrieux und Ghislain Waterlot besorgt haben, wird der Unterschied dieser These gegenüber derjenigen von DS bemerkt: Worin die beiden Thesen voneinander abweichen, ist nicht nur die unterschiedliche Beziehung zwischen Geschichte und Naturgesetzen, sondern die unterschiedliche Rolle, die dem einzelnen geschichtlichen Ereignis zugeschrieben wird. 3

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Bergson bestätigt also in diesem Vortrag die Leugnung historischer Gesetze und ihrer Verankerung im Leben – eine These, die er Driesch gegenüber bereits anlässlich des Treffens in Bologna zum Ausdruck gebracht hatte. Weitere Hinweise, um nachzuvollziehen, auf welche Punkte sich die Diskussion der beiden Philosophen im Jahr 1911 konzentriert, liefert Drieschs Artikel Geschichte, Philosophie, Wissenschaft 6 von 1909. Dass dieser in Bergsons Bibliothek vorliegt, lässt vermuten, dass er vom Autor zur Vorbereitung ihres Treffens in Bologna oder im Anschluss daran übersandt wurde. In dem Aufsatz erkennt Driesch die Verbindung von Geschichte und Natur an und postuliert, »daß Geschichtsbetrieb eine gewissermaßen ontologische Bedeutung haben wolle, daß er mehr als bloße Chronik sei«. 7 Nur wenn man die beiden Ebenen der Geschichte und der Natur zueinander in Beziehung setze, könne man hingegen, so Driesch, die Bedeutung der Geschichte im vollen Sinn zur Darstellung bringen. Eine Vertiefung der Idee des Werdens in der von Bergson gezeigten Richtung liefe nach Driesch in der Tat darauf hinaus, die Geschichte in den Rahmen einer ontologischen Reflexion einzufügen. Driesch beruft sich also auf Bergson, um die eigene Position zu verteidigen: »Im Verfolg dieser Gedanken könnten wir der Philosophie Henri Bergsons, des großen französischen Denkers, nahe kommen; doch wir brechen hier ab und sagen nur, daß unseres Erachtens eine weitere Vertiefung in den Begriff des Werdens uns jedenfalls auch nicht zur ›Geschichte‹ im Sinne Rickerts führen würde«. 8 Im Licht von Drieschs Versuch, die noch nicht ausformulierte Geschichtsphilosophie Bergsons zu antizipieren, wird klar, warum er überrascht und enttäuscht reagiert, als er erfährt, Die Herausgeber spielen auf die französischen geschichtswissenschaftlichen Schulen an – die der Ereignisgeschichte von Charles Seignobos und die der Annales, die sich zur Zeit der Abfassung von DS durchgesetzt hatte. 6 H. Driesch, Geschichte, Philosophie, Wissenschaft, »Süddeutsche Monatshefte«, VI (1909), Juni, S. 722–733, vgl. BLJD, cote BGN 1643/VII-BGN-III-47. Die darin vorgetragenen Thesen werden bereits in einem Artikel aus dem Jahr 1908 vorweggenommen: H. Driesch, Das Problem der Geschichte, »Annalen der Naturphilosophie«, VII (1908), S. 204–228. 7 H. Driesch, Geschichte, Philosophie, Wissenschaft, a. a. O., S. 722. 8 Ebd., S. 727. Rickerts Ideen zur Geschichte finden ihren Niederschlag besonders in dem Essay Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Freiburg 1896–1902 sowie in Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft: ein Vortrag, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Freiburg 1899.

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Bergson in der Debatte über den Historismus

dass Bergson keinerlei Verbindung zwischen Geschichte und élan vital erkennt. Driesch sieht hingegen die Geschichte als eine Form von Wissenschaft der Evolution, beinah als eine Naturwissenschaft. 9 Aus diesem Grund erklärt er sich gegen die Trennung der Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften. Seiner Meinung nach führt diese Spaltung am Ende zur Verarmung des geschichtlichen Denkens – wie es der Fall ist bei den neukantianischen Philosophen der Südwestdeutschen Schule, von denen einige seine Kollegen an der Universität Heidelberg sind: »In vielen Ländern, bei uns in Südwestdeutschland, hat man die ›philosophische‹ Fakultät gespalten. Aber wie hat man das gemacht? Man hat die reine Philosophie zusammengestellt mit Philologie, Geschichte und Nationalökonomie und die Mathematik und Naturwissenschaft hat man – höflich gesprochen – abgesondert«. 10 Auch Driesch beruft sich auf Bergson als Vertreter antikantischer Positionen innerhalb einer lokalen Debatte wie jener der Universitätsreform in Deutschland; in diesem Fall besonders, um die Opposition gegen Rickert zu stärken, einen der Hauptvertreter des Neukantianismus in Heidelberg. Driesch ist nicht der Einzige, der sich im Zusammenhang mit der deutschen Debatte über die Geschichte auf die Theorien von Bergson bezieht, auch wenn seine eigene Position eine der wenigen ist, von denen Bergson Kenntnis erhält. Denn nach Driesch nähern sich auch Windelband, Rickert und Troeltsch sowie einige ihrer jüngeren Schüler der Philosophie Bergsons an und holen sich bei ihr Auskunft zum Problem des Historismus.

2.2. Das Vorwort zu Materie und Gedächtnis von Windelband In einer Atmosphäre, in der die Neigung besteht, Bergson als den Antipoden Kants zu identifizieren, kann die Tatsache überraschen, dass sein erstes in Deutschland übersetztes Werk mit einer Einführung von einem Neukantianer wie Wilhelm Windelband versehen ist. 11 In der Tat ist es seltsam, dass Diederichs die Aufgabe, Bergson Vgl. H. Driesch, Geschichte, Philosophie, Wissenschaft, a. a. O., S. 727. H. Driesch, Das Problem der Geschichte, a. a. O., S. 226. 11 Wilhelm Windelband (1848–1915), Zur Einführung, in Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist, Diederichs, Jena 1908, S. III–XIV. 9

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vorzustellen, einem Philosophen überträgt, der aus einer Schule kommt, die den ihm am nächsten stehenden Denkströmungen fremd ist, wie eben ein Neukantianer. Die Anomalie, die die Wahl Windelbands als »Taufpaten« darstellt, zeigt sich auch in der Tatsache, dass Diederichs dessen Einführung bereits ab der zweiten Auflage von Materie und Gedächtnis im Jahr 1919 weglässt. Die Übersetzung des Werks ist im Übrigen schon seit 1907 fertig und ausgerechnet wegen der verspäteten Abgabe von Windelbands Text kann sie erst 1908 veröffentlicht werden. Wahrscheinlich war zunächst Max Scheler damit beauftragt worden, das Vorwort zu schreiben, wenn man seinem Bericht in der 1920 in Köln über Bergson gehaltenen Vorlesung Glauben schenkt: »Später erschien deutsch auch ›Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit‹, Paris 1896, mit einer Vorrede von Windelband – einer Vorrede, die ich auf Bergsons Wunsch ursprünglich schreiben sollte, aber aus persönlichen Hemmungen zu schreiben unterließ«. 12 Scheler hatte ja um 1906 Jena verlassen müssen, um nach einer Reihe von Skandalen nach München zu gehen. Es ist allerdings schwierig zu beweisen, dass Bergson den Wunsch ausgesprochen haben soll, Materie und Gedächtnis mit einem Vorwort von Scheler zu versehen. 13 Das Vorwort von Windelband ist aller Wahrscheinlichkeit nach zu verstehen als captatio benevolentiae seitens des Organisators des III. Internationalen Philosophiekongresses in Heidelberg gegenüber dem französischen Gast, der mehr als jeder andere zum Glanz des Unternehmens beigetragen hätte. Das Vorwort wird tatsächlich so Die französische Übersetzung En guise d’introduction à Matière et mémoire de Bergson, »Revue philosophique de la France et de l’étranger«, CXXXIII (2008), 2, S. 147– 156 ist versehen mit einem Kommentar von J.-L. Vieillard-Baron, L’événement et le tout: Windelband, lecteur de Bergson, a. a. O., S. 157–171. 12 M. Scheler, Bergson-Heft, BSB Ana 315 CC VII 11 a, Bl. 1. 13 Es kommt übrigens häufig vor, dass Scheler dem eigenen Lebenslauf sehr unwahrscheinliche Details hinzufügt. Ein anderes Beispiel, das wiederum Bergson betrifft, bietet der Brief an Troeltsch vom 6. Juli 1917, wo er um Hilfe bittet, um eine Stelle als Professor zu finden. Bei der Vorstellung seiner Veröffentlichungen behauptet er: »Es wurden Arbeiten von mir ins Russische übersetzt und in Frankreich (besonders durch Bergsons Anregungen), in England und Amerika viel gelesen«. In Wirklichkeit ist es kaum anzunehmen, dass Bergson das Werk Schelers in Frankreich verbreitet haben soll, da er nur sehr wenig Kontakt mit ihm hatte und seine philosophische Arbeit kaum kannte. Der Brief an Troeltsch wird aufbewahrt in der Bayerischen Staatsbibliothek, Ana 315, E, Ernst Troeltsch 1917 (1), Bl. V, verso–VI, recto. Ein Teil des Briefs wird zitiert in der Biographie von W. Mader, Max Scheler, a. a. O., 1980, S. 80.

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rechtzeitig fertig, dass der Band begleitend zu der Veranstaltung erscheinen kann, die in den ersten fünf Septembertagen 1908 stattfindet. Der internationale Philosophiekongress ist allerdings der einzige, an dem Bergson aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen kann, sodass er die Gelegenheit versäumt, Windelband persönlich kennenzulernen und andere Teilnehmer wie Driesch und James zu treffen. 14 Bergson drückt sein Bedauern darüber im Brief an Benrubi vom 6. September 1908 aus, in dem er über die Einführung von Windelband zu Matière et mémoire sehr positiv urteilt: Es gab dort [in Heidelberg] Philosophen, die ich seit Jahren kennenlernen wollte, andere, die ich bereits kannte und die wiederzusehen ich sehr wünschte. Wann werde ich wieder so eine Gelegenheit finden? Ich weiß es nicht, und ich bin untröstlich, diese verpasst zu haben. Wenn Sie einen freien Augenblick haben, schreiben Sie mir, bitte, einen ausführlichen Brief über diesen Kongress. Sicher haben Sie die Einführung von Herrn Windelband zu Matière et mémoire gelesen. Sie ist bewundernswürdig gemacht. Ich habe ihm darüber geschrieben, aber es ist mir nicht gelungen, ihm all das Gute zu sagen, was ich darüber denke. Er hat viele Dinge mit wenigen Worten gesagt. Insbesondere hat er eine bewundernswerte Skizze von der Aufgabe entworfen, die der Philosophie zur jetzigen Stunde bevorsteht. 15

In seiner Einführung präsentiert Windelband die Philosophie Bergsons als französische Antwort auf die Vorherrschaft des Szientismus und des Naturalismus, zu denen in Deutschland hingegen die GeTrotz seiner Abwesenheit steht Bergson im Mittelpunkt einiger Kongressbeiträge, wie dem von Clarisse Coignet, Bergson – La vie, in Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie, a. a. O., S. 358–364. Vgl. auch G. Fitzi, Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 206 f. Der Heidelberger Kongresses findet ein sehr großes Echo in der philosophischen Welt der Zeit, vor allem wegen der dort geführten Debatte über den Pragmatismus, zusammengefasst bei G. Seliber, Der Pragmatismus und seine Gegner auf dem III. Internationalen Kongress für Philosophie, a. a. O. Bergson nimmt auf diese Debatte in einem Brief an James vom 22. September 1908 Bezug, in C, S. 225: »Ich befand mich in einem zu schlechten Zustand, um an dem Heidelberger Kongress teilnehmen zu können. Schon seit Anfang August hätte ich Windelband schreiben müssen, dass es mir unmöglich sein würde, die Arbeit vorzubereiten, die ich dort hätte vortragen sollen. Ich mache leider Phasen durch, während deren jede fortgesetzte Arbeit sehr mühsam für mich ist, und eine solche habe ich gerade hinter mir. Ich besitze noch keine näheren Informationen darüber, was auf dem Kongress vorgegangen ist; ich weiß nur, dass der Kampf zwischen Parteigängern und Gegnern des alten Intellektualismus sehr heiß war. Auf diese Schlacht hätte man gefasst sein müssen: es wird sicher nicht die letzte sein; – aber wir dürfen, was das Ergebnis anlangt, beruhigt sein«. 15 C, S. 222. 14

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schichtswissenschaften als Gegengewicht fungieren. Sodann bemerkt er, dass Bergsons Philosophie der Dauer, die die Idee der Wiederholung des Identischen leugnet, als innersten Kern das »Geschehen« 16 hat. Mit diesem Ausdruck bezieht sich Windelband auf das einzelne und unwiederholbare Ereignis und spielt gleichzeitig auf die Geschichte an, die im Deutschen dieselbe Wurzel hat. Man kann sich kaum vorstellen, dass Bergson, auch wenn er den Text von Windelband liest und schätzt, den Reichtum an Implikationen erfasst, den das Geschehen für den Heidelberger Philosophen birgt. Wahrscheinlicher ist, dass er das Geschehen als événement 17 versteht, ein Begriff, der schon damals für seine eigene Philosophie des Werdens einschlägig ist und der noch keine expliziten geschichtlichen Erweiterungen erfahren hat. Allerdings ist Bergson nicht in Unkenntnis der deutschen Debatte über die Geschichte, mit der er sich mit Sicherheit in der 1911 in Bologna mit Driesch geführten Diskussion auseinandersetzt und in der er sogar Stellung bezieht in dem Vortrag »Phantômes de vivants« et »recherche psychique« von 1913. Hier trennt Bergson die Geschichte von den Naturwissenschaften, insofern die Erstere sich mit der einzelnen Tatsache beschäftigt, während die Letzteren nach der Wiederholbarkeit der Gesetze und der Kausalbeziehung forschen. Eine solche Definition scheint sich wörtlich an eine der zentralen Thesen von Windelband anzuschließen, die er zum ersten Mal in dem berühmten Vortrag Geschichte und Naturwissenschaft von 1894 W. Windelband, Zur Einführung, a. a. O., S. XI. Darauf hat J.-L. Vieillard-Baron hingewiesen: »Gewiss hat Bergson die geschichtliche Konnotation des von Windelband verwendeten Ausdrucks nicht erfasst. Er hat ›werden‹ und ›Dauer‹ in diesen Ausdruck hineingelesen, der eigentlich außerhalb seiner Ausarbeitung durch die Geschichte und die Soziologie kein Begriff ist. […] Wenn er die Wendung ›Metaphysik des Ereignisses‹ liest, versteht Bergson darunter ›Metaphysik dessen, was sich nicht wiederholt, ja sogar des Unwiederholbaren‹«, J.-L. Vieillard-Baron, L’événement et le tout: Windelband, lecteur de Bergson, a. a. O., S. 160. Windelband »verbindet den Ausdruck Geschehen mit dem, was die Besonderheit der ›Geisteswissenschaften‹ ausmacht, die sich auf dasjenige beziehen, was sich nicht wiederholt und wofür, ihm zufolge, das geschichtliche Ereignis das Modell ist. In seiner Lektüre Bergsons verwendet er den Gegensatz (den er von Droysen übernimmt und dem er die höchste Bedeutung beimisst) zwischen den historischen Wissenschaften und den Naturwissenschaften – auf eine Art und Weise, die der These Durkheims völlig entgegengesetzt ist. Für Windelband gibt es die Wissenschaften von ›nomothetischen‹ Gesetzen, die die Erscheinungen kennen, die sich wiederholen; und es gibt die Wissenschaften des einzelnen, des Ereignisses, die er ›idiographisch‹ nennt, oder Wissenschaft dessen, was sich nicht wiederholen kann«, ebd., S. 161.

16 17

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vorstellt. 18 Hier wurde nämlich die Unterscheidung zwischen nomothetischen und idiographischen Wissenschaften bzw. zwischen den Naturwissenschaften und der Geschichte präsentiert, denn: »Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen«. 19

2.3. Bergsons Intuition und Geschichte bei Troeltsch Windelbands Lektüre und Bergsons These über die Geschichte, wie sie zu Beginn der 1910er Jahre zum Ausdruck kommt, stellen einen der Hauptvertreter des deutschen Historismus nicht völlig zufrieden: Ernst Troeltsch, der sich für Bergson im Verlauf seiner eigenen Forschungen über die Geschichte etwa zehn Jahre später interessiert – wir sind inzwischen in der Nachkriegszeit, zu Beginn der 1920er Jahre. Troeltsch lehrt damals Geschichte der christlichen Religion in Berlin, nachdem er 20 Jahre lang – von 1894 bis 1914 – Systematische Theologie in Heidelberg unterrichtet hatte, wo er die Gelegenheit bekommt, die Philosophie von Windelband und Rickert aus der Nähe kennenzulernen und vor allem, sich mit der geschichtswissenschaftlichen Methode von Max Weber auseinanderzusetzen. Im Ausgang von einem ähnlichen Gedanken wie dem Webers über die wechselseitige Beeinflussung von Geschichte der Religionen und Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte entwickelt Troeltsch das Projekt einer neuen Geschichtsphilosophie, die sowohl zur Hegel’schen Dialektik als auch zur Geschichtstheorie und zur Werttheorie der Neukantia18 W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (1894), in Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. II, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1924, S. 136–160. Eine gute Darstellung der Philosophie Windelbands im Kontext der deutschen Debatte über die Geschichte findet man bei Pietro Rossi, Lo storicismo tedesco contemporaneo (1956), Einaudi, Turin 1971, S. 127–183. 19 W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, a. a. O., S. 144. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass Bergson auf dem internationalen Philosophiekongress in Genf 1904 den Vortrag des Schweizer Theologen Adrien Naville über den Begriff des historischen Gesetzes gehört hat. Sehr nah an den Positionen Rickerts, vertrat Naville die Überzeugung, dass die Ausdehnung des Determinismus der Natur auf das Gebiet der Geschichte die menschliche Freiheit leugne und für die Handlung schädlich sei. Der Begriff eines historischen Gesetzes sei widersprüchlich in sich. Vgl. A. Naville, La notion de loi historique, in E. Claparède (Hg.), Congrès international de philosophie, a. a. O., S. 680–685. Die Diskussion mit den Wortmeldungen von Billia, Lalande, Couturat, Peano, Kozlowsky und Boutroux findet sich auf S. 675–687.

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ner Distanz wahrt. Das heißt, die Geschichtsschreibung muss sich die Beiträge einer Soziologie zunutze machen, deren Methode nicht ausschließlich psychologisch-naturalistisch, also nicht auf das Prinzip der Kausalität gegründet ist. Troeltsch ist bestrebt, die Unmittelbarkeit der gelebten Erfahrung mit den kategorialen Formen zu verbinden, die ihr Bedeutung verleihen. Sein Interesse für Bergson ist auf dieses Bedürfnis zurückzuführen, wie bereits ein Brief an von Hügel vom 31. Januar 1920 bezeugt – der erste, den die beiden nach dem Krieg austauschen und in dem Troeltsch auf die wichtige Rolle zu sprechen kommt, die Bergson im Rahmen seiner Überlegungen zum Problem der historischen Entwicklung zu spielen beginnt. 20 In dem Aufsatz Die Revolution in der Wissenschaft von 1921 nimmt Troeltsch dann Bergson als Bezugspunkt, um den Kantischen Transzendentalismus zu reformieren: »Die bloße Apriorität des Formalismus hat ihren Zauber als Rettung von Geist und Leben verloren. Bergson lehrt wieder eine ursprüngliche und unmittelbare Versetzung in die innere Bewegung des Lebens, der Freiheit und des Geistes«. 21 Die intuitive Methode, die Bergson mit dem eigenen empirischen Ansatz verbindet, stellt für Troeltsch ein interessantes erkenntnistheoretisches und epistemologisches Modell dar, das er auch auf das historische Wissen anzuwenden versucht. In einem 1922 in der »Historischen Zeitschrift« 22 veröffentlichten Artikel, der in überarbeiteter Form in das im selben Jahr erschienene Werk Der Historismus und seine Probleme 23 eingeht, befragt Troeltsch also die Philosophie Bergsons zum Thema der Geschichte, wobei ihm bewusst ist: »Ueber Geschichte äußert sich Bergson weE. Troeltsch, Briefe an Friedrich von Hügel 1901–1923, a. a. O., S. 106. E. Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft (1921), a. a. O., S. 656. In dem Aufsatz antwortet Troeltsch auf die Kritik von Erich von Kahler und Arthur Salz, Intellektuelle, die dem George-Kreis nahestehen, anlässlich des Vortrags von Max Weber Wissenschaft als Beruf. Troeltsch ergreift für Weber Partei und stellt heraus, wie die Reaktion Simmels und des George-Kreises sich auf die Philosophie Bergsons in neuromantischer Sicht bezieht, d. h. für Troeltsch: im Dienst einer Revolution gegen die demokratische und sozialistische Revolution steht. 22 E. Troeltsch, Der historische Entwicklungsbegriff in der modernen Geistes- und Lebensphilosophie. III. Phänomenologische Schule, Scheler, Croce, Bergson, »Historische Zeitschrift«, CXXV (1922), 3, S. 377–478. Troeltsch arbeitet mit dieser Zeitschrift, die damals von Meinecke geleitet wird, bereits seit Frühjahr 1900 zusammen. 23 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), in Kritische Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XVI, S. 925–956. 20 21

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nig«. 24 Er stützt dabei seine eigenen Analysen auf Bergsons Überlegungen zur Geschichte der Philosophie in dem Vortrag von Bologna und auf dessen Hinweis auf die Schlacht von Austerlitz in »Phantômes de vivants« et »recherche psychique«. 25 Abermals unterstreicht Troeltsch, dass die Theorie der Intuition eine gute Methode liefert, um den Apriorismus Kantischer Prägung zu überwinden: »Es gibt also keine Logik und kein formales Apriori, sondern nur eine Metaphysik und Selbstanschauung der historischen Entwicklung, soweit eine solche aus dem Gewimmel der Tatsachen überhaupt heraustritt«. 26 Die Methode der Intuition kann also brauchbar sein, um nicht nur die Biologie und die Psychologie, sondern auch die Geschichte von der intellektuellen und subjektiven Logik zu befreien, wenn sie sich nur »zu dem Trieb und Gesetz des Werdens und der Bewegung« 27 hinwendet. Nur dann könnte sie aus dem symbolischen Feld und der subjektbezogenen Formung ausscheren, um zur Selbstanschauung des Lebens zu gelangen. Außerdem weist Troeltsch darauf hin, dass Bergson im Vergleich zu Rickert, Windelband und Simmel einen größeren Austausch zwischen dem Werden und seiner Symbolisierung zulässt: Das erlaubt Troeltsch, sich bei Bergson Schützenhilfe zu holen für eine Geschichtsphilosophie, die aufs Engste mit der empirischen Geschichtsschreibung verknüpft ist. Der Historiker müsste also mit einer Art Genie ausgestattet sein, um eine solche Intuition zu entwickeln, die er wiederum durch die der wissenschaftlichen Logik – deren Strenge freilich die Geschichtswissenschaft nie erreichen wird – eigene Formulierung, Symbolisierung und Abkürzung anpassen müsste: »Daher auch die Unmöglichkeit einer strikten wissenA. a. O., S. 946–947, Fn. H. Bergson, L’intuition philosophique (1911), in PM, S. 111 f.; dt. S. 126 f. sowie »Phantômes de vivants« et »recherche psychique« (1913), in ES, S. 64; dt. S. 57 f. Troeltsch nimmt darauf jeweils Bezug, vgl. a. a. O., S. 944 und 947, Fn. Diese Arbeit ist nicht der Ort, um den Einfluss Bergsons auf das Denken Troeltschs zu veranschlagen. Es möge der Hinweis genügen, dass in einer der ersten französischen Besprechungen von Troeltschs Werk von 1922 Jean R. de Salis unterstreicht, dass dieser »seinem großen, nur wenige Jahre älteren französischen Kollegen [Bergson] seinen Begriff der historischen Entwicklung verdankt«, und: »Die Analyse des Bergson’schen Denkens, die wir im dritten Kapitel seines Buches finden, und ihre Anwendung auf die Logik der Geschichte gehören zu den lebendigsten Seiten von Troeltschs Werk«. Vgl. J. R. de Salis, La théorie de l’histoire selon Ernst Troeltsch, »Revue de synthèse historique«, XLIII (1927), 17, Juni, S. 12. 26 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, a. a. O., Bd. II, S. 950. 27 Ebd., S. 949. 24 25

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schaftlichen Entscheidung über die Richtigkeit eines solchen historischen Gedankenbaus, der näher beim Absoluten anlangt als die Physik, aber weniger geschlossene Voraussetzungen und darum Richtigkeitskriterien hat als diese«. 28 Nach Troeltsch könnte sich also Bergsons Methode der Intuition für die historische Erkenntnis eignen und dazu beitragen, diese Disziplin von der naturwissenschaftlichen Methodologie zu befreien. Die epistemologische Analogie zwischen Psychologie, Biologie und Geschichte, die sich in der Philosophie Bergsons findet, kann nach Troeltsch die Voraussetzung darstellen für eine ontologische Analogie zwischen der durée, der Evolution und der Zeit der Geschichte. Auf diese Weise versucht er, die Grundlagen von Bergsons Philosophie der Dauer weiterzuentwickeln, um in der Richtung, die er selbst für fruchtbarer hält, über den Ansatz von Windelband hinauszugehen, d. h. hin zu einer Überwindung des Transzendentalismus der Werte, die für Windelband und Rickert die Geschichte regieren. Troeltsch beschreibt die Bergson’sche Zeit als »einen Fluß, an dem nichts abgegrenzt und vereinzelt ist, sondern alles ineinander übergeht, Vergangenes und Zukünftiges gleichzeitig ineinandersteckt, jede Gegenwart zugleich Vergangenheit und Zukunft in produktiver Weise in sich trägt und eine Messung überhaupt nicht möglich ist, sondern nur Zäsuren, die mehr oder minder willkürlich nach Sinnzusammenhängen und großen Sinnwandlungen eingelegt werden.« 29 Nach Troeltsch lässt sich alles Werden in Analogie zur durée denken und somit lassen sich die Geschichte und die Wissenschaften von der Evolution der Natur auf eine einzige und absolute schöpferische Bewegung zurückführen. Obwohl Troeltsch in Bergsons Ausführungen über die Schlacht von Austerlitz ganz und gar eine »idiographische Methode« 30 am Werk zu sehen glaubte, analog zu der von Windelband erwogenen, erkennt er schließlich bei Bergson eine Distanzierung von der idiographischen Methode, da seine Logik der Kontinuität es erlaubt, die Einheit der metaphysischen Struktur von Natur und Geschichte zu denken. Die Logik der Kontinuität und des Lebens nämlich »lässt sich […] ausweiten zunächst über die Geschichte, dann über das organische Leben überhaupt und schließlich lässt sie sich sogar der räumlichen Materie selbst als deren letzter, 28 29 30

Ebd., S. 950. Ebd., Bd. I, S. 230. Ebd., Bd. II, S. 947, Fn.

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verdünnter und zerfaserter Gehalt unterbreiten«. 31 Für Bergson unterliegt auch die Logik der Geschichte dem Werden und der schöpferischen Entwicklung und unterscheidet sich so vom neukantischen Ansatz südwestdeutscher Prägung: »Die Unparallelität von Logik der Natur und Logik der Geschichte ist auch der stärkste Unterschied Bergsons von der Rickert-Windelbandschen Theorie. Sie entspringt aber erst da, wo die Entwicklungsidee in der Historik in den Vordergrund tritt«. 32 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Driesch Troeltsch, seinem früheren Heidelberger Kollegen, über das 1911 mit Bergson in Bologna geführte Gespräch berichtet hatte, welches Troeltsch in seinen eigenen Überlegungen nun vor Augen hat. 33 Bergson hatte damals behauptet, jede Ähnlichkeit zwischen historischen und natürlichen Gesetzen auszuschließen, wobei er dem Zufall eine große Bedeutung zuschrieb. Troeltsch jedoch betrachtet die Philosophie Bergsons, wie bereits Driesch in seinen Aufsätzen von 1909, hinsichtlich ihrer zentralen Intuition, nämlich der Dauer, und meint, sein Denken der Geschichte müsse sich bruchlos seinem Denken der Evolution und der durée einfügen sowohl vom erkenntnistheoretischen als auch vom ontologischen Standpunkt aus.

2.4. Das Gesetz der Dichotomie in Les deux sources Die Interpretationen der Philosophie Bergsons, die von einigen der bedeutendsten Stimmen aus der deutschen Debatte über den Historismus stammen, nehmen die Entwicklungen von Bergsons Stellungnahme zur Geschichte von den 1920er Jahren bis zu Les deux sources vorweg. Obwohl Bergson wahrscheinlich diese Deutungen nicht in ihrer Gänze kennt, zeigt die Art und Weise, wie er das Thema der Geschichte angeht, wie sehr er um die Begriffe weiß, die ihn im zeitgenössischen deutschen Kontext definieren. Es scheint tatsächlich so, dass seine indirekte Teilnahme an der Debatte über den Historismus für ihn einen Anreiz darstellt, seine eigene Position zu präzisie-

Ebd., S. 946. Ebd., S. 951, Fn. 33 Ebd., S. 947, Fn.: »Die oben betonte Bedeutung des Religiösen und des Zufalls geht auf ein Gespräch mit ihm zurück, von dem mir Hans Driesch berichtet hat, und stimmt jedenfalls zum Ganzen.« 31 32

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ren und sie im Laufe der 1910er und 1920er Jahre von Grund auf neu zu definieren. Die Homogenität von Logik des Lebens und Logik des menschlichen Handelns, die Troeltsch in der Philosophie Bergsons erkannt und die auch Driesch schon seit 1909 vorweggenommen hatte, bewahrheitet sich zum Teil in Les deux sources, wo die in L’évolution créatrice ausgearbeitete Theorie der Evolution auf das Feld der Geschichte ausgedehnt wird. Im vierten Kapitel des 1932 erschienenen Werks fragt Bergson nach den Gründen für das frenetische Tempo der industriellen Entwicklung seiner Zeit und ordnet diese Erscheinung einer janusköpfigen Tendenz zu, die für den Gang der Geschichte charakteristisch ist. In der Tat ist es in der Geschichte so, dass die spirituelle und die materielle Entwicklung der Menschheit einander ablösen, und jede dieser Tendenzen hat das Bedürfnis, bis zu ihrem äußersten Punkt zu gelangen, bevor wieder die andere zu ihrem Recht kommt und ihrerseits zu ihrem äußersten Punkt gebracht wird und so weiter. Die materialistische Hektik, die Bergson in der Gesellschaft der 1930er Jahre am Werk sieht, wird also als der Gipfel einer der beiden Entwicklungsrichtungen der Menschheit gedeutet, in deren Gefolge es zu einer Wiederaufnahme ihrer spirituellen und moralischen Entwicklung kommen wird. Das geschichtliche Werden folgt für Bergson einem dichotomischen Verlauf, der sein Modell nach dem biologischen Gesetz formt, das die Evolution der Natur regelt: »Es gibt kein unentrinnbares historisches Gesetz. Aber es gibt biologische Gesetze; und die menschlichen Gesellschaften, insofern als sie in gewissem Umfang von der Natur gewollt sind, unterstehen in diesem besonderen Punkt der Biologie«. 34 Die Einheit von menschlicher Geschichte und Naturgeschichte verwirklicht sich so in Les deux sources in der Formulierung dessen, was Bergson das »Gesetz der Dichotomie« 35 nennt. Bergson ist aber vorsichtig genug, um klarzustellen, dass der Rückgriff auf den Ausdruck »Gesetz« kein Zugeständnis an den Determinismus oder an den Finalismus ist und auch keinen geschichtlichen Fatalismus impliziert. Er beschränkt sich darauf, im DS, S. 313; dt. S. 293. S. außerdem DS, S. 317; dt. S. 297: »Und gerade, wenn sie die Natur nachahmt, wenn sie sich dem ursprünglichen Antrieb überläßt, gerade dann nimmt der Gang der Menschheit eine gewisse Regelmäßigkeit an und unterwirft sich, übrigens nur sehr unvollkommen, solchen Gesetzen, wie wir selbst eben ausgesprochen haben.« 35 DS, S. 316; dt. S. 296. Der Gang dieses »Gesetzes« wird dargestellt auf S. 311–317; dt. S. 294–300. 34

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Werden der menschlichen Gesellschaften eine unvollkommene Regelmäßigkeit anzuerkennen: »Wir wollen das Wort ›Gesetz‹ nicht für ein Gebiet der Freiheit mißbrauchen, aber wir wollen diesen bequemen Ausdruck benutzen, wenn wir großen Tatsachen gegenüberstehen, die eine hinreichende Regelmäßigkeit bieten«. 36 Eine analoge These wurde von Driesch in einem Artikel aus dem Jahr 1908 vorgebracht, in dem er die Meinung vertrat, die Entwicklungsprozesse der Zivilisation in den verschiedenen Völkern seien vergleichbar mit den Entwicklungsprozessen der geologischen oder biologischen Erscheinungen: »Jede Zivilisation hat sozusagen ihr ›Mittelalter‹ und so weiter. Alles dieses sind freilich keine eigentlichen ›Gesetze‹, sondern vielmehr ›Regeln‹ für besondere Ausnahmefälle: Revolutionen haben solche Sonderregeln, und was Imperialismus genannt wird, hat deren auch«. 37 Für Driesch sind die von der Geschichte befolgten »Regeln« analog zu denen der natürlichen Welt, entsprechend dem, was Bergson seinerseits in Les deux sources vertreten wird. Sowohl für Driesch als auch für den Bergson des Jahres 1932 hat die Geschichte also eine tiefe Verbindung mit dem Werden der Natur. Für beide besteht die Verbindung zwischen Geschichte und Natur nicht in der Ausweitung des deterministischen Kausalitätsprinzips auf die Ebene der Geschichte, denn sie bestreiten die Gültigkeit dieses Prinzips sogar auf der Ebene der Natur. Die Anerkennung der Regelhaftigkeit auf der natürlichen und auf der geschichtlichen Ebene bei beiden Autoren lässt sich folglich nicht auf eine naturalistische Position zurückführen – in dem Sinne, den dieser Ausdruck im 19. Jahrhundert hat. Indem er den evolutiven Charakter der Geschichte und ihren Bezug auf das Gesetz der Dichotomie anerkennt, beschreibt Bergson nicht ein Oszillieren oder eine immerwährende automatische Wiederholung desselben Ablaufs, sondern vielmehr eine Spiralbewegung, die nicht in ihre eigenen Fußstapfen zurückkehren kann. Wenn sich für Driesch der Abstand zum mechanistischen Modell der Naturwissenschaften nach der Einführung des Prinzips der entelechia bemisst, lehnt Bergson hingegen auch den Finalismus radikal ab. In der Tat ist er immer sehr darauf bedacht klarzustellen, dass die Evolution des Lebens, ebenso wie die Geschichte, keinem vorherbestimmten Ziel folgt. Die Freiheit drückt sich auf 36 37

DS, S. 316; dt. S. 296. H. Driesch, Das Problem der Geschichte, a. a. O., S. 210.

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diese Weise in einer Kreativität ohne vorgängige Festlegung oder Zweckbestimmtheit aus. In diesem Zusammenhang signalisiert die Anerkennung einer Regelmäßigkeit im Gesetz der Dichotomie von Natur und Geschichte eine wichtige Aktualisierung in Bergsons Philosophie: Denn die Idee der Freiheit, so wie sie im Essai präsentiert wurde, erfährt eine Korrektur in eine weniger absolute Richtung, wobei ihre Grenze betont und ein Element von Passivität in sie eingeführt wird, das es in den ersten Werken nicht gab. Sogar der Ablehnung der Finalität scheint widersprochen zu werden durch Bergsons wiederholte Anspielung auf eine Richtung, in die die Evolution des Lebens, die Mechanik, die Mystik, die Öffnung der Gesellschaften sich orientieren. In der Beschreibung der menschlichen Gesellschaften und in der Unterscheidung der Religionen behauptet Bergson ja die Überlegenheit und das mächtigere Voranschreiten des universalistischen Ideals, das sowohl von den offenen Gesellschaften als auch von der dynamischen Religion zum Ausdruck gebracht wird. Unter diesem Gesichtspunkt kann man auch die Vorliebe Bergsons in Les deux sources für das Christentum gegenüber den anderen Religionen verstehen: Die Vollständigkeit der christlichen Mystik liegt nicht nur im Tatendrang, der ihre Mystiker auszeichnet, sondern auch in der Tatsache, dass ihre Botschaft sich idealerweise an die ganze Menschheit richtet. Außer dem karitativen Aspekt ist in der Tat auch der »katholische« bzw. universale Charakter des Christentums derjenige Aspekt, der am meisten mit der offenen Moral übereinstimmt, die in den ersten beiden Kapiteln beschrieben wird. Aus diesem Grund hält er das Christentum für eine »vollständigere« Religion als das Judentum: »[E]ine Religion, die noch wesentlich national war, wurde durch eine Religion ersetzt, die fähig war, universal zu werden.« 38 Im historischen Gesetz der Dichotomie lässt sich nicht nur eine Regelmäßigkeit erkennen, die derjenigen der Naturgesetze vergleichbar ist, sondern auch ein Restbestand von Zielgerichtetheit, der die Geschichte der Gesellschaften in die Richtung einer Öffnung und eines universalen Friedens zu orientieren scheint. Allerdings stellt dies kein Ziel dar, das fähig wäre, das geschichtliche Werden deterministisch festzulegen: Auf den letzten Seiten von Les deux sources ist ja auch ständig der Schatten der Katastrophe präsent, falls es der Menschheit nicht gelingt, aus der industriellen Raserei der ersten 38

DS S. 254; dt. S. 238.

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Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auszuscheren. Wenn sich die materielle Entwicklung nicht am Frieden, sondern am Krieg und an der Abschottung orientiert, wird der scheinbare Fortschritt destruktive Folgen für die Menschheit selbst zeitigen. Bergson bezieht sich insbesondere auf die neuen militärischen Mittel: Nur schlägt man sich jetzt mit den von unserer Zivilisation geschmiedeten Waffen, und die Gemetzel sind von einer Gräßlichkeit, die sich die Alten nicht einmal hätten vorstellen können. Bei dem Tempo, in dem die Technik marschiert, ist der Tag nicht fern, wo einer der Gegner, der eine geheime Erfindung in Reserve hat, die Möglichkeit haben wird, den andern zu vernichten. Es wird dann vielleicht von den Besiegten keine Spur mehr zurückbleiben. 39

Die Richtung der Geschichte und ihre Regelmäßigkeiten, die vom Gesetz der Dichotomie ausgedrückt werden, lassen sich also nicht auf eine Zweckbestimmung wie die von Drieschs entelechia angenommene zurückführen. Bergson hält sie weiterhin für einen Sonderfall von Determinismus. Was es erlaubt, Bergson an Driesch anzunähern, ist vielmehr der zentrale Stellenwert des Lebens, der bereits in L’évolution créatrice herausgearbeitet und in Les deux sources bestätigt wurde. Was die Trennung von Naturwissenschaften und Geschichte angeht, die er 1913 vertreten hat, schlägt Bergson 1932 in der Tat eine These vor, die derjenigen Drieschs näher kommt, wobei er sich von dem deutlicheren und traditionelleren Dualismus von Welt der Natur und Welt der Geschichte entfernt, von dem er in dem Vortrag »Phantômes de vivants« von 1913 ausgegangen war. In Les deux sources verfolgt Bergson eher die in L’évolution créatrice herausgearbeitete Richtung weiter, wobei er seine eigenen Überlegungen zur Gesellschaft, zur Religion, zur Moral und zur Geschichte auf die Lehre des élan vital aufbaut. Auch wenn er ausgesprochen menschliche Themen behandelt, beschränkt sich Bergson nicht darauf, die Freiheit oder den spirituellen Pol der Erfahrung und seine Rückführung auf das metaphysische Prinzip des Lebens zu betrachten, sondern er widmet auch dem strikt biologischen Leben viele Überlegungen, das für ihn sowohl die Gesellschaften als auch ihr geDS S. 305; dt. S. 286. Am Ende von DS beschreibt Bergson dann die Situation der Menschheit, wie sie vom Gewicht des eigenen mechanischen Fortschritts erdrückt wird: »Die Menschheit seufzt, halb erdrückt, unter der Last der Fortschritte, die sie gemacht hat. Sie weiß nicht genügend, daß ihre Zukunft von ihr selbst abhängt. Es ist an ihr, zunächst zu entscheiden, ob sie weiterleben will«, DS, S. 338; dt. S. 317.

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schichtliches Werden bedingt. Wie bereits in L’évolution créatrice ist der Zwiespalt zwischen dem, was menschlich, und dem, was natürlich ist, auch in Les deux sources nicht entschieden und deutlich. Der Sprung, mit dem sich die menschliche Gattung von der Tierheit entfernt, verhindert ja nicht, dass das soziale Leben auf moralischem Druck und auf »natürlichen Tendenzen« 40 aufbaut, deren Funktionieren ähnlich ist wie »jenes, das die Ameisen eines Ameisenhaufens miteinander vereint oder die Zellen eines Organismus.« 41 Ebenso wird das geschichtliche Werden der menschlichen Gesellschaften von einem Gesetz biologischer Prägung geregelt, das somit auf einen Begriff von Biologie verweist, der viel weiter ist als derjenige, auf den sich die kantische Philosophie und ihre deutschen Vertreter zur Zeit Bergsons beziehen. Andererseits soll sich auch für Driesch die Theorie der Natur nicht von der Philosophie trennen, sondern vielmehr ein Teil von ihr sein: »Die reine Denklehre entwickelt sich an der Hand einer vollständigen Naturlehre – das Wort ›Natur‹ im weitest möglichen Sinn verstanden«. 42 Auf diese Weise gab Driesch zu erkennen, dass er eine Idee von Naturalismus hatte, die sich von derjenigen unterschied, wie sie in verächtlichem Sinn von den Neokritizisten aufgefasst wurde. Seine Vision des Verhältnisses von Lebenswissenschaften und Philosophie kommt eher derjenigen nahe, die Bergson in L’évolution créatrice vertreten hatte, wo Erkenntnis- (und Bewusstseins-)Theorie und Theorie des Lebens aufs Engste miteinander verbunden sind. 43 Bergson vertieft diese Idee in Les deux sources, wenn er sagt, er wolle »dem Wort Biologie den sehr weiten Sinn geben, den es haben sollte«. 44 Hier behauptet Bergson in der Tat nicht nur, dass das geschichtliche Werden eine Regelmäßigkeit hat, die sich nicht auf die biologische zurückführen lässt, sondern sogar: »[A]lle Ethik, ob Druck oder Aufstreben, ist biologischer Natur«. 45 Auch Driesch erlaubte sich einen sehr großzügigen Gebrauch des Begriffs Natur, wobei er die Meinung vertrat, diese hätte eine starke Verbindung mit der Moral:

DS, S. 54; dt. S. 52. DS, S. 84; dt. S. 79. 42 H. Driesch, Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaft, a. a. O., S. 732. 43 Das heißt, dass »Erkenntnistheorie und Lebenstheorie sich als voneinander untrennbar erweisen.« EC, S. IX; dt. S. 7. 44 DS, S. 103; dt. S. 98. 45 Ebd. 40 41

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Bergson in der Debatte über den Historismus

»Unter solchem Gesichtspunkt gehört natürlich Moralität zur ›Natur‹ und ist ihr nicht, wie oft von Philosophen behauptet wird, entgegengesetzt«. 46 Unter polemischer Abgrenzung zur neukantianischen These von der Heterogenität zwischen der Welt der Natur und der Welt der Moral und der Geschichte behauptete Driesch, dass sich sogar die amoralischen Phasen wie der Krieg oder die Revolution durch die Entwicklungsbedürfnisse der Moral selbst erklären ließen. 47 Freilich muss man die Positionen der beiden Philosophen auch wieder unterscheiden, denn es wäre grob vereinfachend und irrig, die Biologie im »sehr weiten Sinn« von Bergson zur »›Natur‹ im weitest möglichen Sinn«, auf die Driesch die Geschichte und die Moral zurückführen wollte, zu verflachen. Für den Bergson von Les deux sources entspricht die Natur nämlich nur einem Teilsinn des Lebens, und zwar dem naturwissenschaftlichen. Das wird besonders deutlich im ersten Kapitel, in dem Bergson die sozialen Gewohnheiten und Verpflichtungen nach Art von Naturgesetzen beschreibt: »Übrigens gleichen die Gesetze, die sie [die Gesellschaft] erlässt und die die soziale Ordnung aufrechterhalten, in gewisser Hinsicht den Naturgesetzen.« 48 Sofort präzisiert Bergson diese Behauptung, indem er den kantischen Einwand vorwegnimmt: In den Augen des Philosophen ist der Unterschied allerdings grundlegend. Das konstatierende Gesetz, sagt er, ist etwas anderes, als das befehlende. Diesem kann man sich entziehen; es nötigt, aber es zwingt nicht. […] – Zweifellos; aber für die große Mehrzahl der Menschen ist der Unterschied bei weitem nicht so klar. Naturgesetze, soziales oder moralisches Gesetz – jedes Gesetz ist für sie ein Befehl. Es gibt eine gewisse Ordnung der Natur, die sich in Gesetzen ausdrückt, und die Tatsachen »gehorchen« diesen Gesetzen, um sich der Ordnung anzupassen. Selbst der Gelehrte kann sich nur mühsam der Auffassung entziehen, daß das Gesetz die Tatsachen »leite« und ihnen somit vorangehe ähnlich der platonischen Idee, nach der sich die Dinge zu richten hatten. […] Aber so wie das Naturgesetz, sofern es eine gewisse Allgemeinheit erreicht, für unsere Auffassung die Form des Befehls annimmt, so stellt sich uns auch umgekehrt ein Imperativ, der sich an alle Welt wendet, einigermaßen wie ein Naturgesetz dar. 49

H. Driesch, Das Problem der Geschichte, a. a. O., S. 217, Fn. Driesch bezieht sich auf den zweiten Band seiner Philosophie des Organischen. 47 H. Driesch, Das Problem der Geschichte, a. a. O., S. 218. 48 DS, S. 4 f.; dt. S. 6. 49 Ebd. 46

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Die moralischen und sozialen Gesetze und die Naturgesetze haben also für Bergson eine ähnliche Wirkungsweise, sie treten gleichzeitig als befehlend und als unentrinnbar auf. Die Analogie zwischen geschlossenen Gesellschaften und natürlicher Welt wird außerdem von einer Reihe biologischer Ähnlichkeiten nahegelegt: [D]ie Glieder des Gemeinwesens verhalten sich zueinander wie die Zellen eines Organismus. Die Gewohnheit, der Verstand und Phantasie zu Hilfe kommen, richtet unter ihnen eine Disziplin auf, und bei der Solidarität, die sie unter sonst geschiedenen Individualitäten herstellt, ahmt diese Disziplin einigermaßen die Einheit von verbundenen Zellen nach. 50

An anderer Stelle rekurriert Bergson auf Parallelen zwischen der Macht der Gewohnheit in den menschlichen Gesellschaften und dem Instinkt, der die Bienenvölker zusammenhält: Der Typus Gesellschaft, der als der natürlichere erscheinen wird, ist offenbar der instinktive Typus: das Band, das ein Bienenvolk vereint, gleicht in viel höherem Maße dem Band, das die einander gleich- und untergeordneten Zellen eines Organismus zusammenhält. Nehmen wir einen Augenblick an, die Natur habe am Ende der anderen Linie solche Gesellschaften erzielen wollen, in denen der individuellen Entscheidung ein gewisser Spielraum gelassen wäre: dann hat sie es so eingerichtet, daß die Intelligenz hier Resultate erzielt, die im andern Fall der Instinkt erzielt; sie hat dann nämlich auf die Gewohnheit zurückgegriffen. 51

Während in den tierischen Gesellschaften alle Regeln von der Natur auferlegt sind, ist in den menschlichen Gesellschaften »nur eins natürlich […]: die Notwendigkeit einer Regel«. 52 Die Gewohnheit und die soziale Verpflichtung nehmen also für Bergson eine natürliche Rolle ein, derjenigen vergleichbar, die der Instinkt in der Gesellschaft der Hautflügler spielt. Die Natur prädisponiert den Menschen allerdings für eine geschlossene Gesellschaftsform: Die geschlossene Gesellschaft ist die, deren Mitglieder untereinander bleiben, gleichgültig gegen die übrigen Menschen, immer bereit anzugreifen oder sich zu verteidigen, kurz, auf eine kämpferische Haltung beschränkt. Derart ist die menschliche Gesellschaft, wie sie aus den Händen der Natur hervorgeht. Der einzelne Mensch ist nur für sie da, wie die Ameise für den Ameisenhaufen. 53 50 51 52 53

DS, S. 6; dt. S. 8. DS, S. 21; dt. S. 21. DS, S. 22; dt. S. 23. DS, S. 283; dt. S. 265.

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Bergson in der Debatte über den Historismus

Die Natur entspricht für Bergson einem der beiden Pole des Lebens, bzw. seinem naturwissenschaftlichen Sinn, der vor allem auf das Überleben der Art abzielt. Auf ihn bezieht sich eine der Tendenzen des sozialen Lebens, aber er ist nicht imstande, den Diskurs über die Moral und die Religion restlos zu erschöpfen. Denn ein offener und dynamischer Sinn des Lebens erlaubt es, auf den élan vital zu verweisen, das metaphysische Prinzip des Lebens selbst, und gestattet es, eine zweite Art von Gesellschaft, von Moral und Religion auf einem nicht nur natürlichen, sondern sogar biologischen Prinzip aufzubauen, wobei das Wort Biologie verstanden wird in dem »sehr weiten Sinn […], den es haben sollte«. 54

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3. Rickert: Die Kritik am Biologismus der Lebensphilosophie

Vor der Veröffentlichung von Les deux sources überwiegen bei den deutschen Lesern Interpretationen, die den Bergsonismus als naturalistisch kritisieren. Sie richten sich nicht nur gegen seine Geschichtsphilosophie, sondern auch gegen seine Moralphilosophie. Einer der bezeichnendsten Fälle ist Heinrich Rickerts Essay Lebenswerte und Kulturwerte, 1911 in der Zeitschrift »Logos« erschienen und 1920 erweitert zum bekannteren Pamphlet Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. 1 Wenn der Autor im ersten Essay Bergson nur flüchtig streift 2, indem er sich auf den Artikel bezieht, den Richard Kroner nur wenige Monate zuvor in derselben Zeitschrift veröffentlicht hatte, wird das Werk des französischen Philosophen in dem Buch aus dem Jahr 1920 eingehender behandelt. Hier möchte Rickert die Strömung kritisieren, die zu seiner Zeit so sehr in Mode ist, und die Notwendigkeit einer anderen Lebensphilosophie behaupten, »deren Lösung aber mehr als eine Philosophie des bloßen Lebens geben müßte«. 3 Die historischen Wurzeln, die die systemfeindliche Tendenz der zeitgenössischen Lebensphilosophie erklären, werden zurückgeführt auf die Romantik um Hamann, Herder, Jacobi, Goethe, Fichte, Schelling, Friedrich Schlegel und Novalis. Rickert zufolge aber ist die wichtigste Bezugsfigur dieser Strömung Nietzsche, der den Gebrauch des Begriffs »Leben« auf verschiedene philosophische Bereiche erweitert hat, insbesondere auf den der Moral. Dabei knüpft er an die Willensmetaphysik von Schopenhauer und an die optimis-

1 H. Rickert, Lebenswerte und Kulturwerte, »Logos«, II (1911), S. 131–166 sowie ders., Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Mohr, Tübingen 1920. 2 H. Rickert, Lebenswerte und Kulturwerte, a. a. O., S. 141 f.; vgl. Richard Kroner (1884–1974), Henri Bergson, »Logos«, I (1910/11), S. 125–150. 3 H. Rickert, Die Philosophie des Lebens, a. a. O., S. III.

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tischere Theorie der Neuschöpfung von Wagner 4 an. Unter den lebenden europäischen Philosophen ist freilich Bergson der am meisten diskutierte und einflussreichste, auch wenn der Umstand, dass er außerhalb Deutschlands mehr als Nietzsche gelesen wird, mehr der Unübersetzbarkeit des Zarathustra als der Originalität Bergsons zu verdanken ist, der im Grunde nichts anderes tut, als »deutsche Gedanken in glänzendem französischen Gewand« 5 zu verbreiten. Unter den Anleihen Bergsons bei der deutschen Philosophie erwähnt Rickert außerdem die romantische Herkunft seiner Ideen, die eine besondere Nähe zu den Philosophien Schellings und Schopenhauers aufweisen, wobei er ihn allerdings nicht des Plagiats bezichtigen will, wie es während des Ersten Weltkriegs häufig der Fall war. 6 Bergson wird definiert als »der eigentliche Philosoph des Lebens in unserer Zeit«, wegen der Bedeutung, die »das erlebte Leben« 7 in seiner Unmittelbarkeit für ihn hat, und wegen der Vorliebe, die er für das Organische hegt – parallel zur Zurückweisung des Mechanischen und zur Abwertung der wissenschaftlichen und begrifflichen Erkenntnis. Wie bereits seit den ersten deutschen Bergson-Lektüren im Jenaer Kontext wird sein Rekurs auf die Intuition als Methode, um das Leben zu erkennen, dem kantischen Verstand entgegengesetzt sowie dem Gebrauch der abstrakten und allgemeinen Begriffe, deren Fixiertheit das Leben tötet. 8 Das hat die positive Wirkung, dass Ebd., S. 19–22. Ebd., S. 25. 6 Insbesondere mit Blick auf die Nähe zwischen Bergson und Schopenhauer stellt Rickert klar: »Ihn als ›Plagiator‹ zu bezeichnen, ist aber absurd«, ebd., S. 22. Für eine Rekonstruktion der Polemik, die während des Ersten Weltkriegs über Bergson und Schopenhauer stattfand, vgl. A. François, Bergson plagiaire de Schopenhauer? Analyse d’une polémique, »Études Germaniques«, LX (2005), 3, September, S. 469–490. 7 H. Rickert, Die Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 25. 8 Zu Rickerts Kritik an der Bergson’schen Erkenntnistheorie s. Melanie Sehgal, Das Leben mit dem Leben denken? Zur Frage des Antiintellektualismus bei Henri Bergson und Heinrich Rickert, Beitrag zum internationalen Kongress Bergson und Deutschland – Das Problem der Lebensphilosophie, 5.–7. Juli 2007 in Mainz. Ich danke Matthias Vollet dafür, dass er mich auf den Vortrag aufmerksam gemacht und mir das Manuskript zur Verfügung gestellt hat. Die Autorin beendet ihre Untersuchung von Rickerts Bergson-Kritik mit einer Umkehr der Positionen: Bergson sei kein AntiIntellektualist, da er an die Möglichkeit glaubt, das Sein zu erkennen. Der wahre Anti-Intellektualist sei dagegen Rickert, der die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der Wirklichkeit ausschließt. Diese Schlussfolgerung beruht auf einer begrifflichen Unschärfe: conscience wird übersetzt mit Denken, das korrekterweise intelligence und intuition umfasst; Intellekt und Denken werden jedoch an einigen 4 5

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die lebendige Natur wiederentdeckt und die Beschränktheit des wissenschaftlichen Denkens diskreditiert wird, das sich ja dem Leben gegenüber verhält, als sei es tot. Dieser Aspekt, den auch die deutsche Romantik teilt, wird von Rickert geschätzt: Seine Kritik an der Philosophie, deren Vertreter Nietzsche, Bergson und James sind, ist in der Tat nicht ihrer Feindseligkeit gegenüber bestimmten rationalistischen Dogmatismen der Naturwissenschaften, sondern ihrem Intuitionismus geschuldet. Das Leben, das sie in den Mittelpunkt ihrer Weltanschauung stellen, lässt sich nämlich nur durch eine unmittelbare Erfahrung erkennen, die vom Standpunkt Rickerts aus verworren und chaotisch ist. Der Antiintellektualismus Bergsons ist aber nicht die einzige Folge der ontologischen Zentralstellung, die er dem Leben zuschreibt. Sie hat Auswirkungen auch auf moralischem Gebiet. Der Umstand, dass Bergson das Leben als »Zeitwirklichkeit oder durée réelle« 9 versteht, führt ihn in der Tat zu einem »implizite[n] […] Uebergang zur Wertlehre«: 10 Das unaufhörliche Werden des Lebens, das der Festigkeit der Begriffe entgegengesetzt ist, bringt Rickert dazu, bei Bergson auf eine Moral zu schließen, die auf die Ursprünge seines Anti-Intellektualismus verweist und die folgerichtig auf die Befreiung von der Statik des Verstandes zugunsten eines intuitiven Zugangs zum Leben hinausläuft. Für Rickert impliziert das einen extremen moralischen Relativismus: »Das Leben selbst bildet also nicht nur das wahre Sein, sondern auch das wahre Lebensziel. Zugleich ist es nicht ein und dieselbe Aufgabe für alle, sondern im freien Leben hat jeder sich sein besonderes Lebensziel frei zu wählen«. 11 Die Zeitlichkeit des Lebens und sein Mangel an Zielgerichtetheit in der Philosophie von L’évolution créatrice steht im Gegensatz zur Wertphilosophie Rickerts, der den Werten, obwohl er sie eng mit dem Leben verknüpft, den Charakter der Zeitlosigkeit zuschreibt. Das Leben, auf das sie sich beziehen, ist wesentlich mehr als »bloßes Leben«. 12 Andernorts bezeichnet Rickert die Lebensphilosophie mit dem Namen »Biologismus« 13, womit er zeigt, dass er in dieser Philosophie eine Reduktion des Lebens Schlüsselstellen des Essays miteinander gleichgesetzt, sodass Intellekt nicht mehr Bergsons Unterscheidung von intelligence und intuition widerspiegelt. 9 H. Rickert, Die Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 23. 10 Ebd., S. 24. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 180, vgl. auch S. 192. 13 Ebd., S. 80 ff.

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auf eine Dimension sieht, welche im Rahmen der Biologie verbleibt, auch wenn es nicht unter einem strikt naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt verstanden wird. Eine weitere Abweichung zu Bergsons Positionen ergibt sich schließlich auf geschichtlicher Ebene. Rickert bedauert, dass sie in der Bergson’schen Philosophie nicht thematisiert wird: Auffallend ist, wie schon gesagt, daß Bergson, der Wissenschaft und Naturwissenschaft nach französischem Sprachgebrauch (science) identifiziert, kein Verständnis für die geschichtlichen Disziplinen zu haben scheint, die doch auch zur Wissenschaft gehören, trotzdem jedoch das Leben nicht generalisierend auffassen, sondern es in seiner unwiederholbaren Einmaligkeit verfolgen und damit dem Lebendigen als dem Individuellen zum mindesten näher kommen als die verallgemeinernde Begriffsbildung der Naturwissenschaften. 14

Für Rickert ist in der Geschichte die Erkenntnis also noch am ehesten in der Lage, sich dem Leben anzunähern, da sie die Individualität respektiert, ohne sich auf die allzu allgemeinen Begriffe der Naturwissenschaften oder auf die Abkürzung der Intuition zu verlassen. Vermutlich kennt Bergson Rickerts Essay nicht, der in seiner Bibliothek nicht vorhanden ist und auf den er sich in seinen Schriften nirgends bezieht. Sehr wahrscheinlich jedoch liest Bergson den Artikel eines jungen protestantischen Theologen, Karl Bornhausen, und mit Sicherheit den eines Rickert-Schülers, Richard Kroner, die bereits 1910 die berühmtesten Kritikpunkte Rickerts aus dem Jahr 1920 vorwegnehmen. Karl Bornhausen promoviert 1907 in Heidelberg mit einer Doktorarbeit über Pascal unter der Leitung von Troeltsch. 15 Im Jahr 1910, während er seine Habilitation in Marburg vorbereitet, schreibt er einen Artikel über Bergson und die Religion, Die Philosophie Henri Bergsons und ihre Bedeutung für den Religionsbegriff. 16 Nach BornEbd., S. 183 Karl Bornhausen (1882–1940), Die Ethik Pascals, Töpelmann, Gießen 1907. Vor dem Krieg spielt Bornhausen bereits eine wichtige Rolle im Dialog zwischen deutschen und amerikanischen Theologen. Fasziniert von der völkischen Ideologie, wird er 1932 Mitglied der NSDAP, vgl. Mark David Chapman, Ernst Troeltsch and liberal theology, Oxford University Press, Oxford 2001, S. 132, Fn. 16 K. Bornhausen, Die Philosophie Henri Bergsons und ihre Bedeutung für den Religionsbegriff, »Zeitschrift für Theologie und Kirche«, XX (1910), 1, S. 39–77; Bergsons Exemplar ohne Lektürespuren befindet sich in der BLJD, cote BGN 1710/VII-BGNIV-34. 14 15

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hausen werden in L’évolution créatrice Natur und Geist einander angeglichen und auf eine naturalistische Ebene reduziert: »Ob Natur oder Bewußtsein, ob Denken oder Handeln, ob Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaft, alles fällt in den Bereich der schöpferischen Entwicklung, die den Natur- und Kultursinn der Welt in sich trägt und verwirklicht«. 17 Auch Freiheit und Moral beruhen auf dem Indeterminismus der Natur und werden von der Biologie diktiert: »[A]uch das exzeptionelle Willensschaffen der starken Persönlichkeiten bleibt gebunden an die Bedingung des Lebensablaufs; eine Lenkung des Lebensstroms kann es sein, aber nicht selbst Lebensstrom; nur Form kann es geben, nicht selbst Inhalt schaffen. […] Freie Entwicklung ist alles, und den Sinn dieser Freiheit diktiert die Biologie«. 18 So fehlt nach Bornhausen jedes regulative Ideal und man läuft Gefahr, den moralischen Indeterminismus und den religiösen Irrationalismus triumphieren zu lassen. Bergson besitzt den Artikel von Bornhausen, aber es gibt keine Spuren, die beweisen, dass er ihn gelesen hätte; hingegen liest er sicher mit großer Aufmerksamkeit den Aufsatz von Kroner Henri Bergson 19, dessen Bemerkungen in einem Brief Bergsons an den Autor diskutiert werden. Die in Kroners Aufsatz (er erschien 1911 in der ersten Nummer der Zeitschrift »Logos« 20) vorgebrachten Kritikpunkte sind denen von Bornhausen vergleichbar und ebenso denen, die in der Folge Rickert wiederaufnehmen sollte, aber sie richten sich hauptsächlich gegen die Erkenntnistheorie. Windelbands Wohlwollen bei der Vorstellung Bergsons in seiner Einführung zu Materie und Gedächtnis bleibt also im neukantianischen Milieu von Heidelberg ohne große Nachwirkung, wo bereits seit den 1910er Jahren und noch mehr mit dem Essay von Rickert aus dem Jahr 1920 Lesarten Schule machen, die Bergsons Philosophie biologistisch vereinfachen: Bei Bornhausen mit Blick auf die Ethik A. a. O., S. 68. Ebd., S. 70. 19 R. Kroner, Henri Bergson, a. a. O. 20 Rickert ist im wissenschaftlichen Komitee der in Tübingen von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) verlegten Zeitschrift, gemeinsam mit Eucken, Husserl, von Gierke, Meinecke, Simmel, Troeltsch, Windelband und Wölfflin. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift wird Kroners Essay flankiert von Aufsätzen u. a. von Rickert, Boutroux, Croce, Windelband, Husserl, Keyserling. Der Artikel von Kroner wird kommentiert von J.-L. Vieillard-Baron in dem Beitrag Das Geistesleben bei Bergson, Eucken und Kroner auf dem internationalen Kongress Bergson und Deutschland – Das Problem der Lebensphilosophie, 5. bis 7. Juli 2007 in Mainz. 17 18

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und die Religion, im Fall Kroners mit stärkerem Nachdruck auf der Erkenntnistheorie, bei Rickert auf all diesen Gebieten, außer in dem der Geschichtsphilosophie. In dem Artikel von Kroner wird Bergson »dogmatischer Antirationalismus« 21 vorgeworfen, und seine Ablehnung des Verstandes zugunsten der Intuition wird vom Neukantianismus Hegel’scher Herkunft unterschieden, der sich ebenfalls der Metaphysik des Verstandes widersetzt: Während Hegel sich auf die Vernunft bezieht, bezieht sich die Bergson’sche Intuition auf eine irrationale Zeitlichkeit, wobei sie jede Möglichkeit ausschließt, das Absolute begrifflich zu erfassen. 22 Die Art und Weise, in der Bergson seine Kritik an den allgemeinen Ideen des Verstandes vorbringt, wird außerdem als biologistisch und genetisch charakterisiert, d. h., sie spürt den Ursprung der Erkenntnis in der Evolution des Lebens auf. In seinem Brief an Kroner 23 antwortet Bergson auf die Vorwürfe des Antirationalismus und des Biologismus: Sie seien natürlich und geboten, wenn man sich auf den Standpunkt des Intellektualismus stelle. »Aber«, so setzt Bergson klärend hinzu, »obschon natürlich, scheinen mir diese Einwände nicht zwingend, denn sie bestehen im Grunde alle darin, dass sie Unvereinbarkeiten zwischen Dingen aufstellen, die in der Tat als entgegengesetzt erscheinen, aber die das Leben miteinander versöhnt und die die Philosophie ebenfalls versöhnt, wenn sie sich nur befleißigen will, dem Leben zu folgen in seinen Sprüngen«. 24 Außerdem kommentiert Bergson die Annäherung seiner Philosophie an die Mystik, die laut Kroner eine unvermeidliche Folge seines irrationalistischen Intuitionismus ist. 25 Kroner stellt Bergson deshalb Hegel gegenüber, wobei er die Methoden der beiden Philosophen diametral trennt. Die Bergson’sche Intuition lässt er einer Mystik ähneln, in der es unmöglich ist, Subjekt und Objekt der ErkenntR. Kroner, Henri Bergson, a. a. O., S. 140. Ebd., S. 139–142. 23 Der Entwurf des Briefes, aus dem der in C, S. 383–385, veröffentlichte Text stammt, trägt kein Datum. Der Herausgeber schlägt Ende November 1910 vor, da sich das Manuskript zwischen den Seiten des ersten Heftes von »Logos« fand. Die Zeitschrift erschien aber erst 1911, deshalb muss das Datum des Briefes nach hinten verlegt werden. 24 C, S. 383 f. 25 »Eine antirationalistische Philosophie muß zur Mystik werden […] wenn sie die irrationale Welt dennoch zu begreifen oder sagen wir lieber zu schauen strebt«, R. Kroner, Henri Bergson, a. a. O., S. 141. 21 22

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nis zu unterscheiden, und die nur zu willkürlichen und »gedankenlose[n]« 26 Erkenntnissen gelangen kann. Bergsons Antwort zeigt seine Ablehnung solcher Lesarten der Intuition, die die Komplexität der Beziehungen mit der Intelligenz, den Begriffen und mit der Sprache vernachlässigen: »Obwohl es sehr wahr ist, dass die Methode, die ich vorschlage, etwas Mystisches hat, so schließt sie doch die Dialektik des Rationalismus nicht aus und macht sie sogar bis zu einem gewissen Grad notwendig«. 27 Die Mystik ruft also den Rationalismus herbei, so wie im vierten Kapitel von Les deux sources die Mystik die Mechanik herbeiruft und umgekehrt. Kurz, Bergson erkennt sich in den Berichten über seine Philosophie nicht wieder, die aus ihm einen irrationalistischen Mystiker ohne Nuancen machen, wobei vor allem an die Erkenntnistheorie des Essai angeknüpft wird, wonach der Raum, auf dem eine exakte Wissenschaft beruht, eine äußere Form ist, bezogen auf die Bedürfnisse unseres Handelns und unseres Lebens. Auch in darauffolgenden Essays, wie der Einführung in die Metaphysik von 1903, bleibt Bergson bei seiner kritischen Position gegenüber der Wissenschaft und behauptet, dass nur die Metaphysik Zugang zur wahren Erkenntnis besitzt. Nach L’évolution créatrice hat die Wissenschaft hingegen Zugang zur Wirklichkeit und nimmt ihrerseits einen absoluten Charakter an, wobei sie freilich autonom gegenüber dem Bereich der Metaphysik bleibt. Die Kontakte und die gegenseitigen Befruchtungen von Wissenschaft und Philosophie vertiefen sich im Laufe der Ausarbeitung von Les deux sources, wo Bergson sogar ein basales Bündnis zwischen Mechanik und Mystik vorschwebt. Man kann also auf diesem philosophischen Weg, auf dem allmählich das Bestehen auf der materiellen und mechanischen Dimension des Lebens stärker wird, einen Willen des späten Bergson sehen, sich von eindeutig spiritualistischen und mystischen Interpretationen seines Werks abzugrenzen, die auch aus Deutschland kamen. Die Lehre des Mystizismus von Les deux sources sollte tatsächlich nicht so sehr auf den Geist, sondern auf das Leben verweisen, ohne dass damit jedoch eine biologistische Position im Sinne von Bornhausen oder von Rickert einherginge. Die moralische Öffnung und die religiöse Dynamik, die Bergson in dem Werk von 1932 an den Tag legt, scheinen in der Tat den Bann dieser Kritiken, wie sie im neukantianischen Kontext von Heidelberg vorherrschten, brechen zu wollen. 26 27

Ebd., S. 147. C, S. 384.

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4. Cassirer: Der Naturalismus in Les deux sources

Die naturalistische Lesart der Philosophie Bergsons ist mithin diejenige, die an der Universität Heidelberg den Ton angibt, wo man in Bergson »einen Vertreter jenes ›modernen Biologismus‹« sieht, »der alle Werte in reine Lebenswerte aufgehen lässt« 1, wie Cassirer es in einem Artikel der 1930er Jahre zusammenfasst. Rickert und mit ihm der Großteil der neukantianischen Schule wirft Bergson vor, alle Werte auf die Vitalwerte reduziert und die Biologie, verstanden als Naturwissenschaft, zur normativen Basis seiner eigenen Ethik gemacht zu haben. Für Rickert macht der Ansatz der Lebensphilosophie, für den gilt »Sein und Sollen können sich niemals trennen« 2, es unmöglich, transzendente Werte zu begründen; sie kann nie moralische Vorgaben machen, die über einen absoluten Quietismus hinausgingen. 3 Andere Stimmen des Neukantianismus schließen sich dieser Position an, auch an anderen Universitäten. In der Philosophie der symbolischen Formen 4 von Ernst Cassirer stößt man in der Tat auf dieselbe Kritik, die in Heidelberg wiederholt vorgebracht worden war: Cassirer bemerkt, dass Bergson die Ethik und die Geschichte vernachlässigt, da er von einem rein biologischen Handlungs- und Zeitbegriff ausgehe. Bergson habe die Abhängigkeitsbeziehung, die die traditionelle Metaphysik zwischen dem Sein und der Zeit aufstellt, umgedreht: So bestimmt die unmittelbare Intuition der Dauer den Inhalt der Wirklichkeit und der Wahrheit. Die Dauer bezieht sich allerdings mehr auf die biologische Zeit der Evolution der Natur als auf die hisErnst Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, »Der Morgen«, IX (1933), S. 21. 2 Ebd., S. 21. 3 »Die einzige ethische Konsequenz des Biologismus ist ein absoluter Quietismus«, ebd. 4 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis (1923–1929), in Gesammelte Werke, hg. von Birgit Recki, 25 Bde., Felix Meiner, Hamburg 2002, Bd. XIII. 1

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torische Zeit der Evolution des Geistes, wie es hingegen in der Philosophie Schellings der Fall ist. Die Zentralität der Natur gegenüber dem Geist unterscheidet Bergson von der Schelling’schen Philosophie, wo die Entwicklung der Natur mit der Entwicklung zum Geist in eins fällt. Unfähig, die Komplexität der geschichtlichen Zeit zu denken, ist die von Bergson vertretene Philosophie der Dauer durch und durch naturalistisch und ganz und gar von einem höheren spirituellen Prinzip auf eine Natur ausgerichtet, die vollkommen sich selbst genügt. 5 Nach dem Erscheinen von Les deux sources muss Cassirer diese Position, die er in den 1920er Jahren selbst geteilt hatte, allerdings revidieren. Er rückt nun von seinen früheren Vorwürfen ab und überdenkt den Biologismus Bergsons im Ausgang von der moralischen und religiösen Lehre, die in dem Alterswerk auf der Polarität von Statik und Dynamik basiert, noch einmal neu. 6 Cassirer erkennt in der Tat an, dass Bergson – ohne den ihm eigenen Naturalismus und ›Irrationalismus‹ zu verleugnen – es zuwege gebracht hat, eine Ethik zu erarbeiten, die weder auf den Konservatismus der Naturgesetze noch auf einen orgiastischen, dionysischen, den Willen zur Macht feiernden Vitalismus hinausläuft (als den man die Position Nietzsches damals betrachtete). Auf der Ebene der Ethik und der Religionsphilosophie bleibt Bergson in der Tat nicht beim Modell der geschlossenen Gesellschaft und der statischen Religion stehen, sondern skizziert eine zweite Art von Moral und Religion, offen und dynamisch, die die erste transzendiert. 7 Die geschlossene Gesellschaft geht in einer Form von statischer Moral auf – konservativ und quietistisch –, die lediglich darauf bedacht ist, das Leben der Art und der Individuen zu erhalten. Sie entspricht mithin A. a. O., S. 44 f. Für eine gründliche Auseinandersetzung mit Cassirers Lesart, mit besonderem Augenmerk auf das soziale Leben, s. Florence Caeymaex, La société sortie des mains de la nature. Nature et biologie dans Les Deux Sources, in F. Caeymaex – A. François – F. Worms (Hg.), Annales bergsoniennes, a. a. O., Bd. V, S. 311–333. 7 Cassirer sollte diese Idee 1944 noch einmal unterstreichen: »Es ist einigermaßen überraschend, daß Bergson, dessen Lehre man oft als biologische Philosophie, als eine Philosophie des Lebens und der Natur bezeichnet hat, in seinem letzten Werk anscheinend zu einer Idee von Moral und Religion gelangt, die über diesen Bereich weit hinausweist«, E. Cassirer, An Essay on man: An introduction to a philosophy of human culture (1944), in Gesammelte Werke, hg. von Birgit Recki, 25 Bde., Felix Meiner, Hamburg 2002, Bd. XXIII, 2006, S. 97; dt. Übers.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Felix Meiner, Hamburg 1990, S. 140. 5 6

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Cassirer: Der Naturalismus in Les deux sources

den Kritiken derer, die bei Bergson und in der Lebensphilosophie die Moral auf die Biologie als Naturwissenschaft gegründet sehen. 8 Dennoch bleibt, Cassirer zufolge, die Bergson’sche Moral bei dieser Phase nicht stehen und macht einen Übergang möglich, den er, mit kantischen Begriffen, als einen »von der Welt des Seins zu der des Sollens, von der Welt der Natur zu der Welt der Freiheit«9 bestimmt. Während die geschlossene Moral und die statische Religion an einem pragmatistischen und konservativen Ansatz festhalten, sprengen die offenen und dynamischen Formen von Ethik und Religion die Logik des Biologismus und des Utilitarismus. Die offene Moral präsentiert sich im Werden, in ständiger vitaler Erneuerung: »Diese dynamische Moral und diese dynamische Religion ist nach Bergson das eigentliche Quellgebiet des Sittlichen«. 10 Die offene Moral setzt der Trägheit des Sich-Abschließens die »Schwungkraft des Lebens« 11 entgegen, sie gründet in der Intuition des élan vital und der Freiheit: Eine rein rationale Grundlegung der Ethik, eine »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« gilt Bergson als eine in sich widersprechende Aufgabe, als ein unmögliches Beginnen. Aber ebenso wenig erscheint jetzt die Welt, der das Sittliche und das Religiöse entstammt, jener Welt verwandt und verhaftet, in der der Instinkt wirksam und in der er eigentlich heimisch ist. Religion und Sittlichkeit lassen sich nicht auf die Herrschaft des Instinkts gründen; sie sind vielmehr dazu bestimmt und dazu berufen, diese Herrschaft endgültig zu brechen. Die Ordnung, die sie aufrichten, ist eine ihrem Wesen nach freie Ordnung; der Glaube, den sie verlangen und verkünden, ist ein freier Glaube, ein Glaube an die Freiheit. 12

Ohne den eigenen Bezugsrahmen zu verlassen, ist es Bergson also gelungen, eine Spaltung zwischen der Moral der Verpflichtung und der Moral des Strebens herauszuarbeiten. Auf diese Weise konnte er auf den einfachen Biologismus verzichten und doch im Inneren der Lebensphilosophie verbleiben: »Es bleibt nichtsdestoweniger ein eigentümliches und unverlierbares Verdienst der Bergsonschen Ethik, daß sie, auf ihrem Wege und mit den durch das System gewiesenen Denkmitteln, einen neuen Vorstoß vom Bereich des Lebens in die

8 Vgl. E. Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, a. a. O. Cassirer bezieht sich auf H. Rickert, Die Philosophie des Lebens, a. a. O. 9 Ebd., S. 20. 10 Ebd., S. 24. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 27.

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III. · Heidelberg

Religion der Freiheit gewagt hat«. 13 Cassirer erkennt in Bergsons Religionsphilosophie jene »Transcendenz des Lebens« 14 und jene Tendenz des Lebens, ständig über sich selbst hinauszugehen wieder, die es bereits bei Simmel gab. So erreicht das Bewusstsein in der dynamischen Religion von Les deux sources eine immanente Transzendenz im Verhältnis zur Natur. Das heißt, wenigstens auf ethischer und religiöser Ebene zerreißt Bergson das bloß naturalistische Band des Lebens. So unterscheidet er sich schließlich nicht so sehr von Kant, wie man es erwarten würde, wenn man von dem Unterschied in ihren Erkenntnistheorien ausgeht: »Denn Bergsons Ethik hat, auf dem Boden der reinen Lebenslehre, dieselbe Forderung zur Geltung gebracht, die Kant seinerseits vom Standpunkt des transzendentalen und des ethischen Idealismus verfocht«. 15 Cassirer legt auf die Klarstellung Wert, dass Bergson trotz dieser Analogie zu Kant unfähig ist, den idealen Sinn der Pflicht zu erfassen, der in Les deux sources in der Tat in den Bereich der Moral des Drucks und der Verpflichtung verbannt bleibt, welche den geschlossenen Gesellschaften eignet, wie sie aus den Händen der Natur hervorgegangen sind. Die Revision der These des Bergson’schen Naturalismus, die Cassirer in seiner Rezension von Les deux sources erläutert, betrifft in erster Linie die ethische und religiöse Ebene: In diesen tritt eine vitale Kraft in Aktion, die in umgekehrter Richtung gegenüber der Trägheit und der Bequemlichkeit der Gesetze der Biologie wirkt, eine »das Leben vorwärtstreibende Kraft«, die sich in eine naturalistische Perspektive nicht einfügen lässt. Erst im Licht von Les deux sources ist es also für Cassirer möglich, die Theorie des Lebens, die in L’évolution créatrice dargelegt wurde, zu überdenken, indem er sich der Welt des Seins im Licht der Welt des Sollens zuwendet. Tatsächlich scheint das menschliche Handeln in den ersten Werken Bergsons an das Überleben gebunden, im Dienst der Kriterien des Nützlichen, geregelt nach einem pragmatistischen Maßstab. Während also das Urteil über die praktische Philosophie Bergsons revidiert wird, hält Cassirer die Bergson’sche Erkenntnistheorie weiterhin für rein pragmatistisch. Er zieht sie ausschließlich mit Bezug auf die Begriffe des Instinkts und der Intelligenz in Betracht, ohne die Intuition zu beEbd., S. 151. Ebd., S. 145. Cassirer bezieht sich hier auf das Werk von G. Simmel, Lebensanschauung, a. a. O. 15 Ebd., S. 150. 13 14

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rücksichtigen. 16 Jede Erkenntnis ist gebunden an Handlung und Willen, bis zu L’évolution créatrice bleibt sie im Dienst von rein biologischen Gesetzen. Aber schon im Ausgang von Bergsons Erkenntnistheorie ist es möglich, das Etikett des Naturalismus zurückzuweisen. Denn schon auf erkenntnistheoretischer Ebene gibt es zwei Richtungen des Bewusstseins: die eine – die Intelligenz –, die darauf aus ist, das Leben zu zerlegen und stillzustellen; die andere – die Intuition –, die in die gleiche Richtung geht wie das Leben. Sie ist in der Lage, das Absolute zu erfassen und eine Erkenntnis zu erreichen, die sich so weit erstreckt wie das Leben. Aufgrund der Unterscheidung von nature und vie, die in Bergsons Texten vertreten wird, ist es daher angebracht, die Tragweite des ihm so oft zugeschriebenen Naturalismus einzuschränken.

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Ebd., S. 23.

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1. Bergson im Kreis der Phänomenologen

Die letzte Station auf der Landkarte des philosophischen Austauschs zwischen Bergson und Deutschland ist die Stadt Göttingen, wo Bergson zum ersten Mal im Jahr 1911 von Alexandre Koyré eingeführt wird. Vor seinem Umzug nach Prag besucht Koyré von 1908 bis 1912 die Universität Göttingen, wo er die Vorlesungen von Husserl hört, dessen Logische Untersuchungen 1 er bereits während eines kurzen Gefängnisaufenthalts in Russland im Alter von 15 Jahren gelesen hat (er hatte versucht, ein Attentat gegen den Gouverneur von Rostow zu organisieren). In Göttingen angekommen, nachdem er seine Gymnasialstudien in Rostow und Tiflis absolviert und nachdem er sich 1908 für kurze Zeit an der Universität Odessa immatrikuliert hatte, schließt Koyré sich vor allem Mathematikern wie Adolf Reinach, David Hilbert und Hermann Minkowski an und nimmt an den Aktivitäten der Philosophischen Gesellschaft teil, die von Husserls Schülern gegründet worden war. Eben in dieser Runde hält Koyré 1911 einen Vortrag über die Philosophie Bergsons, den er wahrscheinlich schon seit seinen Studienjahren in Russland kennt. 2 Koyrés Interesse an Bergson verdankt sich dem Studium der Philosophie der Mathematik und der Psychologie, dem er sich in jenen Jahren widmet, in der Absicht, eine Doktorarbeit über die Paradoxien der Logik anzufertigen – die allerdings von Husserl 1912 abgelehnt wird, 1 Edmund Husserl (1859–1938), Logische Untersuchungen, 2 Bde., Max Niemeyer, Halle 1900–1901; Bd. I: Prolegomena zur reinen Logik, 1900; Bd. II: Untersuchungen zur Theorie und Phänomenologie der Erkenntnis, 1901; 2., bearbeitete Aufl., 3 Bde., Halle 1913–1920; Neuaufl. in Husserliana, Martinus Nijhoff-Kluwer Academie, Den Haag 1950 ff., Bde. XVIII–XIX, 1975–1984. 2 Vgl. M. Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, PUF, Paris 1999, S. 169. Für einen Einblick in den Bergsonismus in Russland zu Beginn des Jahrhunderts s. Francès Nethercott, Une rencontre philosophique. Bergson en Russie (1907–1917), L’Harmattan, Paris 1995; für die Jugendjahre Koyrés (1892–1964) s. Paola Zambelli, Segreti di gioventù. Koyré da SR a S.R.: Da Mikhailovsky a Rakovsky?, »Giornale critico della filosofia italiana«, III (2007), 1, S. 109–151.

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der Koyré drängt, nach Paris umzuziehen, um seine Studien fortzusetzen. Im Plan der nie abgeschlossenen Doktorarbeit Insolubilia. Eine logische Studie über die Grundlagen der Mengenlehre bezieht sich Koyré auch auf Bergson: »Bei dieser Auffassung muss man wohl Bedenken tragen, die arithmetischen Sätze auf das Psychische zu übertragen, ja consequenter Weise auch auf die physische Welt. Ein Gefühl und ein Gefühl in meiner Seele sind nicht zwei Gefühle, sondern etwas anderes, drittes, neues – daher die Stellung von Bergson«. 3 Koyrés Interesse für Bergson ist also vor allem durch seinen Antipsychologismus motiviert – ein Zug, den auch Scheler in diesen Jahren unterstreicht. Wenn man der berühmten Anekdote glaubt, die von Jean Héring berichtet wird, der sich 1911 in Göttingen aufhält, so ruft Husserl am Ende von Koyrés Vortrag über Bergson aus: »Die konsequenten Bergsonianer, das sind wir!« 4 Diese plakative Behauptung lässt unter der Anerkennung der Nähe zu Bergson auch einen subtilen Anspruch auf Distanz und Überlegenheit aufscheinen, der wahrscheinlich gerade dem Thema des Psychologismus zuzuschreiben ist. Nach dem Zeugnis von Jean Héring wäre es das erste Mal, dass Husserl von Bergson hört: »Es ist seltsam zu sehen, dass Husserl (der zu viel dachte und schrieb, um Zeit zum Lesen zu haben) den Namen des großen Erneuerers des Intuitionismus in Frankreich kaum kannte. Nur dank eines – übrigens exzellenten – Berichts von Alexandre Koyré, der 1911 der Philosophischen Gesellschaft in Göttingen vorgelegt wurde, lernte er die Prinzipien der Bergson’schen Philosophie kennen«. 5 In Wirklichkeit hatte Husserl im Februar desselben Jahres einen Brief

Das Manuskript des Entwurfs der Doktorarbeit wird im Koyré-Archiv in Paris aufbewahrt, zitiert bei P. Zambelli, Alexandre Koyré im »Mekka der Mathematik«, »NTM International Journal of History and Ethics of Natural Sciences, Technology and Medicine«, VII (1999), 1, Dezember, S. 215. Paola Zambelli vermutet, die Ablehnung durch Husserl sei seiner Hinwendung zum transzendentalen Idealismus zuzuschreiben, die ihren Ausdruck finden sollte in E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Niemeyer, Halle 1913; erneut veröffentlicht in Husserliana, Martinus Nijhoff-Kluwer Academie, Den Haag 1950 ff., Bde. III/1–III/2, 1977–1988. Koyré, wie Reinach, glaubt in der Tat, dass diese Wendung zu einem Rückfall in den Psychologismus führt, vor dem Husserl selbst in Logische Untersuchungen, a. a. O., gewarnt hatte. 4 Vgl. Jean Héring, La phénoménologie il y a trente ans, »Revue internationale de philosophie«, I (1939), S. 368, Fn. 5 Ebd. 3

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von Simmel 6 erhalten, der ihm dessen Interesse für die Erkenntnistheorie von Matière et mémoire verriet, und er kennt nahezu mit Sicherheit auch den Artikel von Richard Kroner über Bergson, welcher Anfang 1911 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift »Logos« erschienen war, zu deren Säulen Husserl gehört und die im selben Heft seinen berühmten Essay Philosophie als strenge Wissenschaft 7 publiziert. Die direkte Kenntnis der Werke ist hingegen sehr dürftig. 1913 schickt Husserl Bergson den ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie. 8 Bergson antwortet im August auf die Geste mit einem freundlichen Brief: »Erlauben Sie mir […], Ihnen zu sagen, wie sehr ich Ihre Arbeiten schätze. Unsere Anschauungen unterscheiden sich vielleicht in einigen Punkten; aber es gibt auch mehr als einen, in dem sie mühelos übereinstimmen«. 9 Schon einige Monate vorher, am 22. März 1913, erkennt Bergson die eigene Nähe zu Husserl in einem Gespräch mit Benrubi an, in dem er den gemeinsamen Antipsychologismus unterstreicht: »Bergson räumt ein, dass es eine gewisse Affinität zwischen seiner Philosophie und der des deutschen Denkers gibt. Das gilt besonders vom Kampf gegen den Psychologismus. Im Übrigen hat Bergson zugegeben, dass er die Logischen Untersuchungen nur zum Teil gelesen hat, und dass er dieses Werk sehr schwierig findet«. 10 Ein paar Jahre später, 1918, betreut Husserl die Doktorarbeit von Roman Ingarden, die den Begriffen von Intuition und Intellekt bei Bergson gewidmet ist. Darin wird seine Erkenntnislehre kritisiert und für unfähig befunden, eine klare Definition der unmittelbaren Gegebenheiten zu liefern und zwischen Materie und Wahrnehmung Vgl. den Brief von Simmel an Husserl vom 19. Februar 1911, in Kurt Gassen (Hg.), Buch des Dankes an Georg Simmel, a. a. O., S. 87; vgl. auch Kap. 2. 7 E. Husserl, Die Philosophie als strenge Wissenschaft, »Logos«, I (1910–1911), S. 298–341; erneut veröffentlicht in Husserliana, Martinus Nijhoff-Kluwer Academie, Dordrecht 1950 ff., Bd. XXV: Aufsätze und Vorträge (1911–1921), hg. von T. Neon, H. R. Sepp, 1987, S. 3–62. Bergson besitzt nur den Sonderdruck des Artikels von R. Kroner, Henri Bergson, a. a. O., vgl. BLJD, cote BGN 1715/VII-BGN-IV-41, daher ist es schwer zu beweisen, dass er auch den Essay von Husserl über Dilthey kennt. 8 E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Niemeyer, Halle 1913; erneut veröffentlicht in Husserliana, Martinus Nijhoff-Kluwer Academie, Den Haag 1950 ff., Bde. III/1–III/2, 1977–1988. Das Buch ist in der BLJD nicht vorhanden, aber dass Husserl es geschickt hat, lässt sich seinem Brief an Bergson vom 15. August 1913 entnehmen, vgl. C, S. 528–529. 9 Ebd., S 529. 10 I. Benrubi, Souvenirs d’Henri Bergson, a. a. O. p. 79. 6

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zu unterscheiden. 11 Es gibt zwar keine Hinweise, dass Bergson die Doktorarbeit von Ingarden gelesen hätte. Dieser Text könnte aber einen wichtigen Filter für die Bergson-Rezeption Heideggers darstellen, der die Druckfahnen vor der Veröffentlichung des fünften Bandes des »Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung« korrigiert, wie der Brief von Husserl an Ingarden vom 28. März 1921 bezeugt: »Das neue Jahrbuch wird nun bald mit dem Druck anfangen, u. dahinein kommt nun auch Ihre Dissertation. Dr. Heidegger hat die Durchsicht in stilistischer, d. h. sprachlicher Beziehung übernommen«. 12 Kurzum, die Kontakte zwischen Husserl und Bergson sind sporadisch und führen nicht zu einem bedeutsamen Dialog. Das intellektuelle Klima Göttingens zu Beginn der 1910er Jahre, stark geprägt von der Präsenz Husserls, hat jedoch großen Einfluss auf einen der wichtigsten Aufsätze, die vor dem Krieg in Deutschland über Bergson veröffentlicht werden: den Artikel von Max Scheler Versuche einer Philosophie des Lebens. 13 Der Text stammt aus der Zeit, als Scheler, immer noch im Umfeld der Lebensphilosophie verbleibend, daran geht, seine Verbindung mit der Husserl’schen Phänomenologie und dem Göttinger Kreis zu festigen. Schon vor einigen Jahren hat er die Universität Jena verlassen, nachdem seine erste Frau, Amélie, der Gemahlin von Diederichs vorgeworfen hatte, ein Verhältnis mit Scheler zu haben, und auch die Gattin Euckens mit einer Pistole bedroht hatte. Infolge dieser Vorfälle kommt es zum Abbruch der Beziehungen Schelers zu seinem Doktorvater und zu dem wichtigsten Vgl. Roman Ingarden, Intuition und Intellekt bei Henri Bergson. Darstellung und Versuch einer Kritik, »Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung«, V (1921), S. 285–461. Zur Rekonstruktion der Geschichte dieser Doktorarbeit, s. R. W. Meyer, Bergson in Deutschland, a. a. O., S. 37 und G. Raulet, Ein fruchtbares Missverständnis. Zur Geschichte der Bergson-Rezeption in Deutschland, in G. Plas – G. Raulet (Hg.), Konkurrenz der Paradigmata. Zum Entstehungskontext der philosophischen Anthropologie, 2 Bde., Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2011, Bd. I, S. 262–264. Vgl. außerdem Hans Reiner Sepp, Illusion et transcendance, Ingarden lecteur de Bergson, in Frédéric Worms (Hg.), Annales Bergsoniennes, PUF, Paris 2004, Bd. II: Bergson, Deleuze, la phénoménologie, S. 391–407. 12 E. Husserl, Briefe an Roman Ingarden, mit Erläuterungen und Erinnerungen an Husserl, hg. von R. Ingarden, Phaenomenologica 25, Den Haag 1968, S. 18. 13 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche, Dilthey, Bergson, Leipzig, »Die weißen Blätter«, I (1913), 3, S. 203–233; erneut veröffentlicht in Gesammelte Werke, 16 Bde., hg. von M. S. Frings und M. Scheler, Francke, Bern 1954– 1998, Bd. III: Vom Umsturz der Werte, 1955, S. 313–339. 11

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Verleger der Stadt und Scheler zieht nach München um, wo er bis 1910 als Privatdozent lehrt, als er vom Senat der Universität infolge eines neuen Skandals vom Lehrkörper ausgeschlossen wird: Seine Frau Amélie, die die Alimente für den Unterhalt des 1905 geborenen Sohnes Wolfgang nicht immer erhält, erfährt, dass Scheler eine Beziehung mit Anna Bohl hat, einer viel jüngeren Frau, der er eine beträchtliche Summe Geld überwiesen und mit der er eine Reise nach Italien unternommen hat, wobei er, um in einer Pension übernachten zu können, angegeben hat, sie sei seine Frau. Amélie diffamiert nun ihren Mann öffentlich, indem sie einen Brief an die sozialdemokratisch ausgerichtete Zeitung »Münchener Post« schickt. Nach der Scheidung von Amélie zieht Scheler 1912 mit seiner neuen Frau, Märit Furtwängler, nach Berlin. In dieser Zeit beginnt er, die Kontakte mit dem Göttinger Phänomenologenkreis zu intensivieren. Scheler hatte Husserl bereits am 3. Januar 1902 in Halle kennengelernt anlässlich einer Mitarbeiterversammlung der »Kant-Studien«, zu der er von Vaihinger eingeladen worden war. Seit 1904 beginnt Scheler, sich mit dem Münchner phänomenologischen Kreis auszutauschen, besonders mit Dietrich von Hildebrand, dank dessen Vermittlung er seit dem Sommersemester 1910 regelmäßig zu den Treffen der Philosophischen Gesellschaft der Universität Göttingen eingeladen wird. Wegen des schlechten Rufs, der Scheler infolge seiner Amtsenthebung durch die Universität München begleitet, verweist ihm die Universität Göttingen die Lehre und seine Vorlesungen müssen immer in privater Form, außerhalb der universitären Strukturen, stattfinden. In diesen Jahren knüpft Scheler Beziehungen zu Mitgliedern der Philosophischen Gesellschaft wie Adolf Reinach, Theodor Lipps, Alexandre Koyré, Jean Héring, Hedwig Conrad-Martius und Edith Stein und konsolidiert seine Verbindung mit Husserl, der ihn 1913 als Redakteur des »Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung« einsetzt. Im selben Jahr veröffentlicht Scheler Versuche einer Philosophie des Lebens. 14 Bergson besitzt Schelers Essay über die Philosophie des Lebens 15 und hat in den vorhergehenden Jahren einige direkte Kontakte mit Vgl. W. Mader, Max Scheler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, a. a. O., S. 30 und W. Henckmann, Max Scheler, Beck, München 1998, S. 22; ders., La réception schélérienne de la philosophie de Bergson, a. a. O., S. 365–366. 15 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., vgl. BLJD, cote VIIBGN-III-56; keine Lesespuren. Der Sonderdruck ist nicht von Scheler signiert und es gibt auch keine Zettel, die belegen, dass er von ihm geschickt wurde. Da es sich um 14

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dem Autor, von denen nur wenige Zeugnisse, vor allem indirekte, geblieben sind. Ein von Chevalier berichtetes Gespräch mit Bergson lässt eine Begegnung der beiden etwa zur Zeit von Bergsons Vorlesungsreihe in den Vereinigten Staaten, zwischen 1912 und 1913, vermuten: »Ich habe Eucken in Amerika kennengelernt und wir haben uns sehr gut miteinander verstanden. Zu der gleichen Zeit habe ich Max Scheler gesehen, der damals katholisch war: ein sehr unsteter Geist, aber man hoffte, die Ehe würde ihn festigen – es sei denn, bemerkte die Tochter Euckens, seine Ehe sei instabil wie der Rest«. 16 Es ist jedoch vielsagend, dass Scheler 1920 in seiner Vorlesung über Bergson, in der andere autobiographische Elemente zum Vorschein kommen, kein persönliches Treffen erwähnt. Einen Briefwechsel hingegen unterhalten die beiden Philosophen schon, und Scheler schickt Bergson einige Schriften. Leider ist uns keiner ihrer Briefe überliefert 17, aber Bergson nimmt 1910 darauf Bezug in einem Brief an Benrubi. 18 Vermutlich betrifft ihr Dialog zunächst die deutschen Ausgaben der Werke von Bergson, während er sich in der Folge auf psychologische Fragen verlagert. Im Vortrag Metaphysik und Psychoanalyse von 1927 zitiert Scheler in der Tat einen Brief mit Bezug auf Freud, den er 1912 von Bergson erhalten hat: Im Jahr 1912 schrieb Henri Bergson an den Verfasser einen Brief, in dem er bemerkt, es müßte versucht werden, die gesicherten Teile der klinischen den Auszug einer Zeitschrift handelt, ist es jedoch recht wahrscheinlich, dass es sich um eine Sendung des Autors handelt. Eine Analyse von Schelers Lektüre der Lebensphilosophien von Nietzsche und Bergson bietet A. François, La critique schélérienne des philosophies nietzschéenne et bergsonienne de la vie, »Bulletin d’analyse phénoménologique«, VI (2010), 2, S. 73–85. 16 J. Chevalier, Entretiens avec Bergson, Plon, Paris 1959, S. 229, 4. Juni 1935. Bergson hält sich von Ende Januar bis Anfang März 1913 in den Vereinigten Staaten auf, vgl. M, S. 975. Auch Pierre Trotignon nimmt 1966 in einer Podiumsdiskussion auf eine Begegnung zwischen Bergson und Scheler Bezug: »Bergson hat Max Scheler getroffen, und wenn Max Scheler Bergson nicht beeinflusst hat, so ist doch vielleicht das Umgekehrte nicht wahr.« Vgl. V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous, a. a. O. 17 Im Scheler-Archiv der Bayerischen Staatsbibliothek liegen die Briefe von Bergson nicht vor und es gibt auch keine Briefe von Scheler im Bergson-Nachlass der BLJD. 18 Im Brief an Benrubi vom 26. August 1910 bittet Bergson ihn, ihm Schelers Adresse in Berlin zu schicken: »Es sind schon zwei oder drei Wochen, dass ich ihm schreiben will«, C, S. 372 f. Am 25. September desselben Jahres schreibt Bergson an Benrubi: »Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, die Adresse von Dr. Scheler zu suchen. Ich habe schließlich die Adresse wiedergefunden, die er mir selbst gegeben hatte«, C, S. 376.

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Bergson im Kreis der Phänomenologen

Erfahrung, aus denen der Schöpfer der Analyse Sigmund Freud Schritt für Schritt sein anthropologisches und psychologisches Lehrgebäude aufgebaut habe, philosophisch tiefer zu fundieren – vor allem den Kern der Lehre herauszuarbeiten aus der allzu primitiven, naturalistischen Metaphysik, in deren Hüllen die Lehre zuerst aufgetreten sei. 19

Auf der Basis dieser spärlichen Daten ist es jedoch nicht möglich festzustellen, welcher Text von Scheler im November 1911 Bergson durch die deutsch-französische Schriftstellerin Annette Kolb zugestellt wird, die sich in ihren Memoiren Blätter in den Wind an den Augenblick erinnert, in dem Scheler ihr kurz vor ihrer Abreise nach Paris einen Brief an Bergson anvertraut. 20 Unter diesem Vorwand stattet Annette Kolb dem französischen Philosophen einen Besuch ab, der ihr mit einem Brief dafür dankt, ihr »die Arbeit von Dr. Scheler« gebracht zu haben, wobei er bestätigt, sie »mit lebhaftem Interesse« 21 gelesen zu haben. In keinem dieser Zeugnisse wird Bezug genommen auf den Inhalt des Briefes oder auf den Titel des Buches, das Annette Kolb nach Paris bringen sollte. 22 19 Vgl. M. Scheler, Metaphysik und Psychoanalyse (1927), in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. XII: Schriften aus dem Nachlass, Bd. III: Philosophische Anthropologie, Bouvier Verlag, Bonn 1990, S. 58. 20 A. Kolb, Blätter in den Wind, Fischer, Frankfurt am Main, 1954, S. 213–214: »Ich hörte vor dem Kriege in München Schelers Vorlesungen. […] Nicht lang darauf traf ich ihn eines Abends in Gesellschaft. Er stand von einigen Studenten umringt, und ich gesellte mich zu ihnen und hörte zu, was er sagte. Als er zu Ende war, trat er zu mir und sagte nicht unfreundlich, aber auch nicht ohne Unmut, wie mir schien: ›Da sind Sie wieder. Immer und überall spitzen Sie und schmuggeln Sie sich herein, und hingehören tun Sie nirgends.‹ ›So ist es‹, sagte ich wohlgemut, ›und ich fahre jetzt nach Paris. Auf Wiedersehen!‹ ›Sie fahren nach Paris‹, gab er in einem ganz andern Ton zurück. ›Da müssen Sie Bergson besuchen.‹ ›Gott bewahre!‹ ›Ich gebe Ihnen einen Brief mit. Und grüßen Sie ihn sehr von mir.‹ […] Ich erhielt mit seiner Visitenkarte schon am nächsten Tag für Bergson einen geschlossenen Brief. Aber damit war es nicht getan, wenn schon, denn schon, so mir nichts, dir nichts wollte ich nicht zu ihm gehen und verbrachte nun in meinem Pariser Hotelzimmer die angestrengtesten Wochen meines Lebens mit der ›Evolution créatrice‹ : Tag für Tag bei Morgengrauen und in die Nacht hinein. Dann erst zog ich Schelers Brief hervor, schrieb ein paar Zeilen dazu, steckte ihn in ein größeres Kuvert und gab ihn auf. Die Antwort kam schneller als erwartet und beschied mich für den nächsten Vormittag elf Uhr«. 21 Brief Bergsons an Annette Kolb vom 22. November 1911, C, S. 435. 22 Die chronologische Entfernung von Versuche einer Philosophie des Lebens (1913), des einzigen Essays von Scheler, der in der persönlichen Bibliothek Bergsons vorliegt, würde ausschließen, dass es sich gerade um diesen Text handelt. André Robinet, Herausgeber des Briefwechsels von Bergson, schlägt vor, es handele sich um Über Ressentiment und moralisches Werturteil, Wilhelm Engelmann, Leipzig 1912, da Berg-

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Später versucht Scheler, Bergson zu treffen, nachdem er im Sommer mit seinem Freund Ernst Robert Curtius an einer der Dekaden von Pontigny teilgenommen hatte. 23 Zuerst hätte Bergson dabei sein sollen, zusammen mit Bernhard Groethuysen, Evelyn Underhill und anderen 24, nimmt aber schließlich doch nicht teil. Nach dem Aufenthalt in Pontigny begibt sich Scheler für ein paar Tage nach Paris, aber auch dort gelingt es ihm nicht, Bergson zu treffen, der den Sommer in Saint-Cergue in der Schweiz verbringt. Immerhin kann Scheler anlässlich dieser Reise mit anderen französischen Philosophen, denen er in Paris begegnet ist, etwa Brunschvicg und Jankélévitch, über die Philosophie Bergsons diskutieren. 25 Während sich Bergson in seinen Werken nie explizit auf Scheler bezieht, bleibt Scheler seit den Jahren seiner Ausbildung in Jena bis zu seinen Schriften zur Philosophischen Anthropologie in ständiger Auseinandersetzung mit Bergson. 26 Außer in dem Aufsatz über die son sich auf eine »Arbeit« bezieht, was einen noch nicht in Buchform gebrachten Essay bedeuten könnte, der deshalb auch nach dem Brief an Annette Kolb veröffentlicht worden sein könnte, vgl. C, S. 435, Fn. 23 Vgl. E. R. Curtius, Pontigny, in Französischer Geist im neuen Europa, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1925, S. 327–344. 24 Vgl. den Brief von Curtius an Scheler vom 25. Mai 1924, Bayerische Staatsbibliothek, Ana 375, E, 5: »Ich selbst werde jedenfalls zur ersten Dekade hingehen (8.–18. August). Bergson, Valéry, […], Groethuysen, Miss Underhill u. a. werden für diese Dekade erwartet«. 25 In der Podiumsdiskussion des »Figaro littéraire« erinnert sich Jankélévitch 1966 an seine Begegnung mit Scheler: »Es gibt einen europäischen Bergsonismus; gewiss war das ein europäisches Phänomen. Ich erinnere mich sehr genau, dass ich an einem Sonntagmorgen mit Max Scheler bei Brunschvicg war. Scheler sprach ziemlich schlecht französisch; als ich ihn wieder zu Fuß nach Hause begleitete, redete er die ganze Zeit von Bergson und von Guyau. Er interessierte sich besonders für den französischen Philosophen Guyau und für Bergson«, vgl. V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous, a. a. O. Es ist anzunehmen, dass sich dieses Zeugnis auf das Jahr 1924 bezieht, als Jankélévitch 21 Jahre alt und Student an der École normale ist. 26 Für einen Überblick über die Rezeption von Bergsons Philosophie durch Scheler verweise ich auf den Beitrag von W. Henckmann, La réception schélérienne de la philosophie de Bergson, a. a. O. und auf den Artikel von O. Agard, Scheler entre France et Allemagne, »Revue germanique internationale«, XVIII (2011), 13, S. 15–34. Die Auseinandersetzung Schelers mit dem Werk Bergsons ist, neben Versuche einer Philosophie des Lebens, in den folgenden Arbeiten besonders sichtbar: Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß, Niemeyer, Halle 1913; 2., erweiterte Aufl. in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. VII: Wesen und Formen der Sympathie, 1973; Zur Idee des Menschen (1915), in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. III, S. 171–195; Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des Pragma-

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Bergson im Kreis der Phänomenologen

Philosophie des Lebens von 1913 bezieht sich Scheler speziell auf Bergson in einer Vorlesung, die ganz dem französischen Philosophen gewidmet ist – von Januar bis März 1920 an der neuen Universität Köln, wo Scheler gerade zum Professor für Philosophie und Soziologie ernannt worden war. Im selben Jahr kommt der 27-jährige Helmuth Plessner an diese Universität, um bei dem Biologen Hans Driesch 27 die Habilitation vorzubereiten, der jedoch im folgenden Jahr nach Leipzig aufbricht, während Plessner als Privatdozent in Köln bleibt. Das an Begegnungen so reiche Wintersemester 1919/20 wird von einigen als Geburtsstunde der Philosophischen Anthropologie 28 angegeben, die sich folglich auch in Gegenwart Bergsons ereignet – auch wenn es sich um eine nur heraufbeschworene Gegenwart handelt in einer der ersten Vorlesungen, die in Deutschland über seine Philosophie gehalten werden. Schelers Rückbesinnung auf Bergson im Jahr 1920 verdankt sich wahrscheinlich dem Bedürfnis, seine Philosophie zum Zeitpunkt der Überarbeitung von Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Hass 29 zu fokussieren, einem Essay von 1913, der in einer aktualisierten und im Umfang mehr als verdoppelten Fassung 1922 neu herausgegeben wird, diesmal unter dem Titel Wesen und Formen der Sympathie. 30

tischen Motivs in der Erkenntnis der Welt (1925), in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. VIII: Die Wissensformen und die Gesellschaft, 1980; Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. IX: Späte Schriften, 1976, S. 7– 71. 27 Driesch bietet ein Zeugnis der mit Scheler in Köln verbrachten Zeit in Hans Driesch, Lebenserinnerungen, a. a. O., S. 162–166. Heike Delitz beschäftigt sich mit der Rolle Bergsons in der Philosophie von Plessner (1892–1985) in H. Delitz, Lebensphilosophie und Philosophische Anthropologie. Henri Bergson und Helmuth Plessner, in G. Plas – G. Raulet (Hg.), Konkurrenz der Paradigmata, a. a. O., S. 279–307. 28 Vgl. Joachim Fischer, Philosophische Anthopologie: eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Karl Alber, Freiburg – München 2008, S. 23. Was die Philosophische Anthropologie Bergson verdankt, wird auch im zweiten Teil der Studie von G. Raulet, Ein fruchtbares Missverständnis, a. a. O., untersucht. 29 Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und Haß, Niemeyer, Halle 1913. 30 M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie (1922), in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. VII, Bouvier, Bonn 1973 (Neuaufl. 2009), S. 7–258. Bergsons Interesse ist in vielen Aktualisierungen, die der zweiten Auflage von 1922 hinzugefügt wurden, feststellbar: insbesondere lieferte L’évolution créatrice Scheler wichtige Elemente, um die Rolle der Sympathie für die Erkenntnis zu bestimmen sowie die Aufgliederung von Individuum und Gesellschaft in der Perspektive einer überindividuellen Einheit des Lebens.

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Im Laufe der 1920er Jahre bleibt Bergson ein Bezugspunkt für die anthropologischen Reflexionen Schelers, der in dem Artikel Erkenntnis und Arbeit die Bergson’sche Figur des Homo faber zum Wahrzeichen der pragmatischen Erkenntnisauffassung macht. Er nimmt es im Essay Die Stellung des Menschen im Kosmos 31 von 1928 wieder auf, dem Herzstück eines umfangreicheren Werks, das zu vollenden Scheler wegen seines frühzeitigen Todes 1928, mit 54 Jahren, nicht mehr die Zeit hat. Kurzum, man kann sagen, dass die Philosophie Bergsons für Scheler eine der bedeutsamsten Inspirationsquellen seiner eigenen Philosophie 32 darstellt, die nur hinter derjenigen Husserls zurücksteht, deren Einfluss in den 1910er Jahren besonders groß ist. Die wichtigste Etappe des Dialogs zwischen Bergson und Scheler, der mit dem Ersten Weltkrieg abbricht 33, ist Schelers Aufsatz von 1913 über Der Vortrag Die Sonderstellung des Menschen findet statt am 28. April 1927 anlässlich der Tagung »Mensch und Erde« in der Darmstädter Schule der Weisheit, die von Keyserling gegründet und geleitet wurde. Der Text erscheint unter dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos 1927 zunächst in der Zeitschrift »Der Leuchter«; im Jahr 1928 besorgt der Darmstädter Verleger Otto Reichl eine Neuausgabe, erweitert um ein Vorwort von drei Seiten. Der Text der Gesammelten Werke, a. a. O., Bd. IX, S. 7–71, hg. von Manfred Frings, basiert auf dem Text, den Maria Scheler, die dritte Frau des Philosophen, einem Manuskript entnommen hat, das jedoch nie im Archiv aufgefunden wurde. Die Originalausgabe von 1928 wurde erst wieder in der italienischen Übersetzung von Guido Cusinato veröffentlicht, La Posizione dell’Uomo nel Cosmo, Franco Angeli, Mailand 2004; eine deutsche Ausgabe, hg. von Wolfhart Henckmann, erscheint 2018 bei Felix Meiner. 32 Zur Bestätigung der dem französischen Philosophen zugeschriebenen Bedeutung erinnere ich daran, dass Scheler in einem Aufsatz über die zeitgenössische deutsche Philosophie aus dem Jahr 1922 so weit geht, zu behaupten: »Der Einfluß Bergsons […] läßt sich mit keinem Einfluß eines Deutschen vergleichen«, M. Scheler, Die deutsche Philosophie der Gegenwart (1922), in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. VII, S. 264. 33 Scheler erinnert in der ersten Stunde der Kölner Vorlesung von 1920 selbst an den Abbruch ihrer Beziehungen seit 1914. Es ist auszuschließen, dass es in den Folgejahren Kontakte, und seien es auch nur indirekte, gab. Auch die Übersetzung der Werke Schelers ins Französische beginnt erst nach seinem Tod. Im Übrigen sind die französischen Studien zu Schelers Werk spärlich. Nur die Arbeit von Georges Gurvitch geht der Veröffentlichung von DS voraus, vgl. G. Gurvitch, L’intuitionnisme émotionnel de Max Scheler, in Les tendances actuelles de la philosophie allemande: E. Husserl, M. Scheler, E. Lask, M. Heidegger, Vrin, Paris 1930, S. 67–152. Unter den ersten Scheler gewidmeten Artikeln in Frankreich sind zu erwähnen die Rezension von Merleau-Ponty von L’homme du ressentiment, vgl. M. Merleau-Ponty, Christianisme et ressentiment, »Vie Intellectuelle«, VIII (1935), 36, 10. Juni, S. 278–306, wieder abgedruckt in Parcours 1935–1951, Verdier, Lagrasse 1997, S. 9–33 und Louis Lavelle, 31

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Bergson im Kreis der Phänomenologen

die Lebensphilosophie, der eines der bedeutsamsten Zeugnisse sowohl der Rezeption Bergsons im Göttinger Kontext als auch seiner Interpretation in lebensphilosophischer Perspektive darstellt.

Intelligence et sympathie, in Le Moi et son destin, Aubier, Paris 1936, S. 39–50; vgl. außerdem Paulus Lenz-Medoc, Max Scheler und die französische Philosophie, »Philosophisches Jahrbuch«, LXI (1951), S. 297–303.

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2. Lebensphilosophie und Psychologismus

Die Lektüre des Essai und von Matière et mémoire in den ersten Jahren des Jahrhunderts hat Scheler so sehr beeindruckt, dass er den Herausgeber Diederichs dazu auffordert, seine Werke ins Deutsche zu übersetzen. Der anfänglichen Aufmerksamkeit für die Bergson’schen Theorien der Wahrnehmung und der Dauer, die in den ersten Werken 1 erklärt werden, folgt das Interesse für die Themen von L’évolution créatrice, das Scheler zu »dem merkwürdigsten Werke Bergsons« 2 erklärt und für sein »metaphysisches Hauptwerk« 3 hält. Die Theorie der Evolution des Lebens und das Thema der Verbindung von Leben und Bewusstsein im Menschen sind die Fragen der Philosophie Bergsons, auf die sich Scheler in Versuche einer Philosophie des Lebens am meisten konzentriert, wo deren Untersuchung auf der Folie einer Gegenüberstellung mit der deutschen Anlage der Lebensphilosophie erfolgt. Mit dieser Kategorie bezieht man sich in diesen Jahren gewöhnlich auf eine Strömung, die den Begriff des Lebens ins Zentrum ihres Denkens stellt. Ihre Vertreter finden sich insbesondere in einer Konstellation von Autoren an der Jahrhundertschwelle, die sich, im Gefolge Nietzsches, bemühen, aus dem Rahmen der rationalistischen Trennung von Subjekt und Objekt auszubrechen – nicht nur auf der Ebene des inneren Lebens, sondern auch seines sozialen und kulturellen Ausdrucks. Die Lebensphilosophie repräsentiert nicht nur eine der Hauptalternativen zum Neukantianismus und zum Positivismus, sondern sie bekennt sich auch zu ihrer ureigenen Affinität zum Pragmatismus von James und zur Philosophie von Bergson. Bergson selbst wird daher, vereinnahmt von

Dieser Aspekt von Schelers Bergson-Lektüre wird behandelt im Aufsatz von Guido Cusinato, Intuizione e percezione: Bergson nella prospettiva di Scheler, »Annali di discipline filosofiche dell’Università di Bologna«, VIII (1986/87), S. 117–145. 2 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 336. 3 Ders., Bergson-Heft, BSB, Ana 315, B, I, 99, Bl. 1. 1

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Lebensphilosophie und Psychologismus

der Lebensphilosophie, den deutschen Lesern häufig durch die Analogie mit der pragmatistischen Strömung vorgestellt. 4 Der Gesichtspunkt, von dem die Reflexionen Schelers im Aufsatz von 1913 ihren Ausgang nehmen, ist weitgehend einer BergsonRezeption verpflichtet, die in der deutschen Kultur seinerzeit weit verbreitet ist. Sie neigt dazu, ihn als Lebensphilosophen zu etikettieren und ihn in der Debatte über Leben und Geist zu positionieren, die in den Jahren nach dem Tod Nietzsches sehr heftig geführt wird. 5 In seinem Artikel stellt Scheler Bergson neben Nietzsche und Dilthey als einen der Gründerväter der Lebensphilosophie dar und sieht in der Frage des Lebens den eigentlichen Angelpunkt seiner Philosophie. 6 Schelers Essay über die Lebensphilosophie ist nicht nur wegen seines dokumentarischen Charakters interessant: Abgesehen davon, dass es sich dabei um ein Musterbeispiel der Bergson-Rezeption in Deutschland handelt, ist dieser Text auch hilfreich, um die Bergson’sche Philosophie selbst zu erhellen. Es geht in der Tat um die kritische Lektüre eines Autors, der häufig als ein Spiritualist betrachtet wird, durch einen Autor, der seinerseits als Spiritualist gilt. Diese ermöglicht es, die Verschiedenheit der Deutungen des Lebens im deutsch-französischen Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beleuchten. Scheler liest Bergson im Ausgang von der zentralen Dualität, die in seiner eigenen Philosophie zwischen den beiden unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Prinzipien des Lebens und des Geistes herrscht. Bergsons Denken erscheint in der von Scheler präsentierten Auffassung schließlich gespaltener, als es tatsächlich ist, zwischen einem geistigen und einem vitalen Prinzip, zwischen Das geht z. B. hervor aus A. Keller, Eine Philosophie des Lebens. Henri Bergson, a. a. O.; Ph. Lersch, Lebensphilosophie der Gegenwart, Juncker und Dünnhaupt, Berlin 1932 sowie aus dem späteren kritischen Essay von Hans Urs von Balthasar, La philosophie de la Vie chez Bergson et chez les Allemands modernes, in Albert Béguin – Pierre Thévenaz (Hg.), Henri Bergson: Essais et témoignages, La Baconnière, Neuchâtel 1943, S. 264–270. 5 Für einen Einblick in diese Debatte besonders in den 1910er und 1920er Jahren s. E. Simonotti, La svolta antropologica. Scheler interprete di Nietzsche, a. a. O., S. 29– 54. 6 Auch in seiner 1919/20 in Köln gehaltenen Vorlesung behauptet Scheler, nachdem er die Kategorien angegeben hat, auf die sich die Philosophie Bergsons bezieht (u. a. Leben und Materie, Instinkt und Intelligenz, Individuelles und Allgemeines, Zeit und Raum, Qualität und Quantität …): »Aber unter diesen Kategorien ist doch eine, die alle anderen überragt, in der sich diese so mannigfaltige, subtile Philosophie zusammenfaßt: Leben«, M. Scheler, Bergson-Heft, BSB, Ana 315 B I 99, Bl. 5. 4

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Mystizismus und Biologismus. Im Licht dieser Interpretation lässt sich die Richtung, in die Bergson seine eigenen philosophischen Bemühungen lenkt, deutlicher nachzeichnen. Die Behandlung Bergsons macht beinahe die Hälfte des Essays Versuche einer Philosophie des Lebens aus: Indem er ihm eine so große Bedeutung im Kontext der europäischen Philosophie zuerkennt, verfolgt Scheler ohne Zweifel gegenüber einem Großteil der deutschen Intellektuellen – besonders der Neukantianer, die ihn ostentativ ignorieren – eine polemische Absicht. Scheler scheint sie im Auge zu haben, wenn er, um Bergson einzuführen, behauptet: Der Name Bergson durchtönt in so aufdringlich lauter Weise die Kulturwelt, daß die Eigentümer feinerer Ohren zweifelnd fragen mögen, ob man wohl solchen Philosophen lesen soll. Denn mehr denn je muß heute der Beifall der Bildungs- und Literatenmasse den Weisen erröten machen. Dann mögen sich jene Feinohrigen sagen lassen, daß man Bergson trotzdem lesen soll. Er hat etwas zu sagen. 7

Gleichzeitig wahrt Scheler gegenüber Bergson eine kritische Distanz: »Wir gehören nicht zu denen, die, sei es in der Methode dieses Philosophen, sei es in seinen Theorien und Resultaten, einen endgültigen Erwerb der Philosophie zu sehen vermögen«. 8 Den »misologischen Psychologismus« 9, dessen Ausdruck die Philosophie Bergsons ist, hat nunmehr, so Scheler, die Husserl’sche Phänemenologie überwunden. In der Tat ist er der Meinung, dass der von Bergson und den anderen Lebensphilosophen aufgezeigte und zum Teil beschrittene Weg mit ihrer Berufung auf das Erleben nur zur Vollendung gelangen wird mit einer »genaueren, strengeren – und deutscheren Art des Verfahrens« 10, wie die von Husserl in den Logischen Untersuchungen und in den Ideen aufgezeigte.

M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 323 f. Ebd., S. 324. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 339. Der Verleger Diederichs antwortet auf diese Behauptung in einem Text von 1913: »Es ist spaßhaft, daß man in Deutschland, ehe Bergson bekannt wird, schon davon spricht, er müsse überwunden werden. Als ob es nicht eine dringende Notwendigkeit für uns wäre, den Nationalismus mit Hilfe Bergsons zu überwinden. Ich kann persönlich nur dankbar bekennen, daß nichts mein Verhältnis zum Leben so fruchtbar gemacht hat, als Bergsons Stellung zur Intuition und zum Lebensprozeß«, vgl. E. Diederichs, Wo stehen wir? (1913), in Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, a. a. O., S. 45. 7 8

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Lebensphilosophie und Psychologismus

Außerdem versucht Scheler in seinem Artikel, die Philosophie Husserls mit der Logik des Erlebens zu verbinden, wobei er bei Bergson eine neue Grundhaltung anerkennt, in der man eine Art phänomenologische Version der Lebensphilosophie sehen kann: 11 Bergsons wahrhafte Größe liegt auf einem anderen Boden. Sie liegt in der Macht, mit der er die Haltung des Menschen zur Welt und zur Seele in eine neue, von der Grundrichtung alles spezifisch neuzeitlichen Denkens abweichende Richtung zu drängen wußte. […] Die neue Haltung mag zunächst, vage genug, emotional als ein Sichhingeben an den Anschauungsgehalt der Dinge, als die Bewegung eines tiefen Vertrauens in die Unumstößlichkeit alles schlicht und evident »Gegebenen« […] bezeichnet werden. […] Nicht der Wille zu »Beherrschung«, »Organisation«, »eindeutiger Bestimmung« und Fixierung, sondern die Bewegung der Sympathie, des Daseingönnens, des Grußes an das Steigen der Fülle, in der einem erkennend hingegebenen Blick die Inhalte der Welt allem menschlichen Verstandeszugriff immer neu sich entwinden und die Grenzen der Begriffe überfließen, durchseelt hier jeden Gedanken. 12

Das Vertrauen Bergsons in das, was auf einfache und unmittelbare Weise »gegeben ist«, geht Hand in Hand mit der beherrschenden Rolle, die dem Leben und dem Erleben zugeschrieben wird. Diese neue philosophische Haltung wird bald eine der polemischen Zielscheiben von Rickerts Essay über die Lebensphilosophie, wo er gegen die Scheler’sche Philosophie zu Felde zieht: »Philosophisch reich und lebendig wird man bei der ›neuen Haltung‹ nicht werden. Philosophie muß bleiben, was sie war: Nachdenken über die Welt mit dem Ziel, sie begrifflich zu beherrschen, sie zu organisieren und eindeutig zu bestimmen. Die Hingabe an den Anschauungsgehalt kann nie genüVgl. J. Fischer, Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 26: »Scheler behauptete, dass in Bergsons ›neuer Haltung‹ die ›gesamte philosophische Problematik‹ eine ›neuartige Anordnung und Verschlingung‹ gewinne und kennzeichnete das als die lebensphilosophische Drehung der Phänomenologie«. Die Verwandtschaft Bergsons mit der deutschen Phänomenologie unterstreicht Scheler auch in der Kölner Vorlesung, vgl. M. Scheler, Bergson-Heft, BSB, Ana 315, B, I, 99, Bl. 9: »Internationale Bewegung analoger Richtung – oder ursprüngliche/historische Abhängigkeit voneinander. 1.) Rußland: Losskyi: Intuitivismus. 2.) Phänomenologie von E. Husserl. 3.) Englisch-amerikanischer Pragmatismus: Maxwell, W. James, Schiller u. a. Starke Verwurzelung im englischen Denken: Radikaler Empirismus, aber mehr noch durch Gegnerschaft gegen: Assoziationspsychologie, Darwinismus. 4.) Gemeinsam mit junger deutscher Philosophie: 1. Driesch, 2. Stern, 3. Phänomenologie, 4. Verwandtschaft mit badischer Schule: Individualismus, 5. Keyserling, 6. Simmel, 7. Dichter Werfel: Expressionismus«. 12 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 324 f. 11

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gen«. 13 Scheler hingegen weiß gerade den Umstand zu schätzen, dass für Bergson die Philosophie diejenige Erkenntnis ist, die sich auf das pure Gegebene wirft, wie es in sich selbst ist, bevor es in die verformende menschliche Erfahrung eingeordnet wird. Scheler unterstreicht außerdem die Verbindung zwischen der Lebensphilosophie Bergsons mit dem Pragmatismus und bemerkt: »Alle Wissenschaft hat mithin nach Bergson einen pragmatischen Einschlag. Das Aktionssystem des Organismus ist die Grundlage und das Urbild auch seines Intelligenzsystems«. 14 Die Wahrnehmung, so wie sie seit dem Essai und seit Matière et mémoire beschrieben wurde, zielt nicht auf die Erkenntnis ab, sondern stellt sich dar als einen Akt der Dissoziation und Selektion im Dienst der Handlung, welcher praktischen Bedürfnissen biologischen Ursprungs entspricht. Die Begriffe ihrerseits, deren sich die Intelligenz bedient, also die allgemeinen von der Sprache ausgedrückten Ideen, spiegeln das utilitaristische und räumliche Schema dieser Art von Wahrnehmung wider. 15 Wie es in diesen Jahren häufig vorkommt, wird Bergson dem Pragmatismus an die Seite gestellt; einer Strömung, die in Deutschland oft kritisiert wird wegen ihres Bezugs auf eine Intelligenz relativer Tragweite, die einzig von den Kriterien der Handlung bestimmt wird, unfähig, die Natur der Dinge zu erfassen. Scheler erkennt jedoch an, dass die Erkenntnistheorie Bergsons nicht, wie der Pragmatismus, bei der Kritik der Intelligenz stehen bleibt, sondern eine Theorie der Intuition entwickelt, die Zugang zu einer unmittelbaren Erkenntnis der Dinge verschaffen möchte, ungefiltert von den Schemata der Handlung: Anstatt durch eine »natürliche Verständnislosigkeit für das Leben« 16 charakterisiert zu sein wie die Intelligenz, bewegt sich die Intuition vielmehr »im Sinne des Lebens selber«. 17 Für Scheler haben wir es hier mit einem »mystischen Erkenntnisideal« 18 zu tun, das jedoch mit Positionen ganz anderer Signatur einhergeht, wie dem Psychologismus und dem Biologismus: An dieser gefährlichen Stelle wird Bergsons Philosophie nicht nur Mystik, sondern außerdem sehr fragwürdige psychologistische Mystik. Das psy-

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H. Rickert, Die Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 53. M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 326. Ebd., S. 329 f. Bergson, Schöpferische Entwicklung, a. a. O., S. 170. Ebd., S. 271. M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 327.

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Lebensphilosophie und Psychologismus

chische Sein und Wesen gewinnt hier nicht nur einen Umfang, der auch das »Leben« in sich aufnehmen soll und die unableitbare Selbständigkeit des Lebensphänomens aufhebt, sondern es erscheint wie ein Tor in das Wesen der Dinge selbst, in die geheime Werkstätte alles und jedes Werdens überhaupt. Die »Natur« verliert hier das selbständige und eigenherrliche Sein, das ihr zukommt, und gewinnt den an orientalische Sündenfallskosmogonien gemahnenden Charakter einer bloßen »Entspannung der Seele«, einer Dissoziation und Desorganisation ihrer konzentrierten Einheit und ursprünglichen Freiheit. Überall verfällt hier auch Bergson der weitverbreiteten Täuschung, die psychische Tatsache für »unmittelbarer gegeben« zu halten als die physische Erscheinung. 19

In Schelers Rekonstruktion nimmt Bergson also eine Reduktion der Natur auf die Psyche vor, wobei er als Vertreter des Psychologismus auftritt und eine recht problematische Version der Mystik bietet. Es ist hier darauf hinzuweisen, dass in Schelers Hellhörigkeit für den Psychologismus die intellektuelle Atmosphäre von Göttingen nachklingt, wo sowohl Husserl als auch Koyré und die anderen Mitglieder der Philosophischen Gesellschaft sich eifrig bemühen, dieser Richtung entgegenzutreten. 20 In der Tat wird Bergsons Lebensphilosophie von Scheler kritisiert: Sie sei unfähig, die psychologische Sphäre von der spirituellen zu trennen, und außerdem beruhe sie auf einer psychologistischen Auffassung der Mystik. Für Scheler hingegen ist es weder möglich, den Geist bloß als eine Blüte des Lebens zu betrachEbd., S. 333. Der von Scheler bei Bergson festgestellte Psychologismus sollte in der deutschen Philosophie einen beträchtlichen Nachhall haben und damit indirekt auch in der französischen Philosophie nach dem Krieg. Jankélévitch macht 1959 in einem Interview darauf aufmerksam: »Das hauptsächliche Geschenk, das die Befreiung Frankreich gebracht hat, war, leider! die deutsche Metaphysik. Unsere Jugend weiß vermutlich nicht, dass die neueste deutsche Philosophie ihrerseits von Bergson beeinflusst wurde. Max Scheler, den ich bei Léon Brunschvicg getroffen habe, interessierte sich sehr für Bergson und zitierte ihn häufig. Ein anderer deutscher Philosoph, Simmel, war mit Bergson befreundet und sehr von ihm beeinflusst. Sie waren sich in Florenz begegnet. Bergson war genau so existentiell wie die Existentialisten. Was die Arbeiten Husserls angeht, so wurden sie in Frankreich erst nach 1945 bekannt, auch wenn sie zum Teil früher als diejenigen Bergsons sind. Aber die Beliebtheit der deutschen Philosophie nach dem letzten Krieg hat dazu beigetragen, unter unseren jungen Leuten eine Karikatur zu verbreiten, der zufolge Bergson ein distinguierter Spiritualist wäre, ein Dandy der Philosophie, der die innere Dauer abhorcht und nicht über psychologische Beobachtungen hinausgeht. Nichts falscher als das. Der Bergsonismus ist eine Philosophie der Avantgarde«, vgl. Françoise Reiss, Trois professeurs: Jankélévitch, Canguilhem, Grassé répondent à une question: Quelle est la valeur actuelle de la philosophie bergsonienne?, »Arts«, Mai–Juni 1959.

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ten, noch irgendeine Art noetischer Gesetzmäßigkeit auf die biologische oder psychische Gesetzmäßigkeit zu reduzieren. Ebenso sind die ethischen und ästhetischen Werte nicht als Unterarten der vitalen Werte zu verstehen: Sie bestehen unabhängig von der Existenz des Lebens und der lebenden Organismen. Bergsons Lehre von der Intuition betrachtet hingegen – gleichgültig gegenüber den Werten – nur die Lebewesen und die Ausrichtung ihrer bewussten Aktivität auf das Leben: Vom Standpunkt Schelers aus setzt diese Position die spirituelle Dimension auf das Niveau der biologischen herab und endet schließlich in einer monistischen und biologistischen Metaphysik. Die Kritik an der angeblichen Verwirrung zwischen spiritueller, psychologischer und biologischer Sphäre bei Bergson ist in Beziehung zu setzen mit Schelers Berufung auf ethische und ästhetische Werte, die von der Existenz des Lebens und der lebenden Organismen unabhängig sind. Sie kann verstanden werden als eine Art und Weise, sich von der Position Nietzsches abzuheben und sich gegen die Anklage eines brutalen Amoralismus zu schützen – eine Gefahr, die zu der Zeit, in der Scheler schreibt, sehr spürbar war. 21 Außerdem beschränkt sich Bergson, laut Scheler, nicht darauf, die Natur auf die Psyche zu reduzieren, sondern er behandelt die psychischen Gegebenheiten auch weiterhin als Naturphänomene. So gerät er gleichzeitig in eine naturalistische Position. Die Psyche dehnt sich so weit aus, dass sie das Leben selbst in ihr Gebiet einschließt; dabei gehen die Unabhängigkeit des biologischen Phänomens und die Autonomie der Natur, die von Scheler hingegen anerkannt werden, verloren. Die widersprüchliche Spannung zwischen naturalistischem Biologismus und psychologischem Mystizismus 22, die in Bergsons Erkenntnislehre präsent ist, wird letztendlich seiner Überbewertung der metaphysischen Rolle des Lebens zugerechnet. Vom Thema der Aufgliederung von Geist und Leben aus zeigt Vgl. hierzu die Überlegungen von H. U. von Balthasar, La philosophie de la Vie chez Bergson et chez les Allemands modernes, a. a. O. Seit den 1910er Jahren macht das Fehlen einer Moral in Bergsons Lehre viele Interpreten ratlos. Sie fragen sich, wie man sittliche Normen und Werte im Ausgang von einer Schöpfung ohne ein Ziel und ohne eine Richtung des Lebens begründen kann, es sei denn, man setzt das Leben selbst als höchstes Ziel. 22 In der Vorlesung über Bergson von 1920 erkennt Scheler in der Philosophie Bergsons zwei Pole: »Biologismus und Mystik« – Begriffe, hinter denen man ohne Mühe die damals für sein Denken grundlegenden Prinzipien ausmacht: das Leben und den Geist. M. Scheler, Bergson-Heft, BSB Ana 315, B, I, 99, Bl. 5. 21

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Lebensphilosophie und Psychologismus

sich deutlich, dass Scheler und Bergson dasselbe Problem teilen, und zwar den zweifachen Charakter unserer Erfahrung zu begreifen. Die Lösungen, die im Ausgang von dieser gemeinsamen Fragestellung erarbeitet wurden, unterscheiden sich jedoch zutiefst. Schelers Kritik an der Lebensphilosophie und an Bergson betrifft nämlich den Begriff des Lebens selbst: In der Phase seines Denkens, aus der der Essay Versuche einer Philosophie des Lebens stammt, neigt Scheler zu einer Polarisierung des Lebens gegenüber dem Geist, die mehr auf deren Entgegensetzung bedacht ist, während Bergson vielmehr dazu tendiert, Bewusstsein und Leben zusammenfallen zu lassen. In Schelers Werken aus den 1920er Jahren, bis zum Essay über Philosophische Anthropologie Die Stellung des Menschen im Kosmos sollte sich der Gegensatz zwischen Geist und Leben abmildern, insbesondere durch die Ausarbeitung einer Theorie des Eros. 23 Im Aufsatz von 1913 hingegen wird das Leben – außer als gelebte Erfahrung – hauptsächlich in seinem biologischen Sinn verstanden, unabhängig vom Geist und ohne in seinem Schoß irgendeinen spirituellen Wert anzunehmen. Mit einem Wort, das Leben wird als Drang verstanden, als vitaler Trieb, der jede Transzendenz ausschließt.

Wie die Studien von Guido Cusinato gezeigt haben, sehnen sich (vor allem in Schelers Phase der Philosophischen Anthropologie) Geist und Leben nacheinander, statt sich in dualistischer Art und Weise gegeneinander aufzulehnen, und sie durchdringen einander wechselseitig; vgl. G. Cusinato, Le ali dell’eros. Per una riconsiderazione dell’antropologia filosofica di Max Scheler, »Annuario filosofico«, XV (1999), S. 383–420; s. auch ders., La tesi dell’impotenza dello spirito e il problema del dualismo dell’ultimo Scheler, »Verifiche«, XXIV (1995), S. 65–100, wo er die seit dem Aufsatz von Cassirer kanonische Lektüre kritisiert: vgl. E. Cassirer, »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart (1930), in Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Aufsätze und Kleine Schriften (1927–1931), Felix Meiner, Hamburg 2004, S. 185–204.

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3. Leben und Bewusstsein im Menschen

Bereits in dem Essay aus dem Jahr 1913 wird der Unterschied hinsichtlich der Anschauungen von Leben und Geist, die Scheler und Bergson vertreten, auf anthropologischer Ebene besonders deutlich. Scheler führt nämlich die Eigenart des Menschen in L’évolution créatrice auf das gewandelte Verhältnis zurück, in dem das Leben und der Geist zueinander stehen. Schaut man auf den Rest der Lebewesen, so dreht es sich um: »Die eigenartige Stellung des ›Menschen‹ in der Lebewelt ist dann darin gegründet, daß auf dieser Stufe des Lebens zuerst eine Art Umkehr des Verhältnisses von ›Geist‹ und ›Leben‹ beginnt«. 1 Die Überlegenheit des Geistes erlaubt es dem Menschen, seine Routine zu variieren und frei zu wählen. So entkommt er der Fessel, die sein Tun an die Elemente der Umwelt bindet, die utilitaristischen Kriterien entsprechen: Es »tritt im Menschen ein freier Überschuß des Geistes über die Lebensnotdurft hervor, und damit eine mögliche Entwindung des Geistes aus den eisernen Klammern der Milieustruktur (und des ihr entsprechenden Kategoriensystems) zu einem freien Blick in das All der Welt selbst«. 2 Um die Eigenart des Menschen sicherzustellen, beruft sich Scheler also auf ein dem Leben entgegengesetztes Prinzip, das es dem Menschen erlaubt, dem Drang zu widerstehen und sich von den biologischen Bedürfnissen zu emanzipieren. In dem Essay Zur Idee des Menschen (1915), in zeitlicher Nähe zu Versuche einer Philosophie des Lebens, bestimmt Scheler den Menschen als »die Intention und Geste der ›Transzendenz‹ selbst, […] das Wesen, das betet und Gott sucht« 3, aufgrund seiner Beziehung auf eine Transzendenz, die über M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 331. Ebd. 3 Vgl. M. Scheler, Zur Idee des Menschen, a. a. O., S. 186. Auf diesem Weg kommt er in Die Stellung des Menschen im Kosmos dazu, den Menschen als Asketen des Lebens darzustellen, bzw. als den, der zum Leben Nein sagen kann: »Der Mensch ist das Lebewesen, das kraft seines Geistes sich zu seinem Leben, das heftig es durchschauert, 1 2

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die biologische und instinktgesteuerte Sphäre hinausgeht. In der Interpretation von Bergsons Anthropologie, die er im Essay von 1913 vornimmt, nähert Scheler ihn somit seiner eigenen Sicht des Menschen als Wesen der Transzendenz an und seiner eigenen Auffassung der Person, die vom Vorrang des Geistes ausgeht. Bergsons Mystik sui generis, in der Scheler Spuren von Psychologismus und Biologismus zu sehen glaubt, hat jedoch Auswirkungen auch auf die Bergson’sche Anthropologie. In den folgenden Essays 4, die sich durch eine immer deutlichere Distanzierung von der Lebensphilosophie auszeichnen, insistiert Scheler auf den irrationalistischen Ergebnissen von Bergsons Lehre von der Intuition und nähert daher dessen Idee vom Menschen derjenigen Nietzsches an. Die anthropologische Armut des Homo faber, wie er im dritten Kapitel von L’évolution créatrice beschrieben wird und für eine naturalistische und evolutionistische Auffassung typisch ist, trifft sich für Scheler mit der (dekadenten) Vision Nietzsches, wonach der Mensch ein krankes Tier ist: Er meint in der Tat, dass Bergsons Kritik der Intelligenz und der Anspruch des Erkenntnisprimats einer psychologistischen und biologistischen Intuition darauf abzielen, eine Art dionysischen Menschen oder Übermenschen wiederzugewinnen. Im Gegensatz zu den Menschenbildern, die die Rationalisten anbieten, sieht Bergson ein, dass die Logik von der Struktur der Arbeit des Organismus in seiner Umwelt abhängt. Allerdings lehnt er die positivistische Idee der völligen Kontinuität zwischen den höheren Primaten und dem Menschen ab, der sich von ihnen nur durch die Sprache und die Herstellung von Werkzeugen unterscheide. Laut Scheler (im Aufsatz über die Philosophie des Lebens) erkennt Bergson an, dass es hinter der Vernunft bzw. der Logik ein spirituelles Bewusstsein gibt, das sich von den biologischen Zwängen befreit und in der Lage ist, mit der Vernunft die Welt an sich zu erfassen. So lässt es den Menschen zum Übermenschen fortschreiten. Homo ist also nur faber, um ein höherer Mensch zu werden. prinzipiell asketisch – die eigenen Triebimpulse unterdrückend und verdrängend, d. h. ihnen Nahrung durch Wahrnehmungsbilder und Vorstellungen versagend – verhalten kann. Mit dem Tiere verglichen, das immer ›Ja‹ zum Wirklichen sagt – auch da noch, wo es verabscheut und flieht –, ist der Mensch der ›Neinsagenkönner‹, der ›Asket des Lebens‹, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit«. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, a. a. O., S. 44. 4 S. vor allem M. Scheler, Erkenntnis und Arbeit, a. a. O. und ders., Mensch und Geschichte, »Die Neue Rundschau«, II (1926), S. 449–476.

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Bereits 1915, in Zur Idee des Menschen, besteht Scheler jedoch stärker auf der biologistischen Konsequenz von Bergsons Philosophie sowie auf der Verbindung seiner Lehre von der Intuition mit dem Leben. Hier setzt – nach Scheler – die vom Bergson’schen Übermenschen erhoffte Wiederannäherung an das Leben eine Idee des Geistes als Krankheit voraus und folglich des Menschen als »krankes Tier« und »Sackgasse des Lebens«. Der Geist wird so auf die rein technische Vernunft reduziert, im Gegensatz zu der die Lebensphilosophen die Wiedergewinnung eines biologistischen Dionysismus erhoffen, wobei der Lebensdrang in einen positiven Wert verwandelt wird. Scheler wirft Nietzsche vor, er habe es bei einem negativen Urteil über den »biologischen Mangel« des Menschen bewenden lassen, indem er die Verantwortung hierfür dem Geist zuschrieb, der sich im philiströsen und technizistischen Intellektualismus zeigt – der Zielscheibe von Nietzsches Kritik an der Zivilisation. Scheler zieht hingegen auch die positive Möglichkeit des kranken Tieres in Betracht, das Leben zu transzendieren. Daher darf man – obwohl Scheler zur Beschreibung des Menschen Formeln mit nietzscheanischem Nachhall benutzt wie »das kranke Tier«, »der Neinsagenkönner« oder »die Sackgasse des Lebens« – sein Denken nicht mit dem des Philosophen Zarathustras verwechseln. Scheler bezieht in Zur Idee des Menschen selbst zu dieser Sicht des Menschen Stellung: »Das kranke Tier, das Verstandes- und Werkzeugstier – zweifellos ein sehr häßliches Ding – es wird sofort schön, groß und voll Adel, wenn man einsieht, daß es dasselbe Ding ist, das eben durch diese Tätigkeit (die sich gemessen an ›Lebenserhaltung‹ und ihren Zielen so überaus lächerlich ausnimmt) auch das alles Leben und in ihm sich selbst transzendierende Wesen ist oder werden kann«. 5 Scheler sieht also die Eigenart des Menschen 5 Vgl. M. Scheler, Zur Idee des Menschen, a. a. O., S. 186. In diesem Zusammenhang sind die Bemerkungen von Troeltsch besonders einschlägig: »So kommt es trotz aller Unsicherheiten des Entwicklungsgedankens bei Scheler doch zu dem Bilde eines universalhistorischen Prozesses, das recht interessant ist, wenn es auch mehr den phänomenologisch gedeuteten Instinkten dieses katholischen Nietzsche als den Normbegriffen der Husserlschen Schule zu verdanken ist. Der Mensch ist darnach, wie bei Nietzsche die Sackgasse der biologischen Evolution, das kranke Tier, das nur mehr in geistiger Richtung sich höher entwickeln kann und damit seine animalische Kraft aufzehrt. Der historische Mensch, auf den es allein ankommt, entsteht an verschiedenen Punkten, und zwar jedesmal erst durch den Durchbruch des Gottesbewußtseins, worin er – das zeigt einen grundsätzlichen Unterschied gegen Nietzsche – die Kraft hat, die niederziehenden Schwächen seiner übergeistigen und zugleich doch den Geist durch eine ungeheure Werkzeugs- und Apparatsanhäufung erstickenden Entwick-

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gegenüber dem Tier gerade in der Vorherrschaft des Geistes über das Leben und in der Fähigkeit, zum Leben Nein zu sagen. Der Homo faber wird von Scheler in der Tat als eine Form der Demütigung des Menschen und seiner antiken Auffassung als vernunftbegabtes Wesen interpretiert: Der Mensch, der Werkzeuge herstellen muss, um zu überleben, ist ein lächerliches Wesen, das nach Scheler seine Würde nicht in der Arbeit wiedererlangt (wie bei den Positivisten und Pragmatisten), sondern in der Überwindung der animalischen Natur durch die Idee und die göttliche Erleuchtung. Die Eigenart des Menschen lässt sich nämlich nicht durch einen terminus a quo, sondern nur durch einen terminus ad quem bestimmen: Seine wahre Menschlichkeit liegt in seiner Bezugnahme auf einen Zweck, auf den Übermenschen oder auf Gott. In diesem Sinne interpretiert Scheler bereits im Essay von 1913 die Haltung des Menschen zur Produktion als Funktion seiner Leidenschaft für die Transzendenz, denn die wahre Funktion der Werkzeuge ist es, den Geist »zur Anschauung und Liebe Gottes und der Welt« 6 zu befreien. Indem er das kontemplative otium an die Spitze der menschlichen Möglichkeiten stellt, markiert Scheler einen wichtigen Unterschied zu Bergson, für den die reine Kontemplation nicht den höchsten Ausdruck weder des Menschseins noch des Lebens bedeutet. Das wird später auch in Les deux sources mit der Anerkennung der christlichen Mystik als einer vollständigen Mystik betont, eben weil ihr aktiver Schwung sie auszeichnet. Die kreative Dynamik des élan vital erschöpft sich nämlich auch in Les deux sources nicht in einem Ideal statischer Kontemplation. Dort entfaltet sich die vollständige Mystik im Leben der großen Männer und Frauen der Tat und wird von der Mechanik begleitet. Dass der Industrialismus ausgerechnet im Westen entstanden ist, hängt für Bergson aufs Engste mit der Dynamik der christlichen Mystik zusammen, deren Ursprung und deren Entwicklung ihrerseits die Kreativität des metaphysischen Prinzips des Lebens zum Ausdruck bringen. Scheler bemerkt also in der anthropologischen Vision Bergsons eine Spannung zwischen der Diskontinuität des Menschen gegenüber dem Rest der tierischen Welt (die zurückgeführt wird auf die Umkehr lung zu überwinden.« E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, a. a. O., S. 905 f. – Schelers Nietzsche-Interpretation wurde eingehend untersucht von E. Simonotti, La svolta antropologica, a. a. O. 6 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 331.

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der Hierarchie zwischen Geist und Leben) und deren Kontinuität (die Bergson schließlich mit seiner gleichzeitig psychologistischen und biologistischen Auffassung vertritt). Diese Spannung ist in der Tat unübersehbar seit der Philosophie von L’évolution créatrice, wo der Unterschied des Menschen vom Rest der Lebewesen allerdings nicht der Umkehr des Verhältnisses zwischen zwei Prinzipien zugeschrieben, sondern auf einen Erfolg zurückgeführt wird, den das Leben selbst errungen hat: Durch die menschliche Art gelingt es ihm, den Strom des Bewusstseins, der die Materie durchdringt, unendlich fortzusetzen: »Erst beim Menschen zerbricht das Bewußtsein die Kette. Beim Menschen, und nur beim Menschen macht es sich frei. Bis dahin war alle Geschichte des Lebens nur die Geschichte einer Anstrengung des Bewußtseins zur Hochhebung der Materie und seiner mehr oder weniger vollständigen Zermalmung durch die zurückfallende«. 7 Für Bergson »gehört das Leben der psychologischen Ordnung an« 8 und das Bewusstsein erstreckt sich so weit wie das Leben: 9 Der Entwicklungserfolg des Menschen wird daher nicht so sehr als ein Erfolg eines – vom Leben unterschiedenen – geistigen Prinzips verstanden, sondern als ein Erfolg des Lebens selbst. Der größte Irrtum des Spiritualismus, der in L’évolution créatrice kritisiert wurde, besteht gerade darin, das geistige Leben zu isoliert zu betrachten, sodass der Mensch schließlich vom Rest der Natur getrennt wird, während die Evolutionsgeschichte ihn anscheinend wieder ins Tierreich einbinden will. 10 Der Mensch befindet sich also für Bergson in einer ungewissen Position zwischen der biologischen Kontinuität mit dem Rest der Arten und der Diskontinuität gegenüber dem Rest der Natur kraft der Freiheit seines Bewusstseins. Die anthropologische Differenz in L’évolution créatrice gründet allerdings nicht in einem geistigen Prinzip, das ausschließlich auf menschlicher Ebene zum Einsatz käme: EC, S. 264 f.; dt. S. 268. Der letzte Satz wird deutlicher in der neuen Übersetzung von Margarethe Drewsen: Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Felix Meiner, Hamburg 2013, S. 299. »Die gesamte Geschichte des Lebens bis zu diesem Punkt war die einer Bestrebung des Bewußtseins, die Materie emporzuheben, und die der mehr oder minder vollständigen Zermalmung des Bewußtseins durch die wieder auf es herunterfallende Materie.« 8 EC, S. 258; dt. S. 261. 9 Ebd., S. 187; dt. S. 191: »Beide aber, Instinkt wie Intellekt, so fügten wir hinzu, heben sich ab von einem gemeinsamen Grunde, den man, in Ermangelung eines besseren Wortes, Bewußtsein überhaupt nennen könnte, und der gleichweit sein muß wie das gesamte kosmische Leben.« 10 Ebd., S. 269; dt. S. 272. 7

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Das Bewusstsein ist in der Tat »ursprünglich allem Lebenden eingeboren« 11 und deshalb auch entlang den anderen Evolutionslinien präsent. Bergson begreift das Leben also nicht univok und auf seinen biologischen und triebhaften Sinn beschränkt, als reinen Drang – in der Bedeutung, die Scheler ihm zuschreibt. Es lässt sich auch nicht auf einen ursprünglichen irrationalen Trieb zurückführen, oder auf eine blinde Macht, sondern es weist eine innere und irreduzible Spannung auf zwischen seiner wissenschaftlichen Bedeutung – das Leben als Art, als biologische Festlegung – und seiner metaphysischen Bedeutung – das Leben als élan vital, als Schöpfung.

11

ES, S. 11; dt. S. 10.

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4. Lebensphilosophie und Kapitalismuskritik

Ein Aspekt der Bergson-Interpretation in Schelers Essay von 1913, der vor allem für das Verständnis von Les deux sources interessant ist, sind die sozialen und politischen Konsequenzen, die der Autor aus Bergsons Lebensphilosophie zieht: Dabei nimmt er dessen Position zu Themen vorweg, die erst im Werk von 1932 zur Sprache kommen sollten. Bergsons Kritik am mechanistischen Weltbild, wie es die positiven Wissenschaften und die Assoziationspsychologie formulieren, wird von Scheler tatsächlich bis in die Sphären der gesellschaftlichen, juristischen und ökonomischen Organisation ausgedehnt. Ein Moment der Philosophie Bergsons, das Scheler offenbar in Versuche einer Philosophie des Lebens besonders schätzt, ist die Art und Weise, in der sich die Intuition der Erkenntnismodalität widersetzt, die »den durch die Erdenarbeit hypnotisch gefesselten Geistern« 1 eignet. So leitet Scheler im Ausgang von der Erkenntnistheorie Bergsons Berufung zu einer Kritik der modernen, kapitalistischen Zivilisation ab. Diese Kritik ist im Übrigen eine Konstante der deutschen Lebensphilosophie sowie des Neoidealismus Euckens, der Schelers erster Lehrer in seinen Jenaer Jahren war und der die Krise der zeitgenössischen Kultur besonders in ihrer zunehmenden Mechanisierung begründet sah. Sein Insistieren auf den Missständen der Zivilisation gilt vor allem dem Ausgreifen des seelenlosen Materialismus der Wissenschaft auf jedweden Bereich der menschlichen Kultur, besonders auf die Ebene der Religion, wo sich die Vorherrschaft des Intellektualismus und Dogmatismus über die Mystik festigt. In Euckens Jenaer Umfeld bekennt sich auch Diederichs zur Kritik an der Moderne und am neuzeitlichen Rationalismus – die Ausrichtung seines Verlags ist den Positionen des romantischen Antikapitalismus und der konservativen Revolution verpflichtet. 2 1 2

M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 327. Zu Diederichs’ Auseinandersetzung mit der Moderne und seinem Aufruf zur »neu-

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Die in Euckens Philosophie enthaltene Gesellschaftskritik wird von Benrubi in einem 1909 auf Französisch veröffentlichten Artikel hervorgehoben, wo er mehrfach darauf verweist, wie nah dessen Denken der Philosophie Rousseaus steht: »Eucken kämpft, wie Rousseau, gegen die unheilvollen Folgen der Zivilisation, gegen die innere Verarmung unseres Lebens«. 3 Euckens Philosophie ist für Benrubi ein Aufruf gegen den sozialen Determinismus im Namen der schöpferischen Freiheit des Geistes: »Die größte Gefahr für das Individuum und damit für die spontane Verwirklichung des Geisteslebens im Schoß der Menschheit ist, nach Eucken, die rein soziale Zivilisation der Jetztzeit. Das Individuum wird heute als vollkommen abhängig von den Einflüssen des Erbguts, der Erziehung, des Milieus und der Allmacht des Staates betrachtet«. 4 Benrubi unterstreicht außerdem die Dualität von Kultur und Zivilisation, die für die Diskussion in Deutschland typisch ist und die in der Philosophie Euckens die technische Entwicklung mit der moralischen und spirituellen Entwicklung der Menschheit kontrastiert: »Eucken meint, mit Rousseau, dass die intellektuelle und technische Beherrschung der Dinge nicht das wahre Wesen der Zivilisation darstellt. Dort, wo die Zivilisation als Selbstzweck betrachtet wird, lässt sich das Geistesleben nicht verwirklichen. Was unsere wahre Ehre ausmacht, ist die moralische Vervollkommnung unseres Seins«. 5 Auch der Philosophie Bergsons wird – in Analogie zur Denkrichtung Euckens – eine Abneigung gegen die moderne Zivilisation zugeschrieben. In einem Essay von 1911 von Julius Goldstein – wie Benrubi Schüler von Eucken – wird die Kritik Bergsons an der wissenschaftlichen Erkenntnis des Lebens als Opposition zur szientistischen Weltsicht verstanden, die sich in der modernen Technik offen-

en Mystik« sei verwiesen auf M. Pulliero, Une modernité explosive, a. a. O., S. 457– 466; H. G. Kippenberg, Die Krise der Religion und die Genese der Religionswissenschaften, in Volker Drehsen – Walter Sparn (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Akademie Verlag, Berlin 1996, S. 89–102; F. W. Graf, Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur ›Verlagsreligion‹ des Eugen Diederichs Verlages, in G. Hübinger, Versammlungsort moderner Geister, a. a. O., S. 243–295; G. Hübinger, Kulturkritik und Kulturpolitik des Eugen Diederichs-Verlags im Wilhelminismus. Auswege aus der Krise der Moderne?, »Troeltsch-Studien«, IV (1987), S. 92–114. 3 J. Benrubi, La philosophie de Rudolf Eucken, a. a. O., S. 354. 4 Ebd., S. 361 f. 5 Ebd., S. 367.

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bart, deren Erkenntnisansprüche den eigenen Geltungsbereich überschreiten: Denn unter den Zeichen dieses Glaubens [an die Wissenschaft] sind wirklich Berge versetzt worden, ist eine neue Welt aus Stahl und Eisen, eine Natur in der Natur, entstanden, sind, wie im Märchen, Raum und Zeit ihrer Gewalt beraubt worden. Unter dem Zeichen dieses Glaubens ist eine neue Menschheit geworden, welche das Dunkel des Chaos gelichtet und Ordnung und Maß eingeführt hat, wo früheren Geschlechtern Willkür und Zufall zu herrschen schien, eine Menschheit, welche sich von der Wissenschaft die Waffen schmieden ließ, um die feindlichen Gewalten des Daseins immer zahlreicher zurückzudrängen. Lag es da nicht nahe, der Wissenschaft auch die letzten Fragen unseres Lebensschicksals in die Hand zu geben? 6

Die Tendenz des Intellekts, jeden Raum der gelebten Erfahrung zu kolonisieren, wird auch von der Lebensphilosophie als Charakterzug der Moderne angegeben. Sie ist unter den philosophischen Strömungen, die in jenen Jahren mit Bergson in Verbindung gebracht werden, sicher diejenige, die die klarste antitechnische Ausrichtung hat. Die Konflikterfahrung des modernen Menschen korreliert vor allem in Simmels Version der Lebensphilosophie mit dem herrschenden Kapitalismus, wie auch im Werk von anderen Klassikern der deutschen Soziologie jener Jahre, die ebenfalls auf Scheler großen Einfluss haben – wie Tönnies, Weber und Sombart. Für Simmel läuft die Tendenz des Bewusstseins zur Objektivierung auf sozialer Ebene darauf hinaus, dass die Zivilisation und die materiellen Formen des Lebens zunehmen und sich immer mehr vervollkommnen, während eine entsprechende Entwicklung der geistigen und moralischen Kultur ausbleibt. Schon in einem Essay aus dem Jahr 1902 bemerkt er, dass es dazu vor allem in der Epoche nach dem Tod Goethes gekommen sei, infolge der Anpassung der sozialen Beziehungen und der Lebensstile an die Bedingungen der industriellen Produktion. 7 Wie später Bergson in den Kriegsjahren, vertritt Simmel die Meinung, dass die Transformation Deutschlands aus einem Agrar- in einen Industriestaat zu einer Veräußerlichung des Lebens und zu einem materiellen Fortschritt geführt hat, der zum geistigen Wachstum und zur inneren Vervollkommnung umgekehrt proportional war. In der Tat lässt sich Simmels Kritik an der zeitgenössischen Kultur nicht von seiner Lebensphilosophie trennen: Der frag6 7

J. Goldstein, Wandlungen in der Philosophie der Gegenwart, a. a. O., S. 6. Vgl. G. Simmel, Tendencies in German Life and Thought since 1870, a. a. O.

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mentarische Charakter der modernen Lebenserfahrung, die von der Geldwirtschaft des Intellekts dominiert wird, ist nichts anderes als eine Variante des metaphysischen Grundkonflikts zwischen Leben und Form. In dem Artikel über Bergson von 1914 kann man Simmels Insistieren auf dem mechanischen Charakter der Materie, der Intelligenz und der Produkte der Fabrikation 8 als einen Versuch lesen, die Überlegungen Bergsons auf das Gebiet der Mechanik und der zeitgenössischen Wirtschaft auszudehnen – ein Thema, das Simmel sehr am Herzen liegt, das aber in Bergsons Werken vor Les deux sources noch nicht vollständig ausformuliert ist. In seinem Artikel über die Philosophie des Lebens von 1913 bezieht sich Max Scheler ausdrücklich auf die Auswirkungen des Bergson’schen Gegensatzes von Intelligenz und Intuition auf sozialer Ebene. Die Tendenz zur Verräumlichung der Erfahrung, die Bergson in den Naturwissenschaften am Werk sieht, kann nach Scheler nicht nur auf die Philosophie und die gelebte Erfahrung ausgeweitet werden, sondern auch auf die wachsende Spezialisierung der Arbeitszivilisation, der juristischen Normen und der sozialen und wirtschaftlichen Organisation. Das soziale und politische Modell, das die für den naturalistischen Mechanizismus und den Assoziationismus typische Weltanschauung zum Ausdruck bringt, führt dazu, die Erfahrung um neue Sinngehalte zu bereichern, aber es bringt gleichzeitig wachsende Beschränkungen mit sich: Der gesamte Mechanismus unserer Arbeitszivilisation und dessen soziale Organisation, so wie das ihm genau entsprechende theoretische Weltbild der mechanischen Naturansicht und der Assoziationspsychologie gewinnen von dieser Grundbestimmung Bergsons her für ihn einen neuen Sinn, ein neues Recht, aber auch eine neue Schranke. Die Arbeitszivilisation enthält nicht das positive Ethos, jenes mechanische Bild von Natur und Seele nicht das wahre An-sich der Welt. Sie sind vielmehr alle zusammen lediglich dienstleistend für die sukzessive Befreiung des Geistes zur Anschauung und Liebe Gottes und der Welt. Jedes Fortrücken der technischen Zivilisation, der Rechtsbildungen und der sozialen Organisationen bestimmt darum nicht eindeutig die Gestaltung der geistigen Kultur, wie der historische Ma-

8 Vgl. G. Simmel, Henri Bergson, a. a. O., S. 62: »Der Intellekt zerschneidet den Stoff des Lebens und der Dinge, um ihn zu Werkzeugen, zu Systemen, zu Begriffen zu machen. Er ist das nach außen gewandte Leben, das sich das Verhalten der anorganischen Natur, die mechanistische Berechenbarkeit aneignet, um die Dinge für seine praktischen Zwecke auszunützen«; S. 68: »ist alles Mechanistische nur ein Symbol und Mittel für periphere Verhältnisse«.

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terialismus meint. Wohl aber schaffen sie in der Bewegung ihres Fortrückens ein System jeweilig neuer Durchbruchstellen für den stets andrängenden schöpferischen Geist und seine neuen Inhalte, Werte und Bildungen, die als ein von der Gestaltung der Wirtschaft, der Technik, des Rechts Unableitbares, Neues und Unvorhersehbares »schöpferisch« ins Dasein treten. 9

Während Scheler die Folgerungen aus Bergsons Philosophie auf der sozialen Ebene beschreibt, kommt er also zu der Erkenntnis, dass die wachsende Mechanisierung, welche die verschiedenen Aspekte der zeitgenössischen Zivilisation charakterisiert, einen doppelten Charakter hat: Einerseits bedeutet sie eine Strategie im Dienst der fortschreitenden Befreiung des Geistes, aber andererseits bestimmt sie diese Befreiung nicht notwendig. Die Zivilisation der Arbeit schafft in der Tat keine positiven kulturellen Werte, das Recht führt nicht notwendig zur Ethik, wie auch die der zeitgenössischen industriellen Entwicklung inhärente mechanistische Naturauffassung keinen Zugang zum An-Sich der Welt gewährt. Es gibt also keine direkte und eindeutige Kausalbeziehung zwischen den Fortschritten der Technik, des Rechts, der sozialen Organisation und den Formen der geistigen Kultur: Der Fortschritt des Geistes wurde ermöglicht durch die Brüche, die diese Faktoren bewirkt haben, ohne jedoch auf sie zurückführbar zu sein. Die Mittel, die von der Intelligenz entwickelt wurden, können zwar Hindernisse der moralischen Entwicklung und der Wahrheitssuche sein, gleichzeitig aber auch Instrumente der Befreiung. Es ist leicht zu erkennen, dass Schelers Bemerkungen ihren Ausgangspunkt in L’évolution créatrice haben, besonders in den Seiten des zweiten und dritten Kapitels, in denen Bergson jene Intelligenz beschreibt, die das handwerkliche Fertigen umfasst. Die Erkenntniskapazität dieses Vermögens ist gegenüber der Intuition reduziert, die das Leben unmittelbar zu erfassen vermag, da sie sich derselben Richtung zuwendet wie der Lebensschwung. Nichtsdestoweniger bedeutet die Tendenz zur handwerklichen Herstellung, die der Produktion von Werkzeugen wie der Unterteilung der Begriffe und der allgemeinen 9 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 331. Der dritte Band der Gesammelten Werke, dem das Zitat entnommen ist, bringt die 1915 überarbeitete Version des Aufsatzes, die auf »Wirtschaft, Technik, Recht« Bezug nimmt. In der Ausgabe von 1913 dagegen bezieht sich Scheler auf die »Gestaltung der Technik, des Rechts und der Wissenschaft«, vgl. M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, »Die Weißen Blätter«, I (1913), 3, S. 224.

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Ideen zugrunde liegt, für den Menschen einen evolutionären Vorteil, der ihm eine Sonderstellung unter den Lebewesen eingebracht hat – dank einer Entfaltung des Bewusstseins, die sich nur entlang seiner Evolutionslinie realisiert hat. Obwohl die Intelligenz dem Begreifen der Materie und nicht des Lebens dient, erlaubt sie beinahe paradoxerweise schließlich den Erfolg des Letzteren: Handwerkt er [der Intellekt] aber wirklich, um zu handwerken? Verfolgt er nicht vielmehr, unfreiwillig, ja unbewußt, ein ganz anderes Ziel? Handwerkliches Verfertigen besteht im Formen der Materie, ihrer Geschmeidigung, ihrer Umbiegung, ihrer Verwandlung zum Werkzeug, um ihrer Meister zu werden. Durch diese Bemeisterung aber gewinnt die Menschheit sehr viel mehr als das materielle Ergebnis der Erfindung selbst. Denn ob wir auch aus dem gefertigten Gegenstand unmittelbaren Vorteil ziehen […] er ist ein Geringes verglichen mit den neuen Ideen und Gefühlen, die die Erfindung von überall her emporquellen läßt; gleichsam als wäre ihre wesentliche Wirkung, uns über uns selber emporzuheben, und so unseren Horizont zu weiten. So groß ist hier das Mißverhältnis zwischen Wirkung und Ursache, daß es schwer fällt, die Ursache als Erzeugerin ihrer Wirkung anzusehen. Nur deren Auslösung ist sie, wobei sie ihr allerdings die Richtung anweist. Kurz also, alles geht vor sich, als hätte die Beschlagnahme der Materie durch den Intellekt den einzigen Hauptzweck, etwas frei walten zu lassen, was durch die Materie gehemmt war. 10

Für Bergson ist somit die Herstellung von Werkzeugen ein lebensnotwendiges Mittel, das eine größere Freisetzung von Bewusstsein im Menschen ermöglicht hat: Bei seiner Tätigkeit geht es »darum, eine Mechanik herzustellen, die über den Mechanismus triumphiere; darum also, den Determinismus der Natur zu benützen, um zwischen den Maschen des Netzes durchzuschlüpfen, das dieser Determinismus selbst gespannt hat«. 11 Bergsons Bewertung der Technik scheint also überwiegend optimistisch: Die Dampfmaschine z. B. begrüßt er als eine Erfindung von der Tragweite des behauenen Steins oder der Bronze, die eines Tages weit eher dazu dienen wird, eine Epoche zu definieren, als Kriege oder Revolutionen. Erfindungen wie die der Dampfmaschine besitzen nämlich die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit des Menschen von Anstrengungen, die einmal überlebensnotwendig waren, zu befreien. So haben sie wichtige soziale und anthropologische Veränderungen ermöglicht: »Ein Jahrhundert ist seit Erfindung der Dampfmaschine vergangen, und wir beginnen nur erst die tiefe 10 11

EC, S. 183–185; dt. S. 187 f. Ebd., S. 264; dt. S. 268.

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Erschütterung zu spüren, die sie uns gebracht hat. Die Umwälzung, die sie in der Industrie hervorrief, hat nicht weniger die Beziehung der Menschen umgewühlt. Neue Ideen stehen auf. Neue Empfindungen wollen ans Licht«. 12 In Versuche einer Philosophie des Lebens erfasst Scheler also den ambivalenten Charakter, den Bergson der Produktion als dem Erkenntnismodell der Intelligenz zuschreibt und weitet ihn auf die Ebene der zeitgenössischen Industriegesellschaft aus. Die Kritik an der Zivilisation, die Scheler auf diese Weise der Philosophie Bergsons einschreibt, fehlt in L’évolution créatrice noch und klingt sehr deutsch: Sie entspricht der Abneigung eines Großteils der deutschen Philosophie seiner Zeit für die bürgerliche und kapitalistische Gesellschaft und für die utilitaristische Moral, die auf den Werten der Klugheit, der Sparsamkeit, des Bewahrens und der Wirtschaftlichkeit beruht. 13 Die soziale, ethische und politische Relevanz der Werkzeuge und Maschinen sollte dagegen in Bergsons Werk von 1932 mehr Anerkennung finden, wo seine Überlegungen zur Industriegesellschaft und zur kapitalistischen Organisation von Arbeit und Produktion den bereits in L’évolution créatrice präsenten ambivalenten Charakter der Technik näher ausführen. Der Gang durch die Entwicklung der Technikphilosophie, der besonders im letzten Kapitel von Les deux sources dargelegt wird, weicht der Auseinandersetzung mit der deutsch-französischen Debatte über die Zivilisation nicht aus. Im Laufe des Krieges und der 1920er Jahre sollte Bergson eine eigenständige Position dazu entwickeln.

Ebd., S. 139; dt. S. 143. Vgl. auch EC, S. 185 f.; dt. S. 188 f. Besonders in Erkenntnis und Arbeit, a. a. O., macht Scheler sich Gedanken über Bergsons Deutung der Wissenschaft und der Intelligenz, die er als Ausdruck einer instrumentellen Beziehung zur Wirklichkeit rekonstruiert, welche dem Herrschaftswillen über die Natur mittels Technik und Industrie zuarbeitet.

12 13

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5. Kultur und Zivilisation vom Krieg bis Les deux sources

In seinem Bericht über das Werk Bergsons interpretiert Scheler die Haltung des Menschen zur Produktion als Funktion seiner Leidenschaft für die Transzendenz: Die Fortschritte der technischen Zivilisation sind nämlich »dienstleistend für die sukzessive Befreiung des Geistes zur Anschauung und Liebe Gottes und der Welt«. 1 Scheler bemerkt somit in der Philosophie Bergsons eine Spannung zwischen Technik und Geist, die er mit den Begriffen technische Zivilisation und geistige Kultur formuliert. Bergson gerät so in die deutsche Debatte der Zeit über das Verhältnis von Kultur und technischem Fortschritt, den Deutschland seit einigen Jahrzehnten mit wachsender Geschwindigkeit erlebt. Der Schluss von Schelers Essay offenbart seine Sorge um die Zukunft der Menschheit und das Bedürfnis, einen kulturellen Wandel herbeizuführen, für den die Lebensphilosophie den Boden bereitet hat, den aber nur die Phänomenologie Husserls vollständig zur Entfaltung bringen kann. Bergsons Lebensphilosophie kam durch ihren direkten Zugang zum Erlebnis eine Pionierrolle zu und Scheler teilt sowohl seine kritische Haltung gegenüber Kant als auch die Anerkennung pragmatischer Zwecke in der sinnlichen Erkenntnis; dennoch bleibt für Scheler Bergsons Auffassung der Intuition der Wesensschau von Husserl immer unterlegen: »Doch ist diese bei Bergson wenig klare Lehre von der Intuition nicht mit der streng und eng begrenzten ›Wesensschau‹ der Phänomenologie zu verwechseln«. 2 Im Vergleich zu der Methode der Phänomenologie erscheint Scheler die Bergson’sche Intuition vom Subjektivismus infiziert und nicht in eine allgemeine Methode übertragbar – denn sie sei dunkel, nebulös und überintellektuell, im Gegensatz zur phänomenologischen Wesensschau, auf deren Basis sich eine tiefgehende Transformation der europäischen Weltanschauung vollziehen wird. 1 2

M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 331. Ebd., S. 327, Fn.

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Diese Umbildung wird von Scheler wie ein Herausgehen aus dem Käfig der Zivilisation beschrieben: Sie wird sein wie der erste Tritt eines jahrelang in einem dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten. Und dies Gefängnis wird unser durch einen auf das bloß Mechanische und Mechanisierbare gerichteten Verstand umgrenztes Menschenmilieu mit seiner »Zivilisation« sein. Und jener Garten wird sein – die bunte Welt Gottes, die wir – wenn auch noch in der Ferne – sich uns auftun und hell uns grüßen sehen. Und jener Gefangene wird sein – der europäische Mensch von heute und gestern, der seufzend und stöhnend unter den Lasten seiner eigenen Mechanismen einherschreitet und, nur die Erde im Blick und Schwere in den Gliedern, seines Gottes und seiner Welt vergaß. 3

Wenn man diese Stelle liest, erinnert man sich zwangsläufig an das Bild, mit dem Bergson 1932 Les deux sources beschließen wird: Die Menschheit seufzt, halb erdrückt, unter der Last der Fortschritte, die sie gemacht hat. Sie weiß nicht genügend, daß ihre Zukunft von ihr selbst abhängt. Es ist an ihr, zunächst zu entscheiden, ob sie weiterleben will, an ihr, sich weiter zu fragen, ob sie nur leben oder außerdem noch die nötige Anstrengung leisten will, damit sich auch auf unserm widerspenstigen Planeten die wesentliche Aufgabe des Weltalls erfülle, das dazu da ist, Götter hervorzubringen. 4

Die Analogie des Bildes der durch ihre Maschinen und ihre materiellen Fortschritte beschwerten Menschheit kann indes nicht den tiefgreifenden Unterschied zwischen den Positionen Schelers und Bergsons verbergen, dessen Philosophie weder auf einen Fall noch auf einen Gottesgarten Bezug nimmt. Die Idee, dass der Intellektualismus der Zivilisation eine Krankheit und eine Dekadenz des zeitgenössischen europäischen Menschen sei, wird hingegen Cassirer direkt auf die Lehre Bergsons beziehen, wenn er 1933 in seiner Besprechung von Les deux sources, wahrscheinlich in Anlehnung an Scheler 5, auf eine Art Erbsünde des Intellekts anspielt, mit der der Mensch sich unwiederbringlich von einem verlorenen Paradies getrennt hat: Ebd., S. 339. DS, S. 338; dt. S. 317. 5 Cassirer ist nämlich ein Leser von Scheler. Im Jahr 1930, also kurz vor der Abfassung der Rezension von DS, analysiert er dessen Anthropologie in dem Essay E. Cassirer, »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart (1930), in Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Aufsätze und Kleine Schriften (1927–1931), a. a. O., S. 185–205. 3 4

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Blickt man auf diese Kritik des Intellekts zurück, wie Bergsons Werk über die »schöpferische Entwicklung« sie durchgeführt hat, so gewinnt man immer wieder den Eindruck, als ob der Eintritt und Einbruch des »Geistes« in die Welt des Lebens für diese selbst einen unheilbaren und tragischen Bruch in sich schlösse. Das Reich des Instinkts und seine ungebrochene Einheit und Sicherheit liegt hinter uns gleich einem verlorenen Paradies, das wir nicht zurückgewinnen können, aber die Sehnsucht nach ihm lässt sich nicht zum Schweigen bringen, und eine der wesentlichen Aufgaben der Philosophie scheint es zu sein, diese Sehnsucht zu deuten und ihr zur Aussprache zu verhelfen. So scheint Bergsons Lehre hier jenem romantischen Typus des Philosophierens anzugehören, wie er in der gegenwärtigen Philosophie vor allem durch Klages repräsentiert wird. Auch er scheint im Geist, im Intellekt vor allem den Widersacher des Lebens und der Seele zu sehen – eine dämonisch-zerstörende Macht, der das Leben in dem Augenblick verfiel, als es sich zur Stufe des Menschen erhob.6

Deutungen dieser Art scheinen jedoch vor allem auf die erste Phase von Bergsons Werk zu passen. Schon in seiner Rede La spécialité 7 aus dem Jahr 1882 beklagte er die schädlichen Auswirkungen, die sich aus der Ausweitung des industriellen Modells des Fließbandes auf intellektueller Ebene ergeben: Auch in der Wissenschaft herrscht nun eine übertriebene Spezialisierung, die sich in einem Mangel an Allgemeinbildung niederschlägt. Das hat zur Folge, dass die Wissenschaft selber steril wird, indem man die intellektuelle Arbeit der mechanischen annähert, obwohl nach Bergson die Eigenart des Menschen eben in seiner Fähigkeit liegt, die enge Spezialisierung des tierischen Instinkts zu verlassen. Auch in der sozialen Sphäre neigt der Mensch dazu, träge der Gewohnheit zu verfallen und nach vorgefertigten Mustern zu handeln, wobei er es verlernt, seine schöpferischen Fähigkeiten zu erproben, die ihn von den Tieren und von den Maschinen unterscheiden. 8 Dieser Aspekt der menschlichen Intelligenz wird E. Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, a. a. O., S. 26. Vgl. La spécialité, Rede bei der Preisverleihung des Gymnasiums von Angers am 3. August 1882, veröffentlicht in M, S. 257–264. Bergson, der mit 22 Jahren die agrégation in Philosophie erhalten hatte, verbringt seine ersten Jahre als Lehrer in der Provinz am Gymnasium von Angers und anschließend in Clermont-Ferrand, bevor er nach Paris zurückkehrt, wo er am Lycée Louis-le-Grand und am Lycée Henri-IV unterrichtet. 8 M, S. 263: »Die Industrie erreicht durch die Arbeitsteilung wunderbare Resultate. Jeder Arbeiter braucht eine ›Spezialität‹, und je früher er sie gewählt hat, desto geschickter wird er sein. Denn von der manuellen Arbeit verlangt man vor allem, dass sie schnell ist, und schnell ist sie nur, wenn sie maschinell ist. Warum arbeitet die Maschine schneller als der Mensch? Weil sie die Arbeit teilt, weil jedem Teil der Auf6 7

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in Le rire erneut bedacht, wo die sozialen Verhaltensmuster, die von mechanischer Monotonie geprägt sind, als Erstarrung des Lebens beschrieben werden. Das Komische kommt auf sozialer Ebene genau dann zum Tragen, wenn die mechanische Starrheit, die durch die automatische Übernahme der äußeren Konventionen entsteht, die Elastizität und die Spannung verliert, die normalerweise vom Leben in der Gesellschaft gefordert werden. In L’évolution créatrice hingegen geht das Misstrauen des jungen Bergson gegenüber der Intelligenz Hand in Hand mit dem Vertrauen in die Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins, sich zu emanzipieren. Die Produktionsmanie der Intelligenz stellt nicht nur eine Erstarrung und eine Fragmentierung des Lebens dar, sondern auch das Mittel, das es dem Menschen ermöglicht, den »jähen Sprung« 9 zu vollziehen, der ihn von den anderen Lebewesen trennt. Die Faktoren, die dem Menschen erlaubt haben, in der Linie der Wirbeltiere den höchsten evolutionären Erfolg zu erzielen, sind – neben der Herstellung von Werkzeugen – die Überlegenheit des Gehirns, die Sprache und das soziale Leben. 10 Diese Aspekte der menschlichen Zivilisation werden von Bergson also nicht als Formen der Dekadenz verstanden, sondern als Projektionen von Organen oder von Lebensfunktionen, die das Fortschreiten des Lebens selbst zu höheren Bewusstseinsformen begleiten. Die Frage der Technik und, allgemeiner, die der civilisation wird von Bergson während des Ersten Weltkriegs wiederaufgenommen. Die Erfahrung mit neuen Kriegswaffen und der Instrumentalisierung der industriellen Entwicklung zur Vernichtung des Feindes hinterlässt tiefe Spuren in der Philosophie Bergsons, der sich in den Jahren des Konflikts auch mit den Themen der Kultur und der Zivilisation auseinandersetzt, die er in seine antideutsche Rhetorik einfließen lässt. Zunächst dreht sich die Kriegspropaganda Bergsons um die Gegenüberstellung von französischer civilisation und deutscher Barbarei, wobei folglich die civilisation mit dem französischen National-

gabe ein spezieller Mechanismus entspricht. Und wir, die wir uns die Maschine zum Vorbild nehmen, wenn wir mit unseren Händen arbeiten – wir können nichts Besseres tun, als die Aufgabe zu teilen, wie sie sie teilt; und wir werden genauso schnell und genauso gut arbeiten, wenn wir unsererseits Maschinen sind«. 9 EC, S. 186; dt. S. 189. 10 Ebd.; dt. S. 269.

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charakter gleichgesetzt wird. 11 Gleichzeitig schlägt er Kapital aus seiner Kenntnis der zeitgenössischen deutschen Philosophie und aus seiner Deutung der Zivilisation, um die deutsche Politik zu kritisieren. So nutzt Bergson die Dichotomie Kultur –Zivilisation, um verschiedene Aspekte des Charakters der deutschen Philosophie zu kontrastieren: In der Rede vor der Académie des sciences morales et politiques vom 12. Dezember 1914 stellt er zwei Deutschland einander gegenüber: Das eine steht für Freiheit, Gefühl und moralische Schönheit, das andere hingegen bevorzugt das System des Absolutismus. 12 Mit diesen beiden Beschreibungen – die erste geht auf Schopenhauer und Jacobi zurück, die zweite auf Hegel – scheint Bergson auf das Schema anzuspielen, das Kultur und Zivilisation gegeneinanderstellte, nämlich die Introspektion, die Tiefe und die Bildung der Persönlichkeit der seelenlosen und oberflächlichen Entwicklung nur im Äußeren. Im geeinten Deutschland hat sich nach Bergson die zweite Seele der deutschen Philosophie durchgesetzt – die Kultur ist demnach von der Zivilisation überwältigt worden. Wie von verschiedenen deutschen Intellektuellen 13 behauptet und von vielen Franzosen während der Kriegsjahre bekräftigt, meint Bergson also, dass die Umwandlung Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat zu einer Veräußerlichung des Lebens geführt hat. Diese war, wie sich herausstellen sollte, umgekehrt proportional zu seinem geistigen Wachstum und seiner innerlichen Vervollkommnung. 14 Während auf der anderen Seite des Rheins die Begeisterung für die Kultur benutzt wird, um dem geistigen Deutschland ein Frankreich gegenüberzustellen, das die Heimat der materiellen, äußerlichen und konventionellen Zivilisation ist 15, dreht Bergson die in Das geschieht vor allem in den Ansprachen vor der Académie des sciences morales et politiques vom 8. August und vom 12. Dezember 1914, vgl. M, S. 1102 und 1107– 1129. 12 Die Unterscheidung von zwei Deutschland ist ein typisches Thema der antideutschen Rhetorik während des Krieges, vgl. unten, Kap. V. 13 Vgl. G. Simmel, Tendencies in German Life and Thought since 1870, »International Monthly«, 5 (1902), S. 93–111, S. 166–184; in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XVIII: Englischsprachige Veröffentlichungen. 1893–1910, 2010, S. 167–202. 14 M, S. 1113. 15 Das gilt nicht nur für Thomas Mann, sondern auch für Eucken und andere deutsche Intellektuelle, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Art Kulturkrieg vorbereiteten, beschrieben in der Studie von Barbara Beßlich, Wege in den ›Kulturkrieg‹. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000. 11

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Frage stehenden Begriffe um und behauptet, dass die deutsche Hochkultur von einem brutalen und unmoralischen Materialismus verdrängt worden sei. 16 Dieser Gegensatz innerhalb Deutschlands hallt nach in den Reden von Madrid, in denen das Deutschland der Zivilisation – höchst organisiert in seinem mechanischen Funktionieren – Frankreich gegenübergestellt wird, das hingegen die moralische Kraft, das Gerechtigkeitsideal und einen Gemütszustand inkarniert, der dem mystischen nahekommt. 17 Der Partikularismus der deutschen Kultur wird von Bergson im Übrigen dem Universalismus der französischen civilisation entgegengehalten. So bringt er wieder einen anderen kanonischen Aspekt der deutsch-französischen Debatte über diese Frage ins Spiel: »[E]ine Unternehmung, die lanciert wurde, um die deutsche ›Kultur‹, die deutschen Produkte bekannt zu machen, geht immer nur das an, was deutsch ist. Das ist die Situation Deutschlands gegenüber einem Frankreich, dessen Ansehen unversehrt und dessen Häfen offen sind […] und das – weil seine Sache die der Menschheit selbst ist – auf die Sympathie der sich zunehmend engagierenden zivilisierten Welt zählen kann«. 18 Diese Überlegungen lassen sich auf die weitere Entwicklung von Bergsons Philosophie beziehen. In Les deux sources greift er auf einige Charakteristika der Frage der civilisation zurück, wenn es um die Beschreibung der geschlossenen und der offenen Gesellschaft geht, die nun nicht mehr als einander entgegengesetzt erscheinen wie zwei verschiedene Nationalcharaktere, sondern als zugleich anwesende Tendenzen, die es in jeder sozialen Gruppe gibt. Ebenso wird der naDie Dichotomie Kultur – Zivilisation wird unter antideutschem Vorzeichen während des Krieges wiederaufgenommen auch in der Abhandlung von Edmond Perrier, France et Allemagne, Payot, Paris 1915. Er stellt die Kultur der französischen Wissenschaft gegenüber, deren zivilisatorische Rolle mit der »barbarischen Kultur« und der Wissenschaft Deutschlands kontrastiert, die zwar höchst organisiert, aber ohne moralisches Fundament ist. Vgl. besonders die Abschnitte Kultur et Culture, S. 158– 177 sowie Science et civilisation, S. 285–320. Auch Bergson bezieht sich auf die »wissenschaftliche Barbarei« der Deutschen, eine »Barbarei, die sich verstärkt hat, indem sie sich der Kräfte der Zivilisation bediente«, vgl. M, S. 1114. 17 Die Madrider Vorträge aus dem Jahr 1916 sind gesammelt in M, S. 1195–1235. Die Analogie zwischen dem französischen Gemütszustand und dem der großen Mystiker wird beschrieben auf S. 1235. 18 H. Bergson, La force qui s’use et celle qui ne s’use pas, 4. November 1914, in M, S. 1105. 16

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tionalistische Gebrauch der Dichotomie von industrieller und moralischer Entwicklung in Les deux sources zugunsten einer weniger diametralen Polarität von Mechanik und Mystik aufgegeben, wie sie im vierten Kapitel des Werkes präsentiert wird. Die während des Krieges ausgearbeiteten Überlegungen sind, zusammen mit der Beobachtung des Konsumrauschs der 1920er Jahre, von entscheidendem Einfluss auf die Philosophie der Mechanik, die Bergson im letzten Kapitel von Les deux sources ausführt. Er nimmt hier teilweise die Vorhersage Schelers in Versuche einer Philosophie des Lebens wieder auf, wobei er die Kritik der herstellenden Intelligenz auf die zeitgenössische industrielle Zivilisation ausdehnt. Die Anerkennung der befreienden Macht der Maschinen wird nun flankiert vom Bewusstsein, dass die Menschheit womöglich die Kontrolle über die Geräte verliert, die sie selbst geschaffen hat. In der Tat kann die civilisation sehr negative Auswirkungen haben, wie Bergson bereits während des Krieges vorhergesehen hat: »Die materielle Entwicklung der Zivilisation kann, wenn sie vorgibt, sich selbst zu genügen, den Menschen zur Barbarei zurückbringen«. 19 Die Kriegsgefahr ist in unserer Zeit tatsächlich vor allem mit dem System der industriellen Produktion verbunden. Um es aufrechtzuerhalten, lassen sich einige Nationen dazu verleiten, andere zu überfallen, um sich materielle Ressourcen oder Arbeitskräfte zu besorgen: »Der letzte Krieg, samt denen, die man für die Zukunft voraussieht, wenn wir unglücklicherweise noch Kriege haben sollten, ist mit dem industriellen Charakter unserer Zivilisation verknüpft«. 20 Das heißt nicht, dass die civilisation nur in ihren unheilvollen Auswirkungen betrachtet würde, noch wird sie als ein Verfall des Menschen verstanden. Bergson unterscheidet vielmehr eine positive und eine negative civilisation: Wenn die Mechanik die Bedingung auch für den moralischen Fortschritt der Menschheit und für die Erhaltung des Friedens ist, wenn ihre Entwicklung jedoch auf eine frenetische Suche nach Luxus und Komfort hinausläuft, dann dreht sie sich am Ende nur noch um sich selbst. So bringt sie das Fortschreiten des élan vital zum Stillstand und beschert der Menschheit vernichtende Gefahren. Für Bergson bedeutet die civilisation also nicht einen Niedergang, den eine geistige Kultur zu überwinden hätte, die in der Lage wäre, dem Menschen wieder die Tore eines verlorenen Paradieses zu 19 20

M, S. 1139. DS, S. 307; dt. S. 288.

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öffnen. Sogar die zu Beginn von Les deux sources heraufbeschworene »Erinnerung an die verbotene Frucht« 21 bezieht sich auf ein Verbot, das von der Gesellschaft herrührt und von der Natur gewollt ist – nicht auf eine »Erbsünde« der civilisation. Diese bringt keineswegs die Entfremdung von einer positiven und unschuldigen Natur mit sich, sondern sie bedeckt im Gegenteil wie eine dicke Lackschicht die natürlichen Tendenzen zur Abschottung und zum Krieg 22 und heilt sie durch die Lehre der Liebe zur Menschheit, die nicht angeboren, sondern »indirekt und erworben« 23 ist. Die Distanz zu Rousseau und zu der kritischen Haltung gegenüber der Zivilisation, die für die deutsche Philosophie seit der Aufklärung typisch ist, zeigt sich in Les deux sources auch in der Art, wie die »menschliche Natur« beschrieben wird, die unter den erworbenen Gewohnheiten bestehen bleibt: Sie neigt nämlich zur statischen Religion, zur Abschottung und zum Feindeshass – sie ist somit ein Reservoir von Tendenzen, die zum Krieg führen können: »Die geschlossene Gesellschaft ist die, deren Mitglieder untereinander bleiben, gleichgültig gegen die übrigen Menschen, immer bereit anzugreifen oder sich zu verteidigen, kurz, auf eine kämpferische Haltung beschränkt. Derart ist die menschliche Gesellschaft, wie sie aus den Händen der Natur hervorgeht«. 24 Mit dieser Formel möchte Bergson auf das berühmte Incipit von Rousseaus Émile anspielen, dessen Sinn er jedoch DS, S. 1; dt. S. 3. DS, S. 27; dt. S. 27: »[M]ag der Mensch, an den die Gesellschaft sich wendet, um ihn zu disziplinieren, von ihr noch so sehr mit allem, was sie in jahrhundertelanger Zivilisation erworben hat, bereichert worden sein – trotzdem braucht die Gesellschaft jenen primitiven Instinkt, den sie mit einem so dichten Firnis bedeckt. Kurz, der soziale Instinkt, den wir auf dem Grunde unserer sozialen Verfassung entdeckt haben, zielt immer – denn der Instinkt ist verhältnismäßig unwandelbar – auf eine geschlossene Gesellschaft ab, mag sie auch noch so groß sein.« Weiter auf S. 83, dt. S. 79: »So radikal der Unterschied zwischen dem Zivilisierten und dem Primitiven auch sein mag, er beruht dann einzig und allein auf dem, was das Kind vom ersten Erwachen seines Bewusstseins an aufgespeichert hat: alle Errungenschaften der Menschheit während der Jahrhunderte der Zivilisation stehen vor ihm, niedergelegt in der Wissenschaft, die man ihm beibringt, in der Überlieferung, in den Einrichtungen, in den Gebräuchen, in der Syntax und dem Wortschatz der Sprache, die es sprechen lernt, und sogar in den Gesten der Menschen, die es umgeben. Diese dicke Schicht Nährboden bedeckt heute den Felsen der ursprünglichen Natur.« 23 DS, S. 28; dt. S. 28: »noch heute lieben wir naturhaft und unmittelbar nur unsere Verwandten und unsere Mitbürger, während die Liebe zur Menschheit indirekt und erworben ist.« 24 Ebd., S. 283; dt. S. 265. 21 22

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umkehrt: »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen«. 25 Tatsächlich schreibt Bergson der Natur auch negative Aspekte zu, wie z. B. den kriegerischen Instinkt, und die Entwicklung der Zivilisation hält er für unerlässlich, damit die Menschheit fortschreiten und ihre lebenswichtigen Errungenschaften in erworbenen Kenntnissen und sozialen Gewohnheiten speichern kann. 26 Bergsons Standpunkt zur Frage der civilisation erschließt sich, wenn man ihre anthropologischen Implikationen bedenkt, die sowohl ihrem Bezug zur Natur und zum Leben als auch ihrem Verweis auf das deutsche Thema der Zivilisation geschuldet sind. Im Ausgang von Les deux sources lassen sich also gleichzeitig Nähe und Distanz zu Schelers Antizipationsversuch von 1913 (im Ausgang von L’évolution créatrice) feststellen. Die Polarität zwischen Mechanik und Mystik, die dem letzten Kapitel von Les deux sources den Titel gibt, scheint die Dualität zwischen »technischer Zivilisation« und »geistiger Kultur« 27 wiederaufzunehmen, die Scheler in L’évolutrion créatrice geahnt hatte. Wie Scheler bestritt, dass es eine Beziehung kausaler Determination zwischen technischer Entwicklung und geistigem Wachstum gebe, so schließt Bergson in Les deux sources aus, dass es »ein der Maschine innewohnendes Fatum« 28 geben könne. Auch der Akzent, den Scheler auf die spirituelle Dimension der Menschheit setzte, fehlt bei Bergson nicht, er liegt aber nicht auf derselben Ebene: Wo Bergson zum geistigen Fortschritt aufruft, bezieht er sich nicht auf ein autonomes, dem Leben entgegengesetztes Prinzip. Schelers Vision des Menschen als Asketen des Lebens ist sehr weit entfernt vom Mystiker in Les deux sources, der nicht Nein zum Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (1762), Philipp Reclam, Stuttgart 1963, S. 107; frz. Originalausgabe: Émile ou de l’éducation, hg. von A. Charrak, Flammarion, Paris 2009, S. 45: »Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégénère entre les mains de l’homme.« 26 DS, S. 132; dt. S. 125: »In Wirklichkeit aber hat die Zivilisation den Menschen dadurch tiefgehend geändert, daß sie in dem sozialen Milieu, wie in einem Reservoir, Gewohnheiten und Kenntnisse angehäuft hat, die die Gesellschaft in jeder neuen Generation auf das Individuum ausschüttet. Kratzen wir die Oberfläche ab, löschen wir aus, was uns aus einer in jedem Augenblick wirkenden Erziehung zufließt: dann werden wir in unserm Innern die primitive Menschheit oder etwas nur wenig anderes wiederfinden.« 27 M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O., S. 331. 28 DS, S. 328; dt. S. 307. 25

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Leben sagt, sondern vielmehr den schöpferischen Schwung in seinem Handeln fortsetzt und dabei die Entwicklung der materiellen Voraussetzungen, die die Mechanik mit sich gebracht hat, als Bedingung dafür anerkennt, dass die mystische Emotion sich unter den Menschen ausbreiten kann. Der Bergson von Les deux sources ist also in seiner Zivilisationskritik weniger dualistisch als Scheler in der seinen von 1913. Insbesondere relativiert er die spiritualistische Bedeutung, die man üblicherweise mit der Mystik in Verbindung bringt, deren soziale Rolle und Verankerung in der Immanenz des Lebens er unterstreicht – eines Lebens, das Bergson nicht in rein biologischem Sinn versteht, sondern in einem »sehr weiten Sinn«. 29

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DS, S. 103; dt. S. 98.

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V. Der Krieg

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1. Die philosophische Mobilmachung

Die Atmosphäre guter Zusammenarbeit und des gegenseitigen Austauschs zwischen Bergson und den deutschen Philosophen bekommt mit dem Herannahen des Ersten Weltkriegs allmählich Risse. Bereits im März 1913 lässt Bergson in einem Gespräch mit Benrubi erste Anzeichen einer Distanzierung von Deutschland erkennen. Die Souvenirs des Eucken-Schülers geben einige Überlegungen Bergsons zur Rezeption seiner Philosophie jenseits des Rheins wieder: Was Deutschland betrifft, so meint Bergson, das Unverständnis kommt vor allem daher, dass die Deutschen die französische Philosophie nicht genügend berücksichtigen und sie nicht einmal kennen. Ich habe versucht, dieses Urteil zu berichtigen, indem ich sagte, dass man in Deutschland immer mehr Interesse für die französische Philosophie zeigt, besonders für die seine. Im übrigen weiß Bergson, dass ich die größten Anstrengungen in dieser Richtung unternommen habe. Das brachte uns dazu, lang über die politischen Beziehungen und über die intellektuelle Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland zu sprechen. Wir taten es mit der größten Aufrichtigkeit und manchmal sogar mit Leidenschaft. Aber ich bestehe nicht darauf. 1

Benrubi zieht es vor, Bergsons politische Ansichten in der Druckfassung seines Tagebuchs, die 1942 auf Französisch erscheint, nicht wiederzugeben. Im deutschen Manuskript finden sich hingegen weitere Einzelheiten über die Fortsetzung ihrer Unterhaltung: Nachdem ich Bergson auf das große Interesse aufmerksam machte, welches man in Deutschland seit einiger Zeit für seine Philosophie zeigt, lenkte ich das Gespräch auf die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. B[ergson] sprach über diese Dinge mit der größten Offenheit. Als ich meinte, dass nicht weniger für die Annäherung beider Völker der Austausch von Philosophen u[nd] Gelehrten beitragen würde, meinte B[ergson], dass augenblicklich davon nicht die Rede sein kann, da die Lage 1

I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 75, 22. März 1913.

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sehr gespannt sei. Wie die Dinge augenblicklich liegen, würde man unmöglich einen deutschen Philosophen in Frankreich mit Sympathie aufnehmen können. Obgleich B[ergson] Pazifist sei, tritt er gegenwärtig entschieden für eine militärische Verstärkung Frankreichs ein. Frankreich will zwar keinen Krieg mit Deutschland führen, aber es will andererseits respektiert sein. […] Ich bemerkte, dass B[ergson] mit seinem ganzen Herzen bei der Sache war […]. B[ergson] fuhr also fort u[nd] meinte: Solange Elsass-Lothringen in deutschen Händen bleibt, wird eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich unmöglich sein. Frankreich kann unmöglich auf die Dauer auf Elsass verzichten. Ein derartiger Verzicht würde den Selbstmord u[nd] die Selbsterniedrigung Frankreichs bedeuten. Das Elsass bildet eben einmal ein Stück französischer Geschichte. Da aber andererseits Deutschland unmöglich Elsass-Lothringen zurückgeben wird – so bleibt die Lage auf unabsehbare Zeit – inextricable. B[ergson] erinnerte hierbei an das Wort Bismarcks (an Busch): wir haben Österreich kein Stück weggenommen, weil wir es für eine spätere Alliance brauchten. Dieses Wort ist nach Bergson kennzeichnend, wenn man es auf Frankreich in umgekehrtem Sinne anwendet: wir haben Frankreich deshalb ein Stück (Elsass-L[othringen]) weggenommen, weil wir eine Annäherung zwisch[en] Deutschland und Frankreich für unmöglich halten. Nur ein Zufall, meinte B[ergson], könne eine Verständigung u[nd] Annäherung beider Länder herbeiführen. Ich musste das polit[ische] Gespräch hier abbrechen, weil ich sah, dass uns das zu weit führen würde. 2

In Bergsons Worten ist schon damals die Verflechtung von philosophischem Misstrauen und politischer Spannung überdeutlich, die seit den ersten Tagen des Weltkriegs explizit wird. Am 8. August eröffnet Bergson die Sitzung der Académie des sciences morales et politiques, deren Präsident er damals ist, tatsächlich mit einer Ansprache, die wegen ihres stark antideutschen Tons berühmt werden sollte: Der Kampf gegen Deutschland, in dem wir stehen, ist der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. Alle Welt fühlt es, aber unsere Akademie hat vielleicht eine besondere Autorität, um es zu sagen. Großteils dem Studium psychologischer, moralischer und sozialer Fragen gewidmet, erfüllt sie eine rein wissenschaftliche Pflicht, wenn sie in der Brutalität und dem Zynismus Deutschlands, in seiner Verachtung aller Gerechtigkeit und aller Wahrheit, eine Regression in das Stadium der Wildheit signalisiert. 3

I. Benrubi, Journal, S. 117 f., zit. in G. Fitzi, Soziale Erfahrung, a. a. O., S. 252 f. Das Manuskript von Benrubis Tagebuch wird in der Bibliothèque publique et universitaire in Genf aufbewahrt. 3 M, S. 1102. 2

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Bergsons Berufung auf die »rein wissenschaftliche Pflicht«, der er angeblich gehorcht, wenn er die deutsche Barbarei anprangert, fällt in die allgemeine Instrumentalisierung der Wissenschaften für den Krieg, die beide Lager während des Ersten Weltkriegs kennzeichnet. 4 Als Franzose beteiligt sich Bergson an vorderster Front am sogenannten »philosophischen Kreuzzug« 5 mit einer Reihe von Kriegsreden, die bis zum Ende des Konflikts fortgesetzt wurde. 6 Dass den DeutDie Geschichte des »Kreuzzugs« der Intellektuellen im Krieg von 1914–1918 ist anhand der geläufigsten Argumente – von der Beschuldigung der Barbarei bis hin zum Rassenthema – beschrieben in Stéphane Audoin-Rouzeau – Annette Becker, 14–18, retrouver la guerre, Gallimard, Paris 2000, vor allem im Kapitel Civilisation, barbarie et ferveurs de guerre, S. 159–214. S. außerdem Domenico Losurdo, La seconde guerre de Trente ans et la »croisade philosophique« contre l’Allemagne, in J. Quillien (Hg.), La réception de la philosophie allemande en France aux XIXe et XXe siècles, a. a. O., S. 171–205, der die strittige Idealisierung von Abendland und Zivilisation gegenüber einem als etatistisch und räuberisch stereotypisierten Deutschland fokussiert, das mit der Hegel’schen Philosophie in Verbindung gebracht wird. Die Deutung des Ersten Weltkriegs als erste Phase eines zweiten »Dreißigjährigen Kriegs« geht auf den Historiker Michael Howard zurück, A Thirty Years’ War? The Two World Wars in Historical Perspective, »Transactions of the Royal Historical Society«, VI (1993), 3, S. 171–184. Losurdo zeigt zugleich die Umkehrung der antifranzösischen Rhetorik der antinapoleonischen Kriege, als der französische Staat beschuldigt wurde, »mechanisch« zu sein und die Entwicklung der Persönlichkeit und der Individualethik nicht zuzulassen, sodass eine Spiegelbildlichkeit der stereotypisierten Bilder von Frankreich und Deutschland entstehen konnte. In der ausgedehnten Bibliographie zur Geschichte der Intellektuellen während des Ersten Weltkriegs möge der Hinweis auf die besonders ausführlichen Studien zur Mobilmachung der französischen und der deutschen Intellektuellen (darunter Eucken, Scheler und Simmel) genügen: Martha Hanna, The Mobilisation of the Intellect. French Scholars and Writers during the Great War, Harvard University Press, Cambridge Massachusetts 1996; Christophe Prochasson – Anne Rasmussen, Au nom de la patrie. Les intellectuels français et la Première Guerre mondiale, 1910–1919, La Découverte, Paris 1996 sowie Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Fest, Berlin 2000. 5 Der Ausdruck stammt von É. Boutroux, L’Allemagne et la guerre, deuxième lettre à la »Revue des Deux Mondes«, 15 mai 1916, in Études d’histoire de la philosophie allemande, Vrin, Paris 1926, S. 231: »eine Art philosophischer Kreuzzug, wo zwei gegensätzliche Auffassungen von Gut und Böse, und vom Schicksal des Menschengeschlechts miteinander ringen«. 6 Das Korpus der Kriegsreden ist gesammelt in M, S. 1102–1310; nur drei davon sind in den neuen Sammelband EP aufgenommen worden: La force qui s’use et celle qui ne s’use pas, S. 439–441; Allocution avant une conférence sur la guerre et la littérature de demain, S. 446–451; La philosophie française, S. 452–479 sowie die drei Madrider Vorträge Discours aux étudiants de Madrid, Sur l’âme humaine, La personnalité, S. 483–535. Unter den Studien zu diesen Texten seien hervorgehoben die maßgeb4

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schen die Barbarei zugeschrieben wird, wozu Bergson in seiner Akademierede vom 8. August 1914 den Auftakt gibt, sollte außerdem ein wiederkehrendes Motiv der französischen Kriegspropaganda werden; viele Deutsche betrachteten es als ideologische Unterwerfung der französischen Intellektuellen unter die nationalistische Propaganda. Das ist z. B. der Fall bei Gedanken im Kriege von Thomas Mann, der für die Sache des deutschen Nationalismus Stellung bezieht und den französischen Intellektuellen, die den Krieg als einen Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei deuten, eine »lächerliche Ignoranz« in Bezug auf Deutschland vorwirft. 7 In den Betrachtungen eines Unpolitischen 8 (1918) hält er umgekehrt den ethischen und humanistischen Geist der deutschen Zivilisation der demokratischen französischen Politik entgegen und verspottet die Art und Weise, in der den Franzosen während des Krieges jeder Erfolg der Entente als ein Sieg des Großmachtstrebens der Zivilisation und als ein Triumph des Geistes über die Materie gilt. Auch Freud geht auf diese Töne und auf die gegenüber Deutschland erhobenen Vorwürfe der Barbarei ein. Bereits 1915 schreibt er in Zeitgemäßes über Krieg und Tod: lichen Beiträge von P. Soulez, Bergson politique, PUF, Paris 1989; ders., Les missions de Bergson ou les paradoxes du philosophe véridique et trompeur, in ders. (Hg.), Les philosophes et la guerre de 14, PUV, Saint-Denis 1988, S. 65–81 und Mark Sinclair, Bergson’s Philosophy of Will and the War of 1914–1918, »Journal of the History of Ideas«, LXXVII (2016), 3, S. 467–487. Weniger bekannt, aber sehr gut informiert und scharfsinnig in ihren Analysen ist die Studie von Vincenza Petyx, Bergson e le streghe di Macbeth. Dagli »Écrits de guerre« a »Les deux sources de la morale et de la religion«, Ed. dell’Orso, Alexandria 2006, die thematisiert, wie Bergson die Kriegs- und Nachkriegszeit im intellektuellen Kontext Frankreichs und Deutschlands erlebt. Dabei stehen die Themen Krieg, Frieden und der Status der nationalen Identität im Zentrum der Betrachtung, aus denen, durch die politische Erfahrung, die Dichotomie des »Geschlossenen« und des »Offenen« entsteht. S. schließlich P. Trotignon, Bergson et la propagande de guerre, in J. Quillien, La réception de la philosophie allemande en France aux XIXe et XXe siècles, a. a. O., S. 207–215; Johann Chapoutot, La trahison d’un clerc? Bergson, la Grande Guerre et la France, »Francia«, XXXV (2008), 1, S. 295–316; G. Waterlot, Situation de guerre et état d’âme mystique chez Bergson, in D. de Courcelles – G. Waterlot (Hg.), La mystique face aux guerres mondiales, PUF, Paris 2010, S. 131–151 sowie Nadia Yala Kisukidi, Dossier »Bergson et la Guerre de 1914«, in A. François et al. (Hg.), Annales bergsoniennes, Bd. VII: Bergson, l’Allemagne, la guerre de 1914, a. a. O., S. 99–284. 7 Thomas Mann, Gedanken im Kriege, geschrieben im September 1914, erschienen im November 1914 in »Die neue Rundschau«, S. 1471–1484; in Gesammelte Werke, 20 Bde., Fischer, Frankfurt am Main 1974 ff., Bd. XIII, 2009, S. 545. 8 Vgl. Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), in Gesammelte Werke, 20 Bde., a. a. O., Bd. XIII, 2009.

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Die philosophische Mobilmachung

Er [der Krieg] brachte das kaum begreifliche Phänomen zum Vorscheine, daß die Kulturvölker einander so wenig kennen und verstehen, daß sich das eine mit Haß und Abscheu gegen das andere wenden kann. Ja, daß eine der großen Kulturnationen so allgemein mißliebig ist, daß der Versuch gewagt werden kann, sie als »barbarisch« von der Kulturgemeinschaft auszuschließen, obwohl sie ihre Eignung durch die großartigsten Beitragsleistungen längst erwiesen hat. 9

In der Tat findet die erste Kriegsrede Bergsons – jene an der Akademie – ein sehr breites Echo jenseits des Rheins und wird bald zum Wahrzeichen des französischen Kampfes gegen die »deutsche Barbarei«: Am 9. August in »Le Figaro« und »Le Temps« veröffentlicht, wird sie bereits in den folgenden Wochen in diversen deutschen Tageszeitungen und Zeitschriften zitiert – was dazu führt, dass sein gegenüber dem deutschen Volk erhobener Vorwurf der Barbarei häufig als Argument benutzt wird, Bergsons philosophisches Format kleinzureden. Nach einem ersten Bericht von Hanna Hellmann in der »Frankfurter Zeitung« vom 20. August 10 reagiert der Literaturnobelpreisträger Gerhart Hauptmann mit einem Artikel im »Berliner Tageblatt« 11 auf Bergsons Rede. Die Tageszeitung, damals die meistgelesene in Deutschland, bringt kurz darauf einen zweiten Artikel über Bergson aus der Feder des Philosophen und Journalisten Fritz Mauthner 12, der ihn tatsächlich im Ausgang von seiner Definition des deutschen Volks als barbarisch vorstellt und ihn als »das tapfere Schneiderlein […] der philosophischen Mode« 13 beschimpft; Mauthner bietet sodann eine Zusammenfassung der Werke Bergsons als wenig stringente Wiedervorlagen idealistischer, evolutionistischer und

9 Sigmund Freud (1856–1939), Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), in Gesammelte Werke (1940–1952), 18 Bde., hg. von A. Freud et al., Bd. X: Werke aus den Jahren 1913–1917, S. 329. 10 Hanna Hellmann (1877–1942), Bergson und Deutschlands Krieg der Freiheit, »Frankfurter Zeitung«, Frankfurt am Main, 20. August 1914. 11 Gerhart Hauptmann (1862–1946), Gegen die Unwahrheit, »Berliner Tageblatt«, 431, 26. August 1914; erneut veröffentlicht in Sämtliche Werke, 11 Bde., Berlin 1996, Bd. XI, S. 843–847. 12 Fritz Mauthner (1849–1923), Wer ist Henri Bergson?, »Berliner Tageblatt«, 13. September 1914. In einer Fußnote präzisiert der Autor, dass er den Artikel im April zu schreiben begonnen und Ende August umgearbeitet habe, nachdem er von Bergsons Behauptungen erfahren hatte. Zu Mauthners politischen Interventionen während des Ersten Weltkriegs verweise ich auf die Studie von K. Flasch, Die geistige Mobilmachung, a. a. O., S. 344–352. 13 F. Mauthner, Wer ist Henri Bergson?, a. a. O., S. 162.

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pragmatistischer Theorien. In der zweiten Auflage seines berühmten Wörterbuchs der Philosophie (1923) erscheint der Artikel noch einmal als Dokument seiner »Abrechnung mit Bergson«. 14 Die Reaktion der deutschen Intellektuellen auf Bergsons Stellungnahme spart in einigen Fällen auch seine alten Briefpartner nicht aus, wie im Fall von Georg Simmel, der im Oktober 1914 auf die Akademierede Bergsons mit einem Artikel Bergson und der deutsche ›Zynismus‹ antwortet. 15 Obwohl er die Worte von Gerhart Hauptmann für übertrieben hält, der Bergson als »Salonphilosophen« und »Philosophaster« 16 definiert hatte, betrachtet er es als gravierend, dass ein Intellektueller vom Format eines Bergson – er nennt ihn »den stärksten Intellekt der lebenden Philosophen« 17 – sich zu derartigen Behauptungen habe hinreißen lassen, die die öffentliche Meinung in Frankreich nachhaltig beeinflussen sollten. Außerdem erinnert Simmel daran, dass Bergson sich vor dem Krieg sehr für die deutsche Philosophie interessiert, Kant studiert (»wenngleich unter wunderlichen Mißverständnissen« 18), sich mit Dilthey und Cohen 19 beschäftigt und sich sogar für die Übertragung von Simmels Werk ins F. Mauthner, Bergson, in Wörterbuch der Philosophie (1910), Bd. I der 2., vermehrte Aufl., Felix Meiner Verlag, Leipzig 1923, S. 170. 15 G. Simmel, Bergson und der deutsche ›Zynismus‹, »Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik«, IX (1914), 1, 1. Oktober, S. 198 f., in Gesamtausgabe, a. a. O., Bd. XVII: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889–1918, Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888–1920. Beiträge aus der »Jugend« 1897–1916, Suhrkamp, Frankfurt am Main – Berlin 2004, S. 121–123. Simmels Position während des Krieges ist Gegenstand der Studie von G. Fitzi, Zwischen Patriotismus und Kulturphilosophie. Zur Deutung der Simmelschen Position im Ersten Weltkrieg, »Simmel Newsletter«, VII (1997), 2, Winter, S. 115–130. Für den Artikel über Bergson vom Herbst 1914 sei verwiesen auf ders., Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, a. a. O., S. 257–261. 16 G. Hauptmann, Gegen die Unwahrheit, a. a. O., S. 843. 17 G. Simmel, Bergson und der deutsche ›Zynismus‹, a. a. O., S. 121. 18 Ebd. 19 Ebd. Nach meiner Kenntnis ist dies das einzige Zeugnis für Bergsons Cohen-Lektüre; was das Interesse für Dilthey angeht, so bezieht sich auch Diederichs darauf im Bericht über ihre persönliche Begegnung: »1911 besuchte ich den Führer der französischen Philosophen Henri Bergson in Paris. […] Als ich ihn fragte, wer ihn am meisten von den heutigen deutschen Philosophen interessiere, nannte er Dilthey und den Grafen Keyserling, dessen Gefüge der Welt er gelesen hatte«, vgl. E. Diederichs, Der deutsche Buchhandel der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1927, S. 76, a. a. O., zit. in G. Pflug, Eugen Diederichs und Henri Bergson, a. a. O., S. 166. In Bergsons Schriften gibt es allerdings weder Bezüge zu Cohen noch zu Dilthey und auch wenn man nicht ausschließen kann, dass er sich wirklich damit beschäftigt hat, so 14

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Französische eingesetzt hat: Gerade die Vertrautheit Bergsons mit den Denkern jenseits des Rheins veranlasst Simmel, in Anbetracht seiner jüngsten Behauptungen resignierend »die mit alledem hoffnungslose Unfähigkeit des Franzosen, das deutsche Wesen zu begreifen« 20, zu konstatieren. Der Briefwechsel zwischen Bergson und Simmel versiegt also zu Kriegsbeginn, so wie der mit all den deutschen Philosophen, mit denen Bergson in den vorausgehenden Jahren im Dialog gestanden hatte. Scheler, der ebenfalls die Beziehungen zu Bergson abbricht, wahrt eine insgesamt gemäßigte Position, d. h. er ändert sein philosophisches Urteil nicht wegen Bergsons Einsatzes für die Kriegspropaganda. Im Essay Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg von 1915 nimmt er in der Tat Bergson gegen die Anschuldigungen in Schutz, die seit den ersten Kriegswochen gegen seine Philosophie vorgebracht werden, als Reaktion auf seine Rede vor der Académie des sciences morales et politiques: »Innerhalb der Philosophie nennen für die Beurteilung philosophischer Dinge völlig inkompetente Personen H. Bergson einen ›Feuilletonisten‹, da er sich nach der ungeprüften Nachricht des ›Petit Parisien‹ eine unsagbare Plattheit über deutschen ›Zynismus und Barbarei‹ entschlüpfen ließ«. 21 In der Kölner Vorlesung über Bergson von 1920 erwähnt Scheler den kriegsbedingten Abbruch seiner Beziehungen zu Bergson und beschwört eine Amnestie unter den Intellektuellen: Langjähriger lebhafter brieflich und durch deutsche Freunde vermittelter Gedankenverkehr, der bis zu Beginn des Weltkrieges dauerte, hat – obzwar ich den Ergebnissen von Bergsons Philosophie und bis zu einem erhebscheinen sie von geringerer Bedeutung als die anderen in dieser Untersuchung berücksichtigten Figuren. 20 G. Simmel, Bergson und der deutsche ›Zynismus‹, a. a. O., S. 121. 21 M. Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg (1914), in Gesammelte Werke, 16 Bde., hg. von M. S. Frings und M. Scheler, Francke, Bern 1954–1998, Bd. IV: Politisch-pädagogische Schriften, 1982, S. 205. Der Vorwurf, Bergson sei ein »Feuilletonist« stammt von G. Hauptmann, Gegen die Unwahrheit, a. a. O. und von F. Mauthner, Wer ist Henri Bergson?, a. a. O. Andere Stimmen, die auf der Notwendigkeit insistieren, das Urteil über Bergsons Philosophie von seinem Einsatz für die französische Propaganda getrennt zu halten, sind die von O. Braun, Materie und Gedächtnis, »Archiv für die gesamte Psychologie«, XV (1915), 4, S. 13–15, der eine gute Besprechung von MM bietet, sowie von Friedrich Klimke, »Plagiator Bergson« – eine Kulturfrage, »Stimmen der Zeit«, XC (1916), 5, Februar, S. 422–424, der aufzeigt, wie sinnlos es ist, einen Krieg zwischen den Völkern auch im Bereich der Wissenschaften und der Moral zu führen.

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lichen Grade auch ihrem »Geist« stets ablehnend gegenüberstand – dann vielfache Fäden zwischen unseren philosophischen Arbeiten gesponnen und ließ mich in die eigenartige Gedankenwelt dieses Denkers immer tiefer eindringen. […] Der Krieg hat auch diese geistige Freundschaft rauh zerteilt. Auch Henri Bergson hat durch Reden, die er als Mitglied der Akademie Française hielt, ferner in Aufsätzen und Schriften der Kriegspsychose seinen Tribut gezahlt. Unsere persönliche Verbindung ist heillos zerrissen. Aber ich stehe auf dem prinzipiellen Standpunkt, daß die kosmopolitische geistige Republik, die ewige und dauernde Republik aller forschenden Geister nur dann wieder aufgerichtet werden kann, wenn die Gelehrten und Forscher aller Länder hinsichtlich allem, was die nationalistische Kriegspsychose sie sagen ließ, sich selbst eine Art von geistiger Amnestie gewähren: Nicht soweit, als es sich um persönliche Freundschaft handelt, sondern nur soweit als es sich um die gemeinsame Sache handelt. 22

Schelers Appell zur Versöhnung der Intellektuellen von 1920 folgt auf eine Phase, in der er den Krieg unterstützt und darin die Gelegenheit sieht, neue Werte zur Geltung zu bringen sowie ein Wiedererstarken der sozialen Solidarität herbeizuführen, die durch den Kapitalismus in die Krise geraten war. 23 Auch wenn sie Bergson gegenüber nicht in den Ton heftiger Anklage verfallen, gehen Scheler und Simmel deutlich auf Distanz zu ihm und den anderen französischen Intellektuellen. Der einzige deutsche Intellektuelle, der mit Bergson korrespondiert und sich bemüht, den Dialog nicht abreißen zu lassen, ist Keyserling – vielleicht der einzige Lebensphilosoph, der in diesen Jahren nicht die Kriegsideologie unterstützt. Im April 1915 schickt er Bergson einen Aufsatz über den Krieg, dem er einen Brief beifügt: Cher Maître, ich sende Ihnen beigeschlossen einen bescheidenen Versuch, dem Mut zur Verständigung wieder Gehör zu verschaffen, in dieser Welt, die wieder völlig in die blinden Leidenschaften primitiver Zeiten verfallen ist. Ich rechne kaum darauf, von der großen Menge gehört zu werden, nicht einmal von den Intellektuellen, aber von einem halben Dutzend (gibt es so viele?) Europäer, die noch da sind. Zweifellos sind Sie derjenige, der sich die Höhe und die Heiterkeit der Seele am besten bewahrt hat. Was kann man M. Scheler, Bergson-Heft, Bayerische Staatsbibliothek, Ana 315, B, I, 99, Bl. 1–2. Schelers philosophische Aktivität während des Krieges ist zusammengefasst in den Essays Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg; Die Ursachen des Deutschenhasses. Eine nationalpädagogische Erörterung; Europa und der Krieg, in Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. IV: Politisch-pädagogische Schriften, 1982, S. 251–372. Außerdem sei hingewiesen auf die Untersuchung von K. Flasch, Die geistige Mobilmachung, a. a. O., S. 103–146.

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sonst noch sagen? Ich lebe vollkommen zurückgezogen und verbringe meine Zeit mit Studien zur vergleichenden Geschichte. Sie sind wenig erbaulich, diese Lektüren, aber sie sind heilsam. Sie lehren uns, uns gleich mit dem Triumph der Unvernunft abzufinden, des dummen Zufalls, der Niedrigkeit, der brutalen Stärke. Und sie wird sehr notwendig sein, diese Resignation, in der traurigen und chaotischen Zukunft, die uns erwartet, wenn man trotz allem und durch alles hindurch das, was man sich vorgenommen hat, zu Ende führen will. Über Nachrichten von Ihnen wäre ich sehr glücklich. 24

Der Brief ist einem Aufsatz beigegeben, der den Krieg nicht in einer nationalistischen, sondern einer europäischen Perspektive zu deuten versucht. Dabei wird die Verantwortung Deutschlands für den Ausbruch des Krieges in einem internationalen Geflecht politischer Ursachen verortet. Der Aufsatz Keyserlings erscheint in einer Spezialausgabe des »Hibbert Journal«, die dem Krieg gewidmet ist und die wenige Seiten zuvor eine der härtesten antideutschen Kriegsreden Bergsons abdruckt, und zwar den am 12. Dezember 1914 auf der öffentlichen Jahressitzung der Académie des sciences morales et politiques gehaltenen Vortrag. 25 Hier wirft Bergson Deutschland vor, sich in einem rein materiellen Sinn entwickelt zu haben, und zwar so sehr, dass es nunmehr Sklave eines mechanischen und eintönigen Staates und Produktionssystems sei, das den Ausdruck der vitalen Kreativität der Individuen verhindert und das die Achtung vor dem Recht im Namen der brutalen Gewalt erdrückt. Keyserling ist also über Bergsons aktive Teilnahme an der antideutschen Propaganda auf dem Laufenden, sein Brief ist eine direkte Reaktion darauf: Der Aufruf an Bergson, den »Mut zur Verständigung« zu haben (unterstrichen durch Keyserlings Kursivierung), ist in der Tat eine wörtliche Bezugnahme auf das spinozistische Motto »verstehen und sich nicht empören«, von dem Bergson, schon zu Beginn seines im »Hibbert Journal« veröffentlichten Vortrags, sich ausnehmen zu dürfen glaubt. »[W]enn ich wählen müsste, würde ich, angesichts des Verbrechens, mich lieber empören und nicht verstehen. Zum Glück ist die Wahl gar Der bisher unedierte Brief wird aufbewahrt in der Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, vgl. comte Hermann de Keyserling, Lettre autographe s. à Henri Bergson, Rappel [Estonie], 17 avril 1915, 2 ff., BLJD, cote BGN 220826/II-BGN-VI, Herkunft H. de Keyserling, On the meaning of the war, »Hibbert Journal«, XIII (1915), 3, S. 533–545, BLJD, cote VII-BGN-II-81/BGN 1545. 25 H. Bergson, Life and Matter at War, »Hibbert Journal«, XIII (1915), 3, S. 465–475; der in der Zeitschrift ins Englische übersetzte Teil entspricht M, S. 1108–1116. 24

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nicht nötig. Es gibt eine Wut, die vielmehr, indem sie sich in ihren Gegenstand vertieft, die Kraft schöpft, sich zu behaupten und sich zu erneuern. Unsere ist von dieser Art. Machen wir uns die Bedeutung dieses Krieges klar: Dann haben wir nur noch mehr Abscheu vor denen, die ihn uns bringen«. 26 Selbst der Artikel von Keyserling hat sehr kritische Worte für jene Intellektuellen, die sich für die Kriegspropaganda in Dienst nehmen lassen: »Gerade die Stärke der Emotionen macht unparteiisches Denken unmöglich, verengt die Reichweite des Verstehens, bringt dazu, allzu einfache und radikale Formeln zu akzeptieren – so sehr, dass in solchen Zeiten große Geister nicht selten Meinungen äußern, über die kleine Geister in normalen Zeiten erröten würden«. 27 Auch nach dem Krieg setzt sich Keyserling dafür ein, dass die Intellektuellen die Verantwortung dafür übernehmen, die politische Situation ohne subjektive Vorurteile zu verstehen, um die westliche Welt zu retten. In dem Aufsatz von 1920 Peace, or war everlasting?, den er ebenfalls an Bergson schickt, zeigt er sich bestürzt über die Bedingungen des Versailler Vertrags, die so ungerecht und demütigend für Deutschland sind, dass sie eine dauerhafte Aufrechterhaltung des Friedens sowie den Widerstand gegen die wachsende Macht der Bolschewiken beinahe unmöglich machen. Der Internationalen der Arbeiter hält Keyserling hier entgegen »the Internationale of the really Best, the most Enlightened, the most Wellmeaning – in one word the Internationale of gentlemen. […] They know equally well, to whatever side they belong, that there is no way out of the present impasse, so long as each party perseveres in its subjective outlook on things«. 28 Wenn auch mit abweichenden Absichten, bewegt sich Bergson ebenfalls in den Jahren nach dem Krieg auf die Idee der Vereinigung der Menschheit und der europäischen Zivilisation zu, wie vor allem sein Einsatz für die Gründung des Völkerbunds und seine Tätigkeit bei der Kommission für internationale geistige Zusammenarbeit zeigen, deren Vorsitz er von 1922 bis 1925 führt, in der AbM, S. 1108; H. Bergson, Life and Matter at War, a. a. O., S. 465. H. Keyserling, On the meaning of the war, a. a. O., S. 533. 28 H. Keyserling, Peace or war everlasting?, »The Atlantic Monthly«, LXV (1920), April, S. 561: »die Internationale der wirklich Besten, der Aufgeklärtesten, der Wohlmeinendsten – mit einem Wort, die Internationale der Gentlemen. […] Sie wissen alle gleich gut, zu welcher Seite sie auch gehören, dass es keinen Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse gibt, so lang jede Partei in ihrer subjektiven Sicht der Dinge verharrt.« 26 27

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sicht, eine Kultur des Friedens und der friedlichen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ländern zu konsolidieren. Eine Antwort an Keyserling erfolgt allerdings nicht, solange der Krieg dauert, und Bergson sollte den Briefwechsel erst wieder am 15. Juli 1932 aufnehmen, als er ihm schreibt, um sich für die Zusendung der Méditations Sud-américaines 29 zu bedanken: »[I]ch möchte Ihnen […] sagen, wie glücklich ich über diese Gelegenheit bin, Beziehungen wieder aufzunehmen, die vor bald zwanzig Jahren so tragisch durch die Ereignisse unterbrochen worden sind«. 30 Die Erfahrung des Krieges und die Teilnahme an der philosophischen Mobilmachung, samt der anfänglichen Begeisterung, die sie begleitet, sind von maßgeblicher Bedeutung nicht nur für das Leben, sondern auch für das Werk Bergsons, der in Les deux sources der Frage des Krieges in der Theorie der Gesellschaft großen Raum gibt. Bereits 1912 äußerte Bergson in einem Gespräch mit Benrubi die Vermutung, der Krieg könne »unverzichtbar für die Existenz eines Volkes sein« 31, eine These, die er im Werk von 1932 wiederholt, um die geschlossene Gesellschaft zu beschreiben. Diese stellt sich in der Tat als eine stets kriegsbereite Gruppe dar, inwendig kompakt und hierarchisch organisiert zwecks Verteidigung oder Angriff gegen den Feind. Bergson meint, die Natur habe den Krieg gewollt, da sie den Menschen eine natürliche Bereitschaft zum Kampf, einen kriegerischen Instinkt mitgegeben habe. Diese Überlegungen illustriert er mit einem Beispiel, das aus seiner eigenen persönlichen Erfahrung zur Zeit der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich stammt: Da ich 1871, am Ende des Krieges noch ein Kind war, hatte ich, wie alle Kinder meiner Generation, während der 12 oder 15 folgenden Jahre einen neuen Krieg als unmittelbar bevorstehend angesehen. Nachher erschien uns dieser Krieg zugleich als wahrscheinlich und als unmöglich […]. Aber als ich am 4. August 1914 eine Nummer das Matin aufmachte und in großen Buchstaben las »Deutschland erklärt Frankreich den Krieg«, hatte ich das plötzliche Gefühl einer unsichtbaren Anwesenheit, die von der ganzen Vergangenheit vorbereitet und angekündigt worden war, in der Art eines Schattens, der dem Körper, der ihn wirft, vorangeht. Es war, als wenn eine Legendenfigur aus dem Buche, das ihre Geschichte erzählt, herausträte und sich gemächlich im Zimmer plazierte (sic). In Wahrheit hatte ich es freilich 29 H. Keyserling, Südamerikanische Meditationen (1932), frz. Übers. von A. Béguin, Méditations Sud-américaines, Stock, Paris 1932. 30 C, S. 1384. 31 I. Benrubi, Souvenirs, a. a. O., S. 71, Gespräch vom 20. Mai 1912.

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nicht mit der vollständigen Persönlichkeit zu tun. Es war von ihr nur das vorhanden, was nötig war, um eine gewisse Wirkung zu erreichen. Sie hatte ihre Stunde abgewartet, und gemütlich ohne Umstände setzte sie sich an ihren Platz. Um in diesem Augenblick an dieser Stelle einzugreifen, dazu hatte sie sich auf dunkle Weise in meine ganze Lebensgeschichte eingeflochten. Dreiundvierzig Jahre vager Unruhe hatten darauf abgezielt, dieses Gemälde zu entwerfen: das Zimmer mit seinen Möbeln, die aufgeschlagene Zeitung auf dem Tisch, ich davorstehend, und das »Ereignis« alles mit seiner Gegenwart durchtränkend. 32

Die zu Beginn des Krieges verspürte Begeisterung wird auf eine spontane »Abwehrreaktion gegen die Furcht, eine automatische Stimulierung des Mutes« 33 zurückgeführt, so als wären wir von Natur aus viel eher auf Krieg als auf Frieden eingestellt: Trotz meiner Bestürzung und obgleich ein Krieg, auch ein siegreicher, mir als eine Katastrophe erschien, empfand ich wie James ein Gefühl der Bewunderung für die Leichtigkeit, mit der sich der Übergang vom Abstrakten zum Konkreten vollzogen hatte: wer hätte gedacht, daß eine so furchtbare Möglichkeit ihren Eintritt in die Wirklichkeit mit so wenig Schwierigkeit vollziehen könnte? Dieser Eindruck der Einfachheit beherrschte alles. Wenn man darüber nachdenkt, bemerkt man, daß die Natur, wenn sie der Furcht eine Abwehrbewegung entgegenstellen, wenn sie angesichts der allzu intelligenten Vorstellung eines Zusammenstürzens mit endlosen Rückwirkungen eine Lähmung des Willens verhindern wollte, zwischen uns und das vereinfachte, in eine elementare Persönlichkeit umgewandelte Ereignis gerade diese Kameradschaft setzen mußte, die uns beruhigt, uns entspannt und uns geneigt macht, ganz einfach unsere Pflicht zu tun. 34

Aus diesem langen autobiographischen Zitat aus Les deux sources geht besonders eindringlich die Verflechtung von Bergsons philosophischen Überlegungen mit seinem eigenen Leben und mit seiner Teilhabe an den historischen Ereignissen hervor. Bergson erkennt nämlich einen fundamentalen Wesenszug der Gesellschaften im Ausgang von der Analyse der Kriegserfahrung, die er höchstpersönlich gemacht hatte. Der moralische Aufruf zur Öffnung, d. h. zur Liebe aller Menschen und nicht nur zu denen der eigenen engeren Gruppe, wird tatsächlich als der Natur entgegengesetzt anerkannt, d. h. gegen das biologische Leben stricto sensu, das zum Zweck des eigenen Über-

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DS, S. 166 f.; dt. S. 156 f. Ebd., S. 303; dt. S. 284. Ebd., S. 167; dt. S. 157.

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lebens von den Individuen die Zugehörigkeit zur Gruppe und eine abwehrende Haltung gegenüber dem Feind verlangt. Wenn die Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs Bergson Gelegenheit gibt, die Natürlichkeit des Kriegsinstinktes anzuerkennen sowie die Unmöglichkeit, ihn der geschlossenen Gesellschaft auszutreiben, so ist auch das Engagement bei der Kommission für internationale geistige Zusammenarbeit eine biographische Erfahrung, die ihrerseits die Überlegungen von Les deux sources bereichert, diesmal zum Thema der offenen Gesellschaft. Die politische Erfahrung des Völkerbunds wird nämlich interpretiert als eine der größten von der Menschheit unternommenen Anstrengungen, um die Natur mittels der Zivilisation zu überlisten oder ihr entgegenzuarbeiten und um die Gesellschaft von den Tendenzen zur Abschottung abzubringen: Werden die Dinge ihren Lauf nehmen? Männer, die wir ohne Zögern zu den Wohltätern der Menschheit zählen, haben sich dem glücklicherweise in den Weg gestellt. Wie alle großen Optimisten haben sie damit angefangen, daß sie das zu lösende Problem als gelöst ansahen. Sie haben den Völkerbund begründet. Wir sind der Ansicht, daß die bisherigen Resultate schon das übertreffen, was man erhoffen konnte. Denn die Schwierigkeit, die Kriege abzuschaffen, ist noch größer, als gewöhnlich selbst diejenigen meinen, die nicht an ihre Abschaffung glauben. 35

Der Idealismus und der Optimismus der Gründer des Völkerbunds, die Arbeit seiner Kommissionen – wie derjenigen, deren Vorsitz Bergson führt und die für die Projekte kultureller Zusammenarbeit verantwortlich ist – wird sich immer in Spannung mit der natürlichen und unaustilgbaren Tendenz der Gesellschaften zum Krieg befinden: Selbst wenn der Völkerbund über eine anscheinend ausreichende bewaffnete Macht verfügte (dabei wäre ihm aber der Widerspenstige durch den Elan überlegen; dabei wird aber die Unabsehbarkeit des wissenschaftlichen Entdeckens die Art des Widerstandes, den der Völkerbund vorbereiten müßte, unvorhersehbar machen), so würde er doch auf den starken kriegerischen Instinkt stoßen, den die Zivilisation verdeckt. 36

Ebd., S. 305 f.; dt. S. 286 f. Ebd., S. 306; dt. S. 287. Vgl. auch S. 303; dt. S. 284: »Der kriegerische Instinkt ist so stark, daß er als erster zutage tritt, wenn man die Zivilisation abkratzt, um die Natur wiederzufinden«.

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2. Nationalphilosophien im Krieg

Das Thema des Krieges, seit 1914 Gegenstand von Bergsons Philosophie, ist aufs Engste verknüpft mit der Definition der geschlossenen Gesellschaft und also mit der Zugehörigkeit zu einer eingegrenzten Gruppe. Auch in diesem Fall liefert ihm die historische Erfahrung des Ersten Weltkriegs viel Stoff zum Nachdenken, da das Thema der nationalen Identität, auch auf philosophischer Ebene, häufig im Zentrum der Diskurse der französischen und deutschen Intellektuellen steht, die während des Großen Krieges gegeneinander mobilisiert worden waren. Anfang September 1914, während der Marne-Schlacht, hält einer der wichtigsten deutschen Intellektuellen der Zeit, Wilhelm Wundt, in Leipzig einen Vortrag über den Krieg – im Ton ganz ähnlich jenem, den Bergson einen Monat zuvor gehalten hatte. Wundt lässt es sich nicht nehmen, Bergson zu erwidern: »Was verschlägt es uns, wenn Herr Henri Bergson, den in Deutschland kein ernst zu nehmender Philosoph jemals ernst genommen hat, uns Barbaren schilt? Wissen wir doch, dass dieser Philosoph seine Gedanken, soweit sie überhaupt etwas taugen, uns Barbaren gestohlen hat, um sie dann nachträglich mit dem Flittergold seiner Phrasen aufgeputzt als eigene Erfindung in die Welt zu schicken«. 1 Mit diesem peremptorischen Urteil geht Wundt, der im Übrigen einer der Psychologen war, auf den sich der Essai und Matière et mémoire 2 hauptsächlich be1 W. Wundt, Über den wahrhaften Krieg. Rede gehalten in der Alberthalle zu Leipzig am 10. September 1914, Alfred Kröner Verlag, Leipzig 1914, S. 8. 2 In DI und MM setzt sich Bergson vor allem auseinander mit W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. Wie aus dem Ausleihregister der Bibliothek der École Normale Supérieure hervorgeht, liest Bergson W. Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele, Voss, Leipzig 1863; ders., System der Philosophie (1889), W. Engelmann, Leipzig 21897; ders., Grundzüge der physiologischen Psychologie (1874), 4., umgearbeitete Aufl., 2 Bde., Engelmann, Leipzig 1893; ders., Logik: eine Untersuchung der Principien der Erkenntniss und der Methoden wissenschaft-

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zogen hatten, über die Tatsache hinweg, dass Bergson in den Jahren zuvor auch bei »ernst zu nehmenden Philosophen« wie Simmel und Scheler in hohem Ansehen gestanden hatte. Der Vorwurf, die Ideen der deutschen Philosophen plagiiert zu haben, scheint sich dagegen vor allem auf Schopenhauer zu beziehen, dem Wundt sehr nahesteht. Tatsächlich entsteht infolge von Wundts Rede in Deutschland eine weitläufige ›Querelle‹ darüber, dass Bergson schlicht und einfach Schopenhauers Willensphilosophie noch einmal aufgewärmt habe. Der polemische Essay von Hermann Bönke Plagiator Bergson 3 (1915), einer der einschlägigsten Texte hierzu, wird von Wundt im November desselben Jahres besprochen. 4 Nachdem er die deutsche Herkunft vieler Ideen Bergsons bemerkt hatte (die angeblich nicht nur von Schopenhauer, sondern auch von der Ästhetik der Einfühlung und vom Idealismus herrühren), schließt Wundt die Rezension mit einer Wiederaufnahme von Bergsons Rede vom 8. August 1914, wobei er diesmal antwortet, es sei besser, die »intellektuellen Barbaren« 5 zu sein, als »der naive, instinktive Barbar, der Algerier, Marokaner, Senegalneger, den die Franzosen gegen uns ins Feld schicken«. 6 Dass die von den Franzosen erhobenen Vorwürfe mit einer Retourkutsche gegen ihre Kolonialtruppen beantwortet werden, war im Übrigen bereits in dem berühmten Manifest Aufruf an die Kulturwelt der Fall, das im Berliner Tageblatt vom 4. Oktober 1914 veröffentlicht und schon am 13. Oktober in der Pariser Tageszeitung Le Temps in französischer Übersetzung erschienen war – unterzeichnet von 93 deutschen Professoren, darunter Eucken, Haeckel, Windelband und Wundt: »Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten Recht, die sich mit Russen und licher Forschung. Erkenntnisslehre, Bd. 2, F. Enke, Stuttgart 1880 sowie ders., Ethik, 2., umgearbeitete Aufl., Enke, Stuttgart 1892. Bergson liest außerdem regelmäßig die von Wundt herausgegebenen Zeitschriften »Philosophische Studien« und »Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie«, letztere mitherausgegeben von Richard Avenarius. 3 Hermann Bönke, Plagiator Bergson, Membre de l’Institut. Zur Antwort auf die Herabsetzung der deutschen Wissenschaft durch Edmond Perrier, président de l’Académie des Sciences, Fr. Huth’s Verlag, Charlottenburg 1915. 4 W. Wundt, Bönke, H., Plagiator Bergson, Membre de l’Institut. Zur Antwort auf die Herabsetzung der deutschen Wissenschaft durch Edmond Perrier, président de l’Académie des Sciences. Charlottenburg, o. J. (1915). Fr. Huth’s Verlag, »Literarisches Zentralblatt«, (1915), 13. November, S. 1131–1337. 5 A. a. O., S. 1137. 6 Ebd.

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Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen«. 7 Das Beispiel Wundts mag genügen, um zu zeigen, dass es der umfangreichen Literatur, die während des Krieges und danach über Bergsons Schopenhauer-Plagiat 8 produziert worden ist, nicht so sehr um die Entwicklung eines streng wissenschaftlichen Diskurses geht, sondern um den Aufbau einer Kriegskultur, um den Konsens der Bevölkerung zu befördern: Diesem Zweck dient der Beweis der Überlegenheit der deutschen Kultur über die französische sowie ihrer exklusiven Zentralstellung in der europäischen Kultur. Die Polemik über Bergsons Schopenhauer-Plagiat ist nämlich Teil einer umfassenden Strategie geistiger Mobilmachung, an der sich viele deutsche Intellektuelle beteiligen, um die nationalistische Ideologie zu unterstützen, d. h., um ihre kulturelle Vorrangstellung und ihre philosophische Identität in ihrer Reinheit zu behaupten, wobei vor allem jede Dankesschuld gegenüber der französischen Welt in Abrede gestellt wird. Die Geschichte des Aufrufs und der internationalen Reaktionen darauf rekonstruiert Bernhard vom Brocke, »Wissenschaft und Militarismus«. Der Aufruf der 93 »An die Kulturwelt!« und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg, in William M. Calder III – Hellmut Flashar – Theodor Lindken (Hg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, S. 649–719. S. außerdem Jürgen von Ungern-Sternberg, Der Aufruf »An die Kulturwelt!«. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Franz Steiner, Stuttgart 1996. Der Aufruf und die Liste der Unterzeichner finden sich auf S. 144–147. Die Reaktionen der französischen Intellektuellen auf das sogenannte »Manifest der 93« behandelt M. Hanna, The Mobilisation of Intellect, a. a. O., S. 78–105. 8 Die Einzelheiten und die Bedeutung dieser Polemik wurden erschöpfend beleuchtet in dem Artikel von A. François, Bergson plagiaire de Schopenhauer?, a. a. O. Es möge hier genügen, die wichtigsten Stationen dieser Debatte in den folgenden Essays zu erwähnen, die zum Großteil auf die Kriegszeit zurückgehen: Illés Antal, Bergson und Schopenhauer, »Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft«, III (1914), 22. Februar, S. 3–15; Günther Jacoby, Henri Bergson und Arthur Schopenhauer, »Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik«, X (1915), 2, 1. November, S. 453–480; W. Wundt, Bönke, H., Plagiator Bergson, a. a. O.; Cay von Brockdorff, Die Wahrheit über Bergson, Karl Curtius, Berlin 1916; Hermann Bönke, Wörtliche Übereinstimmungen mit Schopenhauer bei Bergson, »Jahrbuch der SchopenhauerGesellschaft«, V (1916), 16. Mai, S. 37–86; Peter Knudsen, Die bergsonsche Philosophie in ihrem Verhältnis zu Schopenhauer, »Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft«, XVI (1929), S. 3–44. Dieser Aufsatz, schon aus der Nachkriegszeit, bewertet die Frage mit einer gewissen Unabhängigkeit von den nationalistischen Ideologien der vorhergehenden Jahre. Dabei kritisiert er vor allem Bönkes polemischen Beitrag von 1915. 7

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Dieses Vorgehen ist vollkommen analog zu dem in Frankreich praktizierten, wo sich die Intellektuellen in der sogenannten Union sacrée des intellectuels 9 zusammenschließen, an der Bergson in vorderster Reihe mitwirkt – neben Boutroux, Durkheim und anderen. Auch der Essay Plagiator Bergson soll im Übrigen eine Antwort sein auf den Essay France et Allemagne, den der französische Zoologe Edmond Perrier 1915 veröffentlicht hatte. Er wiederholt die Worte Bergsons über die deutsche Barbarei schon zu Beginn des Werkes: Die tragischen Ereignisse, die sich in diesem Augenblick abspielen und die die beiden Reiche Zentraleuropas entfesselt haben, werden von all denen mit Befremden wahrgenommen, die glaubten, Deutschland sei hochzivilisiert, da sie dem Trara Glauben schenkten, das es um seine Kultur machte. Ängstlich suchte man überall nach der Erklärung des Kontrasts zwischen seiner wissenschaftlichen Reputation und den Akten der Barbarei, die es seit Kriegsbeginn verübt hat. 10

Anders als Bergson stützt sich Perrier jedoch auf die Rassentheorie, wobei er die Überlegenheit der deutschen Rasse bestreitet: Er vertritt nämlich die Meinung, die deutsche Wissenschaft habe nichts Großartiges erfunden, vielmehr habe sie »all die noblen Ideen, die sich bei den anderen Völkern entwickelt haben« 11, für den Traum wilder militärischer Hegemonie sowie für industrielle und kommerzielle Interessen missbraucht. Auch dieses Thema hatte übrigens Bergson in seiner Rede vom 12. Dezember 1914 vor der Académie des sciences morales et politiques vorweggenommen, wenn er die deutsche Waffenproduktion im Gegensatz zur uneigennützigen wissenschaftlichen Forschung der Franzosen beschreibt: In gigantischen Fabriken, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte, arbeiten Tausende Arbeiter daran, Kanonen zu gießen, während daneben, in der Werkstatt, im Labor, alles, was das uneigennützige Ingenium der Nachbarn

Zu den religiösen und politischen Verwicklungen der Union sacrée verweise ich auf den Artikel von Ferdinand Buisson, Le vrai sens de l’Union sacrée, »Revue de métaphysique et de morale«, XXIV (1916), 4, S. 644–656. 10 Edmond Perrier, France et Allemagne, Payot, Paris 1915, S. 5. Ich erinnere daran, dass der Gegensatz zwischen Barbarei und romanischer civilisation bereits zentral war im Aufsatz von Charles Maurras, Barbares et Romains, erstmals erschienen in »L’Action française« vom 15. November 1906, S. 711–728, wieder veröffentlicht in verschiedenen Ausgaben und schließlich im Sammelband La Dentelle du Rempart, Bernard Grasset, Paris 1937, S. 143–160. 11 E. Perrier, France et Allemagne, a. a. O., S. 6. 9

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erfinden konnte, sofort ergriffen, zurechtgebogen, zur Kriegsmaschine verwandelt wird. 12

Die »wissenschaftliche Barbarei« des deutschen Feindes, so Bergson, »hat sich ihrerseits noch verstärkt, indem sie sich der Kräfte der Zivilisation bediente«. 13 Die Aneignung der französischen Wissenschaft betrifft sogar die Rassentheorie, die, wenn auch in Frankreich entstanden, laut Bergson in ihrer Heimat überhaupt keine Anhängerschaft gefunden hätte: »[A]ls [Deutschland] sich selbst beweisen wollte, dass es auserwählte Rassen gibt, kam es zu uns, um einen Schriftsteller zur Berühmtheit hochzustilieren, den wir gar nicht gelesen hatten, Gobineau«. 14 Die Behauptung der intellektuellen Vorrangstellung Frankreichs gegenüber Deutschland betrifft allerdings nicht nur die wissenschaftliche Ebene, sondern auch die philosophische. Am 4. November 1914 z. B. führt Bergson in dem Vortrag La force qui s’use et celle qui ne s’use pas die hehren Ideale der deutschen Philosophie auf die französische Philosophie zurück: Es ist nicht mehr die Zeit, in der [die deutschen Philosophen] die Unverletzlichkeit des Rechts ausriefen, die herausragende Würde der Person, die Verpflichtung der Völker, einander zu achten. Das von Preußen militarisierte Deutschland hat diese hehren Ideen weit von sich geworfen, die zum Großteil aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts und der Revolution zu ihm gekommen waren. 15

Auf vergleichbare Weise behauptet Bergson in dem Aufsatz La philosophie française, den er 1915 auf der Weltausstellung in San Francisco vorlegt, die zentrale Stellung der französischen Philosophie in der Entwicklung des modernen Denkens, wobei er die Abhängigkeit der anderen philosophischen Traditionen von den in Frankreich entstandenen Ideen unterstreicht: M, S. 1111. Dass die deutsche Wissenschaft der französischen unterlegen sei, sollte auch Pierre Duhem (1861–1916) in seinen vier Vorlesungen vom März 1915 über La science allemande behaupten, A. Hermann, Paris 1915, wo er vor allem das Fehlen eines esprit de finesse und eines gesundem Menschenverstands bei den deutschen Wissenschaftlern betont, die sich auf die reine Geometrie verlassen. Verwiesen sei im Übrigen auf den Sammelband von Gabriel Petit – Maurice Laudet (Hg.), Les Allemands et la science, mit einem Vorwort von P. Deschanel, Alcan, Paris 1916, mit Beiträgen u. a. von Boutroux, Barrès, Duhem und Perrier. 13 M, S. 1114. 14 Ebd., S. 1113. 15 Ebd., S. 1106; EP, S. 440. 12

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Die Rolle Frankreichs in der Entwicklung der modernen Philosophie ist recht klar: Frankreich war die große Initiatorin und ist immer erfinderisch geblieben, Säerin neuer Ideen. Anderswo mag man in der Entfaltung dieser oder jener Idee weiter gegangen sein, mit diesen oder jenen Materialien systematischer gebaut, diese oder jene Methode zu weiterer Anwendung gebracht haben; aber sehr oft waren die Materialien, die Ideen, die Methode aus Frankreich gekommen, vielleicht ohne dass man sich ihres wahren Ursprungs noch erinnerte. 16

Wenn die philosophischen Neuerungen der Antike in Griechenland entstanden sind, so kommen diejenigen der Moderne für Bergson aus Frankreich, und von dort seien die in den anderen Nationen entwickelten Philosophien oft abgeleitet. Leibniz hätte nichts anderes getan, als »die Metaphysik von Descartes und den Aristotelismus der jüdischen Doktoren zu verschmelzen« 17, und wenn es stimmt, dass ein englischer Empirist wie Locke großen Einfluss auf die französische Ideologie hatte, so präzisiert Bergson: »Ist Locke nicht seinerseits durch Descartes beeinflusst worden?« 18 Auch Pascal hat der deutschen Philosophie neue Wege eröffnet: »Auch wenn er kein System konstruiert hat, hat er zum Teil die metaphysischen Systeme des 19. Jahrhunderts inspiriert: zunächst der Kantianismus, dann die ›Romantik‹ der deutschen Philosophie verdanken ihm viel«. 19 Bergson führt weiterhin aus, dass Maine de Biran nur zu Unrecht der »französische Kant« 20 genannt wurde und dass selbst Guyau, bekannt als »der französische Nietzsche« »vor dem deutschen Philosophen, in gemäßigteren Worten und in einer akzeptableren Form, behauptet hatte, dass das moralische Ideal in der höchstmöglichen Steigerung des Lebens zu suchen ist«. 21 Auch auf dem Gebiet der psychologischen Studien rückt Bergson das französische Primat ins rechte Licht: Die Methode quantitativer Messung »wurde zunächst vor allem in Deutschland praktiziert: obwohl sie alles andere als belanglos ist, hat sie nicht alles erbracht, was man von ihr erwartete«; die Methode

Ebd., S. 1157; EP, S. 452. Ebd., S. 1161; EP, S. 455. Eine eingehende Analyse des Aufsatzes La philosophie française im Kontext findet sich in C. Zanfi, National philosophy and human genius. An introduction to Bergson’s essay on French Philosophy, »Philosophical Inquiries«, I (2014), S. 191–198. 18 Ebd., S. 1164; EP, S. 458. 19 Ebd., S. 1165; EP, S. 459. 20 Ebd., S. 1171; EP, S. 464. 21 Ebd., S. 1180; EP, S. 472. 16 17

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klinischer Beobachtung hingegen »hat bereits wichtige Resultate geliefert. Nun, diese letztere Psychologie, die heute in vielen Ländern zum Einsatz kommt, ist eine Wissenschaft französischen Ursprungs, die in ausgezeichneter Weise französisch bleibt«. 22 Der Sinn für die Psychologie ist nämlich ein Wesenszug, den Bergson auf die französische – und nicht auf die deutsche – Philosophie zurückführt: Während die großen deutschen Denker (sogar Leibniz, sogar Kant), kaum psychologisches Gespür gehabt (oder es jedenfalls kaum gezeigt) haben, während Schopenhauer (im Übrigen ganz erfüllt von der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts) vielleicht der einzige deutsche Metaphysiker ist, der Psychologe war, gibt es keinen großen französischen Philosophen, der sich nicht gelegentlich als subtiler und scharfsinniger Beobachter der menschlichen Seele erwiesen hätte. 23

Bergson will das Profil der französischen Philosophie vor allem mit Bezug auf die deutsche Tradition bestimmen, auch was ihre anderen Charakterzüge betrifft, und zwar die Aufmerksamkeit auf die Wissenschaft und das Misstrauen gegenüber der Konstruktion gewaltiger und starrer philosophischer Systeme: »[I]hre Methode ist von der eines Hegel eben soweit entfernt wie von der eines Kant«. 24 Das Insistieren auf dem philosophischen Nationalcharakter und auf den französischen Quellen der wichtigsten deutschen und europäischen philosophischen Traditionen ist im Kontext eines historischen Augenblicks zu sehen, in dem die politische und kulturelle Rivalität Frankreichs und Deutschlands sich aufs Äußerste zuspitzt. Einige von Bergsons Behauptungen über die philosophischen Einflüsse scheinen in der Tat seinen eigenen Behauptungen in dem Vortrag von Bologna L’intuition philosophique zu widersprechen. Dort hatte er, nur vier Jahre zuvor, die Meinung vertreten, die Philosophie ließe sich nicht auf historische und nationale Faktoren zurückführen. 25 Ebd., S. 1175; EP, S. 467. Ebd., S. 1185 f.; EP, S. 476. 24 Ebd., S. 1187; EP, S. 477. 25 Das hat Frédéric Worms in seiner Analyse der Nationalphilosophie im Ausgang von Bergsons La philosophie française bemerkt: »Wie soll man die Individualität der Intuition, gerade in ihrer ›Neuheit‹ (die er selbst hier schon wieder in Anspruch nimmt), vereinbar machen mit der Idee der ›französischen‹ oder nationalen Philosophie? Muss man also auf einen dieser Begriffe verzichten (das einzelne, das Allgemeine, das ›Nationale‹)? Jedenfalls stehen wir hier vor dem Kern des Problems«, vgl. F. Worms, L’idée de philosophie française, la Première Guerre mondiale et le moment 1900, in La philosophie en France au XXe siècle, Gallimard, Paris 2009, S. 174. 22 23

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Das von Bergson gezeichnete Bild der deutschen Philosophie bringt außerdem ein während des französischen »Kreuzzugs« geläufiges Motiv ins Spiel: nämlich, dass die imperialistische preußische Politik von einer besonderen philosophischen Tradition vorbereitet und legitimiert wurde – derjenigen, die auf Hegel zurückgeht. Seit der Rede vom 12. Dezember 1914 vor der Académie des sciences morales et politiques unterscheidet Bergson tatsächlich – vom politischen und kulturellen Standpunkt aus – ein doppeltes Deutschland: Lange hatte Deutschland sich der Poesie, der Kunst, der Metaphysik hingegeben. Es war, sagte es, für das Denken und für das Träumen gemacht; »es hatte keinen Realitätssinn«. Es ist wahr, seine Verwaltung ließ zu wünschen übrig, es war in miteinander rivalisierende Staaten geteilt, zuzeiten schien die Anarchie unaufhaltsam. Eine sorgfältige Untersuchung hätte indes unter dieser Unordnung die ganz normale Arbeit des Lebens entdeckt, das am Anfang immer zu üppig ist und das dann auslichtet, wählt, bei einer dauerhaften Form stehen bleibt. […] Aber dazu hätte man Zeit gebraucht, wie das Leben sie braucht, um hervorzubringen, was es in sich trägt. Nun gab es aber, während Deutschland so an sich selber arbeitete – organisch –, in seinem Innern, oder besser an seiner Seite ein Volk, bei dem all diese Dinge dazu tendierten, mechanisch vor sich zu gehen. Künstlich war die Entstehung Preußens gewesen, denn es war zustande gekommen, indem man erworbene oder eroberte Provinzen recht und schlecht zusammennähte. Mechanisch war seine Verwaltung, die mit derselben Regelmäßigkeit funktionierte wie eine gut montierte Maschine. […] Die Idee Preußens erweckte Bilder von Brutalität, von Steifheit, von Automatismus, so als wäre dort alles mechanisch, vom Gebaren seiner Könige zum Schritt seiner Soldaten. 26

Bergson wendet also seine in L’évolution créatrice erarbeitete Unterscheidung von »mechanisch« und »organisch« auf die Analyse der Geschichte an. In seiner Perspektive gewann schließlich ein kompromisslos künstliches Deutschland, angeführt von Bismarck, dem »Genie des Bösen« 27, die Oberhand über dasjenige, das gerade dabei war, langsam und organisch seine eigene Form zu schaffen. So wurde der freie Wille der Deutschen der Ordnung und dem »MaschinengehorM, S. 1108 f. Ebd., S. 1109: »Es gab da einen Mann, in dem sich die Methoden Preußens inkarnierten – ein Genie, ich gebe es gern zu, aber ein Genie des Bösen, denn er war skrupellos, ohne Glauben, ohne Barmherzigkeit, ohne Seele. […] Er sagte sich: […] dem berauschten Deutschland werde ich einen Pakt entreißen, wie der des Faust mit Mephistopheles, mit seinem eigenen Blut unterzeichnet, und durch den es auch, wie Faust, für die irdischen Güter seine Seele verkauft haben wird«.

26 27

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sam« 28 geopfert. Diese politische Einteilung spiegelt die der wichtigsten philosophischen Strömungen der deutschen Philosophie wider: Die Philosophie war einfach die Umsetzung seiner Brutalität, seiner Gelüste und seiner Laster. So ist es im allgemeinen mit den Lehren, mit denen die Völker oder die Individuen erklären, was sie sind und was sie tun. Seit Deutschland endgültig eine Nation geworden ist, die auf Beute ausgeht, beruft es sich auf Hegel, wie ein in die moralische Schönheit verliebtes Deutschland seine Treue zu Kant erklären würde, wie ein empfindsames Deutschland sich unter den Schutz Jacobis oder Schopenhauers gestellt hätte. 29

Der teutonische Kult der Stärke, der den Staat Bismarcks auszeichnet, wird also von Bergson auf die Philosophie Hegels zurückgeführt, die aufgrund der von ihr behaupteten Einheit von Vernünftigem und Wirklichem Kant und dem empfindsamen Deutschland entgegengesetzt wird, das hingegen »keinen Realitätssinn hatte«. 30 Dass Kant von den Vorwürfen gegen die deutsche Kultur ausgenommen wird, ist im Übrigen eine geläufige Strategie der nationalistischen französischen Rhetorik, die irgendwie die führende Rolle rechtfertigen muss, die die republikanische Philosophie Kant zwischen 1870 und 1914 zugestanden hatte. 31 Die Idee, dass es zwei Deutschland gibt – das der Freiheit und das nach der Herstellung der Einheit, das dagegen einen gefühllosen und unpersönlichen Absolutismus zur Geltung gebracht hat, ist ein wiederkehrendes Motiv, mit dem nicht nur die französischen, sondern auch die amerikanischen Intellektuellen versuchen, die jüngsten politischen Entwicklungen mit der Philosophiegeschichte zu verbinden. 32 Die Gegenüberstellung eines Goethe-Deutschland und eines Ebd. Ebd., S. 1113. 30 Ebd., S. 1108. Zum »Erfolg« der Philosophie Hegels in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sei verwiesen auf die Studien von D. Losurdo, La seconde guerre de Trente ans et la »croisade philosophique« contre l’Allemagne, in J. Quillien, La réception de la philosophie allemande en France aux XIXe et XXe siècles, a. a. O. sowie ders., Hegel und das deutsche Erbe. Philosophie und nationale Frage zwischen Revolution und Reaktion, Pahl-Rugenstein, Köln 1989, zu Bergson besonders S. 16–22. 31 Die französische Kontroverse über Kant während des Ersten Weltkriegs rekonstruiert M. Hanna, The Mobilisation of Intellect, a. a. O., S. 106–141. 32 Von den amerikanischen Philosophen erwähne ich nur den Essay von John Dewey, German philosophy and its politics, H. Holt and Company, New York 1915, in dem eine freiheitliche und fortschrittliche Tradition der deutschen Philosophie einer anderen, aprioristischen und absolutistischen gegenübergestellt wird, die im Imperialis28 29

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räuberischen und grausamen Deutschland kann gleichzeitig gelesen werden als Kunstgriff der nichtdeutschen Intellektuellen, um die Bewunderung für die deutsche Kultur mit der Abneigung gegen die preußische Politik zu vereinbaren, ohne dass deswegen auf eine Anwendung philosophischer Kategorien zur Rechtfertigung der politischen Position des eigenen Landes verzichtet werden müsste. 33 Bergson widmet sich auch in den folgenden Kriegsjahren der politischen Propaganda, die vor allem von seiner Teilnahme an zwei diplomatischen Missionen im Ausland geprägt sind. Im Mai 1916 vertritt er Frankreich in Spanien und 1917 und 1918 in zwei heikleren Missionen in den Vereinigten Staaten, die den Kriegseintritt von Wilsons Streitkräften entscheidend mitbedingen sollten. 34 In einem in Madrid 35 (dem Ziel der ersten Mission) gehaltenen Vortrag greift Bergson die Verbindung von preußischer Politik und Hegel’scher Philosophie noch einmal auf. Diesmal lässt er die Bezugnahme auf das andere, empfindsame Deutschland weg und stellt Preußen direkt mus mündete. Auch George Santayana führt den politischen »Egotismus« Deutschlands auf die philosophische Linie zurück, die von Kant zu Hegel und schließlich zu Nietzsche führt, vgl. G. Santayana, Egotism in German Philosophy, J.-M. Den and Sons, London 1916; frz. Übers. von. G. Lerolle – H. Quentin, L’erreur de la philosophie allemande, mit einem Vorwort von É. Boutroux, Nouvelle Librairie nationale, Paris 1917. 33 Wie etliche Beispiele aus der antideutschen Tradition zeigen, die auf den preußischfranzösischen Krieg folgt, entspricht das doppelte Deutschland außerdem zwei Moralen: derjenigen der Bücher und der der Politik, derjenigen der Universitäten und der der Exerzierplätze – einer idealistischen und verträumten und einer stark utilitaristischen. Dieses Motiv findet sich bei einigen Vertretern der spiritualistischen Rechten wie Elme-Marie Caro, La morale de la guerre: Kant et M. de Bismarck, »Revue des Deux Mondes«, LXXXII (1870), S. 577–594; ders., Les jours de l’épreuve, Hachette, Paris 1872, außerdem bei Renan, der seine Vorlesung über Goethe Ende 1870 mit dem Bild des doppelten Deutschland eröffnet: das friedliche und gemäßigte, das wahre Deutschland, und das von Bismarck, ehrgeizig, gierig und auf Eroberungen aus. Vgl. Claude Digeon, La crise allemande de la pensée française: (1870–1914), PUF, Paris 1992, S. 160–162 und 489–533. Erwähnt sei auch der Essay von Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, Carl Hanser, München 2006, der im Kapitel Deutsch-französische Kulturkriege, S. 193-266 die kulturellen und politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland seit den napoleonischen Kriegen nachzeichnet. 34 Bergson wird nicht nur aufgrund der auch im Ausland wachsenden Berühmtheit seines philosophischen Werks berufen, diplomatische Aufgaben zu übernehmen, sondern auch wegen der in Fragen der Innenpolitik gewahrten Diskretion, z. B. in der Dreyfus-Affäre. Über diese Erfahrungen berichtet Bergson selbst in Mes missions, veröffentlicht 1936 und wieder abgedruckt in M, S. 1554–1570. 35 Die Madrider Vorlesungen sind veröffentlicht ebd., S. 1193–1235; EP, S. 483–535.

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Frankreich gegenüber. Für Bergson sind die beiden Länder Träger von diametral entgegengesetzten Vorstellungen von Gerechtigkeit: Während die eine auf der Achtung vor den unverletzlichen Rechten jeder Nation – wie denen der Person – basiert, unterscheidet die andere die Gerechtigkeit, die die Individuen betrifft, von derjenigen, die sich an die Nationen richtet, und zieht den Gebrauch der Gewalt dem internationalen Recht vor: Ich zitiere die beiden Thesen, ich beschreibe sie, ich beurteile sie nicht, ich bewerte sie nicht: ich stelle nur fest, dass sie einander gegenüber stehen. Und ich stelle ebenfalls fest, dass die eine wie die andere von Philosophen und Staatsmännern formuliert worden sind. Die zweite, hauptsächlich von neueren deutschen Theoretikern entwickelt, ist die Entwicklung einiger Ideen des großen Philosophen Hegel. Diese These wurde nach Hegel in die Praxis umgesetzt, unter Bedingungen, die dieser Philosoph vielleicht nicht vollständig vorausgesehen hatte. 36

Die in den Madrider Vorträgen formulierte Lehre von den Nationalpersönlichkeiten erlaubt es Bergson, den Nationen moralische Charaktere zuzuschreiben und damit die Nationalphilosophien mit der politischen Aktion, die sie begleitet, zu verbinden. 37 Mit der Gegenüberstellung der zwei verschiedenen Theorien der Nation und der Gerechtigkeit möchte Bergson in Wirklichkeit den Wert Frankreichs als Bastion des Rechts und der Zivilisation herausstellen, mit der Spanien sich im Krieg verbünden soll. Der Zweck von Bergsons Mission, die während der Schlacht von Verdun stattfindet, ist es ja, »sich mit den einflussreichen Personen des Landes zu unterhalten, um ihnen eine zutreffendere Idee davon zu vermitteln, was Frankreich war, was es in diesem Krieg verkörperte«. 38 In der Zeit des Ersten Weltkriegs beteiligt sich Bergson an der Dämonisierung des feindlichen Landes und an der Apologie des eigenen, wie sie in allen Lagern betrieben wurde. Diese Erfahrung klingt in Les deux sources an: »Wir wollen nur sagen, daß die beiden entgegengesetzten Sentenzen Homo homini deus und Homo homini lupus sich bequem vertragen. Bei der ersten denkt man an den Landsmann; bei der zweiten denkt man an die Fremden«. 39 Wie bei der M, S. 1233; EP, S. 531 f. Vgl. F. Worms, L’idée de philosophie française, in La philosophie en France au XXe siècle, a. a. O., S. 183. 38 M, S. 1555. 39 DS, S. 305; dt. S. 286. 36 37

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Beschreibung des kriegerischen Instinkts, die Bergson eng mit seiner autobiographischen Erfahrung verbindet, nimmt er den Stoff, von dem er ausgeht, um das Profil der geschlossenen Gesellschaft zu definieren, nicht nur von den Beschreibungen Deutschlands während des Kriegs. Die Idee, dass die Abschottung ein anthropologischer Zug Deutschlands und die universalistische Öffnung eine exklusive Charaktereigenschaft Frankreichs sei, ist bereits in der Vorlesung der 1920er Jahre überwunden: Die Aktion der Cici 40 ist nämlich nicht auf die Umerziehung des deutschen Volkes gerichtet, sondern auf die ganze Menschheit. 41 Eine der Hauptstrategien, die Bergson vorschlägt, um zu verhindern, dass Misstrauen gegenüber anderen Völkern aufkommt, liegt in der Erziehung und im Studium von Fremdsprachen. Genau aus diesem Grund spricht sich Bergson gegen den Vorschlag des Völkerbundes aus, das Studium des Esperanto zu stärken, einer künstlichen Sprache, die das Lernen der anderen Sprachen und damit die Öffnung für fremde Kulturen überflüssig machen würde, welche für die Verständigung zwischen den Völkern und den Frieden wesentlich ist: [G]enauso wenig wie der Telegraph und die Eisenbahn werden die Kommunikationsmöglichkeiten, die eine künstliche Sprache bietet, eine Annäherung der Seelen bewirken. Um das Vorurteil zu besiegen, das uns daran hindert, eine andere Nation zu verstehen und sie zu lieben, bieten sich nur zwei Mittel an: entweder uns in das Land zu begeben und eine Zeitlang das Leben derer zu teilen, die es bewohnen; oder aber, aus der Ferne seine Sprache zu lernen und seine Literatur zu studieren; – zur Not würde die Sprache genügen, denn sie ist getränkt vom Geist des Volks, das sie spricht. 42

Der Auftrag zur Erziehung und zum Studium der fremden Sprachen und Kulturen, um die Abschottung der Gesellschaften zu verhindern, wird in Les deux sources unterstrichen, wo Bergson behauptet: Die Natur […] hat zwischen uns und den Ausländer einen geschickt gewobenen Schleier von Unkenntnis, Voreingenommenheit und Vorurteil gespannt. Daß man ein Land, in dem man nie gewesen ist, nicht kennt, das ist nicht verwunderlich. Aber daß man, obwohl man es nicht kennt, darüber urteilt, und fast immer ungünstig, das ist ein Faktum, das eine Erklärung

Commission Internationale de Coopération Intellectuelle, ein Organ des Völkerbunds. Bergson war 1922–1925 ihr Vorsitzender. 41 Vgl. V. Petyx, Un dibattito francese sulla Germania, »Rivista di storia della filosofia«, XLVII (1997), 4, S. 725–746. 42 M, S. 1416. 40

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verlangt. Jeder der außerhalb seines Landes geweilt hat und nachher seine Landsleute in das einweihen wollte, was man die fremde »Mentalität« nennt, hat bei ihnen einen instinktiven Widerstand bemerken können. Dieser Widerstand ist nicht stärker, wenn es sich um ein sehr fernes Land handelt. Im Gegenteil, er ändert sich vielmehr in umgekehrter Richtung zur Entfernung. Gerade die, bei denen am meisten Aussicht besteht, daß man mit ihnen zusammentreffen könnte, will man am wenigsten kennenlernen. Die Natur hätte sich nicht anders anzustellen brauchen, um aus jedem Fremden einen virtuellen Feind zu machen, denn wenn auch ein vollkommenes gegenseitiges Sichkennenlernen nicht notwendigerweise Sympathie ergeben muß, so schaltet es doch wenigstens den Haß aus. 43

Vorurteil und Feindschaft betreffen vor allem den Fremden, der ganz nah ist – den Deutschen, wie die Erfahrung des Ersten Weltkriegs gezeigt hat. Aber auch in diesem Fall haben die Kenntnis der deutschen Sprache und Kultur eine den Feindeshass hemmende Rolle gespielt: Das haben wir während des letzten Krieges konstatieren können. So mancher Franzose, der Lehrer des Deutschen war, war ein ebenso guter Patriot, wie irgendein anderer Franzose, ebenso bereit sein Leben hinzugeben, sogar ebenso »aufgebracht« gegen Deutschland, aber es war trotzdem nicht dasselbe. Ein Winkel in der Seele blieb frei. Wer die Sprache und Literatur eines Volkes gründlich kennt, kann ihm nicht vollkommen feind sein. Man sollte daran denken, wenn man von der Erziehung verlangt, sie solle die Verständigung zwischen den Nationen vorbereiten. Die Beherrschung einer fremden Sprache, die es möglich macht, den Geist mit der entsprechenden Literatur und Kultur zu durchtränken, kann mit einem Schlage die Voreingenommenheit umwerfen, die die Natur gegen den Fremdling im allgemeinen gewollt hat. 44

Mit diesen Überlegungen scheint Bergson die antideutschen Attacken seiner Kriegsreden zu revidieren. Von seinem Wechsel des Standpunkts, der quasi von der Abschottung zur Öffnung übergeht, zeugt auch eine bedeutsame Aktualisierung, die er 1933 an dem Aufsatz La philosophie française anlässlich seiner Wiederauflage (in Zusammenarbeit mit Le Roy) in La science française 45 anbringt. Bergson korrigiert den während des Krieges erhobenen Anspruch der Zentralstellung und Originalität der französischen Philosophie, indem er

43 44 45

DS, S. 304; dt. S. 285. DS, S. 304 f.; dt. S. 285 f. H. Bergson – É. Le Roy, La science française, Larousse, Paris 1933.

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hinzufügt, dass »das französische Genie nichts Exklusives hat, sondern wesentlich menschlich bleibt«. 46 Die aussagekräftigen Belege für Bergsons Einsatz für die Ideale der Öffnung bedeuten jedoch nicht, dass er sich definitiv dem pazifistischen Ideal anschließt: In der Tat bleibt seine Entscheidung problematisch, die am 12. Dezember 1914 vor der Académie des sciences morales et politiques gehaltene Rede im Oktober 1939 unverändert wieder zu veröffentlichen, kurz nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Es handelt sich um die härteste und ideologischste Rede gegen Deutschland – die Rede, in der Deutschland und Frankreich einander entgegensetzt werden wie Materie und Leben und deren Voraussetzungen bereits die politischen Wortmeldungen der 1920er Jahre als auch Les deux sources für ungültig erklärt und berichtigt hatten. Es dürfte nunmehr klar sein, dass die Kriegsreden Bergsons, obwohl sie unter vielen Gesichtspunkten in das kulturelle Klima ihrer Zeit gehören, sehr wohl in Beziehung zu seinem philosophischen Werk stehen. Es wäre in der Tat oberflächlich zu meinen, diese Reden hätten ausschließlich mit der Propaganda zu tun, und sie daher aus dem Korpus der philosophischen Schriften Bergsons auszuklammern. Ebenso oberflächlich war das umgekehrte Vorgehen, nämlich die Ächtung des philosophischen Werks von Bergson durch die Generation von Politzer, Nizan und Friedmann, eben wegen seiner Teilhabe an der nationalistischen, konservativen und kriegstreiberischen Ideologie während der Zeit des Ersten Weltkriegs. Wie sich Friedmann selbst in einem Aufsatz aus dem Jahr 1970 erinnert: Viele Menschen meines Alters, die ihr Philosophiestudium kurz nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatten, haben Bergsons Haltung in dieser Zeit als schockierend empfunden. Gewiss hat sie sein Ansehen in ihren Augen vermindert, seine Größe in Frage gestellt. Wir waren Pazifisten, Internationalisten, wir bewunderten die Russische Revolution. Die hochtrabenden Beiträge Bergsons zur »bleu horizon« 47-Propaganda (vor allem seine Reden vor der Académie des sciences sociales et politiques), die Anwendung seiner berühmten Gegensätze zwischen Mechanismus und schöpferischem Leben auf den Konflikt zwischen zwei Gruppen von Staaten, erschienen uns (und erscheinen mir heute noch) eines Philosophen unwürdig und bestürzend. 48 M, S. 1184; EP, S. 475. Farbe der französischen Uniformen im Ersten Weltkrieg (Anm. d. Übers.). 48 Georges Friedmann, La puissance et la sagesse, Gallimard, Paris 1970, S. 462, Fn. Bezüglich der Marginalisierung Bergsons seitens der Generation der 1930er Jahre 46 47

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Es besteht kein Zweifel, dass die politischen Schriften nicht mit den philosophischen Schriften auf dieselbe Stufe gestellt werden können, doch lässt sich in ihnen eine doppelte Natur erkennen, eine politische und eine philosophische. Die Kriegsreden bieten in der Tat beachtliche Zeugnisse von Bergsons denkerischer Entwicklung. Der Austausch zwischen dem philosophischen und dem politischen Werk geht nämlich in beide Richtungen: Einerseits passt Bergson seine philosophischen Ideen dem politischen Vorgehen zuerst Frankreichs, dann des Völkerbunds an, andererseits bringt er die philosophischen Ideen von Les deux sources zur Reife, wobei er aus den historischen und politischen Erfahrungen der 1910er und 1920er Jahre schöpft. Eine hermetische Trennung von Bergson, dem Philosophen, und Bergson, homo loquax 49, und eine Berücksichtigung nur eines dieser seiner beiden Gesichter läuft in der Tat Gefahr, polemischen oder hagiographischen Zwecken zu dienen und unvermeidlich parteiische Analysen der politischen Philosophie und Anthropologie von Les deux sources hervorzubringen. Deren Theorie verdankt viele, auch zentrale Elemente, den politischen Erfahrungen der 1910er und 1920er Jahre. Es besteht nämlich eine »mimetische« Beziehung zwischen dem politischen Bergson und dem Philosophen, die dazu zwingt, das Korpus der Kriegsreden wieder in die Interpretation von Bergsons Philosophie einzubeziehen, wobei man freilich bedenken muss, dass der historische Augenblick und die geographische Lage in diesen Texten ein viel größeres Gewicht haben als in den philosophischen Aufsätzen. Die sind einige polemische Aufsätze bedeutungsvoll, die philosophische Kritik mit Vorwürfen gegen die konservative, nationalistische und kriegstreiberische Ideologie verbinden, der Bergson sich in den Jahren des Ersten Weltkriegs angeschlossen hatte. S. vor allem Julien Benda, La trahison des clercs, Grasset, Paris 1927; dt. Übers.: Der Verrat der Intellektuellen, Carl Hanser Verlag, München – Wien 1978; Georges Politzer (François Arouet), La fin d’une parade philosophique. Le bergsonisme, Les Revues, Paris 1929; neu aufgelegt von J. J. Pauvert, Paris 1967; Neuaufl.: Le bergsonisme: une mystification philosophique, hg. von J. Canapa, Éditions Sociales, Paris 1947 sowie Paul Nizan, Les chiens de garde (1932), François Maspero, Paris 1965; dt. Übers. in ders., Aden. Die Wachhunde, Zwei Pamphlete, Rowohlt, Reinbek 1969. 49 Benrubi sagt, es seien Reden des Homo loquax. Auch Du Bos meint, es spräche hier nur der soziale Mensch, nicht das moi profond. Der Ausdruck »homo loquax« stammt von Bergson, vgl. De la position des problèmes (Introduction II, 1922), in PM, S. 92; dt. S. 103: »Vor dem homo faber wie vor dem homo sapiens, die im Grunde übrigens immer mehr verschmelzen, verbeugen wir uns. Der einzige, der uns unsympathisch ist, ist der homo loquax, dessen Denken, wenn er denkt, nur eine Reflexion über seine Worte ist«. Der Bedeutung dieser Figur im Werk und in der politischen Erfahrung von Bergson ist ein Kapitel gewidmet in P. Soulez, Bergson politique, a. a. O., S. 225–263.

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Analyse der Art und Weise, in der Bergson seine Philosophie der Kriegspropaganda zur Verfügung stellt, lässt in der Tat theoretische Konvergenzen und Divergenzen sowohl zu den vorherigen als auch zu den folgenden Werken deutlich werden: Somit sind die Kriegsreden eine wertvolle Quelle, um die Bewegung von Bergsons Philosophie zu rekonstruieren, die einen Zeitraum intensiven Nachdenkens in den Jahren 1914–1918 kennt – sowohl über die Aktualisierung von Positionen, die der geschichtlichen Erfahrung nicht standhalten, wie die emanzipatorische Idee der Technik, die noch in L’évolution créatrice präsent ist und in Les deux sources 50 tiefgreifend revidiert wird, als auch über die Einführung neuer philosophischer Themen, wie Krieg und soziale Zugehörigkeit.

Vgl. C. Zanfi, La machine dans la philosophie de Bergson, in S. Abiko – A. François – C. Riquier (Hg.), Annales bergsoniennes, PUF, Paris 2013, Bd. VI: Bergson, le Japon, la catastrophe, S. 275–296.

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3.1. Vorwegnahmen von Bergsons Moralphilosophie Die erbitterten gegenseitigen Angriffe gefährden die Beziehungen Bergsons zu den deutschen Intellektuellen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ernsthaft. Während der persönliche Austausch mit den deutschen Philosophen fast völlig zum Erliegen kommt, fährt Bergson jedoch fort, über Deutschland nachzudenken. Er tut dies im Lichte der Erfahrung nationaler Abschottung und internationaler Konflikte, die er erlebt hat. So wird der Krieg in Les deux sources ein philosophischer Gegenstand von zentraler Bedeutung, bei dessen Bestimmung Bergson sich von einigen deutschen Positionen distanziert, in deren Nähe man ihn in gerückt hatte – besonders von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, die im Frankreich jener Jahre gern mit der imperialistischen Politik Preußens verbunden wird. In Deutschland sieht man Bergsons Philosophie in unmittelbarer Übereinstimmung mit derjenigen Nietzsches, sodass die Rezeption von Bergsons Werk je nach Kontext positiv oder negativ geprägt ist. Auch zu einer Zeit, als er sich noch nicht oder nur gelegentlich 1 zu moralischen Fragen geäußert hatte, wird Bergson häufig als ein Philosoph wahrgenommen, der seine eigene Lehre in Richtung Nietzsche’scher Resultate entwickeln könnte: Darauf weist Friedrich Gundolf Ernst Robert Curtius in einem Brief aus dem Jahr 1909 hin: »[I]n Deutschland muß er einen wahren Geisterkrieg entzünden, wenn das erstmals begriffen wird was er alles in Frage stellt und was er aufreißt.

Die Bezüge zur Moralphilosophie vor DS betreffen vor allem R sowie einige frühe Reden wie La spécialité (1882), a. a. O. und La politesse (1885), in M, S. 317–332. Auf den letztgenannten Essay stützt sich Ernest Seillière in dem Artikel Welche Moralphilosophie läßt Bergson erwarten?, »Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik«, VIII (1913), 2, November, S. 191–209. Mit der Moral setzt er sich schließlich auseinander in La conscience et la vie (1911), a. a. O.

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Er ist den gegenwärtigen ›Geglaubtheiten‹ und Tournüren viel gefährlicher als Nietzsche…«. 2 Bereits 1909 warnt Ernest Seillière in dem Artikel L’Allemagne et la philosophie bergsonienne vor den Implikationen, die dieses übereilte Zur-Deckung-Bringen vor allen Dingen auf moralischer Ebene haben kann. Mit Bezug auf Windelbands Vorwort zu Materie und Gedächtnis behauptet Seillière: Herr Bergson, so folgert sein Kollege jenseits des Rheins [Windelband], verlangt vor allem neue Klarheit von unseren intuitiven Fähigkeiten; er erhofft von ihnen Offenbarungen eines raffinierten Mystizismus, dessen Aussichten sehr reizvoll sind. Dennoch ist anzumerken, dass gewisse Neuromantiker bereits versucht haben, sich dieses subtilen Mystizismus zu bemächtigen, um ihn auf das Maß ihrer individuellen Machtgelüste herabzuwürdigen. Die Sozialmystiker der Demagogie einerseits und die ästhetisierenden Mystiker des künstlerischen Immoralismus andererseits würden gern Profit aus dieser großartigen Synthese schlagen und aus ihrem Autor (der wohl oder übel mit Nietzsche in Verbindung gebracht wird) den Philosophen der fünften romantischen Generation machen, so wie Schopenhauer der der vierten Generation war. Es wird ihnen dennoch nicht gelingen, ohne seine grundlegende Inspiration zu verfälschen, die ganz in der Treue zur Erfahrung und in einem gemäßigten Evolutionismus liegt. Diejenigen, die ins Innerste seines Denkens eingedrungen sind, ahnen schon jetzt, dass er, sobald er sich auf das Gebiet der Moral im engeren Sinne begibt, diese auf ihren Vorteil bedachten Anhänger durch die Stringenz seiner Lehre überraschen wird. 3

Seillière lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass der von Windelband in Bergsons Philosophie erahnte Mystizismus von der deutschen Neuromantik in eine Richtung umgebogen wurde, die nicht ursprünglich die dem französischen Philosophen eigene ist. Die Autoren, die Seillière im Auge hat, sind wahrscheinlich diejenigen, die Diederichs und der Zeitschrift »Die Tat« nahestehen, die sich gleichzeitig auf die Wortführer der ›Rassenmystik‹ berufen, auf Theoretiker des Pangermanismus wie Chamberlain und auf Befürworter des Sozialdarwinismus wie Ammon, außerdem auf Vertreter des ›ästhetischen Mystizismus‹ wie Rohde und Nietzsche. 4 Seillière Brief von F. Gundolf an E. R. Curtius vom August 1909, in F. Gundolf, Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, a. a. O., S. 136. 3 Ernest Seillière, L’Allemagne et la philosophie bergsonienne, »L’Opinion. Journal de la semaine«, 27, 3. Juli 1909, S. 13 f. 4 Chamberlains (1855–1927) Theorie des Ariertums ist dargelegt vor allem in H. S. Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, F. Bruckmann, Mün2

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meint, dass die neuromantischen Autoren Bergsons Mystizismus für ihre »individuellen Machtgelüste« 5 missbrauchen und die Stringenz seiner Lehre durch eine nicht immer passende Verbindung mit Nietzsche verraten. Nach Seillière hingegen kann die Philosophie Bergsons nicht auf eine radikal evolutionistische oder derjenigen Nietzsches vergleichbare Moral hinauslaufen, den er für »einen großen Schiffbrüchigen des abenteuerlichen und konfusen Denkens« 6 hält. Die von den deutschen Lesern wahrgenommene Nähe Bergsons zu Nietzsche ist vor allem durch die zentrale Stellung motiviert, die beide Philosophen dem Leben zuschreiben, wie Ernst Bernhard in seinem Artikel in »Die Tat« von 1912 betont: Nietzsche hat im Grunde den Bergsonschen Lebensbegriff – freilich in einer eminent persönlichen Aufmachung – als ethisches, historisches und ästhetisches Kriterium etabliert. Das aufsteigende, kraftvolle, über alle Widerstände triumphierende Leben ist für ihn der zentrale, einzig positive Wert des Daseins, von dem alle übrigen abhängen und ihr Recht beziehen. Mit Bergson glorifiziert er das reine, ungebrochen-volle Leben, das über alles bloß intellektuelle Wesen unendlich hinauswächst. 7

Die zentrale Stellung des Lebens wird auch von Simmel als derjenige Charakterzug gesehen, der Nietzsche und Bergson verbindet – etwa in dem Artikel Henri Bergson aus dem Jahr 1914, wo er die naturphilosophische Ausrichtung des Autors von L’évolution créatrice vom vorwiegend moralischen Interesse Nietzsches unterscheidet. 8 Ansonsten erwartet man in den 1910er Jahren, vor allem in Deutsch-

chen 1899. Für die Theorie des Sozialdarwinismus von Otto Ammon (1842–1916), die ebenfalls auf die Idee der Überlegenheit der germanischen Rasse zielt, s. O. Ammon, Die natürliche Auslese beim Menschen, Fischer, Jena 1893. Die Forschungen Erwin Rohdes (1845–1898) über das antike Griechenland sind sehr wichtig für die Lehre vom Apollinischen und vom Dionysischen in Nietzsches Essay Die Geburt der Tragödie, Fritzsch, Leipzig 1872. Diese und andere Autoren stehen im Mittelpunkt der Studie von E. Seillière, Les mystiques du néo-romantisme, Plon-Nourrit et cie, Paris 1911, wo der Begriff »Mystizismus« in einem sehr weiten Sinn verstanden wird: Er meint eine irrationale Expansion des Selbst, die der grundlegenden Neigung des Menschen entspricht, sich nach außen zu erweitern – eine Tendenz, die dem »Geist der Herrschaft« der christlichen Theologie gleichkommt, dem »Streben nach Macht« bei Hobbes und dem »Willen zur Macht« bei Nietzsche. 5 E. Seillière, Les mystiques du néo-romantisme, a. a. O., S. 57. 6 Ebd. 7 E. Bernhard, Bergsons Lebensbegriff und die Moderne, a. a. O., S. 243. 8 G. Simmel, Henri Bergson, a. a. O., S. 58.

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land, dass Bergson endlich seine Moralphilosophie herausbringt. 1910 beklagt Benrubi deren Ausbleiben in der Zeitschrift »Die Zukunft«: Die Probleme der praktischen Philosophie hat er bis jetzt nicht berührt. Schon deshalb wäre der Versuch voreilig, seine Lehren zu widerlegen oder aus ihnen Schlüsse zu ziehen, die er selbst vielleicht niemals ziehen wird. 9

Und noch 1920 vermerkt Scheler, in seiner in Köln gehaltenen Bergson-Vorlesung: »So fehlt seiner Philosophie z. B. das ganze weite Gebiet der Ethik – und noch mehr: Seine Philosophie entbehrt im Grunde ganz des ethischen Geistes«. 10 Andere, wie Keller (Autor eines 1914 bei Diederichs erschienenen Essays über Bergson 11), machen in der Lebensphilosophie Bergsons eine Alternative zu derjenigen Nietzsches aus, die dazu bestimmt sei, deren Platz einzunehmen: Sie hat seinen Optimismus dem Leben gegenüber ohne seinen Pessimismus der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie hat seinen biologischen Dynamismus, ohne damit der Unmoral und der Ruchlosigkeit des Willens zur Macht zu verfallen. Sie ist antiintellektualistisch und sieht wie Nietzsche im Verstand nur eine kleine Vernunft; aber sie sieht die große nicht im Leibe wie Nietzsche, sondern im Leben, das Geist werden will. Sie traut dem Instinkt als einer sicheren Führung, aber er führt sie nicht zum Egoismus der blonden Bestie, sondern aus der lastenden Schwere der persönlichen Bedürfnisse heraus zur Anschauung des Weltlebens. Sie gibt dem Einzelnen und besonders dem aristokratischen hochwertigen Individuum sein Recht, ohne dadurch wie Nietzsche zum Hochmut des Übermenschen zu gelangen, der die Massen dem Teufel und der Statistik überliefert. Sie lehrt ein ewiges Werden, ohne damit der Welt und dem Absoluten Gehalt zu rauben. Sie ist künstlerisch und verfällt doch nicht einem genusssüchtigen Ästhetizismus,

I. Benrubi, Henri Bergson, a. a. O., S. 322, in fine. M. Scheler, Bergson-Heft, a. a. O., Bl. 4–5. In den Notizen, die Schelers Schüler Leyendecker von dieser Vorlesung angefertigt hat, findet sich, in Entsprechung zu dieser Stelle, eine quasi Nietzscheanische Anspielung: »Ihm fehlt zum Beispiel das ganze Gebiet der Werte der Ethik und das ist mehr als ein bloßer ›Aufschub für später‹ ! Seine Philosophie ist sozusagen jenseits aller Werte gedacht!« Vgl. H. Leyendecker, Schelers Vorlesungen über Bergson, Bayerische Staatsbibliothek, Ana 375, B, III, 13, Bl. 1. Scheler behauptet außerdem, Nietzsche gehöre zu den modernen deutschen Philosophen, die Bergson beeinflusst hätten: »Moderne auf Bergson wirksame deutsche Philosophen: 1.) Nietzsche, 2.) E. Mach, 3.) Avenarius, 4.) H. Schwarz, 5.) Driesch«, vgl. M. Scheler, Bergson-Heft, a. a. O., Bl. 7. 11 A. Keller, Eine Philosophie des Lebens. (Henri Bergson), a. a. O. Die Bibliothèque littéraire Jacques Doucet ist im Besitz des vom Autor an Bergson übersandten Exemplars (Signatur BGN 220825/II-BGN-VI). 9

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sondern fordert Anstrengung, Taten und zeigt dem Willen das ferne und schwere Ziel der Freiheit und des Guten. 12

Die Erwartung, Bergson werde schließlich eine auf das Leben gegründete Ethik ausarbeiten, aber anders als die von Nietzsche, spricht auch Max Scheler aus. In dem Aufsatz Ethik. Eine kritische Übersicht der Ethik der Gegenwart aus dem Jahr 1914 behauptet er: »Eine neue Form der Ausgestaltung der vitalistisch biologischen Ethik ist von Henri Bergson zu erwarten, der die ethischen Probleme in seinen Schriften bisher nur selten berührt hat«. 13 Die Sorge, die Philosophie Bergsons werde als amoralisch betrachtet und lediglich als französische Version von Nietzsches Erbe gedeutet, ist nicht nur unter den deutschen Intellektuellen präsent: Ernest Seillière schreibt in den 1910er Jahren zwei weitere Artikel, die er an Bergson schickt, in denen diese Frage für die wichtige »Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik« geklärt werden soll. Der erste, aus dem Jahr 1912, besteht in einer Reflexion auf den Erfolg der Bergson’schen Philosophie in Frankreich und widmet ihren möglichen moralphilosophischen Entfaltungen ein paar Worte, ausgehend von der Lehre der freien Handlung und des Überlebens der Seele. Seillière erahnt im Bergsonismus eine Philosophie der Freiheit, die sich dem sozialen Determinismus entgegensetzt und »eine Umwandlung oder vielmehr eine wahre Neuschöpfung der Willenskraft« 14 vorhersehen lässt. Die moralische Frage wird 1913 ausführlicher in Seillières’ zweitem Artikel, mit dem Titel Welche Moralphilosophie läßt Bergson erwarten?, in Angriff genommen (1917 auf Französisch wieder veröffentlicht 15). Aufbauend auf Ebd., S. 46. M. Scheler, Ethik. Eine kritische Übersicht der Ethik der Gegenwart (1914), in Gesammelte Werke, Bd. I: Frühe Schriften, Francke, Bern – München 1971, S. 395; vgl. die Interpretation von A. François, La critique schélérienne des philosophies nietzschéenne et bergsonienne de la vie, »Bulletin d’analyse phénoménologique«, VI (2010), 2, S. 80. 14 E. Seillière, Schätzung und Wirkung der Philosophie Bergsons im heutigen Frankreich, »Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik«, VII (1912), 1, Oktober, S. 56; vgl. BLJD, cote BGN 1753/VII-BGN-IV-78, vom Autor übersandter Sonderdruck. 15 E. Seillière, Welche Moralphilosophie läßt Bergson erwarten?, a. a. O., vgl. BLJD, cote BGN 1768/VII-BGN-IV-93. Der vom Autor übersandte Sonderdruck enthielt einen maschinengeschriebenen Brief Seillières an Bergson. Der Artikel erscheint auf Französisch in der »Revue politique et littéraire (Revue bleue)«, XLVII (1917), 8–9– 10, und wird an Bergson geschickt, vgl. BLJD, cote BGN 1795/VII-BGN-V-14. 12 13

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den Vortrag Le bon sens et les études classiques versucht Seillière Elemente ausfindig zu machen, um eine Bergson’sche Morallehre zu skizzieren: »Was für eine Moral«, fragt sich Seillière, »wird Bergson eines Tages als Bremse den Versuchungen entgegensetzen, die einige seiner Leser bereits so augenscheinlich heimsuchen?« 16 Die Absicht, Bergson von Nietzsche zu unterscheiden, ist vom ersten Abschnitt an offensichtlich. Er trägt den Titel »Sympathie oder Wille zur Macht?« 17 Seillière beschwört hier die implizite Mystik von Bergsons Philosophie, um sie von derjenigen romantischer Herkunft zu unterscheiden, welche das Gefühl zum Ausgangspunkt der Moral macht. Der zentrale Begriff der Bergson’schen Moral könnte für Seillière die Sympathie sein, die es dem Menschen erlaubt, in der Natur die Geheimnisse des Lebens zu begreifen und sich nicht isoliert zu fühlen: Allerdings hat die Sympathie einen eminent biologischen Charakter und kann, da sie an den Instinkt gebunden ist, nur schwer ihre Geltung so weit ausdehnen, dass sich damit eine Moral für das soziale Zusammenleben begründen ließe. Seillière greift nun auf einen Begriff von Nietzsche zurück: Bergson verlegt den Willen zur Macht in den Ursprung des tätigen Lebens, das schließlich die Bestimmung des Lebewesens ist. Bereits das Studium der Wahrnehmung hatte ihm einige Formulierungen eingegeben, die uns in dieser Richtung erhellend scheinen. Die Wahrnehmung entsteht, so sagt er, aus einer Machtanstrengung, aus der Handlung, mit der das lebende Individuum auf seine Umgebung wirken will. 18

Der kontinuierliche Fortschritt der Natur wird von Seillière der Aktivität der Lebewesen zugeschrieben, die er als »Zentren des Machtstrebens« 19 bezeichnet. Auf diese Weise fügt Seillière die Philosophie Bergsons in den Rahmen seiner eigenen Theorie des Imperialismus ein, den er als eine Form der Expansion des Lebens und dessen Aktivität versteht: [D]as Leben strebt nach höchstmöglicher Aktivität; aber jede Art legt es darauf an, nur die kleinstmögliche Anstrengung zu investieren, um in ihre Komfortzone zu gelangen. Sie formt sich also beständig im Hinblick auf die Schließlich erscheint er als drittes Kapitel von E. Seillière, L’avenir de la philosophie bergsonienne, Alcan, Paris 1917, S. 34–50. 16 Ebd., S. 34 f. 17 Ebd., S. 34. 18 Ebd., S. 35 f. 19 Ebd., S. 36.

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einfachste Ausbeutung ihrer Umgebung, – was auf eine ausgezeichnete Definition des »Imperialismus« hinausläuft, der nach unserer Meinung für das Leben wesentlich ist. 20

Die Garantie, dass dieser Imperialismus für Bergson nicht in eine launische Herrschaft ohne Skrupel umschlägt, liegt für Seillière in der Bedeutung, die seine Philosophie der Erfahrung und dem Gedächtnis beimisst: Sie sorgen dafür, dass die Bewegung des Wachstums des Lebens kontinuierlich und folgerichtig verläuft. Der Vergleich zwischen Nietzsches Willen zur Macht und dem Leben in L’évolution créatrice bezieht sich wahrscheinlich auf jene Stelle, wo Bergson von dem Strom spricht, der die Materie durchzieht und ihr das Leben wie aus »reine[m] Wollen« 21 vermittelt – eine Behauptung, die viele Interpreten dazu veranlasst hat, die Lehre Bergsons mit der Willensphilosophie Schopenhauers oder Nietzsches zu identifizieren. 22 Aus der Perspektive Seillières gewinnt diese Annäherung allerdings eine Bedeutung, die mit seiner eigenen Philosophie des Imperialismus verbunden ist, welche sowohl den Willen zur Macht als auch die Mystik als zwei verschiedene Ausdrucksformen der expansiven und progressiven Tendenz des menschlichen Handelns betrachtet. Während Nietzsches Wille zur Macht einen individualistischen und irrationalen Imperialismus nach sich zieht, bewirkt die Mystik den Eindruck einer Allianz mit der Gottheit und wird zum »Tonikum der Aktion«: 23 sehr nützlich auf sozialer Ebene, wenn sie den Weg der Tradition und der Vernunft einschlägt und es vermeidet, ins Irrationale und Romantische abzudriften. Seillières Urteil über Nietzsche im zweiten Band von La philosophie de l’impérialisme 24 Ebd., S. 37. EC, S. 239; dt. S. 242. 22 Dieser Aspekt wurde besonders im ersten Kapitel der Abhandlung von A. François, Bergson, Nietzsche, Schopenhauer, a. a. O., S. 17–73 untersucht. 23 E. Seillière, Introduction à la philosophie de l’impérialisme, Alcan, Paris 1911, S. III. Teile des an Bergson gesandten Exemplars sind unterstrichen, vgl. BLJD, cote BGN 551/II-BGN-II-65. Bergson besitzt im Übrigen den Essay von L. Estève, Une nouvelle psychologie de l’impérialisme, Ernest Seillière, Alcan, Paris 1913, BGN 1027/IV-BGN-IV-41. 24 E. Seillière, La philosophie de l’impérialisme, 4 Bde., Plon, Paris 1903–1908; Bd. II: Apollôn ou Dionysos: étude critique sur Frédéric Nietzsche et l’utilitarisme impérialiste, 1905. In einem Kapitel über den Imperialismus Nietzsches in ihrem Essay Nietzsche en France, Alcan, Paris 1929 sieht Geneviève Bianquis die Auswirkungen von Nietzsches Philosophie auf das französische Denken auch bei Autoren wie Barrès, Péguy und Suarès, die daraus das Prinzip ihres Nationalismus abgeleitet haben. 20 21

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fällt wegen der »dionysischen Mystik, die bei ihm auf einen zu fragilen apollinischen Rationalismus aufgepfropft bleibt« 25, negativ aus. Für Seillière hat Nietzsches Philosophie nämlich einen unmoralischen und destruktiven Charakter, denn seine Sklaven- und Herrenmoral gibt sich für rassistische Tendenzen des Herrschertyps und für entwürdigende Ausschweifungen des »blonden Raubtiers« 26 her. Dass die Akzeptanz von Nietzsches Philosophie Probleme bereitet, da sie als übertrieben irrationalistisch und immoralistisch gilt, ist in Frankreich vor allem durch deren Ausschluss aus dem Bereich akademischer Studien belegt – obwohl seine Werke inzwischen übersetzt und von den wichtigsten Zeitschriften besprochen und kommentiert worden sind. Vor allem der »Mercure de France« sorgt für die Veröffentlichung von Nietzsches Œuvres complètes, herausgegeben von Henri Albert. 27 In seinem monumentalen Werk über Nietzsche positioniert Charles Andler ihn auf halbem Wege zwischen dem biologistischen Naturalismus von Le Dantec und der Philosophie Bergsons, »der ihm Außerdem wird noch ein Klassenimperialismus unterschieden, der sich auf Sorel bezieht. Er hatte bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die Lebensphilosophie von Bergson und Nietzsche in seinem Syndikalismus aufgehen lassen, ebd., S. 83. Die Figur Sorels als Vermittler von Nietzsches Denken in Frankreich ist wahrscheinlich für Bergson sehr wichtig, der trotz seiner ständigen Distanzierung von dem Gewerkschaftler dessen Analysen (und denen seines Schülers Edouard Berth) immer große Aufmerksamkeit schenkt. Vgl. C. Zanfi, Bergson, la tecnica, la guerra, a. a. O., S. 91– 97 und 110–112. 25 E. Seillière, La philosophie de l’impérialisme, a. a. O., Bd. II, S. 354 f. 26 Ebd., S. 355. 27 Außerdem wird die Philosophie Nietzsches eingeführt durch das Werk von Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche, Alcan, Paris 1898, das 1923 die fünfzigste Auflage erreicht. Auch Lichtenbergers Darstellung präsentiert Nietzsche als Vertreter des deutschen Geistes, der nach kriegerischer Expansion strebt. Ihm wird 1930 Goethe gegenübergestellt (in dem Essay H. Lichtenberger, La sagesse de Goethe, La Renaissance du livre, Paris 1930), sodass wieder die These vom doppelten Deutschland zur Sprache kommt – eines geistigen und eines imperialistischen. Vgl. auch M. Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, a. a. O., S. 70. Zu erwähnen ist außerdem D. Halévy, Le travail de Zarathoustra, »Cahiers de la quinzaine«, 1909, vgl. BLJD, cote BGN 2036/VIII-BGN-III-40. Unter den wichtigsten Studien zur Verbreitung von Nietzsches Philosophie in Frankreich sei verwiesen auf Louis Pinto, Les neveux de Zarathoustra: la réception de Nietzsche en France, Seuil, Paris 1995; J. Le Rider (Hg.), Nietzsche: cent ans de réception française, Suger, Saint-Denis 1999 sowie ders., Nietzsche en France. De la fin du XIXe siècle au temps présent, PUF, Paris 1999, der auf S. 257–261 eine detaillierte Bibliographie der französischen Nietzsche-Übersetzungen bietet.

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folgt und ihn überholt« 28 – wegen der Tiefe seiner Analysen zur Entstehung der Intelligenz in L’évolution créatrice. Auch Geneviève Bianquis erwähnt in dem Bild, das sie in ihrem Essay Nietzsche en France 29 (1929) von der Rezeption von Nietzsches Philosophie in Frankreich zeichnet, die von Andler hervorgehobenen Analogien; allerdings unterstreicht sie, dass man – abgesehen von einigen Übereinstimmungen zwischen ihren Philosophien – nicht von wirklichen Einflüssen sprechen kann: Häufig hat man – denn man ist versucht, es zu tun – den Pragmatismus Nietzsches und den von Bergson zusammengebracht. Aber wenn es eine durchaus begrenzte Schnittmenge gibt: Entstehung der Intelligenz, Wert der Erkenntnis, Analyse der Begriffe, die sogar in den Gesetzen der Vernunft Verfahren der Anpassung an das Wirkliche und an Zwecke des Nutzens oder der Leidenschaft aufspürt – von einem Einfluss kann man nicht sprechen. 30

Die Autorin sieht jedoch in Bergson einen Philosophen, der – wenn auch auf einem völlig eigenständigen Weg – dazu beigetragen hat, der Verbreitung Nietzsches in Frankreich den Weg zu bereiten. 31

3.2. Vom Übermenschen zur göttlichen Menschheit Die Annäherung an Nietzsche, mit dem man ihn vor allem nach der Veröffentlichung von L’évolution créatrice ihn Verbindung bringt, lässt Bergson nicht gleichgültig. Im Übergang zu Les deux sources trifft er lexikalische Vorkehrungen und theoretische Klarstellungen,

Charles Andler, Nietzsche: Sa vie, sa pensée, 6 Bde., Bossard, Paris 1920–1931, Bd. V: Nietzsche et le tranformisme intellectualiste, 1922, S. 351. 29 G. Bianquis, Nietzsche en France, a. a. O. Die Autorin berücksichtigt nicht nur die Rezeption des »Mercure de France« und der Interpreten, die die minderwertigeren Züge seiner Philosophie betonen, sondern auch die Wirkung seiner Theorie des Dionysischen in den künstlerischen und literarischen Milieus, besonders bei Gide und Valéry. 30 Ebd., S. 100. Die Autorin bezieht sich auf das Buch von R. Berthelot, Evolutionnisme et platonisme, Alcan, Paris 1908 sowie auf M. Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, a. a. O. 31 G. Bianquis, Nietzsche en France, a. a. O., S. 7: »Auch andere Lehren, die Nietzsche nichts zu verdanken haben und denen er nichts zu verdanken hat, weil sie spontan in seiner Richtung unterwegs sind, öffnen die Geister seinem Einfluss. Wir denken hier an die pragmatistische Philosophie Bergsons«. 28

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um die im Sinne Nietzsches möglichen Missverständnisse seiner Philosophie auszuschließen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Bergson Nietzsche wahrscheinlich nur aus zweiter Hand kennt: Der einzige Text von ihm, der in den Resten von Bergsons persönlicher Bibliothek vorhanden ist, ist eine Ausgabe von La volonté de puissance 32 von 1937 (also nach dem Erscheinen von Les deux sources); und nur wenige Aufsätze über seine Philosophie sind in Bergsons Besitz. 33 Im Übrigen räumt Bergson selbst mehrmals ein, dass er mit der Lektüre von Nietzsches Werken Schwierigkeiten hat. In einem Gespräch mit Benrubi aus dem Jahr 1936 bekräftigt Bergson: »Nietzsche ist ein ausgezeichneter Schriftsteller, der den sprechendsten Ausdruck findet für das, was er sagen will, und dadurch unterscheidet er sich von den meisten deutschen Philosophen.« Diese Bemerkung von Bergson hat mich auch deshalb interessiert, weil sie mir zeigte, dass er Nietzsche nach unseren Gesprächen in der Avenue des Tilleuls gelesen hatte, wo er mir sagte, er habe ihn nie gelesen, weil er es nicht liebte, in Aphorismen geschriebene Werke zu lesen. 34

Dieses Zeugnis wird von Jean Wahl bestätigt, dem Bergson anvertraut: »Ich kann Nietzsche nicht lesen«, wobei er seine Schwierigkeiten dem unstrukturierten Schreibstil Nietzsches zugutehält. 35 Der Nietzsche, den Bergson kennt – hauptsächlich gefiltert durch die Bezugnahmen der deutschen Kommentare auf seine eigenen Werke und durch Seillières Überlegungen zum Imperialismus – entspricht der im Frankreich der 1910er und 1920er Jahre vorherrschenden Interpretation. Seit dem Ersten Weltkrieg betrachtet man die Philosophie Nietzsches als eine »Lehre vom Krieg 36« als Grund32 F. Nietzsche, La volonté de puissance, hg. v. F. Wurzbach, frz. Übers. v. G. Bianquis, NRF, Paris 1937, BGN 438/II-BGN-III-97 (Bd. I fehlt). 33 In der Bibliothèque Doucet sind nur drei Essays aufbewahrt, die zum Teil von Nietzsche handeln: N. Ségur, Le Génie européen: J. J. Rousseau, Taine, Bergson, Anatole France, Maeterlinck, Mme de Noailles, Pierre Loti, Tolstoï, Ibsen, Nietzsche, Einstein, Dante, Keats, Baudelaire, Fasquelle, Paris 1926, vgl. BLJD, cote BGN 1094/IVBGN-IV-108, Sendung des Autors an Bergson; Henri Drain, Nietzsche et Gide, Ed. de la Madeleine, Paris 1932, vgl. BLJD, cote BGN 231/II-BGN-IV-29, Sendung des Autors an Bergson; Paul Honigsheim, Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littérature française, »Zeitschrift für Sozialforschung«, III (1934), 3, S. 409–415, vgl. BLJD, cote BGN 1863/VII-BGN-V-82. 34 I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 125, 23. März 1936. 35 V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous, a. a. O. 36 Der Ausdruck stammt von Gabriel Huan, La philosophie de Frédéric Nietzsche,

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lage des deutschen Chauvinismus und Imperialismus. Sogar der surhomme, auf den sich Bergson selbst in L’évolution créatrice bezieht, wird während des Krieges ein karikaturartiger »surboche«. 37 Der ideologische Beigeschmack von Nietzsches Philosophie, der sich während des Krieges durchgesetzt hatte, ist vermutlich einer der Hauptgründe, warum Bergson den Begriff, der dem Nietzsche’schen Übermensch nachgebildet war, nicht mehr gebraucht, wenn er sich in Les deux sources auf die gleiche Idee beziehen möchte. Bereits in L’évolution créatrice taucht das Bild eines höheren Menschen auf: »Alles geht vor sich, als ob ein unbestimmtes und wallendes Wesen, mag man es nun Mensch oder Übermensch [surhomme] nennen, nach Verwirklichung getrachtet, und diese nur dadurch erreicht hätte, daß es einen Teil seines Wesens unterwegs aufgab«. 38 Der »sur-homme« Bergsons, offensichtlich nietzscheanischer Herkunft, wird von Gertrud Kantorowicz in der Diederichs-Ausgabe von 1912 wiederum mit »Übermensch« übersetzt. 39 Für Bergson stellt dieses Bild das denkbar am weitesten fortgeschrittene Ziel der Evolution dar – so wie im Werk von 1932 die großen Männer der Tat, die Heiligen und die Mystiker als exemplarische Figuren genannt

Bd. I: Les doctrines de guerre en Allemagne, Fontemoing, Paris 1917. Unter den Essays aus den Jahren des Ersten Weltkriegs, die die deutsche Politik auf Nietzsches Lehre zurückführen, seien erwähnt der beinah karikaturartige von Louis Bertrand, Nietzsche et la guerre, 1914 in der »Revue des Deux Mondes« erschienen und wiederveröffentlicht in Bruno de Cessole – Jeanne Caussé (Hg.), Nietzsche: 1892–1914, mit einem Vorwort von A. Philonenko, Maisonneuve et Larose – Éditions des Deux Mondes, Paris 1997, S. 291–306 sowie André Suarès, Commentaires sur la guerre des Boches, 4 Bde., Émile-Paul, Paris 1915. Mit der antideutschen Indienstnahme des Nietzscheanismus im Zuge der Reaktion gegen Wagner beschäftigt sich C. Digeon, La crise allemande de la pensée française, a. a. O., S. 453–457. 37 Vgl. André Beaunier, Les Surboches, Bloud et Gay, Paris 1915. 38 EC, S. 266 f.; dt. S. 270. 39 H. Bergson, Die schöpferische Entwicklung, Diederichs, Jena 1912, S. 270. Während die deutsche Übersetzung bei einigen Bergson’schen Begriffen wie élan vital oder intelligence zwischen verschiedenen Möglichkeiten schwankt, ist der Rückgriff auf Übermensch schon vor der deutschen Ausgabe der Schöpferischen Entwicklung unmittelbar und unproblematisch, wie auch die unbefangene Übersetzung von Driesch in seiner Besprechung von EC zeigt, wo er hingegen andere, schwerer zu übersetzende Begriffe vorsichtigerweise auf Französisch zitiert; vgl. Bergson, der biologische Philosoph, a. a. O., S. 54. Auch Benrubi bezieht sich auf den Übermenschen in I. Benrubi, Henri Bergson, a. a. O.

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werden, wenn es darum geht, die gewöhnliche Form der Menschheit zu transzendieren. So offenbaren sie den Sinn der Evolution: [...] anderseits versteht man die Entwicklung des Lebens – abgesehen von den Nebenwegen, in die es mit Gewalt eingedrungen ist – nur, wenn man es auf der Suche nach etwas Unzugänglichem sieht, das der große Mystiker erreicht. Wenn alle Menschen, wenn viele Menschen so hoch steigen könnten, wie dieser bevorzugte Mensch, dann wäre die Natur nicht bei der menschlichen Spezies stehengeblieben, denn jener ist in Wirklichkeit mehr als ein Mensch. 40

Hier ersetzt Bergson anscheinend den »sur-homme« von L’évolution créatrice durch den Ausdruck »plus qu’homme«. Wie Arnaud François bemerkt hat, »geht alles so vor sich, als hätte Bergson zwischen den beiden Werken versucht, sein Vokabular, ja sogar sein Denken von jedem zu offensichtlich Nietzscheanischen Element zu befreien«. 41 Wahrscheinlich möchte Bergson evolutionistische und naturalistische Deutungen abwehren, die der Begriff in der Interpretation seiner Zeit erfährt und die er auch aus dem Werk von Seillière La philosophie de l’impérialisme 42 kennt. 1936 sollte Benrubi tatsächlich von Bergson die Unterscheidung zwischen dem sur-homme von L’évolution créatrice und dem Übermenschen des Zarathustra bestätigt bekommen: 43 »›Wenn Sie im dritten Kapitel sagen‹, bemerkte ich, ›dass alles vor sich geht, als ob ein Wesen, das man Mensch oder Übermensch nennen könnte, versucht hätte, sich zu verwirklichen, so verstehen Sie den Übermenschen nicht auf die darwinistische Weise von Nietzsche.‹ Bergson sagte mir, er sei meiner Meinung«. 44 Bergsons Hinweis auf das Ideal einer höheren Art gilt sowohl auf der biologischen als auch auf der Erkenntnisebene: Die Überlegungen, die schon seit den ersten Werken Bergsons auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie präsent sind, werden nämlich auf die anthroDS, S. 226; dt. S. 211. EC, kritisches Dossier der PUF-Ausgabe, S. 498. 42 Der zweite Band von La philosophie de l’impérialisme beginnt mit einer Analyse der evolutionistischen Moral und des selektionistischen Utilitarismus von Alexander Tille (1866–1912), vgl. E. Seillière, La philosophie de l’impérialisme, a. a. O., Bd. II: Apollôn ou Dionysos, S. I–IX sowie A. Tille, Von Darwin bis Nietzsche: Ein Buch Entwicklungsethik, C. G. Naumann, Leipzig 1895. 43 Vgl. F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883–1885), Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, W. de Gruyter, Berlin – New York, 1967 ff., Bd. VI/1, 1968. 44 I. Benrubi, Souvenirs sur Henri Bergson, a. a. O., S. 125, 23. März 1936. 40 41

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pologische Ebene ausgeweitet – sowohl mit dem Verweis auf den surhomme von 1907 als auch mit der »aus einem einzelnen Individuum bestehende[n] Gattung« 45, d. h. den großen Männern und Frauen der Tat, durch die der Lebensschwung seine eigene Schöpfung vorantreibt, da er nicht genug Energie hat, um eine neue Gattung zu schaffen. Die Idee einer Überwindung des menschlichen Standpunktes ist in den Werken Bergsons bereits seit der antikantischen Kritik an der individuellen intellektuellen Erkenntnis präsent, die Bergson schon in Matère et mémoire bekundet, mit seinem Appell, die Philosophie möge »die Erfahrung an ihrer Quelle aufsuchen, oder vielmehr oberhalb jener entscheidenden Biegung, wo sie von ihrem ursprünglichen Wege in der Richtung auf unseren Nutzen hin abweicht und im eigentlichen Sinne die menschliche Erfahrung wird« 46, bis zur Introduction à la métaphysique, wo die Philosophie definiert wird als »eine Anstrengung […], über die menschlichen Bedingungen hinauszukommen«. 47 Das Merkmal der höheren Menschheit ist für Bergson vor allem, dass die Intuition nicht dem Intellekt geopfert wird, wie es beim Homo faber der Fall ist: »[B]eim Menschen ist das Bewußstsein wesentlich Intellekt. Und es könnte, es sollte, so scheint es, auch Intuition sein«. 48 Wie sehr es auf eine ausgewogenere Entwicklung dieser beiden Fähigkeiten ankommt, wird in der Definition des Mystikers in Les deux sources unterstrichen: »wenn der Saum der Intuition, der seine Intelligenz umgibt, so breit wird, daß er sich über sein ganzes Objekt erstreckt, dann haben wir das mystische Leben«. 49 Dass unsere bewusste Aktivität sich den von der Fabrikation geforderten Kriterien unterwirft, läuft auf der historischen Ebene auf eine frenetische Entwicklung der Mechanik auf Kosten der mystischen Intuition hinaus: Um diesem Ungleichgewicht zu begegnen, kommt es darauf an, die intuitive und moralische Seite der menschlichen Natur zurückzugewinnen und zu stärken, die von der Haltung des Homo faber so sehr preisgegeben wurde, dass sie Gefahr lief, vom Gewicht des materiellen Fortschritts erdrückt zu werden. Die Mechanik selbst könnte dann dazu dienen, die materiellen Hindernisse zu

45 46 47 48 49

DS, S. 285; dt. S. 267. MM, S. 205; dt. S. 180. PM, S. 218; dt. S. 218. EC, S. 267; dt. S. 271. DS, S. 285; dt. S. 267.

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überwinden, die »die Erschaffung einer göttlichen Menschheit« verhindert haben, wenn der Mechanik ihre »wahre Bestimmung« 50 zugewiesen wird: Das würde die menschliche Aktivität von ihren vitalen Bedürfnissen befreien und so dem Bewusstsein ermöglichen, sich seiner intuitiven Seite zu widmen. Die harmonische und nicht frenetische Entwicklung von Mechanik und Mystik, von intelligenter Fabrikation und Intuition, würde also dazu beitragen, dass sich auch auf unserer Erde »die wesentliche Aufgabe des Weltalls erfülle, das eine Maschine ist, um Götter hervorzubringen«. 51 Die Idee einer höheren Menschheit, in L’évolution créatrice kaum angedeutet, wird also in Les deux sources viel ausführlicher behandelt. Hier werden nicht nur deren erkenntnistheoretische, sondern auch anthropologische und historische Implikationen deutlich, ja sogar die Art und Weise, wie diese mit der industriellen Produktion und den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit verbunden sind. Statt sich des bereits 1907 verwendeten Begriffs sur-homme zu bedienen, greift Bergson allerdings lieber auf andere Wendungen zurück, wie »plus qu’homme« oder »humanité divine«, wohl um Interpretationen seiner Philosophie im Sinne Nietzsches keinerlei Anhaltspunkt zu bieten. Diese Entscheidung scheint vor allem durch Überlegungen moralischer und politischer Art begründet, wie einige Bemerkungen Bergsons zur Lehre vom Willen zur Macht bezeugen.

3.3. Herrenmoral und Imperialismus Die erste Bezugnahme Bergsons auf Nietzsches Moralphilosophie geht auf die Rede vom 12. Dezember 1914 vor der Académie des sciences sociales et politiques zurück. Die von Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse 52 skizzierte Unterscheidung zwischen Herrenund Sklavenmoral wird von Bergson in Beziehung zum extremen

Ebd., S. 249; dt. S. 233 (beide Zitate); vgl. auch S. 253, dt. S. 237: »In Wirklichkeit handelt es sich für die großen Mystiker darum, die Menschheit grundlegend zu ändern, wobei sie zuerst selbst das Beispiel geben. Das Ziel wäre erst erreicht, wenn zum Schluß das existierte, was theoretisch zu Anfang hätte existieren müssen, nämlich eine göttliche Menschheit.« 51 Ebd., S. 338; dt. S. 317 (Wortlaut modifiziert). 52 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), frz. Übers. von L. Weiskopf und G. Art, Par-delà le bien et le mal, Mercure de France, Paris 1898. 50

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Niveau materiellen Wohlstands gesetzt, das Deutschland während des Krieges erreicht hatte: Das Volk, dem dieser Aufschwung zuteil wurde, war das auserwählte Volk, die Herrenrasse, neben den anderen, die Sklavenrassen sind. Diesem Volk kann man nichts verbieten, was ihm helfen kann, seine Herrschaft zu festigen. Man rede ihm nicht von einem unverletzlichen Recht! Das Recht ist das, was man in einem Vertrag festschreibt; der Vertrag ist das, was der Wille des Siegers aufzeichnet, das heißt, die aktuelle Richtung seiner Kraft: also sind Kraft und Recht dasselbe. 53

Die Deutschen hätten sich also die Theorie der Herrenmoral zunutze gemacht, um ihre ganze Sippe zu legitimieren und um ihr Auserwähltsein durch die Zeichen ihrer materiellen Entwicklung zu bezeugen. Bergson widerspricht zwar diesem ›Rassen-Dimorphismus‹ zwischen Herren und Sklaven, behauptet jedoch in seinen Kriegsreden einen nicht minder deutlichen ›kulturellen Dimorphismus‹, der das französische und das deutsche Lager im Namen der Zivilisation und der Barbarei einander entgegenstellt. Diese Position wird in Les deux sources gründlich überarbeitet. Hier werden der kriegerische Instinkt und das Streben nach Öffnung nicht als Wesenszüge gesehen, die eine Gesellschaft von der anderen unterscheiden, sondern als Charaktermerkmale, die in jeder Gesellschaft nebeneinander bestehen. Bergson leugnet sogar, dass ein solcher Dimorphismus zwischen Sklaven und Herren auf individueller Ebene, folglich zwischen verschiedenen sozialen Klassen bestehen könne: In der Welt der Insekten ist die Verschiedenartigkeit der sozialen Funktionen an eine Verschiedenheit des Organismus gebunden; es herrscht da »Vielseitigkeit« (Polymorphismus). Werden wir nun sagen, in den menschlichen Gesellschaften gäbe es »Zweigestaltigkeit« (Dimorphismus), die nicht mehr physisch und psychisch zugleich ist wie bei den Insekten, sondern nur psychisch? Wir glauben es, allerdings mit der Einschränkung, daß dieser Dimorphismus die Menschen nicht in zwei starre Kategorien teilt, wobei die einen als Herrscher geboren werden und die andern als Untertanen. Daß er an eine Teilung dieser Art glaubte, war der Irrtum Nietzsches: auf der einen Seite die »Sklaven«, auf der andern die »Herren«. In Wirklichkeit macht dieser Dimorphismus meistenteils aus jedem von uns gleichzeitig einen Herrscher, der den Befehlsinstinkt hat, und einen Untertanen,

53

M, S. 1112.

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der bereit ist zu gehorchen – wenn auch bei den meisten Menschen letztere Tendenz so weit überwiegt, daß sie allein in Erscheinung tritt. 54

Die Kritik an Nietzsche ist nicht durch die Absicht einer nationalistischen Opposition gegen Deutschland motiviert (wie 1914), sondern durch ein politisches Motiv anderer Art: Die Ideale der Gleichheit und Brüderlichkeit, die die Verwirklichung der demokratischen Gesellschaft inspirieren, wirken nämlich dem gesellschaftlichen Unterschied zwischen Aristokraten und Sklaven entgegen. Deshalb spricht Bergson von ›psychischem Dimorphismus‹ im Bereich der geschlossenen Gesellschaft, die von Natur aus hierarchisch ist, und nicht im Bereich der offenen Gesellschaft. Es ist daher nicht korrekt, die Anlage zum Befehlen oder zum Gehorchen als unabänderliche und angeborene Kategorien zu betrachten – sowohl was die Völker als auch was die Individuen angeht. Die Distanzierung von Les deux sources von den während des Krieges bezogenen Positionen betrifft wieder die Themen der Philosophie Nietzsches. Es geht um die Frage des Imperialismus, die Bergson im Ausgang vom Werk Seillières kommentiert: In einem Werke, dessen Tiefe und Kraft man nicht genug bewundern kann, zeigt Ernest Seillière, wie sich der nationale Ehrgeiz überall göttliche Sendungen zuschreibt: der »Imperialismus« wird gewöhnlich zur »Mystik«. Wenn man diesem Wort die Bedeutung gibt, die es bei Ernest Seillière hat, und die durch eine lange Reihe von Arbeiten genügend definiert worden ist, ist diese Tatsache unbestreitbar; indem er sie feststellt, sie mit ihren Ursachen verbindet und ihre Wirkungen verfolgt, liefert der Verfasser einen unschätzbaren Beitrag zur Philosophie der Geschichte. Aber er würde wahrscheinlich selbst der Meinung sein, daß die so verstandene Mystik – übrigens so verstanden von dem »Imperialismus«, wie er ihn darstellt – nur eine Nachahmung der wahren Mystik, der »dynamischen Religion« ist […]. 55

Zu beanspruchen, dass man Gott auf der eigenen Seite hat, und so dem Krieg einen mystischen Charakter zuzuschreiben, ist in der Tat ein typischer Zug vieler Kriege – auch des letzten, den Europa erlebt hat. Auch ohne sich auf die Gottheit zu berufen, hat Bergson selbst die Mystik bemüht, um in einigen Kriegsreden den Gemütszustand der französischen Soldaten zu beschreiben. Er ging dabei davon aus, dass zwischen den beiden Erfahrungen eine ferne Analogie bestünde. In dem Vortrag La guerre et la littérature de demain vom 23. April 54 55

DS, S. 296; dt. S. 277 f. DS, S. 331; dt. S. 310.

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1915 empfiehlt Bergson, man solle sich, um den Gemütszustand der französischen Frontsoldaten zu verstehen, die Beschreibungen ins Gedächtnis rufen, die uns die großen Mystiker von ihrem inneren Leben hinterlassen haben, sie, die große Männer der Tat waren. […] Es ist nur eine entfernte Analogie; eine Analogie ist es doch. [Der französische Soldat] hat seine Seele dahin gebracht, dass sie nur noch eins mit der Seele des Vaterlandes ist, und aus dieser Identität mit etwas, das dem Unendlichen und dem Ewigen gleicht, bezieht er die Kraft, wohin auch immer – sogar in den sicheren Tod – mit einem Gefühl der Sicherheit zu gehen. 56

Der Vergleich mit den Mystikern wurde dann im Vortrag über die Persönlichkeit in Madrid (während der Mission von 1916) noch einmal angestellt. Nach der Beschreibung Spaniens als »Land der Mystik« schildert er – in der Absicht, Spanien zu einem Kriegseintritt an der Seite Frankreichs zu bewegen – den französischen Gemütszustand so: Der Zustand der Seele, der diesem am nächsten kommt, ist die Seelenverfassung dieser großer Mystiker […]. [E]s gibt so etwas wie ein inneres Feuer, das Frankreich emporhebt, das etwas Ungeheures, etwas Gewaltiges mit sich bringt, das Frankreich mitreißt – und mit ihm (so glaube ich), die anderen Völker, mit denen es sich brüderlich geeint hat, und mit denen es fühlt, glaubt, weiß, dass es seine Brüder retten wird, wenn es sich selbst rettet. 57

In Les deux sources erkennt Bergson allerdings, dass die Tendenz, die Götter anzurufen, um die eigene Nation zu verteidigen, nicht der dynamischen Religion und der wahren Mystik entspricht, sondern eine typische Vorgehensweise der statischen Religion ist. Die Berufung auf Nationalgottheiten zielt in der Tat darauf, den inneren Zusammenhalt einer geschlossenen Gesellschaft zu fördern: Der Kontrast ist nicht selten geradezu verblüffend, so zum Beispiel dann, wenn zwei Nationen, die miteinander Krieg führen, behaupten, sie hätten jede einen Gott für sich, der sich auf diese Weise als der Nationalgott des Heidentums erweist, während der Gott, von dem sie sich einbilden zu sprechen, ein allen Menschen gemeinsamer Gott ist, dessen bloßes Erscheinen vor aller Augen die sofortige Abschaffung des Krieges bedeuten würde. 58 M, S. 1154 f. Ebd., S. 1235. Eine genaue Analyse dieser Kriegsreden und der Analogie zur Mystik liefert G. Waterlot, Situation de guerre et état d’âme mystique chez Bergson, a. a. O. 58 DS, S. 227; dt. S. 213. Diese Aussagen werden basal für den Gegensatz zwischen 56 57

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Der Hinweis auf die Nationalgötter des Heidentums ist vielleicht ein Seitenhieb auf diejenigen von Bergsons Lesern, die der Zeitschrift »Die Tat« nahestehen: Sie wollten die antik-germanischen Gottheiten wiederaufleben lassen, um die deutsche Nationalidentität zu stärken. Radikal anders ist für Bergson die Mystik der dynamischen Religion, die die nationalen Grenzen überwindet, um für den Frieden unter den Menschen einzutreten: Hält man sich aber an die wahre Mystik, so wird man sie mit dem Imperialismus für unvereinbar erklären. Höchstens wird man sagen, wie wir eben getan haben, die Mystik könne sich nicht verbreiten, ohne einen ganz besonderen »Willen zur Macht« zu ermutigen. Es wird sich darum handeln, eine Herrschaft auszuüben, aber nicht über die Menschen, sondern über die Dinge, gerade damit der Mensch nicht mehr so viel über den Menschen herrsche. 59

Bergson kehrt auf diese Weise die Bedeutung des Willens zur Macht und des Imperialismus um, um sie der offenen Gesellschaft und der dynamischen Religion anzupassen, deren Verwirklichung von der Befreiung des Menschen von den materiellen Bedürfnissen abhängt – durch die Herrschaft über die Dinge mit Hilfe der Fabrikation und der Mechanik. Die Kontrolle der Materie durch den Menschen dürfte allerdings nicht auf eine wahllose Ausbeutung der Natur zugunsten der Ressourcenverschwendung einiger Gesellschaften hinauslaufen. Die Art, wie in der westlichen Gesellschaft konsumiert wird und die damit verbundene Art und Weise der industriellen Produktion ist in der Tat einer der Kriegsgründe, denn sie veranlasst die Nationen, sich die Arbeitskräfte oder die natürlichen Ressourcen der anderen zu beschaffen – nicht nur, um den Hunger, sondern auch den Durst nach Vergnügen, Luxus und Reichtum zu stillen. Für Bergson hingegen ist der Zweck der Naturbeherrschung die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse des ganzen Menschengeschlechts: Der ursprüngliche Sinn des industriellen Kraftaufwands ist es folglich, vor allem den Hunger zu besiegen. Daher schreibt er der Organisation des Industriesystems eine wesentliche Rolle im Dienst an der Menschheit zu:

dem nationalsozialistischen »Gott mit uns« und der Mystik der Öffnung, zu der Bergson aufruft in André Grappe, Hitler et Bergson, ou le mysticisme de la croix gammée et le mysticisme de la croix latine. Conférence faite à Sarreguemines le 27 mars 1933, Imprimerie Sarregueminoise, Sarreguemines 1933. 59 DS, S. 332; dt. S. 311.

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Wir fühlen es wohl, daß der Ackerbau, der den Menschen ernährt, allem übrigen vorgehen müßte, jedenfalls die erste Sorge der Industrie sein müßte. Im allgemeinen hat sich die Industrie nicht genügend um die mehr oder weniger große Bedeutung der zu befriedigenden Bedürfnisse gekümmert. Sie ist gern der Mode gefolgt und hat nur in dem Gedanken fabriziert, zu verkaufen. Man verlangt hier wie anderswo nach einem zentralen, organisierenden Denken, das die Industrie der Landwirtschaft zuordnete und den Maschinen ihren rationellen Platz anwiese, nämlich den, wo sie der Menschheit am meisten nützen könnten. […] dann wäre die Maschine nur noch die große Wohltäterin. 60

Bergsons Ideal einer asketischen Ethik wird von Cassirer sofort als Versuch wahrgenommen, den Willen zum Wachstum zu beherrschen und Güter und Konsum zu begrenzen. Bergsons Aufruf zum Maßhalten und seine Lehre von der offenen Gesellschaft und von der dynamischen Religion werden in der Tat als Beweis für Bergsons Distanz zu Nietzsche verstanden – entgegen der Interpretation, die Rickerts Essay aus dem Jahr 1922 gegeben hatte. 61 So behauptet Cassirer 1933 in seiner Besprechung von Les deux sources: Man müßte daher von einer rein »vitalistischen Ethik« vor allem eine Apotheose der Macht erwarten. Der Orgiasmus, die Trunkenheit, der dionysische Taumel des Lebens: – dies und dies allein müßte auch sein tiefster ethischer »Sinn« sein. Aber Bergsons Ethik geht nicht den Weg Nietzsches – und ihr Preis des Lebens mündet nicht in einer Lobpreisung des Willens zur Macht aus. 62

Die Erfahrung des Krieges ist also in der Geschichte von Bergsons Beziehungen zur deutschen Kultur von zentraler Bedeutung: Die während der Zeit seines politischen Engagements erlebten Spannungen zwischen Zivilisation und Nationalinstinkt liefern Bergson viel von dem Material, bei dem dann die Überlegungen von Les deux sources zur geschlossenen und offenen Gesellschaft ansetzen. Der Krieg wird also zum obligatorischen Gegenstand der Philosophie, dessen Folgen für die soziale Zugehörigkeit noch auszubuchstabieren sind. So kommt es, dass Deutschland, politisch der Gegner Frankreichs, für Bergson einen unverzichtbaren Bezugspunkt darzustellen beginnt – mehr noch, als es das in den vorangegangenen Werken war. Obwohl die direkten Beziehungen und die Briefwechsel mit den deut60 61 62

Ebd., S. 326 f.; dt. S. 306 f. H. Rickert, Die Philosophie des Lebens, a. a. O. E. Cassirer, Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, a. a. O., S. 22.

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schen Intellektuellen mit Beginn des Krieges brüsk abbrechen, muss Bergson, wie die französischen Intellektuellen im Allgemeinen, dringend seine eigene nationale Identität definieren, um sie von der deutschen zu unterscheiden. So übernimmt Deutschland eine versteckte, aber darum nicht weniger präsente Rolle in der Philosophie von Les deux sources. Analog zum Fall Nietzsches, dessen Philosophie Bergson dazu anregt, einige Positionen, die er in seinen früheren Werken vertreten hatte, neu zu formulieren – wobei er gleichzeitig eine Moral des Lebens entwickelt, die alternativ zu derjenigen Nietzsches ist –, werden viele Positionen von Les deux sources auf der Folie der zeitgenössischen deutschen Philosophie geklärt.

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Schlussfolgerungen

Viele der Dialoge zwischen Bergson und den deutschen Philosophen seiner Zeit sind nun wieder der Vergessenheit entrissen, in die man sie infolge des historischen Bruchs mit der Vergangenheit, den der Erste Weltkrieg bedeutete, hatte geraten lassen. Durch die vier geographischen Stationen Jena, Berlin, Heidelberg und Göttingen wurde die Teilhabe Bergsons an verschiedenen deutschen Debatten dokumentiert, die vor allem seit 1907 stattfinden, als sein Werk beginnt, in Deutschland immer bekannter zu werden, und es gleichzeitig zu vermehrtem direkten Austausch mit den Philosophen jenseits des Rheins kommt. Die Wegstrecke, die hier räumlich nachgezeichnet wurde, wollte den manchmal sehr tiefgreifenden Differenzen zwischen den diversen universitären, literarischen und editorischen Kontexten der betrachteten Städte Rechnung tragen, von denen eine jede andere Themen von Bergsons Philosophie bevorzugt. Schließlich gab eine Reflexion auf die Zeit des Ersten Weltkriegs den Blick frei auf den Abbruch der deutsch-französischen Beziehungen, der daraus erfolgen sollte, und die Resultate, die diese politische und kulturelle Erfahrung in Bergsons Wahrnehmung der deutschen Philosophie bewirkt. Der beschriebene räumliche und zeitliche Durchgang erfasste zugleich eine thematische Struktur: In jedem Kapitel kamen die zentralen Fragen von Les deux sources zur Sprache – wie die Mystik, die Endlichkeit, das Verhältnis von Leben und Geschichte, die Mechanik und der Status der Moral gegenüber dem Leben. Setzt man die Art und Weise, wie Bergson diese Themen im Werk von 1932 formuliert, in Beziehung zu den Dialogen, die hier wieder ans Licht gebracht wurden, so zeigt sich in vielen Fällen, dass er den Stand der Debatte im deutschen Kontext kennt und sich mit Bezug darauf situieren will. Der erste Beitrag, um Bergson in die deutsche Kultur einzuführen, kommt aus der Stadt Jena, wo Eucken und seine Schüler die Verbreitung seiner Ideen fördern – sei es, dass sie die Übersetzung seiner 290 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Schlussfolgerungen

Werke im Verlag Diederichs unterstützen, oder dass sie Aufsätze über seine Philosophie veröffentlichen. Hier wie in jeder anderen Stadt auf unserer Landkarte liest und interpretiert man Bergsons Werk, indem man es in die deutsche Debatte integriert. Die Analyse der deutschen Übersetzungen einiger Grundbegriffe des Bergsonismus, wie intelligence, intuition und sympathie, für die die Übersetzer einmal aus dem Vokabular Kants, ein andermal aus dem der Romantik schöpfen, zeigt, dass die Rezeption Bergsons unter einem starken antikantischen Einfluss steht, der für den Kreis um Eucken typisch ist. Im Zentrum von dessen Neoidealismus steht die Idee des Geisteslebens, dessen Aktivismus danach strebt, sich der lähmenden Leere der modernen Zivilisation zu widersetzen. Eucken ersehnt eine nicht nur politische und kulturelle, sondern auch und vor allem religiöse Erneuerung, um die seelenlose Veräußerlichung des Christentums seiner Zeit zu überwinden. So stimmt seine Art und Weise, das Thema der Religion anzugehen, mit dem katholischen Modernismus und dem liberalen Protestantismus überein. Das europäische Geflecht der modernistischen Bewegung, das nicht nur Eucken und einige seiner Schüler interessiert, sondern auch Theologen, die mit ihnen in Kontakt stehen – wie von Hügel und Troeltsch –, beeinflusst die Rezeption von Bergsons Philosophie, die wegen ihrer möglichen religiösen und mystischen Konsequenzen mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht wird. Die Bedeutung Bergsons für die Neubestimmung der Beziehungen zwischen Philosophie und Religion in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts betrifft also nicht nur das französische und katholische Milieu, sondern auch das deutsche. Bergson seinerseits schätzt die Ideen Euckens sehr, die in Frankreich vor allem durch die Vermittlung des gemeinsamen Schülers Benrubi bekannt sind, der häufig auf Bergson’sches Vokabular zurückgreift, um die Lehre des Meisters aus Jena ins Französische zu übertragen. So regt er Bergson dazu an, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Besonders der Aktivismus des Geisteslebens scheint nicht irrelevant für die Öffnung Bergsons gegenüber den Themen der Moral, die seit dem Vortrag La conscience et la vie von 1911 zum Durchbruch kommen – gleichzeitig mit der Abfassung seines Vorworts zur französischen Ausgabe von Der Sinn und Wert des Lebens von Eucken. Die Vorliebe, die der christlichen Mystik aufgrund ihres aktivistischen Charakters in Les deux sources zuteil wird, ist im Übrigen eine These, die, wie es scheint, an Euckens Religionsphilosophie erinnert. Sein Neoidealismus Fichte’scher Prägung zielt allerdings auf 291 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Schlussfolgerungen

eine Intuition sub specie aeterni und nicht, wie bei Bergson, sub specie durationis. Schließlich scheint es, dass noch ein anderer Zug der Mystik von Les deux sources Spuren der Auseinandersetzung mit dem Jenaer Milieu trägt: Die Philosophie Bergsons findet nämlich auch Eingang in die Zeitschrift »Die Tat«, deren antikantische Töne mit der Zeit in einen Irrationalismus mit neuheidnischen und völkischen Tendenzen abgleiten. Es ist anzunehmen, dass Bergson sich von diesem kulturellen Milieu distanzieren will, wenn er 1932 die Unvereinbarkeit der wahren Mystik mit den Nationalgottheiten des Heidentums behauptet, womit er die dynamische Religion durch ihre Öffnung zur ganzen Menschheit charakterisiert. Die Auseinandersetzung mit Kant ist das Thema, auf das sich auch die ersten Austauschbeziehungen Bergsons mit dem kulturellen Milieu Berlins konzentrieren, wo Simmel und die Literaten des George-Kreises in seiner Philosophie eine Alternative zum Intellektualismus erblicken, der im zeitgenössischen Denken und im sozialen Leben den Ton angibt. Seit 1908 beteiligt sich Simmel am Programm der Übersetzung einiger Werke von Bergson, in das er einige seiner Schülerinnen einbezieht, die wie er den George-Kreis frequentieren. Dass die Philosophie Bergsons in den Salon des Meisters Einzug hält, lenkt das Augenmerk auf ihre intuitionistischen Aspekte und verändert ihre Interpretation in eine ästhetisierende und spiritualistische Richtung, von der sich Bergson, während sein letztes Werk heranreift, jedoch immer mehr distanziert. Die Intuition stellt hingegen – sowohl für die Literaten des George-Kreises als auch für Simmel – ein gemeinsames Terrain dar, auf dem sich eine kritische Relektüre des Kantianismus vornehmen lässt: In der Tat betreffen die ersten Werke, die Simmel an Bergson schickt, die Philosophie Kants. Im Ausgang von einer Archivarbeit zu den Unterstreichungen Bergsons in Simmels Kant-Vorlesungen aus dem Jahr 1904 1 wurde hier versucht, die Studien von Gregor Fitzi fortzuführen. Dabei wurde eine partielle Rekonstruktion des Inhalts des verlorengegangenen Briefwechsels Simmel – Bergson vorgelegt. In Entsprechung zu den von Bergson unterstrichenen Stellen führt Simmel tatsächlich in den folgenden Auflagen von 1913 und 1918 einige neue Absätze ein, die die Kritik an Kants Erkenntnistheorie präzisieren und sich dabei auf das dyna1

G. Simmel, Kant. Sechzehn Vorlesungen, a. a. O.

292 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Schlussfolgerungen

mische Werden des inneren Lebens und auf die moralische Kreativität des Subjekts beziehen. Diese Annäherung an Bergsons Beweisführung ist im Übrigen typisch für die reife Phase von Simmels Denken, die sich an der Lebensphilosophie orientiert. Allerdings hält seine Lebensphilosophie immer eine kritische Distanz zu Bergson. Sie zeigt sich besonders in dem Bergson gewidmeten Aufsatz von 1914 2, wo Simmel dessen Unfähigkeit beklagt, in der Spannung des Lebens zwischen Immanenz und Transzendenz auch nur eine Spur von Tragik zu sehen – sie wird von seiner Metaphysik der vollen Positivität und von seiner traditionell herakliteischen Position absorbiert. Es ließ sich nachweisen, dass Bergson über diese Simmel’schen Bemerkungen durch die Vermittlung Jankélévitchs unterrichtet ist, der dessen Spätwerk in Frankreich zur Geltung bringt und, als er das Studium von Bergsons Werk in Angriff nimmt, etliche kritische Bemerkungen, die seiner Simmel-Lektüre entstammen, wieder vorlegt. Die neuen Töne, die in Les deux sources im Sinne der Endlichkeit, der Passivität und der Begrenztheit der Freiheit angeschlagen werden, lassen erkennen, dass Bergson die ontologische Endlichkeit des élan vital, die bereits in L’évolution créatrice beschworen worden war, neu bedenkt. Die intellektuelle Nähe Bergsons zu Jankélévitch in den Jahren der Abfassung von Les deux sources lädt dazu ein, die Neudefinition einiger Begriffe, die in den ersten Werken absoluter und positiver präsentiert wurden, auf die von ihrem Dialog berührten Punkte zurückzuführen. Besonders die Begriffe von Persönlichkeit und Freiheit werden – in ihren Auswirkungen auf die Moral und auf die Geschichtsphilosophie – in Les deux sources in einem eher relativistischen Sinn (um einen für die erste Simmel-Rezeption in Frankreich typischen Begriff zu verwenden) überarbeitet. Letztendlich aber unterstreichen die Behauptung, dass die Idee des Nichts illusorisch sei, und die Anerkennung einer positiven Tendenz im Leben, die in der Lage sei, die Negation und den Tod zu überwinden, den Abstand von Bergsons »atragischer« 3 Lebensphilosophie zu der von Simmel. Bergsons Nähe zum Umfeld der Lebensphilosophie beeinflusst die Aufnahme, die er im akademischen Mikrokosmos von Heidelberg findet, wo die Debatte über den Naturalismus und über die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geschichte sehr hitzig ist. 2 3

G. Simmel, Henri Bergson, a. a. O. V. Jankélévitch, Bergson, a. a. O., S. 248.

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Es wurde gezeigt, dass der Dialog zwischen Bergson und Driesch, der bisher nur hinsichtlich der Frage der Zweckmäßigkeit bekannt war, auch die Frage des Historismus berührt. Driesch widersetzt sich seinen neukantianischen Kollegen in Heidelberg, indem er sich eigens auf Bergsons Philosophie der Dauer bezieht, auf deren Basis er für die Analogie zwischen der Ebene des menschlichen und gesellschaftlichen Werdens und der der biologischen Phänomene argumentiert. In Anlehnung an die Überlegungen Drieschs erkennt auch Troeltsch in Bergson eine Philosophie der Geschichte, die auf der Kontinuität zwischen menschlicher und natürlicher Geschichte basiert. Der Bergson von vor Les deux sources dementiert jedoch diese Interpretationshypothesen im Vortrag »Phantômes de vivants« et »recherche psychique« von 1913, in dem er eine Position vertritt, die wörtlich die These von Windelband nachzeichnet: Ihr zufolge unterscheiden sich die nomothetischen Wissenschaften von der Geschichte, die als ideographische Wissenschaft definiert wird, weil sie sich nicht mit den wiederkehrenden Gesetzen, sondern mit dem einzelnen Ereignis befasst. Bergson schließt sich also zunächst der neukantianischen Position an, die Windelband auch in seinem Vorwort zu Materie und Gedächtnis 1908 unterstrichen hatte, wo er das »Geschehen« das zentrale Thema von Bergsons Philosophie nennt. Dennoch findet die Interpretation von Driesch und Troeltsch bei Rickert mehr Anklang, der in seiner polemischen Abhandlung über die Philosophie des Lebens Bergson sowohl auf moralischer als auch auf historischer Ebene eines naturalistischen Reduktionismus beschuldigt. Die Homogenität von Logik des Lebens und Logik des menschlichen Handelns, die Bergson schließlich im Gesetz der doppelten Raserei in Les deux sources erkennt, stellt seine Geschichtsphilosophie gegenüber den Positionen, auf die die Stimmen der deutschen Debatte über den Historismus ihn zurückführen wollen, neu auf. Im Übrigen könnten ihre Versuche ein Ansporn für ihn gewesen sein, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen und sie eben mit Rücksicht auf die Begriffe zu klären, die sie im deutschen Kontext definieren, den er vor allem durch die Vermittlung von Driesch und Windelband kennt. Nach Bergson richtet sich der dichotomische Gang der Geschichte nach dem biologischen Gesetz, das die Evolution der Natur in L’évolution créatrice regelt. Seine Position korrigiert damit die 1913 von ihm vertretene und distanziert sich von Windelband, auch wenn sie sich nicht völlig an diejenige von Driesch angleichen lässt. Sowohl 294 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

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auf historischer wie auf moralischer Ebene unterscheidet sich – wie Cassirer bemerken sollte – die Philosophie von Les deux sources vom engen Naturalismus und gibt Raum für einen metaphysischen Sinn des Lebens. In Göttingen endet die Wegstrecke von Bergsons Austauschbeziehungen mit Deutschland – die erste Aufnahme, die ihm seitens der phänomenologischen Schule zuteil wurde. Ein paar Schüler von Husserl (wie der junge Koyré und, nach dem Ersten Weltkrieg, Roman Ingarden) widmen der Philosophie Bergsons einige Studien, wobei sie eine psychologistische Tendenz bei ihm erkennen wollen. Die Ausrichtung der Philosophischen Gesellschaft in Göttingen beeinflusst Schelers Bergson-Deutung in diesem Sinne. Er bringt sie 1913 in seinem Essay Versuche einer Philosophie des Lebens zum Ausdruck, den Bergson besitzt und den Scheler gerade in den Jahren verfasst hat, in denen sich seine Verbindung mit der Husserl’schen Phänomenologie festigt. Indem er Bergson im Vergleich mit Nietzsche und dem Pragmatismus einführt, unterstreicht Scheler die Vorwürfe des Psychologismus und Biologismus, die für den Göttinger Kreis typisch sind und üblicherweise gegen die Lebensphilosophie erhoben werden. Obwohl dieser Strömung das Verdienst zukommt, die Aufmerksamkeit wieder auf die gelebte Erfahrung zu lenken und den Mechanismus der positivistischen Wissenschaft zu bekämpfen, hält Scheler den Moment für gekommen, über sie hinauszugehen: Deshalb beruft er sich einerseits auf die Methode Husserls, deren Theorie der Wesensschau ihm strenger als die Bergson’sche Intuition erscheint, und andererseits unterscheidet er das Leben vom Geist, um das Gebiet der geistigen, ästhetischen und moralischen Werte nicht auf die Biologie zu reduzieren. Die Mystik, die er bei Bergson am Werk sieht, tendiert nämlich nicht nur zum Psychologismus, sondern auch zum Biologismus, sodass die geistige Sphäre auf die psychologische und schließlich auf die biologische reduziert wird. Für Bergson ist das Bewusstsein tatsächlich mit dem Leben verbunden und fällt mit ihm in eins, während Scheler Leben und Geist auf zwei gegensätzliche und autonome Prinzipien zurückführt. In den anthropologischen Konsequenzen dieser Interpretation Schelers zeigt sich ein Standpunkt, der in der deutschen Diskussion über die Zivilisation verbreitet ist: Sie hat seit Nietzsche Positionen ins Leben gerufen, die den Geist als eine Krankheit des Lebens betrachten und die ein dionysisches und biologistisches Menschenbild verherrlichen. Im Essay von 1913 erkennt Scheler bei Bergson eine 295 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

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Kritik an der Zivilisation, d. h. an der fragmentierten, intellektualistischen und mechanistischen Form der modernen Zivilisation. Die Tendenz des Homo faber zur Fabrikation wird allerdings auch als eine Weise verstanden, den Geist zu befreien und den Menschen von biologischen Zwängen zu entbinden. Die von Scheler geahnte Ambivalenz der Technik sollte Bergson erst in Les deux sources eingehend untersuchen, wo er von der vorwiegend optimistischen Position von L’évolution créatrice abrückt. Während des Krieges beginnt Bergson, sich die Kritik an der Zivilisation zu eigen zu machen – die er außer von Eucken, Benrubi und Simmel von Scheler kennt –, um den preußischen Militärstaat zu beschreiben und ihm zum einen einen vergessenen Teil der deutschen, empfindsamen und moralischen Kultur entgegenzuhalten, zum andern Frankreich selbst als Bastion der Moral und des Rechts. Bergsons Bezugnahme auf die typisch deutsche Dichotomie von Kultur und Zivilisation während des Ersten Weltkriegs zeigt eine Verschiebung seiner Position hin zu einer Abkehr von den materiellen und äußerlichen Aspekten der Zivilisation, die jedoch in Les deux sources wieder in eine weniger radikale Auffassung mündet. Hier tritt die Mechanik in Interaktion mit der Mystik. Auch die civilisation, weit entfernt von Schelers Vorstellung, die aus ihr ein Bild von Verfall und Krankheit der Menschheit macht, wird anerkannt als dasjenige, was es ermöglicht, die kriegerischen Instinkte und die natürlichen Tendenzen zur Abschottung und zum Feindeshass umzulenken. Jeder moralische und geistige Fortschritt braucht die Unterstützung durch die Anstrengungen der civilisation, um die Hindernisse der Natur und der Mechanik zu bekämpfen, deren frenetische Entwicklung indes gleichzeitig jeden Fortgang des Lebens blockieren kann. So finden sich in den Positionen von Les deux sources die Leitbegriffe einer breiten deutsch-französischen Debatte wieder, die Bergson in den Jahren zuvor bereichert hatte. In der Geschichte der Beziehungen zwischen Bergson und der deutschen Kultur wurde nicht zuletzt der grundlegenden Bedeutung der Kriegserfahrung Rechnung getragen: Seit 1914 wird Deutschland, der politische Feind Frankreichs, ein noch wichtigerer Bezugspunkt, als es das bereits in den ersten Werken gewesen war. Obwohl die direkten Beziehungen und die Briefwechsel mit den deutschen Intellektuellen mit Kriegsbeginn abrupt abbrechen, wird es für Bergson wie für die französischen Intellektuellen im Allgemeinen notwendig, die eigene philosophische Identität im Vergleich mit derjenigen Deutschlands näher zu bestimmen. Sie wird eine verborgene, 296 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

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wenn auch darum nicht unbedeutende Rolle in der Philosophie von Les deux sources spielen. Im Durchgang durch die Bindeglieder von Bergsons politischem und moralischem Wirken in den Jahren des Ersten Weltkriegs und seines anschließenden Engagements als Präsident der Cici hat diese Untersuchung die deutsch-französischen Debatten beleuchtet, auf die Bergson Bezug nimmt. So werden die geläufigsten Argumente erst seiner antideutschen Rhetorik, dann seines pazifistischen Engagements klarer. Der Krieg ist nicht nur als historisch-politischer Hintergrund wichtig, sondern auch als philosophisches Thema. Die Erfahrung der Dämonisierung des Feindes, die Bergson sowohl aktiv wie passiv am eigenen Leib erlebt hat, sollte einen maßgeblichen Bezugspunkt nicht nur für die Ausrichtung seiner politischen Linie beim Völkerbund, sondern auch auf philosophischer Ebene darstellen, und zwar für die Beschreibung der geschlossenen Gesellschaft und des kriegerischen Instinkts in Les deux sources. Hier distanziert sich Bergson gleichzeitig von einigen deutschen Positionen der Zeit, mit denen er verglichen worden war, vor allem von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, die im Frankreich der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gern mit der imperialistischen Politik Preußens in Verbindung gebracht wird. Kenntnis von dieser Interpretation erhält Bergson vor allem durch die Vermittlung von Seillière. In den Kriegsreden und in Les deux sources legt Bergson daher Wert darauf, sich von Nietzsche abzugrenzen, wobei er einige Positionen der vorangegangenen Werke neu formuliert. Dabei gibt er einige Begrifflichkeiten auf und definiert eine Moral, die auf dem Leben basiert, aber eine Alternative zu der des deutschen Philosophen darstellt. Die Rekonstruktion der Austauschbeziehungen zwischen Bergson und Deutschland macht also deutlich, wie etliche Thesen von Les deux sources auch durch die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen deutschen Philosophie präzisiert werden. Die Auswirkung dieses Austauschs auf Bergsons Denken wiederzuentdecken und zu ermessen gibt die Möglichkeit, seinem Werk in der Geschichte der europäischen Philosophie eine neue Dimension zuzuschreiben. Nicht zu Unrecht sollte Valéry ihn bei seinem Tod als »den letzten großen Namen der Geschichte der europäischen Intelligenz« 4 bezeichnen Paul Valéry, Henri Bergson, in Albert Béguin – Pierre Thévenaz (Hg.), Henri Bergson. Essais et témoignages, La Baconnière, Neuchâtel 1941, S. 23.

4

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und Jankélévitch wird von seiner Philosophie sagen: »Sie ist ein europäisches Phänomen, sie ist eine Epoche des europäischen und des globalen Denkens.« 5 Die neuen Pfade, die durch diese Untersuchung eröffnet wurden, können in eine zweifache Richtung gehen, sowohl im Raum wie in der Zeit. Auf der philosophischen Europakarte legt diese Konstruktion die Fundamente, um die Wege des deutsch-französischen Austauschs zu erkunden. So sollte sich einerseits die Bergson-Forschung weiter für Deutschland öffnen und andererseits die Wertschätzung Bergsons im deutschen Sprachraum einen neuen Anschub erhalten. Auf historischer Ebene laden die hier nur mit Beschränkung auf die strikte Zeitgenossenschaft Bergsons hervorgehobenen Elemente dazu ein, die Bedeutung einiger Klassiker der deutschen Philosophie der vorangegangenen Generationen, speziell des späten Schelling, in den Blick zu nehmen – in den Jahren zwischen den Kriegen beginnt man in Frankreich, ihn zu studieren (vor allem Jankélévitch 6 und Lefebvre 7). Gleichzeitig verdiente die Bedeutung Bergsons für die deutsche Philosophie der Folgezeit es, endlich einmal anerkannt und dokumentiert zu werden. Das von der vorliegenden Arbeit gezeichnete Bild könnte insbesondere dazu beitragen, eine Forschung in Gang zu

5 V. Jankélévitch et al., Cet invisible Bergson que nous portons en nous, a. a. O.: »Heute kann niemand Philosophie betreiben, als ob Bergson nicht existiert hätte […]. Es gibt einen unsichtbaren Bergsonismus, der in uns ist und den wir in uns tragen, in unserer Art zu denken, in den Romanen, der Literatur, in der Medizin, der Biologie, den exakten Wissenschaften, in Frankreich, im Ausland; in der Musik selbst, in der Malerei, in einem gewissen ›Musizismus‹, der in Europa herrschend geworden ist. Denn er ist ein europäisches Phänomen, er ist eine Epoche des europäischen und globalen Denkens«. 6 Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Monographie über Bergson widmet Jankélévitch der Philosophie des späten Schelling einen Essay; vgl. V. Jankélévitch, L’odyssée de la conscience dans la dernière philosophie de Schelling, Alcan, Paris 1933. 7 Henri Lefebvre (1901–1991) schreibt mit gerade 25 Jahren die Einführung zu Schellings Philosophie der Freiheit, die von Georges Politzer ins Französische übersetzt wurde (in einer von Paul Morhange geleiteten Reihe). Vgl. Friedrich Schelling, Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), frz. Übers. von G. Politzer, mit einem Vorwort von H. Lefebvre, Recherches philosophiques sur l’essence de la liberté humaine et sur les problèmes qui s’y rattachent, Rieder et Cie, Paris 1926. Lefebvre und Morhange schicken Bergson ein Exemplar des Buches, das besonders auf den Seiten der Einleitung von Lefebvre Benutzungsspuren zeigt, vgl. BLJD, cote BGN 547/II-BGN-II-61.

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bringen, die sich mit der Philosophischen Anthropologie beschäftigt, die in Deutschland seit dem Ende der 1920er Jahre entsteht: Mit dem Werk von Scheler, aber auch von Plessner und Gehlen, die ja durch die Vermittlung von Driesch und von Scheler 8 Gelegenheit erhalten, sich mit der Philosophie Bergsons zu messen. Die Klärung der anthropologischen Frage müsste ihrerseits von der Erforschung der Bergson-Rezeption im Werk Heideggers flankiert werden und vom Vergleich der Philosophien dieser beiden »totemischen« Autoren der zeitgenössischen französischen und deutschen Philosophie. Außerdem wären die theoretischen Auswirkungen des Verhältnisses zwischen den Philosophien von Nietzsche und Bergson genauer zu untersuchen, deren Konvergenz oder Divergenz häufig im zeitgenössischen französischen Denken als Wasserzeichen durchscheint. Zum Beispiel werden beide für Deleuze interessant, da sie der Metaphysik des Willens zuzurechnen sind, während Merleau-Ponty auf dem Unterschied zwischen Lebensphilosophie und Bergson’scher Philosophie des Lebens besteht. In einer Diskussion mit Ortega im Jahr 1951 9 wirft er Fragen zur Geschichte in beiden Philosophien auf, die gerade in Bezug auf das Thema Leben problematisch sind. Die Implikationen des Begriffs Leben, der in der Geschichte des 20. Jahrhunderts so zentral wie umstritten ist, zeigen sich in ihrer ganzen Bandbreite im Dialog Bergsons mit den Vertretern und den Gegnern der Lebensphilosophie. Das Leben, wie Bergson es definiert – besonders in Les deux sources, wo seine anthropologischen, moralischen und politischen Konsequenzen entwickelt werden –, ist nicht nur nicht auf naturalistische Biologismen oder auf spiritualistische Vitalismen reduzierbar, sondern es lässt sich auch nicht durch die traditionelle Dichotomie von Kultur und Zivilisation deuten und

Die Erforschung der französischen Quellen der deutschen philosophischen Anthropologie war bereits Gegenstand der noch unedierten Habilitation von Olivier Agard, Max Scheler ou l’esprit vivant: les sources françaises de l’anthropologie philosophique allemande (2012). Die Verbindungen zwischen Lebensphilosophie und philosophischer Anthropologie im deutsch-französischen Raum wurden außerdem behandelt in Th. Ebke – C. Zanfi, Das Leben im Menschen oder der Mensch im Leben? DeutschFranzösische Genealogien zwischen Anthropologie und Anti-Humanismus, Potsdam University Press, Potsdam 2017 und zum Teil in Thomas Ebke – Guillaume Plas – Caterina Zanfi, Introduction/Einleitung, »trivium«, L’anthropologie philosophique dans le débat franco-allemand contemporain, Februar 2017. 9 M. Merleau-Ponty, Parcours deux. 1951–1961, Verdier, Lagrasse 2000, S. 376, 14. September 1951. 8

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ebenso wenig durch die von Natur und Kultur. Gerade deshalb erweist sich der Entwurf Bergsons heute wie damals im Panorama der Philosophien des Lebens als einzigartig und fruchtbar.

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Bibliographie

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Namensregister

Abbe, Ernst 35 Abiko, Shin 21, 148, 158, 269 Agard, Olivier 11, 21, 204, 299 Alighieri, Dante 279 Ammon, Otto 271 f. Andler, Charles 24, 277 f. Antal, Illès 256 Apfelbacher, Karl-Ernst 41, 58 Armogathe, Jean-Robert 44 Aster, Ernst von 33 Audoin-Rouzeau, Stéphane 243 Austen, Jane 60 Avenarius, Richard Heinrich 31, 58, 255, 273 Babini, Valeria Paola 32 Baensch, Otto 48, 143 Baeumker, Clemens 48 f. Balthasar, Hans Urs von 209, 214 Barmann, Lawrence F. 43, 46 Barrès, Maurice 258, 27 Barth, Johann Ambrosius 31 Barthélemy-Madaule, Madeleine 22, 116 Baruzi, Jean 90 Baudelaire, Charles 279 Baumgarten, Alexander Gottlieb 33 Beaunier, André 280 Beck, Carl Gottlob 31 Becker, Annette 68, 243 Béguin, Albert 209, 251, 297 Behr, Michael 112, 124 Benda, Julien 268 Benrubi, Isaak 18, 33 f., 37–39, 45 f., 49, 53–57, 60 f., 63 f., 76–82, 85 f., 88–91, 96–98, 100, 104, 111, 121–

123, 167, 199, 223, 241 f., 251, 268, 273, 279–281, 291, 296 Berman, Antoine 17 Berth, Edouard 277 Berthelot, René 65, 84, 278 Bertrand, Louis 280 Bismarck, Otto von 261–163 Blondel, Christine 67 Blondel, Maurice 43, 45, 47–49 Bock, Claus Victor 48, 103 Bodei, Remo 32 Boehringer, Robert 99 Bohl, Anna 201 Bönke, Hermann 255 f. Bonus, Arthur 54, 72 Böhringer, Hannes 109 Bornhausen, Karl 34, 100, 185 f., 188 Botti, Alfonso 42 Buisson, Ferdinand 257 Bouglé, Célestin 20, 95 Bourdieu, Pierre 18 Boutroux, Émile 33 f., 38 f., 54, 56, 77, 80, 83, 169, 186, 243, 257 f., 263 Braumüller, Wilhelm 62 Braun, O. 247 Bremond, Henri 43 Brentano, Franz 48, 101 Brockdorff, Cay von 256 Brocke, Bernhard vom 256 Brunschvicg, Léon 95, 204, 213 Bunge, Gustav P. A. 260 Burckhardt, Jacob 35 Buriot, Henri 38, 54 Caeymaex, Florence 7, 139, 190 Calder III, William M. 256 Campioni, Giuliano 32

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Namensregister Canapa, Jean 268 Canguilhem, Georges 11, 125 Cantor, Georg 75 Caro, Elme-Marie 263 Cassin, Barbara 9, 18 Cassirer, Ernst 11, 21, 106, 150, 189– 193, 215, 230 f., 288, 295 Caussé, Jeanne 280 Cerrato, Rocco 42 Cessole, Bruno de 280 Chamberlain, Houston Stewart 271 Chevalier, Jacques 23, 76, 202 Civita, Alfredo 101 Claudel, Paul 103 Cohen, Hermann 246 Coignet, Clarisse 167 Colin, Armand 75 Colli, Giorgio 127, 281 Conrad-Martius, Hedwig 201 Contini, Annamaria 103 Costa, Maria Teresa 17 Courcelles, Dominique de 244 Cousin, Victor 65 Couturat, Louis 95, 169 Crépon, Marc 18 Kreuz (von), hl. Johannes 90 Croce, Benedetto 170, 186 Curtius, Ernst Robert 48, 99, 103, 122, 204, 270 f. Curtius, Karl 256 D’Anna, Vittorio 111, 113 Dahme, Heinz-Jürgen 99 Delacroix, Henri 87, 90 Deleuze, Gilles 46, 200, 299 Delitz, Heike 21 f., 205 Descartes, René 63, 259 Deschanel, Paul 258 Diederichs, Eugen 23, 26, 33–\5, 38 f., 52–\7, 59–63, 65–69, 71–73, 96–98, 100, 121, 165 f., 200, 208, 210, 222 f., 246, 271, 273, 280, 291 Digeon, Claude 17, 263, 280 Dilthey, Wilhelm 70, 101 f., 199 f., 209, 246 Döblin, Alfred 68 Doucet, Jacques 7, 24, 34, 249, 273

Drain, Henri 279 Drehsen, Volker 223 Drewsen, Margarethe 13, 19, 59, 161, 220 Dreyfus, Alfred 263 Driesch, Hans 9, 21, 27, 67, 99 f., 155– 165, 167 f., 173–175, 177–179, 205, 211, 273, 280, 294, 299 Duhem, Pierre 58, 258 Durkheim, Émile 45, 95, 120, 168, 257 Ebke, Thomas 299 Eimer, Theodor 155 Elsenhans, Theodor 75 Ermarth, Michael 123 Espagne, Michel 9., 18, 38, 75, 197, 277 Estermann, Monika 53, 96 Eucken, Rudolf 9, 17, 26, 31, 33–41, 43, 45 f., 48, 52–55, 57–59, 63, 66, 70, 74–91, 159, 186, 200, 202, 222 f., 233, 241, 243, 255, 290 f., 296 Fechner, Gustav 22, 32, 49 Fellini, Federico 69 Feuerhahn, Wolf 75 Feyl, Othmar 41 Fichte, Johann Gottlieb 22, 36, 38 46, 62, 64, 70, 73, 121, 130, 291 Fink, Hilary 24 Fischer, Joachim 205, 211 Fischer, Kuno 75 Fitzi, Gregor 19 f., 39, 53, 55, 60, 75, 96 f., 110, 114, 119, 123, 167, 242, 246, 292 Flasch, Kurt 37, 243, 245, 248 Flashar, Helmut 256 Fohr, Paul 98 François, Arnaud 7, 20 f., 35, 78, 155, 281 Frankenberger, Julius 60 f., 63, 96, 98 Fränzel, Walter 60, 98 Frege, Gottlob 75 Freud, Sigmund 24, 130, 202 f., 244 f. Friedel 56 Frings, Manfred S. 66, 200, 206, 247

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Namensregister Frisby, David P. 112 Fujita, Hisashi 21, 158 Fürtwangler, Märit 201 Gassen, Kurt 97, 121, 199 Gebert, Karl 47 f. George, Stefan 64, 97–103, 105, 107 Gibson, William Ralph Boyce 86 f. Gide, André 103, 278 f. Gide, Charles 56 Gierke, Otto von 186 Giessler, Carl Max 31 Ginzburg, Natalia 68 Giometti, Gino 17 Gobineau, Joseph-Arthur de 258 Goddard, Jean-Christophe 22 Goethe, Johann Wolfgang von 38, 90, 100, 112 f., 116, 182, 224, 262 f., 277 Goldscheider, Alfred 31 Goldstein, Julius 33 f., 58, 67, 78 f., 223 f. Gouhier, Henri 78 Graf, Friedrich Wilhelm 52, 55, 61, 65, 158, 223, 246 Grappe, André 287 Grassé, Pierre-Paul 213 Grasset, Bernard 257 Groethuysen, Bernard 122, 204 Grosse Kracht, Klaus 122 Gründer, Karlfried 109 Guillain, Alix 122, 128 Gundolf, Ernst 62, 64, 100–103, 105– 107, 109 Gundolf, Friedrich 48, 99, 101, 103, 271 Gurewitsch, Aron David 33 Guyau, Jean-Marie 39, 130, 204, 259 Haeckel, Ernst 21, 35, 69, 85, 156, 255 Halévy, Daniel 277 Halévy, Elie 95 Hamann, Johann Georg 73, 182 Hamelin, Octave 22 Hanna, Martha 243, 256, 262 Harrington, Anne 157, 163 Hauptmann, Gerhart 245–247 Herbert, Mary 42

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 22, 47, 65, 80, 84, 169, 187, 233, 243, 260–264 Heidegger, Martin 11, 200, 206, 299 Heidler, Irmgard 53, 61, 72, 98 Helbing, Lothar 48, 103 Hellmann, Hanna 245 Henckmann, Wolfhart 46, 48, 57, 201, 204, 206 Heraklit 128 f. Herder, Johann Gottfried 73, 182 Héring, Jean 198, 201 Hermann, Emily 87 f. Herr, Lucien 24 Hertling, Georg von 47 f., 53 Heuss, Theodor 68 Heymans, Gerard 31 f. Hildebrand, Dietrich von 201 Hirth, Georg 69 Hitler, Adolf 20, 105, 156 f., 163, 287 Hobbes, Thomas 272 Hölderlin, Friedrich 38 Honigsheim, Paul 279 Horkheimer, Max 20 f. Horneffer, August 35, 68 f. Horneffer, Ernst 35, 68 f., 72 Huan, Gabriel 279 Hübinger, Gangolf 35, 52, 223 Hügel, Friedrich von 40–49, 51, 53, 58, 87, 170, 291 Hugon, Édouard 50 Hullet, Anna 84 Husserl, Edmund 9, 101 f., 121, 186, 197–201, 206, 210 f., 213, 218, 229, 295 Ibsen, Henrik 279 Ingarden, Roman 199 f., 295 Invitto, Giovanni 44 Iofrida, Manlio 44 Jacobi, Friedrich Heinrich 73, 182, 233, 262 Jacoby, Günther 256 James, William 31, 58 f., 78 f., 90, 101, 167, 184, 208, 211, 252 Janet, Pierre 32

331 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Namensregister Janicaud, Dominique 65 Jankélévitch, Samuel 130 Jankélévitch, Vladimir 11, 18, 22 f., 25 f., 110, 123, 130–137, 139, 141 f., 147 f., 151 f., 202, 204, 213, 279, 293, 298 Janvier, Antoine 146 Jaurès, Jean 35, 139 Jerusalem, Wilhelm 62, 67, 79 Jones, William Tudor 86 f. Jourdan, Henri 103 f. Jung, Karl Gustav 67, 69, 72 Kahler, Erich von 101, 170 Kalthoff, Albert 54 Kant, Immanuel 17, 22, 26, 33, 38, 47, 53, 59, 61–64, 73, 83, 96, 109, 111– 120, 130, 165, 170 f., 192, 201, 229, 246, 259 f., 262 f., 291 f. Kantorowicz, Gertrud 61, 97–100, 109, 159, 280 Keats, John 279 Keller, Adolf 66, 69 f., 72 f., 209, 273 Kelly, James J. 43 Keyserling, Hermann von 62 f., 110, 158, 162, 186, 206, 211, 246, 248– 251 Kippenberg, Hans G. 223 Klages, Ludwig 17, 64, 105–107, 231 Klimke, Friedrich 247 Knocke, Michael 53, 96 Knudsen, Peter 256 Köhnke, Klaus Christian 112 Koyré, Alexandre 197 f., 201, 213, 295 Kozlowsky, Wladyslaw Mieczyslaw 169 Kraepelin, Emil 32 Kramme, Rüdiger 109 Krech, Volkhard 112, 124 Kroner, Richard 85, 182, 185–187, 199 Laberthonnière, Lucien 43 f., 46 Lachelier, Jules 33, 45 Lagarde, Paul de 35, 71 Lalande, Pierre-André 169 Landmann, Georg Peter 99

Landmann, Michael 97, 99 Langbehn, Julius 71 Lask, Emil 206 Lasson, Adolf 98 Latzel, Klaus 123 Laudet, Maurice 258 Lavelle, Louis 206 Le Roy, Édouard 43, 45, 49, 55, 266 Lefebvre, Henri 298 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 24, 73, 259 f. Leicht, Alfred 84 Lenz-Medoc, Paulus 207 Léon, Xavier 75, 95 Lepenies, Wolf 263 Lepsius, Sabine 99 Lerch, Eugen 66, 98 Lersch, Philipp 209 Leyendecker, H. 41, 273 Lindken, Theodor 256 Lipps, Theodor 32, 66, 201 Locke, John 259 Loisy, Alfred 43 f., 47 Lossky, Nicolas Onufrievich 211 Losurdo, Domenico 243, 262 Loti, Pierre 279 Lotze, Hedwig 35 Lotze, Rudolf Hermann 35 Lübbe, Hermann 37 Lukács, György 20 Luquet, Georges-Henri 39, 54 Lutero, Martin 47, 71 Mach, Ernst 58, 75, 16, 273 Madelrieux, Stéphane 163 Mader, Wilhelm 46, 53, 98, 166, 201 Maeterlinck, Maurice 279 Maine de Biran, Marie-FrançoisPierre Gonthier 38, 83, 259 Malebranche, Nicolas 45 Mann, Thomas 233, 244 Marietti, Anna Maria 111 Maritain, Jacques 44, 50, 156 Maspero, François 286 Mathieu, Vittorio 50 Maurras, Charles 257 Mauthner, Fritz 245–247

332 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Namensregister Maxwell, James Clerk 211 Mayer, Gustav 122 Mazars, Pierre 130 Meinecke, Friedrich 170 Meinong, Alexius 75 Meletti Bertolini, Mara 32 Merleau-Ponty, Maurice 147, 152, 206, 299 Meyer, Andreas 52 Meyer, Rudolf W. 34, 98, 109, 200 Mikhailovsky, Nikolai Konstantinovich 197 Minkowski, Eugène 32, 197 Monakov, Constantin von 32 Montinari, Mazzino 32, 127, 281 Moretti, Giampiero 64, 105 Morhange, Pierre 298 Mosse, George L. 68–71, 105 Mossé-Bastide, Rose-Marie 78 Mourgue, Raoul 31 f. Müller-Freienfels, Richard 31 f. Münsterberg, Hugo 31 Natorp, Paul 75 Naumann, C.G. 281 Naville, Adrien 169 Nethercott, Francès 24, 197 Neuber, Peter 41, 58 Neveu, Bruno 44 Nietzsche, Friedrich 11, 17, 21 f., 25, 27, 32, 35, 37 f., 48, 68, 70, 72, 88 f., 101 f., 105 f., 121, 124 f., 127, 129, 150, 160, 182–184, 190, 200, 202, 208 f., 214, 217–219, 259, 263, 270– 281, 283–285, 287–289, 295, 297, 299 Nizan, Paul 267 f. Noailles, Anna de 279 Norton, Robert Edward 107 Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) 182 Olgiati, Francesco 50 Ollé-Laprune, Léon 45, 49 Ortega y Gasset, José 299 Ostwald, Friedrich Wilhelm 161 Ott, Emil 100

Paci, Enzo 152 Palladino, Eusapia 67 Panis, Daniel 65 Papilloud, Christian 122 Papparo, Felice Ciro 22 Parmenides 128 Pascal, Blaise 46, 185, 259 Paulsen, Friedrich 75 Peano, Giuseppe 169 Péguy, Charles 103, 276 Perrier, Edmond 234, 255, 257 f. Petit, Gabriel 258 Petre, Maude Dominica 42 f., 45 Petyx, Vincenza 244, 265 Pflug, Günther 53, 56, 60, 96, 98, 246 Philonenko, Alexis 280 Pilzecker, Alfons 31 Pinto, Louis 277 Plas, Guillaume 21, 200, 205, 299 Plotin 67, 77 f., 130 Podoroga, Ioulia 24 Poincaré, Henri 56, 58 Politzer, Georges 267 f., 298 Poulat, Émile 42 Prochasson, Christophe 75, 243 Proust, Marcel 152 Przyłebski, Andrzej 35 Pulliero, Marino 35, 60 f., 68–70, 72, 223 Quillien, Jean 18, 65, 243 f., 262 Rabault-Feuerhahn, Pascale 75 Rabier, Élie 45 Rammstedt, Angela 97, 122 Rammstedt, Otthein 96, 99, 143 Raulet, Gérard 21, 200, 205 Ravaisson, Félix 39, 58, 64 f., 103 Recki, Birgit 189 f. Reichl, Otto 104, 206 Reinke, Johannes 155, 157 f. Reiss, Françoise 213 Renan, Ernest 263 Renouvier, Charles 33 Reventlow, Franziska von 105 Ribot, Théodule 32 Riehl, Alois 75

333 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Namensregister Riou, Gaston 56 Riquier, Camille 21 f., 35, 78, 116, 148, 269 Rivière, Marcel 50, 159 Robinet, André 203 Rohde, Erwin 271 f. Rolland, Romain 103 Rothacker, Erich 104 Rousseau, Jean-Jacques 38, 223, 236 f., 279 Roz, Firmin 56 Salz, Arthur 99, 101, 170 Scarpelli, Giacomo 67 Scheler, Amélie 200 f. Scheler, Maria 41, 206 Scheler, Max 9, 21, 27, 34, 41, 43, 46– 48, 53 f., 57, 66, 97 f., 106, 126, 129, 166, 170, 198, 200–219, 221 f., 224– 226, 228–230, 235, 237 f., 243, 247 f., 255, 273 f., 278, 295 f., 299 Scheler, Wolfgang 201 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 20, 22, 64 f., 73, 84, 91, 130, 182 f., 190, 298 Schick, Johannes 22 Schiller, Ferdinand Cunning Scott 67, 211 Schiller, Friedrich 33, 38 Schleiermacher, Friedrich 73 Schmidt, Gert 112, 124 Schopenhauer, Arthur 17, 21 f., 24, 32, 70, 91, 121, 124, 182 f., 233, 255 f., 260, 262, 271, 276 Schuler, Alfred 105 Schwarz, H. 273 Séailles, Gabriel 39 Secrétan, Charles 58 Ségur, Nicolas 279 Seignobos, Charles 164 Seillière, Ernest 33, 270–272, 274– 277, 279, 281, 285, 297 Seliber, Gerschon 161, 167 Sepp, Hans Reiner 199 f. Sieber, Otto 40 Simmel, Georg 9, 11, 17, 19–21, 46, 48, 53, 60 f., 65, 75, 95–99, 101–103,

105, 107, 109–119, 121–135, 137 f., 141–145, 147 f., 151 f., 159, 170 f., 186, 192, 199, 211, 213, 224 f., 233, 246–248, 255, 272, 292 f., 296 Simmel, Gertrud 97 Simmel, Hans 98, 109, 123 Simonotti, Edoardo 106, 129, 209 Sitbon-Peillon, Brigitte 105 Sokrates 37 Sombart, Werner 130, 224 Sommer, Robert 33 Sorel, Georges 39, 277 Soulez, Philippe 20, 22, 244, 268 Soulié, Stéphan 75 Souriau, Paul 39 Sparn, Walter 223 Spinoza, Baruch 38, 67 Stancati, Claudia 103 Steenbergen, Albert 34, 54, 57–59, 61, 63 f. Stein, Edith 201, Steiner, Herbert 35, 48, 103, 271 Strauß und Torney, Lulu von 23, 53, 55 f., 72 Suarès, André 103, 276, 280 Sugiyama, Naoki 21, 158 Susman, Margarete 61, 97 f. Taine, Hippolyte 279 Tega, Walter 57 Thévenaz, Pierre 209, 297 Thimann, Michael 100 Tönnies, Ferdinand 75, 224 Tonquédec, Joseph de 50, 64 Trippen, Norbert 47 Troeltsch, Ernst 42 f., 58, 65, 70, 82 f., 101 f., 165 f., 169–174, 185 f., 218 f., 223, 291, 294 Trotignon, Pierre 130, 152, 202, 244 Turlot, Fernand 22 Tyrrell, George 42 f. Uexküll, Jakob von 158 Underhill, Evelyn 87 f., 204 Vaihinger, Hans 31, 75, 201 Valéry, Paul 204, 278, 297

334 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

Namensregister Verneuil, Yves 45 Vieillard-Baron, Jean-Louis 21, 84 f., 139, 166, 168, 186 Vollet, Matthias 21, 183 Wagner, Charles 56 Wagner, Richard 183, 280 Wahl, Jean 130, 152, 279 Waterlot, Ghislain 139, 163, 244, 286 Watier, Patrick 122 Weber, Max 68, 101, 169 f., 224 Weismann, August 155 Weiß, Otto 42, 47 Werfel, Franz 211 Werner, Meike G. 35, 52 Werner, Michael 18 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 256 Windelband, Wilhelm 21, 33, 47, 56,

60, 159, 165–169, 171–173, 186, 271, 294 Winter, Carl 161 Witt-Guizot, Henriette de 56 Wolff, Christian 33 Wölfflin, Heinrich 186 Wolfskehl, Karl 100, 104 Worms, Frédéric 18, 21 f., 24, 35, 46, 75, 96., 105, 116, 139, 141, 190, 200, 260, 264 Worms, René 95 Worringer, Wilhelm 66 Wundt, Wilhelm 22, 24, 31 f., 75, 254–256 Zambelli, Paola 197 f. Zanfi, Caterina 9–11, 21, 44, 57, 75, 259, 269, 277, 299 Zeller, Edouard 75

335 https://doi.org/10.5771/9783495817100 .

https://doi.org/10.5771/9783495817100 .